Deutscher Bundestag Drucksache 12/7820 12. Wahlperiode 31. 05. 94
Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992 und vom 20. Mai 1992 — Drucksachen 12/2330, 12/2597 —
Inhaltsübersicht Seite
Vorwort 5
A. Auftrag und Durchführung der Kommissionsarbeit 7
I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommission 7
II. Arbeitsweise der Kommission 10
III. Zusammensetzung der Kommission 12
B. Themenfelder 15
I. Themenfeld: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung 15
a) Beratungsverlauf 15
b) Bericht 18 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbedingungen 1945-1949 18 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat 21 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit 27 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und Massenorganisatio- nen 30 Sondervotum 34 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirtschaft 37 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED 39 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der „bewaffneten Organe" 40 8. Schluß 41 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Seite II. Themenfeld: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integra tiver Fakto- ren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR 43 a) Beratungsverlauf 44 b) Bericht 47 Vorbemerkung 47 1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des Marxismus-Leninis- mus 47 Sondervotum 48 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR 54 Sondervotum 56 3. Frauen- und Familienpolitik 57 4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung und Bildung 62 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED-Staat 68 Sondervotum 73 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit 74 7. Rolle des Sports in der DDR 82
III. Themenfeld: Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat 86 a) Beratungsverlauf 86 b) Bericht 87 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz begangenen Unrechts 87 2. Unterschiedliche Phasen des Unrechts 89 3. Die Instrumente des Justizunrechts 92 4. Die Instrumentierung von Recht und Justiz in den verschiede- nen Gerichtszweigen sowie durch die Polizei 96 5. Schlußfolgerungen 101
IV. Themenfeld: Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rah- menbedingungen 104 a) Beratungsverlauf 105 b) Bericht 107 1. Deutschland unter Besatzungsherrschaft 107 2. Das geteilte Deutschland 1949-1961 110 Sondervotum 116 3. Das geteilte Deutschland 1961-1969 119 Sondervotum 121 4. Das geteilte Deutschland 1969-1982 124 Sondervoten 125, 127 5. Das geteilte Deutschland 1982-1989 129 Sondervotum 136 Sondervotum 145 6. Innerdeutsche Beziehungen 1949-1989 147 Sondervotum 151 7. Die Aktivitäten der SED und der DDR in der Bundesrepublik Deutschland und im internationalen Bereich 151 8. Die deutsche Frage nach dem Zweiten Weltkrieg 154 Sondervotum 156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Seite V. Themenfeld: Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschie- denen Phasen der SED-Diktatur 158 a) Beratungsverlauf 158 b) Bericht 159 1. Grundsätzliche Fragestellungen 159 2. Die SED-Kirchenpolitik und die Entwicklungen innerhalb der evangelischen Landeskirchen 160 3. Ausgewählte Problem- und Konfliktfelder im Verhältnis von SED-Staat und evangelischen Kirchen 163 4. Die katholische Kirche in der DDR 172 5. Die Freikirchen und anderen Religionsgemeinschaften in der DDR im Blickfeld der SED-Religionspolitik 174 6. Die Beziehungen zwischen den Kirchen im geteilten Deutsch- land und die deutsche Frage 175 7. Abschließende Bemerkungen 177 8. Sondervotum 178 dazu Stellungnahme 187
VI. Themenfeld: Möglichkeiten und Formen abweichenden und wider ständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die f riedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands- und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur 189 a) Beratungsverlauf 189 b) Bericht 190 1. Zur Begriffsbestimmung oppositionellen und widerständigen Verhaltens in der SBZ/DDR 190 2. Oppositionelles und widerständiges Verhalten in der SBZ/DDR der Ulbricht-Ära 191 3. Oppositionelles und widerständiges Verhalten in der DDR der Honecker-Ära 199 4. Die friedliche Revolution 1989/90 207 5. Oppositionelles und widerständiges Verhalten im Alltag 211
C. Besondere Probleme 214
I. Seilschaften, Altkader, Regierungs- und Vereinigungskriminalität . 214
II. Ministerium für Staatssicherheit 219 a) Beratungsverlauf 219 b) Bericht 219 1. Einleitung 219 2. Zielstellung, Aufgaben, Strukturen und Arbeitsweise des MfS 220 3. Die Tätigkeit ausgewählter Diensteinheiten des MfS 222 4. Die Zusammenarbeit des MfS mit dem KGB und anderen Geheimdiensten der Warschauer-Pakt-Staaten 225 5. Zur Qualität und Aussagefähigkeit von Unterlagen des MfS . 227 6. Forschungsdesiderata und Empfehlungen 228
HI. Opfer des SED-Regimes 229 1. Kategorien von Opfern 229 2. Gesetzgeberische Maßnahmen 230 3. Weitergehender Handlungsbedarf für Staat und Gesellschaft 232 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Seite IV. Archive zur Erforschung der DDR-Geschichte 234 1. Aufgaben der Arbeitsgruppe „Archive" 234 2. Schwerpunkte der Tätigkeit 234 Sondervoten 236, 241 dazu Stellungnahme 244 3. Bedeutung und Wert der DDR-Quellen 247 Sondervotum 248 4. Handlungsempfehlungen 249 Sondervotum 249
D. Sondervotum zu dem vorliegenden Bericht 250
E. Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission 279 Sondervotum 283 dazu Stellungnahme 287
Anhang 288
Berichte, Expertisen und Forschungsaufträge 289
Angehörte Zeitzeugen und Sachverständige 293
Angehörte Initiativen, Organisationen, Institutionen 297
Archivadressen 298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Vorwort
Die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland als politische Aufgabe
Als der Deutsche Bundestag im Mai 1992 eine land" am 17. Juni 1994 nach mehr als zweijähriger Enquete-Kommission mit der Aufgabe be traute, die Tätigkeit ihren Bericht dem Plenum des Deutschen Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Bundestages vorlegt, dann tut sie das in dem Bewußt- Deutschland aufzuarbeiten, waren manche skepti- sein, daß sie — gemessen an den Erwartungen und sche Stimmen zu hören. Viele Beobachter meinten Ansprüchen — nur erste Anstöße geben konnte. Sich damals, das überlasse man besser den Historikern, mit den totalitären Vergangenheiten in Deutschland Juristen und anderen Fachleuten. auseinanderzusetzen, das bleibt, auch wenn manche gegenwärtigen Probleme dringlicher erscheinen mö- Wenn die Enquete-Kommission jetzt ihren Bericht gen, weiterhin eine wich tige, stets aktuelle und dem Plenum des Deutschen Bundestages vorlegt, gemeinsame Aufgabe aller Deutschen. Ich erinnere dann muß die Frage beantwortet werden: Was hat hier an einen Satz Richard von Weizsäckers in seiner dieses parlamentarische Gremium, in dem Abgeord- Rede am 8. Mai 1985: „Wer aber vor der Vergangen- nete und Sachverständige, unterstützt von etwa 320 heit die Augen verschließt, der wird am Ende blind für Zeitzeugen und Wissenschaftlern, in rund 40 internen die Gegenwart." Plenarsitzungen, etwa gleichviel Öffentlichen Anhö- rungen sowie mehr als 150 Sitzungen der Berichter- Die Lasten der Vergangenheit werden noch lange stattergruppen tatsächlich geleistet? schwer wiegen.- Politische Unterdrückung, flächen- Die politische Aufarbeitung einer totalitären Vergan- deckende Überwachung, ideologische Indoktrination genheit, die auf friedlichem Wege beendet wurde, und ein auf den Konkurs programmiertes Wirtschafts- hatte — so meine ich — folgende Ziele im Auge zu system haben Spuren hinterlassen, die in ihrem gan- behalten: zen Ausmaß erst nach und nach zu Tage treten. 1. Durch die präzise Analyse der totalitären Herr- Die Enquete-Kommission wurde durch die wach- schaftsstrukturen der SED-Diktatur sollte die sende Einsicht beeindruckt, daß mit der Aufarbeitung Enquete-Kommission dazu beitragen, daß jene der SED-Diktatur nicht nur die Schandtaten der Kräfte, die in der DDR maßgeblich die Unterdrük- Machthaber, die Leiden der Opfer, das Anpassen kung der Menschen organisierten, niemals wieder vieler und das Wegsehen und Geschehenlassen der eine politische Chance im vereinigten Deutschl and scheinbar nicht Be troffenen ins Blickfeld gerieten, erhalten. sondern auch der Mut zum Widerspruch, die Stand- haftigkeit und die Verweigerung derjenigen, die 2. Die Erörterung des Unrechtscharakters des SED unter den von der SED zu verantwortenden Bedingun- Regimes sollte den Opfern, deren juristische und gen leben mußten, aber nicht bereit waren, sich materielle Rehabilitation nur in engen Grenzen dadurch verbiegen zu lassen. Ich danke den vielen möglich sein wird, zumindest historische Gerech- Zeitzeugen und Wissenschaftlern, die sich bereitfan- tigkeit widerfahren lassen. den, uns ihre menschlichen und politischen Erfahrun- 3. Die Enquete-Kommission sollte einen Beitrag zur gen und Einsichten anzuvertrauen. inneren Vereinigung der Deutschen leisten. Sie wollte das Bewußtsein dafür schärfen, in welchem Die Zusammenarbeit in der Enquete-Kommission war Umfang die SED-Diktatur nicht nur das Leben nicht immer ganz einfach. Wir haben aber — trotz a ller jedes einzelnen Menschen und das der ganzen Konflikte — auch voneinander und miteinander Gesellschaft in der DDR deformierte, sondern dar- gelernt: Wir haben uns voneinander erzählt. Wir über hinaus auch tief in die westdeutsche Gesell- haben uns gegenseitig befragt. Wir haben einander schaft und Politik hineinwirkte. zugehört. Wenn es darum ging, zu bestimmten Urtei- len zu kommen, haben wir uns auch kräftig gestritten. 4. Die Enquete-Kommission wollte durch die Aufar- Dabei hat es mich oft beeindruckt, daß die Parteizu- beitung der Geschichte und der Folgen der SED- gehörigkeit häufig nur eine untergeordnete Rolle Diktatur in Deutschland einen Beitrag zur Verge- spielte. Erst gegen Ende unserer Arbeit mußten wir wisserung des demokratischen Grundkonsens im verstärkt die Erfahrung machen, welche Grenzen der vereinigten Deutschland leisten. historischen und politischen Aufarbeitung der Ver- 5. Die Enquete-Kommission hatte schließlich den gangenheit durch ein parlamentarisches Gremium Auftrag, dem Gesetzgeber Hinweise darauf zu gesetzt sind. geben, auf welche Weise die Besei tigung der Wir mußten auch akzeptieren, daß unsere Arbeitskraft Folgen der SED-Diktatur in Deutschland weiter beschränkt ist. Deshalb hat sich die Enquete-Kommis- vorangetrieben werden kann. sion schon sehr frühzeitig zu einer inhaltlichen Wenn die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Begrenzung und Schwerpunktsetzung ihrer Tätigkeit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch entschlossen. So konnten z. B. die Bereiche der Wirt- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode schaft, des Militärs, der internationalen Politik und der „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Ökologie nur angedeutet werden. Diktatur" hat bei den Vertretern der Medien vielfäl- tige und oft sehr kontroverse Beachtung gefunden. Wenn wir trotz aller dieser Beschränkungen zu einem Auch dafür danken wir. Wenn es uns gelungen ist, beachtlichen Gesamtergebnis in diesem Bericht dazu beitragen, daß wir in Deutschland die Augen gekommen sind, dann hat die Enquete-Kommission nicht vor unserer Vergangenheit verschließen, um das in besonderer Weise ihren sachverständigen Mit- nicht blind für die Gegenwart zu werden, dann haben gliedern zu danken. Sie haben unsere Arbeitsvorha- alle die Medienvertreter, die uns berichtend, kom- ben strukturiert, in den Beratungen der Berichterstat- mentierend und polemisierend begleitet haben, einen tergruppen entscheidend mitgewirkt und sich schließ- erheblichen Anteil daran. lich große Verdienste bei der Abfassung und Redak- tion dieses Berichts erworben. Der Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Keine Enquete-Kommission könnte ihren Auftrag Deutschland", den wir hier vorlegen, wird, so hoffe ohne den wissenschaftlichen, organisatorischen und ich, viele fruchtbare Diskussion auslösen. Bei allem verwaltungstechnischen Sachverstand eines lei- Meinungsstreit, der da auszutragen sein wird, sollte stungsfähigen Sekretariats erfüllen. Wir wissen, daß die uns allen gemeinsame Erkenntnis bewußt bleiben: wir unserem Sekretariat in dieser Hinsicht viel abver- Es geht um das aufrichtige Erinnern und Annehmen langt haben. Die gestellten Anforderungen konnten des Gewesenen. Es geht um die Aufarbeitung einer nur erfüllt werden, weil die Mitglieder des Sekreta lastenden Vergangenheit. Es geht um Gerechtigkeit, riats mit hohem persönlichen Engagement an den um die Stärkung unserer freiheitlichen Demokratie, Aufgaben der Kommission mitgearbeitet haben. um die innere Vereinigung unseres Volkes und die Jede Enquete-Kommission ist auf Öffentlichkeit ange Versöhnung der Menschen untereinander. Es geht um legt. Ihre Tätigkeit ist eine öffentliche Angelegenheit, unser aller Zukunft. Dazu will dieser Bericht einen die der Vermittlung bedarf. Die Enquete-Kommission Beitrag leisten.
- Bonn, den 13. Juni 1994
Rainer Eppelmann, MdB Vorsitzender der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
A. Auftrag und Durchführung der Kommissionsarbeit
I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommission
Inhalt — die diktatorischen Machtstrukturen und Herr- schaftsinstrumente des Partei- und Staatsappara- tes sowie die Mechanismen ihrer Anwendung in I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommis- den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sion und Entwicklungsphasen der DDR II. Arbeitsweise der Kommission — der Aufbau der Machthierarchie und die Funk- III. Zusammensetzung der Kommission tionsweise der Entscheidungszentren
Nachdem das politische System der DDR zusammen- — die Verantwortung der Machthaber und der nach- gebrochen und die staatliche Einheit Deutschlands geordneten Kader auf den verschiedenen Hand- wiederhergestellt war, begannen vielfältige p rivate, lungsebenen öffentliche und wissenschaftliche Initiativen in den neuen Bundesländern sowie Institutionen und Ein- — die Wirkungsweise der Repressionsmechanismen richtungen mit der historisch-politischen Aufarbei- unter besonderer Berücksichtigung des Ministeri- tung der über vierzigjährigen SED-Herrschaft. Im ums für Staatssicherheit Verlaufe des Jahres 1991 mehrten sich die Stimmen, — die Methoden der Einflußnahme der SED auf die daß in Ergänzung zu diesen Initiativen auch der politischen und gesellschaftlichen Institutionen Deutsche Bundestag zu dieser wichtigen Aufgabe zur (Blockparteien, Massenorganisationen, Medien, inneren Einheit Deutschlands beitragen solle, die Kultur u. a.) nicht nur großes historisches Interesse beansprucht, sondern in hohem Maße auch wesentliche Fragen — die Auswirkungen der Herrschaftsstrukturen auf zukünftiger politischer Gestaltung im vereinigten das alltägliche Leben (Bildung, Arbeitswelt, Sport Deutschland betrifft. u. a.) und das seelische Befinden der Menschen Von den zur Verfügung stehenden Instrumentarien — die Folgen der SED-Diktatur für die Bürger der der parlamentarischen Arbeit erschien die Einrich- neuen Bundesländer nach der deutschen Vereini- tung einer aus Abgeordneten und Sachverständigen gung. zusammengesetzten Enquete-Kommission als sinn- voll, die thema tisch weitgespannten Fragestellungen Weitere Themen, die in einzelnen Anträgen genannt zu untersuchen. Am 21. Februar 1992 beantragte die wurden, bezogen sich u. a. auf die historischen Rah- Fraktion der SPD beim Deutschen Bundestag die menbedingungen der Entstehung der DDR, die Funk- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische tion der marxistisch-leninistischen Ideologie, das wirt- Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR" 1 ). schaftliche System, die Rolle von Justiz und Polizei als Am 9. März 1992 folgte die Gruppe Bündnis 90/Die Repressionsinstrumenten der SED, das Verhältnis von Grünen mit dem Antrag für eine Enquete-Kommission Staat und Kirche in der DDR, die Entwicklung der „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der innerdeutschen Beziehungen sowie die Ursachen und SED-Diktatur" 2). Eine gleichnamige Enquete-Kom- den Verlauf der friedlichen Revolution im Herbst mission beantragten die Fraktionen von CDU/CSU 1989. und F.D.P. gemeinsam am 11. März 1992 3 ), während die Gruppe PDS/Linke Liste am gleichen Tag ihrem Am 11. März 1992 legten die Fraktionen von CDU/ entsprechenden Antrag den Titel „Politische Aufar- CSU, SPD und F.D.P. einen Antrag vor, der die beitung der DDR-Geschichte" gab 4). Einsetzung und die personelle Zusammensetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Ge- Trotz der im einzelnen unterschiedlichen Fragestel- schichte und der Folgen der SED-Diktatur" zum lungen berücksichtigten alle Anträge wesentliche Gegenstand hatte 5). Demnach sollten der Kommission gemeinsame Untersuchungsschwerpunkte. Dazu sechzehn Abgeordnete und elf Sachverständige von zählten insbesondere: außerhalb angehören (CDU/CSU: sieben Mitglieder und fünf Sachverständige; SPD: fünf Mitglieder, drei Sachverständige; F.D.P.: zwei Mitglieder, ein Sach- 1) SPD-Antrag vom 21. Febvruar 1992, Drucksache 12/2152. 2) Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache verständiger; Bündnis 90/Die Grünen und PDS/Linke 12/2220 (neu). Liste: je ein Mitglied und ein Sachverständiger). 3) Gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., Drucksache 12/2229. 4) Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste, Drucksache 12/2226. 5) Drucksache 12/2230. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Weiterhin sah der Antrag vor, daß für jedes Mitglied Abg. Poppe (Bündnis 90/Die Grünen) sprach sich des Deutschen Bundestages ein Stellvertreter be- dafür aus, daß aus Gründen der Sachkenntnis und der nannt werden solle. Damit war eine Größenordnung elementaren Betroffenheit Abgeordnete und Sachver- vorgegeben, die deutlich über den Umfang aller ständige aus den neuen Bundesländern im Vergleich bisherigen Enquete-Kommissionen des Deutschen zur prozentualen Zusammensetzung des Bundestages Bundestages hinausreichte. Die Vorlage an das Bun- überproportional in der Enquete-Kommission mitar- destagsplenum sah ferner vor, daß die erwähnten beiten sollten. unterschiedlichen Anträge der Fraktionen der En- quete-Kommission dieser zur Beratung mit dem Auf- Der oben genannte gemeinsame Antrag von CDU/ trag zugewiesen werden sollten, dem Deutschen Bun- CSU, SPD und F.D.P. wurde bei zwei Stimmenthaltun- destag bis zum 20. Mai 1992 eine Beschlußempfeh- gen angenommen. Zugleich wurden die Anträge der lung mit Fragestellungen, Untersuchungsschwer- Fraktionen und Gruppen (Drucksachen 12/2152, 12/ punkten und Vorgehensweisen vorzulegen. 2226, 12/2229, 12/2220 (neu) 6) an die Enquete-Kom- mission überwiesen, die sich am 19. März 1992 kon- Der Deutsche Bundestag beriet die Anträge der Frak- stituierte. Einvernehmlich bestimmte die Kommission tionen in seiner 82. Sitzung am 12. März 1992. In der den Abg. Rainer Eppelmann (CDU/CSU) zum Vorsit- Debatte ergriffen zunächst Abg. Rainer Eppelmann zenden und die Abg. Frau Margot von Renesse (SPD) (CDU/CSU) und danach Abg. Willy Brandt (SPD) das zur Stellvertretenden Vorsitzenden. In weiteren sechs Wort. Es schlossen sich Reden von Bundeskanzler Dr. Sitzungen erarbeitete die Enquete-Kommission eine Helmut Kohl und der Abgeordneten Dr. Jürgen Beschlußempfehlung, die eine Gliederung ihres Schmieder (F.D.P.), Gerd Poppe (Bündnis 90/Die Grü- Untersuchungsauftrages enthält. Um den gesamt- nen), Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU), Markus deutschen Bezug deutlicher herauszustellen, empfahl Meckel (SPD), Dr. Uwe Jens Heuer (PDS/Linke Liste), sie, den Namen der Enquete-Kommission wie folgt Wolfgang Mischnik (F.D.P.), Rolf Schwanitz (SPD), Dr. festzulegen: Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Gerhard Friedrich (CDU/CSU), Dr. Jürgen Schmude Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch- (SPD), Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste), Dr. Gün- land". Der Deutsche Bundestag ist in seiner 93. Sit- ther Müller (CDU/CSU), Frau Angelika Barbe (SPD), zung am 20. Mai 1992 der Beschlußempfehlung in - Dirk Hansen (F.D.P.), Gert Weißkirchen (Wiesloch) vollem Umfang gefolgt. 7) Sie hat im wesentlichen den (SPD), Dr. Rudolf Krause (Bonese) (damals CDU/ nachstehenden Wortlaut: CSU), Wolfgang Lüder (F.D.P.), Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU) und Dr. Harald Schreiber (CDU/CSU) sowie von Frau Bundesministerin Dr. Angelika Mer- I. kel (CDU/CSU) und des sächsischen Landesministers Heinz Eggert (CDU) an. Die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Deutschland politisch aufzuarbeiten, ist eine gemein- Hervorgehoben seien die Ausführungen von Bundes- same Aufgabe aller Deutschen. Ihr kommt auf dem kanzler a.D. Abg. Willy Brandt (SPD), der in seiner Weg zur inneren Einigung Deutschlands besonderes letzten großen Rede im Deutschen Bundestag zum Gewicht zu. Ausdruck brachte, im Hinblick auf das Zusammen- wachsen der Deutschen in Ost und West dürfe nicht Noch belastet das Erbe der SED-Diktatur das Zuein- der Mantel des Verschweigens über gravierendes anderfinden der Menschen in Deutschl and. Die Erfah- Unrecht ausgebreitet werden. Ebensowenig dürfe rungen von Unrecht und Verfolgung, Demütigung hingenommen werden, daß dem vergangenen System und Entmündigung sind noch lebendig. Viele Men- durch grassierende Verdächtigung und langwirkende schen suchen nach Aufklärung, ringen um Orientie- Vergiftung nachträgliche Triumphe beschert würden. rung im Umgang mit eigener und fremder Verantwor- Möglichst viel Aufklärung sei notwendig, insbeson- tung und Schuld; sie stellen Fragen nach den Wur- dere dort, wo es um die Machtzentren von Partei, Staat zeln des in der SBZ/DDR errichteten diktatorischen und sogenannter Staatssicherheit gehe und wo es sich Systems; nach den politischen, geistigen und seeli- um das Ausmaß der unterschiedlich festzumachenden schen Folgewirkungen der Diktatur; nach den Mög- Verantwortung handele. Das Aufarbeiten des SED lichkeiten der politischen und moralischen Rehabili- Erbes solle — insoweit folgte er seinem Vorredner tierung der Opfer. Abg. Eppelmann (CDU/CSU) — als gesamtdeutsche Aufgabe verstanden werden, auch als Beitrag zu jener Zur Aufarbeitung dieser Fragen ist die durch Beschluß Aussöhnung, die Wahrhaftigkeit voraussetze. des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992 (Drucksache 12/2330 vom 11. März 1992) eingesetzte Der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Abg. Dr. Enquete-Kommission in besonderer Weise aufgefor- Wolfgang Schäuble, hob in seinem Debattenbeitrag dert. Sie ist den Menschen in ganz Deutschland hervor, aus der historischen Diskussion könne nur verpflichtet, vor allem aber den Deutschen in den dann Einheit erwachsen, wenn sie als Aufgabe aller neuen Bundesländern, die über nahezu sechs Jahr- Deutschen verstanden werde. Die Teilung sei zehnte hinweg diktatorischen Regierungsformen un- gemeinsames Schicksal gewesen; ihre Hinterlassen- terworfen waren; ihnen Hilfen bei der Auseinander- schaft sei gemeinsame Last.
Abg. Wolfgang Mischnik (F.D.P.) betonte, die Arbeit 6) Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen wurde in seinem Teil A der Enquete-Kommission und in seinem Teil B der Enquete-Kommission werde sinnvoll und hilfreich dem Innenausschuß federführend sowie dem Haushaltsaus- sein, wenn es ihr gelinge, der verbreiteten Selbstge- schuß zur Mitberatung überwiesen. rechtigkeit zu begegnen. 7) Drucksache 12/2597. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 setzung mit der Vergangenheit und bei der Bewer- Phasen zu untersuchen, Gruppen von Opfern zu tung persönlicher Verantwortung anzubieten, be- identifizieren und Möglichkeiten materieller und trachtet der Deutsche Bundestag als ein wesentliches moralischer Wiedergutmachung zu erwägen, u. a.: Anliegen der Kommission. — die politische Repression durch Strafrecht, Der Deutsche Bundestag ist sich der Grenzen bewußt, Strafjustiz und Strafvollzug (Haftbedingungen, die einer politisch-rechtsstaatlichen Aufarbeitung ge- Mißhandlungen, Freizügigkeitsbeschränkun- zogen sind. Um so wich tiger ist das Bemühen, verletz- gen, Ausbürgerungen u. ä.), tem Rechtsempfinden durch Offenlegung des Un- — die politischen, geistigen und psychosozialen rechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Unterdrückungsmechanismen im alltäglichen Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Beitrag zur Leben der Menschen und ihre Folgen seit 1945/ Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten. 46; Die Enquete-Kommission soll die notwendige histori- 4. Möglichkeiten und Formen abweichenden und sche Forschung weder vorwegnehmen noch ersetzen. widerständigen Verhaltens und oppositionellen Ihre Arbeit hat das Ziel, im Dialog mit der Öffentlich- Handelns in den verschiedenen Bereichen heraus- keit zur Festigung des demokratischen Selbstbewußt- zuarbeiten samt den Faktoren, die diese beeinflußt seins und zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen haben; politischen Kultur in Deutschland beizutragen. 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur darzustel- II. len; 6. die Bedeutung der internationalen Rahmenbedin- Die Kommission hat dabei die Aufgabe, Beiträge zur gungen, insbesondere des Einflusses der sowjeti- politisch-historischen Analyse und zur politisch-mora- schen Politik in der SBZ und der DDR zu beurtei- lischen Bewertung zu erarbeiten. Dazu gehören: len; 1. die Strukturen, Strategien und Instrumente der 7. die Bedeutung- des Verhältnisses zwischen der SED-Diktatur, insbesondere die Frage der Verant- Bundesrepublik Deutschl and und der DDR zu wortlichkeiten für die Verletzung von Menschen- untersuchen, u. a.: und Bürgerrechten sowie für die Zerstörung von Natur und Umwelt zu analysieren, u. a.: — die deutschlandpolitischen Ziele, Leitvorstel- lungen und Handlungsperspektiven in den bei- — die Entscheidungsprozesse in der SED, den Staaten, — das Verhältnis von SED und Staatsapparat, — die innerdeutschen politischen, ökonomischen, insbesondere das zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Beziehun- Ebenen der SED und des MfS, gen und deren Rückwirkungen auf die Entwick- lung der DDR, — Struktur und Arbeitsweise der Staatssicherheit, der Polizei und der Justiz, — die Bedeutung der persönlichen Verbindungen für das Zusammengehörigkeitsbewußtsein, — die Rolle der Blockparteien, der Massenorgani- sationen und der Medien, — der Einfluß der Medien der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, — die Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der „bewaffneten Organe", — die Aktivitäten der SED und der DDR in der Bundesrepublik Deutschland und im internatio- — die Umgestaltung und Instrumentalisierung der nalen Bereich; Wirtschaft (Enteignung; Zwangskollektivie- rung, Zentralverwaltungswirtschaft), 8. die Frage der Kontinuitäten und Analogien des Denkens, des Verhaltens und der Strukturen in der — den rücksichtslosen Umgang mit Natur und deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbe- Umwelt; sondere der Zeit der nationalsozialistischen Dikta- 2. die Bedeutung der Ideologie, integra tiver Faktoren tur, einzubeziehen. und disziplinierender Praktiken darzustellen und zu werten, u. a.: III. — die Funktion und Instrumentalisierung des Mar xismus-Leninismus und des Antifaschismus, Die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur ist — Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung, Bil- u. a. an den folgenden historischen Daten und Zeit- dung, Wissenschaft, Literatur, Kultur und Kunst räumen exemplarisch zu verdeutlichen: sowie des Sports, — Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- — Umgang mit sowie Auswirkungen und Ro lle dingungen 1945-1949 (z. B. Potsdamer Abkom- von Karriereangeboten und Privilegien; men, Bodenreform, Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED, politische und gesellschaftliche 3. die Verletzung internationaler Menschenrechts- Gleichschaltung u. a.); konventionen und -normen sowie die Erschei- nungsformen der Unterdrückung in verschiedenen — Aufstand vom 17. Juni 1953; Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
— Zwangskollektivierung und Bau der Berliner — öffentliche Anhörungen und Foren,- Mauer; — Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die — Vergabe von Expertisen und Forschungsarbei- CSSR 1968; ten — Übergang von Ulbricht zu Honecker 1971; — friedliche Revolution im Herbst 1989 und deutsche [...] Vereinigung.
In den anschließenden Beratungen hat die Enquete- IV. Kommission den Auftrag weiter verdichtet und in sechs Themenfelder strukturiert. Diese lauten wie Die Kommission soll vorrangig folgende praktischen folgt: Konsequenzen ihrer Arbeit anstreben: — Beiträge zur politischen und moralischen Rehabili- 1. Machtstrukturen und Entscheidungsmechanis- tierung der Opfer und zur Überwindung der dikta- men im SED-Staat und die Frage der Verantwor- turbedingten Schäden; tung. — Aufzeigen von Möglichkeiten zur Überwindung fortwirkender Benachteiligungen in Bildung und 2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Beruf; Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat — Beiträge zur Klärung der Problematik von Regie- und Gesellschaft der DDR. nmgskriminalität in der DDR; — Erhalt, Sicherung und Öffnung der einschlägigen 3. Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat. Archive; — Verbesserung der Voraussetzungen der wissen- 4. Innerdeutsche Beziehungen und internationale schaftlichen Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergan- Rahmenbedingungen. genheit 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den — Handlungsempfehlungen an den Deutschen Bun- verschiedenen Phasen der SED-Diktatur. destag im Hinblick auf gesetzgeberische Maßnah- men und sonstige politische Initiativen; 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und — Hinweise zur pädagogisch-psychologischen Ver- widerständigen Verhaltens und oppositionellen arbeitimg der DDR-Vergangenheit. Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands. V. Für die Themen Staatssicherheit, Wirtschaft, Seil- Die Arbeitsweise der Enquete-Kommission soll u. a. schaften und Archive richtete die Enquete-Kommis- folgende Elemente enthalten: sion eigene Arbeitsgruppen ein. Ihre Ausgliederung aus der allgemeinen Systematik der Berichterstatter- — Gespräche mit Betroffenen und Bürgergruppen gruppen nach Themenfeldern begründet sich durch vor Ort, Dialog mit Wissenschaftlern und Initiati- die besondere Bedeutung der Themen sowie ihre ven, die die DDR-Geschichte aufarbeiten; fachspezifische Ausrichtung.
II. Arbeitsweise der Kommission
Die Enquete-Kommission war ein gesamtdeutsches Eine besondere Prägimg erhielt die Arbeit der En- Pilotunternehmen, das besonders von Abgeordneten quete-Kommission durch die Zusammenarbeit von aller Fraktionen aus Berlin, Brandenburg, Mecklen- Politikern und Wissenschaftlern (Sachverständigen). burg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Dabei haben politische Interessen, unterschiedliche Thüringen eingefordert wurde. So kam eine in der Tat Lebenserfahrungen und wissenschaftliche Positionen gesamtdeutsche Kommission zusammen, die in ihrer eine Rolle gespielt. Daraus erwachsende Spannungs- Arbeit, in ihren Beratungen — wie kontrovers sie verhältnisse konnten meist produktiv genutzt werden, gelegentlich auch waren — eine möglichst gemein- schlössen allerdings unterschiedliche Bewertungen same Sicht von der Geschichte der deutschen Teilung, nicht aus. Gelegentlich waren Kompromisse unver- ihren internationalen Rahmenbedingungen und der meidbar, desgleichen die Formulierung eines Mehr- SED-Diktatur zu erarbeiten versuchte. Der Weg war heits- und eines Minderheitenvotums (Sondervotum), hier auch schon das Ziel. wenn die politische Bewertung nicht einvernehmlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 erfolgen konnte. Dabei wurden die jeweiligen unter- tung durch den Deutschen Bundestag zu gewinnen. schiedlichen Akzentsetzungen der Parteien deutlich. Durch die rege Berichterstattung der Medien konnte Die Abgeordneten entwickelten rasch ein besonderes ferner erreicht werden, daß eine breite Öffentlichkeit Interesse an der Klärung historischer Sachverhalte mit den Fragen der historisch-politischen Aufarbei- und Zusammenhänge, während die Wissenschaftler tung der DDR-Geschichte informiert wurde. den politischen Charakter der Enquete-Kommission anerkannten; dabei blieben sie um ein methodisch Guten Gewissens nimmt die Enquete-Kommission die reflektiertes, den Forschungsstand nach Möglichkeit von der PDS geäußerte Behauptung zur Kenntnis, sie berücksichtigendes Vorgehen bemüht. Zweifellos hat habe bei ihren Recherchen den Repräsentanten, Ent- der 1994 beginnende Wahlkampf die Arbeit der scheidungsträgern und Insidern des SED-Regimes zu Enquete-Kommission nicht erleichtert; ihre Instru- wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In der Tat kam es mentalisierung für Wahlkampfzwecke konnte nicht ihr in den Anhörungen, insbesondere bei der Befra- ganz verhindert werden. gung von Zeitzeugen, darauf an, vorrangig ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR zu Wort kommen Von Anfang an war den Mitgliedern der Enquete- zu lassen, die unter dem SED-Regime entweder zu Kommission klar, daß angesichts der Komplexität des schweigen genötigt waren oder, weil sie zu den Themas in einem Zeitabschnitt von über 40 Jah- erklärten „Andersdenkenden" gehörten, unter Re- ren Schwerpunktbildungen erforderlich waren. Be- pressionen zu leiden hatten. Im übrigen sind ein gutes stimmte Themenbereiche konnten daher entweder Dutzend Inhaber von z. T. höchst einflußreichen bzw. überhaupt nicht oder nur sehr knapp behandelt wer- Einblick gewährenden Ämtern und Positionen der den. Hierzu zählen vor allem: die Rolle der Wirt- SED-Diktatur („Nomenklaturkader") von der Korn- schaftspolitik, die Geschichte der NVA, Probleme mission angehört und befragt worden; weitere wur- der Ökologie, Fragen der Sozialpolitik, alterna tive den eingeladen und sagten ab. Es versteht sich von Entwicklungsmöglichkeiten, Probleme der Wissen- selbst, daß bei der künftigen wissenschaftlichen Auf- schaftspolitik, Fragen der Außen- und Sicherheits- arbeitung des Themas das vorhandene Wissen unein- politik, die Entwicklung der internationalen Bezie- geschränkt in seiner ganzen Breite auszuschöpfen hungen der SED, die Wechselwirkungen in den Bezie- ist. hungen zwischen beiden deutschen Staaten so- wie Vergleiche mit der ersten deutschen Diktatur Neben der Erarbeitung von Vorschlägen für die The- (1933-1945) und den anderen „realsozialistischen" men der Anhörungen war es eine weitere Aufgabe der Staaten des Ostblocks. Die Enquete-Kommission hat Berichterstatter- und Arbeitsgruppen, der Enquete in den verschiedenen Themenfeldern auf besondere Kommission Vorschläge zur Vergabe von Expertisen Forschungsdesiderata hingewiesen. an auswärtige Sachverständige zu unterbreiten. Die Enquete-Kommission hat insgesamt 148 Expertisen- Von der Enquete-Kommission ist für jedes Themen- aufträge zu 95 Themen vergeben. In zahlreichen feld eine Berichterstattergruppe eingesetzt worden, Fällen wurden mehrere Autoren um ihre Mitwirkung die aus fünf bis sieben Mitgliedern aller Fraktionen gebeten, um verschiedene Fragestellungen und Er- und Gruppen bestand und mit der Erarbeitung von fahrungshintergründe zu berücksichtigen. Neben Entwürfen für den Bericht an den Deutschen Bundes- diesen Expertisen hat die Enquete-Kommission zwei tag beauftragt wurde. Ebenso wurde in den erwähn- Forschungsaufträge vergeben, die Sichtung und Aus- ten Arbeitsgruppen verfahren. Die Berichterstatter- wertung von Quellen zur sowje tischen Deutschland- gruppen hatten zunächst Vorschläge für die beiden politik aus russischen Archiven zum Gegenstand wesentlichen Informationsquellen der Arbeit der haben. Es wurden weiterhin Forschungsberichte von Enquete-Kommission zu erarbeiten: Sie berieten über der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterla- die Vergabe von Expertisen an auswärtige Wissen- gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen schaftler und legten die Thema tik der Öffentlichen DDR eingeholt bzw. von den wissenschaftlichen Mit- Anhörungen fest. Die Öffentlichen Anhörungen wur- arbeitern des Sekretariats der Enquete-Kommission den z. T. von eigenen Projektgruppen vorbereitet. Die erarbeitet. Die Titel dieser Arbeiten sind ebenso wie einzelnen Gruppen wurden von wissenschaftlichen die der Expertisen in den Berichten über den Bera- Mitarbeitern des Sekretariats unterstützt. tungsverlauf zu den einzelnen Themenfeldern und in Die Enquete-Kommission hat in den zwei Jahren ihrer der Gesamtliste im Anhang aufgeführt. Tätigkeit insgesamt 44 ganztägige Öffentliche Anhö- Um sich vor Ort ein Bild vom Stand der Öffnung rungen in Bonn, Berlin und an verschiedenen Orten russischer Archive zu verschaffen und die Möglichkeit der neuen Bundesländer durchgeführt und dabei 327 ihrer Nutzung für die deutsche Forschung insgesamt Wissenschaftler und Zeitzeugen angehört. Neben zu erkunden, unternahm eine Delegation der En- dem wissenschaftlichen Gutachtervortrag konnten quete-Kommission in der Zeit vom 5. bis 7. Juli 1993 auch die Alltagserfahrungen von Bürgerinnen und unter der Leitung des Vorsitzenden, Abg. Rainer Bürgern einbezogen und ausgewertet werden. Die Eppelmann, eine Informationsreise nach Moskau und stenographischen Protokolle, die vom Deutschen Bun-- führte dort Gespräche mit Mitgliedern des Parla- destag herausgegeben werden und sämtliche Vor- ments, mit Regierungsstellen, Wissenschaftlern und tragstexte sowie Redebeiträge im Wortlaut enthalten, Archivdirektoren. Der Delega tion gehörten neben stellen eine wertvolle Quelle zur Geschichte der dem Vorsitzenden der Abg. Prof. Dr. Hartmut Soell, Teilung und der SED-Diktatur dar. die sachverständigen Mitglieder der Kommission Prof. Der öffentliche Charakter der Anhörungen bot Inter- Dr. Alexander Fischer, Dr. Armin Mitter, Prof. em. essierten darüber hinaus die Möglichkeit, einen eige- Dr. Hermann Weber, Prof. Dr. Manfred Wilke und nen Eindruck von der historisch-politischen Aufarbei- außerdem der Präsident des Bundesarchivs, Prof. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Dr. Friedrich P. Kahlenberg, sowie der Sekretär der fentliche Sitzungen durch. Zusätzlich tagten Bericht- Kommission, Ministerialrat Dr. Dietrich Lehmberg, erstatter-, Arbeits- und Projektgruppen: an. Der Bericht der Arbeitsgruppe Archive enthält Ausführungen zum Verlauf und zu den Ergebnissen Sitzungen der Berichterstattergruppe dieser Informationsreise. zum I. Themenfeld: 15 Sitzungen der Berichterstattergruppe Grundlagen für den Abschlußbericht bildeten im zum II. Themenfeld: 25 wesentlichen alle Mate rialien der Enquete-Kommis- Sitzungen der Berichterstattergruppe sion, d. h. die Ergebnisse der Forschungsaufträge, die zum III. Themenfeld: 13 Expertisen, Berichte, Anhörungen und Diskussions- Sitzungen der Berichterstattergruppe beiträge. Schon aus Zeitgründen konnte das bis heute zum IV. Themenfeld: 27 vorliegende umfangreiche deutsche und internatio- Sitzungen der Berichterstattergruppe nale Schrifttum zum Thema nicht systematisch ausge- zum V. Themenfeld: 14 wertet werden. Desgleichen zeigte sich bei den Sitzungen der Berichterstattergruppe bestellten Expertisen, daß sich die meisten Autoren zum VI. Themenfeld: 16 auf keine neuen eigenen Forschungen stützen konn- Sitzungen der Arbeitsgruppe Archive: 10 ten. Der Bericht ist als eine Zwischenbilanz mit Sitzungen der Arbeitsgruppe Seilschaften: 12 politischer Akzentsetzung zu verstehen, nicht aber als Sitzungen der Arbeitsgruppe Staatssicherheit: 12 eine wissenschaftliche Gesamtanalyse aus der Sicht Sitzungen der Arbeitsgruppe Wirtschaft: 5 des Jahres 1994, zumal eine allseitige Einsicht in die Mechanismen und Strukturen des „realen Sozialis- Beispielhaft werden nur zwei Projektgruppen ge- mus" nicht angestrebt werden konnte. Dies muß der nannt: zukünftigen — nationalen und internationalen - Forschung vorbehalten bleiben. Der Auftrag an die Projektgruppe „Vierzig Jahre Volksaufstand im Juni Enquete-Kommission war darauf begrenzt, bei der 1953": 6 Sitzungen Aufarbeitung der SED-Diktatur vor allem Erschei- Projektgruppe „Zur Auseinandersetzung mit den bei- nungsformen, Wirkungen und Lehren zu verdeutli- den Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und chen. Gegenwart": 5 Sitzungen Die mitunter unterschiedliche Form der inhaltlichen und sprachlichen Darstellung der einzelnen Kapitel Die Obleute der Fraktionen und Gruppen kamen in im vorliegenden Bericht erklärt sich aus der Vielzahl 52 Bersprechungen zusammen. Die Arbeitsgruppen und Verschiedenheit der Bearbeiter. Eine vollstän- der Fraktionen trafen sich in jeder Sitzungswoche des dige inhaltliche und sprachliche Überarbeitung des Deutschen Bundestages. Darüber hinaus führten sie Gesamtberichts konnte aus zeitlichen und strukturel- zusätzlich zu den Anhörungen der Enquete-Kommis- len Gründen von der Kommission nicht geleistet sion eigene Anhörungen durch. werden. Der Beratungsverlauf im einzelnen ist in den Berich- Die Enquete-Kommission führte neben den bereits ten zu den einzelnen Themenfeldern (Teil B) und zu genannten 44 Öffentlichen Anhörungen 37 nichtöf den Besonderen Problemen (Teil C) dargelegt.
III. Zusammensetzung der Kommission
Von den Fraktionen und Gruppen wurden folgende Dr. Dorothee Wilms (Obmann bis 7. 93) Mitglieder des Deutschen Bundestages für die En- Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (ab 11. 92) quete-Kommission benannt:
CDU/CSU-Fraktion: (stellv. Mitglieder) (ordentliche Mitglieder)
Rainer Eppelmann (Vorsitzender) Dr. Else Ackermann (ab 3. 93) Hartmut Büttner (ab 10. 93) Jürgen Augustinowitz (ab 11. 92) Wolfgang Dehnel (bis 11. 92) Wilfried Böhm Susanne Jaffke (ausgeschieden 9. 92) - Wolfgang Dehnel (ab 11. 92) Dr. Harald Kahl (ausgeschieden 10. 93) Dr. Rainer Jork Hartmut Koschyk (ab 10. 93, Obmann ab 7. 93) Hartmut Koschyk (bis 10. 93) Dr. Rudolf Krause (ausgeschieden 3. 93) Maria Michalk (bis 3. 93) Klaus-Heiner Lehne (ab 10. 92 ausgeschieden Werner Skowron (ausgeschieden 11. 92) 10. 93) Reinhard Frhr. von Schorlemer Maria Michalk (ab 3. 93) Michael Stübgen (ab 10. 93) Dr. Günther Müller Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (bis 11. 92) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
SPD-Fraktion Theologe und Berliner Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- (ordentliche Mitglieder) ligen Deutschen Demokratischen Republik Christel Hanewinkel (ausgeschieden 9. 93) Prof. em. Dr. Dr. h.c. H ans-Adolf Jacobsen (ab Stephan Hilsberg 3. 93) Regina Kolbe (ab 9. 93) Seminar für Politische Wissenschaften der Rheini- Markus Meckel (Obmann) schen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn Margot von Renesse (stellv. Vorsitzende) Prof. Gert Weisskirchen Walter Kempowski (bis 12. 92) Lehrer und Schriftsteller (stellv. Mitglieder) Angelika Barbe Dr. Armin Mitter Evelin Fischer Institut für Geschichte der Humboldt-Universität Rolf Schwanitz (ausgeschieden 9. 92) Berlin Prof. Dr. Hartmut Soell Martin-Michael Passauer Wolfgang Thierse Pfarrer der Sophien-Gemeinde Berlin und Superin- Gunter Weißgerber (ab 9. 92) tendent des Kirchenkreises Berlin Stadt III Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder F.D.P.-Fraktion Universität Regensburg, Juristische Fakultät, Lehr- stuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Ostrecht (ordentliche Mitglieder) Prof. em. Dr. Hermann Weber Institut für Politische Dirk Hansen (Obmann) Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Dr. Jürgen Schmieder Mannheim und Leiter des Arbeitsbereichs DDR Geschichte am Mannheimer Zentrum für Europäische (stellv. Mitglieder) Sozialforschung Dr. Karlheinz Guttmacher (ab 10. 93) Heinz-Dieter Hackel (ausgeschieden 10. 93) Prof. Dr. Manfred Wilke Wolfgang Lüder Fachhochschule für Wirtschaft Berlin; „Forschungs- verbund SED-Staat" der FU Berlin Prof. em. Dr. Herbert Wolf Bündnis 90/Die Grünen frühere Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner" Berlin (ordentliches Mitglied) Gerd Poppe (Obmann)
(stellv. Mitglied) Berichterstattergruppen (Stand Mai 1994) Dr. Wolfgang Ullmann 1. Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung
PDS/LL Prof. em. Dr. Hermann Weber (Einberufer), Dirk Hansen, Prof. Dr. Alexander Fischer, Dr. Armin Mitter, (ordentliches Mitglied) Prof. em. Dr. Herbert Wolf Dr. Dietmar Keller (Obmann) 2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer (stellv. Mitglied) Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Dr. Hans Modrow Gesellschaft der DDR
Auf Vorschlag der Fraktionen und Gruppen berief die Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Einberuferin), Ange- Präsidentin des Deutschen Bundestages als sachver- lika Barbe, Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Dr. Karlheinz ständige Kommissionsmitglieder: Guttmacher, Stephan Hilsberg, Dr. Dietmar Keller, Maria Michalk, Dr. Armin Mitter Prof. Dr. Bernd Faulenbach Forschungsinstitut für Arbeiterbildung Recklinghau- 3. Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat sen; Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhruni- Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder (Einberufer), versität Bochum Wolfgang Lüder, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbert Wolf Prof. Dr. Alexander Fischer Seminar für Osteuropäische Geschichte der Rheini- 4. Innerdeutsche Beziehungen und Internationale schen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn; z. Zt. - Rahmen-Bedingungen Gründungsdirektor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Dresden Prof. Gert Weisskirchen (Einberufer), Prof. em. Dr. Hans-Adolf Jacobsen, Dr. Dietmar Keller, Dr. Armin Karl Wilhelm Fricke Mitter, Gerd Poppe, Prof. Dr. Manfred Wilke, Dr. Publizist, ehemaliger Leiter der Ost-West-Abteilung Dorothee Wilms des Deutschlandfunk, Köln 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den Martin Gutzeit verschiedenen Phasen der SED-Diktatur Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Martin Michael Passauer (Einberufer), Martin Gutzeit, (stellvertretende Leiterin des Sekretariats), Dirk Hansen, Stephan Hilsberg, Regina Kolbe, Prof. Thomas Ammer, Dr. Manfred Wilke Klaus Hanfland, Dr. Lydia Lange, 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und Dr. Bernhard Marquardt, widerständigen Verhaltens und oppositionellen Han- Prof. Dr. Peter Maser, delns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Martin Rißmann, Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Friederike Sattler. Strukturen und Mechanismen der Diktatur Weiterhin waren im Sekretariat tätig: Gerd Poppe (Einberufer)/Dr. Armin Mitter, Karl Wil- OAR Jürgen Wiesner (Büroleitung), helm Fricke, Martin Gutzeit, Dr. Dietmar Keller, Juliane Korten, Dr. Jürgen Schmieder, Prof. Dr. Manfred Wilke Iris Mohr, Heike Töllner. Arbeitsgruppe Archive Wissenschaftliche Mitarbeiter der Sekretariate der Prof. Dr. Manfred Wilke (Einberuferj, Prof. Dr. Alexan- Fraktionen: der Fischer, Dr. Dietmar Keller, Dr. Armin Mitter, Dr. Jürgen Schmieder, Reinhard Frhr. von Schorle- CDU/CSU mer, Prof. em. Dr. Hermann Weber
Klaus Hoff, Gerhard Finn, Arbeitsgruppe Seilschaften Jost Vielhaber (ab 12. 93)
Hartmut Koschyk (Einberufer bis 4.94)/Hartmut Bütt- ner (Einberufer ab 4. 94), Dirk Hansen, Stephan SPD Hilsberg, Dr. Armin Mitter/Gerd Poppe, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbe rt Wolf Wilfried Busemann (bis 12. 93) Brigitte Deja (bis 12. 93), Dr. Ingrun Drechsler (ab 1. 94), Arbeitsgruppe Staatssicherheit Peter Hurrelbrink (ab 1. 94)
Martin Gutzeit (Einberufer), Rainer Eppelmann, Karl Wilhelm Fricke, Dr. Dietmar Keller, Gerd Poppe, F.D.P. Dr. Jürgen Schmieder, Prof. Dr. Hartmut Soell
Bernard Bode Arbeitsgruppe Wirtschaft
Reinhard Frhr. von Schorlemer (Einberufer), Stephan PDS/Linke Liste Hilsberg, Dr. Rainer Jork, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbert Wolf Dieter Lehmann
Kommissionssekretariat Bündnis 90/Die Grünen
Die Verwaltung des Deutschen Bundestages stellte Udo Baron der Kommission ein Sekretariat zur Verfügung, das organisatorische und wissenschaftliche Aufgaben zu Die im Text in eckige Klammem gesetzten Verweise beziehen erfüllen hatte. sich auf von der Enquete-Kommission eingeholte Expertisen und Berichte, vergebene Forschungsaufträge sowie auf Proto- Leiter des Sekretariats: kolle der Öffentlichen Anhörungen. Letztere sind großenteils MinRat Dr. Dietrich Lehmberg bereits zum jetzigen Zeitpunkt über das Sekretariat der Enquete-Kommission zu beziehen. Sämtliche Mate rialien der Wissenschaftli che Mitarbeiter waren: Enquete-Kommission (Expe rtisen, Anhörungsprotokolle u. a.) Dr. Marlies Jansen werden voraussichtlich ab Herbst d. J. veröffentlicht. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
B. Themenfelder
L Themenfeld: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung
Inhalt 4.5 Motive für die Mitgliedschaft a) Beratungsverlauf 4.6 Die Frage der politischen Verantwortung 4.7 Gesamtdeutsche Parteistrukturen 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- dingungen 4.8 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung Grünen sowie der Sachverständigen Faulenbach, von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Gutzeit, Mitter, Weber 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit 4.8.1 Vorbemerkung (MfS) 4.8.2 Die Funktion der Blockparteien im System 4. Rolle und Funktion der Blockparteien und Mas- der SED-Diktatur senorganisationen 4.8.2.1 Alibifunktion 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wi rt 4.8.2.2 Gesamtdeutscher Auftrag -schaft 4.8.2.3 Mobilisierung 4.8.2.4 Einbindung und Disziplinierung b) Bericht 4.8.3 Mitglieder und Funktionäre, Mo tive für die
Mitgliedschaft 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- dingungen 1945-1949 4.8.4 Herausforderungen für Christdemokraten und Liberale nach der Vereinigung mit den 1.1 Historische Grundlagen entsprechenden Blockparteien 1.2 Die Rolle der Alliierten, insbesondere der Sowjet- union 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirt- schaft 1.3 Entstehung und Umgestaltung der Parteien 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der 2.1 Rechtliche und sonstige Regelungen zum Aufbau „bewaffneten Org ane" und zur Machtsicherung der SED 8. Schluß 2.2 Zur Praxis der Machtausübung der SED-Füh- rung 2.3 Rekrutierung des Funktionärsapparats der SED a) Beratungsverlauf 2.4 Methoden der „Kaderführung" 2.5 Zu den Beziehungen zwischen SED und KPdSU Das Themenfeld „Machtstrukturen und Entschei- dungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der 2.6 Zur Frage der Verantwortung Verantwortung" umfaßte gemäß dem Rahmenplan 2.6.1 Gesamtverantwortung: Zur Hierarchie der der Enquete-Kommission die folgenden Untersu- Verantwortlichkeiten chungsbereiche: 2.6.2 Einzelverantwortung 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicher- dingungen 1945-1949 heit 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und Mas- von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat senorganisationen 3. Die SED und das Ministe rium für Staatssicher- 4.1 Ansätze zu einer Neubewertung heit 4.2 Die gesellschaftliche Funktion: „Transmission der 4. Rolle und Funktion der Blockparteien und Massen- SED-Politik" organisationen 4.3 Das Verhältnis zur SED: Abhängigkeit und Kon- trolle 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirt- schaft 4.4 Das Verhältnis zwischen Mitgliedern und Funk- tionären 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der am Beispiel der CDUD (Alex ander Fischer, sachver- „bewaffneten Org ane" ständiges Kommissionsmitglied) sowie die Formie- rung der SED und ihre Rolle im Parteiensystem der Das Themenfeld wurde in elf Öffentlichen Anhörun- SBZ/DDR (Hermann Weber, sachverständiges Korn- gen behandelt. Die Enquete-Kommission gab zusätz- missionsmitglied). lich 32 Expertisen, zwei Forschungsaufträge und neun Berichte in Auftrag. Die sachverständigen Mitglieder Ergänzend wurden in Vorträgen die Entwicklung der der Enquete-Kommission Prof. Dr. Alex ander Fischer SED von 1946 bis 1950 im Lande Thüringen (Günter und Prof. Dr. Hermann Weber hielten einführende Braun) sowie die Instrumentalisierung der Massenor- Vorträge . zur Geschichte der SBZ/DDR in einer inter- ganisationen durch die SED am Beispiel des Kultur- nen Arbeitssitzung der Enquete-Kommission am bundes (Magdalena Heider) und der Gesellschaft für 8. Mai 1992 [-> Protokoll Nr. 5]. Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Lothar Dralle) Als ein Kernbereich des Themenfeldes I erwies sich behandelt. Weitere Expertisenaufträge wurden zum Thema „Entstehung und Entwicklung des Parteiensy- der Fragenkomplex „Die Machthierarchie der SED — die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staats- stems 1945-1950" vergeben (Werner Mü ller, Mi- apparat" , innerhalb dessen auch die Frage der Ver- chael Richter). Zwei Expertisen über die „Sonderent- antwortung behandelt wurde. wicklung der SPD in Berlin 1945-1961 " (Siegf ried Heimann, Stefan Wolle) untersuchen die politische In ihrer ersten Öffentlichen Anhörung in Leipzig am Arbeit der SPD in den Ost-Berliner Bezirken, die bis 29. September 1992 zum Thema „Regierungskrimina- 1961 auf Grund des alliierten Status von Berlin noch lität und justitielle Aufarbeitung — Möglichkeiten und möglich war. Grenzen" [-> Protokoll Nr. 13] informierten im ersten Teil Vertreter der Justizbehörden über den St and ihrer Aus Anlaß des vierzigsten Jahrestages des Volksauf- bisherigen Tätigkeit und nahmen grundsätzlich zu standes gegen die SED-Herrschaft in Ost-Berlin und der Problematik einer strafrechtlichen Verfolgung des der DDR veranstaltete die Enquete-Kommission in SED-Unrechts Stellung. In einem weiteren Teil Berlin am 16. Juni 1993 eine Öffentliche Anhörung, berichteten Vertreter von Organisationen, die sich mit die sich eingehend mit den außenpolitischen Rahmen- der Aufarbeitung der DDR-Geschichte befassen, über bedingungen und der inneren Situa tion der DDR in ihre Tätigkeit [-> Protokoll Nr. 14]. den Jahren 1952/1953 befaßte [-> Protokoll Nr. 42]. Ein Erfahrungsaustausch mit Zeitzeugen, die sich im Juni 1953 aktiv an den Demons trationen beteiligt hatten, ging den Vorträgen und dem Podiumsge- 1. Konstituierung der Diktatur und ihre spräch voraus. Rahmenbedingungen
Die deutschlandpolitischen Ziele der alliierten Sieger- mächte, die Gründe für die Entstehung der deutschen 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung Teilung sowie insbesondere Rolle und Bedeutung der von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Sowjetischen Militäradministration in Deutschl and (SMAD) für die schwerwiegenden strukturellen Ver- Schwerpunkte einer zweitägigen Anhörung in Berlin änderungen in der sowje tischen Besatzungszone am 26. und 27. Januar 1993 über „Die Machthierar- Deutschlands (SBZ) sind Gegenstand von zwei chie der SED" [-> Protokolle Nr. 25 und 26] waren die Berichten, die im Sekretariat der Enquete-Kommis- internen Entscheidungsstrukturen im Parteiapparat sion erarbeitet wurden (Alexander Fischer/Martin der SED, die Verflechtung zwischen Partei und Staat Rißmann). Auf der Grundlage vorliegender wissen- sowie die Methoden der sowjetischen Einflußnahme schaftlicher Literatur leiten sie die Berichterstattung in verschiedenen Phasen der DDR (Vorträge von Sv über das Themenfeld ein. Zwei Expertisen bewerten Hermann Weber, Fritz Schenk, Wolfgang Seiffert, Umfang und Folgen von „Kriegsschäden, Demonta- Thomas Ammer). Ein weiterer Vortrag behandelte die gen und Reparationen" (Lothar Baar/Rainer Karlsch/ politischen und rechtlichen Grundlagen der Tätigkeit Werner Matschke, Christoph Buchheim). von Funktionären auf regionaler und lokaler Ebene (Gero Neugebauer). Es schlossen sich zwei Podiums- In Vorträgen und Zeitzeugenberichten der Anhörung gespräche mit früher führenden Funktionären der in Bonn am 13. November 1992 „Die Veränderung des SED (Karl Schirdewan, Günter Schabowski, Gerhard Parteiensystems 1945-1950" [-> Protokoll Nr. 18] Schürer, Hans Modrow, Manfred Uschner) sowie mit wurden die Absicherung der Führungsrolle der KPD/ Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunk tionären an, die in SED und die Stalinisierung der Partei sowie die ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern die zentralen Vor- schwierigen Arbeitsbedingungen von CDUD und gaben umzusetzen hatten. Zu diesen Fragen wurden LDP e ), die sich in den ersten Nachkriegsjahren dem Expertisen mit der Themenstellung „Staatsapparat kommunistischen Hegemonieanspruch noch zu wi- und Parteiherrschaft in der DDR" (Georg Brunner) dersetzen vermochten, geschildert. Die Referate sowie „Herrschaftsinstrumente und Funktionsmecha- behandelten im einzelnen die politische Konzeption nismen der SED in Bezirk, Kreis und Kommune" der KPD-Führung für Deutschl and in den Jahren (Monika Kaiser, Lutz Prieß) vergeben. Ein schriftlicher 1944/45 (Manfred Wilke, sachverständiges Kommis- Bericht von Thomas Ammer über die Machthierarchie sionsmitglied), den Einfluß der sowje tischen Besat- der SED vermittelt einen Überblick über die in jüng- zungsmacht auf die Entstehung des Parteiensystems ster Zeit erschienene wissenschaftliche Literatur.
*) Die Schreibweise der Parteinamen folgt der Selbstbezeich- In engem Zusammenhang mit den Strukturen der nung in den verschiedenen Zeitphasen. Parteiherrschaft stehen die Folgen, die die SED- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Diktatur für Lebensentwürfe und Gestaltungschancen mann Hertle stellte am Beispiel des FDGB Funktion der Bevölkerung in der DDR mit sich brachte. In der und Bedeutung einer Massenorganisation im SED- zweitägigen Anhörung in Berlin am 30. November Staat dar. Ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der und 1. Dezember 1992 „Die SED-Diktatur — politi- Blockparteien berichteten über ihre Tätigkeit. sche, geistige und psychosoziale Unterdrückungsme- Zu diesem Themenkomplex vergab die Enquete- chanismen: Erfahrungen im Alltag" [-> Protokolle Kommission sechs Expertisenaufträge zur „Rolle, Nr. 20 und 21 ] kamen Bürger zu Wort, die von Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Block- Eingriffen des Staates in ihr privates und berufliches parteien" (Jürgen Frölich, Christel Nehrig, Gerhard Leben berichteten. Diese Alltagserfahrungen aus vier Papke, Michael Richter) und zur „Funktion der Mas- Jahrzehnten DDR wurden durch Vorträge ergänzt, die senorganisationen im Alltag des DDR-Bürgers" (Rai- Handlungsmöglichkeiten „Zwischen Anpassung und ner Eckert, Peter Hübner). Einen Überblick über die Verweigerung — der Einzelne im realen Sozialismus" „Funktion der Massenorganisationen" bietet der (Ehrhart Neubert), „Mobilisierungsstrategien und Bericht von Friederike Sattler. politische Bewußtseinsbildung im realen Sozialis- mus " (Wolfgang Templin) sowie „Repressionsmecha- nismen in der DDR — Auswirkungen auf den Alltag" (Wolfgang Schuller) behandelten. 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirtschaft
3. Die SED und das Ministerium für Die Enquete-Kommission behandelte den Themenbe- Staatssicherheit (MfS) reich „Die DDR-Volkswirtschaft als Instrument der SED-Diktatur" in einer öffentlichen Anhörung in Zur Bedeutung des ehemaligen Ministe riums für Bonn am 5. Februar 1993 [-> Protokoll Nr. 27]. Erörtert Staatssicherheit und seiner Arbeitsweise veranstal- wurden zunächst der „Einsatz der Volkswirtschaft der tete die Enquete-Kommission in Bonn am 15. Januar DDR für das Erreichen politischer Ziele der SED" 1993 eine Öffentliche Anhörung [-> Protokoll Nr. 23]. (Gernot Gutmann) und die „Errungenschaften der Während sich Karl Wilhelm Fricke in einem Vortrag SED-Wirtschaftspolitik und ihre Bewertung unter mit Funktion, Aufbau, Personal und Hauptaufgaben marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten" (Harry des MfS als Herrschaftsinstrument der SED auseinan- Maier). Am Beispiel des Wohnungsbaus wurde das dersetzte und dabei das strukturelle Beziehungsge- Niveau der sozial- und wirtschaftspolitischen Leistun- flecht zur führenden Partei und zu den staatlichen gen in der DDR geschildert (Hannsjörg Buck). In der Institutionen hervorhob, schilderte Thomas Rudolph Anhörung von Zeitzeugen zum Thema „Der sozialisti- Methoden, Aufgaben und Zusammenarbeit einzelner sche Betrieb" wurde über Erfahrungen aus verschie- Abteilungen des MfS bei der Informationsbeschaf- denen Wirtschaftsbereichen (volkseigene Wirtschaft, lung und „Zersetzung". halbstaatliche Betriebe u. a.) und über historische Entwicklungsphasen berichtet. In einem Podiumsgespräch mit Zeitzeugen und Experten wurde ferner die Arbeit der Inoffiziellen Die Enquete-Kommission vergab zum Thema der Mitarbeiter (IM) aus der Sicht von Opfern und Tätern DDR-Wirtschaft mehrere Expertisenaufträge, die sich erörtert. Zwei Expertisen über „Das Ministe rium für mit der Veränderung der Eigentumsstrukturen und Staatssicherheit und die Volkswirtschaft" (A rnold mit der Verstaatlichung befaßten: „Herausbildung Seul) und über „Die Arbeit des MfS im Operationsge- und Entwicklungsphasen des Volkseigentums" biet und ihre Auswirkungen auf oppositionelle Bestre- (Wolfgang Mühlfriedel), „Herausbildungs- und Ent- bungen in der DDR" (Irene Chaker) behandeln diese wicklungsphasen der Planungs-, Lenkungs-, und Arbeit des MfS in Fallstudien. Der Bericht „Die Kontrollmechanismen im Wirtschaftssystem" (Gernot Zusammenarbeit von MfS und KGB" (Bernhard Mar- Gutmann), „Umgestaltung von Eigentumsverhältnis- quardt) sowie zwei Berichte des Bundesbeauftragten sen und Produktionsstruktur in der Landwirtschaft" für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der (Adolf Weber). Zwei Expertisen bearbeiten das ehemaligen DDR („Inoffizielle Mitarbeiter" ; „Mög- Thema „Formen, Instrumente und Methoden von lichkeiten und Grenzen der Verwendung der MfS- Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Unterlagen") ergänzten die Untersuchungen zu die- Privatwirtschaft" (Gert Leptin, Hannsjörg Buck). Wei- sem Themenbereich. tere Expertisen untersuchen die Integra tion der DDR- Wirtschaft in den RGW (Alfred Schüller) sowie die offizielle Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Lei- stungen der DDR-Wirtschaft (Peter von der Lippe). 4. Rolle und Funktion der Blockparteien Ergänzend behandelt ein Bericht das Thema „Struk- und Massenorganisationen tur und Entwicklung der Planwirtschaft" (Herbert Wolf/Friederike Sattler). Die Enquete-Kommission Die Instrumentalisierung der Blockparteien und Mas- war sich jedoch bewußt, daß sie den Themenkomplex senorganisationen zur Integra tion bestimmter Bevöl- „Wirtschaft" damit nur unzureichend behandeln kerungsschichten in das System war das Thema der konnte. Anhörung in Bonn am 11. Dezember 1992 über „Erfassung und Einbindung des Menschen im SED- Der Themenbereich „Umweltpolitik und Umweltzer- Staat: Zur Rolle der Blockparteien und Massenorgani- störung" konnte von der Enquete-Kommission eben- sationen" [-4 Protokoll Nr. 22]. Vorträge von Siegf ried falls nicht eingehend behandelt werden. Eine einge- Suckut und Peter Joachim Lapp analysierten die den hende Darstellung des Umfangs der Umweltzerstö- Blockparteien zugewiesenen Funktionen. Hans-Her- rung in der DDR durch die Wirtschaftspoli tik der SED, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode der staatlichen Maßnahmen zum Schutz der ökologi- Die deutsche Expansionspolitik zwang die Groß- schen Grundlagen sowie des Umgangs mit dem Kon- mächte Großbritannien, Sowjetunion und USA im flikt zwischen ökonomischem Wachstum und Natur- Jahre 1941 zu jenem „seltsamen" Bündnis, dem es schutz hätte den Untersuchungsauftrag überschritten; schließlich vier Jahre später gelang, den deutschen sie hätte auch in zeitlicher Hinsicht nicht behandelt Aggressor und seine Verbündeten niederzuwerfen. werden können. Die Expertise „Umweltpolitik und Das Zusammentreffen amerikanischer und sowjeti- Umweltzerstörung" (Carlo Jordan) bietet daher scher Truppen am 25. April 1945 an der Elbe bei anhand ausgesuchter Beispiele lediglich einen ersten Torgau symbolisierte nicht nur den totalen Zusam- Überblick über Teilbereiche der Umweltproblematik menbruch des „Dritten Reiches", sondern auch die in der DDR sowie eine Bestandsaufnahme über die Tatsache, daß das weitere Schicksal des besetzten bisherige Forschung. Deutschland vor allem von den amerikanisch-sowjeti- schen Beziehungen abhängen würde. Zum Themenkomplex „Die Medien als Herrschaftsin- strument der SED" wurden Expertisenaufträge verge- Deutschland hatte 1945 nicht nur eine militärische ben zur Funktion der Presse (Gunter Holzweißig), des Niederlage erlitten, sondern mußte auch mit Gebiets- Rundfunks (Ansgar Diller, Silvia Müller) sowie des verlusten im Osten rechnen, die mit einer massenhaf- Fernsehens (Peter Ludes). ten Vertreibung der deutschen Bevölkerung eingelei- tet wurden. Es war von der NS-Diktatur befreit, aber Zum Themenbereich „Militarisierung der Gesell- auch den Besatzungsmächten bedingungslos ausge- schaft und die Rolle der ,bewaffneten Organe' " wur- liefert. Die in der Ära Bismarck gewonnene Groß- den Expertisen über „Die NVA 1956 — 1990" (Peter machtstellung, die bereits durch den Ersten Weltkrieg Joachim Lapp) und „Die Baueinheiten der Nationalen geschwächt worden war, hatte es selbstverschuldet Volksarmee der DDR — Einrichtung, Entwicklung vollends verspielt. und Bedeutung" (Uwe Koch) in Auftrag gegeben. Am 5. Juni 1945 übernahm der Alliierte Kontrollrat die Weiterhin gab die Enquete-Kommission zwei Doku- oberste Regierungsgewalt in Deutschland („Berliner mentationen von Quellen aus russischen Archiven in Erklärung"). Deutschland war damit zwar nicht als Auftrag: „Dokumentation zur sowjetischen Deutsch- Völkerrechtssubjekt ausgelöscht, aber faktisch und landplanung während des Zweiten Weltkrieges rechtlich zum Objekt der vier Siegermächte gewor- (1944/45) und zu den Anfängen der Besatzungsherr- den. Deren gegensätzliche Zielsetzungen und wider- schaft in der SBZ (1945)" (Jan Lipinsky); „Berichte des strebenden Interessen machten es zunehmend un- Hohen Kommissars der UdSSR in Deutschland aus möglich, zu einer gemeinsamen Grundlage für die den Jahren 1953/54" (Jan Foitzik). zunächst vereinbarte einheitliche Behandlung Deutschlands zu gelangen. Die Einteilung in Besat- zungszonen begann sich zur politischen Teilung zu verfestigen. b) Bericht Während des Kalten Krieges — dessen Ursachen in der Geschichtsforschung zwar umstritten, dessen 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Auswirkungen auf das Deutschlandproblem aber Rahmenbedingungen 1945 —1949 unbestreitbar sind — wurden die beiden Teile Deutschlands, die westliche Besatzungszonen und die 1.1 Historische Grundlagen sowjetisch besetzte Zone, in die We rt- und Ordnungs- vorstellungen der Besatzungsmächte eingebunden; sie gerieten in den „Sog der Systeme" (Theodor Wesentliche Grundlage der über vierzigjährigen Eschenburg). Dieser Systemkonflikt, in den später SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der auch die beiden deutschen Staaten einbezogen wor- sowjetischen und deutschen Kommunisten. Die ent- den sind, prägte die deutsche Teilungsgeschichte: In scheidende Voraussetzung für die Errichtung der den drei Westzonen wurde schrittweise die Soziale kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besat- Marktwirtschaft aufgebaut, vor allem aber die politi- zungszone (SBZ) und damit für die Teilung Deutsch- sche Demokratie und eine rechtsstaatliche Ordnung -lands schuf jedoch die nationalsozialistische Kriegs eingeführt. Damit wurden zugleich die Voraussetzun- und Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges. gen für die Integration in das demokratische Westeu- Vor dem Hintergrund einer totalen Militarisierung der ropa geschaffen. Der Bevölkerung der SBZ/DDR deutschen Gesellschaft haben Hitler und seine Partei dagegen wurde schrittweise das politische System der niemals einen Zweifel daran gelassen, daß die Errich- kommunistischen Diktatur, einschließlich der zentral- tung ihres „Großgermanischen Reiches deutscher gesteuerten Staatswirtschaft, aufgenötigt. Nation" auch mit Waffengewalt durchgesetzt werden sollte. Begünstigt durch das komplizenhafte Verhal- Vor diesem historischen Hintergrund hat sich die ten Stalins, entfesselten sie am 1. September 1939 mit Enquete-Kommission mit Fragen auseinandergesetzt, dem Angriff auf Polen den Krieg in Europa, der zwei die jahrzehntelang in Forschung und Publizistik Jahre später — durch den Überfall Deutschlands auf umstritten waren: Welche Entwicklungen verhinder- die Sowjetunion und den Angriff Jap ans auf Pearl ten eine Einigung der Alliierten auf konsensfähige Harbour — zum Weltkrieg ausgeweitet wurde. In Richtlinien für eine gemeinsame Verwaltung des seinem Verlauf ist das deutsche Volk durch die besiegten Deutschland? Wie definierten die alliierten systematische Judenvernichtung („Holocaust") und Verhandlungspartner ihre Interessenlage? Auf wel- durch die rücksichtslose Ausbeutung der eroberten che Weise bestimmte und mit welcher Intensität Länder mit schweren Hypotheken belastet worden. kontrollierte die SMAD die Entwicklung in der SBZ? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
In welchen Etappen vollzog sich die Transforma tion (1945) in vier Zonen einzuteilen und es einem Alliier- der politischen, wirtschaft lichen und gesellschaftli- ten Kontrollrat zu unterstellen. Berlin sollte gemein- chen Ordnung in der SBZ, nicht zuletzt die Umgestal- sam verwaltet werden [-> Protokoll Nr. 18]. tung der Parteien? In welchem Zeitraum bildeten sich Auch nach Kriegsende erreichten die Verhandlungen in den westlichen Besatzungszonen auf der einen und der Siegermächte trotz aller verbalen Beteuerungen in der SBZ auf der anderen Seite politische und nicht jene Verbindlichkeit, die für einen dauerhaften gesellschaftliche Strukturen heraus, die schließlich Zusammenhalt der vier Besatzungszonen erforderlich eine gemeinsame alliierte Deutschlandpolitik verhin- gewesen wäre. Durch die Konferenz von Potsdam derten? Obwohl von der historischen Forschung noch (Juli/August 1945) wurde vielmehr die maßgebliche längst nicht alle Probleme einer Geschichte der deut- Entscheidungsbefugnis für die jeweilige Besatzungs- schen Teilung geklärt werden konnten, der geregelte zone den einzelnen Oberbefehlshabern zugewiesen, Zugang zu den russischen Archiven außerdem immer so daß der nur einstimmig aktionsfähige Alliierte noch zu wünschen übrig läßt, sind auf die gestellten Kontrollrat mit seiner Zuständigkeit für die „Deutsch- Fragen gültige Antworten möglich [-> Bericht AG land als Ganzes „ betreffenden Fragen Sonderent- Archive; vgl. zu den Einzelheiten: Anhörungen und wicklungen in den einzelnen Besatzungszonen nicht Expertisen]. verhindern konnte. Zudem scheiterte die Überein- kunft der „Großen Drei" in Potsdam, zentrale Verwal- tungen für Gesamtdeutschland einzurichten, die eine 1.2 Die Rolle der Alliierten, insbesondere Klammerfunktion im Bereich der Exekutive hätten der Sowjetunion darstellen können. Die Westmächte USA und Großbritannien hatten Obwohl von der „Anti-Hitler-Koalition" frühzeitig neben der Wahrung ihrer ökonomischen und politi- Überlegungen für eine europäische Nachkriegsord- schen Interessen vor allem für das universalistische nung angestellt wurden und die bedingungslose Kapi- Prinzip der Demokratie und damit für Selbstbestim- tulation Deutschlands seit 1943 gemeinsames Kriegs- mung und Menschenrechte gefochten (Atlantik- ziel der Alliierten war, gelang es bis Kriegsende nicht, Charta 1941). Die Zielvorstellungen der Sowjetunion detaillierte Richtlinien für eine gemeinsame Politik stimmten damit inhaltlich nicht überein, auch wenn gegenüber dem besiegten Deutschland festzulegen. deren Vertreter in alliierten Verhandlungen dieselben Die Vordringlichkeit militärischer Entscheidungen, Worte wie „Frieden", „Freiheit" und „Demokratie" der Wunsch nach einem Offenhalten politischer gebrauchten. Die sowje tische Führung suchte aus Handlungsspielräume für die Zeit nach der deutschen großmachtpolitischen wie ideologischen Gründen Kapitulation sowie die teils gegensätzlichen, teils eine möglichst breite Einflußsphäre von im kommuni- noch wenig präzisierten Vorstellungen von einer stischen Sinne „fortschrittlichen" Staaten zu etablie- europäischen Friedensordnung und die in diesem ren sowie einen Ausgleich für die kriegs- und besat- Rahmen zu bestimmende Ro lle Deutschlands trugen zungsbedingten Verwüstungen ihres Landes zu erhal- dazu bei, daß bei Kriegsende in Europa, im Mai 1945, ten [-> Expertise Buchheim]. eine Übereinkunft über die politischen Strukturen eines neuen Deutschl and noch nicht erzielt worden Detaillierte Planungen für ein neues Deutschland war [-> Bericht Fischer/Rißmann]. nach dem militärischen Sieg, auf die von der sowjeti- schen Führung zurückgegriffen werden konnte, Die Konferenzen von Teheran (1943) und Jalta (1945) waren von der KPD-Führung im Moskauer E xil seit hatten in der deutschen Frage ausschließlich Grund- Februar 1944 in Zusammenarbeit zwischen sowjeti- satzerklärungen über die Notwendigkeit erbracht, schen Dienststellen und der KPD-Führung erarbeitet einen „dauerhaften Frieden" zu gewährleisten bzw. worden [-> Bericht Fischer/Rißmann; Wilke, Protokoll den „deutschen Nazismus und Militarismus" zu ver- Nr. 18]. Zu den wesentlichen Zielsetzungen eines nichten. Die Verhandlungen wurden durch wachsen- „Aktionsprogramms" vom Oktober 1944, das eine des gegenseitiges Mißtrauen und durch den aufkom- Rückkehr zur Weimarer Demokratie ausschloß, menden machtpolitischen Gegensatz zwischen der gehörten u. a. die enge Bindung an die Sowjetunion, Sowjetunion einerseits sowie Großbritannien und den die „Blockpolitik", d. h. die Unterordnung neu entste- USA andererseits belastet. Das sowjetische Bestreben, hender Parteien und politischer Organisationen unter nach den baltischen Staaten die Länder Ostmittel- und den Führungsanspruch der KPD, grundsätzliche Ver- Südosteuropas der eigenen Verfügungsgewalt zu änderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruk- unterwerfen, sowie die Uneinigkeit über eine ange- tur sowie die „Ausrottung von Faschismus und Impe- messene Reparationspolitik gegenüber Deutschl and rialismus mit ihren Wurzeln" . Die Deutschlandpolitik bestärkten vor allem die britische Regierung frühzei- der sowjetischen und deutschen Kommunisten war tig in ihrer Absicht, dem sowje tischen Hegemonial- darauf angelegt, alle entscheidenden Funktionen in streben zumindest auf deutschem Gebiet deutliche Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu kontrollieren Grenzen zu setzen [-> Bericht Fischer/Rißmann]. (Walter Ulbricht 1945: „Es muß demokratisch ausse- hen, aber wir müssen alles in der Hand haben."). Entgegen einer schier unausrottbaren Legende ist Europa in Jalta nicht geteilt worden. Allerdings traf Die sowjetische Besatzungsmacht begann in ihrer die „Europäische Beratende Kommission" im Septem- Zone rasch mit grundlegenden Veränderungen der ber 1944 eine weitreichende Entscheidung, die für die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, regionale Aufteilung Deutschlands bestimmend wer- die mit der Notwendigkeit begründet wurden, „die den sollte: Danach war vorgesehen, Deutschland für Garantie dafür zu schaffen, daß Deutschland nie die Zeit seiner militärischen Besetzung in drei, später wieder in der Lage sein wird, den Weltfrieden zu Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
brechen" [-> Bericht Fischer/Rißmann]. Tatsächlich Die Verantwortung für den Aufbau der SED-Diktatur führten diese Maßnahmen dazu, daß die entscheiden- trug in der Stalin-Ara, in der Moskau jede politische den Funktionen in Verwaltung, Wirtschaft und Gesell- Maßnahme diktierte, die sowje tische Führung. Doch schaft deutschen Kommunisten übertragen wurden, konnte sie sich dabei auf die deutschen Kommunisten Eine Bodenreform, die unter ökonomischen und sozia- der Ulbricht-Führung stützen, die sich aktiv am kon- len Gesichtspunkten nicht völlig unberech tigt gewe- tinuierlichen Ausbau ihrer Hegemonie beteiligten. sen wäre [-> Expertise Adolf Weber], wurde durch die Selbst in der Anfangszeit gab es keine alleinige Ablehnung jeder Entschädigung, den ideologisch Verantwortung der sowje tischen Kommunisten und geprägten Begründungszusammenhang und die un- erst recht nicht in den späteren Phasen. Die Sowjet- differenzierte Durchführung zum Anlaß hef tiger Aus- union bestimmte zwar die großen Linien der Politik, einandersetzungen [-> Protokoll Nr. 18]. Vergleichbar Konkretisierung und Ausführung blieben aber der rigorose Eingriffe ordnete die SMAD in den Bereichen DDR- bzw. SED-Führung überlassen, deren Verant- der Verwaltung und Justiz, der Bildung und Erzie- wortlichkeit eindeutig ist. hung, des Sports, der Industrie und der Banken an. Damit wurden in der Sowjetischen Besatzungszone Das System der SED-Diktatur konnte in erster Linie Tatsachen geschaffen, denen eine gesamtdeutsche deshalb vier Jahrzehnte überdauern, weil die Sowjet- Modellfunktion zugedacht war, die jedoch die Spal- union seine Existenz garantierte. Die inneren Fakto- tung Deutschlands forcierten. ren, die das Regime während seiner ständigen Schwankungen zwischen Krisen und relativer Stabili- Die SMAD, deren direkte Anleitung durch die ober- tät aufrechterhielten, sind im einzelnen noch genauer sten sowjetischen Führungsorgane ebenso noch näher zu erforschen. Daß dazu vor allem die Machtmecha- zu erforschen ist wie die Umsetzung dieser Politik, nismen der zentralistischen Diktatur zählten, aber entschied über alle Fragen von grundsätzlicher auch die integrativ wirkenden Faktoren [-> II. The- Bedeutung — einschließlich der Personalentschei- menfeld] sowie das Bemühen der Führung um „Neu- dungen — und überwachte auch die Durchführung tralisierung", d. h. um angepaßtes Verhalten größerer der eingeleiteten Maßnahmen [-> Protokoll Nr. 18, Bevölkerungskreise, kann schon jetzt festgestellt wer- Bericht Fischer/Rißmann]. Landesregierungen und den. -parlamente in der SBZ wurden in die Rolle von bloßen Ausführungsorganen oder Akklamationsgre- mien gedrängt. Zeitzeugen, die sich in den ersten 1.3 Entstehung und Umgestaltung der Parteien Nachkriegsjahren um politische Spielräume für die beiden bürgerlichen Parteien CDUD und LDP bemüh- Die überraschend frühe Zulassung politischer Par- ten, haben mehrfach ihren Eindruck bekräftigt, daß teien (Befehl Nr. 2 der SMAD, 10. Juni 1945) in der sie die Entscheidungsgewalt der SMAD und insbeson- Tradition des deutschen Parteiensystems (SPD, KPD, dere auch die abgestimmte Rollenverteilung zwi- CDU, LDP) zeigte das Bestreben Moskaus, die Ver- schen SMAD und KPD/SED als „allmächtig" erlebten hältnisse in der SBZ im Hinblick auf die gesamtdeut- [-> Protokoll Nr. 18]. Neuere wissenschaftliche Unter- sche Option für die anderen Besatzungszonen mög- suchungen und Erfahrungsberichte legen es nahe, die lichst zügig als Vorbild vorzuprägen. Ausübung der Kontrolle durch die Org ane der SMAD und deren vorgesetzte Moskauer Behörden aufgrund Um eine unkontrollierte Entwicklung von vornherein der sowje tischen Akten detailliert zu erforschen, um auszuschließen, formierten SMAD und KPD eine Ein- so zu differenzierteren Bewe rtungen zu gelangen heitsfront der „antifaschistisch-demokratischen" Par- [-> Expertise Baar/Matschke, Protokoll Nr. 18, Bericht teien, deren Fundament das vorausgegangene Ak- Fischer/Rißmann]. tionsabkommen zwischen KPD und SPD vom 15. Juni 1945 war. Die Entscheidung der Sowjetunion, die Stalinisierung Eine Zäsur wurde der Zusammenschluß von KPD und ihres Besatzungsgebietes unter Aufrechterhaltung SPD zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutsch- der gesamtdeutschen Op tion forciert zu be treiben, lands" (SED) im Frühjahr 1946 nicht nur für das kündigte sich in der SBZ spätestens seit dem II. Par- Parteiensystem in der SBZ. Die KPD, die nach ihrer teitag der SED (September 1947) an; sie fand insbe- Gründung zunächst auf ihre Sonderstellung Wert sondere in der nachdrücklichen Durchsetzung der gelegt hatte, nahm seit Herbst 1945 Kurs auf eine SED-Hegemonie im Parteiensystem ihren Ausdruck. Einheitspartei, nachdem sich die SPD als stärkste Nach jüngsten Erkenntnissen wurde diese Absicht politische Kraft profiliert und ihr Vorsitzender Otto innerhalb der SED früher verfolgt als bisher angenom- Grotewohl einen Führungsanspruch erhoben hatte men [-> Protokoll Nr. 18]. [-> Expertise Müller III]. Grotewohl schwenkte dann aber, unter dem Druck von sowjetischen Besatzungs- Mit dem „real existierenden Sozialismus" bildete sich offizieren und einigen Landesvorsitzenden seiner Par- in der DDR ein diktatorisches Gewalt- und Unrechts- tei (Buchwitz, Hoffmann, Moltmann) um. [-> Expertise system heraus, das nicht dem Machtmißbrauch ver- Müller III]. antwortungsloser Einzelpersonen entsprang (der kam erschwerend hinzu), sondern sich folgerichtig aus Demgegenüber sah Kurt Schumacher die Trennlinie seinen historischen Wurzeln entwickelte, die in der zwischen KPD und SPD darin, daß die Kommunisten Übertragung des sowje tischen Modells auf die SBZ fest „an Rußland als Staat und an seine außenpoliti- liegen. Seine Entstehung ist ohne die gebührende schen Ziele gebunden" seien. Er kämpfte gege n die Berücksichtigung der deutschlandpolitischen Zielset- „Einheit" , in der Sozialdemokraten „Blutspen der" für zungen Stalins nicht zu erklären. die Kommunisten sein sollten. Bei der Urabstimmung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 der Berliner SPD-Mitglieder, die im Ostsektor auf- nicht anpassungswillige Sozialdemokraten und Korn- grund eines SMAD-Verbots unterbleiben mußte, munisten in der SED wurden politisch ausgeschaltet, stimmte in den Westsektoren eine große Mehrheit nicht selten inhaftiert oder sahen sich zur Flucht in die gegen die Vereinigung, allerdings für eine enge westlichen Besatzungszonen gezwungen. Zusammenarbeit mit der KPD [-> Expertise Heimann] . Der nachdrückliche Widerstand Schumachers und Gegen spürbaren Widerstand von Sozialdemokraten anderer antikommunistischer Sozialdemokraten ge- setzte dann die SMAD im Ap ril 1946 die Zwangsver- gen die Vereinigung von KPD und SPD war eine der einigung [-3 Exper tise Müller III] von KPD und SPD Voraussetzungen für die Schaffung eines demokrati- zur „Einheitspartei" SED nur in ihrem Besatzungsge- schen Staatswesens in den Westzonen. Ebenso biet durch. Bei der Vereinigung deklarierte sich die gehörte der Widerstand führender christlicher Demo- SED formal noch als sozialistische, demokratische und kraten (Andreas Hermes, Jakob Kaiser u. a.) und deutsche Arbeiterpartei. Liberaldemokraten (Waldemar Koch, Arthur Lieute- In dem Maße, in dem auf den alliierten Außenmini- nant) zu den Grundlagen des demokratischen, antito- sterkonferenzen die Unvereinbarkeit der Zielsetzun- talitären Wiederaufbaus im Nachkriegsdeutschland gen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion [-> Dieter Rieke, Erika Wolf, Wolfg ang Schollwer, deutlich wurde und somit taktische Rücksichten Mos- Protokoll Nr. 18]. Die Etappen im Entstehungsprozeß kaus auf die ehemaligen Verbündeten sowie auf die der beiden deutschen Staaten in den Jahren 1947 bis deutsche Öffentlichkeit an Gewicht verloren, setzte 1949 werden ausführlich im Bericht von Alexander die SED ihr Machtmonopol zunehmend offen durch. Fischer und Martin Rißmann dargestellt. Die These vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" wurde widerrufen, die SED seit 1947/ 1948 zur „Partei neuen Typus" umgestaltet [-> Exper- 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung tise Müller III]. von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Der „demokratische Zentralismus", die strikte Herr- schaftsausübung von oben nach unten sowie die Die SED sicherte ihr — verharmlosend „führende „Parteidisziplin" wurden zu Prinzipien des Parteiauf- Rolle" genanntes — Machtmonopol durch eine Reihe baus. Das Bekenntnis zur KPdSU Stalins sowie zur von Elementen totalitärer Herrschaft: „führenden Rolle" der Sowjetunion und der Kampf — verbindliche Ideologie des Marxismus-Leninis- gegen den „Sozialdemokratismus" waren nunmehr mus für alle SED-Mitglieder verpflichtend. Die Partei wurde nach sowje tischem Vorbild durch „Parteisäu- — enge personelle und institutionelle Verschmel- berungen" (allein 1950/51 Ausschluß von 150 000 zung von Partei und Staat Mitgliedern und Funktionären) zur monolithischen — Aufhebung von Gewaltenteilung, föderalem Prin- Organisation. In den fünfziger Jahren gab es im zip und kommunaler Selbstverwaltung Politbüro zwar Auseinandersetzungen um die Politik der Partei, die jedoch die Ulbricht-Führung für sich — Steuerung der Justiz entschied, zugleich wurden die Vertreter einer Politik des „dritten Weges" verfolgt [-> Protokoll Nr. 18]. — straffe zentralistische Lenkung der Partei, Herr- schaft der Parteispitze Parallel dazu wurde die Gleichschaltung der bürger- lichen Parteien forciert. Im Sommer 1945 hatten sich in — parteiliche Kaderpolitik und Nomenklatursystem der SBZ die CDUD und LDP als demokratische Par- — auf allumfassende Kontrolle und Verfolgung aller teien konstituiert; bei den Landtagswahlen 1946 „Abweichungen" angelegter Geheimdienstappa- erhielten sie, trotz massiver Behinderungen durch die rat („Schild und Schwert der Partei") Besatzungsmacht, insgesamt mehr Stimmen als die SED, die z. B. in Berlin hinter SPD (48,7 vH) und CDUD — Instrumentalisierung der Wi rtschaft durch ihre (22,2 vH) sogar nur den dritten Platz (19,8 vH) ein- Umwandlung in eine zentralgeleitete Planwirt- nahm. Anfänglich konnten CDU und LDP, trotz Mit- schaft wirkung in der von den Kommunisten ins Leben — Beherrschung von Armee und Polizei durch die gerufenen „Einheitsfront der antifaschistisch- demo- Partei kratischen Parteien", ein eigenständiges Profil bewahren; dies schloß die Bemühung um gesamtdeut- — Anleitung der Massenorganisationen und Block- sche Parteistrukturen ein. Mit massiver Unterstützung parteien als „Transmissionsriemen" der Besatzungsmacht gelang es der KPD/SED aber zunehmend, ihren Führungsanspruch durchzusetzen — Instrumentalisierung der Medien als Agita tions- und damit die „Einheitsfront" im Sinne ihrer Bündnis- und Propagandamittel der Partei mit dem Ziel des politik zu instrumentalisieren [-> Protokoll Nr. 18, Meinungsmonopols - Expertisen Müller III, Richter I]. Hierzu diente auch — möglichst totale Erfassung des Menschen (Mas- die Gründung und Blockeinbindung zweier weiterer senorganisationen; politisch-ideologische Erzie- „bürgerlicher" Parteien durch SMAD und SED, die hung; Dauermobilisierung; Militarisierung der von vornherein unmittelbar von letzterer abhängig Gesellschaft) waren: der Demokratischen Bauernpartei Deutsch- lands (DBD) und der National-Demokratischen Partei Um die Strukturen der SED-Diktatur und die Metho Deutschlands (NDPD). Nicht anpassungswillige den ihrer Herrschaftspraxis beurteilen zu können, Kräfte in den bürgerlichen Altparteien ebenso wie sind vorrangig zwei Fragestellungen wich tig, die für Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode die Klärung von Machtausübung und Machterhaltung beschluß vom Juli 1960, demzufolge alle staatliche der SED-Führung eine wichtige Rolle spielen: Angelegenheiten be treffenden Politbüro- und ZK- Beschlüsse unverändert dem Ministerrat als Vor- — Wie wurden Entscheidungen vorbereitet, gefällt, lage zu unterbreiten waren) sowie ausgeführt und kontrolliert? — die Satzungen und Statuten der Blockparteien und — Wie wurde die Machthierarchie in der Funktio- Massenorganisationen närsschicht aufgebaut, wie wurde sie erhalten und regeneriert, wie wurde die Zuverlässigkeit dieser Das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" (d. h. Funktionärsschicht bewirkt? die absolute Verbindlichkeit der Beschlüsse der höhe- Andere Faktoren, die für die Machtausübung und ren Organe und Gremien für die unteren einschließ- Machterhaltung der SED-Spitze und ihres Apparats lich der Vorgaben der Kaderpolitik für Wahlen in von Bedeutung waren, können nur erwähnt, aber Leitungsgremien) als Grundregel der Kompetenzhier- nicht näher erläutert werden, sie sind Desiderate der archie in Partei und Staat wurde sowohl im SED- Forschung: die politische und militärische Präsenz der Programm als auch in der Verfassung von 1968/1974 Sowjetunion, die äußeren Einwirkungen aus dem (Artikel 47 Abs. 2), darüber hinaus aber auch in den Westen, die innerdeutschen Beziehungen, die ökono- Statuten und Satzungen der Blockparteien und Mas- mische Lage, Art und Ausmaß der Repression, die senorganisationen festgeschrieben [-> Exper tise psychologische Befindlichkeit der Bevölkerung usw. Brunner I; Bericht Ammer; Protokolle Nr. 25 und Hier werden nur einige wich tige Fragen aus den 26]. beiden obengenannten Problemkreisen, im wesentli- chen für die Zeit nach dem IX. Parteitag der SED 1976, behandelt. Der Forschungstand zeigt noch viele 2.2 Zur Praxis der Machtausübung „weiße Flecken", und insbesondere die Archivsitua- der SED-Führung tion in Rußland ist derzeit noch so problematisch, daß die Vergabe von Expertisen nicht sinnvoll erschien. Eine unentbehrliche Grundlage der Herrschaftspraxis Für die Vergabe von Forschungsaufträgen war die der SED-Führung war die Durchdringung aller Berei- Zeit, die der Enquete-Komission in der laufenden che von Staat und Gesellschaft (ausgenommen die Legislaturperiode zur Verfügung stand, nicht ausrei- Kirchen) mit den Organisationsstrukturen der SED. chend. Dazu gehörten insbesondere
— die Existenz von Parteiorganisationen in den ober- 2.1. Rechtliche und sonstige Regelungen zum sten Verwaltungs- und Justizbehörden (in wichti- Aufbau und zur Machtsicherung der SED gen Ressorts im Rang einer Kreisparteiorganisa- tion) sowie in allen zentralen und örtlichen Staats- Die Machtposition („führende Rolle") der SED in der organen DDR und die Machthierarchie in der Partei („demo- kratischer Zentralismus") wurden zum größten Teil — die Existenz der Politischen Hauptverwaltung erst lange nach ihrer tatsächlichen Durchsetzung auch bzw. der politischen Verwaltungen in den bewaff- rechtlich festgeschrieben. Die umfassendsten und neten Organen und bei der Deutschen Reichsbahn, wichtigsten dieser Regelungen waren die zugleich als Leitungen der Parteiorganisatio- nen ihres Zuständigkeitsbereiches (z. B. im Falle — das Programm und das Statut der SED von 1976 der NVA im Rang einer Bezirksparteiorganisation) (ähnlich wie schon 1963), die beide in ihrem fungierten politischen Gewicht bis zum Ende des SED-Regi- mes vor der Verfassung rangierten (die SED ist — die faktische Leitung der Wirtschaft über den von danach „die führende Kraft der sozialistischen der Partei festgelegten Pl an und über hierarchisch Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiter- gegliederte Leitungsinstrumente bis zu den Partei- klasse und der Werktätigen, der staatlichen und leitungen in den Betrieben, in Großbetrieben über gesellschaftlichen Organisationen") und Industriekreisleitungen oder deren Erstem Sekre- tär, einem vom ZK eingesetzten und ihm unterstell- — die DDR-Verfassung von 1968/74 (Artikel 1, ten „Parteiorganisator des ZK" Abs. 1), — die Parteiorganisationen in den Massenorganisa- darüber hinaus: tionen bzw. deren Leitungen, z. B. als Kreispar- — das Gesetz über den Ministerrat vom 16. Oktober teiorganisation „Zentrale Leitungen der Gewerk- 1972 (§ 1 Abs. 1 Satz 2) schaften" für den FDGB-Bundesvorstand und die Zentralvorstände der Industriegewerkschaften — das Statut des Nationalen Verteidigungsrates von (Ziff. 69 SED-Statut) 1973/1981 — die Parteigruppen in der Volkskammer und in den — das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen örtlichen Volksvertretungen, die die Mitglieder vom 4. Juli 1985 (§ 1 Abs. 1 Satz 1) der SED-Fraktion und die der SED angehörenden — alle Statuten der Ministerien und anderer zentraler Mitglieder der Fraktionen der Massenorganisatio- Staatsorgane nen umfaßten (Ziff. 69 SED-Statut) — unveröffentlichte, aber inzwischen zugängliche — die Parteiorganisationen im Bildungswesen und in Beschlüsse der Parteiführung (z. B. ein Politbüro- den wissenschaftlichen Einrichtungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
— die Existenz „zeitweiliger Parteigruppen", denen Kreisleitungen, die etwa 44 000 hauptamtlichen Par- die an Kongressen und ähnlichen Veranstaltun- teifunktionäre (1989) sowie etwa 100 000 Personen gen teilnehmenden SED-Mitglieder angehörten des Militär- und Sicherheitsapparates. In der DDR (Ziff. 69 SED-Statut) spielte das „Parteiaktiv", ein Kreis von ca. 250 000 bis 300 000 Funktionären, bei der Bewäl tigung von Kri- — das Kontrollrecht der Parteiorganisationen in senlagen eine erhebliche, in den letzten Jahren der Betrieben und anderen Einrichtungen über die DDR jedoch abnehmende Rolle. Tätigkeit der Betriebsleitung, Institutsleitung usw. (Ziff. 63 SED-Statut) Alle Partei- und Staatsfunktionäre, Wirtschaftsfunk- tionäre sowie Funktionäre in den Massenorganisatio- Sowohl auf zentraler als auch auf regionaler Ebene nen in wichtigen oder für wichtig gehaltenen Positio- gab es einen weitgehend parallel verlaufenden Auf- nen waren „Nomenklaturkader", d. h. zuverlässige bau der Ressorts im Partei- wie im Staatsapparat, so Funktionäre, die in „Nomenklaturlisten" unterschied- daß den Fachabteilungen des ZK-Apparates die Fach- licher Wertigkeit von der Parteiführung, von regiona- ministerien,- den Fachabteilungen der SED-Bezirks len Parteileitungen und auch von Staatsorganen und Kreisleitungen die Fachabteilungen der Räte der geführt wurden. Die in den Nomenklaturlisten enthal- Bezirke bzw. der Kreise zugeordnet waren. Die Par- tenen Positionen galten als bedeutsam für das Funk- teiinstitutionen waren den Verwaltungsinstitutionen tionieren und die Stabilität des SED-Regimes. Aus stets übergeordnet. Alle Vorlagen kamen entweder offiziellen Angaben läßt sich schließen, daß es in den aus dem Parteiapparat oder bedurften zumindest achtziger Jahren mehr als 320 000 Nomenklaturkader seiner Zustimmung, bevor auf staatlicher Ebene dar- gegeben haben muß. über beschlossen werden konnte. Analog war der Zugriff der SED auf das Gerichtswesen gestaltet. Die Parteiführung schuf sich über — auch heute noch Charakteristisch für die Herrschaftspraxis der SED- nicht hinreichend erforschte — Kader- und Nomen- Führung war die Konzentration der Entscheidungsbe- klaturordnungen einen hierarchisch strukturierten fugnisse beim Politbüro und beim ZK-Sekretariat. Personalstamm und sicherte damit eine sorgfältige Politbüro und ZK-Sekretariat entschieden ständig Auswahl unter den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern, zu über eine Fülle von Einzelproblemen, wobei häufig einem kleineren Teil auch unter Parteilosen und nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwich tigem Angehörigen der Blockparteien. Letztere durften unterschieden wurde. bedeutsame Positionen in ihren Parteiapparaten nur mit Zustimmung der SED besetzen, so daß die Füh- Das ZK als nominell höchstes Führungsgremium der rungspositionen der Blockparteien ebenfalls zum SED zwischen den Parteitagen kommt kaum als Nomenklatursystem der SED zu zählen sind. Organ der Entscheidungsfindung in Betracht; es diente unter Honecker nur noch als Podium der Die Kriterien für die Auswahl und die Karrieren von Verkündung der vom Politbüro gefällten Entschei- Kadern sind in der DDR nicht bekannt gewesen. Der dungen. Diese wurden im Politbüro bis zum Sturz veröffentlichte Beschluß des ZK-Sekretariats zur Honeckers fast immer ohne Abstimmung oder ein- Kaderpolitik vom 7. Juni 1977 enthält lediglich allge- stimmig getroffen; die Meinungen des Generalsekre- meine, nahezu unerfüllbare sowie umfassende Pflich- tärs und herausragender Politbüromitglieder (z. B. ten- und Anforderungskataloge. Aus der Praxis und Günter Mittag) waren stets ausschlaggebend. Ober- durch zahlreiche Zeitzeugenaussagen ist jedoch einstimmend wird berichtet, daß der Informationsgrad bekannt, welche Kriterien die Karrieren von Kadern der meisten Politbüromitglieder und -kandidaten bei vorrangig bestimmten: Problemen, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich — politisch-ideologische und möglichst nachgewie- fielen, relativ gering gewesen ist, obwohl grundsätz- sene Zuverlässigkeit (u. a. die Tatsache der lich alle Funktionäre des Politbüros an dessen Zusammenarbeit mit dem MfS) Beschlüssen beteiligt wurden [-> Exper tise Brunner I, Bericht Ammer, Protokolle Nr. 25 unf 26]. — familiärer Hintergrund (große Teile der Funktio- närsschicht rekrutierten sich aus sich selbst heraus, vor allem im Sicherheitsapparat) 2.3 Rekrutierung des Funktionärsapparats der SED — keine Kirchenzugehörigkeit — fachliche Qualifikation Die Diktatur der SED war „Herrschaft durch Kader", Voraussetzung für ihr Funktionieren war die Existenz — keine Westverwandtschaft oder zumindest Ver- einer eng mit der Parteispitze verbundenen Schicht zicht auf Westkontakte von Partei- und Staatsfunktionären, die die Politik der — positive Beurteilung durch das MfS (nahezu unver- Parteiführung ausführte, sie gegenüber der Bevölke- zichtbar vor allem in den letzten Jahren der DDR) rung vertrat und erforderlichenfalls auch mit Zwangs- und nicht zuletzt auch mitteln durchsetzte. Dieser Funktionärsschicht dürf- ten von den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern, darunter — persönliche Beziehungen ca. 1,8 Millionen Funktionsträger, nur etwa 350 000 bis 400 000 Funktionäre, also etwa 3 Prozent der Auch außerhalb der offiziellen Kaderpolitik war es erwachsenen DDR-Bevölkerung, angehört haben. höheren Partei- und Staatsfunktionären gelegentlich möglich, geeignete Mitarbeiter vor allem wegen ihrer Zum Kern der Funktionärsschicht gehörten die mei- fachlichen Qualifikation und nicht allein wegen ihrer sten der über 100 000 Parteisekretäre, der überwie- unbedingten politischen Zuverlässigkeit einzustellen, gende Teil der Mitglieder von SED-Bezirks- und sofern das MfS seine Zustimmung erteilte [-> Exper- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode ltise Brunner I, Bericht Ammer, Protokoll Nr. 25/26, ienangehörigen) bewirkte jedoch, daß der Funktio- Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993]. närsapparat der SED innerhalb und außerhalb der Partei bis etwa Mitte 1989 im Sinne der Führung im Aus den Berichten der Zeitzeugen ergab sich, daß das wesentlichen zuverlässig blieb [-> Bericht Ammer; Nomenklatursystem und das die Kaderpolitik bestim- Protokolle Nr. 25 und 26, Vortrag Abg. Keller am mende Regelwerk auch unter SED-Funktionären 22. Januar 1993]. nicht allgemein bekannt gewesen sein dürfte. Beide Strukturelemente dürften bis zum Ende des SED- Regimes weitgehend dem sowje tischen Vorbild ent- sprochen haben. Insgesamt sind auf diesem Gebiet die 2.5 Zu den Beziehungen zwischen SED und KPdSU Desiderate der Forschung noch groß. Zu diesem Thema kann wegen der z. Zt. geringen Materialbasis (daher konnten dazu auch keine Exper- tisen vergeben werden), den schon erwähnten 2.4 Methoden der „Kaderführung" Schwierigkeiten in den russischen Archiven sowie widersprüchlicher Zeitzeugenaussagen, vor allem für Die Parteiführung verstand es, ihre Funktionäre, teil- die Zeit seit Mitte der siebziger Jahre, noch kein weise auch die einfachen Parteimitglieder, durch Bericht vorgelegt werden. Das zentrale Themenfeld Kataloge letztlich unerfüllbarer Anforderungen in „Beziehungen zwischen SED und KPdSU" bleibt ein Parteiprogramm und -statut sowie in anderen Füh- wichtiger Merkposten für Forschungen und weitere rungsdokumenten der SED-Zentrale in ein — oft nur Untersuchungen. Um die hier vorhandenen For- psychologisch wirksames — Abhängigkeitsverhältnis schungslücken schließen zu können, ist die Nutzung zu bringen. Der Bewahrung dieser Abhängigkeit der russischen Archive unverzichtbar [-> Bericht AG dienten u. a. die Pflicht zur regelmäßigen oder auch Archive]. gesondert angeordneten Berichterstattung vor über- geordneten Parteileitungen, die „Abrechnung von Parteiaufträgen", „Kritik und Selbstkritik" sowie ins- 2.6 Zur Frage der Verantwortung besondere regelmäßige Mitgliederüberprüfungen. Letztere — zwei davon in den achtziger Jahren — Die Frage der Verantwortung für die Herrschaftsme- bedeuteten zuletzt nicht mehr, wie noch zu Beginn der fünfziger Jahre, eine großangelegte „Parteisäube- thoden und -praktiken des SED-Regimes mit all ihren rung", wohl aber eine jedes Parteimitglied treffende schwerwiegenden Konsequenzen für die Bürger der DDR, insbesondere für die unmittelbar be troffenen Zuverlässigkeitsprüfung, über deren Ausgang sich Opfer, zählt wohl zu den sensibelsten und komplizier- niemand völlig sicher sein konnte. testen Problemen, denen sich die Enquete-Kommis- Ein unentbehrliches Mittel der Kaderführung ist die sion bei der Aufarbeitung von Geschichte und Folgen innerparteiliche Informationspolitik der Parteispitze der SED-Diktatur gegenübersah, auf die es aber zu gewesen. Der Zugang zu Informationen war in der reagieren gilt. Das bet rifft auch die daraus abzuleiten- Funktionshierarchie ein Privileg nach dem Motto: Je den Schlußfolgerungen für die Gegenwart. Es wird höher die Position, desto größer die Informationsmög- sowohl das Recht auf historischen Irrtum zu bedenken lichkeit. Dazu gehörten differenzierte Informationen sein als auch das Bedürfnis nach moralischer Verur- der Funktionäre in speziellen Beratungen mit höheren teilung verwerflicher Taten. Das gilt in ähnlicher Parteileitungen, die Verbreitung interner Informa- Weise für Verstrickung, Manipula tion, mangelnde tionsmaterialien, das mehrstufige System der Partei- Zivilcourage, Anpassung und persönliche Schuld, die schulen sowie Sonderveranstaltungen des Parteilehr- viele auf sich geladen haben, ohne daß immer eine jahres für ausgewählte Funktionäre. Diese selektive juristische Ahndung möglich sein wird. Für diese sind Informationspolitik war mit dem Versuch der Abschot- allein rechtsstaatliche Grundsätze (Strafverfahren tung gegenüber allen der SED-Führung unerwünsch- und individueller Schuldnachweis, Rückwirkungs- ten Informationen und Einflüssen verbunden — insge- verbot usw.) maßgeblich. Es wird stets ein schwieriges samt eine Strategie, die im wesentlichen bis in die Unterfangen bleiben, Verhaltensweisen in einem letzten Jahre des SED-Regimes erfolgreich praktiziert totalitären System ebenso gerecht wie angemessen zu worden ist. beurteilen. Jedoch sollten Verantwortlichkeiten, di- rekte und indirekte, in der notwendigen Abstufung Die Vergabe von Privilegien zur Belohnung und (Hierarchie der Verantwortung) zu präzisieren und zu Disziplinierung von Funktionären war ein weiteres kennzeichnen sein. Mittel der Kaderführung, wobei viele dieser „Privile- gien" nur unter den Bedingungen einer Mangelwirt- Die Aufstellung unzweideutiger Kriterien für die Ver- schaft als solche gelten konnten. Vorteile wie die antwortlichkeit von Funktionsträgern des SED-Regi- Zuweisung von Wohnungen und hochwertigen Kon- mes stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die eine sumgütern, eine höhere Entlohnung, berufliche Kar- Klärung dieser Frage nur in engen Grenzen ermögli- rierechancen, günstigere Ausbildungsmöglichkeiten - chen. Die schon vor 1989 weithin bekannten Grob- für die Kinder und gelegentlich auch ein gewisser strukturen des Regimes reichen dafür und erst recht Schutz vor Maßnahmen des MfS waren in der Regel für die Feststellung von Verantwortlichkeiten im Ein- nicht ohne erhebliche zusätzliche Arbeitsbelastungen zelfall nicht aus. Die Erforschung der Feinstrukturen und auch psychische Belastungen zu haben. Der im befindet sich aber trotz der jetzt offenliegenden Quel- Falle der Insubordination drohende Verlust echter len noch in den Anfängen. Die Konzentration der oder scheinbarer Privilegien (bis hin zum Verlust der Macht in den Händen weniger Spitzenfunktionäre, beruflichen Existenz und zu Nachteilen für die Fami die auf das Prinzip des „demokratischen Zentralis- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 mus" gegründete starre Machthierarchie, der Vor- oder sachlichen Zuständigkeit — die Sekretariate der rang oft mehrdeutiger Parteibeschlüsse vor allen SED-Bezirks- und Kreisleitungen bzw. Erste Sekre- anderen Normen, die Geheimhaltung von Entschei- täre [-> Expertisen Brunner I, Prieß, Bericht Ammer, dungsvorbereitungen und Entscheidungswegen so- Schabowski, Protokoll Nr. 25]. Dies kann durchaus wie unklare und wechselnde Kompetenzabgrenzun- auch bei Parteisekretären wich tiger Grundorganisa- gen bieten ehemaligen Funktionsträgern nicht leicht tionen der SED, z. B. im Sicherheitsapparat, in zentra- zu widerlegende Argumente, wenn sie Verantwort- len Staatsorganen sowie in den Räten der Bezirke und lichkeit im konkreten Fall bestreiten oder verschleiern Kreise, der Fall gewesen sein. Sie ist besonders wollen. Hierzu zählen vor allem das Abschieben der schwerwiegend für die Angehörigen der Repressions Verantwortung- auf übergeordnete Ebenen des Partei organe und ihre Auftraggeber in SED-Gremien, dage- und Staatsapparats bis in die Spitzenpositionen, von gen abgestuft weniger bedeutsam für viele Mitarbei- der staatlichen Ebene auf die Parteiebene und nicht ter in den Apparaten von Staatswirtschaft, Wissen- zuletzt von DDR-Institutionen auf sowje tische Wei- schaft, Bildungswesen usw. sungen oder Einflüsse. Die Gesamtverantwortung ist aufgrund der seit lan- gem bekannten, durch Expertisen und Anhörungen zusätzlich belegten „Suprematie der SED" [-> Vor- 2.6.1 Gesamtverantwortung: Zur Hierarchie der träge Schenk, Seiffert, Protokoll Nr. 25, Expertisen Verantwortlichkeiten Brunner I, Bericht Ammer] bei Parteifunktionären und Angehörigen von Leitungsgremien der SED größer als Es gibt Aussagen von Spitzenfunktionären und auch bei Funktionären im Staatsapparat, Abgeordneten der von nachgeordneten Funktionsträgern über ihre Volksvertretungen, Funktionären der nichtkommuni- Gesamtverantwortung für die Herrschaftsmethoden stischen Blockparteien sowie der Massenorganisatio- des SED-Regimes und ihre Folgen in allgemeiner nen. In allen relevanten Bereichen gab es in der DDR Form, je nach Ranghöhe des Bekennenden abgestuft Überschneidungen von Strukturen der SED und der für das Regime als Ganzes oder für den eigenen anderen Apparate. Mit Hilfe des Nomenklatursystems Zuständigkeitsbereich H Schürer, Schabowski, En- besetzte die SED-Führung alle bedeutsamen Positio- zian, Krause, Protokolle Nr. 25 und 26]. Solche nen außerhalb des Parteiapparates mit ihren Mitglie- Bekenntnisse sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie sind dern und Funktionären und integ rierte diese durch im historischen und moralischen Sinn hilfreich, weil Einbeziehung in ihre Leitungsgremien in die Struktu- sie Rolle, Funktionsweise und Bedeutung von Organi- ren der Partei [-> Exper tise Brunner I; Bericht Ammer]. sationen, Gremien, Institutionen usw. verdeutlichen Funktionäre, die als Staatsfunktionär zugleich Mit- und so der Entstehung von Legenden entgegenwir- glied des Sekretariats einer SED-Leitung der gleichen ken. Ebene waren (z. B. Vorsitzender eines Rates des Kreises und Mitglied des Sekretariats der SED-Kreis- Eine unterschiedlich zu gewichtende Gesamtverant- leitung), sind daher hinsichtlich ihrer Gesamtverant- wortung (unabhängig von persönlicher Verantwor- wortung nicht wesentlich anders zu bewerten als tung des einzelnen Funktionärs für bestimmte Maß- Parteifunktionäre, die direkt und überwiegend im nahmen, Beschlüsse usw.) der Mitglieder bzw. Mitar- Parteiapparat tätig waren. Angehörige des Staatsap- beiter bestimmter Organisationen, Gremien oder parates und anderer Gremien außerhalb der SED Institutionen ergibt sich zum einen daraus, daß die können ihre Gesamtverantwortung nicht mit dem Tätigkeit als Partei- und Staatsfunktionär in a ller Hinweis auf die „Suprematie der SED" zurückweisen. Regel freiwillig übernommen wurde. Kaum ein Funk- Dies gilt z. B. für die Volkskammer der DDR, die u. a. tionär hat sich also, wie häufig behauptet, in einem das StGB von 1968 und seine Verschärfungen in den echten „Notstand" befunden. Sie ergibt sich zum siebziger Jahren beschlossen hat und noch im Juni anderen aber aus der Tatsache, daß jeder Partei- und 1989 eine Resolution verabschiedete, mit der die Staatsfunktionär dem SED-Regime nicht nur im Rah- Niederschlagung der Demokratiebewegung in China men seiner Zuständigkeit zu dienen hatte, sondern begrüßt wurde. Die Gesamtverantwortung der Volks- auch die Politik der SED und die Beschlüsse ihrer kammer für diese und ähnliche Beschlüsse besteht Führung sowie generell die Staats- und Gesellschafts- ungeachtet der Tatsache, daß z. B. die Strafgesetzge- ordnung der DDR mittrug [-> Exper tise Brunner I, bung der DDR oder die China-Resolu tion auf Veran- Bericht Ammer, Enzian, Protokoll Nr. 26]. lassung der SED-Führung beschlossen und die Ent- würfe zweifellos bis ins Detail im ZK-Apparat vorfor- Im Hinblick auf die Gesamtverantwortung für die muliert wurden. Verhältnisse in der DDR insgesamt oder in einzelnen Bereichen muß eine bestimmte Abstufung unterschie- Aus den vorstehenden Darlegungen können nach den werden, was die Enquete-Kommission in ihrem Ansicht der Enquete-Kommission folgende Konse- Bericht nur exemplarisch darstellen kann. Sie wiegt in quenzen gezogen werden: Personen, die sich durch der Regel schwerer bei Mitgliedern von Spitzengre- ihre Funktionen im SED-Regime anerkanntermaßen mien der SED (Politbüro, ZK-Sekretariat, teilweise - kompromittiert haben, sind für leitende Posi tionen in auch ZK) als bei Angehörigen der unteren Leitungs- den Institutionen des demokratischen Staates sowie in organe und wird letztlich in der Regel eher geringfü- demokratischen Parteien nicht geeignet. Wer als maß- gig oder gar bedeutungslos bei der Masse der Klein- geblicher Funktionsträger für die Zustände in der funktionäre und einfachen Mitglieder der SED. DDR insgesamt oder in wichtigen Teilbereichen Ver- Gesamtverantwortung in großem Ausmaß tragen antwortung trug, dem kann keine politische Macht, Funktionäre von Gremien wie SED-Politbüro und die immer auch Macht über Menschen einschließt, ZK-Sekretariat sowie — im Rahmen ihrer territorialen anvertraut werden. Die Schwierigkeiten liegen in der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Abstufung der Gesamtverantwortung für die ver- Indizien für ein mehr oder weniger ausgeprägtes schiedenen Leitungsebenen bzw. Zuständigkeitsbe- Unrechtsbewußtsein der Verantwortlichen darstellt. reiche usw. — ein Problem, das nur durch weitere Erforschung der Feinstrukturen des SED-Regimes — fachliche Zuständigkeit (z. B. aufgrund der Statu- geklärt werden kann. Ungeachtet dessen wird die ten von Behörden, Aufgabenzuweisungen, Ge- Prüfung des Einzelfalles unerläßlich bleiben, da die schäftsverteilungs-, Funktions- und Arbeitsplä- formale Gleichbehandlung von Funktionären einer nen) Funktionsebene — z. B. Kreisstaatsanwälte, Oberbür- germeister, Polizeioffiziere — mit Sicherheit zu Unge- Über die fachliche Zuständigkeit gibt es zahlreiche rechtigkeiten führen würde. Belege, z. B. über die von in einer SED-Kreisleitung tätigen Funktionäre [-> Exper tise Prieß]. Ein anderes Beispiel sind die Arbeitspläne zu „Operativen Vor- gängen" des MfS, in denen regelmäßig für Einzel- 2.6.2 Einzelverantwortung maßnahmen verantwortliche MfS-Angehörige be- nannt sind [-> Protokoll Nr. 23]. Die Feststellung einer Das politische und berufliche Schicksal von Funk- persönlichen Verantwortlichkeit ist oft relativ einfach tionsträgern des SED-Regimes im vereinten Deutsch- etwa in der Justiz, dagegen häufig schwierig in den land darf nicht allein vom Grad ihrer Gesamtverant- Bereichen von Repression und Überwachung außer- wortung bestimmt werden. Eine noch größere Rolle halb der Justiz. Aus der „Allzuständigkeit" des Ersten spielt die persönliche Verantwortung für einzelne Sekretärs einer SED-Bezirks- oder Kreisleitung kann Maßnahmen, Entscheidungen, Beschlüsse usw. Diese zwar auf die politische, nicht jedoch ohne weiteres auf Einzelverantwortung läßt sich anhand folgender die persönliche Verantwortlichkeit für die Repres- Sachverhalte feststellen: sionsmaßnahmen in seinem territorialen oder funktio- nalen Zuständigkeitsbereich geschlossen werden. — Einbeziehung in Leitungsstrukturen, Informations- Bisher konnte zwar eine regelmäßige und detail lierte und Entscheidungsstränge; Bindung an Weisun- Informationstätigkeit des MfS festgestellt werden. gen, Parteibeschlüsse, Leitungsdokumente, Richt- Den Bürger belastende Entscheidungen, z. B. die linien, Arbeitsordnungen usw. Ablehnung von Besuchsreise- oder Ausreiseanträgen in die Bundesrepublik, wurden formal in den dafür Nach dem Prinzip der „Einzelleitung" war in der DDR zuständigen Abteilungen Inneres der Räte der Kreise, grundsätzlich jeder leitende Funktionär für die von in Volkspolizeidienststellen usw. gefällt, tatsächlich ihm getroffenen Entscheidungen allein verantwort- aber sehr oft vom MfS und gelegentlich auch von lich. Es bedarf jedoch sorgfältiger Nachprüfungen im Betrieben, Instituten und dergleichen initiiert. Es wird Einzelfall, inwieweit ein Funktionär bei seiner Ent- zu klären sein, ob Funktionäre dabei auf besondere scheidungsfindung von bestimmten Vorgaben, Bestä- Anweisung der Partei gehandelt haben. tigungen usw., die seinem Einfluß entzogen waren, abhing. Bedeutsam ist außerdem nicht allein die — Zugang zu Informationen über das dem Durch- Feststellung der Verantwortlichkeiten für eine be- schnittsbürger zugängliche Maß hinaus stimmte Entscheidung, sondern auch für deren Vorbe- reitung, z. B. in Form von Entwürfen zu Rechtsnor- Die SED-Führung hat ihren Spitzenfunktionären men, vorbereitenden Gutachten, Beschlußvorlagen durch ihr Nachrichtensystem, speziell durch das MfS, usw. In der Entscheidungsvorbereitung tätige Perso- differenzierte Informationen über die Entwicklung in nen blieben in der DDR weitgehend anonym. Es der DDR und in einzelnen Bereichen zur Verfügung konnten bisher auch nicht die Personen festgestellt gestellt. Spitzenfunktionäre konnten auf ein reichhal- werden, von denen für die Bürger besonders bela- tiges Angebot an Informationen, auch über Vorgänge stende Gesetze und Anordnungen (z. B. Verschärfun- außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, zurückgrei- gen des politischen Strafrechts in den siebziger Jah- fen, wenngleich dieses Angebot aus Bequem lichkeit, ren; obligatorischer Wehrunterricht für Schiller) aus- Verantwortungsscheu usw. oft ungenügend genutzt gingen. Unstrittig ist zwar die Verantwortlichkeit der wurde [->Schürer, Protokoll Nr. 25]. Partei- und zuständigen Funktionäre im zentralen Parteiapparat Staatsfunktionäre in verantwortlichen Posi tionen der SED (z. B. ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und erhielten regelmäßig ausgewählte, zweckdienliche ihm zugeordnete Abteilungs- und Sektorenleiter), Informationen vom MfS[ -> Schabowski, Protokoll ungeklärt blieb jedoch bisher, von wem die Initiative Nr. 25]. Unter den zahlreichen bekannt gewordenen für solche Maßnahmen ausging (etwa vom Minister Themen von MfS-Informationen für Parteileitungen für Staatssicherheit, vom SED-Generalsekretär, vom finden sich allerdings, soweit bisher bekannt, keine Minister für Nationale Verteidigung oder aber von über die Tätigkeit des MfS selbst, so daß viele Funk- nachgeordneten Funktionären). Zweifellos wird es in tionäre als Empfänger solcher Informationen über vielen Fä llen möglich sein, durch die detaillierte dessen spezifische Methoden keine genaueren Auswertung jetzt zugänglicher Archivmaterialien Kenntnisse gehabt haben dürften. Grundsätzlich kann gerade diese bisher verdeckten Veranwortlichkeiten jedoch der Zugang von Funktionären zu von der zu klären. Im übrigen ist festzuhalten, daß die SED-Führung ausgewählten Sonderinformationen Geheimhaltung der Namen entscheidender Funktio- ein Indiz dafür sein, daß diese Personen sich der näre, die Verschleierung der Entscheidungswege und Tragweite ihrer Entscheidungen bewußt gewesen die Weigerung, z. B. Anklageschriften bzw. Urteile in sind. Dies gilt insbesondere für diejenigen, denen als politischen Strafverfahren den Angeklagten bzw. Privileg westliche Presseerzeugnisse zugänglich wa- Verurteilten auszuhändigen, schwer widerlegbare ren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
— Ausmaß, Intensität und Häufigkeit von Kontrol- 3. Die SED und das Ministerium für len Staatssicherheit
Die SED hat die Tätigkeit der Partei- und Staatsfunk- Die Geschichte des Ministe riums für Staatssicherheit tionäre durch verschiedene Kontrollapparate nahezu (MfS) ist von der Geschichte der SED nicht zu trennen. lückenlos überwacht, sie zudem einer regelmäßigen Ähnlich wie in der Sowjetunion war auch in der DDR und ausgedehnten Berichtspflicht unterworfen [-> die Einordnung der Sicherheitsorgane in die sowjet- Neugebauer, Enzian, Protokoll Nr. 25]. Diese Kontrol- kommunistische Staats- und Rechtsverfassung ge- len waren teilweise so häufig und intensiv, daß die setzlich nicht definiert. Das Gesetz vom 8. Februar Verantwortung eines Funktionärs für seine Entschei- 1950 über die Bildung eines Ministe riums für Staats- dungen reduziert sein kann (vor allem in den Sicher- sicherheit enthielt keinerlei Bestimmungen über Auf- heitsorganen), oft aber auch rein formal und ober- gaben, Struktur und Zuständigkeiten des MfS. Erst flächlich, so daß die Unterwerfung unter solche Kon- das am 15. Oktober 1953 erlassene erste Statut des trollen die persönliche Verantwortung kaum berührt. Staatssicherheitsdienstes, das allerdings s treng ge- In der Justiz war es z. B. möglich, die erforderliche heimgehalten wurde, wies ihm konkret die Aufgabe Berichtspflicht zu vermeiden, wenn m an sich bei einer zu, „auf der Grundlage der gegebenen Beschlüsse, von „Orientierungen" höherer Instanzen abweichen- Anordnungen und Befehle die Voraussetzungen zu den Entscheidung vorher bei bestimmten Partei- oder schaffen und die Maßnahmen zu treffen, die die Justizfunktionären „rückversicherte" [-> Enzian, Pro- Sicherheit des Staates, die Festigung der Staatsmacht tokoll Nr. 25]. Es ist Aufgabe der Forschung, die und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung Tätigkeit und Wirksamkeit der von der SED-Führung gewährleisten". Als „Grundlage für die Arbeit" wur- geschaffenen Kontrollapparate sowie die Konsequen- den ausdrücklich die „Beschlüsse und Direktiven des zen ihrer Berichte für die Kontrollierten aufzudek- Zentralkomitees (ZK) bzw. des Politbüros der SED, die ken. Gesetze und Verordnungen bzw. die Anweisungen des Ministerpräsidenten sowie die Befehle und — Entscheidungsspielräume im Rahmen von Vorga- Anordnungen des Ministers des Innern" genannt. Die ben Zuständigkeit des MdI ergab sich aus der Tatsache, daß der Staatssicherheitsdienst vom 23. Juli 1953 bis Partei- und Staatsfunktionäre haben häufig, wenn- zum 24. November 1955 als Staatssekretariat diesem gleich in sehr unterschiedlichem Außmaß, Spielräume Ministerium eingegliedert war. für begrenzt eigenständige Entscheidungen genutzt Mit Datum vom 30. Juli 1969 erließ der Na tionale [-> Bericht Ammer, Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993, Verteidigungsrat der DDR ein neues Statut des Mini- Schabowski, Protokoll Nr. 25]. Es war auch möglich, steriums für Staatssicherheit. Darin war das MfS daß Juristen Einmischungsversuche der SED in die formell als „ein Organ des Ministerrates" ausgewie- Tätigkeit der Rechtspflegeorgane ignorieren oder sen — obwohl es faktisch ein Instrument der Politbü- abwehren konnten. Selbst die Rechtsprechung betref- rokratie der SED gewesen ist, mit dem auch der fende „Leitungsdokumente" höherer Justizorgane Ministerrat überwacht wurde. Auch nach dem zwei- ließen Ermessungsspielräume offen. Begrenzte Mög- ten, bis zur Auflösung des MfS am 17. November 1989 lichkeiten für eigenständige Entscheidungen gab es gültigen Statut rangierten Parteibeschlüsse in ihrer auch in der Kaderpolitik [-f Exper tise Brunner I, Verbindlichkeit für das MfS vor staatlichen Normen. Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993, Enzian, Wötzel, Konkret waren im Statut das Programm sowie die Protokoll Nr. 26]. Ehemalige Funktionäre haben als Beschlüsse des Zentralkomitees und des Politbüros Zeitzeugen vor der Enquete-Kommission ausführlich der SED benannt. Erst danach wurden auch die über die Nutzung solcher Spielräume zugunsten von Verfassung, die Gesetze und Beschlüsse der Volks- Bürgern berichtet [-> Schabowski, Enzian, Krause, kammer, Erlasse und Beschlüsse des Staatsrates, tive für Wötzel, Protokoll Nr. 26]. Ungeachtet der Mo Beschlüsse und Anordnungen des Nationalen Vertei- ge Aussagen dürften diese im wesentlichen derarti digungsrates, Befehle, Direktiven und Weisungen zutreffend sein. seines Vorsitzenden sowie Verordnungen und Be- schlüsse des Ministerrates als für das MfS ebenfalls Verständlicherweise gibt es keine Aussagen von verbindlich ausgewiesen, was nicht verhinderte, daß Funktionären vor der Enquete-Kommission, daß sie es in seiner Tätigkeit nicht nur „bürgerliche" — vor Ermessensspielräume zu Lasten der Bürger, im Sinne allem justitielle — Grundrechte, sondern auch gel- einer Verschärfung von Vorgaben, Anweisungen, tende Gesetze der DDR vielfach mißachtete oder Richtlinien usw., mißbraucht hätten. Dennoch wird es verletzte. Fälle dieser Art gegeben haben. Durch den Vergleich von Entscheidungen in unterschiedlichen Behörden, Seitdem die Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in an verschiedenen Orten sowie von Angaben Betroffe- Artikel 1 den Führungsanspruch der „marxistisch- ner kann u. U. geklärt werden, wo und von wem leninistischen Partei" verankert und damit sanktio- Bürger über das von übergeordneten Instanzen hin- niert hatte, war der Rückgriff auf Parteibeschlüsse in aus geforderte Ausmaß hinaus belastet, schikaniert staatlichen Normierungen wie dem Statut des MfS und unterdrückt worden sind. Bei der Aufklärung verfassungsrechtlich durchaus der „sozialistischen konkreter Fälle ist vor allem die taktisch begründete Gesetzlichkeit" gemäß [-> Protokolle Nr. 25 und 26]. und verdeckte Steuerung von Entscheidungen durch Laut Statut war die Führung des Ministe riums für das MfS zu beachten, ohne deren Kenntnis die Hin- Staatssicherheit dem Minister „nach dem Prinzip der tergründe — vieler die Bürger belastende — Vor- Einzelleitung" übertragen. Er war „persönlich für die gänge im Dunkeln bleiben werden. gesamte Tätigkeit des MfS" verantwortlich. Ein Kol- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode legium diente ihm als „beratendes Organ". Seine Minister für Staatssicherheit im übrigen auch Mitglied Mitglieder — zuletzt dreizehn — rekrutie rten sich aus des Politbüros; er war also an den Entscheidungen der den Stellvertretern des Ministers, dem Ersten Sekretär Parteiführung persönlich beteiligt. der Parteiorganisation der SED im MfS sowie aus den wichtigsten Hauptabteilungsleitern. Im Kontext dazu ist die Rolle der Parteiorganisation der SED im MfS zu sehen. Mit ihren auf allen Ebenen, Das MfS sollte — und wollte auch nach dem Willen in allen Strukturen und Diensteinheiten bestehenden seiner Minister — Herrschaftsinstrument der SED Grundorganisationen und Parteigruppen, die nach sein. Selbst für Wilhelm Zaisser, der sich als Chef des besonderen Instruktionen des ZK arbeiteten, sicherte MfS von 1950 bis 1953 der Kontrolle durch die die Politbürokratie nicht nur die politische Anleitung Politbürokratie der SED zu entziehen versucht hatte, und die ideologische Erziehung aller Genossinnen war die Tätigkeit seines Ministe riums „spezifische und Genossen, sondern auch ihre bedingungslose Parteiarbeit". Für seinen Nachfolger Ernst Wollweber Disziplinierung. „Parteiarbeit" im Staatssicherheits- sollte der Staatssicherheitsdienst „ein scharfes dienst galt als Voraussetzung für „gute tschekistische Schwert sein, mit dem unsere Partei den Feind uner- Leistungen" (Tscheka = erste bolschewistische bittlich schlägt, gleichgül tig, wo er sich festgesetzt Geheimpolizei von 1917 bis 1922). Die Spitze der hat". Unter dem Einfluß von E rich Mielke schließlich, Parteiorganisation im MIS, die den Status einer Kreis- der Wollweber 1957 als Minister für Staatssicherheit leitung der SED hatte, war strukturell der Abteilung ablöste, wurde das Wort der Partei zur gültigen für Sicherheitsfragen im Apparat des ZK unterstellt, Handlungsmaxime des MfS verabsolutiert. Mielkes die ihrerseits zum Verantwortungsbereich des für die Credo — am 6. Februar 1985 zum 35. Jahrestag des Militär- und Sicherheitspolitik jeweils zuständigen MIS erneut bekräftigt — lautete: „Die Staatssicherheit Sekretärs des ZK gehörte. Auch von daher war dem wird sich jederzeit als zuverlässiger Schild und schar- von der Führung der SED gefürchteten Risiko einer fes Schwert der Partei und der Arbeiter-und-Bauern- Verselbständigung des MfS vorgebeugt. Macht erweisen" [-> Fricke, Protokoll Nr. 23].
Solche Bekenntnisse waren keine verbalen Pflicht- Erst vor dem Hintergrund dieses Beziehungsgeflechts übungen, sondern grundlegende Orientierungen, die zwischen Staatspartei und Staatssicherheitsdienst sich auf die Aktivitäten des MfS bis in die letzte wird die qualitative und quantitative Entwicklung des Diensteinheit hinein auswirkten. Auch alle internen MfS plausibel. Seinen sich mehr und mehr — intern Richtlinien, Dienstanweisungen und grundsätzlichen wie extern — erweiternden Aufgaben und Zuständig- Befehle zur Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, keiten, die mit einem entsprechenden Zuwachs an deren Zahl sich in der Endzeit seiner Tätigkeit auf ca. Macht verbunden waren, entsprach die Aufblähung 700 belief, basierten auf Beschlüssen der Parteifüh- des Personalapparats: 1950 betrug die Stärke der rung oder bezogen sich ausdrücklich auf sie. Umge- hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS 1 000 Personen; kehrt war es bezeichnend, daß zwar Einzelpersonen, 1953 waren es bereits 4 000; 1955 belief sich die Zahl nicht aber der bürokratische Apparat der SED vom auf 13 000 und 1957, beim Wechsel von Wollweber zu MIS nicht „operativ bearbeitet", überwacht oder Mielke, auf 17 500 - immer offiziellen Zahlen zufolge. bespitzelt wurde. Im Gegensatz hierzu sind in die Der weitere Anstieg von 52 700 im Jahre 1973 auf Blockparteien und Massenorganisationen zielgerich- 85 600 im Jahre 1989 nahm schließlich absurd anmu- tet Inoffizielle Mitarbeiter und Offiziere im besonde- tende Dimensionen an. ren Einsatz eingeschleust worden. In der Endphase der DDR gliederte sich das MfS in Als Hebel zur Durchsetzung ihres Führungsanspruchs dreizehn Hauptabteilungen und zwanzig selbstän- im MfS nutzte die SED die Kaderpolitik. Mit ihrer Hilfe dige Abteilungen, mehrere Stäbe, Verwaltungen und wurden planmäßig alle seine hauptamtlichen Mitar- zentrale Arbeitsgruppen — darunter die für Lageana- beiter „durchleuchtet". Das Eindringen „feindlicher lysen zuständige Zentrale Auswertungs- und Informa- Elemente" in den Dienst wurde so unterbunden. tionsgruppe (ZAIG) — sowie in die für „Aufklärung" Sogenannte Selbstbewerber wurden nur im Ausnah- (Spionage) und „aktive Maßnahmen" zuständige mefall (OibE) eingestellt. Zudem wurden sämtliche Hauptverwaltung A. Auf mittlerer Ebene stützte sich Führungspositionen im MfS mit sogenannten Nomen- das MfS auf fünfzehn Bezirksverwaltungen (ein- klaturkadern besetzt, d. h. mit im Sinne der Politbü- schließlich Ost-Berlins), deren Leiter dem Minister für rokratie der SED zuverlässigen Funktionären, die Staatssicherheit unmittelbar unterstellt waren, sowie nach genau festgelegten Personallisten — der auf 211 Kreisdienststellen und sieben Objektdienst- Nomenklatur — ausgesucht und berufen wurden, stellen, die in industriellen Großbetrieben sowie an nicht selten übrigens im Wege eines sogenannten der Technischen Universität Dresden existierten. Die Parteiauftrages. Die Einbindung von Generalen und „operative Basis" des MfS stellten Inoffizielle Mitar- Offizieren des MfS in die SED-Parteileitungen aller beiter (IM) dar. Sie bildeten ein verdecktes Informa- Ebenen war ein weiteres Mittel zur Schaffung von tionsnetz, in dem zuletzt mehrere hunderttausend IM Loyalität. Durch ihre Mitgliedschaft im Zentralkomi- tätig waren. In Kombination mit der permanenten tee sowie in den Bezirks- und Kreisleitungen ist die Kontrolle des Post- und Fernmeldeverkehrs war so in Führungselite des MfS durch Personalunion mit den der Tat eine „flächendeckende Überwachung" der Parteileitungen der SED so eng verknüpft gewesen, Bevölkerung kein unerreichbares Ziel mehr [- daß jeder Verselbständigung des Überwachungs- und Rudolf, Protokoll Nr. 23]. Querverbindungen zur Poli- Unterdrückungsapparates als Staat im Staate auch auf zei, insbesondere zur Abteilung K 1 der Kriminalpoli- diese Weise entgegengewirkt wurde. In den Jahren zei, sicherten jederzeit Einblick in und Einfluß auf die von 1950 bis 1953 und von 1976 bis 1989 war der operative Parteiarbeit [-> Bericht Marquardt]. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Die Gefährlichkeit eines solcherart überdimensionier- kowski ein eigener Beitrag des Ministeriums für ten Überwachungs- und Unterdrückungsapparates, Staatssicherheit zur Devisenbeschaffung geleistet dessen Budget sich in der Endzeit der DDR auf jährlich werden. Die Stasi war damit auch in Kunstraub, 4 Milliarden Mark belief, lag in der Bündelung seiner Häftlingsfreikauf, Waffenhandel, Handel mit Embar- nicht legal definierten und darüber hinaus unkontrol- gogütern und in die Finanzierung von kommunisti- lierten Kompetenzen als politische Geheimpolizei, als schen Gruppierungen außerhalb der DDR einbezo- Untersuchungsorgan in schweren politischen Strafsa- gen. chen, als Einrichtung zur Beschaffung von Devisen Vor dem Hintergrund des personellen und materiellen und als Spionagedienst in der Gewalt der führenden Aufwands, mit dem die SED das MfS ausgestattet Clique der Politbürokratie. hatte, bleibt die Frage nach seiner Effizienz offen. Sie Das Wachregiment Berlin des MfS war als Verfü- ist historisch beantwortet: Auch das MfS konnte den gungstruppe des MfS in Spannungszeiten gedacht. Zusammenbruch der DDR nicht verhindern. Dazu war Normalerweise nahm es Aufgaben des Personen- und die revolutionäre Krise, in die der SED-Staat Ende der Objektschutzes wahr. Mit 11 700 Mann hatte es achtziger Jahre geraten war, zu tiefgehend. Zudem zuletzt Divisionsstärke erreicht. Soldaten des Wachre- vermochte die Politbürokratie die Überfülle an Infor- giments, das sich als Elitetruppe verstand, waren am mationen, die im MfS „erarbeitet" worden war, bei 6. Oktober 1989 in Ost-Berlin an dem gewalttätigen ihrer Willensbildung und Entscheidungsfindung Vorgehen gegen friedliche Demons tranten beteiligt. kaum auszuwerten. Zu den Aufgaben des MfS gehörte laut Statut auch die Entscheidende äußere Ursachen kamen hinzu. An- Verpflichtung, „die zuständigen Partei- und Staatsor- alog den in der DDR stationierten Sowjettruppen, die gane rechtzeitig und umfassend über feindliche „Gewehr bei Fuß" standen, griff das KGB 1989 nicht Pläne, Absichten und das gegnerische Potential sowie sichtbar in den revolutionären Prozeß ein — und über Mängel und Ungesetzlichkeiten zu informie- demoralisierte damit den Staatssicherheitsdienst. ren" . In der alltäglichen Praxis lief diese Verpflichtung Darin mag letztlich auch der Grund dafür gelegen auf eine regelmäßige Unterrichtung der führenden haben, daß das MfS auf bewaffneten Widerstand Kader der SED, speziell des Generalsekretärs der gegen den revolu tionären Wandel in der DDR verzich- SED, ausgewählter Mitglieder des Politbüros sowie tete H Bericht VI. Themenfeld]. Mit der Krise der SED der Ersten Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen geriet zugleich das MfS in die Krise. Ein Staat im der SED, hinaus. Staate — wäre das MfS denn ein solcher gewesen — hätte sich nicht widerst andslos gefügt. Da sich die Im Selbstverständnis der DDR zählte das MfS zu den Existenz des MfS ausschließlich aus seiner Funktion „bewaffneten Organen" der DDR, die — soweit sie als Machtinstrument der SED herleitete, war sein nicht dem Oberkommando des Warschauer Paktes Niedergang an das Ende der SED verbunden. unterstellt waren — in Spannungszeiten der Befehls- gewalt des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) Wie dargelegt, sollte und wollte das Ministerium für unterstanden. Dieser Sachverhalt erklärt, warum auch Staatssicherheit der DDR „Schild und Schwert der der Staatssicherheitsdienst strukturell und personell Partei" sein; nach Auffassung der Politbürokratie wie in die Einsatzleitungen einbezogen war, die sich aus nach seinem Selbstverständnis war das MfS also das dem Hauptstab des NVR, den Bezirkseinsatzleitun- wichtigste Herrschaftsinstrument der SED. Aus die- gen und den Kreiseinsatzleitungen zusammensetzten. sem Grunde ist der Führung prinzipiell auch die Auf jeder Ebene führten Einsatzleitungen in den politische Verantwortung für die Tätigkeit der Staats- Bezirken und Kreisen unter Leitung des jewei ligen sicherheit zuzuweisen. Andererseits war das MfS aber Parteichefs den für die Sicherheit zuständigen Partei- nicht nur ein bloßes Ausführungsorgan der SED. Mit sekretär sowie die Chefs des Staatssicherheits- seinem Machtpotential und seiner Effizienz sicherte dienstes, der Volkspolizei und der Volksarmee zusam- das MfS die Herrschaft der SED und ermöglichte erst men. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates viele ihrer Maßnahmen. An dieser Gesamtverantwor- war der Generalsekretär der SED, Vorsitzender der tung tragen alle Mitarbeiter des MfS, hauptamtliche Bezirkseinsatzleitung jeweils der Erste Sekretär der wie inoffizielle mit, wobei zwischen hauptamtlichen Bezirksleitung, Vorsitzender der Kreiseinsatzleitung und inoffiziellen Mitarbeitern gewiß zu differenzieren jeweils der Erste Sekretär der Kreisleitung der SED. ist, wenn der Grad ihrer Verantwortlichkeit gemessen Die Einsatzleitungen aller Ebenen traten nicht nur wird. Gleichwohl ist die Rolle der Inoffiziellen Mitar- beim inneren Notstand oder bei internationalen Sp an beiter nicht gering zu erachten, denn sie waren es, die -nungen, sondern auch in normalen Zeiten zusammen, durch ihre verdeckte Spitzeltätigkeit die ersten und um regelmäßig Fragen der militärischen, vor allem der zudem privaten Äußerungen von Opposition und inneren Sicherheit zu beraten und dazu in ihre Zustän- Andersdenken aufspürten und meldeten. Mit ihrer digkeit fallende Entscheidungen zu treffen. Für das Überwachungsfunktion bewirkten sie die völlige Verhältnis von SED und MfS waren diese Zusammen- Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der freien hänge deshalb von besonderer Bedeutung, weil die - politischen Auseinandersetzung in der DDR. Sie tru- Parteichefs als Vorsitzende der Einsatzleitungen gen damit Mitverantwortung für die in der DDR jeweils auf ihrer Ebene unmittelbar weisungsbefugt herrschende Atmosphäre der Einschüchterung, des auch gegenüber dem Staatssicherheitsdienst waren. gegenseitigen Mißtrauens und der Verstellung. Neben vielfältigen Sonderaufgaben zur Absicherung Bei der individuellen Verantwortung ist zwischen des Lebensstandards der DDR-Elite sollte mit der solchen Mitarbeitern des MfS zu unterscheiden, die Schaffung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung für konkrete Maßnahmen gegen Einzelpersonen ver- unter dem MfS-Oberst Alex ander Schalck-Golod antwortlich waren, und solchen, die allgemein das Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Funktionieren dieses Unterdrückungsinstruments si- kelten die sogenannten Blockparteien offensichtlich cherten. Bei den ersteren ist die Verantwortung kei- mehr politischen „Eigensinn" (Siegf ried Suckut), vor neswegs hauptsächlich bei denen zu suchen, die die allem auf den unteren Ebenen, und unterschieden Maßnahmen ausführten. Größer ist die Verantwor- sich zudem in ihrem Verhalten stärker voneinander, tung derjenigen, die als „Schreibtischtäter" die Maß- als bisher verschiedentlich angenommen wurde. Eine nahmen planten und anordneten, insbesondere dann, differenzierte Beurteilung erfordert dabei eine Ab- wenn sie einen gewissen Entscheidungsspielraum grenzung der CDUD und LDP von den erst 1948 durch hatten. Die Mitarbeiter des MfS unterlagen zwar bei SMAD/SED gegründeten NDPD und DBD. Während ihrer Tätigkeit bestimmten dienstrechtlichen Rege- in den beiden 1945 gegründeten Parteien CDUD und lungen. Diese eröffneten jedoch teils allgemein durch LDP durchgängig Traditionslinien bürgerlicher Poli- den Grundsatz der „sozialistischen Gesetzlichkeit" als tik und ein trotz der sozialökonomischen Umwäl- „parteiliche Anwendung der Gesetze", teils durch zungsprozesse in der Mitgliedschaft zu beobachten- ihre gewollte Zweideutigkeit Möglichkeiten für des Festhalten an eigenen Wertvorstellungen zu kon- . Zwangs- und Willkürakte gegenüber dem Einzelnen; statieren sind, waren NDPD und DBD von vornherein außerdem wurde das zweideutige DDR-Recht auch vom Führungsanspruch der SED abhängig; sie dien- bewußt mißbraucht oder wissentlich gebrochen, wenn ten der SED als Instrumente gegen die nichtsozialisti- und insofern die Interessen der Politbürokratie der schen Altparteien und zur Spaltung bürgerlicher, SED oder des MfS dies erforderlich zu machen schie- liberal bzw. christlich orientierter Bevölkerungs- nen. Die geltenden DDR-Gesetze waren niemals ein kreise. [-> Expertisen Richter II, Frölich, Papke, Neh- ernsthaftes Hindernis für Rechtsmißbrauch oder rig]. Rechtsbruch durch das MfS. Die Vergehen reichten von der groben Mißachtung von Menschenrechten bis Die gesellschaftspolitische Funktion der Massenorga- zur Strafvereitelung und Rechtsbeugung aus politi- nisationen ist bekannt und bedarf keiner Neubewer- schen Gründen. tung. Festzuhalten ist, daß es ihnen zu keinem Zeit- punkt gelungen ist, das Leben der Bevölkerungs- Zwar galten für die übergroße Mehrzahl der haupt- mehrheit in der DDR tiefgreifend zu prägen. Sie übten amtlichen Mitarbeiter des MfS, die als Soldaten, insofern nur in geringem Umfang zwischen Regime Unteroffiziere, Offiziere und Generale Dienst taten, und Bevölkerung eine „moderierende Scharnierfunk- wie für andere Angehörige der „bewaffneten tion" [-> Expertise Hübner] aus, wirkten aber immer- Organe" besondere dienstrechtliche Bestimmungen. hin systemstabilisierend. Weitergehende Fragestel- Durch den von ihnen zu leistenden Fahneneid waren lungen, vor allem nach sozialgeschichtlichen Auswir- sie verpflichtet, „den Vorgesetzten unbedingten kungen ihrer Tätigkeit, konnten bisher noch nicht Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlos- näher untersucht werden [-> Expertisen Ecke rt I, senheit zu erfüllen". Eine zusätzliche politische Bin- Hübner]. dung gingen sie mit einer schriftlichen Verpflich- tungserklärung bei Eintritt in das MfS ein. Aber nach Die wichtigsten Massenorganisationen — der Freie § 258 StGB der DDR war ein Befehl, dessen Ausfüh- Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie rung gegen die anerkannten Normen des Völker- Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauen- rechts oder gegen Strafgesetze verstieß, unverbind- bund Deutschlands (DFD) und der Kulturbund zur lich. Diese Bestimmung wurde in einer Vielzahl von demokratischen Erneuerung Deutschlands (KB) — Fällen mißachtet. Inwieweit Angehörige des MfS wurden zwischen 1945 und 1947 als dem Anspruch durch Drohung zur Ausführung rechtswidriger nach überparteiliche Organisationen gegründet. Die Befehle gezwungen wurden, bedarf der Nachprüfung Kommunisten verschafften sich allerdings schon in im Einzelfall. der Gründungsphase beherrschenden Einfluß auf den hauptamtlichen Apparat, durch den sie diese Massen- Von den Inoffiziellen Mitarbeitern tragen zweifellos organisationen im kommunistischen Sinn dominier- jene die größte individuelle Verantwortung, die mit ten. Die FDJ wurde gezielt als „Kaderschmiede" der ihrer Zuträgerarbeit oder durch aktive Ausführung SED funktionalisiert. Eine Werbung für andere Par- von „Zersetzungsplänen" an Unrechtsmaßnahmen teien war in den FDJ-Gruppen untersagt. Gleichzeitig gegen Einzelne mitgewirkt haben. sind Versuche zur Gründung von Suborganisationen (z. B. Jugendausschüsse) in den Blockparteien unter- bunden. Die Massenorganisationen wurden zur Ein- 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und flußminderung von CDUD und LDPD auf Betreiben Massenorganisationen der SED in den „Block" aufgenommen und damit auch offiziell zu Bestandteilen des politischen Systems. Der Einflußminderung von CDUD und LDP 4.1 Ansätze zu einer Neubewertung diente auch die durch Blockbeschluß (statt durch Wahlen) erfolgte Aufnahme von NDPD und DBD in Eine grundlegende Neubewertung von Rolle und die Landes- und Kommunalparlamente. Im „Demo- Funktion der Blockparteien (hierunter werden im kratischen Block der Parteien und Massenorganisatio- folgenden die CDUD, LDPD, NDPD und DBD verstan- nen", wie die „Einheitsfront" seit 1949 genannt den, nicht die ebenfalls zum „Demokratischen Block" wurde, sicherte sich die SED so eine unangreifbare gehörende SED) und Massenorganisationen ist auch Vormachtstellung. aufgrund neuerer Forschungsergebnisse nicht erfor- derlich: Sie waren unselbständige, von der SED Um diese Vormachtstellung auch ohne demokratische abhängige Organisationen. Dieses Gesamtbild wird Legitimation dauerhaft aufrechterhalten zu können, sich in Teilaspekten sehr wohl verändern: So entwik- schuf die SED am 7. Oktober 1949 — dem Gründungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 schen Deutschland". Als eine Art Dachorganisation koll Nr. 22]. Bis zu einem gewissen Grad ist die von zuletzt insgesamt fünf Parteien und 27 Massenor- gesellschaftliche Mobilisierung zwar gelungen; der ganisationen bestand ihre Hauptaufgabe u. a. darin, Rückschluß, daß dadurch aber eine nachhaltige von der SED diktierte Einheitslisten für die Schein- Systemstabilisierung erreicht worden sei, ist aufgrund wahlen zu den Volksvertretungen aufzustellen, die neuerer Forschungsergebnisse so nicht zulässig [-> den Parteien und Massenorganisationen des „Demo- Expertisen Richter II, Papke]. Die Blockparteien kratischen Blocks" eine stets gleichbleibende, nur auf haben die ihnen von der SED zugedachte Funktion als Geheiß der SED gelegentlich geänderte Zahl von „Transmissionsriemen" nur bedingt erfüllt. Obwohl Mandaten sicherte. Darüber hinaus diente sie der SED — beispielsweise — der dem Marxismus-Leninismus als Bühne bzw. Instrument für ihre politische Einheits- immanente Atheismus lediglich von der CDU abge- propaganda. lehnt oder in Frage gestellt werden durfte, konnte diese Partei in der christlichen Bevölkerung nicht Die Blockparteien und Massenorganisationen konn- wirklich Fuß fassen oder gar maßgeblichen Einfluß auf ten im „Demokratischen Block" keinen eigenständi- die Kirchen und ihre Amtsträger gewinnen. gen Einfluß geltend machen, wurden aber von der SED zur sachlichen Zuarbeit her angezogen und muß- Im übrigen organisierten sich in den Blockparteien ten politische Entscheidungen der SED nach außen viele Angestellte und Intellektuelle, die von der SED hin mitverantworten. ihrerseits zumindest als potentielle Mitglieder hätten angesehen werden können. Wie erste Untersuchun- gen zeigen, war die tatsächliche Wirkung der politisch ideologischen Erziehung bei der Mehrzahl der Mit- 4.2 Die gesellschaftliche Funktion: „Transmission glieder in den Blockparteien eher gering [-> Experti- der SED-Politik" sen Richter II, Papke].
Nach der Gleichschaltung von CDU und LDPD sowie Den Massenorganisationen gelang, begüns tigt durch dem von der SED offiziell erklärten Übergang zum Organisationsmöglichkeiten in den Betrieben, zumin- „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" im Jahre dest eine flächendeckende Erfassung der DDR-Bevöl- 1952 übernahmen die Blockparteien und Massenor- kerung. Viele Menschen gehörten sogar zwei oder ganisationen, auch in Form von neuen Parteiprogram- drei dieser gesellschaftlichen Organisationen an. men bzw. Satzungen, die ihnen von der SED zugewie- Besonders hoch war der Organisationsgrad des FDGB, sene „Transmissionsfunktion" : Sie sollten die Politik der fast sämtliche Berufstätigen der DDR erfaßte, weil der SED in bestimmte soziale Zielgruppen hineintra- er Träger der DDR-Sozialversicherung war. Da die gen, um diese damit in die sozialistische Staats- und Massenorganisationen jedoch unter dem ideologi- Gesellschaftsordnung zu integ rieren. Zudem ver- schen Postulat der gesamtgesellschaftlichen Interes- folgte die SED das Ziel, poten tielle oppositionelle senidentität die tatsächlich vorhandenen, auch kon- Strömungen mittels dieser Parteien zu kontrollieren fliktträchtigen Interessen ihrer Mitglieder nicht wirk- und zu kanalisieren. sam vertreten konnten, gelang es ihnen nicht, eine dauerhafte und tiefgehende Mobilisierung ihrer Mit- an alle sozia- Während sich die Massenorganisationen glieder für die von der SED vorgegebenen Ziele zu len Gruppen und Schichten der Gesellschaft wandten erreichen. und sie entsprechend ihren sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen, sportlichen und anderen Interes- sen organisieren sowie für die Politik der SED mobili- sieren sollten, bestand die Aufgabe der Blockparteien 4.3 Das Verhältnis zur SED: Abhängigkeit und speziell darin, auf traditionell eher „bürgerlich" Kontrolle geprägte, der SED fernstehende Bevölkerungskreise, wie z. B. private Handwerker, Kleingewerbetrei- Sowohl Blockparteien als auch Massenorganisationen bende und Freiberufler (LDPD), Ch risten (CDU), Bau- standen in einem grundsätzlichen Abhängigkeitsver- ern (DBD) ideologisch-erzieherisch im Sinne der SED hältnis zur SED. Während die letzteren von der SED einzuwirken oder als Sammelbecken für ehemalige selbst direkt gelenkt wurden, forderte die „führende Wehrmachtsangehörige und Nationalsozialisten Partei" von den Blockparteien ausdrücklich „eigen- (NDPD) zu dienen. Die SED achtete aber darauf, daß ständige, unverwechselbare Beiträge" zur Gestaltung durch eine geschickte Klientelvermischung keine des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der Blockpartei zu stark auf bestimmte Bevölkerungs- DDR. Auf Blockparteien wie Massenorganisationen schichten reflektieren konnte. übte die SED jedoch über ihren Parteiapparat — speziell über die ZK-Abteilung „Befreundete Parteien Nach dem Willen der SED war es die Aufgabe der und Massenorganisationen" sowie über das Ministe- Blockparteien, in bürgerlichen Bevölkerungsgruppen rium für Staatssicherheit — ständige Kontrolle aus. das Bewußtsein für die propagierte historisch-gesetz- Mit Hilfe eines Nomenklatursystems, dessen genaue mäßige Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Funktionsweise noch zu untersuchen bleibt, besetzte marxistisch-leninistischen Partei zu stärken. Erreicht sie alle wichtigen Führungspositionen in den Massen- werden sollte zudem eine Mobilisierung der gesell- organisationen mit ihren Funktionären. Darüber hin- schaftlichen Kräfte und des ökonomischen Potentials aus ist anzunehmen, daß die SED durch gezielte in diesen Parteien für den „Aufbau des Sozialis- Einschleusung von eigenen Funktionären sowie mus". Abstimmung ihres Vorgehens mit dem MfS massiv Ihren Aufgaben sind die Blockparteien offensichtlich Einfluß auf die Personalpolitik der Blockparteien nur ungenügend gerecht geworden [-> Suckut, Proto- nahm [-> Expertisen Papke, Richter II]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Die Selbständigkeit der Blockparteien wurde außer- schauenden und von der SED gelenkten „Appara- dem durch zahlreiche organisatorische Regelungen tes". eingeschränkt: Sie durften z. B. seit 1953 nur noch hi territorialen Organisationen arbeiten, nicht jedoch Da der Loyalitätsdruck gegenüber der SED von unten wie die SED und die Massenorganisationen auch in nach oben stetig zunahm und die Führungen der Betrieben und Verwaltungen präsent sein. Auch Blockparteien somit als reine Steuerungsinstrumente Kooperationsabsprachen zwischen den einzelnen der SED betrachtet werden können, ist es Aufgabe der Blockparteien konnten auf allen Ebenen nur über die Forschung, die individuelle politische Verantwortung SED bzw. den „Demokratischen Block" oder die differenziert zu untersuchen. „Nationale Front" erfolgen. Durch ein ausgedehntes Informations- und Berichtswesen, das Massenorgani- sationen und Blockparteien von unten nach oben 4.5 Motive für die Mitgliedschaft durchlief und auf den verschiedenen Ebenen mit dem Parteiapparat der SED sowie mit dem MfS eng ver- Die Massenorganisationen waren integraler Bestand- knüpft war, hatte sich die „führende Partei" ein teil des alltäglichen Lebens in der DDR. Sich für eine zusätzliches Kontrollinstrument geschaffen. Die Stim- Mitgliedschaft zu entscheiden, war deshalb nahezu mungslage der Bevölkerung sollte so ständig beob- eine Selbstverständlichkeit und meist keine bewußte achtet, eventuelle politische Konflikte sollten frühzei- politische Entscheidung. Ausschlaggebend war in tig erkannt und durch gezielte Kampagnen von oben vielen Fällen die „Monopolfunktion" der jeweiligen nach unten bekämpft werden. Organisationen für bestimmte Betätigungen oder soziale Leistungen: So wurde man als Berufstätiger Mitglied im FDGB, dem alleinigen Träger des Sozial- versicherungssystems (Urlaubsbetreuung; Zuschuß 4.4 Das Verhältnis zwischen Mitgliedern und bei längerer Krankheit und bei Geburt des Kindes; Funktionären Bewilligung von Kuren; Stellungnahme bei Antrag auf Invalidität; Sterbegeld, Notwendigkeit einer Emp- In Blockparteien und Massenorganisationen gab es fehlung beim Bau eines Eigenheimes oder Bunga- zwischen einfachen Mitgliedern und den Funktionä- lows). Auch der Nachweis eines gewissen gesell- ren als Repräsentanten des jeweiligen „Apparates" schaftlichen Engagements, der von der SED als Loya- qualitative politische Unterschiede. Die Unterschei- litätsbeweis immer wieder gefordert wurde, konnte dung zwischen dem hauptamtlichen Apparat in den durch eine — oft nur formale — Mitgliedschaft, z. B. in Blockparteien und der Mitgliedschaft ist von funda- der „Gesellschaft für deutsch-sowjetischen Freund- schaft" (DSF), relativ leicht erbracht werden. Die mentaler Bedeutung, wenn m an den Lebensverhält- hohen Beitragsrückstände einzelner Mitglieder und nissen in der ehemaligen DDR gerecht werden wi ll. „Eintrittswellen" infolge gezielter Werbekampagnen Bedingt durch die Abhängigkeit und Nähe der Block- lassen vermuten, daß es insgesamt sehr viel mehr parteileitungen zur SED bestand zwischen ihr und der politisch unmotivierte oder rein formale als politisch jeweiligen „Parteibasis" in den Ortsgruppen oft eine engagierte Eintritte gab. von Mißtrauen geprägte politische Kluft. Während Dagegen war der Eintritt in eine Blockpartei in der sich die Blockparteileitungen immer wieder rituell Regel ein überlegter bzw. zweckorientierter Schritt, öffentlich zu den Verhältnissen in der DDR bekannten mit dem der einzelne eine bewußte politische Ent- und jede Wendung der SED-Linie willig nachvollzo- scheidung traf und sich von anderen deutlich absetzte. gen, standen viele Mitglieder von Blockparteien der Nicht zuletzt deshalb können auch die persönlichen „führenden Rolle" der SED passiv hinnehmend oder Motive und Beweggründe für den Eintritt in eine innerlich ablehnend gegenüber. Eine genaue Trenn- bestimmte Blockpartei als Grundlage für Aussagen linie zwischen der „Parteibasis" und dem linientreuen zum politischen Selbstverständnis dieser Parteien und „Parteiapparat" zu ziehen, ist dabei sehr schwer, denn ihrer Haltung zum SED-Regime her angezogen wer- auch hauptamtliche Kreissekretäre setzten sich teil- den. Durch die Mitgliedschaft in einer Blockpartei weise gegen zentrale Anweisungen für die Bel ange konnte man auf lokaler Ebene gewisse eigene — von Mitgliedern und Ortsgruppen ein. Eine Folge wenn auch oft nur geringfügige —Akzente setzen und dieser politischen Kluft war, daß zentrale Vorgaben die Schutzfunktion der Blockparteien als „politische vom Parteiapparat und seinen Funktionären zwar Nischen" nutzen [-> Expertisen Richter II, Papke]. Der nach unten weitergeleitet, in den einzelnen Ortsgrup- überwiegende Teil der Mitglieder von CDU und pen aber nur formal oder oft gar nicht umgesetzt LDPD entwickelte in vieler Hinsicht routinierte Aus- wurden. weichmechanismen gegenüber den permanenten ideologischen Indoktrinationsversuchen. Insofern Auch in den Massenorganisationen verlief zwischen darf der formelle Nachweis von Staatsloyalität durch Mitgliedern sowie den durch intensive Lehrgangs- den Beitritt zu einer Blockpartei nicht undifferenziert und Schulungstätigkeit herausgebildeten Funktio- mit einem Nachweis wirklicher Loyalität zum System närshierarchien eine deutliche Trennlinie. Während des „real existierenden Sozialismus " gleichgesetzt die vor Ort, z. B. im Betrieb oder im Wohngebiet, werden. tätigen ehrenamtlichen Funktionäre von den Mitglie- dern in der Regel als eigene Interessenve rtreter und Vielmehr kann man zu Recht von Systemdistanz bei Vertrauensleute anerkannt wurden, galten ihnen vielen Mitgliedern in den Blockparteien sprechen. bereits die auf Kreisorganisationsebene tätigen Funk- Wichtige Gründe für den Parteibeitritt waren z. B. bei tionäre als Angehörige des nicht genau zu durch- Handwerkern und Gewerbetreibenden der Aus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 tausch- mit Gleichgesinnten sowie praktische Lebens LDPD aber über einige kurzfristige Aufmerksamkeits- und Berufshilfe vor Ort; mancherorts setzte die Ertei- erfolge hinaus systembedingt nur begrenzt nutzen. In lung einer Gewerbeerlaubnis die Mitgliedschaft in der friedlichen Revolution von 1989/90 trat die in den einer Blockpartei (vor allem der LDPD) voraus. Die vorherigen Jahrzehnten latente gesamtdeutsche Blockparteien fungierten somit als eine A rt Meinungs- Identität in beiden Parteien wieder offen hervor und forum und berufliche Interessenvertretung bei kon- bestimmte deren neue politische Wirksamkeit [-> kreten Einzelproblemen. Ausschlaggebend war für Bericht VI. Themenfeld]. viele Mitglieder, daß sie durch ihren Eintritt das von der SED für bestimmte berufliche Ziele geforderte politische Engagement nachweisen konnten, ohne der SED selbst beitreten zu müssen. Der Aufstieg in 4.7 Gesamtdeutsche Parteistrukturen politische Spitzenämter und hohe Leitungspositionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft war ihnen damit Im Zuge der „friedlichen Revolu tion" von 1989/90 allerdings meist verwehrt. Zudem sind Mitglieder von wandelten sich die Blockparteien in einem ebenso Blockparteien in der Regel von einer Beschäftigung in schwierigen wie konfliktreichen Prozeß nach jahr- sicherheitsempfindlichen Bereichen (z. B. Offiziers- zehntelanger Abhängigkeit von der SED zu eigen- ränge in der NVA; Tätigkeit bei der SDAG Wismut) ständigen Organisationen. CDU und LDP wurden von ausgeschlossen gewesen. Auch eine Mitgliedschaft in den Bonner Regierungsparteien als Schwesterpar- den Betriebskampfgruppen war bis in die späten teien anerkannt und unterstützt. Erste sichtbare Zei- achtziger Jahren nicht möglich. chen des Wandels bildeten — regionale und in ihrer Art unterschiedliche — Auseinandersetzungen zwi- schen Parteibasis und Parteiführung. Diese Kontro- versen führten zur Ablösung der bisherigen Parteifüh- 4.6 Die Frage der politischen Verantwortung rungen, zur Wahl neuer Vorsitzender in demokratisch einwandfreien Verfahren, zur Aufkündigung der Nach ihrer Gleichschaltung dienten Blockparteien Blockpolitik, zur Streichung der Anerkennung des und Massenorganisationen der SED zur Absicherung SED-Führungsanspruchs aus der Satzung und zu der ihres Herrschaftssystems. Als „Transmissionsriemen" Festlegung, nicht wieder mit der SED/PDS zusam- instrumentalisiert, sollten sie die Politik der SED über menzuarbeiten. ein weitverzweigtes Organisationsgeflecht in sämtli- che Bereiche der Gesellschaft hineintragen und Bereits im Frühjahr 1990 fanden sich neugegründete umsetzen. Auch wenn ihnen dies im Sinne einer Parteien und die veränderten ehemaligen Blockpar- ideologischen Erziehung der Bevölkerung zur Konf or- teien CDU und LDP zu Wahlbündnissen zusammen. mität mit der SED-Politik offensichtlich nicht gelang Der Demokratische Aubruch (DA), die Deutsche [-3 Suckut, Protokoll Nr. 22], fungierten sie als Hilfsin- Soziale Union (DSU) und die Ost-CDU bildeten die strumente, mit denen die SED das politische System „Allianz für Deutschland"; die LDP, die Deutsche der DDR beherrschen und sich Informationen über die Forumpartei und die F.D.P. in der DDR bildeten den tatsächliche politische Stimmungslage der Bevölke- Bund Freier Demokraten. So personell und politisch rung verschaffen konnte. verändert, war nach der Fusion von DA, Demokrati- scher Bauernpartei Deutschlands (DBD) und Ost-CDU Bei der Bewe rtung der Blockparteien müssen ihre auf der einen und nach der Fusion von LDP und NDPD völlig unterschiedlichen Funktionen für die SED, für zur Partei Bund Freier Demokraten und dem Zusam- die Funktionäre der Blockparteien und für die Mitglie- mengehen mit der Deutschen Forumpartei und der der Berücksichtigung finden. Mit der Übernahme von F.D.P. in der DDR auf der anderen Seite der Weg frei Funktionen in Teil- und Randbereichen der Gesell- zum jeweiligen Zusammenschluß mit der westdeut- schaft trugen sie zweifellos zu einer gewissen Stabili- schen CDU und F.D.P. zu gesamtdeutschen Parteien. sierung des politischen Systems der DDR bei. Indessen Historisch fand damit eine Entwicklung ihren kann aufgrund aufgezeigter Faktoren nur bedingt von Abschluß, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren Verantwortung und Teilhabe am Regime gesprochen eingeleitet worden war, als Christdemokraten wie werden. Liberale die Bildung gesamtdeutscher Parteien anstrebten und als organisatorische Vorformen eine Bemerkenswert bleibt, daß ein gesamtdeutscher zonenübergreifende Arbeitsgemeinschaft (CDU) Bezug in der Mitgliedschaft der beiden vormals bür- bzw. eine Demokratische Partei Deutschlands (DPD) gerlichen Parteien CDU und LDPD nie ganz erloschen gebildet hatten. ist. In der Politik der beiden Blockparteien hatte er allerdings eine geringe und zudem unterschiedliche Für die CDU und F.D.P. stellt sich durch den Zusam- Bedeutung. Die CDU in der Bundesrepublik Deutsch- menschluß mit den ehemaligen Blockparteien die land lehnte Kontakte zur Block-CDU ab, um eine Aufgabe, ihre jeweilige Parteigeschichte ebenso kri- Aufwertung der SED-abhängigen Parteiführung zu tisch wie verantwortungsbewußt aufzuarbeiten. Un- vermeiden; sie sah in der Exil-CDU die legitime terschiedliche politische Wege in zwei entgegenge- Vertreterin der christlichen Demokraten der DDR. setzten Systemen haben Prägungen geschaffen, die Demgegenüber gab es in der FDP seit 1956 kontinu- bis heute fortwirken und eine ebenso sensible wie ierliches Interesse an Gesprächen mit Vertretern der vorurteilsfreie Bewertung erfordern. Voreilig von poli- LDPD — zum einen, um den Gesprächsfaden nicht tisch-moralischen Kontinuitäten zu sprechen, wird abreißen zu lassen, zum anderen in der Hoffnung, auf dem Auftrag zu einem verantwortungsvollen Umgang diesem Wege politische Anregungen in die SED mit der Vergangenheit nicht gerecht. In dem Bemü- hineintragen zu können. Dieses Interesse konnte die hen von Ost- wie Westdeutschen in beiden Parteien, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode trotz unterschiedlicher Biographien gemeinsam für und nach hinausgedrängt wurde. Ende der fünfziger politische Ziele in einer pluralistischen Demokratie Jahre war der SED-Führung die vollständige Integra- einzutreten, zugleich aber jenen die Mitarbeit zu tion der Blockparteien in ihr Herrschaftssystem gelun- verweigern, die in der DDR anderen Menschen nach- gen. weislich Schaden zugefügt haben, liegt für CDU und Bei der Beschreibung der Funktion der Blockparteien F.D.P. die besondere Herausforderung, am Prozeß der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands mitzu- in diesem System stehen folgende Fragen im Vorder- wirken. grund: — Welches Interesse hatten SMAD und SED, CDU und LDPD zu erhalten und NDPD und DBD zu 4.8 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der gründen? Welchen Einfluß nahmen sie auf die SPD und des Mitglieds der Gruppe Bündnis Entstehung, innere Gestaltung und Entwicklung 90/Die Grünen sowie der Sachverständigen der Blockparteien? Faulenbach, Gutzeit, Mitter, Weber — Inwieweit haben die Blockparteien die ihnen von der SED zugewiesene Funktion im Herrschafts- 4.8.1 Vorbemerkung und Gesellschaftssystem der DDR tatsächlich wahrgenommen? "Der vorliegende Text beschränkt sich auf die Dar- stellung der Funktion der Blockparteien im SED- — Welche Handlungsspielräume hatten die Block- Herrschaftssystem, weil hinsichtlich der Massenorga- parteien innerhalb der ihnen von der SED gezoge- nisationen kein Dissens zum Bericht der Koalitions- nen Grenzen und- angesichts ihrer Anerkennung fraktionen besteht. der Führungsrolle der Kommunisten? Die Blockparteien waren verläßliche Stützen des SED- — Wie funktionierte eine Blockpartei? Welche Bezie- Regimes. Vom Staat wurden sie mit erheblichen hungen bestanden zwischen den einfachen Mit- materiellen Ressourcen ausgestattet. Sie existierten gliedern und den Funktionären auf den verschie- als von der SED abhängige, instrumentalisierte Orga- denen Leitungsebenen? nisationen, die breite Schichten der Bevölkerung in — Welche Motive haben Menschen zum Eintritt in das Herrschaftssystem der Einheitspartei einbinden eine der Blockparteien bewogen? sollten. — Worin unterschieden sich die Mitglieder in den Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges Blockparteien von der großen Mehrheit der partei- wurde auch in der SBZ, wie in den westlichen Besat- losen Bevölkerung? zungszonen, zunächst die SPD sehr schnell politisch handlungsfähig. Neben ihr gründeten sich außerdem — Welche Verantwortung tragen die Blockparteien CDU und die LDP als bürgerliche, demokratische für mehr als 40 Jahre DDR-Diktatur? Parteien, die rasch eine beachtliche Zahl von Mitglie- — Welche personellen, organisatorischen und finan- dern gewinnen konnten. Diese beiden Parteien wur- ziellen Kontinuitäten gibt es zwischen den ehema- den jedoch von SMAD und KPD sehr bald systema- ligen Blockparteien und CDU wie F.D.P., in denen tisch unterwandert, so daß sie ihre Unabhängigkeit sie nach der Wende aufgegangen sind? Inwieweit verloren. Durch die Zwangsvereinigung mit der KPD profitieren diese beiden Parteien von den Privile- im April 1946 wurde auch die SPD als eigenständige gien, die die Blockparteien in der DDR genos- politische Kraft besei tigt. Lediglich in Ost-Berlin gab sen? es noch bis zum Bau der Mauer 1961 legale SPD- Gruppen. Sozialdemokraten, die sich dem SED-Kurs Einige dieser Fragen lassen sich beim gegenwärtigen offen widersetzten, wurden politisch verfolgt, inhaf- Forschungsstand noch nicht abschließend beantwor- tiert oder ermordet. Bei der Ausschaltung der bürger- ten. Sie müssen für die verschiedenen Phasen der lichen Parteien als unabhängige politische Kräfte DDR-Geschichte anhand der nunmehr zugänglichen verfolgten SMAD und SED-Führung eine andere Archivalien weiter untersucht werden. Daraus könn- Strategie: In die Leitungsgremien von CDU und LPD ten sich differenzierte Erkenntnisse ergeben. wurden systematisch SED-hörige Mitglieder einge- schleust, die dann in unauffälliger Weise auf SED- freundliche Entscheidungen hinwirkten. Um den Ein- 4.8.2 Die Funktion der Blockparteien im System der fluß dieser beiden Parteien zu verringern, veranlaßte SED-Diktatur die SED zudem 1948 die Gründung von DBD und NDPD, in denen von Anfang an der SED ergebene Die SED verzichtete auf die Abschaffung der Block- Funktionäre ausschlaggebenden Einfluß besaßen. parteien, weil diese bis zum Herbst 1989 wich tige Mit Druck und Einschüchterung, durch Verhaftungen Funktionen für die Erhaltung des Regimes wahrnah- und politische Prozesse hat die SED versucht, die men. Die Blockparteien hatten politische Gleichschaltung der Blockparteien, vor (a) eine Alibifunktion, indem sie die kommunistische allem von CDU und LDP, bis in deren Basis hinein Einparteienherrschaft verschleiern helfen sollten, durchzusetzen. Die Ereignisse im Juni/Juli 1953 zeig- d. h. sie hatten die Aufgabe, Demokratie nach ten jedoch, daß dies nicht vollständig gelang. Bis zum innen und außen vorzutäuschen; Mauerbau existierte an der Basis aller Blockparteien ein kritisches Poten tial, das jedoch keinen Einfluß auf (b) einen gesamtdeutschen Auftrag, indem sie Kon- die Generallinie der Parteien besaß, zudem auch nach takte vor allem in westliche Staaten dort aufrecht- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
erhalten sowie auf- und ausbauen sollten, wo SED oft eine traditionelle Distanz. Die Blockparteien SED-Funktionäre unerwünscht waren; übernahmen die Aufgabe, auf diese im Sinne der SED einzuwirken, um sie für das Regime zu gewinnen. Zur (c) eine Mobilisierungsfunktion, indem sie der SED Begründung der SED-Politik trugen die Blockparteien fernstehende Bevölkerungsgruppen ansprechen meist nicht marxistisch-leninistische, sondern hu- sollten, um sie in das DDR-System einzubinden manistisch-christliche bzw. liberale Deutungsmuster und damit politisch zu disziplinieren. vor. Während die ersten beiden Funktionen zunehmend Jede dieser Parteien sollte bestimmte gesellschaftli- an Bedeutung verloren und die Mobilisierung nicht che Zielgruppen erreichen. Die LDPD w andte sich an den erwünschten Erfolg einbrachte, erwiesen sich die Handwerker und an die Reste des Mittelstandes, die Einbindungs- und die Disziplinierungsfunktion als CDU an die kleinen Unternehmer, an bürgerliche dauerhafte und wich tigste Aufgaben. Intellektuelle und insbesondere an Ch risten, die DBD an die ländliche Bevölkerung und die NDPD an eher national gesinnte Kreise und frühere Berufssoldaten 4.8.2.1 Alibifunktion der Wehrmacht. Die Mitgliederwerbung durfte nur in den jeweiligen Bevölkerungsgruppen erfolgen, was In den Staaten des sowjetischen Imperiums, die über von der SED streng kontrolliert wurde. Damit sollte eine demokratische Tradi tion verfügten und vor dem das Wirken dieser Parteien von vornherein auf die Zweiten Weltkrieg ein Mehrparteiensystem besessen ihnen zugewiesenen sozialen Schichten und Hand- hatten, wurden nach Kriegsende wieder verschie- lungsräume begrenzt werden. Ihrer Mobilisierungs- dene, auch bürgerliche Parteien zugelassen, alsbald funktion konnten die Blockparteien insgesamt jedoch jedoch in einem Blockparteiensystem zusammenge- nur in geringem Umfang gerecht werden. Die ihnen faßt und damit der Kontrolle von sowje tischer Besat- zugeordneten Bevölkerungschichten haben sie nicht zungsmacht und kommunistischer Partei unterwor- zu überzeugten Anhängern des DDR-Systems ma- fen. In der SBZ geschah dies entsprechend einem chen können. Diktum Ulbrichts: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir (die Kommunisten) müssen alles in der H and haben!" Sowohl der eigenen Bevölkerung als auch dem Ausland gegenüber sollte dadurch ein demokra- 4.8.2.4 Einbindung und Disziplinierung tischer Schein gewahrt werden. Die Existenz einer formalen Mehrparteiendemokratie, die innenpolitisch Im Laufe der Jahre mußte die DDR-Führung erken- das Herrschaftsmonopol der SED in keiner Weise in nen, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht von der Frage stellte, hatte gleichwohl außenpolitisch einige Richtigkeit der Ideologie und Politik der SED über- Bedeutung: Sie förderte bis in die achtziger Jahre zeugt werden konnte. Zwar war diese auch weiterhin hinein das Streben der SED nach internationaler bemüht, die Menschen marxistisch-leninistisch zu Anerkennung und Ansehen. So wurden beispiels- indoktrinieren, doch wurde die politische Einbindung weise Besuchsdelegationen in Lander der Dritten jener Menschen, die sich innerlich dem Wahrheitsan- Welt, vor allem nach Lateinamerika und Af rika, häu- spruch der SED nicht unterwarfen, für die Fortexistenz fig von Spitzenfunktionären der Blockparteien gelei- des Regimes immer wichtiger. Für die SED und ihr tet. Herrschaftssystem kam es mehr und mehr darauf an, daß sich die Menschen, wenn sie schon nicht über- zeugt werden konnten, wenigstens den Erwartungen 4.8.2.2 Gesamtdeutscher Auftrag der SED entsprechend verhielten, d. h. spontane und subjektive politische Willensbekundungen unterlie- ßen und ein äußerliches Wohlverhalten an den Tag Bis Anfang der siebziger Jahre hatten CDU und LDP legten. Wer sich ideologisch der SED teilweise oder die Aufgabe, unter den Anhängern der westdeut- vollständig entzog, mußte zumindest formal in das schen CDU und F.D.P. für die DDR und eine Wieder- System eingebunden werden. Dies zu erreichen, war vereinigung unter kommunistischem Vorzeichen zu eine wesentliche Aufgabe der Blockparteien, die sie werben. Während die F.D.P. über Jahrzehnte hinweg bis zuletzt zuverlässig im Sinne der SED erfüllten. Kontakte zur LDPD aufrechterhielt, verweigerte die Wichtigste Zielgruppe war dabei die eigene Mitglied- CDU diese zur Ost-CDU (insbesondere die hier massiv schaft [-> Expertise Richter II]. Diese erreichte mit Einfluß nehmende Exil-CDU, die durch ihren Vorsit- zuletzt 470 000 Personen eine beachtliche Größenord- zenden im CDU-Bundesvorstand vertreten war). nung (1987: CDU ca. 140 000, davon 20 000 hauptamt- liche Staatsfunktionäre und Abgeordnete; LDPD 104 000; DBD 115 000, NDPD 110 000); der Einfluß 4.8.2.3 Mobilisierung der Blockparteien auf die parteilose Bevölkerungs- mehrheit ging dagegen kontinuierlich zurück. In der SBZ/DDR existierte eine vertikal und ho rizontal differenzierte, historisch gewachsene Gesellschaft mit Den Funktionen der Blockparteien im Herrschaftssy- unterschiedlichen sozialen Schichten, die ihrerseits stem der SED entsprach es, den Macht- und Führungs- spezifische geistige Prägungen aufwiesen und über anspruch der SED ohne Einschränkung anzuerken- ebenso spezifische Erfahrungen verfügten. Handwer- nen. Dazu gehörte aber auch, der marxistisch-lenini- ker, Unternehmer und Bauern, eher na tional stischen Ideologie fremde und entgegenstehende Gesinnte, Christen und bürgerliche Intellektuelle Denkmuster und Wertvorstellungen als durchaus mit besaßen zur marxistisch-leninistischen Ideologie der dieser Ideologie vereinbar darzustellen bzw. sogar Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode umzudeuten. Für die Erfüllung dieser Aufgabe wur- Die Blockparteien waren somit — ohne Einschränkun- den den Blockparteien von der SED begrenzte Frei- gen seit Anfang der sechziger Jahre — ein Teil der räume gewährt. Dies sollte bei den Mitgliedern die SED-Diktatur mit wich tigen Stabilisierungsfunktio- Vorstellung fördern, daß die Blockparteien tatsächlich nen. Sie tragen daher insgesamt und vor allem ihre eine eigenständige Rolle spielten, auch wenn dies nur Funktionäre Mitverantwortung für das Unrecht in 40 eine Fiktion blieb. In diesen Freiräumen durften die Jahren DDR-Geschichte. So wenig, wie innerhalb der Blockparteien gelegentlich — und strikt im Rahmen Blockparteien selbständiges politisches Handeln der SED-Vorgaben — etwas von der SED-Linie abwei- möglich und so gering ihr Status als unabhängige chende politische Akzente setzen. Dabei wurde politische Akteure insgesamt war, so wenig gingen berücksichtigt, daß sie sich zwar an partiell Anders- auch von ihnen Impulse für politische Veränderungen denkende wandten, diese aber zur politischen Anpas- aus. Erst recht stellten sie kein Poten tial zur Überwin- sung und zur Konfliktvermeidung mit der SED bereit dung der Diktatur und damit auch keine politische waren. Die Konzession der Freiräume entsprach der Gefahr für die SED dar. Forderung der Einheitspartei an die Blockparteien, „eigenständige und unverwechselbare Beiträge" zur Die politische Bedeutung der Blockparteien wuchs Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen erst, als die Macht der SED sichtbar zu verfallen Lebens in der DDR zu leisten. So hat die CDU in den begann. Zum Sturz der Diktatur haben sie jedoch achtziger Jahren — wenn auch in sehr engen Grenzen nicht beigetragen. Gewiß haben auch Mitglieder von — ökologische Themen angesprochen. In den Verla- Blockparteien, wie selbst viele Mitglieder der SED, an gen der Blockparteien konnte Literatur erscheinen, trationen aller Bevölkerungsschichten im den Demons die ein SED-Verlag nicht herausgegeben hätte. Durch Herbst 1989 teilgenommen. Die Blockparteien traten die Bereitstellung begrenzter, von der SED s treng jedoch im Verlauf der Wende-Ereignisse als Parteien kontrollierter politischer Freiräume suchten die Block- überhaupt nicht in Erscheinung. Für sie war die parteien auch jene Menschen für eine gesellschaftli- Anpassung an die jeweiligen Machtverhältnisse che Mitarbeit zu gewinnen, zu denen die SED keinen längst zur selbstverständlichen Verhaltensnorm ge- Zugang hatte. Gerade in Phasen machtpolitischer worden. Für sie gab es bis zuletzt keine „Infragestel- Verunsicherung erfreuten sich deshalb die Blockpar- lung des SED-Machtmonopols" [—* Expertise Papke]. teien besonderer Wertschätzung durch die SED-Füh- Diejenigen Kräfte, die das anstrebten, mußten sich rung, die von ihnen Hilfe bei der Kontrolle von ihre eigenen Strukturen schaffen. Unruhepotential in bestimmten Gesellschaftsschich- ten erwartete. Die Grenzen zugestandener Freiräume lagen nie von vornherein fest, so daß es im Einzelfall auch immer wieder zu Konflikten gekommen ist. Selbst in diesen Freiräumen konnten die Blockpar- 4.8.3 Mitglieder und Funktionäre, Motive für die teien nicht politisch eigenständig handeln. Sogar die Mitgliedschaft Reden ihrer Funktionäre wurden von den zuständigen SED-Gremien, unabhängig von dem behandelten Die Instrumentalisierung der Blockparteien durch die Thema, zensiert. SED war so angelegt, daß sie von ihren Mitgliedern zumeist nicht vollständig durchschaut wurde. Da alle Alle Versuche, heute eine politische Mitverantwor- personalpolitischen Entscheidungen mit der SED tung für die Politik des SED-Regimes und seine l ange abgestimmt wurden, haben jedoch die Funktionäre Lebensdauer allein den Funktionsträgern der Block- der Blockparteien, bis zur Kreisebene hinab, im Wis- parteien anzulasten, mißachten die vielfältigen Erfah- sen um die tatsächlichen Zusammenhänge die ihnen rungen der DDR-Bevölkerung, insbesondere der kri- zugeteilte Rolle im Sinne der SED gespielt. Dies gilt tisch-oppositionellen Gruppen und Kirchen. Zwar gab erst recht für den enorm aufgeblähten Apparat der hauptamtlichen Funktionäre. es — was durchaus nicht selbstverständlich war — Unterschiede im Verhalten von Mitgliedern der SED und der Blockparteien. Aber im Vergleich zur Mehr- Nachdem die „bürgerlichen" Parteien der SBZ/DDR heit der Bevölkerung, die keiner Partei angehörte, ihren demokratischen Charakter verloren hatten und fielen auch Mitglieder von Blockparteien durch ihr das Blockparteiensystem etabliert worden war, haben deutlich unkritisches Mitmachen, durch Anpassung viele Mitglieder diese Parteien verlassen. Andere und Loyalität gegenüber dem System auf. So war zogen sich zurück oder flüchteten in den Westen. Wer Mißtrauen gegenüber CDU-Mitgliedern gerade in später in diese Parteien eintrat, tat dies häufig im den Kirchen weit verbreitet. Zusammenhang mit unpolitischen Erwägungen, etwa um als Handwerker eine Gewerbeerlaubnis zu erhal- ten oder um Karriere bis zu einer mittleren Leitungs- Materiell waren die Blockparteien von der SED stufe machen zu können. Viele der neuen Mitglieder abhängig; finanziert wurden sie weitgehend aus dem wollten einfach das in der DDR geforderte gesell- Staatshaushalt. Bei allen ihren Entscheidungen — schaftliche Engagement nachweisen können, ohne in tagespolitischen, programmatischen und personellen die SED einzutreten. Dabei war von Anfang an klar, — wurden die Erwartungen der SED als unumstößli- daß Mitglieder von Blockparteien nicht in Spitzenäm- che Vorgaben behandelt, gelegentlich sogar in vor- ter gelangen oder wichtige Leitungspositionen in auseilendem Gehorsam als Leitlinien für das eigene Gesellschaft, Staat und Wirtschaft erreichen konnten. Handeln antizipiert. Häufig war es daher gar nicht So entschieden eben häufig Karrierewünsche, als Teil nötig, daß die SED ihr gesamtes Steuerungs- und eines verbreiteten Anpassungssyndroms, über den Kontrollpotential sichtbar einsetzte. Eintritt in eine bestimmte Partei. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
4.8.4 Herausforderungen für Christdemokraten und Staatsmacht. Indem die Partei bestimmte knappe Liberale nach der Vereinigung mit den Güter oder Privilegien als Gratifikationen vergeben entsprechenden Blockparteien oder auch verweigern konnte, machte sie Menschen zusätzlich steuerbar [-> Expertise Gutmann]. Nach der Vereinigung der christdemokratischen und Die Beseitigung des „Privateigentums an Produk- der liberalen West- mit den entsprechenden Ostpar- tionsmitteln" war die wi rtschaftliche Grundlage für teien stellt sich heute auch für CDU und die F.D.P. die den Aufbau des „realen Sozialismus" in der DDR. Frage nach der politischen Mitverantwortung der Ausgehend von den ideologischen Vorstellungen des Blockparteien für die Politik des SED-Regimes. Nicht Marxismus-Leninismus erfolgte die Enteignung der nur die SED-Nachfolgepartei PDS muß sich offen mit sogenannten „Großkapitalisten", „Kriegsgewinnler" der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen, auch sowie der „Junker und Barone", die Verstaatlichung Christdemokraten und Liberale müssen sich der Her- der mittleren und kleineren Bet riebe und die Kollek- ausforderung stellen, die Geschichte der Blockpar- tivierung landwirtschaftlicher Betriebe. Die weitge- teien ohne Scheuklappen aufzuarbeiten — eine hende Verdrängung des privaten Einzelhandels und Geschichte, die nun Teil der Gesamtgeschichte von die zwangsweise Bildung von Produktionsgenossen- CDU und F.D.P. geworden ist. Aufschlußreich sind schaften des Handwerks belegen zusätzlich die weit- hierbei die Unterschiede zwischen den Aussagen in gehende Durchsetzung des angeblichen Volkseigen- den Reden von Lothar de Maizière im Dezember 1989 tums an den Produktionsmitteln [-> Expertisen Mühl- und auf dem Vereinigungsparteitag im Oktober 1990. frieden, Weber, Buck]. Vor allem bedürfen noch die personellen, organisatio- rischen und finanziellen Kontinuitäten zwischen den Bis Anfang der fünfziger Jahre erfolgte der komplette ehemaligen Blockparteien sowie CDU und F.D.P. der Aufbau eines nach sowje tischem Vorbild gestalteten kritischen Analyse. Insbesondere ist den Fragen nach- Systems der zentralen staatlichen Planung, Leitung zugehen, wo und inwieweit diese beiden Parteien bis und Kontrolle. Die SED beanspruchte die Führungs- heute von Privilegien der nun mit ihnen zusammen- position in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies geschlossenen Blockparteien profitieren, die diese in schloß ein, daß die wirtschaftspoli tischen Ziele (hin- der DDR genossen haben, und welche Auswirkungen sichtlich Produktion und Verteilung von Gütern und die weitgehende personelle Kontinuität bei der Beset- Leistungen, des Einsatzes an Arbeitskräften und Pro- zung von Ämtern in den neuen Bundesländern mit duktionsmitteln) von den zuständigen Parteigremien Mitgliedern aus den ehemaligen Blockparteien hat. beschlossen und gemäß diesen Vorgaben von der Die Beantwortung dieser Fragen wird darüber Auf- staatlichen Verwaltung umgesetzt wurden. Die Wi rt schluß geben, ob die Mitverantwortung der Blockpar- -schaftspolitik der SED wurde vermittels der Fünfjahr- teien für Politik und Dauer des SED-Regimes wirk lich pläne und der Jahresvolkswirtschaftspläne durchge- ernst genommen wird." setzt. Die SED bediente sich hierzu eines umfassen- den, hierarchisch gegliederten Apparates. Parallel zu den eigentlichen Planungsinstitutionen (Staatliche 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Plankommission, Industrie- und sonstige wirtschafts- Wirtschaft leitende Ministe rien und Ämter, Vereinigungen Volkseigener Betriebe (bis 1979), Kombinate (ab Die Rolle der Wirtschaft in der vierzigjährigen 1979) und Volkseigene Betriebe) schuf sie ein weitge- Geschichte der DDR, die Bedeutung ökonomischer fächertes Kontrollinstrumentarium: Partei- und Ge- Faktoren bei ihrem Untergang und bei den Folgen der werkschaftsorganisationen auf allen Ebenen, die SED-Diktatur ist zweifellos ein entscheidendes Pro- „Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle", die blemfeld. Die Untersuchungen der Enquete-Kommis- „Staatliche Finanzrevision" und die „Staatliche sion zur Wirtschaft der DDR mußten sich auf die Bilanzyinspektion" [-> Expertise Gutmann]. Formen, Wege und Konsequenzen ihrer Umgestal- Die Umgestaltungsmaßnahmen von 1945 bis 1949 und tung zu einer zentralistisch-administrativen Planwirt- die endgültige Etablierung eines Wirtschaftssystems schaft sowie ihrer Instrumentalisierung für die Ziele zentraler Planung, Lenkung und Kontrolle nach der SED-Diktatur konzentrieren. Somit konnten nicht sowjetischem Vorbild in den Jahren danach bargen alle Aspekte der DDR-Wirtschaft erfaßt werden: ihre den Keim der gesellschaftlichen und wirtschaft lichen signifikanten Wesenszüge wurden jedoch deutlich Spaltung Deutschlands in sich. Sie schlossen weiter- herausgearbeitet. Wichtige Fragestellungen waren hin eine völlige Neuorientierung der Außenwirt- zum einen die Zielsetzung und die Methoden der schaftsbindungen gegenüber der Vorkriegszeit ein. Umgestaltung der Eigentums- und Lenkungsordnung Nicht zuletzt durch den sowje tischen Zugriff auf in der Wirtschaft [-> Expertisen Weber, Gutmann, wichtige Teile der ostdeutschen Wirtschaft im Zusam- Mühlfriedel, Buck, Bericht Wolf/Sattler], zum anderen menhang mit den Reparationsleistungen (Bildung der die Mechanismen und Auswirkungen ihrer Instru- SAG) entwickelte sich die Eingliederung der DDR- mentalisierung [-> Protokoll Nr. 27]. Wirtschaft in das sowje tisch dominierte Wirschaftsge- Die Zentralverwaltungswirtschaft war die ökonomi- biet des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, dem sche Grundlage der SED-Diktatur: Die Verfügung die DDR im September 1950 beitrat [-> Exper tise über Produktionsmittel und Produkte sicherte das Baar/Matschke]. Es galt das absolute staatliche Machtmonopol der SED und machte die Bürger, Außenwirtschaftsmonopol. Der herrschenden wirt- denen Lebenschancen und Konsummöglichkeiten — schaftspolitischen Doktrin folgend, aber auch unter im Rahmen des in diesem System Produzierbaren — dem Eindruck der Kündigung des Interzonenhandels- zugeteilt wurden, zu Abhängigen der Partei- und abkommens im Jahre 1960 und angesichts westlicher Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Embargomaßnahmen wurde zeitweilig eine „Störfrei- Die wirtschaftlichen Ursachen für den Zusammen- machung" der DDR-Wirtschaft, d. h. Unabhängigkeit bruch des Systems zentraler Planung, Leitung und und vollständige Abkopplung vom westlichen Welt- Kontrolle sind in diesem System selbst, in seinem markt, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ideologischen Gesamtanspruch und in seinen Kon- (NSW), versucht. Nicht zuletzt trugen der Mauerbau struktionsfehlern zu finden. Ein entscheidender im August 1961 und der Ausbau der Grenzanlagen zur Schritt zur Instrumentalisierung der Wirtschaft der weiteren Abschottung und selbstgewählten Isolie- SBZ/DDR war die Umgestaltung der Eigentumsord- rung der DDR bei. Das von ihr ausgebildete Preis- und nung, aus der wiederum charakteristische Defizite, Produktionsgefüge konnte wohl im RGW angesichts z. B. die Innovationsfeindlichkeit, resultierten. Ein mangelgeprägter Verteilungs- und Verhaltensmech- wesentlicher Konstruktionsfehler lag in dem für dieses nismen funktionieren, war jedoch in keiner Weise System nicht zu lösenden Problem der Informa tions- weltmarktkompatibel [->. Expertise Schüller]. gewinnung und -verwertung [-> Expertise Gutmann]. Zentrale Planung setzt grundsätzlich ein in der Wirk- Schwerpunkte wurden zentral, d. h. im Zentralkomi- lichkeit nicht erreichbares zentrales Wissen über die tee der SED bzw. in Abstimmung mit diesem in den Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft und Industrieministerien, gesetzt. Das geschah nach poli- die Bedürfnisse des Marktes voraus. In der DDR wurde tischen Zielvorgaben und führte u. a. zur Verschleu- versucht, dieses Problem durch einen Katalog von derung von Investitionen, da letztlich in keinem Fa ll Kennziffern zu lösen. Gleichzeitig sollten durch soge- der Weltstandard erreicht werden konnte (Beispiele nannte Hebel der materiellen Interessiertheit bzw. der Flugzeugbau, Robotertechnik, Mikroelektronik/Re- wirtschaftlichen Rechnungsführung Anreize zu plan- chentechnik, Energieträgerumstellung). Die Pläne entsprechendem Verhalten geschaffen werden. Ins- wurden zentral — vorwiegend nach politischen Krite- gesamt traten die Funktionsfehler seit dem Ende der rien — festgelegt und über das hierarchisch geglie- sechziger Jahre, als intensives Wirtschaftswachstum derte Leitungssystem bis zu den Bet rieben verbindlich immer notwendiger wurde, deutlicher als in der durchgesetzt. Scheinbar demokratische Mechanis- Anfangsphase in Erscheinung. men der Vorbereitung und Durchführung der Pläne (Plandiskussion, Gegenpläne, Sozialistischer Wettbe- Der im Interesse der Sicherung des „Volkseigentums" werb, „Aktivisten"-Initiativen u. ä.) veränderten nicht an Produktionsmitteln gezielt dezimierte p rivate den zentralistisch-administrativen Charakter der Pla- Handels-, Handwerks- und Dienstleistungssektor nung und Leitung. Häufig (in den achtziger Jahren [-> Expertisen Buck, Mühlfriedel] verstärkte die M an regelmäßig) erfolgten während der Plandurchführung rtschaftlichen Bereich. Andererseits-gelprägung im wi „Präzisierungen" der Pläne (nach unten), obwohl sie erforderten Steuerungs-, Verteilungs- und Kontroll- „Gesetz" waren. Damit war die sozialistische Volks- mechanismen die allseitige Bürokratie, die in Ergän- wirtschaft im Vergleich zum „Weltniveau" vor allem zung zu gegebener Ineffizienz und zum allgegenwär- durch relativ ineffektive Technologien, hohen Ener- tigen Sicherheitsapparat erhebliche Beschäftigungs- gie- und Materialeinsatz, umweltbelastende, verbü- anteile erzeugte. Hieraus (aber auch aus der Arbeits- rokratisierte Produktionsbedingungen und unzurei- platzgarantie selbst bei geringer Produktivität) ergab chendes Marketing gekennzeichnet [-> Protokoll sich eine erhebliche „verdeckte" Arbeitslosigkeit. Nr. 27]. Die Planungstätigkeit auf Betriebsebene erbrachte eine durchgängig „weiche" Planung, d. h. eine mög- Durch Privilegien der unterschiedlichsten Art, finan- lichst niedrige Ansetzung der eigenen Produktionsan- ziert aus Mitteln, die der Wirtschaft entzogen und gebote, um die voraussehbaren Mindestanforderun- entsprechend verteilt wurden, sicherte sich die Partei gen und Risiken — z. B. bei der Bereitstellung von die Loyalität der Angehörigen der Herrschaftselite auf Zulieferungen — niedrig zu halten und die Erfüllung allen Ebenen von Planung und Kontrolle. Die Einbin- der Pläne sicherzustellen [-> Expertise Gutmann]. Die dung der übrigen Bevölkerung in die Herrschafts- Produktion war in vielen Bereichen durch monatliche strukturen von Partei und Staat sollte erreicht werden Diskontinuität gekennzeichnet: Am Monatsanfang durch ein von der Partei gesteuertes kollektives Siche- trat (sofern nicht noch für die bereits gemeldete rungssystem versorgungs- und sozialpolitischer Art, Planerfüllung des Vormonats gearbeitet wurde) wobei der einzelne einer lückenlosen administrativen wegen Materialmangels Arbeitsausfall auf (ohne daß Zuteilung von Lebenschancen unterworfen wurde. etwa nicht „gearbeitet" wurde), und am Monatsende Dieses Versorgungs- und Fürsorgesystem umfaßte die wurden (bezahlte) Überstunden erforderlich und formale Sicherheit eines Arbeitsplatzes, die Lenkung Arbeitskräfte der „nicht produzierenden Bereiche" beruflicher Karrieren und Qualifikationen, die Versor- (z. B. auch aus Forschung und Entwicklung) in „die gung mit subventioniertem Wohnraum, die Subven- Produktion" abgestellt [–p Protokoll Nr. 27]. tion von Konsumgütern des Grundbedarfs, der Ver- kehrstarife und der Dienstleistungen. Das letztlich Das Verfahren der Preisbildung und der Leistungsab- gescheiterte Honecker-Programm der „Einheit von rechnung durch Plankennziffern führte dazu, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik" ist als ein Versuch in Betriebe in dem Bestreben, hohe Arbeitsergebnisse diese Richtung zu deuten [-> Buck, Protokoll Nr. 27]. abzurechnen, an der hohen Ansetzung ihrer Kosten Da die Verteilungsmechanismen nicht am Markt, also und Leistungen interessiert sein mußten [-> Exper tise am tatsächlichen Bedarf, orientiert waren, blieb das Gutmann]. Dies führte zu einer in der volkswirtschaft- Prinzip der „Mangelsteuerung" funktionsfähig. Es lichen Gesamtbilanz erheblichen, von außen gleich- entstand eine umfangreiche Schattenökonomie (Han- wohl kaum einschätzbaren künstlichen Wertaufblä- del mit Mangelprodukten, Forumschecks und „West- hung, die die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR geld"). schönte und bis zu der Fehleinschätzung führen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 konnte, die DDR nehme in der Reihe der Industrie- tees zur „Anleitung" der Medien reibungslos. Dies staaten den zehnten Rang ein [-> Exper tise von der bedeutete jedoch nicht, daß die auf vielfältige Weise Lippe]. betriebene Manipulation und versuchte Indoktrina- tion der Bevölkerung auch die erwünschten Ergeb- Einer der wesensbedingten Mängel dieses Systems nisse erbracht hätten. Zeitungen, Rundfunk und Fe rn war dessen Innovationsfeindlichkeit. Ein wirtschafts- tion-sehen hatten durch ihre durchsichtige Manipula politisches Hauptziel bestand in den beiden letzten von Information nur noch mittelbar eine Bedeutung Jahrzehnten darin, technischen Fortschritt durch für die Meinungsbildung. Die Nachricht als Halb- schwerpunktmäßige Investitionen bei wechselnden wahrheit ist in der DDR zur Norm geworden. Nur Schlüsselindustrien, verbunden mit teilweise außeror- durch das Lesen zwischen den Zeilen, vor allem aber dentlich hohen Aufwendungen für Forschung und in Verbindung mit Informationen aus westlichen elek- Entwicklung durchzusetzen. Einerseits wurden wis- tronischen Medien, deren Kenntnis die offizielle senschaftliche Einrichtungen mit erheblicher zentra- Medienpolitik zunehmend voraussetzte, konnte das -ler staatlicher Förderung weitgehend in Forschungs Geschehen im eigenen Staat einigermaßen nachvoll- und Entwicklungsaufgaben für die Indust rie einbezo- zogen werden. Freiräume für die Journalisten gab es, gen (z. B. Akademie der Wissenschaften, Universitäts- ungeachtet anderslautender Feststellungen einiger institute). Andererseits hemmten auch hier Bürokratie westdeutscher Kommunikationswissenschaftler, nicht (Entwicklungsstufen mit Berichten und Kontrollen) [-> Expertise Holzweißig]. DDR-Journalisten hatten und politisches Mißtrauen schnelle und hochwertige sich — auch wenn sie nur Mitglied einer Blockpartei Neuentwicklungen. Aktuelle Fachliteratur zu bezie- waren — als „Funktionäre der Partei der Arbeiter- hen oder Gespräche mit NSW-Betrieben auf der klasse" zu verstehen. Selbständiges Denken mußte Leipziger Messe zu führen, war nur ausgewählten bei ihnen deshalb der „Schere im Kopf" zum Opfer Kadern nach besonderer Verpflichtung und mit fallen. anschließender Berichterstattung erlaubt. Technischen Fortschritt einzuführen, brachte zudem Zur Deformation der Medienpolitik trugen die Gene- auf betrieblicher Ebene das Risiko der Planverfehlung ralsekretäre Ulbricht und Honecker maßgeblich bei. mit sich, mit möglichen Konsequenzen persönlicher Insbesondere Honecker ließ es sich z. B. nicht neh- und materieller Art. Darüber hinaus war auch der den men, kurzfristig vor Sendebeginn der „Aktuellen technischen Fortschritt vorantreibende inte rnationale Kamera" Änderungswünsche übermitteln zu lassen Wettbewerb systembedingt nicht vorhanden, weder — etwa als Reaktion auf die „heute"-Sendung des in der DDR selbst noch — wegen weitgehender ZDF um 19.00 Uhr. Darüber hinaus redigierte er ökonomischer Abschottung nach Westen — außen- Kommentare für „Neues Deutschl and", das FDJ- wirtschaftlich [-> Expertise Schuller]. Organ „Junge Welt" oder politisch besonders b risante Die ideologisch legitimierte, quasi kostenlose Nut- Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur ADN. zung der Umwelt durch die Betriebe stellte eine Wie aus internen Vermerken, aber auch gelegentlich Ressourcenverschwendung größten Ausmaßes mit aus öffentlichen Verlautbarungen hervorgeht, wußten teilweise bis heute nachwirkenden katastrophalen sowohl Ulbricht als auch Honecker, daß die von ihnen Folgen dar. Die Umwelt nahm im wi rtschaftlichen permanent geforderte „Massen- und Lebensverbun- Zielkatalog der Partei- und Staatsführung keinen denheit" der Medien eine Schimäre war. Einerseits nennenswerten Platz ein [-> Expertise Jordan]. verlangten sie auch kritische Berichterstattung über Mißstände und Probleme an der Basis, andererseits Der Zusammenbruch der zentralen staatlichen Pla- mußten aber die Probleme als lösbar dargestellt wer- nung, Leitung und Kontrolle der Wirtschaft war auf- den, was meist unmöglich war. Außerdem galt für jede grund ihrer Konstruktionsfehler und des daraus her- Redaktion das strikte Gebot, den „feindlichen vorgehenden Entwicklungsverlaufs vorprogram- Medien" keine Ansatzpunkte zur „Diversion" zu miert. Reformansätze in der DDR und in anderen liefern. Ostblockstaaten zeigten, daß diese Systemmängel ohne gleichzeitige Änderung auch des politischen Systems nicht entscheidend zu korrigieren waren. Die angestrebte „Massenverbundenheit" der Medien geriet vor allem deshalb zur Farce, weil die von ihnen gleichgeschaltete veröffentlichte Meinung im krassen 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED Gegensatz zu den Alltagserfahrungen der meisten DDR-Bewohner stand. Auch deshalb vertrauten sie mehr dem Informationsgehalt der westlichen elektro- Die Medien spielten als Instrument des „Klassen- nischen Medien, die von bis zu 90 Prozent der Bevöl- kampfes" im Systemwettbewerb eine bedeutende kerung der DDR regelmäßig eingeschaltet wurden. Rolle. ihre Funktionen als Herrschaftsinstrument der Die Einschaltquoten der Nachrichten- und Informa- SED, deren Bemühen, ein Meinungs- und Informa- tionssendungen des DDR-Fernsehens lagen dagegen tionsmonopol zu errichten, sowie die Haltung der häufig deutlich unter 10 Prozent. Anfang 1988 ermit- Journalisten sind in mehreren Expertisen untersucht telte das Leipziger Zentralinstitut für Jugendfor- worden [-> Expertisen Holzweißig, Di ller, Ludes, schung, daß nur 4 Prozent der befragten Jugendlichen Müller II]. eine volle Übereinstimmung der gewonnenen Infor- Obwohl es in der DDR im Unterschied zu anderen mationen aus DDR-Medien mit ihren Lebenserfahrun- Ländern des sowje tischen Einflußbereiches keine gen bestätigen konnten. Derartige Untersuchungen institutionalisierte Zensurbehörde gab, funktionierten verdrängten die Medienverantwortlichen und ver- die Steuerungsmechanismen des SED-Zentralkomi- schlossen sie in ihren Panzerschränken. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Die Grundstruktur der Zeitungslandschaft entstand Gegensatz zu allen anderen Presseerzeugnissen vor kurz nach dem Kriege nach Maßgabe der sowjeti- der Drucklegung von einem staatlichen Zensor begut- schen Besatzungsmacht. Seit Anfang der fünfziger achtet werden. Aus einer Disse rtation, mit der der Jahre gab es insbesondere im Hinblick auf die Anzahl langjährige Leiter des Presseamts, Kurt Blecha, an der der 39 Tageszeitungen kaum noch Veränderungen, Juristischen Hochschule des MfS promoviert wurde, weil die Lizenzträger ausschließlich Parteien und von sind erstmals detai lliert die perfiden Methoden der SED gelenkte Massenorganisationen sein durften. bekannt geworden, mit denen die Kirchenpresse Der Anteil der SED-Presse an der Gesamtauflage aller diszipliniert und schikaniert wurde [-> Expertise Holz- Tageszeitungen belief sich auf über 90 vH; den 18 weißig]. Die Zensoren im Presseamt rechtfertigten im Zeitungen der Blockparteien wurden 8,6 vH (834 000 übrigen in nicht nachvollziehbarer formalistischer Exemplare) zugestanden. Der prinzipielle Ausschluß Weise ihre Tätigkeit damit, daß die Kirchenzeitungen, von privaten Verlegern machte die in der Verfassung die nicht am Kiosk verkauft werden durften, erst nach gewährleistete Pressefreiheit zur Makulatur. ihrer Freigabe durch das Presseamt vom Postzeitungs vertrieb den Abonnenten zugestellt wurden. Die Medien als Propagandainstrument gaben vor, was offiziell zu denken und zu sagen war. Die Vorgaben der Die Verantwortung für die Medienpolitik lag zwar bei Medien sollten eigene Urteile vermeiden, die Wieder- der Führung der SED, doch war die große Mehrzahl gabe schütze etwa auch vor „Abweichungen". der Journalisten bereit, deren Weisungen und Vorga- ben zu akzeptieren. Zusammenfassend läßt sich fest- Hörfunk und Fernsehen waren nur der Form nach stellen, daß die Methoden der SED-Medienpolitik den staatlich organisiert. Die Staatlichen Komitees für bekannten Praktiken totalitärer Diktaturen entspra- Rundfunk und Fernsehen unterstanden tatsächlich chen. der Medienbürokratie im SED-Zentralkomitee. In einem Bericht über die Kaderentwicklung im Rund- funk aus dem Jahre 1961 hieß es: „Die Bildung des Staatlichen Rundfunkkomitees war eine entschei- 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der dende Maßnahme bei der Säuberung des Rund- „bewaffneten Organe" funks ... Nur die besten, unserer Partei und Regie- rung treu ergebenen Mitarbeiter wurden übernom- Die Militarisierung von Staat und Gesellschaft sowie men ... Entscheidungen über Kaderfragen wurden ihre Funktion der Herrschaftsstabilisierung gegen- von der ideologischen Standfestigkeit des Mitarbei- über der Bevölkerung bildeten in der Arbeit der ters abhängig gemacht" [-> Expertise Müller II]. Daß Enquete-Kommission keinen eigenen Untersu- dies bis 1989 praktiziert wurde, läßt sich an den chungsbereich. Während Entstehung und Entwick- Schicksalen von in Ungnade gefallenen Rundfunk- lung der paramilitärischen Organisationen („Kampf- journalisten illustrieren. Über das Fernsehen als Herr- gruppen der Arbeiterklasse", Gesellschaft für Spo rt schaftsinstrument der SED mit dem von der Partei und Technik, Reservistenkollektive, Zivilverteidi- verlangten Berufsprofil für Mitarbeiter des Fernse- gung), ihr ideologischer Erziehungsauftrag und ihre hens wird konstatiert: „Vertraulich weitergegebene wehrsportliche Ausbildungsaufgabe im wesentlichen Informationen betonten, daß vor allem die Redaktion bekannt sind, bedarf die aggressive Indoktrination in der ,Aktuellen Kamera' zu ,schillernden Leistungsträ- zivilen Lebensbezügen, die häufig auch auf militäri- gem der Speichelleckerei in der Stalin/Honecker- sche Denkmuster zurückgriff, noch einer genaueren Ara' gehörte" [-> Exper tise Ludes]. Analyse. Dabei ist im Hinblick auf die alltägliche Abgesehen von den bereits erwähnten Eingriffen der Beeinflussung durch Feindbilder besonders zu Generalsekretäre, waren die jeweiligen ZK-Sekretäre berücksichtigen, daß bereits die Kinder im Vorschul- für Agitation für die Exekution der Medienpolitik alter zum Haß auf die „Feinde der DDR" erzogen und verantwortlich. Von 1978 bis 1989 war dies Joachim die ideologische Beeinflussung sowie die Bereitschaft Herrmann, ein Gefolgsmann Honeckers, der weder im zur „sozialistischen Landesverteidigung" in allen Parteiapparat noch unter den Journalisten Sympathie Lebensphasen kontinuierlich gefördert wurden. Wäh- genoß. Ihm zur Seite stand der seit 1973 amtierende rend jedoch die institutionalisierten Formen der Heinz Geggel als Leiter der Abteilung Agita tion, der Wehrerziehung in den Schulen, in den Pionierorgani- eigentlichen Schaltzentrale der SED-Medienbürokra- sationen und in der FDJ sowie am Arbeitsplatz für die tie. Die Sektoren Presse und Rundfunk/Fernsehen Betroffenen in den meisten Fällen eine vorüberge- dieser Abteilung werteten systema tisch die elektroni- hende Erfahrung gewesen sein dürfte, sind die lang- schen und Printmedien nach ideologischem Fehlver- fristigen Wirkungen der zielgerichteten Vermittlung halten aus und wachten darüber, daß die zahlreichen von Feindbildern in zivilen Bereichen (Medien, spe- telefonisch, fernschriftlich und mündlich auf den zielle Publikationen für Kinder und Jugendliche, Lied- sogenannten „Donnerstags-Argus" mit den SED gut, organisierte Freizeitgestaltung) und die Bedeu- Chefredakteuren ausgegebenen „Empfehlungen" tung der Nachahmung militärischer Rituale im Schul- strikt beachtet wurden. alltag noch nicht ausreichend erforscht. - Das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats Aus den zwei vergebenen Expertisen kann folgendes war gleichsam der Transmissionsriemen der ZK- zusammengefaßt werden: Abteilung Agitation für die Anleitung der Blockpar- teizeitungen, die Überwachung der Lizenzbestim- — Rolle im Warschauer Pakt mungen und die Koordination der staatlichen Öffent- lichkeitsarbeit. Außerdem oblag dem Presseamt die Hinsichtlich der Rolle der bewaffneten Org ane ist Vorzensur der Kirchenzeitungen. Sie mußten im zwischen einer äußeren, sicherheitspolitischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
und einer inneren, herrschaftspolitischen Funktion — Weiterer Forschungsbedarf zu unterscheiden. Die Eingliederung der NVA in Die Kommission konnte sich mit dem Thema der die Verteidigungskonzeption des Warschauer Militarisierung nur anhand zweier Expertisen Paktes ist ein weitgehend erforschtes Gebiet. Die beschäftigen und verweist auf die in der Forschung NVA unterstand jedenfalls zu keinem Zeitpunkt noch zu behandelnden Bereiche: dem nationalen Oberbefehl, sondern war stets dem Oberkommando des Warschauer Paktes unter- • Kasernierte Volkspolizei (KVP) als Vorläuferin stellt, das von den Richtlinien der sowjetischen der Nationalen Volksarmee (NVA) Militärführung bestimmt wurde und sich auf alle wesentlichen Bereiche von Aufbau, militärische • „Kampfgruppen der Arbeiterklasse" bzw. Be- Planung, Ausbildung, Logistik und Bewaffnung triebskampfgruppen und ihre Aufgaben als erstreckte [-> Exper tise Lapp]. Auch die Militär- Miliz sowohl für Aufgaben innerhalb der DDR doktrin des Warschauer Bündnisses wurde in Mos- als auch in den Einsatzplänen für den Ernstfall kau formuliert. außerhalb der DDR • Rolle der Zivilverteidigung — Politisierung der NVA • Rolle und Aufgaben der Grenztruppen der DDR in ihren verschiedenen Organisationsformen In den „bewaffneten Organen" unterlagen alle Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung • Rolle und Aufgaben der Verbände des Ministe- der Kontrolle der SED, die von Beginn an jede riums des Innern (Bereitschaftspolizei, Feuer- Führungsposition von Beginn an fast ausschließ- wehr, Strafvollzugseinheiten) lich durch ihre Mitglieder besetzte. Große Bedeu- • Baueinheiten der NVA, Diskussion über den tung hatte die ideologische Erziehung der NVA- Wehrersatzdienst Angehörigen zu „sozialistischen Soldatenpersön- lichkeiten" durch Politoffiziere, die der Politischen • System der Reservistenverbände Hauptverwaltung unterstanden. Das Ministe rium • militärischer Strafvollzug für Staatssicherheit besaß mit der „Verwaltung 2000" eine eigene Diensteinheit in der NVA, mit • Rolle der Militärattachés der DDR und Einsatz deren Hilfe sie die Armee flächendeckend durch von Experten im militärischen und polizeilichen offizielle und inoffizielle Mitarbeiter überwachte Bereich von Entwicklungsländern sowie vor allem die Kontakte der NVA-Angehöri- Zu den Themen, die in der Enquete-Kommission gen im In- und Ausland kontrollierte [-> Expe rtise ebenfalls nicht hinreichend behandelt werden konn- Lapp]. Die innere Struktur der NVA war gekenn- ten, gehören vor allem die Beteiligung der NVA am zeichnet durch eine s treng autoritäre, auf Befehl Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die und absolutem Gehorsam ausgerichtete Hierar- CSSR 1968 und entsprechende Vorbereitungen für chie. einen Einmarsch in Polen 1981. Darüber hinaus bedarf insbesondere das übergeordnete Thema der Militari- — Wehrersatzdienst sierung der Gesellschaft noch der weiteren Bearbei- tung. Dabei ist insbesondere auch die Wehrerziehung Zwei Jahre nach Einführung der Wehrpflicht in schulischen Einrichtungen [-> Expertise Marge- (1962) wurden vor allem auf Druck der Kirche dant, II. Themenfeld] und in der FDJ sowie durch die Baueinheiten geschaffen, die die Einbindung der- „Gesellschaft für Spo rt und Technik" (GST) zu jenigen jungen Männer in die Armee gewährlei- berücksichtigen. Ferner sollte die Frage untersucht sten sollten, die den Einsatz mit der Waffe „aus werden, ob und inwieweit die „Sozialisationsetappe religiösen Anschauungen oder ähnlichen Grün- NVA" Einstellungen und Verhalten der NVA-Ange- den" ablehnten. Von einem zivilen Ersatzdienst hörigen geprägt und dadurch die Eingliederung in die konnte jedoch keine Rede sein. Die Bausoldaten sozialistische Gesellschaft gefördert oder behindert waren fest in das militärische System eingebunden hat. und hatten ein Gelöbnis auf Staat und Partei Hinsichtlich der Verantwortlichkeit ist festzustellen, abzulegen; sie erfüllten Aufgaben, die z. T. auch daß die SED-Spitze auch die Politik der NVA militärische Relevanz hatten. In vielen Fällen muß- bestimmte; deren Führung und das Offizierskorps ten die Bausoldaten erhebliche Behinderungen trugen bis zum Oktober 1989 wissentlich und willent- und Einschränkungen in ihrer beruflichen Karriere lich die entsprechenden Entscheidungen der Partei hinnehmen. Überdies gab es keine öffentliche mit. Information über die Möglichkeit, Bausoldat zu werden. Man erfuhr es nur durch Be troffene oder die Kirche. 8. Schluß Im Zusammenhang mit der wachsenden Friedens- bewegung in der DDR stieg die Zahl der Bausol- Bei der Untersuchung von Machtstrukturen und Ent- daten in den achtziger Jahren erheblich an [-> scheidungsmechanismen im SED-Staat konzentrierte Expertise Koch]. Die Wehrdienstverweigerung sich die Enquete-Kommission vornehmlich auf die wandelte sich im Gegensatz zur religiösen Begrün- grundsätzliche Funktionsweise des politischen Sy- dung immer mehr zu einem Ausdruck oppositio- stems, die Instrumente der Herrschaftssicherung nellen Verhaltens. sowie die Methoden und den Verlauf der „sozialisti- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
schen Umgestaltung" in Wirtschaft und Gesellschaft. 3. Funktionszuweisung und Funktionsweise: Diffe- Der eng begrenzte Zeitrahmen der Kommissionsar- renz zwischen notwendigen pragmatischen Ver- beit machte es erforderlich, auch innerhalb der haltensweisen, die im Widerspruch zu Richtlinien genannten Bereiche zentrale Aspekte nur exempla- und ideologischen Vorgaben standen (u. a. am risch darzustellen, bestimmte Zeitphasen in der Ent- Beispiel der Kaderarbeit); Entstehen informeller wicklung der Machtstrukturen hervorzuheben und Entscheidungsstrukturen, die von einzelnen Funk- die Frage der Verantwortung im wesentlichen auf die tionären dominiert wurden. zentrale Entscheidungsebene zu beziehen. Einen ersten Schwerpunkt bildete im I. Themenfeld die 4. Zusammenhang von Ineffizienz und Stabilität: Fol- Entstehung der SED-Diktatur in den späten vierziger gen der strukturellen Systemmängel für die und den frühen fünfziger Jahren sowie das struktu- Arbeitsfähigkeit der einzelner Apparate; Ursachen relle Beziehungsgeflecht ihrer wesentlichen Bestand- für das langfristige Funktionieren des Gesamtsy- teile (SED, MfS, Militärapparat, Blockparteien, Mas- stems, obwohl wichtige Bestandteile ineffektiv senorganisationen). Unabhängig von diesen Akzent- arbeiteten und auch nicht jederzeit als zuverlässig setzungen ist zu berücksichtigen, daß die zugrunde- beurteilt wurden (z. B. Mitgliedschaft der Block- liegenden Mate rialien auf einem im einzelnen unter- parteien; Rezeption der Medien bei weitgehender schiedlichen Stand der Auswertung neuer zeitge- inhaltlicher Ablehnung); Anpassung der Erwar- schichtlicher Quellen beruhen. Die Enquete-Kommis- tungshaltung der Bevölkerung an die strukturelle sion weist daher auf die Notwendigkeit der Vertiefung Mangelsituation. zahlreicher Teilergebnisse hin. Sie ist sich der Tatsa- che bewußt, daß die wissenschaftliche Erschließung neu zugänglicher Archivbestände erst vor einer rela- 5. Zwang und Gehorsam: Darstellung der Einwir- tiv kurzen Zeit begonnen hat und in den kommenden kungsmechanismen, die die Bereitschaft zur Jahren quellengestützte Arbeiten unsere Kenntnisse Anpassung förderten; Darstellung des Systems aus auch über die Machtstrukturen und deren Wirkung Vergünstigung und Sanktionierung; Umfang der auf das Leben der Menschen in der DDR erweitern direkten und indirekten staatlichen Verfügungsge- werden. Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, wait über die Bürger. daß die DDR-Forschung finanzielle und institutionelle Rahmenbedingungen erhält, die der politischen 6. Alltagserfahrungen in den verschiedenen Phasen Bedeutung des Themas angemessen sind. der DDR-Geschichte (vgl. Konzept der Berliner Anhörung am 30. November/1. Dezember 1992). Aus der Arbeit der Enquete-Kommission ergeben sich eine Reihe offener Fragen zu deren Klärung die Erarbeitung spezieller Fallstudien empfohlen wird. 7. Sozialwissenschaftliche Untersuchungsbereiche: Folgen einer systema tischen und kontinuierlichen 1. Rahmenbedingungen des politischen Handelns ideologischen Indoktrination; Verlauf und Bedeu- der SED: Darstellung von Inhalten und Methoden tung geistiger Anpassungsprozesse; unbewußte der sowjetischen Einflußnahme auf die staatliche Aneignung von Denkmustern, die entweder in Politik; Untersuchung des Bewegungsspielraums allmählicher Hinnahme oder durch Abgrenzung der SED-Führung; Fallstudien über die Anleitung entstanden sind; Besonderheiten der Sozialisa- von Partei- und Regierungsstellen; Vergleich mit tion. anderen sozialistischen Staaten. 2. Institutionengeschichtliche Untersuchungen: Tä- Privatsphäre8.Folgen für die und Öffentlichkeit: tigkeit und Verantwortlichkeit der Instanzen in politische Partizipationsbereitschaft im politischen Bezirken und Kreisen für die Verwirklichung zen- System des vereinigten Deutschland (Mitglied- traler Beschlüsse; Darstellung der vertikalen schaft in Parteien und Bürgerinitiativen, Wahlbe- Befehlsstränge; Handlungsspielraum der nachge- teiligung); besonderes Staatsverständnis; gestei- ordneten bürokratischen Apparate von Partei und gerte Erwartungen an die staatliche Kompetenz für Staat. Problemlösungen und soziale Absicherung.
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
II. Themenfeld: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft dar DDR
Inhalt Rechtsextremismus Die Haltung der SED zu Juden und Jüdischen Ge- a) Beratungsverlauf meinden 1. Öffentliche Anhörungen 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR 1.1 Öffentliche Anhörung am 12. Februar 1993 in 2.1 Mittel zur Formung der „sozialistischen Ge Bonn zum Thema „Marxismus/Leninismus selischaft" und deren Wirksamkeit und die soziale Umgestaltung in der SBZ/ 2.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der DDR". SPD und der Sachverständigen Faulenbach, 1.2 Öffentliche Anhörung am 5. März 1993 in Gutzeit und Weber zur Gesellschaftspolitik der Bonn zum Thema „Antifaschismus und SED Rechtsradikalismus in der SBZ/DDR". 3. Frauen- und Familienpolitik 1.3 Öffentliche Anhörung am 16./17. März 1993 in Halle zum Thema „Die Erziehung zur soziali Vorbemerkung stischen Persönlichkeit" . 3.1 Gesellschaftspolitische und gesetzliche 1.4 Öffentliche Anhörung in Bonn am 26. März Grundlagen 1993 zum Thema „Wissenschaft und Technik in der DDR". 3.2 Frauen im Spannungsfeld zwischen Familie und Beruf 1.5 Öffentliche Anhörung am 4. und 5. Mai 1993 in Berlin zum Thema „Kultur und Kunst in der 3.3 Frauen in Ausbildung und Beruf DDR". 3.4 Frauen in Gesellschaft und Politik 1.6 Gemeinsame öffentliche Anhörung des Spo rt 3.5 Nachwirkungen ausschusses und der Enquete-Kommission am 21. Juni 1993 in Bonn zum Thema „Die Rolle 3.6 Forschungsdesiderata des Sports in der DDR". 4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung und Bildung Bericht b) 4.1 Bedeutung von Erziehung und Bildung für die Vorbemerkung SED
1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des Mar 4.2 Ausgestaltung des „einheitlichen sozialisti xismus-Leninismus schen Bildungssystems" 4.3 Ausgewählte Problembereiche 1.1 Marxismus-Leninismus 4.4 Erziehung und ideologische Ausrichtung au 1.1.1 Marxismus-Leninismus als Grundlage des ßerhalb der Schule SED-Staates 4.5 Wirkungen des Bildungs- und Erziehungssy 1.1.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der stems SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit und Weber zur Funktion des Marxis 4.6 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs mus-Leninismus mit der Erziehung und Bildung 1.1.3 Ideologie und Gesellschaft 4.7 Offene Fragen, Forschungsdefizite und Emp fehlungen 1.1.4 Zur Frage der Nachwirkungen 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED - 1.2 Zur Rolle des Antifaschismus Staat 1.2.1 Zur Entwicklung des Antifaschismus 5.1 Ziele der SED-Wissenschaftspolitik 1.2.2 Zur Funktion des Antifaschismus in der DDR 5.2 Die Politik der SED gegenüber Hochschulen und Akademien 1.2.3 Zur Frage der Nachwirkungen des „verordne- ten" Antifaschismus und der Aufgabe histo- 5.3 Lenkung und Instrumentalisierung der For risch-politischer Bildungsarbeit schung durch die SED Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
5.4 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs — Jugendpolitik und Jugendleben von 1945 bis mit der Wissenschaft 1989
5.5 Offene Fragen und Forschungsdesiderata — Agitation und Propaganda als Erziehungsinstru- 5.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der mente der SED-Diktatur SPD und der Sachverständigen Faulenbach, — Rolle und Funktion der Wissenschaften im SED- Gutzeit und Weber zur Funktion von Wissen- Staat schaft und Forschung in der DDR — Kunst-, Literatur- und Kulturbetrieb in der SBZ/ 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirk- DDR: Organisationen, Auftragsvergabe, Ideolo- lichkeit gievermittlung
— Umgang mit dem kulturellen Erbe Vorbemerkung — Funktion und Instrumentalisierung des Sports 6.1 Der kulturpolitische Anspruch der SED-Füh- rung und Phasen der SED-Kulturpolitik — Karriereangebote, Karrieremuster und Eliterekru- 6.2 Die Rolle der kulturellen Verbände bei der tierungen Instrumentalisierung der Kultur 6.3 Die Steuerung der kulturellen Tätigkeiten durch Repressionen und Privilegierung 1. Öffentliche Anhörungen
6.4 Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der Die Mehrheit dieser Themen wurde in Öffentlichen Kulturpolitik Anhörungen und Vortragssitzungen in der Zeit vom 6.5 Alternativkultur in der DDR Februar bis April 1993 behandelt. 6.6 DDR-Gefängnisliteratur und Haftberichte 6.7 Die Behandlung des kulturellen Erbes 1.1 Die Öffentliche Anhörung am 12. Februar 1993 in Bonn wurde unter das Thema 6.8 Städtebau und Architektur „Marxismus/Leninismus und die soziale 6.9 Nachwirkungen und Forschungsdesiderata Umgestaltung in der SBZ/DDR" gestellt [-> Protokoll Nr. 28]. 7. Rolle des Sports in der DDR
7.1 Zentralistische Organisationen Der Marxismus-Leninismus galt in der DDR als „herr- schende Ideologie", die für die gesamte Politik der 7.2 Breitensport als Integrationsinstrument SED und damit für die gesellschaftliche Um- und 7.3 Leistungssport Ausgestaltung der DDR grundlegend war. In den Vorträgen, Zeitzeugenberichten und Diskussionsbei- 7.4 Doping im DDR-Leistungssport trägen wurde der Frage nach der marxistisch-lenini- 7.5 Die Rolle der SED und des MfS bei der Durch- stischen Grundlegung des SED-Regimes ebenso setzung der Sportpolitik nachgegangen wie der nach der Indoktrination und den materiellen und psychischen Folgen für die Bevöl- 7.6 Folgen der SED-Sportpolitik, Forschungsdesi- kerung der DDR. derate und Empfehlungen Abg. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) und das sach- verständige Mitglied der Enquete-Kommission Her- a) Beratungsverlauf mann Weber führten in das Thema ein. Es schlossen sich folgende Vorträge an:
Das II. Themenfeld „Rolle und Bedeutung der Ideolo- Konrad Löw: „War der SED-Staat" marxistisch?" gie, integrativer Faktoren und disziplinierender Prak- tiken in Staat und Gesellschaft der DDR" wurde Wolfgang Leonhard: „Marxismus-Leninismus und die gemäß den Vorgaben im Rahmenplan der Kommis- soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR" sion bearbeitet und in folgende Einzelthemen unter- teilt: Wilhelm Ernst: „Die Zerstörung personaler und sozia- ler Werte im Sozialismus" -- Rolle und Bedeutung des Marxismus-Leninismus Als Zeitzeugen berichteten die Abgeordneten: — Marxismus-Leninismus und die soziale Umgestal- tung in der SBZ/DDR Wolfgang Thierse (SPD); Karlheinz Guttmacher (FDP); Udo Haschke (CDU/CSU); Wolfgang Ullmann — Rolle und Funktion des Antifaschismus sowie Ein- (Bündnis 90/Die Grünen); Dietmar Keller (PDS/LL). stellung der SED gegenüber jüdischen Mitbürgern und zur nationalsozialistischen Judenverfolgung Zur Thematik wurden ferner folgende Expertisen und Berichte in Auftrag gegeben: — Bildungs- und Erziehungssystem in der SBZ/DDR: Stellenwert für das politische System, Funktionali- — Abg. Roswitha Wisniewski/Bernhard Marquardt: sierung für die Parteidiktatur, Indoktrination und „Marxismus — die Voraussetzung des politischen die Rolle der Erzieher Systems der DDR" (Bericht) Deutscher Bundestau — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
— Bernhard Marquardt: „Totalitarismustheorie und der ideologischen Erziehung, für alle Bevölkerungs- die Aufarbeitung der SED-Diktatur" (Bericht) gruppen im Sinne des „sozialistischen Staates„. — Hermann Weber/Lydia Lange: „Zur Funktion des Nach Einleitungs- und Grußworten von Minister Ha rt Marxismus-Leninismus" (Bericht) -mut Perschau und Oberbürgermeister Dr. Rauen wur- den die folgenden Vorträge gehalten: — Konrad Löw; Johannes Kuppe: „Zur Funktion des Marxismus/Leninismus" (zwei Expertisen) Ministerin Christine Lieberknecht: „Die sozialistische — Irma Hanke: „Sozialstruktur und Gesellschaftspo- Persönlichkeit als Erziehungsziel" litik im SED-Staat und die geistig-seelischen Fol- Ministerin a.D. Marianne Birthler: „Die sozialistische gen" (Expertise) Persönlichkeit als Erziehungsziel" Rüdiger Thomas: „Ursachen und Folgen der — Heidi Vollmann: „Lehrer im Zwiespalt" Gesellschaftspolitik im SED-Staat" (Exper tise) Gunnar Berg: „Hochschule als Instrument der ideolo- — Gisela Helwig: „Frauen im SED-Staat" (Exper- gischen Erziehung" tise) — Dieter Voigt; Eberhard Schneider: „Karriereange- Uwe Blachnik: „Wehrerziehung in der Schule" bote, Karrieremuster und Eliterekrutierungen" Martin Hannemann: „Heimerziehung" (zwei Expertisen) Dieter Müller: „Berufsausbildung in der DDR"
Wolfgang Donner: „Ideologie und Politik in der 1.2 Die Öffentliche Anhörung am 5. März 1993 Erwachsenenbildung" in Bonn befaßte sich mit dem Thema Es fand ein Podiumsgespräch statt, an dem ein Teil der „Antifaschismus und Rechtsradikalismus Vortragenden und die Zeitzeugen bzw. Sachverstän- in der SBZ/DDR" digen Jan Hoffmann, Adolf Kossakowski, Rudi [-> Protokoll Nr. 30]. Pahnke unter Leitung der Abgeordneten Christel Hanewinckel (SPD) teilnahmen. Ausgangspunkt war die Feststellung, daß die DDR von der SED als „antifaschistischer Staat" legi timiert Nach einer Vorführung von Dokumentarfilmen über wurde. Zu untersuchen war dabei insbesondere auch den Kindergarten in der DDR fand eine Diskussion mit die instrumentelle Verwendung des Antifaschismus- den Autoren Anne Richter und Hans Wintgen unter begriffs im Sinne der KPD/SED. Außerdem wurde die der Leitung der Abgeordneten Angelika Barbe (SPD) Frage nach Ursachen und Erscheinungsformen statt. rechtsradikaler Tendenzen in der DDR behandelt. Weiterhin wurden Expertisen und Berichte zu folgen- In die thematischen Schwerpunkte führten die Abge- den Themen in Auftrag gegeben: ordnete Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) und das sachverständige Mitglied der Enquete-Kommission — Ulrich Mählert: „Jugendpolitik und Jugendleben Bernd Faulenbach ein. Es schlossen sich folgende von 1945 bis 1961 " (Expertise) Vortrage an: — Barbara Hille: „Jugend und Jugendpolitik in der Giinter Fippel: „Antifaschismus als Integrationsideo- DDR von 1961 bis 1989" (Expertise) logie und Herrschaftsinstrument" — Bernd-Reiner Fischer; Udo Margedant: „Das Bil- Manfred Wilke: „Der instrumentelle Antifaschismus dungs- und Erziehungssystem der DDR — Funk- der SED und die Legitimation der DDR" ion, Inhalte, Instrumentalisierung, Freiräume" (zwei Expertisen) Karl Wilhelm Fricke: „Nazigrößen in der DDR" Abg. Konrad Weiß: „Rechtsextremismus in der End- — Dietrich Sengbusch: „Das System der Jugend- zeit der DDR" werkhöfe in der DDR" (Exper tise) Hansjörg Geiger: „Rechtsextremismus in der DDR — Martin Hannemann: „Heimerziehung in der DDR" und das MfS" (Expertise) Zur Thematik wurde folgender Bericht in Auftrag gegeben: 1.4 In der Öffentlichen Anhörung in Bonn am Peter Maser: „Juden und Jüdische Gemeinden in der 26. März 1993 wurde das Thema „Wissenschaft DDR" (Bericht) und Technik in der DDR" behandelt. [-> Protokoll Nr. 33] - 1.3 In der Öffentlichen Anhörung am 16J17. März Im Zentrum der Anhörung stand die Steuerung und 1993 in Halle [-> Protokolle Nr. 31 und 32] wurde Kontrolle der Wissenschaften in der DDR durch die das Thema „Die Erziehung zur sozialistischen SED-Führung. Persönlichkeit" behandelt. Die Vorträge wurden gehalten von:
Die Themenstellung ergab sich aus der zentralen Jörn Schütrumpf: „Steuerung und Kontrolle der Wis Funktion der Erziehung und Bildung, insbesondere senschaft durch die SED-Führung: — Akademie der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Wissenschaften, Akademie für Gesellschaftswissen- — Jan Faktor: „Bruche und Abgrenzungstendenzen schaften beim ZK der SED" unter den jungen Oppositionellen in der DDR. Brüche und Abgrenzungstendenzen in der alterna- Staatsminister Hans Joachim Meyer: „Hochschulpoli- tiven Kultur. Verdeckte Brüche, der Verrat und die tik in der DDR" Konsequenzen" (Expertise) Als Zeitzeugen berichteten der Abgeordnete Rainer — Klaus Michael: „Alternativkultur und Staatssicher- Jork (CDU/CSU) und die sachverständigen Mitglie- heit 1976 bis 1989" (Exper tise) der der Enquete-Kommission Herbert Wolf und Armin Mitter. — Manfred Ackermann: „Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR unter besonderer Es wurden verschiedene Berichte des Wissenschaftli- Berücksichtigung des Denkmalschutzes" (Exper- chen Dienstes des Deutschen Bundestages in Auftrag tise) gegeben. — Charlotte Schubert: „Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR" (Exper tise) 1.5 In der öffentlichen Anhörung am 4. und 5. Mai — Bruno Flierl: „Städtebau und Architektur im 1993 in Berlin wurde das Thema „Kult ur und Staatssozialismus der DDR " (Exper tise) Kunst in der DDR" behandelt. [-4 Protokolle Nr. 35 und 36] — Jörg Bernhard Bilke: „Unerwünschte Erinnerun- gen. Gefängnisliteratur 1945/49 bis 1989" (Exper- Im Mittelpunkt der Anhörung standen die Bedingun- tise) gen, unter denen die Künstler und im kulturellen — Theo Mechtenberg: „Staatssicherheit und Litera- Bereich Tätigen standen, also insbesondere das pro- turszene in der DDR" (Expertise) blematische Spannungsverhältnis zwischen geforder- ter Parteilichkeit und künstlerischem Freiraum. — Abg. Maria Michalk: „Kultur in der DDR" (Be- richt) Die Vorträge wurden gehalten von: — Materiaiien des Wissenschaftlichen Dienstes des Manfred Jäger: „Kulturpolitik der DDR" Deutschen Bundestages. Joachim Walther: „Literatur und MfS" Siegmar Faust: „Zensur in der Literatur" 1.6 In einer gemeinsamen öffentlichen Anhörung Freya Klier: „Die Rolle des Theaters in der Kultur- des Sportausschusses und der politik der DDR" Enquete-Kommission am 21. Juni 1993 in Bonn wurde das Thema „Die Rolle des Sports in der Bärbel Bohley: „Zensur in der Malerei" DDR" behandelt. Krescan Baumgärtel: „Kulturpolitik gegenüber den [-> Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses] Sorben" Untersucht wurden insbesondere die Zielsetzungen Götz Altmann: „Gedanken fiber regionale Volkskul- der Sportpolitik der SED (Erziehung zur sozialisti- tur in der ehemaligen DDR am Beispiel des Erzgebir- schen Persönlichkeit, gesundheitliche und wehrerzie- ges" herische Aspekte, Identifikation mit Staat und Partei, Lutz Seiler: „Strukturen der Literaturföderung durch innerdeutsche und internationale Aufwertung). die FDJ" Die thematische Einführung erfolgte durch den Vor- Hans-Adolf Jacobsen: „Auswartige Kulturpolitik der sitzenden des Sportausschusses, Abg. Ferdin and Till- DDR" mann (CDU/CSU) und den Vorsitzenden der Enquete-Kommission, Abg. Rainer Eppelmann. Peter Böthig: „Alterna tive Literatur" Die Vorträge wurden gehalten von: Christoph Tannert: „Subkultur: Bildende Kunst" Gunter Holzweißig: Peter Wicke: „Pop-Musik" „Die Funktion des Sports für das Herrschaftssystem der DDR (Zielsetzung, Strukturen, politischer Stellen- Als Zeitzeugen berichteten: wert) " Frank Beyer, Jutta Wachowiak, Hartwig Ebersbach, er: Hans Bentzien, Günter Feist, Jurek Becker. Jürgen Hill „Ergänzende Darstellung aus ostdeutscher Sicht Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Künstler zwi- unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-deut- schen Anpassung und Widerstand in den achtziger schen Sportbeziehungen" Jahren" fand unter Beteiligung von Lutz Rathenow, Wolfgang Herzberg, Helga Schube rt, Toni Krahl unter Hans-Jörg Geiger, stellvertretender Leiter der Bun- der Leitung des Abgeordneten Gerd Poppe (Bündnis desbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheits- dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen 90/Die Grünen) statt. Republik: Weiterhin wurden Expertisen zu folgenden Themen „Sport und Staatssicherheit: Überwachung, Verfol- verfaßt: gung und Außendarstellung" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Werner W. Franke, Horst de Marées: 1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des „Sportmedizin und Sportwissenschaft im Dienste des Marxismus-Leninismus Staatsauftrages ,Sport'". Nach dem Selbstverständnis der SED war der Marxis- Als Zeitzeugen berichteten: mus-Leninismus die ideologische Grundlage der Lothar Pickenhain, Alois Mader, Heiner Schumann, DDR. Zugleich stellte sich die DDR als antifaschisti- Winfried Dreger, Günter Schaumburg, Jürgen scher Staat dar. Der Antifaschismus gehörte zu den in Schult. der Gesellschaft der DDR zweifellos bedeutsamen integrativen Faktoren. Erkennbar ist zudem, daß die Weiterhin wurden Expertisen zu folgenden Themen SED ständig, verstärkt aber seit den siebziger Jahren, verfaßt: bemüht war, Traditionen der deutschen Geschichte Hans-Dieter Krebs: in eine positive Beziehung zur DDR zu bringen „Die politische Instrumentalisierung des Sports in der [-> Expertisen Schubert, Ackermann]. Offensichtlich DDR „ reichten Marxismus-Leninismus und Antifaschismus zur ideologischen Begründung nicht — bzw. zuneh- Werner Franke: mend weniger — aus. „Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR: Pharmakologische Manipulationen (Doping) Eine Analyse der Wirkung der von der SED instru- und die Rolle der Wissenschaft „ mental eingesetzten ideologischen Faktoren hat von der Tatsache auszugehen, daß in der Gesellschaft der In einer gemeinsam mit der Enquete-Kommission DDR stets gegen den Willen der SED auch andere vorbereiteten Öffentlichen Anhörung des Innenaus- Realitäten eine Rolle spielten, die im Gegensatz oder schusses wurde am 7. März 1994 die Thematik der in Konkurrenz zu den staatlich durchgesetzten und Gedenkstätten behandelt. Die anwesenden Mitglie- sanktionierten Faktoren standen. Inwieweit letztere der des Innenausschusses und der Enquete-Kommis- tatsächlich die gesamte Gesellschaft durchdrangen, sion hörten Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge ist gegenwärtig noch nicht zu beantworten. der Sachverständigen Barbara Distel, Alex ander Fischer, Thomas Hofmann, Annette Leo, H ans Mommsen, Günther Morsch, B rigitte Oleschinski, 1.1 Marxismus-Leninismus Dieter Preißler, Helmut Trotnow, Reinhard Rürup sowie Manfred Wilke. Von Verbänden und öffentli- Es konnte nicht die Aufgabe der Enquete-Kommission chen Einrichtungen, die mit der Gedenkstättenpro- sein, sich kritisch mit der Ideologie des Marxismus- blematik befaßt sind, lagen schriftliche Stellungnah- Leninismus im einzelnen auseinanderzusetzen. men vor. Gleichwohl sind zum Verständnis der SED-Diktatur ideologische Aspekte einzubeziehen und zu beleuch- ten [-> Protokoll Nr. 28]. In dieser Frage herrschte innerhalb der Enquete-Kommission Übereinstim- b) Bericht mung. Unterschiedliche Meinungen wurden jedoch hinsichtlich der Bedeutung der ideologischen Grund- lage des Marxismus-Leninismus für den SED-Staat Vorbemerkung vertreten. Der Grundkonsens a ller Demokraten hin- sichtlich des totalitären Charakters der SED-Diktatur Eine Analyse der SED-Diktatur und ihrer bis heute wurde dadurch aber nicht in Frage gestellt [-> Proto- nachwirkenden Folgen muß die ihr zugrundeliegende kolle Nr. 74, 75]. Während die Mehrheit der Kommis- Ideologie und das darauf aufbauende Herrschaftssy- sion [-> Abschnitt 1.1.1] einen wesentlichen Akzent stem untersuchen. Sie hat dabei auch jene Faktoren auf die theoretische Fundierung des Herrschaftsan- einzubeziehen, die darauf abzielten, auf der subjekti- spruchs der SED durch den Marxismus-Leninismus ven Ebene die Integra tion der Menschen in die setzte, betonte die SPD in einem Sondervotum Diktatur zu gewährleisten. Hierzu zählten vor allem [-> Abschnitt 1.1.2] stärker die Funktion des Mends- die direkte Indoktrination, die ideologische Ausrich- mus-Leninismus als Legitimations- und Herrschafts- tung und Wirkungsweise des Erziehungs-, Bildungs- instrument für die SED. Beide Sichtweisen, wie sie in und Wissenschaftssystems sowie die Instrumentalisie- den folgenden Abschnitten skizziert werden, schlie- rung der Kunst und des Sports. Darüber hinaus ßen einander nicht prinzipiell aus, sondern artikulie- wurden die Gewährung von Privilegien und der ren Standpunkte, die zur weiteren Diskussion und zur Einsatz verschiedener Mittel gesellschaftlicher Aner- Aufarbeitung der Problematik beitragen sollen. kennung, aber auch direkter und indirekter Druck, politische Kontrolle und Gängelung sowie adminis tra- tive Schikanen vielfältigster Art in fast allen Bereichen 1.1.1 Marxismus-Leninismus als Grundlage des des Lebens der DDR angewandt, um die Menschen für das System zu gewinnen oder gefügig zu machen. SED-Staates
Es ist deutlich geworden, daß noch große Forschungs- Der Marxismus-Leninismus bildete die ideologische arbeit zu leisten sein wird, um die ideologischen Grundlage für das politische System in der DDR, das Voraussetzungen, Wirkungen und integra tiven Fak- durch das Herrschaftsmonopol der SED bestimmt war. toren in der Gesellschaft der DDR, im täglichen Leben Der Führungsanspruch der Partei in Staat und Gesell- der Menschen, in ihrer Vielfalt und zeitlichen Dimen- schaft wurde durch den Marxismus-Leninismus ideo- sion zu erfassen und angemessen zu beschreiben. logisch legitimiert: Dieser ist als „wissenschaftliche Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Weltanschauung" und als „Anleitung zum Handeln" — Instrumentalisierung des Rechts zur Aufrechter- propagiert worden. Der Marxismus-Leninismus mo- haltung der „Herrschaft der Arbeiterklasse" [-> III. nopolisierte die Ausübung der Macht, indem er die Themenfeld] Gesellschaft dem Autoritätsanspruch der Staatspartei politisch unterwarf. Die Diktatur der Partei fand ihren — Kollektivierung aller Lebensbereiche theoretischen Ausdruck im Dogma des Marxismus- — umfassende ideologische Einflußnahme auf die Leninismus [-f Berichte Wisniewski, Marquardt]. gesamte Gesellschaft durch die „sozialistische Die SED verfolgte das Ziel, die DDR zu einem homo- Erziehung" der Kinder und Jugendlichen in genen Weltanschauungsstaat zu formen. Das politi- Schule und organisierter Freizeit, das „marxi- sche Machtmonopol sollte durch ideologische Konfor- stisch-leninistische Grundlagenstudium" an Uni- mität abgesichert werden. Dies bezeugen auch die versitäten und in parteigesteuerten „gesellschaftli- Verfassungen der DDR von 1968 und 1974 [-> Exper- chen Organisationen" sowie ein umfassendes tisen Löw, Thomas]. Agitation und Propaganda hatten System der Parteischulung für Mitglieder und die einheitliche Ausrichtung des Denkens durch „so- Kandidaten der SED zialistische Bewußtseinsbildung" zu gewährleisten. Als Ideologie der Herrschenden war der Marxismus- — Einsatz der Massenmedien als „kollektiver Propa- Leninismus jeder Kritik entzogen. Er wurde zur Recht- gandist, Agitator und Organisator" im Sinne fertigung der Parteiherrschaft und zur Disziplinierung Lenins der Gesellschaft, zur Verschleierung von Repressio- — Reglementierung und Zensur der Kultur nach nen und zur Abwehr von Systemkritik instrumentali- Maßgabe des „Sozialistischen Realismus". siert [-> Expertise Kuppe; Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Die beabsichtigte „sozialistische Umwälzung" in allen Bereichen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Grundsätzlich galt der Vorrang der „sozialistischen gelang indessen nur teilweise [-> Kapitel 2f]. Gesellschaft" vor dem einzelnen Menschen. Der Mar- xismus-Leninismus ordnete das unveräußerliche na- türliche Recht der Freiheit des Individuums dem ideologischen Postulat einer „Befreiung der Gesell- 1.1.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der schaft" unter. Freiheit wurde dabei im Sinne von SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Friedrich Engels als „Einsicht in die Notwendigkeit" Gutzeit und Weber zur Funktion des verstanden, d. h. als die bewußte Anwendung der Marxismus-Leninismus historischen Entwicklungsgesetze, wie sie vom Mar- xismus-Leninismus aufgestellt worden sind. „Es kann hier nicht um eine Exegese von Marx/ Die Vorrangstellung der „sozialistischen Gesell- Engels, Lenin oder anderen „Klassikern" des Marxis- schaft" vor dem Individuum stellt den grundsätzlichen mus-Leninismus gehen. Aufgabe der Enquete-Kom- Unterschied zum freiheitlichen Rechtsstaat dar, der mission war vielmehr, die Funktion des Marxismus die Würde des einzelnen mit seinen individuellen Leninismus in der DDR zu bestimmen, so weit dies Menschenrechten zur Grundlage staatlichen H an nach der bisherigen Forschungslage, die durch einen -delns macht und damit die Macht des Staates gegen- Mangel empirischer Untersuchungen geprägt ist, über dem Einzelnen begrenzt. möglich erscheint. Die unantastbare marxistisch-leninistische Ideologie Der Aufbau einer kommunistischen Parteidiktatur in und Struktur des politischen Systems der DDR kamen der SBZ/DDR, die Folge der NS-Politik und des in einer Reihe von Komponenten zum Ausdruck: dadurch herbeigeführten Ausgreifens sowje tischer Politik bis nach Mitteleuropa war, wurde ideologisch — deterministische Deutung der Geschichte und der mit dem Marxismus-Leninismus — zunächst in seiner künftigen Entwicklung der sozialistischen Gesell- stalinistischen Variante — gerechtfertigt. Der Marxis- schaft mus-Leninismus blieb die ganze Zeit der DDR hin- — Umwälzung der bürgerlichen in eine „klassenlose durch die absolut verbindliche herrschende Ideologie, Gesellschaft" (Kommunistisches Manifest) und auf die sich das SED-System bezog. Die Verfassungen Umsetzung dieser Theorie durch Lenin und Stalin von 1968 und 1974 erklärten den Marxismus-Leninis- im Sinne revolutionärer Veränderungen sowie mus zur verbindlichen ideologischen Grundlage der Rezeption dieses Modells durch die SED DDR [-> Expertise Löw]. Allerdings wurde dieser Marxismus-Leninismus in den verschiedenen Phasen — revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft unterschiedlich interpre tiert [-> Bericht Weber/ durch die „Aufhebung" (= Abschaffung) der sie Lange; Expertise Kuppe]. Ob und inwieweit er von der prägenden gesellschaftlichen Strukturen: Ab- großen Mehrheit der Menschen akzeptiert wurde, ist schaffung des Privateigentums an Produktionsmit- noch nicht präzise zu sagen. Stieß er anfangs noch auf teln, Errichtung staatssozialistischen Eigentums- erhebliche offene Widerstände, so wurde er später mit zentral gelenkter Planwirtschaft, Aufhebung mehr hingenommen als akzeptiert. Daß er als Integra- bürgerlicher Wertnormen in Moral und Ethik tionsideologie im Laufe der Zeit immer weniger — ideologischer Absolutheitsanspruch und uneinge- wirkte, scheint die SED seit den siebziger Jahren zur schränkter Machtanspruch der SED verstärkten Heranziehung anderer integra tiver Fak- toren veranlaßt zu haben, ohne daß sie freilich bereit — Lenkung aller Bereiche des staatlichen und gesell- gewesen wäre, am absoluten Geltungsanspruch des schaftlichen Lebens Marxismus-Leninismus rütteln zu lassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Der Marxismus-Leninismus, wie er in der DDR einge- Der Marxismus-Leninismus wurde mit einer Vielzahl führt und durchgesetzt wurde, war eine geschlossene von Mitteln diktatorisch durchgesetzt. Er bildete die Weltanschauung, die den Anspruch erhob, wissen- Grundlage des Erziehungs- und Bildungssystems, auf schaftliche Lehre zu sein. Sie sollte nicht nur Mensch, allen Stufen war seine Vermittlung obligatorisch, seit Natur, Gesellschaft und Geschichte „wissenschaft- 1951 war er an den Hochschulen bei allen Studien- lich" erklären, sondern auch für gegenwärtiges Den- gängen Pflichtfach, seit 1968 wurde er auch noch ken und Handeln in allen Bereichen begründete Bestandteil der Weiterbildung von Hochschullehrern. Wegweisung bieten. Wesentliche Komponenten der Besonders relevant war der Marxismus-Leninismus in Ideologie waren nach offizieller Version eine Philoso- den Geisteswissenschaften, die er teilweise durch- phie mit der Weltanschauung des „dialektischen drang, wirkte sich aber auch auf die Naturwissen- Materialismus" und einer Geschichtsphilosophie, die schaften aus [-> Expertise Kuppe]. — Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte behauptend — gleichermaßen Einsicht in die Vergangenheit wie Von besonderer Bedeutung war der Marxismus-Leni- in die Zukunft lieferte, eine politische Ökonomie, in nismus im Schulungssystem der SED [-> Leonhard, deren Zentrum der Klassenkampfgedanke stand, und Protokoll Nr. 28]. Ideologische Häresien hatten viel- eine politische Theo rie, der „wissenschaftliche Sozia- fach Sanktionen, die Entfernung aus öffentlichen lismus" bzw. Kommunismus. Bestandteil des Marxis- Funktionen oder gar aus der Partei, in schwerwiegen- mus-Leninismus war eine Anthropologie, die die den Fällen, insbesondere während der fünfziger Menschen externalistisch als Resultat gesellschaftli- Jahre, Gefängnis- oder Zuchthausstrafen zur Konse- cher Verhältnisse sah und an ihre weitgehende Form- quenz. Von großer Bedeutung war für die Funktionäre und Steuerbarkeit glaubte [–> Weber, Wisniewski, und Mitglieder der SED das Studium der jeweiligen Leonhard, Löw, Protokoll Nr. 28; Bericht Weber/ Parteilinie, wobei es bei deren Befolgung nicht nur um Lange]. das inhaltliche Nachvollziehen, sondern auch um Beweise von Zuverlässigkeit und Disziplin ging. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die seit 1948 in ihrer stalinistischen Ausformung in der SBZ/ Insgesamt ist festzustellen, daß der Marxismus-Leni- DDR zur Grundlage von Politik, Gesellschaft und nismus für die SED-Führung eines der wich tigsten Kultur erklärt wurde, ist im Laufe der Entwicklung Legitimation- und Herrschaftsinstrumente war und unterschiedlich gefaßt worden, wobei gewisse Auf- bewußt in diesem Sinne eingesetzt worden ist. " lockerungen ursprünglich starrer Dogmen — etwa in der Formationstheorie auf der Ebene der theoreti- schen Diskussion — nicht zu verkennen sind [-> Ex- pertise Kuppe]. Die meisten Menschen der DDR haben den Marxismus-Leninismus jedoch als einen 1.1.3 Ideologie und Gesellschaft Kanon von starren Formeln und Denkschablonen kennengelernt. Die marxistisch-leninistische Auffassung vom Verlauf der Menschheitsgeschichte wurde in der DDR für alle Der Marxismus-Leninismus sollte Grundlage und Bin- staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ver- deglied der herrschenden Partei sein und durch bindliche Lehre. Schulen, Universitäten, Museen, Indoktrination Anhänger gewinnen. Er sicherte die außerschulische Bildungseinrichtungen und der ge- Diktatur der herrschenden Partei. Von größter Bedeu- samte Staatsapparat propagierten diese unablässig. tung war, daß die SED-Führung das Interpretations- Die „Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte" monopol über den Marxismus-Leninismus besaß, der galt in den „sozialistischen Staaten" als „wissen- seinerseits als Wahrheit galt, mit der Konsequenz, daß schaftlich" begründete Aussage. Deshalb war vom die SED-Führung über das Wahrheitsmonopol ver- „wissenschaftlichen Sozialismus" die Rede. Damit fügte („Die Partei hat immer recht"). Wie der Marxis- wollte die SED beweisen, daß sie durch die Lehren des mus-Leninismus die führende Rolle der SED dogma- Marxismus-Leninismus über die wissenschaftliche tisierte, so dogmatisierte die SED-Führung den Mar- Erkenntnis von den gesellschaftlichen Bewegungs- xismus-Leninismus, wobei sie lange Zeit ideologisch und Entwicklungsgesetzen sowie dem daraus abzu- von der KPdSU abhängig war — eine Abhängigkeit, leitenden politischen Handeln verfüge [-> Expertise die sich erst in der Ära Gorbatschow wirklich Kuppe]. abschwächte. Die SED-Führung entschied über die jeweilige ideologische Linie, die kampagnenartig Da der Marxismus-Leninismus als Programm auch der durchgesetzt wurde [-> Bericht Weber/Lange]. Die nachträglichen Rechtfertigung politischen Handelns Rolle der ML-Wissenschaftler und -Philosophen war diente, wurden mit ihm selbst unvollendete, erfolglose bei der Festlegung der jeweils neuen Linie offenbar oder — wie behauptet wurde — richtig geplante, aber unterschiedlich, ist im einzelnen aber noch aufzuar- falsch durchgeführte Aktionen als sinnvoll und „wis- beiten. Ein Ignorieren der jewei ligen neuen Linie zog senschaftlich" begründet erklärt. Man unterstellte, — im Einzelfall unterschiedliche — Sanktionen nach daß sie den historischen Gesetzmäßigkeiten entsprä- sich [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Generell gehörte chen und bezeichnete sie deshalb als ideologiekon- es zum Wesen dieser Ideologie, daß trotz ihres wissen- form und fortschrittlich [-> Exper tise Kuppe]. schaftlichen Anspruchs Kritik und Zweifel an ihr weder erlaubt noch offene Diskussion über zentrale Die Bemühungen von Parteiführung und Regierung Axiome und Theoreme des Marxismus-Leninismus der DDR, die Ideologie des Marxismus-Leninismus im zugelassen waren. Mit ihrem Absolutheitsanspruch Bewußtsein der Gesellschaft zu verankern, waren zu zielte die Ideologie auf Konformität, daher war Re- allen Zeiten mehr oder weniger intensiv. Jedoch kann pression die Kehrseite der Ideologie. man berechtigte Zweifel an ihrem Erfolg hegen. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Zumindest erfüllten sich häufig nicht die Erwartungen grenzungs- und Kontrollfunktionen, denen Partei und der Partei [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Der Marxis- Gesellschaft unterworfen wurden. Der Marxismus mus-Leninismus konnte nur ausschnittweise vermit- Leninismus wurde ständig instrumental genutzt, um telt werden, so daß sich eher ideologische „Leerfor- abweichendes Verhalten als „bürgerliche Ideologie", meln" als Argumentationszusammenhänge in den „Sozialdemokratismus" oder „sektiererisches Verhal- Köpfen der Menschen festsetzten. Sofern Kritik geübt ten" zu verurteilen. Mittels des Marxismus-Leninis- wurde, ist diese sehr schnell als Abweichung von der mus versuchte die SED also, Staat, Gesellschaft und sakrosankten Lehre diskriminiert worden [-> Proto- Kultur ideologisch zu durchdringen, zu steuern und zu kolle Nr. 28, 30]. kontrollieren; dies war auch beim Kampf gegen die Kirchen [-4 V. Themenfeld] der Fa ll. Selbst die In den Anhörungen und Expertisen spiegelt sich ein geheimdienstlichen Methoden der Stasi erhielten von breites Interpretationsspektrum wissenschaftlicher daher ihre ideologische Legi timation [-> Bericht Mar- Analysen, politischer Meinungen und subjektiver quardt III]. Wahrnehmungen wider. Es ist keine Frage, daß der Marxismus-Leninismus für „gläubige" Funktionäre Höchst ambivalent waren die Wirkungen des Marxis- die Aufgabe hatte, Welt und Geschichte zu interpre- tieren, Sinn zu vermitteln und entsprechende Hand- mus-Leninismus auf die Funktionäre in Spitzenposi- tionen selbst. Da man auf der Basis des Marxismus- lungsanweisungen zu ermöglichen. Er erfüllte damit Leninismus glaubte, mit der Geschichte im Bunde zu eine quasireligiöse Funktion. Entsprechend der allge- dazu, die Realität zu verkennen meinen weltanschaulichen Fundierung konnten sich stehen, neigte m an und die Schwierigkeiten zu bagatellisieren, denen Funktionäre und viele Parteimitglieder als die „Avantgarde" bezeichnen, die das Recht hatte, sich das System gegenübersah. Zudem wurden wich- andere Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen tige Teile der Wirklichkeit verdrängt [-> Schabowski, zu zwingen. Protokoll Nr. 25], was zweifellos zum Zusammen- bruch der DDR mit beigetragen hat. In der Enquete-Kommission wurde kontrovers dar- über diskutiert, ob der Marxismus-Leninismus in der Die in der SED und von der Führung verbreitete DDR konkret handlungsanleitend gewirkt hat. Das Ausblendung wichtiger Teile der Realität hatte erheb- sachverständige Mitglied der Enquete-Kommission liche Auswirkungen in der Gesellschaft. Folgen, die Hermann Weber hob in seinem Vortrag hervor [-> Pro- sich aus der Diskrepanz zwischen ideologischem tokoll Nr. 28], daß die DDR und ihre Strukturen Anspruch und der Realität ergaben, waren die Ten- großenteils durch Übertragung des sowje tischen denz zum Moralisieren gegenüber subjektiven Unzu- Modells auf die deutschen Verhältnisse entstanden länglichkeiten und das „So-tun-als-ob" [-> Bericht wären, wobei diese Übertragung ideologisch mit der Weber/Lange]. Hinzu kam eine nur formale Anerken- führenden Rolle der Sowjetunion und der KPdSU nung der Ideologie und äußerliche Anpassung an gerechtfertigt wurde. Danach diente der Marxismus- diese bei mehr oder weniger bewußten, aber öffent- Leninismus also mehr der Rechtfertigung der Partei- lich nicht ausgesprochenen Zweifeln und Bedenken, diktatur der SED als ihrer Handlungsanleitung. In der verbunden mit „schizophrenen" Denk- und Verhal- Regel mußte seine Interpretation allerdings der jewei- tensmustern [-> Abschnitte 2 und 4]. Charakteristisch ligen Politik der SED (und der Linie der KPdSU) für weite Teile des Erziehungs- und Bildungssystems angepaßt werden [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. war ein ritualisierter Umgang mit dem Marxismus Leninismus, der schließlich bei vielen die Distanz zum Demgegenüber stellten die Abg. Wisniewski (CDU/ System sogar gefördert hat. CSU) und der Zeitzeuge Ernst besonders die funda- mentale Bedeutung der Ideologie des Marxismus- Leninismus für die reale Politik in der DDR und damit Gegenwärtig läßt sich die Frage noch nicht hinrei- den ordnungspolitischen Aspekt der Gestaltung des chend beantworten, inwieweit es der SED-Führung politischen Systems heraus. Sie vertraten die Ansicht, gelang, die DDR-Gesellschaft mit den Lehren des daß die ideologisch bedingten gesellschaftlichen Marxismus-Leninismus tatsächlich zu durchdringen Umgestaltungen zu tiefen Einschnitten in die gewach- und sie zu befähigen, sich damit zu identifizieren. Auf senen Strukturen des sozialen Lebens führten [-> Pro- jeden Fall darf nicht verkannt werden, daß der Mar- tokoll Nr. 28]. In den Anhörungen und Expertisen blieb xismus-Leninismus auf Teile der Gesellschaft eine umstritten, inwieweit auf dem Boden des Marxismus gewisse Anziehungskraft ausgeübt hat. Der Wissen- demokratische Lebens- und Herrschaftsformen mög- schaftsanspruch, die Behauptung historischer Gesetz- lich seien [-> Protokoll Nr. 28; Expertisen Kuppe, mäßigkeiten, die den Weg des Kommunismus bestim- Löw]. Kuppe betonte in seiner Expertise, daß die men, die Siegeszuversicht der kommunistischen Ideologie des Marxismus-Leninismus auch eine wich- Bewegung, die Propagierung eines überlegenen tige „instrumentelle Herrschaftssicherungsfunktion" „fortschrittlichen" gesellschaftlichen Systems gegen- für die SED besaß und als „geistiges Herrschaftsin- über der Welt des „Kapitalismus", die Idee des strument" bis zum Ende der DDR bestimmend - Gerechtigkeit und die Forderung nach sozialer blieb. Gleichheit haben das Bewußtsein der Menschen in der Geschichte der DDR in unterschiedlicher Intensi- Bedeutsam war, daß der Marxismus-Leninismus in tät und in zeitlich wechselndem Ausmaß beeinflußt der DDR im Kontext seiner Klassenkampfideologie [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Die Überzeugungs- ein besonderes Feindbild propagierte („Bourgeoisie" kraft und Glaubwürdigkeit dieser ideologischen der Bundesrepublik als „Klassenfeind"; „US-Imperi- Orientierungsmuster wurden aber durch den Wider- alismus"). Darauf rekurrierten vielfältige Ab-, Aus spruch zwischen den proklamierten Zielen und den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Erfahrungen in der politischen Rea lität zunehmend 1.1.4 Zur Frage der Nachwirkungen relativiert. Prozesse des Loyalitätsverfalls waren für die Endphase der SED-Herrschaft kennzeichnend. Es läßt sich nach dem gegenwärtigen Forschungs- Die Herrschaftspraxis wurde immer mehr als Politik stand noch nicht klar sagen, inwieweit die jahrzehn- ideologischer Fiktion betrachtet. telangen Bemühungen der SED-Führung nachwir- ken, die Menschen in der DDR im Sinne des Marxis- In unterschiedlicher Weise distanzierten sich kleinere mus-Leninismus zu indoktrinieren. Inwieweit ist der Zirkel vom Marxismus-Leninismus, indem sie alterna- Marxismus-Leninismus gleichsam internalisiert und tive Sozialismuskonzeptionen diskutierten, sich vom habitualisiert worden? Dazu einige Beobachtungen: System des „realen Sozialismus" abwandten oder sich in private Nischen zurückzogen [-> Abschnitt 2]. — Theoreme des Klassenkampfes und der System- Insbesondere seit dem gewaltsamen Ende des „Prager auseinandersetzung mit dem Kapitalismus wirken Frühlings" 1968 wurden Konzeptionen eines „demo- nach. kratischen Sozialismus" entwickelt (Robert Have- — Die parlamentarische Demokratie wird weiterhin mann), daneben gab es — vor allem seit Mitte der als formal gekennzeichnet, die parteienstaatlichen siebziger Jahre — in verschiedenen intellektuellen Auseinandersetzungen werden mit Distanz be- eus Vorstellungen eines „Dritten Weges", d. h. Mili trachtet oder gar abgelehnt. einer Synthese von Sozialismus und Demokratie, die von der Hoffnung auf eine tiefgreifendere Reform des — Der Staat wird weiterhin als Adressat für umfan- totalitären Staates und des „realen Sozialismus" greiche politische Wünsche, Ansprüche und For- getragen war. derungen angesehen; das gesellschaftliche Enga- gement ist unterentwickelt. Die Legitimationsfunktion des Bildungssystems be- gann ab Mitte der siebziger Jahre als Mittel zur — Erkennbar ist eine Sehnsucht nach monistischen Verwirklichung sozialer Gleichheit, lange Zeit ein Erklärungen, klaren Feindbildern und übersichtli- wichtiges Bindeglied zwischen Führung und sozialen chen Verhältnissen. Aufsteigern in der DDR-Gesellschaft, brüchig zu wer- — Die Gewohnheit, sich an einer verbindlichen Mei- den. Das „Wohl der Arbeiterklasse" war zwar eine nung orientieren zu können, führt zu Orientie- häufig gebrauchte politische Beschwörungsformel, rungsproblemen in der pluralistischen Gesell- die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen lie- schaft mit ihrer Medienvielfalt, in der es verbindli- Ben jedoch erkennen, daß der „reale Sozialismus" che Wegweisung von oben nicht mehr geben weit davon entfernt war, die behauptete „System- kann. überlegenheit" tatsächlich zu erreichen. Politische Distanzierungsprozesse verstärkten sich in dem — Die Schwierigkeiten der Gegenwart führen bei Maße, wie sich die Menschen als bloße Verfügungs- einzelnen dazu, sich erneut der Gewißheit der objekte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fühlen Vergangenheit zuzuwenden („DDR-Nostalgie"). mußten und sich die „sozialistische Demokratie" als rhetorisches Alibi uneingeschränkter Parteiherrschaft — Bestimmte Denktraditionen, insbesondere des dekuvrierte. Indem die SED die Gesellschaft pro- Westens, werden in den neuen Bundesländern erst pagandistisch und aktionistisch zu politisieren such- nach und nach beachtet; die traditionelle deutsche te, leistete sie tatsächlich einer Entpolitisierung politisch-kulturelle Besonderheit wird hingegen weiter Bevölkerungskreise Vorschub und höhlte akzentuiert. zugleich ihre ideologische Glaubwürdigkeit aus Im Hinblick auf die Frage der Nachwirkung ist freilich — auch wenn sie dies nicht wahrhaben wollte und zu berücksichtigen, daß es der SED-Führung niemals dafür den feindlichen Einfluß der „bürgerlichen gelungen ist, oppositionelles Denken völlig auszu- Ideologie" und des „Revisionismus" verantwortlich schalten. Für große Teile der Gesellschaft war die machte. Akzeptanz des Marxismus-Leninismus mehr äußer- lich. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß sich in Mit Blick auf die Ausprägungen von Mentalitäten in den achtziger Jahren in der DDR jenseits des Marxis- der DDR-Gesellschaft ist festzuhalten, daß in der mus-Leninismus, doch teilweise auch unabhängig Lebenswelt der Bürger die soziale Sicherheit zu den vom Westen, ein eigenständiges politisches Denken wichtigsten Akzeptanzwerten zählte, während die entwickelte, das Motor der Oppositionsbewegung in „sozialistische Demokratie" von einem erheblichen der Zeit der „Wende" war. Viele Menschen hatten Teil der Bevölkerung kritisch beurteilt wurde. Bemer- sich dem „realen Sozialismus" aus unterschiedlichen kenswert ist dabei, daß die Distanz gegenüber dem Gründen entzogen und blieben anderen Wertvorstel- DDR-Sozialismus bei Arbeitern deutlich stärker aus- lungen (christliche, sozialdemokratische und/oder geprägt war als bei Angehörigen der sogenannten liberale Werte) verhaftet, an die nach der „Wende" werktätigen Intelligenz [-> Exper tise Thomas]. Nach angeknüpft werden konnte. heutigen Erkenntnissen zur Mentalitätsgeschichte der DDR hatte die Gesellschaftspolitik der SED diszi- Der totalitäre Anspruch des Marxismus-Leninismus plinierende Effekte, indem sie die Entstehung eines wird heute — abgesehen von kleinen Gruppen — signifikanten Widerstandspotentials verhindern kaum mehr offen propagiert. Insgesamt gilt der Mar- konnte. Sie mußte aber eine fortschreitende ideologi- xismus-Leninismus als obsolet, allerdings trifft dies sche Desintegration hinnehmen, deren Ausmaß und nicht generell für alle marxistischen Denkansätze zu. Folgen zu bestimmen weiteren Forschungen vorbe- Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der halten bleiben muß. politischen Diskussion werden marxistische Frage- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode stellungen und Positionen vermutlich auch künftig schen Parteien, auch gegen die Sozialdemokraten, die eine gewisse Ro lle spielen. als „Sozialfaschisten" in der Weimarer Republik zeit- weilig zum Hauptfeind erklärt wurden. Dem kommu- Darüber hinaus wurde von der CDU/CSU- und FDP- nistischen Antifaschismuskonzept blieb die SED auch Arbeitsgruppe darauf hingewiesen, daß die Ausein- nach 1945 verbunden. Sie mißbrauchte den Antifa- andersetzung mit der These dringend notwendig sei, schismus als politischen Kampfbegriff [-> Fippel, Pro- das politische System der DDR sei nicht auf die tokoll Nr. 30] undifferenziert gegen alle politischen Theorie des Marxismus zurückzuführen, sondern und gesellschaftlichen Strömungen, die die Politik der durch strikte Befolgung der Vorgaben des stalinisti- Sowjetunion in ihrem Ringen um eine „Welt des schen Machtsystems entstanden. Weiterhin müßten Friedens " nicht unterstützten. die anthropologischen und gesellschaftspolitischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus vor dem Hin- Die SED nutzte die in der Bevölkerung verbreitete tergrund der Erfahrungen mit der SED-Diktatur ver- Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes und stärkt Gegenstand wissenschaftlicher, interdisziplinä- seiner Greueltaten, urn ihren Entwurf eines „antifa- rer Forschung werden. schistischen, sozialistischen, f riedliebenden" Staates zu legitimieren. Die Bewäl tigung des NS-Erbes, die Die SPD-Arbeitsgruppe hält demgegenüber folgende Entnazifizierung und der antifaschistisch-demokrati- Probleme für klärungsbedürftig: sche „sozialistische" Aufbau sowie die Errichtung — Die Praxis der Propagierung des Marxismus-Leni- einer Diktatur wurden dicht zusammengerückt. Liqui- nismus ist für die verschiedenen politisch-gesell- dierung des NS-Erbes und Realisierung einer soziali- schaftlichen Bereiche, für Wissenschaft und Kultur stischen Gesellschaft unter kommunistischer Führung im einzelnen empirisch zu untersuchen. wurden in eins gesetzt. Die Bereitschaft, beim Aufbau des Sozialismus mitzuwirken, wurde — etwa bei — Genauer zu analysieren sind die Mechanismen, Mitläufern des NS-Systems — als Beweis antifaschi- mit denen die SED-Führung ihre „ideologischen" stischer Gesinnung gewertet. Die Entnazifizierung Positionen in den verschiedenen Phasen durchge- erfolgte keineswegs so gründlich, wie häufig behaup- setzt hat . tet worden ist [-> F ricke, Protokoll Nr. 30]; NS- — Intensiverer Untersuchung bedarf das Verhältnis Belastete wurden sogar bewußt instrumental einge- von SED und KPdSU im Hinblick auf ideologische setzt, wie umgekehrt NS-Verfolgte keineswegs vor Fragen, insbesondere auch für die achtziger Jahre, Verfolgung in der SBZ/DDR sicher waren [-> Fippel, in denen die SED nicht bereit war, sich der Gorba- Protokoll Nr. 30]. tschowschen Politik anzuschließen. Die Bewältigung der Nachwirkungen des Marxismus- 1.2.2 Zur Funktion des Antifaschismus in der DDR Leninismus ist vorrangig Aufgabe der politischen Bildung, auch der gesellschaftlichen Gruppen, Par- Der teils als Mythos, teils als politisches Konzept teien und nicht zuletzt der Medien. gefaßte Antifaschismus diente der Legitima tion der SED-Herrschaft. Die SED beanspruchte für sich das Erbe des antifaschistischen Kampfes. Die Führungs- 1.2 Zur Rolle des Antifaschismus positionen waren l ange Zeit überwiegend mit „An ti -faschisten" besetzt, was diesen einen spezifischen Der vielleicht wirksamste ideologische Integra tions- Nimbus verlieh und sie gleichsam unangreifbar faktor für das SED-System war der Antifaschismus. Im machte. Der Antifaschismus wurde offensichtlich einzelnen ist seine Wirkung zwar noch zu untersu- bewußt als Element der Machtbehauptungsstrategie chen, doch läßt sich feststellen, daß er — über den der SED eingesetzt. engeren Bereich des Systems hinaus — eine gewisse emotionale und politische Bindekraft besaß, die der Der Mythos des Antifaschismus lieferte das Mate rial Marxismus-Leninismus in vergleichbarer Weise nicht für einen quasireligiösen Staatskult, für eine säkulari- auszuüben vermochte. sierte Religion, die in den Formen Anleihen bei den Kirchen — etwa im Märtyrer-Kult oder in der Gestal- tung der Gedenkstätten — machte, bestimmte Rituale entwickelte und dabei insbesondere Bedeutung in der 1.2.1 Zur Entwicklung des Antifaschismus „sozialistischen Erziehung" erhielt. Die Wirkungen dieser quasireligiösen Bemühungen lassen sich nach Der Antifaschismus war ursprünglich ein Beg riff, der dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht alle Opposition gegen den Faschismus in Italien abschließend beantworten, sind jedoch — insbeson- kennzeichnete. Bereits Mitte der zwanziger Jahre dere bei jungen Menschen — keineswegs gering zu wurde der Begriff jedoch vielfach verengt zur Legi ti schätzen. Fraglos sind durch den Antifaschismus Ide- tion kommunistischen Handelns bzw. eines Bünd--ma alismus und Engagement in weiten Teilen der Bevöl- niskonzepts, in dem die Kommunisten die Führung- kerung geweckt worden, die vor allem aus der Ableh- beanspruchten, gegen einen Faschismus, der nach nung der NS-Diktatur resultierten, die aber letzten diesem Verständnis in engem Zusammenhang mit der Endes die SED-Herrschaft stabilisieren sollten bürgerlichen Ordnung als „höchstentwickelter Form [->Faulenbach, Protokoll Nr. 30]. des Monopolkapitalismus" und der „offen terroristi- schen Herrschaft des Finanzkapitals" interpre tiert Dem Antifaschismus in der DDR entsprach ein Feind wurde [-> Faulenbach, Wilke, Wisniewski, Protokoll bild, das keineswegs auf faschistisches und na tional Nr. 30]. Er richtete sich gegen alle nichtkommunisti sozialistisches Denken und H andeln beschränkt war, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 sondern sich potentiell auf a lles, dem kommunisti- objektiven Konsequenzen aus der Zeit des Na tional- schen Handeln entgegengesetzte Tun bezog. Poten- sozialismus gezogen und somit sei dessen Aufarbei- tiell „faschistisch" waren nicht nur äußere (die Bun- tung lediglich als ein Problem des Westens zu betrach- desrepublik bzw. wesentliche Kräfte in dieser), son- ten. dern auch innere Gegner. So wurde z. B. der 17. Juni Demgegenüber vertritt die Enquete-Kommission die 1953 „faschistischen Kräften" angelastet. Der Antifa- Auffassung, daß Aufarbeitung der NS-Zeit und die schismus wurde gerne zur Rechtfertigung strittiger Würdigung ihrer Opfer ein konstitutiver Bestandteil politischer Entscheidungen instrumental eingesetzt, der demokratischen Geschichtskultur des vereinten wie beim Bau der Mauer, die zum „antifaschistischen Deutschlands ist und daher die Aufklärung über diese Schutzwall" erklärt wurde. Solche politische Instru- Epoche eine wesentliche Aufgabe historisch-politi- mentalisierung des Antifaschismus führte teilweise scher Bildungsarbeit bleiben muß. Die großen „Natio- zur Erosion seiner Glaubwürdigkeit [-> Wisniewski, nalen Mahn- und Gedenkstätten" in der DDR gilt es Protokoll Nr. 30]. umzugestalten. Die Dokumentationen sollten auf der Eine zentrale Funktion für die Pflege des DDR- Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes Antifaschimus hatten die Mahn- und Gedenkstätten und zeitgemäßer didaktischer Konzepte erneuert und [-> Expertise Overesch], in deren Mittelpunkt die die Denkmalsanalyse historisch geklärt werden. Bei heroisierten kommunistischen Opfer standen, die im -der Neukonzeption sollte unter Beteiligung der Opfer quasireligiösen Staatskult verehrt wurden. Hierzu und Betroffenenverbände der öffentliche Diskurs wei- zählten u. a. Jugendweihen, Fahnenrituale, Aufmär- tergeführt werden. sche mit Bildern ermordeter Antifaschisten. Wo, wie in Sachsenhausen und Buchenwald, am Ort Die Instrumentalisierung des Antifaschismus ver- von NS-Konzentrationslagern „Speziallager" des drängte zugleich die Mithaftung des östlichen Teils NKWD eingerichtet wurden, ist die Erinnerung auch Deutschlands für die nationalsozialistische Epoche. an das Geschehen in der Nachkriegszeit bei der Ein gewisses Gefühl moralischer Überlegenheit Neugestaltung zu berücksichtigen. Dabei ist jedoch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland resul- einer Gleichsetzung der Lager und einer Tendenz tierte aus dem Vorwurf, der Westen habe mit dem zum Aufrechnen entschieden entgegenzuwirken. Die Faschismus nicht endgültig gebrochen. Verschwie- NS-Verbrechen dürfen nicht relativiert werden; aller- gen wurden die erheblichen Wiedergutmachungslei- dings darf das Geschehen in den NKWD-Lagern auch stungen der Bundesrepublik Deutschl and, die seitens nicht bagatellisiert werden. der DDR kein Pendant hatten. Aufs Ganze gesehen hat der Antifaschismus offenbar nicht unwesentlich zur Identifikation mit der SED Rechtsextremismus beigetragen. Dies gilt insbesondere für Intellektuelle, die aufgrund des „verordneten Antifaschismus" das Trotz der Bedeutung des Antifaschismus ist nicht zu wahre Wesen des DDR-Regimes zunächst verkannt leugnen, daß es auch in der DDR seit den siebziger und entsprechend verharmlost haben. Inwieweit zwi- Jahren Rechtsextremismus gegeben hat [-> Weiß, schen dem „verordneten Antifaschismus" und einem Geiger, Protokoll Nr. 30]. Auch die „antifaschistische demokratischen unterschieden werden kann, bedarf Erziehung" konnte diesen nicht verhindern. Es läßt noch eingehender wissenschaftlicher Diskussion. sich sogar fragen, ob die spezifische Prägung des Antifaschismus durch die SED nicht umgekehrt „fa- schistische", rechtsextremistische Phänomene geför- 1.2.3 Zur Frage der Nachwirkungen des dert hat — eine Frage, die sich nach dem gegenwär- „verordneten" Antifaschismus und der tigen Forschungsstand nicht endgültig beantworten Aufgabe historisch-politischer Bildungsarbeit läßt. Im Rechtsextremismus wird man offenbar nicht lediglich eine Imitation von Phänomenen des Westens sehen können; er scheint vielmehr hauptsächlich auch Zu den Nachwirkungen des Antifaschismus gehört genuine, DDR-spezifische Ursachen zu haben. Dar- ein ebenso verzerrtes wie einseitiges Bild vom natio- über hinaus kann man davon ausgehen, daß es in der nalsozialistischen System, seinen Opfern und dem SBZ/DDR Kontinuitäten nationalsozialistischen Den- Widerstand gegen ihn. Es gilt, dieses Bild in der kens gegeben hat. Das belegen Dokumentationen wie historisch-politischen Bildung der Schulen und in der das „Braunbuch DDR" [-> F ricke, Protokoll Nr. 30]. Erwachsenenbildung angemessen zu korrigieren. Vom MfS wurden rechtsextremistische Vorkomm- Die spezifische Ausprägung des Antifaschismus in der nisse seit 1978 als solche dokumentiert und klassifi- DDR läßt es ausgeschlossen erscheinen, in der not- ziert (1978/79 insgesamt 188 Fälle von „staatsfeindli- wendigen Auseinandersetzung mit rechtsextremen cher Hetze mit faschistischem Charakter"). In den Tendenzen an den DDR-Antifaschismus anzuknüp- achtziger Jahren häuften sich solche „Störfälle" , die in fen, für den eine Distanz zum demokratischen Denken öffentlichen Verlautbarungen als „unpoli tisches Row- — insgesamt gesehen — charakteristisch war. dytum" verharmlost wurden. Es ist in dieser Phase der Eine weitere Folge des DDR-Antifaschismus ist, daß in Übergang von einer „rechten Jugendkultur" zu einer den neuen Bundesländern vielfach die Vorstellung organisierten rechtsextremen Bewegung und die besteht, mit dem Antifaschismus sei auch die Erinne- Identifikation mit den Versatzstücken einer Ideologie rung an die NS-Zeit obsolet. Zudem wirkt die Tatsa- festzustellen. Die Rechtsextremisten bedienten sich che nach, daß die Propagandisten des Antifaschismus dabei „moralischer Werte der sozialistischen Gese ll behauptet hatten, die DDR habe die notwendigen tive Einstellung zur Arbeit, Ordnung,-schaft" wie posi Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Sauberkeit und vorbildliches Verhalten in der parami- den Verwandten und Freunden im Ausland, insbeson- litärischen Gesellschaft für Spo rt und Technik. Dies dere in Israel, abschotteten [-> Bericht Maser]. erschwerte den DDR-Behörden die Auseinanderset- zung mit ihnen und förderte die Akzeptanz dieser Der Anteil jüdischer Menschen am Widerstand gegen Jugendlichen in der Bevölkerung. Diese Jugendli- den Nationalsozialismus wurde weitgehend ver- chen griffen Kritikpunkte auf wie fehlende Freizügig- schwiegen. In der Präsentation der antifaschistischen keit, Privilegien („Leute werden für Arbeit bezahlt, Gedenkstätten erschienen Juden nur am Rande als die sie nicht machen"), Vorurteile gegen Außenseiter, beklagenswerte Opfer der nationalsozialistischen Rechtswillkür statt persönlicher Freiheit. Die Hoff- Verfolgung. Die konspirative Durchdringung der nung auf Verwirklichung von Freiheit und Gerechtig- Jüdischen Gemeinden durch das MfS ist bisher erst keit richtete sich bei den rechtsextremistischen durch Einzelfälle bekannt. Hier besteht ebenso For- Jugendlichen nicht auf eine freiheitliche Demokratie, schungsbedarf wie bei der Aufarbeitung der Geschichte sondern auf die ebenfalls totalitäre Struktur einer der Jüdischen Gemeinden unter besonderer Berücksich- rechtsgerichteten Diktatur, sofern man ihre Ideologis- tigung der einschlägigen SED-Direktiven. men überhaupt ernstnehmen kann [-> Expertise Rog- gemann]. Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, Weber:
Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD „Die Lage der Juden und der Jüdischen Gemeinden und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, wie auch die SED-Politik gegenüber Juden und jüdi- Weber: schen Gemeinden in den verschiedenen Phasen der DDR verlangen eine differenzierte sorgfältige Unter- „Absatz 1 sollte am Ende 1.2.2 eingefügt werden. Der suchung. Diese ist von der Enquete-Kommission nicht nachfolgende Absatz ist hier entbehrlich; verwiesen geleistet worden. Die vorliegende Textpassage zum sei auf die Texte der Anhörung." Judentum ist ganz unzureichend, ihre Plazierung im Anschluß an die Passage über den Rechtsradikalismus läßt Sensibilität vermissen." Die Haltung der SED zu Juden und Jüdischen Gemeinden 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR An dieser Stelle ist eine kurze Anmerkung zur Hal- tung der SED gegenüber den Juden erforderlich. Das 2.1 Mittel zur Formung der „sozialistischen ganze Problem der Juden und Jüdischen Gemeinden Gesellschaft" und deren Wirksamkeit konnte von der Enquete-Kommission aus Zeitgründen nicht erörtert werden. Es gehört zweifellos zu den Die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung folgte in wichtigen Desideraten der Forschung. der SBZ/DDR nur selten der Eigendynamik gesell- Die etwa 4 500 Überlebenden der Shoa, die in der SBZ schaftlicher Strukturveränderungen oder gar indivi- 1946 lebten, waren schon frühzeitig neuen Repressio- dueller Entscheidungen, sondern wurde staatlich nen ausgesetzt. Sie wurden als passive „Opfer des politisch gelenkt entsprechend den Zielvorstellungen Faschismus" eingestuft und erhielten im Gegensatz der SED. Die dabei von der „führenden Partei der zur Bundesrepublik Deutschland in der Regel keine Arbeiter- und Bauernklasse" auf dem Weg zur For- Entschädigung. In das „Komitee der Antifaschisti- mung und weiteren Ausgestaltung der „sozialisti- schen Widerstandskämpfer" konnten sie nur aufge- schen" Gesellschaft eingesetzten Mittel konnten im nommen werden, wenn sie gegen den Nationalsozia- Rahmen der Arbeit der Enquete-Kommission nur lismus gekämpft hatten. punktuell untersucht und können auch an dieser Stelle nur skizziert werden: Für die antijüdischen Maßnahmen der SED spielten zu Beginn der fünfziger Jahre insbesondere die Ver- 1. Die „antifaschistischen" Enteignungen trafen im dächtigungen Stalins eine Rolle, daß der Zionismus Sinne der konsequent umgesetzten Ideologie die und die internationalen jüdischen Organisationen Großindustrie, den Großgrundbesitz und die Bau- „Werkzeuge des amerikanischen Imperialismus" wä- ern [-> I. Themenfeld]. Die soziale Schicht freier ren. Auch nach dem Tode Stalins bestimmte die Bauern wurde aufgelöst und damit die gesamte Feindschaft gegen den Staat Israel, „die Speerspitze Landwirtschaft zwangsweise kollektiviert. des amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten", 2. Durch die zusätzliche, ebenfalls überwiegend die Haltung gegenüber den Juden in der DDR, deren erzwungene Überführung von Handwerksbetrie- Gemeinden streng kontrolliert wurden. Juden konn- ben, Kleinunternehmern und Selbständigen in ten sich auch nicht politisch organisieren. Lediglich Genossenschaften wurde das „Besitzbürgertum" der „Verband der Jüdischen Gemeinden" war als - aufgelöst. religiöse Organisation offiziell zugelassen. Auch in 3. Die Zerschlagung des „bürgerlich-faschistischen" diesem nahmen SED-Funktionäre Spitzenpositionen Staatsapparates führte zur Entfernung der Eliten ein. aus allen Bereichen der Verwaltung; sie traf kei- Die SED gewährte den Juden soziale Sicherheit, neswegs nur Anhänger des Nationalsozialismus, sofern sie auf ihre jüdische Identität verzichteten, die sondern zielte auf die bürgerliche Elite insgesamt eigene Vergangenheit, die sozialen Traditionen ver- (Entlassungen von Beamten, Lehrern, Hochschul- schwiegen und verleugneten sowie sich gegenüber . lehrern u. a. bzw. ideologische „Umerziehung"). Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
Trotz der Auflösung des Besitzbürgertums war die — Andererseits besaßen Familie, Verwandtschaft DDR weit entfernt von einer „klassenlosen" Gesell- und Freundeskreis für den einzelnen eine hohe schaft. Es gab weiterhin eine Unterschicht, die sich aus Wertigkeit. Manch einer entwickelte ein gespalte- niedrig entlohnten Arbeitern und Angestellten, beruf- nes Bewußtsein, ein widersprüchliches Dasein von lich Benachteiligten aus politischen Gründen und aus Beruf und Privatleben. Rentnern sowie Fürsorgeempfängern zusammen- setzte. Die neue Mittelschicht bildeten die leitenden Die Sozialpolitik wurde mit dem Anspruch auf univer- Kader in den Betrieben und Organisationen und — selle Lenkung der Gesellschaft betrieben. Sie zielte soweit möglich bzw. noch vorhanden — die Handwer- daher auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse ker und wenigen Selbständigen [-> Expertisen Voigt, insgesamt im Sinne einer Lenkung durch Versorgung Schneider]. Zu dieser Schicht sind auch die Nomen- und Privilegiengewährung ab [-> Expertise Hanke]: klaturkader und andere höhere SED- und Staatsfunk- tionäre einschließlich der Leiter von militärischen, — Die Bürokratie ermittelte den Bedarf und wissenschaftlichen, kulturellen und sonstigen Institu- bestimmte die Verteilungskriterien. Diesen Zugrif- tionen zu zählen. Eine besondere Gruppe innerhalb fen waren die „Werktätigen „ mehr oder weniger dieser Schicht war die „Intelligenz". Sie hob sich hilflos ausgeliefert. durch ein breit gestaffeltes System der Zusatzversor- gung und durch die Einbindung in die Staatshierar- — Die „Durchstaatlichung" und Normierung der chie hervor, was sich in zunehmendem Maße auch in Gesellschaft erfolgte im sozialpolitischen Bereich der Möglichkeit zur Selbstrekrutierung (Studien- durch die Wohnungsbaupolitik (Zuweisung der plätze für ihre Kinder) niederschlug [-> Expertisen Wohnungen; niedrige Mieten auf Kosten von Hanke, Voigt]. An der Spitze st and die kleine, herr- Sanierungsmaßnahmen; stereotyper Plattenbau schende Schicht der hohen Parteifunktionäre, die einschließlich der notwendigen Infrastruktur wie isoliert von der breiten Bevölkerung aber auch von Schulen, Kindergärten, HO- und Konsum-Läden niederrangigen Kadern und den anderen Funktionä- und zentralen Gaststätten). ren lebte. Das Ergebnis dieser Politik war der „versorgte Die Elitenrekrutierung erfolgte durch Kaderauswahl Mensch", der gewohnt war, daß für ihn entschieden nach den Kriterien Treue zur Partei, „sozialistisches wurde. Systemkonformes Verhalten und Arbeitslei- Bewußtsein", Durchsetzungsvermögen nach unten, stungen wurden abgestuft materiell und moralisch Bildungsgrad, fachliche Leistung und soziale Her- anerkannt (Auszeichnungen und Privilegien). Dem kunft [-> Expertisen Hanke, Schneider, Voigt]. Für Repressionssystem entsprach also ein Belohnungssy- alle, die politische Vorgaben und Erwartungen nicht stem für systemtreues Verhalten. Die Mechanismen erfüllten, gab es wirkungsvolle Mechanismen zur wirkten so stark, daß Aufbegehren in größerem Maße Karriere-Erschwernis bzw. Karriere-Verweigerung, erst dann zu beobachten war, als die wirtschaftliche angefangen von der Schule (Noten in den ideologie- Leistungsfähigkeit des Staates und damit das Versor- trächtigen Fächern) bis hin zur Einflußnahme durch gungssystem gefährdet waren. das MfS auf die Auswahl der Kader. Die SED erreichte zeitweise durch ihr Wohlfahrtspro- Diese Schritte und Mittel zur Umgestaltung der gramm einerseits und durch Angsterzeugung als Gesellschaft gaben der SED das entscheidende Herrschaftsinstrument andererseits gesellschaftliche Machtmittel in die H and, um Gesellschaft und Wirt- Akzeptanz. Es läßt sich jedoch nicht nachweisen, daß schaft zentral zu gestalten und zu lenken. die „sozialistische Bewußtseinsbildung" als Mobil- sierungsstrategie in der Gesellschaft im Sinne der Die so entstehende „sozialistische Gesellschaft" Ausbildung parteiideologisch erwünschter mentaler neuen Typs zeichnete sich u. a. durch folgende Merk- und sozialer Verhaltenweisen massenhaft legitimato- male aus: risch wirksam geworden wäre [-> Expertise Thomas]. — Eine Arbeiter- und Angestellten-Gesellschaft, die Vielmehr löste bereits ab der Anfangsphase der „ an- zu 98 vH aus abhängig Beschäftigten zusammen- tifaschistisch-demokratischen" Umwälzungen bei gesetzt war. den Betroffenen das Erlebte ein Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins aus. Diesem entzog man sich durch — Die statusmäßige, berufliche Integration der DDR- „Republikflucht" oder durch den Rückzug in p rivate Bevölkerung wurde durch ein dichtes Netz von Refugien. Das heißt: Wo das Eigenleben in den Organisationen verstärkt, die jeden Bürger mehr- Kollektiven zu stark unterbunden wurde, wanderten fach erfaßten und kontrollierten [-> I. Themenfeld; die Menschen zumindest „innerlich" aus der offiziel- Bericht Michalk, Expertise Hanke]. len Sphäre in einen Freiraum informeller Beziehun- gen aus (Rückzug in die Familie; Aufbau privater — Möglichst auch alle privaten Lebensbereiche soll- Beziehungsnetze) und suchten damit die Unzuträg- ten durch Kollektive, die von der SED politisch lichkeiten der vorgegebenen Wirklichkeit zu unter- direkt oder indirekt durchdrungen waren, kontrol- laufen [-> Expertise Hanke]. Die Menschen leisteten liert werden. In den hierarchisch organisierten dabei häufig erheblichen Einsatz für den aktiven Auf- Kollektiven wurden die Organisationsmitglieder und Ausbau einer Nische ihres Privatlebens (-> die diszipliniert (u. a. durch Kritik und Selbstkritik; „Datschen" als Lebensmittelpunkt). Nur in den priva- Aufnahme und Übergaberituale z. B. bei den Thäl- ten Bereichen, die dem staatlichem Zugriff entzogen mannpionieren, der FDJ oder in sozialistischen waren, konnten sich Flexibilität, Eigenständigkeit, Brigaden) und möglichst gleichgeschaltet. Einfallsreichtum und Durchsetzungskraft entfalten. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode
Die Einengung eigenverantwortlicher Gestaltungs- wichtigen Aspekten der Gesellschaftspolitik sei hier möglichkeiten erzeugte teilweise ein starkes Autori- lediglich der der Frauenpolitik etwas genauer ange- tätssyndrom: Obrigkeitsdenken, Autoritarismus, Pa- sprochen, obgleich auch er zu den von der Kommis- ternalismus, Staatsgläubigkeit, vor allem aber Un- sion nicht eingehender behandelten Fragen gehört selbständigkeit, Versorgungsmentalität, mangelndes [--> Abschnitt 3]. Selbstvertrauen gekoppelt mit der Bereitschaft zur Hauptziel der SED-Gesellschaftspolitik war die Errei- Anpassung H Expertisen Thomas, Hanke]. Charak- chung eines bisher in der Geschichte unbekannten teristisch war ein „angepaßtes Ausweichverhalten" . Zustandes, dessen Eintritt jedoch vom Marxismus Es gab eine eigentümliche Mischung aus „symboli- Leninismus als historisch gesetzmäßig, also determi- scher Mitwirkung und politischer Absenz" [-> Exper- niert bezeichnet wurde: die klassenlose Gesellschaft tise Thomas]. des Kommunismus. Dabei handelte es sich gleicher- Der informelle Sektor des Privaten war also von maßen um eine konkrete Utopie, um eine quasi größter Bedeutung als Entfaltungsraum für Initiativen, religiöse Verheißung, um ein strategisches Fernziel Einfallsreichtum, Selbständigkeit, Selbstwertgefühl, wie um einen propagandistischen Rauchvorhang, hin- den Aufbau und die Pflege eines persönlichen Bezie- ter dem sich ein umfassender Repressionsapparat hungsgeflechts. Diese wich tigen sozialpsychologi- etablierte, der sich dann auch noch mit der Aufgabe schen Eigenschaften blieben auf das p rivate Leben rechtfertigte, diesen paradiesischen Endzustand her- des Einzelnen beschränkt, da es keinen öffentlichen beizukämpfen. Raum gab, in dem man gemeinsam gemäß den Die Expertise Thomas hat wichtige gesellschaftspoli- eigenen Überzeugungen hätte h andeln können. Eine tische Problemfelder abgesteckt: Ausnahme bildeten nur die Kirchen [-> V. Themen- feld]. — ideologisch fixierte Konstitutionsprinzipien und Legitimationsmuster der SED-Gesellschaftspolitik Von den großen Umstrukturierungsprozessen wurde in den verschiedenen Phasen die Gesellschaft nur partiell erfaßt, da der p rivate Bereich einschließlich des Miteinanders in der — Wechselwirkungen von Gesellschaftspolitik und Arbeitswelt hiervon weitgehend unberührt blieb. So Mentalitätsentwicklung entstand jener eigentümliche scheinbare Wider- die Frage des Genera tionswechsels spruch zwischen den Aktionen zentralstaatlicher Pla- — nung und den Beharrungstendenzen einer immobilen — lebensweltliche und psychosoziale sowie politi- Gesellschaft in den informellen Kleinstrukturen. sche Konsequenzen der SED-Gesellschaftspolitik Das gesamte Gebiet der direkten und indirekten — die Entwicklung von Wertorientierungen ange- Einflußnahme des SED-Staates auf die Bevölkerung sichts des Scheiterns der Ansprüche der SED bedarf dringend vertiefter Untersuchungen insbeson- Politik. dere zu folgenden Problemen: Die Expertise Hanke behandelte u. a. — Enteignung als psychische Schädigung und volks- wirtschaftliches Unrecht, — das Spannungsverhältnis von Sozialstrukturent- wicklung und Gesellschaftspolitik — psychische Gefahren des Versorgungsstaates, — die Diskrepanz zwischen angestrebter sozialisti- — psychische Gefahren der Karrierenprogrammie- scher und realer Lebensweise rung, — die gesellschaftlichen Probleme, die durch Entdif- — Wirkungen des Lebens im informellen Sektor, ferenzierung und Abwanderung erzeugt wurden — vergleichende Untersuchungen zu den psychoso- — die von einer „paternalistischen" Sozialpolitik zialen Auswirkungen freiheitlicher, demokrati- geschaffenen Abhängigkeiten scher und totalitärer Systeme. — die Bedeutung informeller Beziehungen. Beide Expertisen geben zusammen einen guten Über- blick über den gegenwärtigen Diskussionsstand, der 2.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der zu weiteren Forschungen innerhalb der angegebenen SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Themenfelder führen muß. Gutzeit und Weber zur Gesellschaftspolitik der Zahlreiche bedeutsame, in ihrer Nachwirkung rele- SED vante Fragen sind bislang von der wissenschaftlichen Forschung ganz unzureichend behandelt worden. „Die Gesellschaftspolitik war ein zentrales Politikfeld Dazu gehören: der SED. In ihr manifestierte sich der Wi lle, die Gesellschaft nach Vorstellungen der herrschenden — die Folgen der Entlassungen und Vertreibungen - Partei zu gestalten, zugleich aber war sie auch Mittel der alten Eliten nach Ende des Zweiten Weltkrie- zum Zweck, um das SED-System abzusichern. Sie ges und die Mechanismen neuer Rekrutierungsmu- gehört zweifellos zu den wirksamen „integrativen" ster in den einzelnen Phasen der DDR-Geschichte Faktoren des SED-Systems. (alle Spielarten der Kaderpolitik, nicht nur im Hin- blick auf die Nomenklaturkader A und B) Die Enquete-Kommission hat diesen Themenbereich nicht näher ausgeleuchtet (hier liegt ein wesentliches — die Aufhebung der tradierten deutschen, vom Themenfeld für eine Fortsetzung der Arbeit). Von den Nationalsozialismus nur kurz unterbrochenen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
föderalistischen staatlichen und gesellschaftlichen der Gleichberechtigung der Frau von selbst ergeben. Verfassung Deutschlands mit ihren stark-regiona- Der gesellschaftspolitische Rahmen wurde in der listischen kulturellen Prägungen und ihr Ersatz SBZ/DDR daher so gestaltet, daß die Frauen in allen durch einen hypertrophen Zentralismus gesellschaftlichen Funktionen weitgehend gleichbe- rechtigt hätten integ riert werden können. Die Familie — die Folgen der Hypostasierung des Kollektivs auf und ihre Bedeutung für den einzelnen trat dabei allen gesellschaftlichen Ebenen für die SED, die zurück. gesamte Gesllschaft und den einzelnen — die systematische Untersuchung des Wechselver- hältnisses von fortgeltenden tradierten und von 3.1 Gesellschaftspolitische und gesetzliche oktroyierten neuen Wertmustern und der Einfluß Grundlagen eventuell entstandener Wertkonglomerate auf bis heute praktizierte, den Vereinigungsprozeß för- Seit ihrer Gründung hat sich die SED die traditionelle dernde bzw. ihn behindernde Verhaltensweisen marxistisch-leninistische Auffassung zu eigen ge- — die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entste- macht, daß die Emanzipation der Frau das Werk der hung gegenkultureller Orientierungen und die Emanzipation der Arbeit vom Kapital und deshalb nur Herausbildung sogenannter Selbstentfaltungsmo- in der sozialistischen Gesellschaft möglich sei. Die delle (orientiert an der westdeutschen „Bezie- Bemühungen der DDR um Berufstätigkeit von Frauen hungsgesellschaft") aus ideologischen Gründen korrespondierten mit dem Bestreben, möglichst viele Frauen für den Produkti- — Stadt-Land-Migrationen, Urbanisierungs- und onsprozeß zu gewinnen. Neben den politisch-ideolo- Agrarisierungstendenzen, Stadtarchitektur und gischen und ökonomisch-pragmatischen Elementen Wohnungsbau und ihre gesellschaftlichen Fol- umfaßte der Emanzipationsgedanke einen erzieheri- gen schen Aspekt. Die volle Entfaltung und Selbstverwirk- — die Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik im enge- lichung der Persönlichkeit sei, so lehrte die Ideologie, ren Sinne, also Renten-, Behinderten- und Famili- nur im Prozeß der Arbeit und hier wiederum nur den enpolitik und ihre verschiedenen Phasen im sozialistischen Kollektiv arbeitenden Menschen erreichbar. — die Analyse der Widerstände, die einer zentral dramaturgisierten Gesellschaftspolitik aus infor- Für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschafts- mellen sozialen und kulturellen Milieus erwach- ordnung war nach Auffassung der SED auch die sen Gleichberechtigung der Frau unerläßliche Vorausset- zung. Damit einher ging die Ansicht, daß die Herstel- — Gesellschaftspolitik als Reaktion auf Einflüsse, die lung wirklicher Gleichberechtigung neben den oben von außen auf die DDR wirkten und auf die die genannten Voraussetzungen auch die ökonomische Einheitspartei reagieren mußte Unabhängigkeit vom Mann erfordere. Diese wie- — Gesellschaftspolitik unter Modernisierungszwang derum war nur durch die Teilnahme der Frau am angesichts des stets propagierten „wissenschaft- gesellschaftlichen Produktionsprozeß zu sichern. lich-technischen Fortschritts" bzw. der „wissen- Bei der Forderung nach Verwirklichung der Gleich- schaftlich-technischen Revolu tion" berechtigung knüpfte die DDR an die sozialistische — auch die Fragen, welche strukturellen und legiti- Tradition an, wie sie etwa in dem bedeutenden Werk matorischen Begrenzungen für eine Gesellschafts- „Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel politik a priori gelten, die in einer Teil-Na tion entworfen wurde, das auch in der DDR große Verbrei- vollzogen werden soll. tung und Propagierung erfuhr. Dieser Katalog der Desiderate ist nicht vollständig und Formal-juristisch war in der DDR die Gleichberechti- stellt auch keine Prioritätenliste dar. Zu seiner Bear- gung der Frau umfassend verwirklicht. In der Verfas- beitung ist umfangreiche Forschungsarbeit — eine sung von 1949 wurde die volle rechtliche, ökonomi- Vielzahl von Projekten — nötig. Es war nicht Aufgabe sche und politische Gleichstellung der Frau, ihre der Enquete-Kommission, diese Forschungsarbeit Gleichberechtigung auf allen Gebieten des öffentli- selbst zu leisten. Was ihr zu diesem Thema an Mate rial chen und privaten Lebens — insbesondere im Arbeits- vorgelegt wurde, läßt ein abschließendes Gesamtur- und Familienrecht — prinzipiell gesichert. teil über 40 Jahre SED-Gesellschaftspolitik noch nicht Alle der Gleichberechtigung der Frau entgegenste- zu." henden oder dieselbe beeinträchtigenden gesetzli- chen Bestimmungen wurden aufgehoben. So nimmt Artikel 20 Abs. 2 der Verfassung von 1968 die bereits 3. Frauen- und Familienpolitik in Artikel 7 Abs. 1 der ersten Verfassung der DDR enthaltenen Bestimmungen über die Gleichberechti- Vorbemerkung gung der Frau in erweiterter Form auf: „Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben die gleiche Die SED verfolgte im Bereich der Frauen- und Fami- Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftli- lienpolitik, abgesehen von wi rtschaftlichen Notwen- chen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die För- digkeiten, zwei Ziele: Die Integra tion der Frauen in derung der Frau, besonders in der beruflichen Quali- die Gesellschaft sollte durch die Berufstätigkeit fizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche geschehen, und dabei sollte sich die Verwirklichung Aufgabe."
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Dieser verfassungsmäßigen Festschreibung voraus- Verlautbarungen seitens der SED-Spitze waren nicht gegangen waren mehrere Beschlüsse und Regelun- das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsens, son- gen, die das Ziel hatten, die Frauen nicht nur eine dern die Zielprojektion eines in der gesellschaftlichen gleichberechtigte Stellung, sondern auch einen Realität nicht existierenden Idealbildes [--> Exper tise gleichwertigen Platz neben den Männern in der Helwig]. zunehmend technisierten Produktion einnehmen zu lassen. Im sogenannten Frauen-Kommuniqué des Politbüros 3.2 Frauen im Spannungsfeld zwischen Familie und des ZK der SED vom 23. Dezember 1961 wurde die Beruf unzureichende Durchsetzung frauenpolitischer Ziele hinsichtlich ihrer Rolle und Stellung in der sich verän- Marx und Engels hatten die Aufhebung von Ehe und dernden Gesellschaft artikuliert sowie eine gezielte Familie gefordert. Lenin folgerte daraus, daß die Anhebung des Qualifizierungsniveaus, eine ver- berufliche Emanzipation der Frauen parallel zu einer stärkte Heranziehung für naturwissenschaftlich-tech- generellen Entlastung von Familienpflichten verlau- nische Berufe und eine stärkere Vorbereitung für fen müsse. Die Hausarbeit sollte „industrialisiert", die Leitungsfunktionen festgelegt (Beschluß über die Kindererziehung „vergemeinschaftet" werden. In Aufgaben der Staatsorgane zur Förderung der Frauen keinem sozialistischen Land, auch nicht in der SBZ/ und Mädchen in Durchführung des Kommuniqués des DDR, konnten diese Vorstellungen voll verwirklicht Politbüros des ZK der SED von 1961). Das Frauenkom- werden, Ansätze zur Verwirklichung dieser Konzep- muniqué wurde die Richtschnur künftiger Beschlüsse tion lassen sich aber in sozialistischen Ländern durch- in den Bereichen Familie, Arbeit und Bildung. aus finden, wenn auch die ideologische Konzeption oft von arbeits- und bevölkerungspolitischen Zielsetzun- Um den Belangen der Frauen entgegenzukommen gen und Notwendigkeiten durchkreuzt wurden und eine Erhöhung der Geburtenrate zu erreichen, [—> Expertise Helwig]. wurden familienfreundliche Sozialprogramme aufge- legt. Das Gesetzbuch der Arbeit von 1961 (GBA) und Das Familiengesetzbuch der DDR (FBG) von 1965 das Arbeitsgesetzbuch (AGB) von 1977 bauten die erkennt Ehe und Familie als „kleinste Zelle der besonderen Rechte der berufstätigen Frauen und Gesellschaft" an, verpflichtet aber auch die Ehegatten Mütter aus: dazu, „ihre Beziehungen zueinander so zu gestalten, daß beide das Recht auf Entfaltung ihrer Fähigkeiten — Einrichtung von Kinderkrippen, Kindergärten, zum eigenen und gesellschaftlichen Nutzen voll Kinderhorten, betrieblichen Verkaufsstellen und wahrnehmen können" [--> Expertise Helwig]. Daraus Wäschereien ergab sich die Forderung nach voller Berufstätigkeit der Frau. Der Verzicht darauf wurde mit dem negati- — arbeitszeitliche Sonderregelungen und Kündi- ven Signum des „Bewußtseinsrückstandes" versehen. gungsschutz für Schwangere Selbst Müttern mit Kleinkindern wurde prinzipiell mit — Arbeitsfreistellung bis zum Ende des ersten bzw. — Blick auf die Wochen- und Tages-Kinderkrippen im Falle der Nichtbereitstellung eines Krippenplat- keine Sonderstellung eingeräumt [— Exper tise Hel- zes — dritten Lebensjahres des Kindes bei teilwei- wig]. ser Zahlung von Mütterunterstützung Die Mobilisierung der Frauen für die Berufsarbeit — Gewährung einer 40-Stunden-Arbeitswoche und entsprang in der SBZ/DDR von Anfang an neben den von Hausarbeitstagen ideologischen Vorgaben auch den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Sie ergaben sich anfänglich aus — Eheschließungskredite mit der Möglichkeit, Rück- den Kriegsfolgen, dann aus der wirtschaftlich schiech- zahlungsraten bei der Geburt von Kindern erlassen ten Situation in der DDR. Die Übernahme einer Arbeit zu bekommen bis hin zur völligen Streichung der war für die meisten Frauen tatsächlich nicht eine Kreditsumme Frage des Strebens nach emanzipatorischer Einord- — ab 1979 Verlängerung des Grundurlaubs für Müt- nung in den „gesamtgesellschaftlichen Produktions- ter mit mindestens zwei Kindern unter sechzehn prozeß" oder nach Gleichberechtigung, sondern des Jahren ökonomischen Zwanges für jede einzelne. Hierin war die Ausgangslage in Ost und West nach dem Krieg — Förderung studierender Mütter, etc. zunächst ähnlich. Während der Beschäftigungsgrad Es gab detaillierte Weiterbildungsmaßnahmen für die der Frauen im Westen jedoch schon bald nach der weiblichen Beschäftigten in Frauen-Förderplänen Normalisierung der Verhältnisse rückläufig tendierte, und es wurden Frauenausschüsse gebildet. war er im Osten aus den genannten Gründen ständig steigend [-4 Expertise Helwig]. 1989 befanden sich Anspruch und Realität gerieten jedoch ständig in 91,3 vH aller Frauen im arbeitsfähigen Alter entweder Widerspruch zueinander. Es mußten zum einen poli- in einem Arbeitsverhältnis oder in der Ausbildung. tisch-administrative Entscheidungen ge troffen wer- den, die mit staatlicher Förderung und Unterstützung Die einseitige Zuschreibung der Familienrolle an die Frauen — allerdings zusätzlich zur Erwerbsarbeit — den berufstätigen Frauen entgegenkamen. blieb bestehen. Das schlug sich u. a. darin nieder, daß Zum anderen mußte jedoch ein gesellschaftlich- im Arbeits- wie im Sozialrecht Familienpflichten stets emanzipatorischer Diskurs stattfinden, um das tra- bei Müttern, nicht bei Vätern, berücksichtigt wurden. dierte Männerbild zu ändern. Ein solcher Diskurs fand Nur in Ausnahmefällen bezog die betriebliche Praxis in der DDR über Jahrzehnte nicht statt. Die offiziellen auch Väter in solche Rücksichtnahmen ein.
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Die Durchsetzung der vollen Berufstätigkeit der der erheblichen Mehrbelastung berufstätiger Mütter Frauen geschah also weitgehend unter Beibehaltung niederschlugen. der tradierten arbeitsteiligen Lebensform in den Fami- Auch haben die finanziellen Zuwendungen keines- lien. Rund 80 vH der häuslichen Pflichten blieben den falls ein stabiles Fortbestehen der positiven Einstel- Frauen überlassen. Für die zur Berufstätigkeit ver- lung zu Kindern in der Gesellschaft bewirkt. Dem pflichteten Frauen ergab sich daraus eine Doppel- und kurzfristigen Erfolg familienpolitischer, vor allem Dreifachbelastung, die nach Entlastung streben ließ: finanzieller Maßnahmen, folgte immer wieder die — immer mehr verheiratete Frauen und Mütter gin- Phase der Stagnation, so daß auch dadurch die Bevöl- gen von einer Vollbeschäftigung zur Teilzeitarbeit kerungszahl in der DDR ständig abnahm [–> Exper tise über, Helwig]. — die Geburtenrate sank rapide, Die Frage, inwieweit diese Rea lität die Interessen der Kinder berüchsichtigte, muß immer wieder neu — die Zahl der Ehescheidungen nahm kontinuierlich gestellt und durchdacht werden. Dazu gehört vor zu. allem auch die Frage, ob psychosoziale Folgen durch 1970 waren zwar 80,7 vH der Ehefrauen berufstätig, die außerfamiliäre Erziehung der Kleinkinder einge- jedoch davon nur 52,2 vH vollbeschäftigt. Die SED treten sind. Eine Längsschnittuntersuchung aus dem mußte wenige Jahre nach Inkrafttreten des Familien- Jahr 1963 ergab, „ ... daß die durchschnittliche gesetzbuches zur Kenntnis nehmen, daß ein erhebli- neuropsychische Entwicklung der Kinder im allge- cher Abstand zwischen dem sozialistischen Leitbild meinen um so günstiger ist, je enger sie mit dem Alltag und der Wirklichkeit bestand. der Erwachsenen verbunden sind und durch die Beobachtung und den Umgang mit den Erwachsenen Die Folge war ein vehementer Kampf der SED gegen während deren Tätigkeit lernen können. Deshalb die Teilzeitarbeit. Die Frauen mußten „unwiderleg- stehen die ... überprüften Familienkinder in fast allen bare Gründe" angeben, um verkürzt arbeiten zu Seiten der Entwicklung an der Spitze. Ihnen am dürfen. Die Propaganda für sozialistische Familienbe- nächsten stehen Kinder aus den Tageskrippen, im ziehungen wurde verstärkt: Die Frau dürfe nicht, um Abstand folgen dann die Kinder aus den Wochenkrip- den wachsenden Erwartungen und Anforderungen pen. " [-3 Expertise Helwig] beider Lebensbereiche gemäß ihr Leben gestalten zu können, auf Teilzeitbeschäftigung ausweichen oder Ungeachtet vielfältiger gesetzlicher Grundlagen und verantwortungsvolle Funktionen ablehnen oder auf Bestimmungen bleibt festzustellen, daß der Lebens- mehrere Kinder verzichten. Die Drei-Kinder-Familie alltag der Frauen in der DDR hinter dem politisch- als gesellschaftliche Norm wurde propagiert. ideologisch formulierten Anspruch weit zurück blieb. Folgt man der Theo rie, daß sich in Industriestaaten der Erfolg der Familienpolitik in der Bevölkerungsent- Bis zum Ende der DDR blieb die überwiegende wicklung niederschlägt, dann muß der DDR ein Mehrzahl der Bevölkerung allen sozialistischen Pro- gewisser Erfolg ihrer Familienpolitik bescheinigt wer- grammreden und Zwängen zum Trotz bei der Mei- den. Eheschließungen und Geburtenentwicklung ver- nung, daß Mütter zeitweise bzw. „wenn die Kinder liefen seit den siebziger Jahren steigend. Diese Ent- klein sind" beruflich zurückstecken sollten. Das mein- wicklung hing ursächlich mit den gezielten familien- ten 1980 62 vH der Frauen und 69 vH der Männer. Nur fördernden Maßnahmen zusammen. 3 vH der Frauen und nur 1 vH der Männer meinten, die Väter sollten zeitweise beruflich zurückstecken. Trotz all dieser Bemühungen, die Eheschließung und Bedeutung und Anspruchsniveau des Berufs wurde Familiengründung zu fördern, nahm die DDR aber bei also deutlich dem familiären Bereich nachgeordnet der Scheidungsrate eine Spitzenposition ein. Dafür [—> Expertise Helwig]. waren u. a. die folgenden Gründe ausschlaggebend: — zu jung und zu schnell geschlossene Ehen (Ehe- schließungskredite waren altersmäßig be- 3.3 Frauen in Ausbildung und Beruf grenzt!), Das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bil- — fehlender eigener Wohnraum, dungssystem von 1965 garantierte den Frauen und — mangelnde partnerschaft liche Zusammenarbeit Mädchen gleiche Ausbildungsmöglichkeiten und den und gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsinstitu- tionen. In den Schulen wurden Mädchen und Jungen — wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen. gemeinsam und nach einheitlichen Lehrplänen (ab- Die Zahl alleinlebender und in nichtehelicher gesehen von Sport) unterrichtet. Detaillie rte Weiter- Gemeinschaft lebender Frauen nahm ständig zu. bildungsmaßnahmen für die weiblichen Beschäftig- Auch die Zahl der außerehelich geborenen Kinder lag ten in Frauen-Förderplänen (Bestandteil der Betriebs- mit 33,8 vH (1985) außerordentlich hoch. kollektivverträge BKV) und die Bildung von Frauen- ausschüssen unterstützten, allerdings weniger erfolg- Obwohl einige Teilerfolge bei den Bemühungen der reich, die Weiterqualifizierungsbemühungen. DDR-Gesellschaft, die Gleichberechtigung der Frauen in der Familie zu erreichen und damit eine Das Ergebnis der Qualifizierungsbemühungen bei günstigere Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Frauen war posi tiv. Hatten noch zu Beginn der sieb- Beruf und Familie zu schaffen, verzeichnet werden ziger Jahre nur ca. 50 vH der beschäftigten Frauen konnten, blieben große Defizite, die sich vor allem in einen Berufsabschluß, waren es 1986 81,5 vH. Seit
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den siebziger Jahren waren jeweils etwa 50 vH a ller Gehaltsstufen 1 500 bis 1 700 DDR-Mark und darüber Abiturienten und Studierenden weiblich. Der Anteil betrug nur 17 vH bzw. 15,7 vH. Eine bittere Konse- weiblicher Studierender war ständig steigend. In quenz daraus war die verbreitete „weibliche Altersar- einzelnen Studienrichtungen wie Humanmedizin, mut". 1989 erhielten 92 von 100 Frauen eine Alters- Zahnmedizin, Pharmazie und Pädagogik waren sie rente von unter 500 DDR-Mark und die Bezieher von stark überrepräsentiert. In den naturwissenschaftli- Mindestrenten (zuletzt 330 DDR-Mark) waren fast chen Disziplinen behaupteten sie sich mit einem ausschließlich Frauen. Anteil von ca. 45 vH. Bei den Qualifizierungsabschlüs- sen für spätere Führungspositionen, etwa bei Promo- Obwohl der Staat die meisten Berufe für Mädchen und tionen und Habilitationen, war der Frauenanteil aller- Frauen geöffnet hatte und für Frauen in „Männerbe- dings ähnlich gering wie im Westen. rufen" warb, zeigte sich schon bei der Berufswahl letztendlich ein tradiertes Rollenverständnis Der hohe Grad der Erwerbstätigkeit der Frauen galt [—> Expertise Helwig]. der SED als Nachweis der vollzogenen Gleichberech- Der DDR ist die volle Integra tigung. Bei näherem Hinsehen zeigten sich jedoch tion der Frauen in das erhebliche Benachteiligungen von Frauen. Berufsleben quantitativ gelungen, qualitativ blieb sie hinter ihren propagierten Zielen zurück. Trotz der 1985 wurde in einem Bericht der DDR-Regierung an aufgezeigten Diskrepanzen kann aber behauptet den Generalsekretär der Vereinten Nationen behaup- werden, daß die Berufstätigkeit der Frauen ein fester tet, daß rund ein Drittel aller Leiter in der sozialisti- Bestandteil ihrer Lebensplanung und ihres Selbstver- schen Wirtschaft Frauen seien. Der Verzicht auf die ständnisses war. Aufschlüsselung nach Leitungsebene ließ allerdings den Schluß zu, daß die tatsächliche Situa tion anders war. 3.4 Frauen in Gesellschaft und Politik Legt man die Qualifizierungsmuster von Facharbei- tern, Meistern, „Fachschulkadern" (mit Fachschulab- Die von der SED geforderte gleichberech tigte Teil- schluß), „Hochschulkadern" zugrunde, darin waren nahme der Frauen am öffentlichen Leben war beson- 1986 Frauen im Meisterbereich mit 12,4 vH am ders groß in jenen gesellschaftlichen und staatlichen geringsten, als „Fachschulkader" mit 61,8 vH am Organisationen und Gremien, die primär einen reprä- stärksten vertreten, bei den Facharbeitern lag ihr sentativen Charakter hatten oder lediglich eine bera- Anteil bei 48 vH. Unter den Hochschulkadern gab es tende Funktion ausübten. Die umfangreiche Einbe- insgesamt 38,2 vH Frauen, jedoch betrug der Prozent- ziehung der Frauen in die Volksvertretungen der DDR satz bei den Professoren nur 5 vH. war ideologisch motiviert, da sie wegen deren verfas- sungsrechtlichen Primats als Beweis weiblicher Mit- 1987 wurde in der medizinischen Fachzeitschrift „hu- bestimmung in der Politik galt. manitas" moniert, daß bei einem Anteil weiblicher Der Frauenanteil betrug: Mediziner von über 50 vH nur 1,9 vH der Kreisärzte Frauen waren. 1989 war der DDR-Frauenzeitschrift — bei der SED 35 vH „Für Dich" zu entnehmen, daß es in der gesamten DDR-Industrie nur vier weibliche Generaldirektoren — bei der CDU 46 vH gab. — bei der NDPD 34 vH
Die Begründung dafür läßt sich aus einer unveröffent- — bei der LDPD 32 vH lichten Studie des DDR-Instituts für Berufsbildung entnehmen. Die Bet riebe begründeten die Bevorzu- — bei der DBD 32 vH gung männlicher Mitarbeiter für bestimmte Bereiche — in der Volkskammer 31,2 vH und für Führungspositionen vorrangig damit, daß die Ausfallquote und die Fluktuationsrate bei Frauen — in den Bezirkstagen 31,2 vH wesentlich höher lägen als bei Männern. 1987 kriti- sierte die Zeitschrift „Für Dich" auffallend sarkastisch, — in den Kreistagen und Stadtverordnetenversamm- daß auch gut ausgebildete Frauen wegen biologisch lungen 42,6 vH begründeter Störanfälligkeit namentlich für leitende — in den Gemeindevertretungen 36,8 vH. Positionen offenbar generell weniger geeignet erschienen als „babymäßig nicht störanfällige" männ- In den politischen Entscheidungsorganen und Ent- liche Kollegen [—> Expe rtise Helwig]. Die notwendi- scheidungsfunktionen von Partei und Staat, in denen gen und familienpolitisch sinnvollen sozialen Hilfs- ein hoher weiblicher Anteil wirksame Gleichberechti- maßnahmen erwiesen sich also gelegentlich als gung hätte bedeuten können, waren die Frauen Hemmnis für die Verwirklichung der beruflichen hingegen weder ihrem Mitgliederanteil in den Par- Gleichstellung der Frau und verstärkten die Tendenz teien — namentlich der SED — noch ihrer Bedeutung zur Ausgrenzung der Frauen aus attraktiven berufli- für die Volkswirtschaft entsprechend vertreten: chen und gesellschaftlichen Posi tionen. — im Politbüro, dem obersten Führungszirkel der Die Folgen ungleicher beruflicher Aufstiegschancen SED, gab es nie eine Frau, lassen sich in der beruflichen Pyramide erkennen: — unter den nicht stimmberechtigten Kandidaten des Ende der achtziger Jahre stellten Frauen ca. 75 vH Politbüros waren zwei Frauen, jener Vollbeschäftigten in der DDR, die 600 bis 700 DDR-Mark verdienten. Ihr Anteil an den höchsten — im Sekretariat des ZK gab es eine Frau,
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— unter den ersten Sekretären der fünfzehn SED- in den neuen Bundesländern doppelt so hoch wie die Bezirksleitungen war eine Frau (1988 im Bezirk der Männer (11 vH). Dabei wird insbesondere L ang- Frankfurt/Oder), zeitarbeitslosigkeit (gegenwärtig knapp die Hälfte der Frauen über ein Jahr) zu einem besonderen — dem Staatsrat gehörten sieben Frauen an und Problem der Frauen. Diese Entwicklung ist trotz der — dem Ministerrat nur zwei Frauen (Hilde Benjamin finanziellen Absicherung durch Arbeitslosen- und und Margot Honecker). Sozialhilfe für viele Be troffene nicht leicht zu verkraf- ten — blieb doch der Wunsch zur Berufstätigkeit bei Der FDGB war mit einem Anteil von 52,6 vH weibli- den Frauen in den neuen Bundesländern sehr hoch. cher Mitglieder (fünf Millionen) die größte „Frauenor- Von den zur Zeit nicht berufstätigen Frauen wollen ca. ganisation „ der DDR. Auch hier waren die Frauen nur 60 vH, sobald sie eine Stelle finden, wieder arbeiten. auf unterster Ebene (Vertrauensleute, Orts- und Kreis- Bezeichnenderweise sind 40 vH davon an Teilzeitar- gewerkschaftsleitungen) entsprechend ihrem Mit- beit interessiert, so daß sich diese Möglichkeit besse- gliederanteil vertreten. Unter den Bezirksvorsitzen- rer Vereinbarkeit von Familien- und Berufstätigkeit, den befand sich eine Frau. die in der DDR aus ideologischen Gründen verpönt Die einzige zugelassene Frauenorganisation der DDR, war, erneut als angemessen und politisch erstrebens- der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD), wert erweist. Es bleibt die Erwartung, daß mit der war eine von der SED gesteuerte Einheitsorganisation Neustrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bun- der Frauen. Ihr gehörten 1,5 Millionen Frauen an. Der desländern auch die Beschäftigungsquote der Frauen DFD war eine Massenorganisation, die bei den angemessen verbessert wird. Frauen dürfen nicht in Wahlen auf allen Ebenen Kandidatinnen für die arbeitsmarktpolitischer Hinsicht die Verliererinnen Volksvertretungen auf den Einheitslisten der Natio- der deutschen Einheit werden. nalen Front der DDR nominierte und in den Volksver- tretungen eigene Fraktionen bilden durfte. Der DFD- Fraktion der Volkskammer gehörten 35 Frauen an (ab Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD 1986 32). Der DFD war aber trotz dieser Repräsen- und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, tanz nicht in der Lage, frauenpolitische Anliegen Weber: durchzusetzen. Stellt man die drei Bereiche Arbeitswelt, Familie und „Die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit der Politik gegenüber, so zeigt sich deutlich, daß die Frauen (April 1994: 775 000; 10 vH höher als Apr il Gleichberechtigung der Frauen auf dem Feld der — 1993) liegt nicht nur — wie häufig behauptet wird Politik am wenigsten durchgesetzt war. Die m an an der systembedingten hohen Erwerbsquote von -gelnde Repräsentanz der Frauen in den gesellschaft- Frauen in der ehemaligen DDR. Vielmehr ist für die lichen und politischen Entscheidungsgremien wurde überproportional hohe Arbeitslosigkeit der Frauen in der DDR nur selten öffentlich thematisiert. Zwar entscheidend, daß sich in den neuen Bundesländern lassen sich in den Ansprachen der Funktionäre stän- sehr schnell die Muster einer problematischen, west- dig Hinweise darauf finden, daß der Zustand noch lichen Beschäftigungsstruktur durchgesetzt haben. nicht befriedigen kann, ein ernsthaftes Bemühen Das heißt Frauen unterliegen nun auch bei den hingegen, diesen Mißstand wirksam zu ändern, war Neueinstellungen vielfach geschlechtsspezifischer nie feststellbar. Diskriminierung, obwohl ihr Qualifizierungsgrad sich nicht von dem der Männer unterscheidet. Hierzu Als besonders hinderlich wirkte es sich aus, daß es in kommt die Umstrukturierung innerhalb des Arbeits- der DDR keine unabhängige Frauenbewegung gab, marktes. Bisher frauentypische Branchen werden die diese Mißstände hätte aufgreifen können. Erste Mischbranchen (Handel, Banken, Versicherungen), verändernde Ansätze lassen sich über die Frauen- Mischbranchen werden zu tendenziell männerdomi- gruppen in den Kirchen und der Friedensbewegung nierten Branchen (verarbeitendes Gewerbe), männer- und bei einigen Wissenschaftlerinnen in den achtziger dominierte Branchen zu reinen Männerbranchen Jahren wahrnehmen. (Bau, Metall, Elektro). Ein Hierarchiegefälle zugun- sten der Männer bestand zwar auch in der ehemaligen DDR, jedoch waren die Frauen weitgehend wirt- 3.5 Nachwirkungen schaftlich unabhängig. Diese Unabhängigkeit ge- hörte zu ihrem Selbstverständnis und war Bestandteil Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen ihrer persönlichen Lebensplanung. Gesellschafts- und Wirtschaftssystems in der DDR und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft in den Die Vereinigung von Ost und West wäre eine Ch ance neuen Bundesländern hatte die Veränderung der gewesen, die Gleichstellung von Frauen und Män- Arbeitsmarktsituation besonders negative Folgen für nern voranzutreiben. Diese Chance wurde nicht die Frauen. Die systembedingt hohe Erwerbstätig- genutzt. " keitsquote von Frauen (über 90 vH) sank bereits bis April 1991 auf 77 vH (bei Männern auf 86 vH). Personelle Überbesetzungen und verdeckte Arbeits- 3.6 Forschungsdesiderate losigkeit in der DDR wurden also sehr bald sichtbar. Bis 1992 schrumpfte die Zahl der Arbeitsplätze für Viele Forschungsthemen in diesem Bereich sind nicht Frauen auf knapp zwei Drittel des Standes von 1990. allein DDR-spezifisch, müssen aber unter den beson- 1993 lag die Arbeitslosenquote von Frauen mit 22 vH deren Bedingungen in der DDR untersucht werden:
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— Überbeschäftigung in der DDR als Grund für die begründet, die Arbeitsproduktivität zu steigern, die
erhöhte Arbeitslosigkeit von Frauen nach der schließlich den Ausschlag geben und die Überlegen-
Wende heit der sozialistischen Gesellschaftsordnung bewei-
sen werde. — Langzeit-Auswirkungen der Wochen- und Tages-
krippenbetreuung In den ersten Jahren der SBZ/DDR war die „Brechung
des Bildungsmonopols der bürgerlichen Schichten" Ursachen für die unterschwellige Frauen-Diskri- — ein energisch proklamiertes aber nicht immer durch- minierung in Beruf und Politik setzbares Ziel. Die Förderung von Arbeiter- und
— Situation der Rentnerinnen Bauernkindern für weiterführende Bildungseinrich- tungen stand im Vordergrund. In den späteren Jahr- — Wohnungsproblematik hinsichtlich Bestand der zehnten lag der Akzent stärker als am Anfang auf der Ehen, Familienleben politischen Anpassung [--> Expertise Fischer]. — Frauenanteil in bestimmten akademischen Fach- Die Ausrichtung auf das sowje tische Vorbild und die richtungen. kontinuierliche Aufforderung an die Lehrer und Erzie-
her, sich an der Sowjetpädagogik zu orientieren, sollte gewährleisten, daß „bürgerliche Einflüsse" ausge-
4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung schaltet wurden. In welchem Maße sowjetische Vor- und Bildung stellungen tatsächlich wirksam wurden, bedarf noch
genauerer Untersuchung.
4.1 Bedeutung von Erziehung und Bildung für die SED
Aufgrund der beherrschenden Rolle der SED in der 4.2 Ausgestaltung des „einheitlichen
Gesellschaft der DDR wurden auch Bildung und sozialistischen Bildungssystems"
Erziehung inhaltlich und strukturell von der Partei
gesteuert und geleitet. Politische und ideologische Es kann an dieser Stelle nur auf einige Aspekte des
Entscheidungskriterien waren dabei ausschlagge- Themas eingegangen werden. Im übrigen sei auf die
bend. In diesem Sinne war das Bildungs- und Erzie- Anhörungen und Expertisen verwiesen. Auf- und
hungssystem der DDR für die Heranwachsenden Ausbau des Bildungswesens in der SBZ/DDR sind
fremdbestimmt und wurde von „oben" her ausgerich- außerdem in der einschlägigen Literatur detai lliert
tet. Erziehung stand an erster Stelle, auch wenn behandelt.
ständig die „Einheit von Bildung und Erziehung" In allen Ländern der SBZ wurde 1946 das gegliederte verkündet wurde. Sie wurde als Anliegen der ganzen Schulsystem abgeschafft und durch das „Gesetz zur Gesellschaft für alle Altersstufen be trachtet. Bildung Demokratisierung der deutschen Schule" eine acht- war demgegenüber etwas Spezifischeres. Die Partei jährige, gemeinsame Schule für alle Kinder einge- erhob den Anspruch, allein zu wissen, wohin die führt. Erstmals gab es damit in einem Teil Deutsch- Menschen erzogen werden müßten. In diesem Sinne lands eine achtjährige (Grund-)Schule für alle Kin- war Erziehung in der DDR vor allem Bevormun- der. dung. Nach der „antifaschistisch-demokratischen Umge- Ziel war die Erziehung zur Konformität. Anspruch und staltung" erfolgte die Ideologisierung des Bildungs- Erziehungspraxis verhielten sich, wie in anderen wesens in Anlehnung an das sowjetische Vorbild Bereichen der DDR-Gesellschaft auch, widersprüch- (Einführung als marxistisch-leninistisch bezeichneter lich zueinander. Auf der Grundlage eines primär an Lehrpläne; Russisch als einziger Fremdsprache ab der äußeren, gesellschaftlichen Faktoren orientierten 5. Klasse; Kampagnen zum Studium der sowjetischen Menschenbildes glaubte man, mit Hilfe der marxi- Pädagogik mit obligatorischer Weiterbildung). Dieser stisch-leninistischen Ideologie „sozialistische Persön- Prozeß fand seinen Abschluß mit dem „einheitlichen lichkeiten" formen zu können, die den Ansprüchen an sozialistischen Bildungssystem", das entscheidend die neue Gesellschaft genügten. Die Praxis war dem- zur „Entdifferenzierung der Gesellschaft" beitrug. gegenüber viel differenzie rter und reichte von der Es wurde mit einem entsprechenden Gesetz 1965 Indoktrination bis zum Unterlaufen der Vorgaben Expertise Margedant] eingeführt. Seit diesem [-> oder sogar bis zum „elastischen Widerstand". Zeitpunkt gab es die Allgemeinbildende Polytechni-
Im Zentrum der Erziehung st and die ideologische sche Oberschule (POS, bis zur 10. Klasse) und die
Beeinflussung, die Ausrichtung auf Anpassung. Diese Erweiterte Oberschule (EOS, 11. und 12. Klasse). Beeinflussung begann im Kinderga rten und er- Bereits 1959 war die zehnklassige Schule zur Pflicht-
streckte sich auf alle Bildungseinrichtungen und alle schule gemacht worden. Erst ab 1983 war die EOS von
Formen der Berufsausübung in staatlichen Institutio- der POS völlig getrennt, d. h. es entschied sich erst in
nen bis zum Rentenalter [--> Exper tise Margedant, der 10. Klasse, wer die Erweiterte Oberschule besu-
Protokoll Nr. 32]. chen durfte.
Die fachliche Bildung hatte immer einen hohen Stel- Die erzieherische und ideologische Einflußnahme
lenwert, besonders im naturwissenschaftlichen und wurde durch formulierte Programme und Aufgaben-
technischen Bereich. Dies wurde von der Partei im stellungen in den Erziehungs- und Bildungsplänen
ökonomischen Wettlauf mit dem Kapitalismus auf der Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Fachschu-
dem Gebiet der Produktivkräfte mit dem Erfordernis len, Universitäten) festgeschrieben, die von der Partei
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 weitgehend festgelegt wurden. Die Bildung diente Arbeiter auf die Schüler über den üblichen „Praxis- außerdem der zunehmend politisch ausgerichteten schock" hinaus oft desillusionierend. Auswahl geeigneter „Kader" für höhere Posi tionen in Partei und Staat. Bis in die sechziger Jahre herrschte in der DDR Ideologische Erziehung in Staatsbürgerkunde Pädagogik die ideologisch begründete Vorstellung, und Geschichte allein die gesellschaftlichen Verhältnisse seien päd- agogisch wirksam. Man glaubte, durch deren Gestal- Die von der SED propagierten sozialistischen Ober- tung jede pädagogische — und auch politisch-ideolo- zeugungen sollten im Geschichtsunterricht historisch gische — Wirkung erzielen zu können. Ungeachtet begründet werden und wesentlich zum obersten der Vereinheitlichungsbemühungen in der Erziehung Erziehungsziel der Formung „sozialistischer Persön- und Bildung wurden aber bald Differenzierungen in lichkeiten" beitragen, was auf die Erziehung zum der Förderung von Begabungen notwendig. Spezial- parteitreuen gläubigen Verhalten hinauslief. Im Inter- schulen mit den Schwerpunkten Mathematik oder esse der Politik der SED wurde der Unterricht instru- Fremdsprachen (vor allem Russisch) oder Musikschu- mentalisiert; er reagie rte inhaltlich und methodisch len förderten besonders Begabte. Begabtenförderung didaktisch auf Veränderungen der Geschichtswissen- wurde auch noch auf andere Weise betrieben, so schaft, der Pädagogik und der gesellschaftlichen und durch die Einbindung naturwissenschaftlich interes- politischen Verhältnisse in der DDR, die von der SED sierter und begabter Schüler höherer Klassen in För- diktiert wurden. Die ideologische Einflußnahme auf dergruppen an den Universitäten oder durch Mathe- den Unterricht reichte bis in die Gestaltung der matik- und Russisch-Olympiaden. Es gab auch spe- einzelnen Unterrichtsstunden. Entsprechend wurden zielle Kinder- und Jugendsportschulen. Wie schwer es Unterrichtsziele formuliert, wie „sozialistischer Pa- aber war, Differenzierungen in der Volksbildung triotismus", Hervorhebung der „fortschrittlichen und durchzusetzen, zeigt sich an der Tatsache, daß es bis revolutionären Traditionen des deutschen Volkes" zuletzt trotz mannigfacher Bemühungen von Pädago- und seiner großen historischen Persönlichkeiten. Der gen nicht möglich war, die Regelung, die Schüler für Akzent wurde zunehmend auf die na tionale Ge- die zum Abitur führende EOS erst in der 10. Klasse schichte und die Parteinahme für die „historische auszuwählen, wieder rückgängig zu machen. Diese Mission der Arbeiterklasse", d. h. die Führung der Regelung hatte politisch-ideologische Gründe. Die SED, gelegt. SED hoffte, die Jugendlichen zu stärkerem Entgegen- kommen in politischen Entscheidungssituationen Die erhoffte Effektivität der politisch-ideologischen (z. B. bei der Auswahl von Offiziersbewerbern) bewe- Erziehung konnte nicht im erwünschten Maße gen zu können, wenn die Auswahl, wer zur EOS erreicht werden. Deshalb verstärkte die SED vor allem zugelassen wurde, spät getroffen wurde. in den achtziger Jahren ihre Bemühungen, bewußt- seinsprägend zu wirken. In den neuen Geschichtsbü- chern und -lehrplänen von 1988/89 schlug sich dieses u. a. darin nieder, daß sich der Unterricht in der Klasse 4.3 Ausgewählte Problembereiche 10 ausschließlich mit der DDR befaßte. Begründet wurde dieser Schritt damit, daß den Schülern ein Obschon Erziehung und Bildung bei der Behandlung „konkretes, wissenschaftlich exaktes und parteiliches der DDR-Vergangenheit als zentrale Themen be- Bild" von der Entwicklung der DDR als Teil des trachtet werden müssen, hat die Enquete-Kommission sozialistischen Weltsystems vermittelt werden sollte; diesen Themenbereich nur knapp bearbeiten können. zudem verkörpere die DDR die besten Traditionen Dementsprechend sollen hier nur einige Problembe- deutscher Geschichte. reiche behandelt werden, die aus Sicht der Kommis- sion jedoch charakteristisch für die DDR-Gesellschaft Auswahl und Ziele der zeitgeschichtlichen Stoffein- waren. heiten stimmten weitgehend mit dem Elementen des Staatsbürgerkundeunterrichts überein. Im Lehrplan- werk wurden entsprechend die Stoffe der beiden Verbindung zu praktischer Arbeit Fächer zusammengefaßt, um die „Leitlinien der ideo- logischen Erziehung im Unterricht" zusammenzufüh- In den allgemeinbildenden Schulen wurde besonde- ren. Dem Staatsbürgerkundeunterricht fiel dabei die rer Wert auf die Verbindung zu praktischer Tätigkeit Aufgabe zu, die „Verwirklichung der historischen gelegt. Praktische Fertigkeiten sollten im Polytechni- Mission der Arbeiterklasse" durch die SED „konkret schen Unterricht angeeignet werden. Daneben gab es historisch" aus den Grundzügen der gesellschaftli- das Unterrichtsfach „Einführung in die sozialistische chen Entwicklung der DDR abzuleiten. Folglich hatte Produktion". Die Beziehungen zur „materiellen Pro- der Unterricht die Aufgabe, grundlegende Erkennt- duktion und ihrem Träger, der Arbeiterklasse " sollten nisse des Marxismus-Leninismus in enger Verbin- durch den Unterrichtstag in der Produktion und durch - dung mit Kenntnissen der Politik der SED zu vermit- Patenschaften zwischen Produktionsbrigaden und teln, um den Schüler zur „unverrückbaren Klassen- Schulklassen hergestellt werden. Die SED verband position" zu erziehen und seine Bereitschaft zu ent- damit auch die Absicht, durch Arbeit in Produktions- wickeln, für das SED-System und die Politik der betrieben die Einpassung in gesellschaftliche Struktu- SED-Führung „Partei zu ergreifen". Der gesamte ren zu befördern. Jedoch wirkte die unmittelbare Staatsbürgerkundeunterricht sollte durch einen Anschauung der Arbeitsbedingungen in den Produk- „kämpferischen und polemischen Stil" gekennzeich- tionsbetrieben und der Lebensbedingungen der net sein [--> Expertise Margedant].
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Die Vermittlung „sozialistischer Werte" in diesen Umerziehung in Spezialheimen
Unterrichtsfächern bediente sich einer Sprache mit und Jugendwerkhöfen stereotypen Floskeln. Autoritative Handlungsanwei- sungen durchzogen die Lehrpläne, Unterrichtsmate- Eine unbeabsichtigte Folge des Ziels, sozialistische rialien und Unterrichtshilfen („Linienführung des Persönlichkeiten zu formen, war die Hilflosigkeit von Unterrichts"). Vor allem die im Unterricht vermittelten in pädagogischem Optimismus gedrillten Erziehern ideologischen Phrasen fanden wenig Anklang bei den gegenüber Kindern und Jugendlichen, die sich nicht Schülern. Zudem wirkten der Frontalunterricht und anpassen wollten oder konnten. Politisch renitente die Lehrervorträge motivationshemmend. Kritisches Arbeiten mit Quellen und Texten war nicht vorgese- Jugendliche, kindliche und jugendliche Straftäter, Heranwachsende mit Persönlichkeits- und Verhal- hen und mit den vorhandenen Mate rialien auch nicht tensstörungen ließen sich nur schwer oder auch gar möglich. nicht im gewünschten Sinne pädagogisch beeinflus- sen [--> Experlltisee]. Auch in derHi Pädagogik neigte man dazu, den Widerspruch zwischen den politischen Militarisierung als Ziel der Erziehung Anforderungen und der Wirklichkeit mit Beschöni- gungen zu „überwinden". Dies wirkte sich auch bei Das ständige Streben der SED-Führung, die gesamte der „Umerziehung" von schwer erziehbaren Heran- Gesellschaft zu militarisieren, wurde zunehmend wachsenden aus. Entwürdigende Disziplinierungs- zu einem Charakteristikum der DDR-Gesellschaft praktiken sind in einigen Kinderheimen (Spezial- und [--> I. Themenfeld]. Es äußerte sich in der Einführung Durchgangsheimen) systema tisch angewendet wor- militärischer Strukturen als gesellschaftliches Organi- den, also in Kenntnis und mit Billigung der jeweiligen sationsprinzip. Die Militarisierung galt als eine erzie- Heimleitung [--> Expertise Hannemann, Beispiele für herische Aufgabe, die unter Losungen wie „Erhöhung Brutalität durch Erzieher in einigen Jugendwerkhöfen der Verteidigungsbereitschaft" oder „Verstärkung [--> Expertise Sengbusch]. der revolutionären Wachsamkeit” propagiert wurde und zu deren Erfüllung Zwangsmaßnahmen auch Es gab in der DDR Normalkinderheime und — abge- außerhalb der Wehrpflicht angewendet wurden. stuft mit zunehmender Intensität in der Anwendung Massiv betrieben wurde die „Wehrerziehung" an den von Zwangs- und Disziplinierungsmaßnahmen — Einrichtungen der Volksbildung und des Hochschul- Spezialkinderheime, Jugendwerkhöfe für Jugendli- wesens. Sie wurde in den siebziger Jahren forciert che sowie für sich als besonders renitent erweisende aufgebaut. Bereits in den Kindergärten wurden den Jugendliche den geschlossenen Jugendwerkhof Tor- Kindern altersgemäß Freund-Feind-Schemata nahe- gau. gebracht [— Expertise Margedant]. In den Schulen und Hochschulen wurde die obligatorische oder Als Kernproblem der Persönlichkeitsdeformierung, quasi-obligatorische Teilnahme an Wehrübungen die zur Einweisung in ein Spezialkinderheim oder in sowie an Militär- oder Zivilverteidigungslagern ein- einen Jugendwerkhof führte, wurden individuelle geführt [--> Expertise Margedant; Blachnik, Protokoll Konflikte zwischen dem einzelnen und den gesell- Nr. 31]. schaftlichen Verhaltensnormen genannt, die sich u. a. in einer negativ eingeschätzten politisch-ideologi- Die Lehrer sollten in ihren Fächern Beispiele aus dem schen Position, in negativer Einstellung zum Lernen militärischen Bereich verwenden. Besondere Bedeu- und zur Arbeit und in Rechtsverletzungen äußerten. tung hatten dabei Geschichte und Staatsbürger- kunde. Über die Jungen Pioniere wurde in der Unter- Die Umerziehungspädagogik in den Spezialheimen stufe während der Winterferien regelmäßig das „Ma- und Jugendwerkhöfen war Ausdruck einer Radikali- növer Schneeflocke" organisiert. Für Jugendliche war sierung der Erziehungskonzepte in der DDR; sie die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) als beruhte auf dem Prinzip absoluter Gruppenerzie- paramilitärische Organisa tion gedacht, die mit Fahr- hung. Es gab keine individuelle Förderung, vielmehr schulausbildung auf dem Motorrad und Möglichkei- waren völlige Anpassung und Aufgabe der Individua- ten zum Segelflug lockte. lität das pädagogische Ziel. Gewaltanwendung und Der obligatorische Wehrunterricht wurde in den obe- Isolierhaft gehörten zu den pädagogischen Mitteln ren Klassen der Allgemeinbildenden Polytechnischen [-->annemann, Protokoll Nr. 31]. Einweisungs- Oberschule 1978 eingeführt. Ab 1981 wurde er auf die gründe waren Fluchtversuche, renitentes Verhalten, EOS (Klasse 11) ausgedehnt [--> Exper tise Marge- wiederholte Arbeitsverweigerung, „Aufwiegelei", dant]. Wehrausbildungslager gab es für die männli- Angriffe auf Erzieher, Kritik am gesellschaftlichen chen Schüler (9. Klasse) ab 1979. Ab 1982 wurde für System der DDR, die Weigerung, im „offenen" die Teilnahme „freiwilliger Zwang" ausgeübt. Die Jugendwerkhof eine gesellschaftliche Funktion (z. B. Schießausbildung war dort ab 1985 obligatorisch FDJ-Sekretär) zu übernehmen. [ausführlich zum Thema Wehrerziehung —> Blachnik,- Protokoll Nr. 31]. Es gab „Tage der Wehrbereitschaft" Im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau wurden an den Schulen und jedes Jahr im Februar den Jugendliche ab vierzehn Jahren psychisch und phy- „Marsch der Bewährung" an den Universitäten. sisch geschädigt und einzelne sogar in den Selbstmord Ergänzend sei auf die Ordnungsgruppen der FDJ getrieben. Es handelte sich um Jugendliche, bei hingewiesen, in denen etliche tausend Jugendliche denen Erziehungsmethoden in anderen Jugendhil- organisiert waren. Sie übten mit Pistolen, Maschinen- feeinrichtungen versagt hatten [---> Expertise Seng pistolen, Karabinern. busch].
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4.4 Erziehung und ideologische Ausrichtung SED. Sie sollten der praktischen Aneignung von außerhalb der Schule sozialistischen Haltungen und Einstellungen, der „Ausbildung gefestigter sozialistischer Überzeugun- Erziehung als ideologische Ausrichtung war an keine gen" und gleichzeitig der Heranführung und Auswahl Altersgrenze gebunden und wurde systema tisch in künftiger hoher FDJ- und Parteifunktionäre an ihre allen staatlichen Institutionen, nicht nur in der Volks- Aufgaben im Dienste der politischen Führung die- bildung, in Verantwortung der Parteileitungen und nen. der „staatlichen Leiter" betrieben. Neben dem Fachwissen und der Berufsarbeit wurde Ein umfangreiches Schulungs- und Versammlungssy- die „gesellschaftliche Aktivität" als notwendiger Teil stem sollte diese Indoktrination verwirklichen, was einer „allseitig entwickelten sozialistischen Persön- allen Beteiligten viel Zeit und Aufwand abverlangte lichkeit" begriffen und gefordert. Jugendliche und und sicher auch ökonomisch zu negativen Folgen Erwachsene, die sich nur auf ihrem Fachgebiet bzw. in führte (die Veranstaltungen fanden oft in der Arbeits- ihrem Beruf anstrengten, wurden als Menschen cha- zeit statt). Die Pioniernachmittage für Schüler, das rakterisiert, die „nur auf einem Bein stehen" . Für die FDJ-Studienjahr für Studenten und Berufsschüler, die Heranwachsenden waren die Jungen Pioniere/Thäl- „Schulen der sozialistischen Arbeit" oder das Partei- mann-Pioniere und die FDJ — als eine besonders lehrjahr (in der Volksbildung und im Hochschulwesen wichtige Organisation — die maßgeblichen vorge- auch für Parteilose) für Berufstätige, marxistisch- schriebenen Betätigungsbereiche für „gesellschaftli- leninistische Weiterbildung für wissenschaftliche Mit- che Tätigkeit". Diese wurde von der Partei nach- arbeiter und Hochschullehrer, waren obligatorische drücklich gesteuert. Der Nachweis wenigstens eines Veranstaltungen. Hinzu kamen Zeitungsschauen, „Stückchens" solcher geleisteter gesellschaftlicher FDJ- und Gewerkschaftsversammlungen, „aktuelle Arbeit war wichtig für die ständig anzufertigenden politische Gespräche", die jeweils den aktuellen Beurteilungen. Wer es aus den unterschiedlichsten Bezug zur von der Partei festgelegten ideologischen Gründen ablehnte, „gesellschaftliche Tätigkeit" zu Linie herstellen sollten. leisten, wurde von den Funktionären oder von Kollek- tivmitgliedern aufgefordert, die „gesellschaftlichen Eine wichtige, vermutlich auch beabsichtigte, aber und individuellen Interessen in Übereinstimmung zu nicht offen proklamierte Folge der umfangreichen bringen". Die individuellen Wünsche und Neigungen Schulungs- und Disziplinierungsmaßnahmen sowie waren der jeweiligen ideologischen Linie der Partei der „gesellschaftlichen Aktivität" war, daß auch die unterzuordnen. Heranwachsenden ständig organisiert und „in Trab gehalten" wurden und somit über ihre Freizeit nur Wenn man schon nicht selbst aktiv wurde bei der beschränkt verfügen konnten. Besonders in der Organisation von Veranstaltungen oder dem Abhal- Jugend entwickelte sich eine Abneigung gegen die ten von Versammlungen, so sollte man doch wenig- andauernde einseitige ideologische Beeinflussung stens an ihnen teilnehmen. So wurde die Teilnahme und pädagogische Gängelei. an den Veranstaltungen der FDJ, oft auch des FDGB, als „freiwilliger Zwang" erlebt. Es war aber auch Die DDR-Pädagogik zeichnete sich besonders in der möglich, sich unter der Überschrift „gesellschaftliche ideologischen Erziehung häufig durch einen be- Tätigkeit" in unpolitische Nischen zu begeben. Nicht lehrenden, trockenen, schulungsmäßigen Stil aus. nur die Gestaltung von Wandzeitungen, die Teil- Abstrakte Persönlichkeitsideale wurden konstruiert, nahme am Wettbewerb „Junger Agitator", die Orga- denen allerlei hervorragende Eigenschaften zugeord- nisation von Kollektivveranstaltungen auch kulturel- net wurden, die die Pädagogen und Leiter bei den ler oder sportlicher Natur, die Bildung von „Patenbri- ihnen Anvertrauten herausbilden sollten. Solche gaden" in Betrieben und Produktionsgenossenschaf- Schablonen wurden dann mit hochtrabenden Worten ten zur erzieherischen und materiellen Unterstützung wie „Sozialistische Leiterpersönlichkeit", „Sozialisti- von Schulklassen, Kinderheimen, Kindergärten, gal- sche Frauenpersönlichkeit", „Sozialistische Lehrer- ten als gesellschaftliche Arbeit, sondern auch die persönlichkeit" usw. bezeichnet. Natürlich trugen Mitwirkung im Chor, einer Sportgemeinschaft oder diese abstrakten und blutleeren Muster nicht zur die Tätigkeit als Kassierer für eine gesellschaftliche Motivation bei. Es gab durchaus Funktionäre auf Organisation. unteren Ebenen in der FDJ, dem FDGB und auch in der SED, die versuchten, die Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und täglich erlebter Wirk- lichkeit in recht offen geführten Diskussionen zu Rolle der FDJ thematisieren, freilich ohne dabei die Grundsätze in Frage zu stellen. Im Bereich der Volksbildung waren Die Jugendlichen waren überwiegend in der FDJ solche Versuche bis zuletzt vergeblich oder blieben organisiert. Bei ihrer Gründung 1946 wurde die FDJ auf kleine Gruppen begrenzt. noch als „überparteilich" bezeichnet, aber bereits seit Anfang der fünfziger Jahre betrachtete die SED die Jugendorganisation als ihre Kaderreserve [–>Exper- tise Mählert, I. Themenfeld]. Gesellschaftliche Tätigkeit Jeder Betrieb, jede Schule und Universität hatte eine Man verstand darunter politische, soziale, kulturelle, FDJ-Leitung, in größeren Institutionen im Status einer sportliche, organisatorische Aktivitäten im Rahmen Kreisleitung. Die Kreisleitungen, in denen auch der Parteien sowie der gesellschaftlichen und Mas- hauptamtliche Funktionäre tätig waren, leiteten die senorganisationen unter ideologischer Anleitung der FDJ-Leitungen an. Die FDJ-Gruppenleitungen hatten
Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode nicht nur die Aufgabe, die Gruppenmitglieder ideolo- 4.5 Wirkungen des Bildungs- und gisch zu erziehen und politisch zu schulen, sondern Erziehungssystems auch Veranstaltungen sportlicher und kultureller Art zu organisieren und dabei möglichst viele FDJ Das Ziel der SED-Führung, mit Hilfe der Bildungs- Mitglieder einzubeziehen. Die FDJ-Leitungen hatten und Erziehungsinstitutionen den „neuen Menschen" ein gewisses Mitspracherecht bei betrieblichen Ent- zu „formen", konnte fraglos nicht erreicht werden. scheidungen auf Ausführungsebene und übten in Unbeabsichtigte Nebenwirkungen dieser Pädagogik bestimmten Bereichen auch Kontrollfunktionen im waren Apathie, Ausweichen und Lippenbekennt- Betrieb aus. Sie konnten sich dabei auf das Jugend- nisse. Dessenungeachtet wurde ein hoher Bildungs- gesetz berufen, insbesondere auf das 3. Jugendgesetz stand erreicht, besonders auf naturwissenschaftli- von 1974 [—> Expertise Hille]. Die FDJ-Sekretäre der chem und technischem Gebiet. Das Interesse in der oberen Leitungsebenen spielten oft eine zwiespältige Bevölkerung an Fragen des technischen Fortschritts Rolle. Als FDJ-Sekretäre der Gruppen waren keines- war stark ausgeprägt. Aber auch in diesem Bereich wegs nur fanatische Einpauker der jeweiligen politi- wirkte sich manche von der Partei initiierte Kampagne schen Linie tätig, obschon es solche FDJ-Funktionäre demotivierend aus. Der andauernde Zwang zur Aus- gab. einandersetzung mit ideologischen und politischen Die Partei war bemüht, alle Aktivitäten von Jugendli- Fragen erzeugte nicht nur Widerwillen gegen die chen in der FDJ einzufangen. Es gab keine Möglich- „Berieselungspraktiken" von Partei und FDJ, sondern keit, sich in selbstorganisierter Weise in der Freizeit zu auch kritische und skep tische Haltungen gegenüber betätigen, nur in der FDJ (bzw. in einer anderen politischen Verlautbarungen bei gleichzei tig guter Massenorganisation wie dem DTSB oder der GST) Informiertheit über gesellschaftspolitische Fragen. In oder innerhalb der Kirchen. Jedes Jugendklubhaus, der Jugend zeigte sich jedoch zunehmend (ab den das Haus der Jungen Talente in Berlin, Diskotheken, achtziger Jahren) eine Tendenz zur Entpolitisierung, Singegruppen — alles wurde von der FDJ organisiert die bei dem starken ideologischen Druck als Versuch und ideologisch beeinflußt. gewertet werden kann, sich den ständigen Indoktri- nationen zu entziehen [—> Expertisen Hille, Fischer]. Letzteres wurde von der Parteiführung als beunruhi- gend beurteilt. Parteischulungen
Die Parteimitglieder waren einem speziellen System von Parteischulungen und Parteischulen unterworfen, Widerspruch zwischen offizieller Ideologie das sehr differenziert war [--> Leonhard, Protokoll und erlebter Wirklichkeit Nr. 28, Donner, Protokoll Nr. 32]. Alle Mitglieder waren verpflichtet, am Parteilehrjahr teilzunehmen. Der unauflösbare Widerspruch zwischen krampfhaft Es gab Betriebs- und Kreisschulen des Marxismus- aufrechterhaltenem Erziehungsziel und Wirklichkeit Leninismus, Bezirksparteischulen (Direkt- und Fe rn konnte natürlich an den Schülern nicht spurlos vor- -studium) sowie die Parteihochschule (Direkt- und übergehen. Sie lernten früh und manchmal auf Fernstudium). Je nach Posi tion und Karriereambitio- schmerzhafte Weise, sich anzupassen. Immer wieder nen hatten die jewei ligen „Kader" aus der SED dort wird gefragt, wie sich denn dieses „Gespaltensein" — ein Studium zu absolvieren. Das Studium in den zu Hause anders reden als m an das im Unterricht Betriebs- und Kreisschulen fand z. T. während der mußte — bei den Heranwachsenden ausgewirkt Arbeitszeit, z. T. außerhalb derselben statt. Für ein haben mag. Da auch für die Schiller die eigene Studium an einer Bezirksparteischule oder der Partei- Erfahrung und Wahrnehmung der bestehenden Ver- hochschule wurde man von der beruflichen Tätigkeit hältnisse gegenüber der Einflußnahme in der Regel freigestellt. die entscheidendere Sozialisationsbedingung war Die Schulungen wurden aber auch fortlaufend am [—> Expertise Fischer], sind Behauptungen, den Men- Arbeitsplatz durchgeführt. Die Planung dazu wurde schen in der DDR sei durch die Erziehung generell vom Zentralkomitee der SED geleitet. Zwischen den „das Rückgrat gebrochen" worden oder sie seien Parteitagen gab es jährliche Vorgaben zur Durchfüh- durch die Erziehung zur Heuchelei charakterlich rung der Parteischulungen. In den Bezirken und deformiert, so nicht haltbar. Sicher gab es Menschen, Kreisen, z. T. auch auf zentraler Ebene, wurden jedes die im politisch-ideologischen Aufstiegskampf psy- Jahr im September oder Oktober Partei-Aktivtagun- chische Deformationen erlitten, wie es andere gab, gen durchgeführt, wo die SED-Mitglieder die Gene- deren Widerstandswillen durch den ständigen Druck rallinie der SED-Führung erfuhren. gestärkt wurde. Was jedoch die Schüler bet rifft, so hatten diese viele Gesprächspartner, entweder zu Die nach jedem Parteitag der SED und nach jeder Hause oder in der Schulklasse, um die Diskrepanzen Tagung des Zentralkomitees veröffentlichten Reden ohne psychischen Schaden überstehen zu können und Materialien sollten von allen „Werktätigen" und - [--> Birthler, Protokoll Nr. 31]. Allerdings führten die Studenten durchgearbeitet werden, nicht nur von den politischen Vorgaben und die Ausrichtung auf ideolo- Parteimitgliedern. Dazu wurden an den Hochschulen gische Kriterien oft zu einer negativen Auswahl bei und in den Betrieben, so in FDJ- oder Gewerkschafts- Aufstiegsmöglichkeiten [—> Expertise Voigt] oder zur versammlungen, spezielle Seminare und Auswertun- späteren Desillusionierung derjenigen, die den gen angesetzt. Eigene Schulungssysteme besaßen Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit auch die Massenorganisationen und die Blockpar- zunächst nicht durchschauten. Auch wurden durch teien. die vielfältigen Anpassungsleistungen, besonders im
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Bereich der Volksbildung, sowohl durch die Lehrer als Widerständiges Verhalten zeigte sich eher im Unter- auch die Schüler, erhebliche Kräfte verbraucht [--> Ex- lassen (z. B. Fernbleiben von der Jugendweihe), auch pertise Hille]. Dennoch waren Möglichkeiten psychi- durch die Lehrer und Erzieher selbst, als in expliziten scher Balance auch innerhalb der gesellschaftlichen Äußerungen oder H andlungen. Es gab z. B. nicht Strukturen vorhanden [—> Exper tise Hanke], wenn wenige Kindergärten, in denen das obligatorische auch entsprechende Gestaltungs- und Ausgleichs- Kriegsspielzeug perm anent , auf dem höchsten möglichkeiten in der Volksbildung viel geringer Schrank der Einrichtung aufbewahrt wurde. Andere waren als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Gelegenheiten, sich den ideologischen Anforderun- gen und Indoktrinationsbemühungen zu entziehen, bestanden in der lediglich formalen Erfüllung von Forderungen. Sie eröffneten sich dadurch, daß sich Behinderung von Kreativität viele der hochgestochenen Zielstellungen in Volksbil- dung, Berufsbildung und Hochschulwesen nicht ohne Die ständige Außensteuerung im Bildungs- und Erzie- weiteres vereinbaren ließen oder sich sogar gegensei- hungssystem, die Behandlung auch des jungen Men- tig ausschlossen. schen als Objekt im Dienste eines zu verwirklichen- den höheren Zieles, führte häufig zur Abwertung, Verschüttung und Unterdrückung spontaner kreati- Die Situation der Lehrer ver Impulse und Neigungen, auch schon im Kindesal- ter. Die unentwegt proklamierte Notwendigkeit, sich Diejenigen, die die Konsequenzen der verfehlten selbst und die eigenen Neigungen und Leistungen in Bildungspolitik der SED-Führung zuerst und am deut- den Dienst einer „höheren Sache" zu stellen („Siche- lichsten spürten, waren die Lehrer. Sie hatten sowohl rung des Friedens", „Erfüllung der historischen Mis- die Probleme zu bewäl tigen, die sich aus den oft sion der Arbeiterklasse", „dem gesellschaftlichen unrealistischen bildungspolitischen Vorgaben als Fortschritt zum Durchbruch verhelfen"), wirkte sich — auch aus den politisch-ideologischen Zielvorstellun- sicher ungewollt — hemmend auf Kreativität und gen ergaben. Die Lehrer waren einem doppelten Originalität aus. Auch kreative Leistungen sollten Druck ausgesetzt, da sie zwischen den Anordnungen planmäßig, am rechten Ort, zur rechten Zeit, und des Ministeriums für Volksbildung und nachgeordne- möglichst auch noch von der rechten Person — einem ter Dienstellen und den Bedürfnissen der Schüler der Partei „zutiefst ergebenen Kader" oder auch standen, für deren Verhalten sie verantwortlich Kollektiv — erbracht werden. Erinnert sei an das gemacht wurden. Nicht wenige hielten dem Druck Schlagwort vom „Schöpfertum der Massen" . Selb- von oben nicht stand und versuchten, die Vorgaben ständiges Denken war nicht erwünscht, auch wenn es des Ministeriums für Volksbildung durchzusetzen. Es natürlich nicht völlig unterdrückt werden konnte. Es gab aber auch andere, die die Widersprüche zwischen gab Lehrer, „die inmitten eines wirk lich repressiven Anspruch und Realität als unerträglich erlebten und Systems es geschafft haben, Freiheit zu vermitteln, diese Spannungen oft jahrzehntelang zu ertragen Fragen zu provozieren und wirklich Erwachsenwer- hatten. Der Drang, die Volksbildung zu verlassen, war den zuzulassen" [—>Birthler, Vollmann, Protokoll dementsprechend sehr stark und wurde vom Ministe- Nr. 31]. rium sowohl mit administrativen Maßnahmen als auch der Gewährung von Privilegien (spezielle Altersver- sorgung, sog. Intelligenzrente, für alle pädagogisch Beschäftigten in der Volksbildung) sowie mit zahlrei- Reaktionen auf Kritik, Möglichkeiten, sich zu chen Ehrungen und Würdigungen (Tag des Lehrers, entziehen Medaillenverleihungen) bekämpft. on der Lehrer in den neuen Bundesländern Trotz des repressiven Erziehungs- und Bildungssy- Die Situati stems gab es gelegentlich Bedingungen in Schulen, ist gegenwärtig teilweise durch Unsicherheit geprägt. Der alte autoritäre Leitungsstil, der durch die Struktur die öffentliche kritische Äußerungen von Schü- des Systems vorgegeben war, ist diskreditiert. Die lern ohne nachfolgende Sanktionen ermöglichten Schüler haben jetzt mehr Möglichkeiten, ihre Interes- [--> Expertise Fischer]. Waren diese Bedingungen (liberale Schulleitung, undogmatische Parteileitung sen zu artikulieren und auch durchzusetzen. in der Schule, fehlende Nähe zu SED-Führungsperso- nen) jedoch nicht gegeben, konnten selbst harmlose kritische Äußerungen in der „(Öffentlichkeit” (z. B. an 4.6 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs einer Wandzeitung) gravierende Folgen haben, wie mit der Erziehung und Bildung die Relegation von Schillern an der Carl-von- Ossietzky-Oberschule 1988 in Pankow zeigt [--> Ex- Der Umbau des DDR-Bildungssystems durch Einfüh- pertise Fischer]. Ausgesprochene Tabu-Themen, bei rung des gegliederten Schulsystems in Anlehnung an denen die ideologisch wachsamen Kräfte sehr emp- die alten Bundesländer stellt alle Beteiligten vor findlich zu reagieren pflegten, waren kritische Äuße- schwierige Aufgaben und Probleme: die Neuorgani- rungen zu den zunehmenden Versuchen der Militari- sation der Schulen, die Weiterbildung von Lehrern, sierung der DDR-Gesellschaft sowie alterna tive ideo- die Erarbeitung von neuen Lehrplänen, die Einfüh- logische Bestrebungen im Marxismus-Leninismus rung neuer Fächer, die Demokratisierung der Schule oder in dessen gedanklicher Nähe, speziell in anderen usw. Diese Aufgaben und Probleme sind keineswegs kommunistischen Parteien (ausgenommen die KPdSU bereits durchgängig gelöst, eine Bilanzierung des bis 1985). gegenwärtigen Standes ist noch nicht möglich.
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Der Zusammenbruch des SED-Systems bereitete auch 4.7 Offene Fragen, Forschungsdefizite der politisch-ideologischen Erziehung ein Ende. Es und Empfehlungen stellt sich freilich die Frage nach den Nachwirkungen, die im einzelnen der empirischen Untersuchung Um vergangene Benachteiligungen auszugleichen, bedürfen. Hypothesen über mögliche Nachwirkun- sollten besondere Förderungsprogramme in der Bil- gen sind teilweise oben im Abschnitt über Ideologie dungspolitik entwickelt werden, die relativ unabhän- formuliert. gig vom Alter der Betroffenen umzusetzen sind (keine starren Altersgrenzen). Nachwirkungen des Bildungs- und Erziehungssy- stems der DDR auf die heutige Zeit bestehen vor allem In den Schulen sollte die Auseinandersetzung mit der in Gewohnheiten, hauptsächlich auf Außensteuerun- DDR-Vergangenheit intensiv thematisiert werden, gen zu reagieren und in fortwirkenden autoritären um das demokratische Selbstbewußtsein zu entwik- Denkmustern. keln. Dabei sollte zum einen die lokale Vergangen- heitsaufarbeitung im Vordergrund stehen, zum ande- ren sollten die Mechanismen und Folgen von Dikta- Die Außensteuerung im Bildungs- und Erziehungssy- turen den Schillern am Beispiel der DDR verdeutlicht stem der DDR, also die ständige Gängelung, Bevor- werden. mundung und Reglementierung, unterminierte nicht nur Initiative und Kreativität. Manchem gewährlei- Forschungsdefizite bestehen im empirischen Nach- stete sie auch einen gewissen Halt. Es war klar, was zu weis der tatsächlichen Wirkungen ideologischer tun war und auch, was man lieber unterließ. M an Indoktrination. Die Anzahl der Hypothesen auf die- an die Bevormundung gewöhnen, es gab konnte sich sem Gebiet ist viel größer als die der erhobenen aber auch andere Reaktionen, mit der ständigen verallgemeinerungsfähigen Untersuchungsergeb- Gängelei zurechtzukommen, so Ironie oder Unterlau- nisse. Eine Reihe von wich tigen Forschungsthemen fen des Geforderten. Heute fehlen die Vorgaben, zur DDR-Pädagogik und zur Volksbildung ist an jeder muß sich selbst orientieren. Für viele ist das eine unterschiedlichen Einrichtungen in Bearbeitung, so Erleichterung, aber nicht alle Eltern, Schüler und auch zur Wehrerziehung, der Pionierorganisation, dem Lehrer sind dieser neuen Situa tion, in der man aus- Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterricht, der wählen und Entscheidungen treffen darf und muß und Bildungs- und der Erziehungstheorie, dem Jugend- dadurch auch Verantwortung übernimmt, sofort werkhof Torgau, der Erziehung zur „Völkerfreund- gewachsen. Für Eltern und Heranwachsende besteht schaft", der Jugendweihe. Andere wichtige Bereiche die Gefahr, Verheißungen und Verlockungen nachzu- scheinen noch nicht erforscht zu werden. Hier eine geben und sich dadurch in Schwierigkeiten zu brin- Zusammenstellung einschlägiger Probleme, die sich gen, zumal noch nicht immer die notwendige Sach- bei Anhörungen der Enquete-Kommission ergaben: kenntnis für die Auswahl von Alternativen vorhanden ist. In dem Maße, in dem es gelingt, den Übergang von — Untersuchung der Faktoren, die gegenwärtig poli- Vorgabe und Bevormundung zu Offenheit und Plura- tisches Engagement in den neuen Bundesländern lismus für Pädagogen und Erzogene als Chance zu ver- oder behindern und die die Übernahme von verstehen und zu bewäl tigen, wird auch Orientie- Verantwortung und den Erwerb von Fähigkeiten, rungslosigkeit überwunden. diese wahrzunehmen, fördern — Empirische Untersuchungen zu Verhaltensformen Daß autoritäre gesellschaftliche Muster im Verhalten bei Pädagogen und Eltern gegenüber den ver- sogleich nach der Veränderung der gesellschaftlichen schiedenen Leitungsebenen der Volksbildung Strukturen verschwinden, ist nicht zu erwarten. Es bestand keine ausreichende Möglichkeit, Verhaltens- — Empirische Untersuchung des Alltagsverhaltens weisen zu lernen und zu üben, die in einer freien von Kindern und Jugendlichen gegenüber Päd- Gesellschaft unverzichtbar sind und die man in der agogen, sowie der FDJ DDR nicht erwerben konnte, wie z. B. das freie Reden — Der Stellenwert der Behinderten- und Rehabilita- vor einer größeren Öffentlichkeit. Man konnte in der tionspädagogik DDR nicht lernen, mit konfligierenden Auffassungen konstruktiv umzugehen und andere Meinungen zu — Die wissenschaftliche Entwicklung in der DDR ertragen. Die Bereitschaft, sich politisch zu engagie- Pädagogik und die Rolle der Akademie der Päd- ren, ist wenig ausgeprägt und beschränkt sich auf agogischen Wissenschaften. einen relativ kleinen Personenkreis. M an hält sich zurück, wenn es darum geht, Verantwortung wahrzu- nehmen und wartet ab, wohl auch aus Unsicherheit. 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft Die Fähigkeit, zur Konfliktbewältigung ist im neuen im SED-Staat Umfeld noch eingeschränkt und muß in Disputen und Rechtsabläufen erst noch erworben werden. Die skep- 5.1 Ziele der SED-Wissenschaftspolitik tische Haltung gegenüber Parteien und Vereinen- sowie gegenüber der Politik im allgemeinen resultiert Es gibt kaum ein Gebiet des gesellschaftlichen aus den Erfahrungen der Vergangenheit und dem Lebens, in dem mehr pluralistische Meinungsvielfalt Gefühl, mißbraucht worden zu sein. Es wird noch und individualistische Selbständigkeit vorhanden zuviel „von oben" erwartet. Die Möglichkeiten, und notwendig sind als in der Wissenschaft. „Wissen- eigene Interessen durchzusetzen, indem m an sich schaftler sind Individualisten oder sie sind keine organisiert, werden noch zu wenig erkannt und wahr- Wissenschaftler. " [—> Schroeder, Protokoll Nr. 33] Ent- genommen. sprechend groß waren die Schwierigkeiten für die
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SED, wissenschaftliche Einrichtungen in das soziali- 5.2 Die Politik der SED gegenüber Hochschulen stische Ganze der SED-Diktatur einzufügen und sie und Akademien sich als theoretisches Instrument für die Planung und Lenkung des gesamten Gesellschaftsprozeses verfüg- Hochschulen bar zu machen. Wie für das sozialistische Schulwesen begann auch für Den Naturwissenschaften und der Technik hat die das Hochschulwesen in der SBZ/DDR die Entwick- SED-Führung entscheidende Bedeutung in der „Klas- lung mit der sogenannten antifaschistisch-demokrati- senauseinandersetzung mit dem Imperialismus" bei- schen Ordnung, die durch die 1. Hochschulreform gemessen. Sie meinte, daß der Wettbewerb zwischen hergestellt wurde. Die traditionelle Fakultäten- und den Gesellschaftssystemen auf dem Gebiet der Pro- Ordinarienstruktur der deutschen Universitäten blieb duktivkräfte und der Arbeitsproduktivität entschie- erhalten. Aber die notwendige Entfernung national- den werde. Wissenschaft und Technik wollte die sozialistischen Personals und die Wiedereinsetzung SED-Führung bewußt auch nutzen, um die Wirtschaft politisch und rassisch verfolgter Hochschullehrer international konkurrenzfähig zu machen, die „ Ver- wurde bald verbunden mit dem systema tischen teidigungsfähigkeit" des L andes zu sichern und inter- Zurück- und Hinausdrängen solcher Gelehrter, die als national Ansehen zu erwerben. Sie glaubte, aufgrund antisozialistisch oder antikommunistisch galten. Es ihrer „wissenschaftlichen Weltanschauung" einen folgte die Zerschlagung von demokratisch gewählten Vorteil bei der Nutzung der Wissenschaft gegenüber Studentenräten, weil SED und FDJ in diesen keine dem Westen zu haben. Den Gesellschaftswissenschaf- Mehrheiten gewinnen konnten [--> Meyer, Protokoll ten wurde folglich vorrangig eine ideologische, sinn Nr. 33]. stiftende, interpre tierende und motivierende Funk- Wichtig für die Struktur der geplanten sozialistischen tion zugeordnet. Hochschule war die Einrichtung von Vorstudienan- stalten für Kinder aus der Arbeiter- oder Bauernschaft, Die SED-Führung erhob den Anspruch, die wissen- die ab 1946 unter dem Namen „Arbeiter- und Bauern- schaftliche Entwicklung nach ihren Vorstellungen zu fakultäten" fortgeführt wurden. Neben dem berech- leiten. Sie glaubte, die wissenschaftliche Forschung tigten Anliegen, die Zugangsmöglichkeiten sozial ähnlich planen zu können, wie sie es in der Wirtschaft weiter zu öffnen, dienten sie dem Zweck, eine der SED vorhatte. Die wissenschaftliche Kommunikation nahestehende Intelligenz heranzubilden, um die wurde zudem überwacht und gestört, Berichte wur- damals noch unverzichtbare bürgerliche Intelligenz den geschönt, wissenschaftliche Öffentlichkeit fehlte allmählich ablösen zu können. insbesondere in kritischen Bereichen. Aus diesem Grunde konnte man nicht aus Fehlern lernen und sie Erst durch die 2. Hochschulreform von 1951 unter der nicht rechtzeitig korrigieren. Losung „Stürmt die Festung Wissenschaft" wurde der Marxismus-Leninismus als obligatorisches Studien- fach für alle Studiengänge eingeführt (dreijähriger Folglich gab es auch für die wissenschaftlichen Ein- Kurs mit den Bestandteilen marxistisch-leninistische richtungen keinen Raum für eigenständige Kompe- Philosophie, Politische Ökonomie und Wissenschaftli- tenzen. Jede Universität und jede Forschungsstätte cher Sozialismus). Russisch wurde obligatorische war im Verständnis der SED eine ausschließlich Fremdsprache. Ein erstes zentralistisches Leitungs- staatliche Institution, der bestimmte Aufgaben zur element wurde durch die Einrichtung von Prorektora- eigenen Erledigung übertragen wurden, der jedoch ten für Studienangelegenheiten und für marxistisch- keine wirkliche Eigenkompetenz zukam. Alle, die leninistisches Grundstudium in die Hochschulstruktur z. B. ein Amt an einer Universität innehatten, waren eingeführt. Die direkte Einflußnahme der SED wurde prinzipiell den Parteifunktionären nachgeordnet. dadurch erreicht, daß SED- und FDJ-Repräsentanten in die Senate der Universitäten einzogen. Die externen Steuerungsversuche der Partei störten die Einhaltung der für wissenschaftliche Qualität Bereits auf der 3. Hochschulkonferenz 1958 orien- unerläßlichen Kriterien und behinderten die wissen- tierte die SED die Gesellschaftswissenschaften allein schaftliche Kommunikation. Da die notwendige finan- auf den Dialektischen und Historischen Mate rialismus zielle und materielle Unterstützung für die Forschung und stellte ihnen im wesentlichen zwei Aufgaben: die oft fehlte und wissenschaftliche Fragestellungen stets „Wissenschaftlichkeit" der Politik der Partei zu bele- den politischen untergeordnet wurden, gelang es gen und zur „sozialistischen Bewußtseinsbildung der auch nur in eingeschränktem Maße, mit Hilfe der Werktätigen" beizutragen. Wissenschaft internationale Reputa tion für die DDR Eine weitere Zäsur läßt sich für die Zeit des Mauer- zu erlangen. Die ständigen Rechtfertigungs- und baus ausmachen. Zwischen August 1961 und Januar Legitimierungsbestrebungen der Wissenschaftler ge- 1962 fand die größte Verhaftungswelle nach dem Bau genüber der Partei, deren Einmischung in fachliche der Mauer statt, und in dieser Zeit gab es an den Angelegenheiten, untergruben die gesellschaftlichen- Universitäten große Disziplinierungsaktionen. Der und organisatorischen Voraussetzungen für wissen- Anteil der berufenen SED-Mitglieder betrug damals schaftliche Produktivität und Kreativität. Diese Wis- an den gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten senschaftspolitik war zwar realitätsfe rn, wenn den- 90 vH, an den naturwissenschaftlichen Fakultäten noch teilweise beachtliche wissenschaftliche Leistun- lediglich 20-40 vH [—> Mitter, Protokoll Nr. 33]. gen erbracht wurden, dann lag das daran, daß die SED Kompromisse eingehen mußte [--> Meyer, Wolf, Proto- Mit der 3. Hochschulreform 1968/69 versuchten koll Nr. 33]. Ulbricht und die Parteiführung, die Wissenschaft
Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode effektiv und für die gesellschaftliche Entwicklung Mit Honeckers Machtantritt wurde die Unterstützung unmittelbar nutzbringend zu gestalten. Großzügige des Hochschulwesens durch den Staat deutlich einge- finanzielle Ausstattungen wurden zur Umstrukturie- schränkt [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. Im Zuge der rung der Universitäten in Aussicht gestellt (z. B. die umfangreichen Sparmaßnahmen wurden an manchen Errichtung eines Universitätscampus mit modernsten Universitäten und in manchen Fächern sogar die Einrichtungen in Jena-Lobeda, im Stadtzentrum von Institutsbibliotheken aufgelöst (z. B. an der Universi- Halle und in Berlin-Friedrichsfelde), aber dann doch tät Leipzig) und zentralistisch zusammengefaßt. Die nicht aufgebracht. Verwirklicht wurden lediglich tief Isolierung von der internationalen wissenschaftlichen in die historisch gewachsene disziplinäre Struktur der Kommunikation, die erhebliche Einschränkung des Universität greifende Änderungen durch Auflösung Zugangs zu westlicher Fachliteratur ab 1976 und die von Instituten und Fakultäten, an deren Stelle Sektio- sich ständig verschlechternden Arbeitsbedingungen nen traten. Ohne die betroffenenen Wissenschaftler von Lehre und Forschung führten zu einem deutlichen zu konsultieren, wurden aus ideologischen und öko- Rückgang der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit. nomischen Gründen in den Natur- und Geisteswissen- Den Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern schaften Fächer zu Sektionen zusammengefaßt, die wurde immer wieder nahegelegt, den Studierenden oft nicht zusammenpaßten. Sie waren zum Teil so sowjetische Fachliteratur zu empfehlen. Bei Qualifi- abenteuerlich und wirklichkeitsfremd, daß sie teil- kationsarbeiten, z. B. Dissertationen, mußte in spe- weise schon nach wenigen Wochen wieder zurückge- ziellen Fragebögen angegeben werden, wieviel nommen wurden. sowjetische Autoren zitiert worden waren.
Durch diese Hochschulreform wurde an den Univer- sitäten der Einfluß der Parteileitungen gestärkt, die Gestaltung des Studiums den Status von Kreisleitungen hatten [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. War auch vorher schon der Einfluß Das Hochschulwesen galt in seiner erzieherischen der SED z. B. in Berufungsfragen sehr deutlich gewe- Funktion als Fortsetzung der DDR-Volksbildung für sen, so wurde er nun noch direkter durchgesetzt. Es eine spezielle Gruppe. Es zeichnete sich dementspre- gab aber keinen vollständigen Austausch der Hoch- chend durch ähnliche Elemente aus wie die Volksbil- schullehrer. dung: Verschulung, ideologische Indoktrination mit Hilfe des Marxismus-Leninismus, „Betreuung" der Gravierende Veränderungen erfuhren die Geistes- Studenten, straff organisierte Ausbildung, Einfluß wissenschaften durch die Besei tigung der — ideolo- militärischer Organisationsformen und Inhalte im Stu- gisch natürlich besonders verdächtigen — histori- dienablauf, hoher gesellschaftlicher Organisa tions- schen Fächer, wie etwa der Klassischen Philologie und grad, ideologisch geprägte Kaderauswahl. der Alten Geschichte, oder der historischen Fachteile, z. B. der Mediävistik in der Germanistik, Romanistik Die Studierenden wurden intensiv in Seminargrup- und Anglistik. Die Fremdsprachen-Philologien sollten pen fachlich und politisch „be treut" [—> Meyer, Proto- durch die Ausblendung des kulturellen Kontextes koll Nr. 33]. Zu Beginn jeden Studienjahres im Sep- auf die bloße Sprachvermittlung verwiesen werden tember gab es eine Woche, in der in fast nur politi- [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. schen Veranstaltungen die Studierenden auf die aktu- elle politische Situation im Sinne der Partei einge- Strukturell gesehen bedeutete diese Reform einen stimmt werden sollten [--> Berg, Protokoll Nr. 31]. Zu radikalen Bruch mit der Universitätstradition und Beginn des Studienjahres oder während der Sommer- einen schweren Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. ferien nahmen Studenten an Ernteeinsätzen auf dem Die Einordnung von Lehrstühlen und Instituten in Lande teil. Sektionen führte zum Verlust eigener Etats und zur Die Studierenden waren organisatorisch in Studien- Einschränkung der selbständigen Gestaltung des jahre eingeteilt und hörten in der Regel studienjahres- Lehrangebots. Die Direktoren der Sektionen waren weise Vorlesungen. Die Studienjahre waren wie- weisungsgebunden und unterstanden direkt dem derum in Seminargruppen (von fünfzehn bis zwanzig Rektor und ersten Prorektor der Universität. Dieser Studenten) unterteilt. In jeder Seminargruppe, die Schritt beinhaltete zugleich die zentrale Lenkung der einer FDJ-Gruppe mit gewählter FDJ-Leitung ent- Professorenschaft. sprach, gab es eine „Parteigruppe Studenten". Nach der 3. Hochschulreform versuchte die Partei, die In der staatlichen Leitungshierarchie der Sektionen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme war der Stellvertretende Direktor für Erziehung und durch stärkere Einbeziehung wissenschaftlicher Er- Ausbildung für Erziehungsfragen zuständig. Ihm kenntnisse, insbesondere aus den Wirtschaftswissen- waren Studienjahresleiter aus dem Lehrkörper unter- schaften, der Operationsforschung und der Kyberne- stellt und diesen wiederum Seminargruppenbetreuer. tik, zu lösen. Die sog. Leitungswissenschaften wurden Die FDJ-Gruppenleitung hatte Einfluß auf studienor- vorübergehend stark gefördert. Da aber auch hier die - ganisatorische Maßnahmen. Ein Vertreter der FDJ ideologische Anpassung wichtiger war als wissen- Leitung hatte z. B. in den achtziger Jahren das Recht, schaftliche Solidität, versandeten — auch zum Teil aus als Beisitzer bei mündlichen Prüfungen teilzunehmen. Geldmangel — die Reformbemühungen schnell wie- Gab es „ideologische Probleme" bei Studierenden, der. Es kam sogar zu Gegenkampagnen (z. B. zur hatten die Seminargruppen oder die übergeordneten neuerlichen Stigmatisierung von Kybernetik und der Leitungen (SED- und FDJ-Kreisleitung) unterschiedli- Anwendung mathematischer Methoden in den che Sanktionsmitteln, die man auch differenziert ein- Gesellschaftswissenschaften). setzte.
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Durch die straffe Organisation des Studiums, die Einfluß auf die Akademie gewann. Ab 1988 hatte eine Betreuung, aber auch die Verschulung, wurden kurze Ablehnung durch die Staatssicherheit bei einer Studienzeiten eingehalten. Die Verschulung des Stu- geplanten Einstellung absolut bindende Wirkung diums wurde besonders am ungeliebten obligatori- [--> Schütrumpf, Protokoll Nr. 33]. schen Fach Marxismus-Leninismus deutlich. Damit dieses Fach, das oft — allerdings nicht immer — recht 1951 wurde das Institut für Gesellschaftswissenschaf- einseitig und unkritisch gelehrt wurde, von den Stu- ten beim ZK der SED — seit 1976 Akademie der dierenden auch wirk lich ernstgenommen wurde, Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED — mußte die Gesamtnote in Marxismus-Leninismus bei gegründet mit der Aufgabe, „Kader" für die Durch- der Festlegung der Diplomnote berücksichtigt wer- setzung des Marxismus-Leninismus in den Gese ll den. -schaftswissenschaften der DDR auszubilden. Viele der so Ausgebildeten wurden nach Abschluß ihrer Es bildete sich eine Art des Studiums heraus, das eher Dissertation an die Universitäten delegiert, wo sie oft Unselbständigkeit als wissenschaftliche Selbständig- Schlüsselpositionen übernahmen und die Linie der keit förderte [--> Mitter, Berg, Protokoll Nr. 33]. SED durchsetzten. Von der Akademie für Gese ll -schaftswissenschaften wurden auch Kräfte ausgebil- Immer wieder wurde versucht, die Verschulung auf- det, die für die Besetzung von geistes- und sozialwis- zubrechen und die Studierenden zu „eigenverant- senschaftlichen Lehrstühlen in der Bundesrepublik wortlichem Handeln " und „schöpferischem Denken" vorgesehen waren, um auf diese Weise für eine zu erziehen. Man versuchte, die gebremste Kreativität mögliche Wiedervereinigung geistig gerüstet zu sein in der DDR-Wissenschaft, besonders im Studium, [--> Schütrumpf, Protokoll Nr 33]. durch Reformen zu stimulieren: „wissenschaftlich produktives Studium", d. h. die Einbeziehung der Seit den siebziger Jahren spielte das Ins titut für Studierenden in die Forschung, alljährliche Durchfüh- Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED keine rung von Studententagen in Verantwortung der FDJ, wichtige Rolle mehr. Es blieb Produzent von promo- Begabtenförderung durch spezielle Stipendien und vierten Kadern. Weiterhin gepflegt wurde die gesell- von Schülern direkt durch die Universität, Leistungs- schaftswissenschaftliche Forschung. Doch die Ergeb- schauen, Auslandspraktika. Da die Partei aber auch nisse hatten kaum noch Wirkung auf die Politik der bei diesen Aktivitäten nicht über ihren Schatten SED. springen konnte, waren sie nur begrenzt erfolg- Eine politisch bedeutsame Rolle erhielt die Akademie reich. für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die eng mit der Sowjetischen Akademie der Wissenschaf- ten kooperierte und gemeinsame interdisziplinäre Forschungsprojekte durchführte. Daneben gab es Akademien und sozialwissenschaftliche Parteihochschulen der Blockparteien, die jedoch Einrichtungen kein Promotionsrecht besaßen. Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften trat nach 1985 anläßlich der Gespräche der SED-Führung mit der SPD bei der Im Zuge der 3. Hochschulreform wurde — sowjeti- Erarbeitung des SED-SPD-Papiers von 1987 [--> Schü- schem Vorbild entsprechend — die Akademie der trumpf, Protokoll Nr. 33] ins öffentliche Bewußt- Wissenschaften zur zentralen Forschungseinrichtung sein. der DDR umstrukturiert (zuletzt insgesamt 60 Ins titute mit ca. 25 000 Mitarbeitern). Hauptaufgabe war die Die eigentliche Kaderschmiede der SED, an der die
Grundlagenforschung vor allem in den Natur- und ersten und zweiten Kreissekretäre geschult wurden,
Technikwissenschaften. Die Geistes- und Sozialwis- war die Parteihochschule. Spitzenfunktionäre wurden senschaften banden nur etwa 10 vH des Potentials. zusätzlich an den Hochschulen der KPdSU qualifi-
Fächer, die weder einen ökonomischen noch militäri- ziert. schen Nutzen in ihrer Anwendung versprachen (z. B.
Klassische Philologie oder die Alte Geschichte) wur- Soziologische Fragen wurden bis zum Beginn der
den vernachlässigt. sechziger Jahre ausgeklammert. Bis dahin glaubte man, die Soziologie auf den historischen Materialis-
Mit der Umstrukturierung der Akademie der Wisssen- mus reduzieren zu können. Ab 1963/64 jedoch wurde schaften der DDR bahnte sich eine Entwicklung an, plötzlich der Ruf nach empirischer sozialwissenschaft-
die von dem alten Humboldtschen Ideal der Einheit licher Forschung durch das Politbüro laut (Schlagwort von Forschung und Lehre mehr und mehr Abschied „konkrete Sozialforschung"). Ein Ins titut für Mei- nahm. Gleichzeitig wurde versucht, die Wissenschaft nungsforschung wurde gegründet (bezeichnender-
dem Zugriff der SED total auszuliefern. An der Aka- weise wurde es dem Minister des Innern zugeordnet)
demie führte das dazu, daß alle fünf Jahre ein Zentra- sowie das bis zum Ende der DDR in der empirischen ler Forschungsplan aufgestellt wurde, der vom Polit-- sozialwissenschaftlichen Forschung führende Zen- büro des ZK der SED bestätigt werden mußte. Über tralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. Dieses war Einhaltung und Durchführung dieses Pl ans hatte die direkt dem Ministerrat, also der Regierung, unter-
Kreisleitung der SED zu wachen. Die ideologische stellt. Wenige Jahre nach seiner Gründung durfte Ausrichtung der Belegschaft der Akademie wurde dieses Institut seine empirischen Forschungsergeb- intensiviert, ebenso die straffe Anbindung an das ZK. nisse nicht mehr veröffentlichen und die instituts- Sicherheitspolitisch relevante Forschungsarbeiten eigene Zeitschrift „Jugendforschung" wurde einge- führten wohl dazu, daß die Staatssicherheit großen stellt.
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5.3 Lenkung und Instrumentalisierung Juristen" ausgebildet wurden. Die Stasi-Kader- der Forschung durch die SED schmiede besaß auch Promo tions- und Habilitations- recht, das sie mißbräuchlich für politische Zwecke Das Prinzip der Selbststeuerung der Wissenschaft nutzte [—> Expertise Voigt]. wurde von der SED-Führung auch für die Forschung In den ersten Jahren der SBZ/DDR wurde besonders außer Kraft gesetzt. Die Strukturen für die Forschung im Hochschulbereich die „Brechung des Bildungsmo- (Institutsgründungen oder -umstrukturierungen z. B.) nopols" der Bourgeoisie als Ziel verkündet und durch wurden von der Partei festgelegt, die Forschungsmit- entsprechende Maßnahmen (Förderung von Arbeiter- tel und von ihr als wich tig angesehene Forschungs- oder Bauernkindern) umgesetzt. In späteren Jahr- themen beschlossen, die leitenden Wissenschaftler zehnten kam es jedoch mehr und mehr zur Rekrutie- von ihr berufen. An den Hochschulen und Akademien rung der Studierenden aus den herrschenden Schich- hatten nach der 3. Hochschulreform die SED-Kreis- ten der Partei- und Militärbürokratie sowie aus der leitungen auch die Forschungspolitik zu bestimmen Intelligenz. Dem Ziel, hochqualifizierte, politisch aus- [—> Meyer, Schütrumpf, Protokoll Nr. 33]. gerichtete „Kader" heranzubilden, wurde durch Die Wissenschaftler gerieten aufgrund der externen strikte politische Auswahl nachgeholfen. So konnten Steuerung der Forschung unter Legitimierungs- männliche Studienbewerber ihre Aussichten, für lich zwänge. Es gab zwei grundsätzliche Begründungs- begehrte Fächer zugelassen zu werden, be trächt muster: Den Nutzen für die sozialistische Gesellschaft, erhöhen, wenn sie sich verpflichteten, drei Jahre statt den die jeweiligen Forschungsergebnisse erbringen achtzehn Monate ihren „Ehrendienst bei der Nationa- würden, und der ideologische Gewinn, der mit den len Volksarmee" abzuleisten. Die Hochschulen hatten auch die Aufgabe, „Kader" in höheren Leitungsposi- betreffenden Untersuchungen in der internationalen Klassenauseinandersetzung zu erzielen sei. Der For- tionen, die sich bereits politisch bewährt hatten, aber schungsalltag unterschied sich allerdings oft von die- keine ausreichenden Fachkenntnisse besaßen, fach- sen Begründungsvorgaben [—> Meyer, Protokoll lich weiterzubilden [--> Exper tise Voigt]. Der größte Nr. 33]. Die an den Universitäten und Akademien Teil der nur begrenzt anpassungsfähigen oder -berei- offiziell durchgeführte Forschung war in Plänen ten Wissenschaftler blieb im Mittelbau stecken, d. h. unterschiedlich hoher Ebenen niedergelegt. Es gab in meistens unbefristeten Stellen als wissenschaftliche Forschung, die in zentralen Staatsplänen verankert Assistenten oder Oberassistenten, in der Regel promo- war (sog. ZP-Themen), in Plänen auf Ministeriums- viert, oft auch habilitiert, aber ohne reale Aussicht, ebene (ZM-Themen) oder lediglich auf Universitäts- jemals als Hochschullehrer berufen zu werden. ebene.
Wegen der Ausrichtung auf den ökonomischen Nut- 5.4 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs zen war die Industrieforschung in der DDR stark mit der Wissenschaft entwickelt. Die Pläne Wissenschaft und Technik erfuhren durch Parteivorgaben besondere Wertung. Lehre und Forschung wurden einerseits direkt von der Diese Kampagnen entsprachen den auf Parteitagen SED gelenkt, andererseits zur „wissenschaftlichen" der SED vorgegebenen Hauptzielstellungen. Auf die Steuerung von Wirtschaft, Kultur, Bildung und allen entsprechenden Betriebe wurden Staatsplanthemen, Bereichen des gesellschaftlichen Lebens instrumenta- Arbeitskräfte, Investitionen und Mate rial konzen- lisiert. Die DDR ist ein Beispiel für den Versuch triert. Staatsplanthemen waren in der Regel gleichzei- externer Steuerung der Wissenschaft. tig unter Parteikontrolle [--> Jork, Protokoll Nr. 33]. Die Neuordnung des Hochschulwesens in den neuen Politisch als wichtig erachtete Forschungsthemen und Bundesländern hatte vor allem die Wiederherstellung -arbeiten wurden oft geheimgehalten. Das hatte zur der Freiheit der Wissenschaft durch eine angemes- Folge, daß ein freier Informationsaustausch innerhalb sene Struktur der Hochschulen und der Forschungs- der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht möglich einrichtungen zum Ziel, ferner den Wiederaufbau der war, nicht einmal im eigenen Land. kulturwissenschaftlichen Fächer, die Besei tigung des Faches Marxismus-Leninismus, die erneute Wieder- Offen ist, ob durch solche Geheimforschungen inter- herstellung der Einheit von Forschung und Lehre essante wissenschaftliche Erkenntnisse erbracht wur- durch Abbau bzw. Neustrukturierung der Akademie den. Erste Recherchen lassen die Vermutung sinnvoll der Wissenschaften und anderer Forschungseinrich- erscheinen, daß das in der Regel nicht der Fa ll tungen. Mit diesen strukturellen Neuordnungen ging gewesen sein dürfte, außer vielleicht im militärischen der Abbau enormer Überkapazitäten einher, vor Bereich [--> Expertise Voigt]. Als besonders kritische allem aber auch die Entlassung solcher Wissenschaft- Gebiete, in der die Geheimhaltung recht intensiv und ler, die sich zum Nachteil ihrer Kollegen und Studen- extensiv betrieben wurde, galten militärische Berei- ten in den Dienst des MfS hatten einspannen las- che, andere „sicherheitsrelevante" Themen (z. B. aus sen. der Kriminalistik), ökonomische Fragestellungen, sportwissenschaftliche Untersuchungen (z. B. zu Trai- Zur Bewältigung dieser Probleme wurden in den ningsmethoden von Leistungssportlern) und empiri- einzelnen Ländern unterschiedliche Wege einge- sche Forschungsergebnisse aus den Sozialwissen- schlagen, und es muß späteren Untersuchungen und schaften. Generell geheim war die Tätigkeit an der Berichten vorbehalten bleiben, ein differenziertes und Juristischen Hochschule Potsdam des MfS [--> Arbeits- umfassendes Bild über diese noch nicht abgeschlosse- gruppe Staatssicherheit], an der Staatssicherheitsoffi- nen Vorgänge zu entwerfen. Das Bemühen durch ziere im Direkt- und Fernstudium zu „Diplom- Evaluierungen und durch Stasi-Überprüfungen eine
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 gerechte Auswahl unter den Be troffenen vorzuneh- 5.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der men, scheint im großen und ganzen gelungen, wenn SPD und der Sachverständigen Faulenbach, auch in Einzelfällen zweifelhafte Entscheidungen Gutzeit und Weber zur Funktion von getroffen wurden [---> AG Seilschaften]. Der Wieder- Wissenschaft und Forschung in der DDR aufbau einiger besonders be troffener Fächer war nur durch Berufungen westdeutscher oder ausländischer „Die Arbeitsgruppe der SPD in der Enquete-Kommis- Professoren möglich, weil in der DDR dafür überhaupt sion hält es für angebracht, in den Abschlußbericht kein qualifiziertes, nicht-kompromittiertes und erfah- keinen Abschnitt über das Thema Wissenschaft (und renes Hochschulpersonal vorhanden war. Forschung) aufzunehmen. Dafür gibt es a) formale und b) sachliche Gründe: Dies alles zusammengenommen führte zu mancher Unzuträglichkeit und wurde und wird von den Betrof- a) Die Kommission konnte sich aus Zeitgründen dem fenen vielfach nicht ganz verstanden oder falsch Thema nicht in der notwenigen Intensität zuwen- interpretiert. Durch die „Feststellung der Gleichwer- den. Zu den wichtigsten Problemkreisen wurden tigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Arti- keine Expertisen erstellt. In einer Anhörung wur- kel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages" wurden Aner- den nur Teilaspekte des Themas erörtert, so daß kennungen und Anerkennungsverfahren für alle mit zwangsläufig kein halbwegs vollständiges Bild von den Abschlüssen der alten Bundesländer vergleichba- der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in ren Bildungsabschlüssen der DDR durch die Kultus- der DDR bis zur Wende im Herbst 1989 sowie von ministerkonferenz der Länder festgelegt. Für die Stu- ihrer strukturellen wie ideologischen Bedeutung dierenden aus den neuen Bundesländern bedingt die für das Herrschaftssystem entstehen konnte. neue Situation an den Hochschulen (Strukturände- rung, Freiheit der Wissenschaft und Forschung), eine b) Eine nur beiläufige oder verknappte Darstellung erhebliche Umstellung und ein hohes Maß an Selb- der Funktion von Wissenschaft und Forschung in ständigkeit. der DDR widerspräche zunächst einmal dem Anspruch jener Menschen auf gerechte Beurtei- lung, die häufig ein ganzes Leben im Wissen- schafts- und Forschungsbetrieb der DDR verbracht 5.5 Offene Fragen und Forschungsdesiderata haben. Sie würde aber auch nicht dem Stellenwert gerecht, den dieses gesellschaftspolitische Ak- Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED-Staat tionsfeld für die Herrschenden besessen hat. Für konnten von der Enquete-Kommission nicht einge- die hier notwendige und hinreichende Akkura- hend behandelt werden, so daß gerade in diesem tesse wäre die systematische Klärung einer Reihe Bereich vielfältige Themen für die weiterführende grundsätzlicher Fragen notwendig gewesen. Forschung empfohlen werden müssen: Hierzu gehörte: — Exemplarische Studien über einzelne Hochschu- len und Wissenschaftsdisziplinen sowie das Ver- — die Definition der Begriffe „Wissenschaft", halten von Wissenschaftlern bei dem Versuch der „Forschung" und vor allem „Wissenschaftlich- SED, die wissenschaftliche Entwicklung durch- keit" sowie „Wahrheit" im ideologischen gängig extern zu steuern Sprachhaushalt des in der DDR propagierten Marxismus-Leninismus (ML) — Auswirkungen marxistisch-leninistischer Dogmen und Prägungen auf die Geisteswissenschaften und — die Analyse der Folgen jener verhängnisvollen die Rolle und Funktion von Parteiinstitutionen im Tatsache, daß der ML in dogmatischer Weise als Bereich vor allem der Geisteswissenschaften eine Art „Oberwissenschaft" verordnet und bis in die Forschungsergebnisse der Einzelwissen- — Die Rolle der Industrieforschung in der DDR und schaften hinein als Kontrollinstrument der Wis- ihre Wirksamkeit in der sozialistischen Planwirt- senschaftsfunktionäre der SED eingesetzt schaft wurde — Auswirkungen der Bündnispolitik der SED mit der Intelligenz auf die Gegenwart — die sorgsame Analyse des Verhältnisses von Grundlagen- zur angewandten, von Akademie-, — Umfang und Ergebnisse nichtregulärer Forschun- Universitäts- und Industrieforschung in der gen in der Wissenschaft der DDR infolge persönli- DDR. In diesem Kontext wäre die Frage zu chen Engagements von Wissenschaftlern beantworten, warum die — auch im internatio- nalen Vergleich — erheblichen Mittel, die die — Ursachen und Folgen aus ideologischen Gründen SED über vier Jahrzehnte für Wissenschaft und verhinderter und abgelehnter Qualifikationsarbei- Forschung ausgegeben hat, in einigen Berei- ten an den Universitäten und Hochschulen der chen nur Mittelmäßigkeit erzeugt haben, und DDR warum in anderen, zumeist den natur- bzw. — Ursachen und Bedingungen für hohe Leistungen in technikwissenschaftlichen aber beachtliche, einzelnen Wissenschaftsdisziplinen trotz der stän- auch international beachtete Resultate erzielt digen Versuche der externen Einflußnahme, so in wurden der Linguistik oder in der Psychologie — die Kaderpolitik an den Lehr- und Forschungs- — Untersuchung der Frage, ob die Ausweitung von einrichtungen in den einzelnen Phasen der Fachschulen als Kompensation für die Einschrän- DDR-Geschichte einschließlich ihrer Auswir- kung des Hochschulstudiums zu werten ist. kungen auf die Lage der Studentenschaft und
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ihr Selbstverständnis (Versorgungsmentalität, formulierten ideologischen Herrschaftsanspruch. Anpassungsverhalten etc.) Ende der vierziger Jahre wurde die Kultur dann offen den Maßgaben einer stalinistischen Herrschaftspraxis — die (Anleitungs-) Funktion der außeruniversitä- unterworfen. ren, insbesondere der SED-Ins titute mit wissen- schaftlichem Anspruch (AfGW, IPW, IfML, Insti- Im Rückblick auf 45 Jahre SBZ/DDR läßt sich erken- tut für Meinungsforschung, Hochschule „Karl nen, daß die Kulturgeschichte der DDR einerseits zu Marx" etc.) einer Geschichte „verlorener Illusionen", anderer- seits zu einer Geschichte „ästhetischer Selbstbehaup- — die Erörterung der Frage, welche Folgen die tung" geriet [--> Expertise Thomas]. Damit wird ein ideologisch fixierte Vorstellung von der Pl an Grundkonflikt markiert, der die kulturellen Prozesse -barkeit von Wissenschaft und Forschung in der in der SBZ/DDR über vier Jahrzehnte in wechselhafter Praxis gehabt hat Ausprägung bestimmen sollte: Es war das Ziel der — die Darstellung der Formen der Abschottung Staatspartei, eine institutionelle Kultur zu etablieren, von Wissenschaft und Forschung von den inter- die den Normen ihrer utilitaristischen Scheinästhetik nationalen Kommunikationsströmen, v.a. den folgen sollte. Andererseits war es die Sehnsucht vieler westlichen, und ihre Folgen, einschließlich der Künstler einen authentischen Ausdruck für ihre internen, z. T. ins Absurde gesteigerten Ge- eigene Welt- und Selbsterfahrung zu finden sowie heimhaltungspraxis, die weit über den militär- eine autonome Kultur zu entwickeln. wissenschaftlichen und sicherheitspolitischen Dieser Antagonismus zwischen institutioneller und Bereich hinausreichte autonomer Kultur wurde auf unterschiedliche Weise — die Analyse der mittel- und unmittelbaren Ein- verarbeitet und führt auch heute noch zu einer unter- griffe der Partei in den Lehr- und Forschungs- schiedlichen Einschätzung der SED-Kulturpolitik und betrieb. ihrer Wirkungen in der ehemaligen DDR. Dies kam auch im Rahmen der Anhörung „Kunst und Kultur in Dieser Aufgabenkatalog ist nicht vollständig. Schon der DDR" und in manchen einschlägigen Expertisen die genannten Themenkomplexe lassen sich aber zu diesem Thema zum Ausdruck. Die Enquete-Kom- nicht en passant oder, wie im vorliegenden Fall, im mission hat einige dieser Widersprüche zu beleuchten Weg eines rhapsodischen Eklektizismus erledigen. versucht. Dabei ist deutlich geworden, daß auch im Für die Aufarbeitung der Geschichte eines Systems, Kulturbereich noch eine Fülle von Forschungsarbei- dessen Träger sich jeder Kritik mit dem Hinweis ten zu leisten ist. entzogen, daß ihre Politik auf einer wahren, weil „wissenschaftlichen Weltanschauung" beruht, ist — Waren bildende Kunst und Literatur tatsächlich jedoch die adäquate Bewertung der Funktion gerade immer nur Formen parteilicher Kultur, eine Waffe von Wissenschaft und Forschung unerläßlich. Hierbei zur weiteren Durchsetzung bzw. zur Aufrechter- wären insbesondere die schon vorliegenden Ergeb- haltung der politischen Herrschaft der SED-Füh- nisse der Wissens- und Wissenschaftssoziologie zu rung? berücksichtigen. Angesichts des Zeit- und Arbeits- — Waren Kunst und Literatur ausschließlich Waffen drucks, unter dem die Kommission stand, war das für den Sozialismus, wie Kurt Hager meinte? leider nicht möglich." — Setzt ein totalitäres Herrschaftssystem nicht auch schöpferisch künstlerische Energien frei oder ist Kultur nicht steuerbar, in ihren Wirkungen unbe- 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit rechenbar, nicht abschirmbar gegenüber uner- wünschten Einflüssen? Vorbemerkung Dem Streit um die „Gesinnungsästhetik" folgte der Schock über die Skrupellosigkeit, mit der die Staats- Das SED-Regime versuchte, alle kulturellen Bereiche sicherheit die Kulturszene zu unterminieren suchte. .in den Dienst einer „Staatskultur" zu stellen. Bildende Zeitweilig wurde gar der Eindruck erweckt, als Kunst wie Literatur, Theater und Film, Musik, die könnte unter den Bedingungen einer Diktatur keine Kulturwissenschaften und die Architektur sollten die wirkliche Kunst entstehen, sondern nur eine „Staats- aus ideologischen Gründen verordneten Richtungen, kultur". Es ist offenkundig, daß es in der DDR eine vor allem den „sozialistischen Realismus" vertreten „Staatskultur" gegeben hat und sich „Kulturschaf- und das Bild des „sozialistischen Menschen" propa- fende" den bornierten Maßgaben der SED-Politik und gieren. Mittel der Durchsetzung dieser Ziele waren dem Reglement des Überwachungsstaates unterwor- die offene oder indirekte Zensur und ein Instrumenta- fen haben. Damit gewinnt die alte Frage nach dem rium von Kontroll-, Belohnungs- und Bestrafungsmaß- Verhältnis von Geist und Macht eine beklemmende nahmen, von der Vergabe von Preisen und Gewäh- Aktualität. In aller Regel hat die SED mit ihrer Politik rung von Privilegien, bis hin zur Verweigerung von die Kultur gezähmt und beschädigt. Die Kulturpolitik Vergünstigungen, dem Ausschluß aus Verbänden, blieb somit ein unerträglicher Störfaktor für die Künst- der strafrechtlichen Verfolgung oder der Ausweisung, ler [--> Jäger, Protokoll Nr. 35]. der Überwachung und „operativen Bearbeitung" Die Aufarbeitung der Kulturpolitik in der DDR steht durch das MfS [–> Walther, Protokoll Nr. 35]. aufgrund der jetzt zugänglichen Aktenbestände noch Anfangs verdeckte der demonst rierte Konsens den ganz am Anfang. Das gesamte Geflecht, die Einzel- von der KPD-Führung bereits 1944/45 in Moskau vorgänge, auch die Publikationsschicksale einzelner
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Werke, die Wege und Umwege von Personalentschei der Wahl der ästhetischen Mittel nicht zu mehr dungen usw. können erst durch den zusammenfassen widerständigem Verhalten der Künstler geführt, als es den Vergleich der Unterlagen des Kulturministeri vorher beobachtet werden konnte. Vielmehr gelang ums, der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees, es der SED mit Hilfe ihrer flexibleren Haltung, Rei- der Künstlerverbände, einschließlich der Akademie bungsverluste zwischen ihrer Kulturpolitik und den der Künste und der Staatssicherheit, voll erschlossen Künstlern abzubauen. Eine kulturpolitische Groß- werden. kampagne war der 1959 initiierte „Bitterfelder Weg". Künstlerisch tätige Laien sollten im Sinne des Slogans „Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalliteratur braucht dich! " mobilisiert werden. 6.1 Der kulturpolitische Anspruch der SED-Führung Außerdem sollten Künstler in die Betriebe gehen, um und Phasen der SED-Kulturpolitik den Werktätigen die Kunst nahezubringen. Aber bald wurde sichtbar: Diskussionen der Werktätigen zeig- Der Neuaufbau der Kulturlandschaft Deutschlands ten den Betriebsalltag zu kritisch, ließen die Planer- nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in der sowjeti- und Leiterebene vermissen, waren propagandistisch schen Besatzungszone sehr früh. Künstler, Intellektu- eher untauglich — insgesamt blieb auch die künstle- elle und Wissenschaftler kamen aus dem Exil zurück, rische Qualität zu weit zurück. Die „kulturrevolutio- nicht zuletzt deshalb, um einen Beitrag zum Aufbau näre" Initiative Bitterfeld, eine Ini tiative von oben, einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung zu wurde zuerst abgeschwächt, dann ganz begraben. leisten, wie von der KPD im Juni 1945 und wenig später von den anderen in der sowjetischen Besat- Die Kafka-Konferenz (27./28. Mai 1963) markierte in zungszone zugelassenen Parteien verkündet wurde. der Kulturpolitik der sechziger Jahre eine Zäsur. Jedoch vollzog sich dieser Neuaufbau unter der Parole Franz Kafkas Werk erschien auch als ein Deutungs- des Antifaschismus von Anfang an selektiv; d. h. muster für die Undurchsichtigkeit des bürokratischen bereits vor der Gründung der DDR hatte die sowjeti- Systems des Stalinismus. Eine Aktualisierung Kafkas sche Besatzungsmacht und die KPD bzw. spätere SED im Sinne einer literarisch gestalteten Anwendung der ihre kulturpolitischen Ziele zumindest perspektivisch Entfremdungstheorie auf das sozialistische System formuliert und zum Teil realisiert [–> Jäger, Protokoll selbst mußte zu einer politisch folgenschweren Nr. 35]. Erschütterung führen. Im Inneren wurden die Künst- ler auf eine parteiliche Kunst und Literatur „im Dienst Schon 1948 wurde vom Büro der Kominform verkün- von Volk und Fortschritt", auf den „sozialistischen det, daß es in den „Volksdemokratien" in der Kultur Realismus" verpflichtet [—> Exper tise Mechtenberg; keine eigenen Wege geben könne. Wie zuvor in der Jäger, Protokoll Nr. 35]. Sowjetunion wurde moderne Kunst in der Malerei und Architektur (so die Kampagne gegen die Bauhaus Unter den Bedingungen der DDR bestand aber seit Tradition) unterbunden. Hatten zunächst noch sowje- jeher ein Spannungsverhältnis zwischen der staatli- tische Kulturoffiziere zonenübergreifende Initiativen chen Kulturpolitik auf der einen und den „Kultur- gefördert und künstlerische Freiräume gesichert, schaffenden" auf der anderen Seite. Die Durchset- wurde der Einfluß des Stalinismus seit Anfang 1948 zung der Ziele der SED-Kulturpolitik über die Par- immer stärker. teiorganisationen auf den verschiedenen Ebenen, die staatlichen Organisationen sowie die einzelnen Die Kulturpolitik in der DDR hatte die Aufgabe, die Künstlerverbände blieb ein widerspruchsvo ller Pro- Herausbildung von sozialistischen Denk- und Verhal- zeß, der sich sowohl in verordneten Maßnahmen, als tensweisen zu fördern. Künstlergruppen, Kunsthoch- auch im nachträglichen Reagieren auf künstlerische schulen und Verbände wurden systematisch gleich- Entwicklungen vollzog. Die innere und die äußere geschaltet und Kunstwerke, die nicht den Vorstellun- Situation blieben maßgebend für die Art und Weise, in gen der Kulturabteilung des ZK der SED entsprachen der die Konflikte zwischen den „Kulturschaffenden" und von der vorgegebenen Sicht von der Rolle der und der Obrigkeit ausgetragen wurden [--> Bentzien, Partei und ihrer Politik abwichen, als dekadent und Protokoll Nr. 35; Bericht Michalk]. abweichlerisch verurteilt. Exemplarische Beispiele für die Konfliktaustragung Die „Kunstschaffenden" sollten ihren Beitrag zur zwischen den Kulturschaffenden und der Obrigkeit Festigung der kommunistischen Ideologie leisten und waren das gewaltsame Ende des Prager Frühlings zur Prägung der „sozialistischen Persönlichkeit" bei- 1968 und die Machtübernahme Honeckers 1971 in der tragen. Die entschiedene Parteinahme für den Sozia- DDR. In Ulbrichts harmonisches Konzept der „soziali- lismus beinhaltete zugleich ein Freund-Feind- stischen Menschengemeinschaft " ließ sich die subjek- Schema, das einerseits mit Hilfe der Kunst seinen tive Erfahrung widerspruchsvoller Wirklichkeit nicht ästhetischen Ausdruck finden sollte, das andererseits einfügen. So erscheint es beinahe zwangsläufig, daß aber auch zur Ablehnung „bürgerlich-dekadenter" sich die Kluft zwischen Kunst und Kulturpolitik zuneh- Kunstrichtungen und -entwicklungen führen konnte. - mend vertiefte. Erinnert sei hier an die „ismen"-Debatten (z. B. For- malismus) der fünfziger und sechziger Jahre, oder die Der Rücktritt Ulbrichts weckte zunächst neue Hoff- Ablehnung der Rock-Musik durch Ulb richt. In den nungen. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 siebziger Jahren änderte sich hier allerdings die registrierte der neue Parteichef, E rich Honecker, Taktik der Kulturpolitik. Die Künstler erlangten eine „Oberflächlichkeit, Außerlichkeit und Langeweile" in größere Freiheit in der Wahl der Form ihrer künstle- der DDR-Kultur und ermutigte die „Suche nach neuen rischen Mittel, ohne damit den Protest der SED Formen". Die Künstler sollten die „Breite und Vielfalt hervorzurufen. Allerdings hat die größere Freiheit in der Lebensäußerungen" mit dem „Reichtum ihrer
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Handschriften und Ausdrucksweisen" ausschöpfen Ausgehend von dem ideologisch bedingten Selbstver- und dadurch zur Prägung der „sozialistischen Persön- ständnis der Führungseliten und ihres Kulturbegriffes, lichkeit" beitragen. Es sollte keine „Tabus" geben, der dem „kommunistischen Klassenstandpunkt" und wenn man von „festen sozialistischen Positionen aus- damit der „sozialistischen Lebensweise" entsprechen geht" — erklärte Honecker im Dezember 1971. mußte, standen Parteilichkeit, „Volksverbundenheit" und „sozialistischer Ideengehalt" als Anspruch im Die Veröffentlichung verschiedener zurückgehalte- Mittelpunkt von Äußerungen, Richtlinien, Vereinba- ner Werke, zu denen u. a. Stefan Heyms „König David rungen und Aktivitäten. Gemeint war damit aber, daß Bericht", Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des die Auswärtige Kulturpolitik zuerst und vor allem den jungen W. " und Brigitte Reimanns „Franziska Linker politischen Interessen der DDR-Führung, der Ver- hand" zählten, wurde als Indiz für eine hoffnungsvolle wirklichung des sozialistischen Internationalismus Entwicklung aufgefaßt. Spätestens im Herbst 1976 sowie der Strategie und Taktik der nationalen Befrei- war das Ende aller Träume auf einen wirklichen ungsbewegungen in der Dritten Welt zu dienen hatte. Wandel der Kulturpolitik gekommen. Rainer Kunze Im Zuge der Entspannungspolitik hat sie darüber wurde nach der Veröffentlichung seines Buches „Die hinaus einen besonderen Beitrag zur Politik der wunderbaren Jahre" in der Bundesrepublik am „friedlichen Koexistenz", d. h. der Zusammenarbeit 26. Oktober 1976 aus dem Schriftstellerverband der unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zu leisten, DDR ausgeschlossen und konnte im April 1977 in die ohne jedoch den Klassenantagonismus in Frage zu Bundesrepublik ausreisen. Wenige Tage nach einem stellen. Konzert in Köln wurde Wolf Biermann am 16. Novem- ber 1976 die Staatsbürgerschaft der DDR entzogen Im Rahmen und als zusätzliches Instrument der Aus- und damit eine Zwangsausbürgerung veranlaßt, die wärtigen Politik wurden der Auswärtigen Kulturpoli- der ZK-Sekretär Kurt Hager zynisch als „reinigendes tik drei besondere Aufgaben übertragen: Gewitter" bezeichnete. Die „adminis trative Blitzak- — die Integration der sozialistischen Staaten nach tion" (M. Jäger) wurde von vielen Künstlern der DDR besten Kräften zu fördern als Schock empfunden. — offensiv die ideologische Auseinandersetzung des Die politische Reaktion der SED-Führung zerstörte Sozialismus mit dem „Imperialismus" mit allen jede Illusion. Aus dem „Fall Biermann" war ein kulturellen Mitteln zu unterstützen, um gleichzei- kulturpolitischer Grundkonflikt geworden, der den tig endgültigen Bruch zwischen Geist und Macht herbei- defensiv den „zersetzenden" Einfluß der „bürger- führte. Der kulturpolitische Klimawechsel äußerte — chen Pseudokultur" zu bekämpfen. Diese Auf- sich nicht nur in verschiedenen Parteiausschlußver- li gabe wurde nach Unterzeichnung der KSZE- fahren, sondern wurde vor allem durch die Ausreise Schlußakte (1975) im Hinblick auf den Korb III zahlreicher prominenter Künstler (wie E rich Loest, (Informationsfluß usw.) noch dringlicher. Rainer Kunze, Angelika Domröse, Hilmar Thate, Armin Mueller-Stahl, Manfred Krug, Günter Kunert, Nach der weltweiten Anerkennung der DDR und der Sarah Kirsch) bestätigt [--> VI. Themenfeld]. Dieser Aufnahme in die UN (1973) änderten sich die Schwer- Exodus wurde von der skrupellosen SED-Kulturpoli- punkte der Auswärtigen Kulturpolitik. In den Vorder- tik zunächst als Entlastung von Konflikten be trachtet, grund trat nunmehr die wachsende Konkurrenzsitua- doch bedeutete er vor allem einen wachsenden Pre- tion mit den kulturpolitischen Einflüssen der Bundes- stige- und Substanzverlust. Die Verstörung und Resi- republik Deutschland im Zeichen der Propagierung gnation vieler Künstler wurde vom Mißtrauen der einer „sozialistischen Nation" , verbunden mit einer SED-Politiker begleitet, die zu den Mitteln der Diffa- unmißverständlichen Abgrenzung von der Bundesre- mierung, der verschärften administrativen Kontrolle publik — also das Streben nach einer eigenen kultu- und der Überwachung durch die Staatssicherheit rellen Identität. Dieses Programm konnte allerdings griffen, um auf diese Weise die Kulturszene zu unter- nicht überzeugen, wie dies u. a. die Reaktionen in drücken. In der Kulturpolitik war eine neue Eiszeit mehreren sozialistischen Staaten des Warschauer angebrochen. Paktes und anderen Industrienationen verdeutlicht haben. Trotz beachtlicher Einzelerfolge konnte die Auch die Auswärtige Kulturpolitik der DDR hat bei Auswärtige Kulturpolitik der SED zu keinem Zeit- der angestrebten Systemstabilisierung des sozialisti- punkt — sieht man einmal vom Sport ab — die schen SED-Staates eine stetig wachsende, nicht zu Überlegenheit der „sozialistischen deutschen Natio- unterschätzende Rolle gespielt. Es dürfte jedoch nicht nalkultur" im Ausland beweisen. Das lag in erster leicht fallen, die De-facto-Wirkungen im Ausland im Linie an der Herrschaftspraxis der SED-Führung, der Sinne der jeweiligen Zielsetzung angemessen zu Mißachtung von Menschenrechten und dem einge- bewerten. Sicherlich waren diese regional unter- schränkten Handlungsspielraum für die Bürgerinnen schiedlich. Dort, wo die DDR weniger mit einer und Bürger der DDR Jacobsen, Protokoll Nr. 36]. Systemkonkurrenz (Bundesrepub lik Deutschland) zu- rechnen hatte, dürften sie nachhaltiger gewesen sein. Jedoch hat die Auswärtige Kulturpolitik in zahlrei- chen Fällen mitgeholfen, die Aufnahme diplomati- 6.2 Die Rolle der kulturellen Verbände bei der scher Beziehungen der DDR mit anderen Staaten zu Instrumentalisierung der Kultur erleichtern und die zunehmende Bedeutung des zwei- ten deutschen Staates in der internationalen Politik zu Der am 14. Juli 1945 gegründete Kulturbund trat als verdeutlichen [--> Jacobsen, Protokoll Nr. 36]. „antifaschistische Sammelbewegung" auf. Ursprüng-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 lich zur Stärkung des klassisch-humanistischen Erbes 6.3 Die Steuerung der kulturellen Tätigkeiten durch und zur Überwindung der Folgen des Nationalsozia- Repressionen und Privilegierung lismus gedacht, wurden auf diesem Wege die Künstler in eine kontrollierende Organisa tion eingebunden Obwohl offiziell eine Zensur bestritten wurde und und instrumentalisiert. Nur in den ersten Nachkriegs- man allenfalls von Maßnahmen zur Ausschaltung jahrenkonnten sich unter dem Dach des Kulturbundes feindlicher Einflüsse sprach, gab es mit der „Anord- unterschiedliche Posi tionen artikulieren. Die propa- nung über das Genehmigungsverfahren für die Her- gierten Leitsätze des Kulturbundes traten bereits in stellung von Druck- und Vervielfältigungserzeugnis- den Anfangsjahren zunehmend als angewandte Prin- sen" seit 1959 eine Handhabe für die Durchsetzung zipien der sozialistischen Kulturpolitik zutage. Letzt- der staatlichen Kontrolle. Vorbild für die Zensurme- lich war auch der Kulturbund — wie die anderen chanismen war die Sowjetunion [--> Faust, Protokoll Massenorganisationen — ein „Transmissionsriemen", Nr. 35]. eine Verbindung zwischen Partei und bestimmten Das 3. Strafrechts-Änderungsgesetz vom 28. Juni Bevölkerungsschichten [--> Expertise Mechtenberg; 1979 stellte die Weitergabe von „Nachrichten, Manu- Jäger, Protokoll Nr. 35]. skripten und anderen Mate rialien, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden" unter S trafe. Damit hatte sich Partei und Staat ein Rechtsmittel Der Verband Bildender Künstler war das entschei- geschaffen, das als latente Drohung über jeder nicht dende Werkzeug, um in diesem Bereich der Kunst genehmigten Drucklegung eines Manuskripts in der Zensur auszuüben. Mitgliedschaft in dem Berufsver- Bundesrepublik schwebte und der Partei den Ermes- band eröffnete — nach einer dreijährigen „Probezeit" sensspielraum gab, gegen kritische Schriftsteller als Kandidat — die Möglichkeit, künstlerisch tätig zu strafrechtlich vorzugehen. werden; denn der Verband vergab die Aufträge von Betrieben und den Abteilungen Kultur der Räte der Steuerungselemente in der Kulturpolitik waren z. B. Bezirke an die Künstler. Zensur wurde auch über den materielle Anreize, die bewußt eingesetzt wurden, Staatlichen Kunsthandel ausgeübt, der die Künstler jedoch oft eine Eigengesetzlichkeit entwickelten und auswählte, deren Werke ausgestellt werden durften den literaturpolitischen Zielsetzungen der SED-Füh- [--> Bohley, Protokoll Nr. 35]. rung oftmals entgegenwirkten. Die wich tigsten Anreize für Schriftsteller waren die hohen Auflagen, die bei der 1. Auflage durchschnittlich zwischen Der Schriftstellerverband, 1952 auf dem III. Deut- 10 000 und 25 000 Exemplare erreichten. Die Kalku- schen Schriftstellerkongreß gegründet, hatte eine lation beruhte auf gesichertem Absatz bei den zahl- Monopolstellung in der DDR, die weitgehend unter- reichen Büchereien der Betriebe und gesellschaftli- binden konnte, daß oppositionelle Schriftsteller in der chen Organisationen, dem stark ausgebauten öffent- Öffentlichkeit auftraten. Eine Aufnahme in den lichen Bibliothekswesen und der vielfach geübten Schriftstellerverband setzte eine kontinuierliche Praxis, Bücher als Prämien zu verschenken. Diese staatsloyale schriftstellerische Arbeit voraus; außer- materiellen Anreize (u. a. auch hohe Entgelte für dem benötigten die Kandidaten zwei Bürgen für die Fernseh- und Hörspiele, Anstellungen als Lektor oder Aufnahme. Die Mitgliedschaft im Schriftstellerver- Dramaturg) wurden durch ein ausgedehntes System band verbürgte einen bestimmten Anspruch auf von Preisen ergänzt. Wohn- und Arbeitsraum, auf Stipendien und Reisen, auf Kranken- und Sozialversicherung und hatte die Folge, daß die Schriftsteller im Verständnis der Behör- den als Berufstätige galten und nicht Gefahr liefen, 6.4 Die Rolle des MfS in die Nähe des kriminell Straffälligen zu geraten. bei der Durchsetzung der Kulturpolitik Nach der rechtswidrigen Biermann-Ausbürgerung wurde die Aufnahme in den Schriftstellerverband Das Thema DDR-Literatur und Staatssicherheit steht zunehmend restriktiver gehandhabt. Bewarben sich neben dem der Verstrickung der Kirchen und einzel- Schriftsteller nicht um die Aufnahme in den Schrift- ner Politiker an herausragender Stelle des öffentli- stellerverband, wurde ihnen die Arbeitsmöglich- chen Interesses. keit in der DDR in absehbarer Zeit erschwert und schließlich verwehrt [-> Exper tise Michael; Bericht Das Ministerium für Staatssicherheit verfügte über Michalk] . wenig Einsicht in die Besonderheiten von Literatur und Kunst. Sein Instrumentarium war darauf gerich- tet, primär die ideologischen Abweichungen und Zur kulturpolitischen Abhängigkeit gehörte auch die Gefährdungen zu messen. Der SED-Staat gründete Parteizugehörigkeit der Mehrzahl der Präsidiums- seine niemals legi timierte, usurpierte Macht nicht mitglieder des Schriftstellerverbandes, unter ihnen — unwesentlich auf eine normierte Sprachregelung, um wie wir heute wissen — zahlreiche Inoffizielle Mitar- Denk-Tabus hinter Worthülsen zu verstecken. In solch beiter (IM). Eine Vernetzung mit dem ZK der SED war einer Gesellschaft wird unreglementiertes Denken zudem durch den Präsidenten Hermann Kant gege- und Sprechen, wird das frei geführte Wort tatsächlich ben. Diese enge Verbindung von Politbüro, ZK, MfS und notwendigerweise zur Bedrohung des s treng und Parteiorganisation mit dem Schriftstellerverband bewachten Scheins. Dieses Unvermögen schuf Unsi- bot die Garantie dafür, daß kulturpolitische Be- cherheit, Mißtrauen bei den ohnmächtig Mächtigen schlüsse der SED innerhalb des Schriftstellerverban- und löste letztendlich den Impuls aus, die Kunst im des umgesetzt wurden. ganzen, wenn sie schon nicht total beherrschbar war,
Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode vendoch wenigstens „Liberalität" umfassend zu überwachen. und Auflockerung Diese gegeben. Es hat mit den Jahren zunehmend hypertrophe Tendenz läßt gewiß eine „Staatskultur" gegeben. Besonders sich auch an der strukturellen und quantitativen augenfällig ist dies in der Architektur und in der Ausweitung der „literaturoperativen" Abteilung des inhaltlichen Gestaltung von Museen und Gedenkstät- MfS belegen [--> Walther, Protokoll Nr. 35; Exper tise ten [–> 6.8]. Im Bereich der Literatur und der bildenden Michael]. Kunst sind die Normen der SED jedoch immer wieder auch verletzt worden. Schriftsteller wählten den Aus- Der strukturelle Zugriff des Staatssicherheitsdienstes weg, ihre Werke in Westdeutschland zu veröffentli- auf die Bereiche Kultur, Bildung und Wissenschaft chen oder ganz in den Westen überzusiedeln, ihre erfolgte 1954 mit der Einrichtung einer Hauptabtei- Rückwirkung in die DDR war ihnen trotz alledem lung (HA V). 1969 — nach dem Prager Frühling — sicher. Doch auch die in der DDR erschienene Litera- verfügte Mielke die Schaffung einer eigenständigen tur überschritt den offiziellen Rahmen oft, die „Bot- Hauptabteilung (HA XX), deren vornehmliche Auf- schaften" steckten zwischen den Zeilen. gabe es bis 1989 war, das kulturelle Leben der DDR mit all seinen Einrichtungen zu kontrollieren und für Das tatsächliche Kunstschaffen vollzog sich demnach, eine reibungslose Durchsetzung der SED-Kulturpoli- nicht zuletzt wegen der flächendeckenden Überwa- tik zu sorgen. Das MfS observierte Schriftsteller und chung des kulturellen Bereichs durch das MfS, im ließ die Führungspositionen in Verlagen, Verbänden Schatten der SED-Politik, zugleich aber vielfach auch und anderen Kulturorganisationen mit Inoffiziellen im Streben nach mehr Autonomie und nach Auswei- Mitarbeitern besetzen. Nach den aufsehenerregen- tung der — je nach ideologischer Linie schwankenden den Vorgängen um Biermann, Havemann, Kunze u. a. — zugestandenen Freiräume. Anstelle einer uner- wurden die Aktivitäten der Stasi flächendeckend reichbaren Totalvereinnahmung mußte sich die SED ausgeweitet. Besondere Aufmerksamkeit widmete mehr und mehr mit einer flexiblen — teilweise auch das MfS ab 1979 dem künstlerischen Nachwuchs, um die Wünsche der Künstler und des Publikums berück- Ansätze auch systemimmanenter Kritik möglichst im sichtigenden — Kontrolle begnügen, blieb mit dieser Keime zu ersticken. Etwa 30-40 vH der Mitglieder aber insoweit erfolgreich, als auch in der Kunst Kritik des Präsidiums und Vorstandes des Schriftstellerver- im System nur bis zu einem gewissen Grad artikulier- bandes und des Verbandes Bildender Künstler waren bar, Grundsatzkritik am System — soweit sie über- Inoffizielle Mitarbeiter. Personen, die im kulturellen haupt gewollt war — öffentlichkeitsunfähig blieb Alternativbereich tätig waren und nicht als IM der H Schubert, Protokoll Nr. 36]. Staatssicherheit hervorgetreten sind (etwa fünfzehn bis zwanzig vH), wurden in Opera tiven Vorgängen verfolgt und observiert [–> Walther, Protokoll Nr. 35; Expertise Michael]. 6.5 Altemativkultur in der DDR Mechtenberg u. a. erbrachten aber auch den Nach- weis, daß für die DDR-Literatur in ihren besten Ver- In der DDR hatte sich in den achtziger Jahren eine tretern und Werken ein Emanzipationsprozeß von den „alternative/autonome Kultur" energisch zu Wort Auflagen der Kulturpolitik kennzeichnend war, der gemeldet. Sie bezeugt das künstlerische Selbstver- auch durch repressive Maßnahmen des MfS nicht ständnis einer Generation, die zwar in die DDR aufzuhalten war. Der schmerzliche, doch literarisch „hineingeboren" war, diese aber nicht mehr als ihr produktive Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin, eigenes Land erfahren wollte. Sie bezeugt die Skepsis der das Autonomiestreben bestimmte, hat nicht nur und den Widerstand einer Genera tion, die in ihrem Werke von literarischem R ang hervorgebracht, son- Staat nicht mehr eine fortschrittliche „Übergangsge- dern auch zu einer geistigen, letztlich auf die Über- sellschaft" sah, sondern eine „Untergangsgesell- windung des repressiven Systems gerichteten Ent- schaft". Die Erfahrungen dieser Generation hat Rei- wicklung beigetragen. Daher muß entgegen einer ner Müller in einer Würdigung Thomas Braschs so unter dem Eindruck der Diskussion um die Einfluß- charakterisiert: „Die Genera tion der heute Dreißig- nahme der Staatssicherheit auf die Literatur verbrei- jährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als teten Tendenz, den in der DDR verbliebenen Autoren Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als defor- ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen und ihre Werke mierte Realität." Kultur wird als Ausdruck der „Ver- als letztlich systemstabilisierend einzustufen, das antwortung vor sich selbst", als „Gegenwehr gegen Autonomiebestreben als Teil einer geistigen Wider- kollektive Vereinnahmung" (Stephan Ernst) verstan- standskultur gewertet werden [—> Exper tise Mechten- den. berg]. Vor allem ab Ende der siebziger/Anfang der achtziger Kunst und Kultur in der DDR waren mehr als nur Jahre bildete sich die Alternativkultur oder „zweite „Staatskultur" im Sinne der SED, obwohl die Partei Kultur" in der DDR heraus; sie war eine ausgegrenzte, mit ihren Instrumentarien des Regierungsapparates, „marginalisierte" [--> Böthig, Protokoll Nr. 36] Kultur. des Schriftstellerverbandes und des MfS dauerhafte Hierzu zählten Ausstellungen in p rivaten Wohn-, Einflußnahme versuchte. Die kulturpolitischen Richt- Produzenten- oder „Selbsthilfe"-Galerien, Leserei- linien des Staates konnten nun den Rahmen bestim- hen in Wohnungen und Ateliers oder in Kirchen, die men, innerhalb dessen die Künstler tätig sein durften. „Samisdat-Literatur" (Literaturzeitschriften, Künst- Die Künstler haben diesen Rahmen aber immer wie- lerbücher und politisch-kulturelle Informationszeit- der auch überschritten und haben ihn dadurch erwei- schriften), die unabhängige Musikszene. Die Ur- tert. Bei allen Rückschlägen und immer neuen Diszi- sprünge der Alternativ-Kulturszene reichen auf die plinierungsversuchen hat es auch Phasen einer relati- Zeit des massiven Vorgehens gegenüber Literatur
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und Kunst nach der Ausweisung Biermanns zurück, Die Fülle von Haftberichten, die von 1977 bis 1989 in nachdem 1978 die Bildung eines „Lektorats für Kul- der Bundesrepublik veröffentlicht wurden, zeigt, daß
tur „ durch die Abteilung Kultur des ZK der SED das unerwünschte Thema nicht mehr ignoriert oder verfügt worden war, welche die Biermann-Sympathi- auf Einzelfälle reduziert werden konnte. Dafür sorgte santen aus den Verlagen und Künstlerverbänden auch der Freikauf von Gefangenen, der Jahr um Jahr
entfernen ließ. Zwischen 1979 und 1989 erschienen mit Hunderten von Schicksalen aus dem SED-Staat
etwa 30 Zeitschriften im Selbstverlag, die zum Teil als bekannt machte. In den Zeitungen erschienen zuneh- lose Manuskriptsammlungen oder Abschriften von mend Berichte aus Bautzen, Br andenburg, Waldheim, Büchern herausgegeben wurden. Mit den Opposi- Hoheneck, aus einer totalitären Gegenwelt zum
tions- und Bürgerrechtsgruppen entstanden ab Mitte Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschl and. Hörspiele
der achtziger Jahre die ersten politisch-kulturellen im Rundfunk, später auch Zeugenbefragungen und
Informationszeitschriften. Jedoch bestanden partiell Spielfilme im Fernsehen wirkten wiederum hinein in
Verbindungen zwischen diesen Publikationen und die ummauerte Republik.
den literarischen Ausgaben, da die Mehrzahl der Autoren nicht oder nur am Rande an den Bürger- rechtsgruppen beteiligt war. 1988/89 versuchten Zeit- 6.7 Die Behandlung des kulturellen Erbes schriften wie „Kontext" und „Ostkreuz" Verbindun-
gen zu Oppositionsbewegungen in osteuropäischen Unter dem kulturellen Erbe verstand die SED „die Staaten herzustellen bzw. zu intensivieren. Gesamtheit von Bindungen, Beziehungen und Ergeb- nissen der geistigen Produktion vergangener ge- Die Alternativkultur oder „zweite Kultur" der DDR schichtlicher Epochen". Seine Bewertung „erfolgt war eine ausgegrenzte Kultur [--> Expertise Michael]. vom Standpunkt seiner praktischen Anwendung Sie war erst in zweiter Hinsicht eine politische Protest- durch soziale Gruppen (Klassen, Nationen), durch kultur. Ihre Brisanz bestand weniger darin, daß sie ganze Generationen und durch neue sozialökonomi- sich in Gegensatz zum Staat begab. Sie erregte sche Formationen". Aus dieser Doktrin ergaben sich Aufmerksamkeit, weil sie allein schon durch ihre für die kulturpolitische Praxis sowohl Schwerpunkte Existenz die kulturpolitische Hoheit und den Allein- als auch Widersprüche. vertretungsanspruch des Staates in Frage stellte. Alternativkultur läßt sich daher nur in eingeschränk- Die „Pflege des kulturellen Erbes " in der DDR steht im tem Maße als eine bewußt gewählte politische Alter- Zusammenhang mit einer auf die „sozialistische Per- native zum offiziellen Kulturbetrieb und zur Kulturpo- sönlichkeit" und die „sozialistische Nationalkultur"
litik der DDR verstehen. Viele Künstler, Galeristen, ausgerichteten Kulturpolitik und mit dem Anspruch
Musiker, Autoren und Kunst- und Literaturkritiker der SED, historische Vollenderin aller „progressiven"
begannen hier, weil es in der DDR keine anderen und „humanistischen" Tendenzen in der deutschen
Möglichkeiten für die unabhängige Arbeit und die Geschichte zu sein. Es ist eine Entwicklung zu ver-
öffentliche Wirksamkeit gab. Dies führte im Laufe der zeichnen, die von einer engen Auffassung des „Erbe
letzten fünfzehn Jahre dazu, daß sich bis 1989 eine Verständnisses" zu Beginn der fünfziger Jahre (z. B.
eigenständige kulturelle Infrastruktur mit einer zwar Abriß des Berliner Stadtschlosses) hin zu einer Diffe- eingeschränkten, aber lebendigen und stetig wach- renzierung zwischen „anzueignendem" und kritisch
senden Öffentlichkeit entwickelt hat [—> Exper tise auszusonderndem Erbe in den siebziger und achtziger
Michael]. Jahren (z. B. „Preußenrezeption", Rezeption der Romantik, Rekonstruktion ausgewählter historischer
Bauwerke und Stadtkerne) führte. Welche Phasen
und Zäsuren hierbei zu unterscheiden sind, ist bis
heute Gegenstand der Diskussion geblieben, die noch 6.6 DDR-Gefängnisliteratur und Haftberichte bei weitem nicht abgeschlossen ist [--> Expertisen
Schubert, Ackermann].
Neben Berichten über Flucht und Vertreibung aus Es lassen sich zwei Hauptphasen unterscheiden: Die dem historischen Ostdeutschland, neben der Kritik an Herausbildung der „Zwei-Linien-Theorie" sowie die- staatlicher Willkür, an ineffektiver Planwirtschaft und jenige der „Zwei-Traditionen-Theorie" seit dem wachsender Umweltverschmutzung zählte die Erfah- Beginn der siebziger Jahre. In der „Zwei-Linien- rung mit politischer Strafjustiz zu den verbotenen Theorie" liegt der Schwerpunkt auf der Herausbil- Themen der DDR-Literatur. Wie Monika Marons dung eines sozialistischen nationalen Geschichtsbil- Roman „Flugasche" (1981) über Umweltverschmut- des, die „Zwei-Traditionen-Theorie" hat dagegen das zung im Bitterfelder Industrierevier von keinem DDR- Ziel, neben der Integration der DDR-Geschichte in die Verlag veröffentlicht werden durfte, konnten auch Geschichte der sozialistischen Gemeinschaft, das politische Häftlinge, bei Strafe erneuter Festnahme gewonnene Geschichtsbild so auszuweiten und zu und Verurteilung, über ihre Erlebnisse in Gefängnis- - differenzieren, daß die DDR-Geschichte in ein erwei- sen, Zuchthäusern, Arbeitslagern nicht einmal im tertes Spektrum der deutschen und europäischen Verwandten- und Freundeskreis berichten. Eine Geschichte eingepaßt werden konnte [--> Exper tise gewisse „Lockerung" dieses Verbots war erst wenige Schubert]. Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer zu beobach-
ten, als im Sommer 1989 Christoph Heins Roman „Der Symptomatisch für diesen konfliktreichen Prozeß ist
Tangospieler" erschien. So blieb ein ganzer Sektor die Rezeption des kulturellen Erbes der deutschen
DDR-Wirklichkeit in der DDR-Literatur ausgespart Vergangenheit. In den ersten Jahren nach Gründung
[--> Expertise Bilke]. der DDR hielt die SED-Führung den Anspruch einer
Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode einheitlichen deutschen Kulturnation aufrecht, bean- der von ihm erlassenen „Sozialistengesetze" hef tig spruchte jedoch schon damals das „fortschrittliche geschmähte Reichskanzler Otto von Bismarck einer Erbe" für sich und grenzte es von der „imperialisti- differenzierteren Bewertung unterzogen. Zwischen schen Kultur" im Westen Deutschlands ab. Zeitgleich der Biographie von Ingrid Mittenzwei über „F riedrich parallel zur Entwicklung der Formel vom „sozialisti- II. von Preußen" im Jahre 1979 und der Bismarck- schen deutschen Nationalstaat" verlief die Absage an Biographie von Ernst Engelberg im Jahre 1985 hat es das gesamtdeutsche kulturelle Erbe. eine vielbeachtete Umorientierung in der Tradi tions- pflege der DDR gegeben. Die Propagandisten und Kulturtheoretiker der SED versuchten, spezifische Traditionslinien einer „sozia- Das Bemühen um Traditionslinien zur Schaffung einer listischen deutschen Nationalkultur" herauszuarbei- eigenen nationalen Identität der DDR führte schließ- ten. Einzelne Abschnitte und Ereignisse der deut- lich auch zur Aneignung des kulturellen Erbes über schen Geschichte, etwa die Bauernkriege oder pro- eine verstärkte Förderung der Denkmalpflege [—> Ex- gressiv-realistische und sozialistisch-revolutionäre In- pertise Ackermann] und des Heimatgefühls. Auf alte halte der deutschen Literaturgeschichte, sind dabei in Traditionen beruhende Volksfeste, Umzüge, Kirmes- direktem Zusammenhang mit der gesellschaftspoliti- sen wurden zunehmend wiederentdeckt bzw. unter schen Entwicklung der DDR gestellt worden. Dies sozialistischen Vorzeichen wiederbelebt. geschah mit dem Anspruch, „die besten Traditionen der Geschichte und Kultur wieder zum Leben zu Der mehrfach festzustellende W andel im Erbe- und erwecken und im Sozialismus zu ihrer eigentlichen Traditionsverständnis der DDR spiegelt einen Prozeß, Blüte zu führen". Der Bundesrepublik Deutschl and der von der politischen Führung initiiert und gesteuert wurde das Recht auf Aneignung und Verwaltung des worden ist. Darin ist vor allem der Versuch der SED zu kulturellen Erbes abgesprochen. sehen, ihre Herrschaft überwiegend als Kontinuitäts- element der deutschen Geschichte zu legitimieren In dem Bemühen, ein eigenes DDR-Nationalgefühl zu und ihre Ideologie auf eine breitere historische Grund- entwickeln, und weil sich viele kulturelle Werte der lage zu stellen. Die verschiedenen Phasen und Zäsu- Vergangenheit nicht nahtlos in dieses Konzept einfü- ren des Erbeverständnisses der DDR zeigen deutlich, gen ließen, plädierte die SED-Führung für eine „kri- daß vor allem die Konstruktion der Tradi tion beliebig, tische Aneignung" des kulturellen Erbes. Das führte je nach politischen Gegebenheiten durch die staatli- in der Praxis zunächst zu einer verstärkten Pflege chen Organe im Sinne des ideologischen Bedarfs kultureller Werte und Traditionen auch aus den osteu- bestimmt wurde [—> Expertise Schubert]. ropäischen sozialistischen Ländern und der Sowjet- union; es hat aber auch die Auseinandersetzung mit Die DDR war gegen Ende ihrer Zeit selbst zur Tradi- früher verpönten oder ignorierten deutschen und tion erstarrt. Vierzig Jahre einer an der Klassik orien- ausländischen Kulturgütern (z. B. dem Surrealismus, tierten „Erbepflege" produzierten eine Kette von den Werken Robert Musils) ermöglicht. Wiederholungen oder Wieder-Hereinholungen. Eine ritualisiertes Programm wurde abgespult: mit Ge- Unter der Regentschaft von Ulb richt gab es fortlau- denkstätten, Feiertagen und Auszeichnungen; in fend kulturpolitische Anweisungen zum Kulturerbe, Schulen und Betrieben, in Massenorganisationen und in deren Gefolge auch Abkanzelungen und Streit. Massenmedien, bei Staat und Partei. Interess Eine kritische Diskussion begann erst mit dem ant war Anfangsschwung der frühen Honecker-Jahre. Vor eigentlich nur — und dies wurde besonders aus der Bundesrepublik mit großer Aufmerksamkeit regi- allem in der Literaturwissenschaft wollte m an das striert — wann die SED-Führung sich wieder welches Erbe in seiner „Gesamtheit" diskutieren. Germani- neue Stück deutscher Geschichte „aneignete". Nach sten und besonders Schriftsteller relativierten in den der Aneignung von Preußen und Luther blieb am Fachzeitschriften wie „Weimarer Beiträge" oder Ende nur noch die NS-Zeit und das, was m „Sinn und Form" die Urteile bekannter Persönlichkei- an ihr zuschrieb tabu bzw. eine „Erblast" der Westdeut- ten, welche wesentlich verantwortlich waren für das schen [—> Expertise Ackermann]. Kulturverständnis der SED-Mächtigen: „Was Erbe ist und was nicht — steht nicht ein für allemal fest" (H ans Kaufmann 1973). Besonders auffallend und in der DDR selbst nicht 6.8 Städtebau und Architektur unumstritten waren zu Beginn der achtziger Jahre zwei prinzipielle Wendungen in der Erbe-Rezeption: Für Städtebau und Architektur gab es kaum Möglich- der 200. Geburtstag Karl F riedrich Schinkels im Jahre keiten, Alternativen zur „Staatsarchitektur" zu ent- 1981 und die Ankündigung einer großen Preußen- wickeln. Das gesamte Bauwesen wurde zentral Ausstellung in West-Berlin führten zu einer Änderung gelenkt. Die SED „führte", d. h. sie leitete im Grunde des offiziellen, bisher weitgehend nega tiven Preußen- vom Politbüro aus über das do rt angeschlossene bildes. Sie wurde eingeleitet mit einer Biographie Sekretariat für Wirtschaft sowie über die Abteilung Friedrichs II. der Historikerin Ingrid Mittenzwei. Bauwesen des ZK das gesamte Baugeschehen der Danach verfügte Honecker persönlich die Wiederauf- DDR auf allen Ebenen, von der Planung im Baumini- stellung des Reiterstandbilds F riedrich des Großen sterium bis zur Verwirklichung auf der Baustelle. von Christian Daniel Rauch in der Ost-Berliner Straße Diese radikale Zuordnung von Städtebau und Archi- Unter den Linden. Die Vorbereitung des Luther- tektur zum Bauwesen als einem Volkswirtschafts- Jahres 1983 bot der DDR Anlaß, auch ihr bisheriges zweig führte nicht nur zur Geringschätzung, sondern Bild vom „Fürstenknecht" Martin Luther zu revidie- geradezu auch zur Beschneidung ihrer kulturellen ren. Kurze Zeit später wurde auch der früher wegen Dimension.
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Die Instrumentalisierung von Städtebau und Archi- Semperoper in Dresden, sondern vorzugsweise mit tektur durch den SED-Staat als Ausdruck der herr- dem Massenbau im Rahmen des Wohnungsbaupro- schenden Ideologie führte in der DDR — wie im gramms als Ausdruck seiner Sozialpolitik. Kein Wun- gesamten Block der sozialistischen Länder — zu den der, wenn er das bevorzugt dort tat, wo ,westliche' allgemein bekannten charakteristischen Merkmalen: Beobachter die DDR von innen und außen sehen Verfall der Innenstädte mit ihren (bürgerlichen) Indi- konnten: in Berlin. Die Wohnhochhäuser entlang der vidualbauten, Aufbau riesiger Gebäudekomplexe in Leipziger Straße — als Antwort auf die zuvor gebauten Blockbauweise mit normierten Wohnungen und mit Westberliner Hochhäuser „nebenan" — wie auch das stereotypen Plattenfassaden, versehen mit sozialen Wohngebiet an der Otto-Grotewohl-Straße, heute Einrichtungen wie Kinderbetreuungseinrichtungen, wieder Wilhelmstraße, waren — ganz im Sinne einer Altenbetreuungseinrichtungen, zentraler Gaststätte, städtebaulich-ideologisch gemeinten „Grenzbefesti- Einkaufsmöglichkeiten etc. Dieses städte- und woh- gung" — geradezu als Außenansicht der DDR über die nungsbaupolitische Konzept wurde zum sichtbaren Mauer hinweg errichtet worden [--> Expertise Ausdruck der „sozialistischen Integration" und Flierl] . Gleichschaltung der gesamten Bevölkerung. In den siebziger Jahren gab es keine neuen städte- In den frühen fünfziger Jahren ging es dem Staat baulichen Direktiven mehr. Das hing auch damit hauptsächlich darum, mit den Investitionen für die zusammen, daß das 1973 beschlossene Wohnungs- dringendsten Bauaufgaben zugleich Zeichen zu set- bauprogramm der DDR zur Lösung der Wohnungs- zen für den Neuaufbau der kriegszerstörten Städte im frage als soziales Problem nicht nur zum Kernstück — Rahmen des Aufbaus der neuen Gesellschaft. Haupt- wie es hieß — der Sozialpolitik erklärt, sondern auch tätigkeitsfelder waren neben dem Industriebau der zur Hauptbauaufgabe gemacht worden war, unter die Bau von Wohnungen und gesellschaftlichen Einrich- alles andere, auch der Städtebau subsumiert wurde. tungen für Kultur, Bildung und Sport, Handel und Städtebau wurde vorwiegend als Wohnungsbau Versorgung sowie für die neu zu installierenden betrieben, noch dazu fast ausschließlich extensiv auf staatlichen Verwaltungen. der ,grünen Wiese' am Rande der Stadt (Plattenbau- weise). Der Verfall der Innenstädte mit historischen Viele Bauprogramme waren durch das sowjetische Bauten, namentlich auch der „bürgerlichen Epoche", Vorbild geprägt, das für den ,sozialistischen Aufbau' wurde bewußt in Kauf genommen. Erst Anfang der in der DDR generell und die ,sozialistische' Entwick- achtziger Jahre wurden die dadurch eingetretenen lung von Städtebau und Architektur speziell — nach volkswirtschaftlichen und sozial-kulturellen Verluste dem Willen von Ulbricht — als verpflichtend galt. So einer solchen Stadtentwicklung beg riffen. Um dem entstanden in den fünfziger Jahren — angeregt durch Wohnungsbauprogramm eine tragfähige urbanisti- die repräsentativen Magistralen mit ihren Wohnstra- sche Dimension zu geben, erließ 1982 das Politbüro ßen in Moskau, Kiew und anderen sowjetischen des ZK der SED und der Ministerrat „Grundsätze für Städten — die großen Wohnungsbauensembles ent- die sozialistische Entwicklung von Städtebau und lang der Stalinallee in Berlin, an der Roßstraße in Architektur in der Deutschen Demokratischen Repu- Leipzig, am Altmarkt in Dresden, im Zentrum von blik" . Sie waren völlig unter dem Niveau, das die Magdeburg sowie an der Breite Straße in Rostock. Sie gesellschaftliche Situation erfordert hätte: Alle realen demonstrierten in durchaus differenzierter Anleihe an Entwicklungswidersprüche zwischen Leben und die empfohlenen 'nationalen Traditionen, die ge- Bauen, Wohnungsbau und Städtebau wie auch mög- wünschte „Neue Deutsche Architektur" mit neoklas- liche Varianten zu ihrer Lösung waren durch Wunsch- sizistischen, neobarocken und neogotischen Stilele- vorstellungen wegretuschiert; Ausdruck einer bereits menten. Vor allem die Stalinallee — die heutige konzeptionslos gewordenen Gesellschaft. Als sich Karl-Marx-Allee — ist zum Symbolbauwerk der DDR dann gegen Ende der achtziger Jahre immer mehr geworden. Mit gutem Grund wurde sie mit dem Tag herausstellte, daß die vielgepriesene Einheit von Wirt- der staatlichen Vereinigung Deutschlands zum denk- schafts- und Sozialpolitik nicht in der gedachten malgeschützten Objekt erklärt. harmonischen Übereinstimmung zu entwickeln war, Die Idee, in jeder bedeutenden Stadt, in erster Linie in sondern an ihren wachsenden Widersprüchen zerbre- der Hauptstadt und in den Bezirksstädten, je eine chen mußte, da stand auch die Stadtplanung vor nicht zentrale städtebauliche Dominante als politisch-ideo- beantwortbaren Fragen. logisches Symbol der Gesellschaft zu errichten, folgte Die Erwartungen, daß in der sozialistischen Gesell- sowohl dem sowjetischen Konzept vom Bau eines schaft wegen des Wegfalls von Bodenspekulantentum „obersten Gebäudes" der Stadt als auch der deut- die Architektur zu neuer Entfaltung kommen würde, schen Tradition der Stadtkrone. Die Projekte gingen hatten sich nicht erfüllt. Der in der Endzeit der DDR mit großflächigen Stadtzerstörungen einher und einsetzende Bau von Eigenheimen erfolgte in trostlo- betrafen die Städte Ber lin (Ost) — die Errichtung ser Uniformität. Einzig die Restaurierung einiger des Fernsehturms zerstörte die Reste des Marienvier- historischer Bauten in der Phase der „Pflege des tels —, Leipzig — das Universitätshochhaus erforderte kulturellen Erbes" führte zu anerkennenswerten Lei- den Abriß der gotischen Universitätskirche — und stungen wie dem Wiederaufbau des Ensembles der Jena — für das Zeiss-Hochhaus mußte ein Großteil der Bauten am Gendarmenmarkt und des Nikolaiviertels Jenaer Altstadt weichen. in Berlin. Auch einige der Sonderbauten für „hochan- In den siebziger Jahren präsentierte und repräsen- gebundene" gesellschaftliche Zwecke wie der Palast tierte sich der Staat nicht in erster Linie mit seinen der Republik, der Friedrichstadtpalast und einige solitären Sonderbauten wie dem Palast der Republik große Hotelbauten gelten als architektonischer Aus- in Berlin, dem Neuen Gewandhaus in Leipzig und der druck einer Epoche der deutschen Geschichte.
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6.9 Nachwirkungen und Forschungsdesiderata Verlauf wurden die bisherigen kommunalen Sportge- meinschaften durch Betriebssportgemeinschaften er- Die Nachwirkungen der sozialistischen Wohnungs- setzt. Am 17. März 1951 ordnete das ZK der SED die baupolitik der SBZ/DDR sind besonders dauerhaft Durchführung von „Aufgaben auf dem Gebiet der und können nicht beseitigt werden. Forschungen über Körperkultur und des Sports" an und forde rte die die psychosozialen Folgen der sozialistischen Wohn- planmäßige Ausweitung und Propagierung der vom bauviertel sowie Programme zu ihrer individuelleren DSA geleiteten „Demokratischen Sportbewegung": Gestaltung sind dringend erforderlich. Sie solle nicht mehr der Leitung durch FDGB und FDJ unterstehen, um so mehr bedürfe sie „der Unterstüt- Wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zung aller demokratischen Massenorganisationen". sind auch in der Kultur erhebliche Neuorientierungen Entsprechend der Organisationsstruktur des FDGB nach der Wende notwendig geworden. Vor allem die wurden die Betriebssportgemeinschaften in Sportver- Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System mit einigungen zusammengefaßt. Auf „Produktionsba- Wettbewerb und einer Fülle von Möglichkeiten, aber sis" entstanden achtzehn Sportvereinigungen. „Zur nur mit begrenzter beruflicher Sicherheit durch feste Verbesserung der Tätigkeit und Struktur der Demo- Anstellungsverhältnisse, erfordert von den nun weit- kratischen Sportbewegung" erfolgte am 27./28. April gehend freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern 1957 die Umwandlung des DSA in den Deutschen viel Umstellungs- und Risikobereitschaft. Sie bedeu- Turn- und Sportbund (DTSB). tet andererseits die Freisetzung der in diesen Berufen besonders notwendigen individuellen Entfaltungs- kraft. 7.2 Breitensport als Integrationsinstrument Für die kulturelle Breitenarbeit und die Einübung in demokratische Verhaltensweisen und Umgangsfor- Die außergewöhnlich große Förderung des Spo rts — men ist der Aufbau von Vereinen nach zwei Diktatu- auch mittels gesetzgeberischer Maßnahmen — war ren von unschätzbarer Bedeutung. Es sollten Möglich- durch die konkreten innen- und außenpolitischen keiten der Unterstützung dieses gesellschaftspolitisch Zielsetzungen der SED-Führung motiviert. Vorrangig wichtigen Aufbauprozesses durch die Regierungen innenpolitische Aufgaben des Sports waren seine des Bundes und der Länder geprüft werden. Beiträge zur Erhöhung der Produktivität und der Wehrkraft, zur Gesunderhaltung, zur Ausrichtung der Die Erforschung der psychosozialen Folgen der SED- Jugend am Leistungsprinzip und zur allgemeinen Politik ist in kultureller Hinsicht besonders bedeu- Mobilisierung der Bevölkerung. Im Mittelpunkt stand tungsvoll. Für den ideologisch bedingten Umgang mit die Erziehung zu „patriotisch-klassenbewußtem" dem historisch-kulturellen Erbe und für die ideolo- Denken und Handeln. Die Wertschätzung des Sports gisch geforderten Kunstrichtungen sind intensive For- als Phänomen von großer gesellschaftspolitischer schungsarbeiten in Verbindung mit den geisteswis- Bedeutung war sicherlich zum Teil auf Erfahrungen senschaftlichen Fächern notwendig. Ulbrichts in einem Arbeiter-Turn- und -Sportverein in der Weimarer Republik zurückzuführen. Ulb richt, dessen Name untrennbar mit dem Aufstieg des DDR Sports verbunden ist, verkündete 1958 die Massen 7. Rolle des Spo rts in der DDR sportlosung: „Jedermann an jedem Ort — einmal in der Woche Sport ", die später von ihm in „jede Woche mehrmals Sport" erweitert wurde. Ulb richt gab auch 7.1 Zentralistische Organisationen am 8. November 1964 vor Studenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig das Kommando zur Mobilisierung der Schüler und Stu- Im Zuge der Liquidation des Nationalsozialistischen denten für den Sport. Reichsbundes für Leibesübungen verfügte die Kon- trollratsdirektive Nr. 23 vom 17. Dezember 1945 die Die Zusammenarbeit zwischen DTSB sowie FDGB Auflösung aller Turn- und Sportvereine in Deutsch- und FDJ diente vorrangig der Intensivierung des land. Der zweite Teil dieser Direktive bestimmte die Massensports. Im DDR-Gesetzblatt vom 30. Novem- Zulassung „nichtmilitärischer Sportorganisationen lo- ber 1972 wurde die Anordnung über die Wahrneh- kalen Charakters". mung der Verantwortung der Betriebe und staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet von Körperkultur und Unter Aufsicht der Sowjetischen Militäradministra- Sport veröffentlicht. Den Leitern der Volkseigenen tion in Deutschland (SMAD) begannen 1946 ehema- Betriebe und staatlichen Einrichtungen ist damit die lige Arbeitersportler und zur Mitarbeit bereite Funk- volle Verantwortung für eine regelmäßige und inten- tionäre mit dem Aufbau einer zentralistischen Sport- sive sportliche Betätigung der Bürger übertragen organisation nach sowjetischem Vorbild. Im Juni 1948 worden. Während der seit 1959 jährlich im Juni setzte eine breit angelegte Kampagne zur Neuorgani- - veranstalteten „Woche der Jugend und Sportler" zur sation des Sports ein, die vorher in allen ihren Einzel- „Mobilisierung einer bewußten schöpferischen Mitar- heiten zwischen der SMAD, der SED, der FDJ, dem beit im Kampf für den Sieg des Sozialismus und die FDGB und den Verwaltungsstellen des Kommunal- Sicherung des Friedens" kam es zu einer Fülle mas- sports vereinbart und vorbereitet worden war. Mit sensportlicher Veranstaltungen. Zustimmung der SMAD kündigten am 1. August 1948 FDJ und FDGB übereinstimmend die Gründung des Im Gegensatz zu den ständig erweiterten Sportaktivi Deutschen Sport-Ausschusses (DSA) an. Im späteren täten von FDGB und FDJ dienten sportliche Förde-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 rungsmaßnahmen der Nationalen Volksarmee und 7.3 Leistungssport der Volkspolizei sowie des Staatssicherheitsdienstes vorwiegend dem Leistungssport. Bis Ende 1956 war Der staatstragende DDR-Spo rt war zentralistisch auf der Grundlage der militärischen Struktur organisiert, generalstabsmäßig geführt (opera tiv ge- die Organisation der Armeesportklubs (ASK) und lenkt), straff reguliert und in seiner Leistungseffekti- der Armeesportgemeinschaften (ASG) abgeschlos- vität wie auch in der ideologisch-poli tischen Zuverläs- sen. sigkeit konsequent kontrolliert. Die personelle und oft strukturelle Vernetzung mit der Partei und ihren Die Sportpolitik der SED verfolgte unterschiedliche Organen, einschließlich des MfS, auf allen Ebenen gesellschaftspolitische Absichten. Die erzieherischen erlaubte die durchgängige Verwirklichung der ver- und rekreativen Aspekte des Spo rts sind unter diesen bindlichen Pläne und Direktiven. Sie wurden grund- Zielsetzungen ebenso zu subsumieren wie gezielte sätzlich von den Spitzengremien der SED als der Integrations-, Mobilisierungs- und Disziplinierungs- entscheidenden Befehlszentrale beschlossen und aufgaben. Verschränkungen von augenscheinlich kontrolliert; dem „gesellschaftlichen Dienstleistungs- politisch neutralen oder rein individuellen Wirkungen kombinat Sport" war keine Sonderrolle eingeräumt des gesamten Sportsystems in staatlich dominierten [--> Expertise Krebs]. Die Staats- und Parteifüh- Organisationen, Verbänden, den Sportgemeinschaf- rung der DDR sah im Leistungssport eine hervorr- ten, der Wissenschaft und dem Schul- und Hochschul- agende Möglichkeit, sich interna tional darzustellen. bereich mit der Freizeit und dem persönlichen Sport- Davon zeugt z. B. die vielgebrauchte Bezeichnung erlebnis müssen in die Be trachtung einbezogen wer- der Spitzensportler als „Diplomaten im Trainings- den. anzug".
Der Sport besaß für Partei und Politik als „Mehr- Der internationale Sportverkehr war — im Jargon der zweckwaffe" im Inneren und als Sympathieträger- SED — „ein wichtiges Feld der Klassenauseinander- welle des Sozialismus nach außen eine herausragende setzung" sowohl im „Weltmaßstab" als auch, und dies Bedeutung. Vor allem in den späten siebziger und im besonderen Maße, zwischen den beiden deutschen achtziger Jahren sollte der DDR-Sport mit seinen Staaten. Der Sport sollte dem außenpolitischen Anse- international erfolgreichen Athleten und „sozialisti- hen der DDR dienen und zugleich Ausdruck der schen Kollektiven" die zunehmend bedrohte innere Überlegenheit des Sozialismus sein. In der Tat Stabilität stützen, das Regime als Basis dieses Erfolgs- erreichte die DDR auf diesem Feld, worum sie sich system bestätigen und die geistige Konformität sonst vergeblich mühte: „Weltniveau" Holzwei- sichern helfen [—> Expertise Krebs]. ßig, Hiller, Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses]. Der Sport war natürlich auch innenpolitischer Integra- Nur so erklärt sich der ungeheure Aufwand in perso- tionsfaktor und sollte zur Identitätsfindung weiter neller, finanzieller und materieller Hinsicht, den die Teile der Bevölkerung mit dem politischen System Partei- und Staatsführung der DDR betrieb, um ein beitragen. eher Meines Land wie die DDR zu einer der führenden Die gesellschaftliche und materielle Anerkennung „Sportnationen" der Welt zu entwickeln. So wurden sportlicher Erfolge, aktiven systemkonformen Verhal- im Jahre 1989 allein für die Zuwendungen an Sportler tens, wenngleich es zuweilen als Pflichtübung ver- und für Löhne im unmittelbaren Trainingsbereich standen wurde, und einer wie auch immer bezeugten über 190 Millionen Mark ausgegeben. Die gesamten politisch-ideologischen Zuverlässigkeit galten als Ausgaben, von Bau und Unterhaltung der Trainings- starke Motivationsanstöße im Spitzensport [--> Picken- objekte bis zur Finanzierung der Forschung, umfaßten hain, Hummel, Protokoll Nr.35 des Sportausschusses, ein Vielfaches davon [--> Geiger, Protokoll Nr. 35 des Expertise Krebs]. Sportausschusses]. Die Vorteile umfaßten eine breite attraktive Pa- Ob der Sport den angestrebten wirksamen Beitrag zur lette: DDR-eigenen Identität leistete, war seit jeher unge- Prestigegewinn und soziale Absicherung ein- wiß. Auch in der DDR nahm der Freizeit- und Erho- — lungssport eine besondere gesundheits- und freizeit- schließlich des gesicherten Schul- und Hochschul- abschlusses mit beruflicher Perspektive von Offi- politische Bedeutung ein. Sie ging über die Erhaltung zierspositionen in NVA und MfS sowie von Kader- der Arbeitskraft hinaus und beeinflußte das (offenbar neutrale) individuelle Wohlbefinden und die Lebens- stellen in Trägerbetrieben ähnlich wie bei Studen- ten die Freistellungen für den nach professionel- freude Dreger, Protokoll Nr. 35 des Sportausschus- dard betriebenen Spitzensport erlaub- ses, Expertise Krebs]. Der Breitensport als Wettkampf- lem Stan sport auf unterer Ebene und der sozialpolitisch ten bedeutsame Freizeit- und Erholungssport oder Mas- — materielle Vergünstigungen, wie die bevorzugte sensport besaßen im Sportsystem der DDR verbal eine Zuteilung von Wohnungen oder Häusern, von hohe Bedeutung. In der Realität standen diese Berei- Autos und anderen, der Mehrheit der Bevölkerung che mit ihrer oft unzureichenden Infrastruktur im erst nach langen Wartefristen zugänglichen „Lu- Schatten des Leistungssports. Es gehört zu den Absur- xusgütern" ditäten des DDR-Sports, daß im Breitensport trotz vielfältiger Kontrollen und Überwachungen größere — festgelegte Prämienzahlungen für Erfolge, die mit Spielräume und mehr Chancen für Eigeninitiativen Orden und abgestuften Auszeichnungen, wie bestanden als im durchreglementierten Aushänge- „Meister des Sports" und „Verdienter Meister des schild Leistungssport. Sports ", gekoppelt waren
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— die Möglichkeit von Auslandsreisen, mitunter quente, alle wesentlichen Mitarbeiter einschließlich auch für Spitzensportler, deren nichtkonformes der Medien umfassende Kaderpolitik durch ZK und Umfeld westliche Auslandsbesuche eigentlich Politbüro legte den Grund für die effektive, exakte ausgeschlossen hätte. und zugleich flexible Durchsetzung der Direktiven und Pläne [—> Expertise Krebs]. Die Privilegien und Vorteile für Leistungen im Dienste der DDR waren integraler Bestandteil eines ausge- Für die außergewöhnliche Bedeutung des Sports prägten Systems von Belohnungen und abschrecken- spricht, daß der für Sicherheit zuständige Sekretär des den Sanktionen. Der stets drohende Entzug dieser ZK auch für den Sport verantwortlich war. In Fragen Vorrangstellung und der Rückfall in die soziale der Finanz-, Außen- und Deutschlandpolitik erteilte er Bedeutungslosigkeit oder gar die Ausgrenzung dem DTSB-Präsidenten Ewald die Weisungen. Die gehörten zum System skrupelloser Gefügigma- Präsidiumsmitglieder des DTSB, des NOK und der chung. Fachverbände wurden vor ihrer Bestätigung von der Kaderkommission der Partei „durchleuchtet". Das Politbüro gab die Zustimmung zu den Berufungen, 7.4 Doping im DDR-Leistungssport entließ auch, setzte um oder ordnete Bestrafungen an: „Die politisch richtige Besetzung ist zu sichern", so ein Nach dem Ende der DDR konnten trotz umfangreicher Politbürobeschluß bereits 1959. Dokumentenvernichtungsaktionen bisher noch über Die steuernde Rolle des MfS auf allen Ebenen dieses 150 eindeutige und in ihrer Qualität unanfechtbare Kontrollsystems entsprach dem Verständnis vom Schriftstücke zur Dopingpraxis im Sport der DDR Sport als „Gebiet, wo die ideologische Diversion zum sichergestellt werden. Sie waren meist als „Vertrauli- Tragen kommt" (Mielke, 1992) und vor allem dem che Verschlußsachen" (VVS) bzw. „Vertrauliche leistungssportlichen Geheimbereich. Zuständig für Dienstsachen" (VD) geführt und beweisen ein umfan- den Sport war die Hauptabteilung XX/3 [—> Geiger, greiches, staatlich angeordnetes und gelenktes Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses], die alle zen- Dopingsystem im DDR-Spo rt spätestens seit 1967. Seit tralen Einrichtungen und Organisationen, einschließ- Anfang der siebziger Jahre wurden Dopingmittel von lich der hauseigenen Sportvereinigung Dynamo der DDR-Regierung und ihrem Sportmedizinischen sowie der GST, zudem die Sportler, Funktionäre und Dienst Jahr für Jahr in den meisten Sportarten und bei Begleiter bei Reisen in das Nicht-Sozialistische Aus- Tausenden von Sportlern zur Leistungssteigerung land (NSA) wie auch die Redaktion des „Deutschen benutzt. Schädliche Nebenwirkungen wurden in Kauf Sport-Echo" und den Sportverlag zu kontrollieren genommen und z. T. sogar in den Berichten verzeich- hatte. Die „Qualität der jeweiligen Aufgaben" und die net. In der Regel erfolgte keine Aufklärung der Sensibilität der Einsatzbereiche waren ausschlagge- Sportler über die Natur der Dopingmittel und die bend für die Tätigkeit des MfS: Überwachung der Nebenwirkungsrisiken; die Be troffenen mußten sich Reisekader, einschließlich der in das nichtsozialisti- vielmehr zu strenger Geheimhaltung verpflichten. sche Ausland Reisenden, der mit IM durchsetzten Der durch Doping erzielte Leistungszuwachs wurde Mannschaften und der Sportjournalisten, der Funk- systematisch ausgewertet. Besondere Forschungspro- tionsträger in den Leistungszentren und von „Perso- jekte befaßten sich mit der Entwicklung von Metho- nen, die maßgeblich an der Erarbeitung wissenschaft- den zum „Unterlaufen" der internationalen Doping- lich fundierter Lösungen zur Trainings- und Lei- kontrollen; einige dieser Betrugsmethoden sind stungsentwicklung oder Personen, die Aufgaben schließlich routinemäßig eingesetzt worden. Der haben im Bereich der Forschung und Entwicklung systematische Verstoß gegen die Regeln des interna- neuer Höchstleistungen ermöglichender Wettkampf- tionalen Sports sowie der ärztlichen und wissenschaft- geräte und die zur Entwicklung neuer sportmedizini- lichen Ethik, aber auch gegen Gesetze der DDR, scher diagnostischer Methoden eingesetzt sind". wurde durch Sprachregelungen verschleiert und mit Gerade für den sensiblen Sicherheitsbereich des der politischen Zielsetzung und der weltanschaulich- Sports galt Mielkes Devise: „Wir müssen a lles erfah- moralischen Überlegenheit des eigenen politischen ren. Es darf an uns nichts vorbeigehen. " Systems begründet [--> Fr anke, de Marées, Picken- hain, Kruczek, Protokoll Nr. 35 des Sportausschus- Das MfS diente nicht nur zur Kontrolle und Überwa ses]. chung — so war die Olympiamannschaft und deren Begleiter in Lake Placid 1980 zu 20 vH mit MfS- Mitarbeitern durchsetzt —, sondern auch zur defensi- ven Abwehr und aktiven Aufklärung. Daran wirkten 7.5 Die Rolle der SED und des MfS bei der auch andere Abteilungen des MfS wie die Hauptver- Durchsetzung der Sportpolitik waltung A mit. Im Vordergrund standen Informatio- nen aus internationalen Sportgremien, sportpolitische Als Schaltstelle zwischen den Sportorganisationen Konzeptionen „zur Feststellung und Präzisierung der und der Parteiführung diente die Abteilung Sport Angriffsrichtung der Gegner" sowie das Eindringen in beim ZK der SED, die 23 Jahre lang von Rudi - genau präzisierte „Gegenobjekte der Leistungssport- Hellmann geleitet wurde. Das Politbüro faßte alle forschung" vor allem in der Bundesrepublik Deutsch- grundsätzlichen Beschlüsse und Direktiven, beschloß land. In das Hochsicherheitssystem der Dopingmani- Pläne und sportpolitischen Konzeptionen, fällte pulationen war das MfS entscheidend integ riert zudem die personellen Entscheidungen. Die Sport- [--> Geiger, Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses]. führung konnte auf ein großes Maß an Selbständigkeit der sporteigenen Kompetenz und das Machtpotential Das MfS, das auch im Bereich Sport mit dem KGB eng von Partei und Regierung zurückgreifen. Die konse kooperierte, beteiligte sich an der Überwachung von
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Republikflüchtigen, „abwerbeverdächtigen" Perso- haben. Die Verstrickungen von Athleten, Trainern, nen oder von sportpolitischen Kontrahenten in der Wissenschaftlern und Funktionsträgern mit dem MfS Bundesrepublik Deutschland; es schreckte dabei und den geheimen, von der Partei- und Sportführung selbst vor brutaler Gewalt nicht zurück [---> Bericht der angeordneten Doping- und Manipulationspraktiken Gauck-Behörde zum Leistungssport, MfS und Doping, gehören neben dem geduldeten Verrottungsprozeß 1993]. der Sportstätten zu den Relikten, die den reibungslo- sen Vereinigungsprozeß zweier unterschiedlicher Sportorganisationen am meisten belasten. Dazu 7.6 Folgen der SED-Sportpolitik, gehört im übrigen auch das oktroyierte Unschuldsbe- Forschungsdesiderate und Empfehlungen wußtsein. Die Strukturen des DDR-Leistungssports waren orga- Das von der Konkurrenz neidvoll betrachtete Sportsy- nisatorisch eng miteinander verzahnt: von den Trai- stem effektivster Leistungskonzentration, das noch ningszentren über die Kinder- und Jugendsportschu- 1989 westdeutsche Sportmanager als zu kopierende len bis zu den Leistungszentren der Sportclubs, die Herausforderung ansahen, war keineswegs monoli- konsequente wissenschaftliche und medizinische thisch oder gar widerspruchsfrei. Im Gegenteil, es Betreuung, einschließlich des Dopingeinsatzes, der verlangte ein hohes Maß von Ausbalancierung unter- Leistungskontrolle und der sicherheitspolitischen und schiedlicher, auch gegenläufiger Faktoren im Unter- ideologischen Kontrolle. Die Planungsziele wurden bau des durchgeplanten Erfolgssystems hoher äuße- im olympischen Vier-Jahres-Rhythmus von der Par- rer Qualität mit dem legitimierenden und motivieren- teispitze festgelegt. Die propagandistische Begleitung den ideologischen Überbau. Dieser Spagat zwischen durch die parteiischen Medien als „Teil des Teams" dem Pragmatismus der Sportführung und der die war gesichert. Eine hervorragende personelle und Sportpolitik legitimierenden Ideologie schien lange materielle Ausstattung schuf den nötigen Unterbau, Zeit gelungen — allerdings auf Kosten moralischer der nach der Wende zumeist zusammenbrach. Substanz, ungezählter seelischer und physischer Opfer, des Breitensports, der sportbezogenen Ehren- Den in die deutsche Einheit hineinwirkenden interna- amtlichkeit und der verluderten Infrastruktur. Diese tionalen Erfolgen von Sportlern, deren Karriere in der entscheidenden Aspekte sind bei der Beurteilung der DDR begonnen hatte, stehen zahlreiche bittere Hin- politischen Instrumentalisierung des Spo rts in der terlassenschaften gegenüber: DDR ebenso einzubeziehen wie die beherrschende Rolle der SED, deren Organisation das eigentliche — die Verwahrlosung von fast 90 vH der Sportanla- Machtzentrum darstellte, und die dienenden Struktu- gen, für deren Wiederherstellung — ohne die ren des MfS, die Wissenschaft und die Medien. nötigen Neubauten — rund 25 Milliarden DM notwendig sind Vergleiche mit dem Sport der Bundesrepublik Deutschland können trotz augenscheinlicher techni- — die personellen, organisatorischen und finanziel- scher und organisatorischer Parallelen im Leistungs- len Schwierigkeiten beim Neuaufbau eines demo- sport nur schwerlich gezogen werden, weil die Struk- kratischen und selbstverantwortlichen Vereinswe- turen im Kern inkommensurabel sind. Die Gründe sens durch die Austrocknung der Ehrenamtlichkeit hierfür liegen in der ideologischen Einpassung und in in vielen Sportarten den legitimierenden Prinzipien sowie in der „Skrupel- losigkeit der feudalistischen sportpolitischen Herr- — Leistungsdefizite und beeinträchtigte Vorbild- schaftsklasse der DDR" [--> Expertise Krebs]. funktionen durch Dopingpraktiken Das vereinte Deutschland nutzt zwar Hochleistungs- — Aufklärung und Aufarbeitung der Verstrickungen erfolge aus der DDR-Substanz, muß aber noch auf von Athleten, Trainern, Wissenschaftlern und Jahrzehnte hinaus die Schulden in Milliardenhöhe Funktionsträgern über die von der Partei- und bezahlen, die das Sportregime der SED hinterlassen Sportführung der DDR angeordneten Doping- und hat. Vor allem aber bleibt die kaum meßbare Schuld Manipulationspraktiken, die berücksichtigen, daß an seelischen Schäden und Verkrümmungen, die solche Praktiken nicht nur in der DDR existier- Funktionäre und Mediziner den Sportlern zugefügt ten.
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III. Themenfeld: Recht, Justiz und Polizei im SED - Staat
Inhalt a) Beratungsverlauf a) Beratungsverlauf Im Themenfeld III „Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat" waren nach dem Arbeitsplan der 1. Öffentliche Anhörungen Enquete-Kommission vor allem folgende Themen zu untersuchen: 2. Expertisen — Exemplarische Maßnahmen beim Aufbau des Re- pressionsapparates: b) Bericht „Speziallager" 1945-1950 Die Waldheimer-Prozesse 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz began- Deportationen in die Sowjetunion genen Unrechts — Strafrecht, Strafjustiz und Strafvollzug 2. Unterschiedliche Phasen des Unrechts — Auf- und Ausbau der Grenzanlagen (u. a. Mai 2.1 Die ersten Jahre der SBZ/DDR 1952; 13. August 1961); Schießbefehl und Gewalt 2.2 Auswirkungen der Entstalinisierung und des an der innerdeutschen Grenze Mauerbaus 2.3 Erneute Verhärtung seit Ende der sechziger — Die internationalen Menschenrechtskonventionen Jahre und -normen als Bewertungsmaßstab für die Beur- 2.4 Abwehr der „Peres troika" aus der Sowjet- teilung persönlicher Verantwortung im SED- union Staat.
3. Die Instrumente des Justizunrechts Die Enquete-Kommission bearbeitete das Themen- 3.1 Die Umwandlung des Rechtsbegriffs feld III im Rahmen von vier Öffentlichen Anhörungen. 3.2 Die Abwehr der Schutzwirkung der Menschen- Außerdem gab sie elf Expertisen in Auftrag. rechte 3.3 Die Umgestaltung von Rekrutierung und Aus- bildung der Juristen 1. Öffentliche Anhörungen 3.4 Die Verhinderung einer unabhängigen Rechts- wissenschaft Im Zeitraum vom Mai bis Juni 1993 wurden folgende 3.5 Einflußnahmen auf die Staatsanwälte und Rich- Öffentliche Anhörungen durchgeführt: ter 3.6 Behinderung anwaltlicher Beratung und Ver- tretung 1:1 Die Öffentliche Anhörung vom 14. Mai 1993 in Bonn widmete sich dem Thema „Die 4. Die Instrumentierung von Recht und Justiz in den verschiedenen Gerichtszweigen sowie Umwandlung der Justiz in der SBZ und in den durch die Polizei Anfangsjahren der DDR" [--> Protokoll Nr. 37]. 4.1 Strafjustiz, Strafvollzug und Aufsicht über Straf- Einleitend gab Abg. Margot von Renesse (SPD) einen entlassene 4.1.1 Strafbestimmungen Überblick über die Gesamtzusammenhänge der 4.1.2 Ermittlungsverfahren Rechtsentwicklung in Deutschland nach dem Ende 4.1.3 Das Recht auf Verteidigung des Zweiten Weltkrieges. Friedrich-Christian Schroe- 4.1.4 Strafvollzug der, sachverständiges Kommissionsmitglied, schil- 4.1.5 Aufsicht über Strafentlassene derte „Die Übernahme der sozialistischen Rechtsauf- 4.2 Militärjustiz fassung in ihrer Stalinschen Ausprägung in der SBZ/ 4.3 Polizei DDR" . Der Rechtssoziologe Robert Alexy ergänzte 4.3.1 Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet der diese Ausführungen mit einem Vortrag „Über den DDR zur Bundesrepublik Deutschland Rechtsbegriff Walter Ulbrichts". Grundlage hierfür 4.3.2 Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war die Rede, die Ulb richt auf der sog. Babelsberger 1960/61 Konferenz 1958 gehalten hatte. In zwei weiteren 4.3.3 Rechtsverletzungen bei den Zusammenstößen Vorträgen wurde die Frage behandelt, wie sich der in der Woche vom 3. bis 9. Oktober 1989 in personelle Neuaufbau der Justiz in der SBZ/DDR Dresden vollzogen hat. Die Historikerin Wilfriede Otto schil- derte den Prozeß der Entnazifizierung der Justiz in der 5. Schlußfolgerungen SBZ/DDR. Die Juristin Julia Pfannkuch berichtete auf 5.1 Verantwortung der Grundlage ihrer Dissertation — bezogen auf das 5.2 Umgang mit der Hinterlassenschaft Land Sachsen — über die Volksrichterlehrgänge in 5.3 Forschungsdesiderata der SBZ. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820
1.2 Am 28. Mai 1993 folgte in Bonn eine Öffentliche Berichte von vier Zeitzeugen, die wegen politischer Anhörung zum Thema „Die Babelsberger Meinungsäußerungen verfolgt und z. T. zu mehrjäh- Konferenz" [--> Protokoll Nr. 39]. rigen Haftstrafen verurteilt worden waren (Prozeß gegen die Werdauer Oberschüler 1951; Volksauf- Nach einer Einführung durch Friedrich-Christian stand am 17. Juni 1953; Einmarsch von Truppen des Schroeder referierte der Rechtshistoriker Jörn Eckert Warschauer Paktes in die Č SSR 1968; Ausbürgerung über „Die Babelsberger Konferenz — Legenden und Wolf Biermanns 1976/77). Fakten —". Der Schwerpunkt seiner Ausführungen lag darauf zu untersuchen, welchen Einfluß die Ergeb- nisse der Konferenz auf die Rechtsentwicklung der 1.3.2 Themenkreis „Das Vorgehen gegenüber DDR hatten und welches Schicksal denjenigen Ausreisewilligen" Rechtswissenschaftlern widerfuhr, die zu den dort Angegriffenen zählten. Hermann Klenner und Karl Ausreisewillige waren in der DDR in besonderem Mollnau, von Ulbricht auf dieser Konferenz attackiert, Maße der Willkür und den Schikanen staatlicher berichteten als Zeitzeugen über die Auswirkungen Stellen ausgesetzt. Hierzu Näheres zu erfahren, war der Zusammenkunft. Abg. Uwe-Jens Heuer (PDS/LL) Ziel des zweiten Teils der Öffentlichen Anhörung in ergänzte diese Ausführungen durch einen Bericht Rostock. Zugleich eröffnete sich der Enquete-Kom- über die Folgen der Konferenz für seine wissenschaft- mission durch diese Thematik die Möglichkeit, Ein- liche Tätigkeit. Abschließend erläuterte Abg. Hartmut blicke in ein Rechtsgebiet zu erhalten, das es in der Soell (SPD) aus der Sicht des Historikers die politi- DDR überhaupt nicht gab: das Verwaltungsrecht. schen Rahmenbedingungen der Konferenz. Hans-Hermann Lochen vom Bundesministerium der Justiz, Mitherausgeber einer Dokumentation über die geheimen Anweisungen des MfS und des MdI zur 1.3 Am 1. und 2. Juni 1993 tagte die Diskriminierung Ausreisewilliger, vermittelte der Enquete-Kommission in Rostock und Kommission Erkenntnisse darüber, auf welche Weise behandelte in Öffentlichen Anhörungen die die verantwortlichen Stellen das Ausreiseverfahren „Lenkung der Justiz in der DDR" und das steuerten. Er berichtete u. a., wie mit Hilfe detai llierter „Vorgehen gegenüber Ausreisewilligen" geheimer Anweisungen des Innenministeriums alles [--> Protokolle Nr. 40 und 41]. getan wurde, um Antragsteller zu diskriminieren bzw. potentielle Ausreisewillige von ihrem Vorhaben abzuschrecken. Anschließend berichteten vier Zeit- 1.3.1 Themenkreis „Die Lenkung der Justiz zeugen über Hintergründe und nähere Umstände der in der DDR" von ihnen betriebenen Ausreiseverfahren. Hierbei wurde wiederum das große Maß an Rechtsunsicher- Nach einem Grußwort des Justizministers des L andes heit, Diskriminierung und Konspiration erkennbar, Mecklenburg-Vorpommern Herbert Helmrich refe- mit dem Ausreisewillige meist vom Tage der Antrag- rierte der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner über stellung an konfrontiert wurden. den institutionellen Rahmen sowie über Strukturen und Methoden der Justizlenkung in der DDR. Bei seinen Ausführungen, die sich auf ein umfangreiches 2. Expertisen Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeri- ums der Justiz stützten, unterschied er zwischen den Die Enquete-Kommission hat elf Expertisen und einen Anfängen der DDR (50er und z. T. 60er Jahre) und der Bericht an die nachfolgend benannten Bearbei- Zeit der Konsolidierung der SED-Herrschaft danach. ter vergeben (Georg Brunner, Gerhard Finn, Dieter Karl Wilhelm Fricke, sachverständiges Kommissions- Gräf [2], Hans- Jürgen Grasemann, Steffen Heitmann, mitglied, ergänzte diese Ausführungen mit einer Fall- Knut Ipsen, Hannes Kaschkat, Hans-Diet rich Knoth, studie, in der er das Zusammenspiel von Staatsanwalt- Roland Lange, Bernhard Marquardt, Herwig Rogge schaft, Oberstem Gericht und Staatssicherheit beim mann, Falco Werkentin — vgl. Anlage). Ablauf von fünf politischen Prozessen in den 50er Jahren darstellte. Anschließend berichteten vier Rechtsanwälte sowie ein ehemaliger Staatsanwalt darüber, inwieweit sie selbst bei der Ausübung ihres b) Bericht Berufes von Justizlenkungsmaßnahmen des Staates betroffen waren. Es folgten Berichte von Hubert Baier, 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz Norbert Mette und Christian Schäfer — alle drei begangenen Unrechts Richter an einem Rehabilitationssenat beim Bezirks- gericht Cottbus — darüber, wie sich die Lenkung der 45 Jahre „Recht" und „Justiz" in SBZ und DDR Richter und Staatsanwälte nach den vorliegenden und bedeuteten für die Bevölkerung die ständige Erfah- von ihnen ausgewerteten Akten vollzogen hatte. Die-- rung, daß Menschen- und Bürgerrechte vor dem ther Bischoff, Präsident des Verfassungsgerichtshofes Machtwillen der SED wenig galten. Nicht nur über das des Landes Nordrhein-Westfalen a. D., vom Justizmi- Rechtsbewußtsein der eigenen Bürger und über inter- nisterium des Landes Brandenburg damit beauftragt, national anerkannte Menschenrechte, sondern auch die Einsetzung der sog. Richterüberprüfungsaus- über das von ihm selbst geschaffene geschriebene schüsse zu leiten, ergänzte diese Ausführungen um Recht setzte sich der SED-beherrschte Staat immer seine Erkenntnisse zur Persönlichkeits- und Sozial- dann hinweg, wenn es darum ging, „feindlich-nega- struktur der Richter der DDR. Dem Vortragsteil folgten tive Kräfte" einzuschüchtern, zu isolieren und auszu-