Deutscher Drucksache 12/7820 12. Wahlperiode 31. 05. 94

Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"

gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992 und vom 20. Mai 1992 — Drucksachen 12/2330, 12/2597 —

Inhaltsübersicht Seite

Vorwort 5

A. Auftrag und Durchführung der Kommissionsarbeit 7

I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommission 7

II. Arbeitsweise der Kommission 10

III. Zusammensetzung der Kommission 12

B. Themenfelder 15

I. Themenfeld: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung 15

a) Beratungsverlauf 15

b) Bericht 18 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbedingungen 1945-1949 18 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat 21 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit 27 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und Massenorganisatio- nen 30 Sondervotum 34 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirtschaft 37 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED 39 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der „bewaffneten Organe" 40 8. Schluß 41 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Seite II. Themenfeld: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integra tiver Fakto- ren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR 43 a) Beratungsverlauf 44 b) Bericht 47 Vorbemerkung 47 1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des Marxismus-Leninis- mus 47 Sondervotum 48 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR 54 Sondervotum 56 3. Frauen- und Familienpolitik 57 4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung und Bildung 62 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED-Staat 68 Sondervotum 73 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit 74 7. Rolle des Sports in der DDR 82

III. Themenfeld: Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat 86 a) Beratungsverlauf 86 b) Bericht 87 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz begangenen Unrechts 87 2. Unterschiedliche Phasen des Unrechts 89 3. Die Instrumente des Justizunrechts 92 4. Die Instrumentierung von Recht und Justiz in den verschiede- nen Gerichtszweigen sowie durch die Polizei 96 5. Schlußfolgerungen 101

IV. Themenfeld: Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rah- menbedingungen 104 a) Beratungsverlauf 105 b) Bericht 107 1. Deutschland unter Besatzungsherrschaft 107 2. Das geteilte Deutschland 1949-1961 110 Sondervotum 116 3. Das geteilte Deutschland 1961-1969 119 Sondervotum 121 4. Das geteilte Deutschland 1969-1982 124 Sondervoten 125, 127 5. Das geteilte Deutschland 1982-1989 129 Sondervotum 136 Sondervotum 145 6. Innerdeutsche Beziehungen 1949-1989 147 Sondervotum 151 7. Die Aktivitäten der SED und der DDR in der Bundesrepublik Deutschland und im internationalen Bereich 151 8. Die deutsche Frage nach dem Zweiten Weltkrieg 154 Sondervotum 156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Seite V. Themenfeld: Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschie- denen Phasen der SED-Diktatur 158 a) Beratungsverlauf 158 b) Bericht 159 1. Grundsätzliche Fragestellungen 159 2. Die SED-Kirchenpolitik und die Entwicklungen innerhalb der evangelischen Landeskirchen 160 3. Ausgewählte Problem- und Konfliktfelder im Verhältnis von SED-Staat und evangelischen Kirchen 163 4. Die katholische Kirche in der DDR 172 5. Die Freikirchen und anderen Religionsgemeinschaften in der DDR im Blickfeld der SED-Religionspolitik 174 6. Die Beziehungen zwischen den Kirchen im geteilten Deutsch- land und die deutsche Frage 175 7. Abschließende Bemerkungen 177 8. Sondervotum 178 dazu Stellungnahme 187

VI. Themenfeld: Möglichkeiten und Formen abweichenden und wider ständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die f riedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands- und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur 189 a) Beratungsverlauf 189 b) Bericht 190 1. Zur Begriffsbestimmung oppositionellen und widerständigen Verhaltens in der SBZ/DDR 190 2. Oppositionelles und widerständiges Verhalten in der SBZ/DDR der Ulbricht-Ära 191 3. Oppositionelles und widerständiges Verhalten in der DDR der Honecker-Ära 199 4. Die friedliche Revolution 1989/90 207 5. Oppositionelles und widerständiges Verhalten im Alltag 211

C. Besondere Probleme 214

I. Seilschaften, Altkader, Regierungs- und Vereinigungskriminalität . 214

II. Ministerium für Staatssicherheit 219 a) Beratungsverlauf 219 b) Bericht 219 1. Einleitung 219 2. Zielstellung, Aufgaben, Strukturen und Arbeitsweise des MfS 220 3. Die Tätigkeit ausgewählter Diensteinheiten des MfS 222 4. Die Zusammenarbeit des MfS mit dem KGB und anderen Geheimdiensten der Warschauer-Pakt-Staaten 225 5. Zur Qualität und Aussagefähigkeit von Unterlagen des MfS . 227 6. Forschungsdesiderata und Empfehlungen 228

HI. Opfer des SED-Regimes 229 1. Kategorien von Opfern 229 2. Gesetzgeberische Maßnahmen 230 3. Weitergehender Handlungsbedarf für Staat und Gesellschaft 232 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Seite IV. Archive zur Erforschung der DDR-Geschichte 234 1. Aufgaben der Arbeitsgruppe „Archive" 234 2. Schwerpunkte der Tätigkeit 234 Sondervoten 236, 241 dazu Stellungnahme 244 3. Bedeutung und Wert der DDR-Quellen 247 Sondervotum 248 4. Handlungsempfehlungen 249 Sondervotum 249

D. Sondervotum zu dem vorliegenden Bericht 250

E. Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission 279 Sondervotum 283 dazu Stellungnahme 287

Anhang 288

Berichte, Expertisen und Forschungsaufträge 289

Angehörte Zeitzeugen und Sachverständige 293

Angehörte Initiativen, Organisationen, Institutionen 297

Archivadressen 298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Vorwort

Die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland als politische Aufgabe

Als der Deutsche Bundestag im Mai 1992 eine land" am 17. Juni 1994 nach mehr als zweijähriger Enquete-Kommission mit der Aufgabe be traute, die Tätigkeit ihren Bericht dem Plenum des Deutschen Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Bundestages vorlegt, dann tut sie das in dem Bewußt- Deutschland aufzuarbeiten, waren manche skepti- sein, daß sie — gemessen an den Erwartungen und sche Stimmen zu hören. Viele Beobachter meinten Ansprüchen — nur erste Anstöße geben konnte. Sich damals, das überlasse man besser den Historikern, mit den totalitären Vergangenheiten in Deutschland Juristen und anderen Fachleuten. auseinanderzusetzen, das bleibt, auch wenn manche gegenwärtigen Probleme dringlicher erscheinen mö- Wenn die Enquete-Kommission jetzt ihren Bericht gen, weiterhin eine wich tige, stets aktuelle und dem Plenum des Deutschen Bundestages vorlegt, gemeinsame Aufgabe aller Deutschen. Ich erinnere dann muß die Frage beantwortet werden: Was hat hier an einen Satz Richard von Weizsäckers in seiner dieses parlamentarische Gremium, in dem Abgeord- Rede am 8. Mai 1985: „Wer aber vor der Vergangen- nete und Sachverständige, unterstützt von etwa 320 heit die Augen verschließt, der wird am Ende blind für Zeitzeugen und Wissenschaftlern, in rund 40 internen die Gegenwart." Plenarsitzungen, etwa gleichviel Öffentlichen Anhö- rungen sowie mehr als 150 Sitzungen der Berichter- Die Lasten der Vergangenheit werden noch lange stattergruppen tatsächlich geleistet? schwer wiegen.- Politische Unterdrückung, flächen- Die politische Aufarbeitung einer totalitären Vergan- deckende Überwachung, ideologische Indoktrination genheit, die auf friedlichem Wege beendet wurde, und ein auf den Konkurs programmiertes Wirtschafts- hatte — so meine ich — folgende Ziele im Auge zu system haben Spuren hinterlassen, die in ihrem gan- behalten: zen Ausmaß erst nach und nach zu Tage treten. 1. Durch die präzise Analyse der totalitären Herr- Die Enquete-Kommission wurde durch die wach- schaftsstrukturen der SED-Diktatur sollte die sende Einsicht beeindruckt, daß mit der Aufarbeitung Enquete-Kommission dazu beitragen, daß jene der SED-Diktatur nicht nur die Schandtaten der Kräfte, die in der DDR maßgeblich die Unterdrük- Machthaber, die Leiden der Opfer, das Anpassen kung der Menschen organisierten, niemals wieder vieler und das Wegsehen und Geschehenlassen der eine politische Chance im vereinigten Deutschl and scheinbar nicht Be troffenen ins Blickfeld gerieten, erhalten. sondern auch der Mut zum Widerspruch, die Stand- haftigkeit und die Verweigerung derjenigen, die 2. Die Erörterung des Unrechtscharakters des SED unter den von der SED zu verantwortenden Bedingun- Regimes sollte den Opfern, deren juristische und gen leben mußten, aber nicht bereit waren, sich materielle Rehabilitation nur in engen Grenzen dadurch verbiegen zu lassen. Ich danke den vielen möglich sein wird, zumindest historische Gerech- Zeitzeugen und Wissenschaftlern, die sich bereitfan- tigkeit widerfahren lassen. den, uns ihre menschlichen und politischen Erfahrun- 3. Die Enquete-Kommission sollte einen Beitrag zur gen und Einsichten anzuvertrauen. inneren Vereinigung der Deutschen leisten. Sie wollte das Bewußtsein dafür schärfen, in welchem Die Zusammenarbeit in der Enquete-Kommission war Umfang die SED-Diktatur nicht nur das Leben nicht immer ganz einfach. Wir haben aber — trotz a ller jedes einzelnen Menschen und das der ganzen Konflikte — auch voneinander und miteinander Gesellschaft in der DDR deformierte, sondern dar- gelernt: Wir haben uns voneinander erzählt. Wir über hinaus auch tief in die westdeutsche Gesell- haben uns gegenseitig befragt. Wir haben einander schaft und Politik hineinwirkte. zugehört. Wenn es darum ging, zu bestimmten Urtei- len zu kommen, haben wir uns auch kräftig gestritten. 4. Die Enquete-Kommission wollte durch die Aufar- Dabei hat es mich oft beeindruckt, daß die Parteizu- beitung der Geschichte und der Folgen der SED- gehörigkeit häufig nur eine untergeordnete Rolle Diktatur in Deutschland einen Beitrag zur Verge- spielte. Erst gegen Ende unserer Arbeit mußten wir wisserung des demokratischen Grundkonsens im verstärkt die Erfahrung machen, welche Grenzen der vereinigten Deutschland leisten. historischen und politischen Aufarbeitung der Ver- 5. Die Enquete-Kommission hatte schließlich den gangenheit durch ein parlamentarisches Gremium Auftrag, dem Gesetzgeber Hinweise darauf zu gesetzt sind. geben, auf welche Weise die Besei tigung der Wir mußten auch akzeptieren, daß unsere Arbeitskraft Folgen der SED-Diktatur in Deutschland weiter beschränkt ist. Deshalb hat sich die Enquete-Kommis- vorangetrieben werden kann. sion schon sehr frühzeitig zu einer inhaltlichen Wenn die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Begrenzung und Schwerpunktsetzung ihrer Tätigkeit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch entschlossen. So konnten z. B. die Bereiche der Wirt- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode schaft, des Militärs, der internationalen Politik und der „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Ökologie nur angedeutet werden. Diktatur" hat bei den Vertretern der Medien vielfäl- tige und oft sehr kontroverse Beachtung gefunden. Wenn wir trotz aller dieser Beschränkungen zu einem Auch dafür danken wir. Wenn es uns gelungen ist, beachtlichen Gesamtergebnis in diesem Bericht dazu beitragen, daß wir in Deutschland die Augen gekommen sind, dann hat die Enquete-Kommission nicht vor unserer Vergangenheit verschließen, um das in besonderer Weise ihren sachverständigen Mit- nicht blind für die Gegenwart zu werden, dann haben gliedern zu danken. Sie haben unsere Arbeitsvorha- alle die Medienvertreter, die uns berichtend, kom- ben strukturiert, in den Beratungen der Berichterstat- mentierend und polemisierend begleitet haben, einen tergruppen entscheidend mitgewirkt und sich schließ- erheblichen Anteil daran. lich große Verdienste bei der Abfassung und Redak- tion dieses Berichts erworben. Der Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Keine Enquete-Kommission könnte ihren Auftrag Deutschland", den wir hier vorlegen, wird, so hoffe ohne den wissenschaftlichen, organisatorischen und ich, viele fruchtbare Diskussion auslösen. Bei allem verwaltungstechnischen Sachverstand eines lei- Meinungsstreit, der da auszutragen sein wird, sollte stungsfähigen Sekretariats erfüllen. Wir wissen, daß die uns allen gemeinsame Erkenntnis bewußt bleiben: wir unserem Sekretariat in dieser Hinsicht viel abver- Es geht um das aufrichtige Erinnern und Annehmen langt haben. Die gestellten Anforderungen konnten des Gewesenen. Es geht um die Aufarbeitung einer nur erfüllt werden, weil die Mitglieder des Sekreta lastenden Vergangenheit. Es geht um Gerechtigkeit, riats mit hohem persönlichen Engagement an den um die Stärkung unserer freiheitlichen Demokratie, Aufgaben der Kommission mitgearbeitet haben. um die innere Vereinigung unseres Volkes und die Jede Enquete-Kommission ist auf Öffentlichkeit ange Versöhnung der Menschen untereinander. Es geht um legt. Ihre Tätigkeit ist eine öffentliche Angelegenheit, unser aller Zukunft. Dazu will dieser Bericht einen die der Vermittlung bedarf. Die Enquete-Kommission Beitrag leisten.

- , den 13. Juni 1994

Rainer Eppelmann, MdB Vorsitzender der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

A. Auftrag und Durchführung der Kommissionsarbeit

I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommission

Inhalt — die diktatorischen Machtstrukturen und Herr- schaftsinstrumente des Partei- und Staatsappara- tes sowie die Mechanismen ihrer Anwendung in I. Entstehung und Aufgabenstellung der Kommis- den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sion und Entwicklungsphasen der DDR II. Arbeitsweise der Kommission — der Aufbau der Machthierarchie und die Funk- III. Zusammensetzung der Kommission tionsweise der Entscheidungszentren

Nachdem das politische System der DDR zusammen- — die Verantwortung der Machthaber und der nach- gebrochen und die staatliche Einheit Deutschlands geordneten Kader auf den verschiedenen Hand- wiederhergestellt war, begannen vielfältige p rivate, lungsebenen öffentliche und wissenschaftliche Initiativen in den neuen Bundesländern sowie Institutionen und Ein- — die Wirkungsweise der Repressionsmechanismen richtungen mit der historisch-politischen Aufarbei- unter besonderer Berücksichtigung des Ministeri- tung der über vierzigjährigen SED-Herrschaft. Im ums für Staatssicherheit Verlaufe des Jahres 1991 mehrten sich die Stimmen, — die Methoden der Einflußnahme der SED auf die daß in Ergänzung zu diesen Initiativen auch der politischen und gesellschaftlichen Institutionen Deutsche Bundestag zu dieser wichtigen Aufgabe zur (Blockparteien, Massenorganisationen, Medien, inneren Einheit Deutschlands beitragen solle, die Kultur u. a.) nicht nur großes historisches Interesse beansprucht, sondern in hohem Maße auch wesentliche Fragen — die Auswirkungen der Herrschaftsstrukturen auf zukünftiger politischer Gestaltung im vereinigten das alltägliche Leben (Bildung, Arbeitswelt, Sport Deutschland betrifft. u. a.) und das seelische Befinden der Menschen Von den zur Verfügung stehenden Instrumentarien — die Folgen der SED-Diktatur für die Bürger der der parlamentarischen Arbeit erschien die Einrich- neuen Bundesländer nach der deutschen Vereini- tung einer aus Abgeordneten und Sachverständigen gung. zusammengesetzten Enquete-Kommission als sinn- voll, die thema tisch weitgespannten Fragestellungen Weitere Themen, die in einzelnen Anträgen genannt zu untersuchen. Am 21. Februar 1992 beantragte die wurden, bezogen sich u. a. auf die historischen Rah- Fraktion der SPD beim Deutschen Bundestag die menbedingungen der Entstehung der DDR, die Funk- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische tion der marxistisch-leninistischen Ideologie, das wirt- Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR" 1 ). schaftliche System, die Rolle von Justiz und Polizei als Am 9. März 1992 folgte die Gruppe Bündnis 90/Die Repressionsinstrumenten der SED, das Verhältnis von Grünen mit dem Antrag für eine Enquete-Kommission Staat und Kirche in der DDR, die Entwicklung der „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der innerdeutschen Beziehungen sowie die Ursachen und SED-Diktatur" 2). Eine gleichnamige Enquete-Kom- den Verlauf der friedlichen Revolution im Herbst mission beantragten die Fraktionen von CDU/CSU 1989. und F.D.P. gemeinsam am 11. März 1992 3 ), während die Gruppe PDS/Linke Liste am gleichen Tag ihrem Am 11. März 1992 legten die Fraktionen von CDU/ entsprechenden Antrag den Titel „Politische Aufar- CSU, SPD und F.D.P. einen Antrag vor, der die beitung der DDR-Geschichte" gab 4). Einsetzung und die personelle Zusammensetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Ge- Trotz der im einzelnen unterschiedlichen Fragestel- schichte und der Folgen der SED-Diktatur" zum lungen berücksichtigten alle Anträge wesentliche Gegenstand hatte 5). Demnach sollten der Kommission gemeinsame Untersuchungsschwerpunkte. Dazu sechzehn Abgeordnete und elf Sachverständige von zählten insbesondere: außerhalb angehören (CDU/CSU: sieben Mitglieder und fünf Sachverständige; SPD: fünf Mitglieder, drei Sachverständige; F.D.P.: zwei Mitglieder, ein Sach- 1) SPD-Antrag vom 21. Febvruar 1992, Drucksache 12/2152. 2) Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache verständiger; Bündnis 90/Die Grünen und PDS/Linke 12/2220 (neu). Liste: je ein Mitglied und ein Sachverständiger). 3) Gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., Drucksache 12/2229. 4) Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste, Drucksache 12/2226. 5) Drucksache 12/2230. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Weiterhin sah der Antrag vor, daß für jedes Mitglied Abg. Poppe (Bündnis 90/Die Grünen) sprach sich des Deutschen Bundestages ein Stellvertreter be- dafür aus, daß aus Gründen der Sachkenntnis und der nannt werden solle. Damit war eine Größenordnung elementaren Betroffenheit Abgeordnete und Sachver- vorgegeben, die deutlich über den Umfang aller ständige aus den neuen Bundesländern im Vergleich bisherigen Enquete-Kommissionen des Deutschen zur prozentualen Zusammensetzung des Bundestages Bundestages hinausreichte. Die Vorlage an das Bun- überproportional in der Enquete-Kommission mitar- destagsplenum sah ferner vor, daß die erwähnten beiten sollten. unterschiedlichen Anträge der Fraktionen der En- quete-Kommission dieser zur Beratung mit dem Auf- Der oben genannte gemeinsame Antrag von CDU/ trag zugewiesen werden sollten, dem Deutschen Bun- CSU, SPD und F.D.P. wurde bei zwei Stimmenthaltun- destag bis zum 20. Mai 1992 eine Beschlußempfeh- gen angenommen. Zugleich wurden die Anträge der lung mit Fragestellungen, Untersuchungsschwer- Fraktionen und Gruppen (Drucksachen 12/2152, 12/ punkten und Vorgehensweisen vorzulegen. 2226, 12/2229, 12/2220 (neu) 6) an die Enquete-Kom- mission überwiesen, die sich am 19. März 1992 kon- Der Deutsche Bundestag beriet die Anträge der Frak- stituierte. Einvernehmlich bestimmte die Kommission tionen in seiner 82. Sitzung am 12. März 1992. In der den Abg. Rainer Eppelmann (CDU/CSU) zum Vorsit- Debatte ergriffen zunächst Abg. Rainer Eppelmann zenden und die Abg. Frau Margot von Renesse (SPD) (CDU/CSU) und danach Abg. Willy Brandt (SPD) das zur Stellvertretenden Vorsitzenden. In weiteren sechs Wort. Es schlossen sich Reden von Bundeskanzler Dr. Sitzungen erarbeitete die Enquete-Kommission eine Helmut Kohl und der Abgeordneten Dr. Jürgen Beschlußempfehlung, die eine Gliederung ihres Schmieder (F.D.P.), Gerd Poppe (Bündnis 90/Die Grü- Untersuchungsauftrages enthält. Um den gesamt- nen), Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU), Markus deutschen Bezug deutlicher herauszustellen, empfahl Meckel (SPD), Dr. Uwe Jens Heuer (PDS/Linke Liste), sie, den Namen der Enquete-Kommission wie folgt Wolfgang Mischnik (F.D.P.), Rolf Schwanitz (SPD), Dr. festzulegen: Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Gerhard Friedrich (CDU/CSU), Dr. Jürgen Schmude Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutsch- (SPD), Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste), Dr. Gün- land". Der Deutsche Bundestag ist in seiner 93. Sit- ther Müller (CDU/CSU), Frau Angelika Barbe (SPD), zung am 20. Mai 1992 der Beschlußempfehlung in - Dirk Hansen (F.D.P.), Gert Weißkirchen (Wiesloch) vollem Umfang gefolgt. 7) Sie hat im wesentlichen den (SPD), Dr. Rudolf Krause (Bonese) (damals CDU/ nachstehenden Wortlaut: CSU), Wolfgang Lüder (F.D.P.), Udo Haschke () (CDU/CSU) und Dr. Harald Schreiber (CDU/CSU) sowie von Frau Bundesministerin Dr. Angelika Mer- I. kel (CDU/CSU) und des sächsischen Landesministers Heinz Eggert (CDU) an. Die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Deutschland politisch aufzuarbeiten, ist eine gemein- Hervorgehoben seien die Ausführungen von Bundes- same Aufgabe aller Deutschen. Ihr kommt auf dem kanzler a.D. Abg. Willy Brandt (SPD), der in seiner Weg zur inneren Einigung Deutschlands besonderes letzten großen Rede im Deutschen Bundestag zum Gewicht zu. Ausdruck brachte, im Hinblick auf das Zusammen- wachsen der Deutschen in Ost und West dürfe nicht Noch belastet das Erbe der SED-Diktatur das Zuein- der Mantel des Verschweigens über gravierendes anderfinden der Menschen in Deutschl and. Die Erfah- Unrecht ausgebreitet werden. Ebensowenig dürfe rungen von Unrecht und Verfolgung, Demütigung hingenommen werden, daß dem vergangenen System und Entmündigung sind noch lebendig. Viele Men- durch grassierende Verdächtigung und langwirkende schen suchen nach Aufklärung, ringen um Orientie- Vergiftung nachträgliche Triumphe beschert würden. rung im Umgang mit eigener und fremder Verantwor- Möglichst viel Aufklärung sei notwendig, insbeson- tung und Schuld; sie stellen Fragen nach den Wur- dere dort, wo es um die Machtzentren von Partei, Staat zeln des in der SBZ/DDR errichteten diktatorischen und sogenannter Staatssicherheit gehe und wo es sich Systems; nach den politischen, geistigen und seeli- um das Ausmaß der unterschiedlich festzumachenden schen Folgewirkungen der Diktatur; nach den Mög- Verantwortung handele. Das Aufarbeiten des SED lichkeiten der politischen und moralischen Rehabili- Erbes solle — insoweit folgte er seinem Vorredner tierung der Opfer. Abg. Eppelmann (CDU/CSU) — als gesamtdeutsche Aufgabe verstanden werden, auch als Beitrag zu jener Zur Aufarbeitung dieser Fragen ist die durch Beschluß Aussöhnung, die Wahrhaftigkeit voraussetze. des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992 (Drucksache 12/2330 vom 11. März 1992) eingesetzte Der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Abg. Dr. Enquete-Kommission in besonderer Weise aufgefor- Wolfgang Schäuble, hob in seinem Debattenbeitrag dert. Sie ist den Menschen in ganz Deutschland hervor, aus der historischen Diskussion könne nur verpflichtet, vor allem aber den Deutschen in den dann Einheit erwachsen, wenn sie als Aufgabe aller neuen Bundesländern, die über nahezu sechs Jahr- Deutschen verstanden werde. Die Teilung sei zehnte hinweg diktatorischen Regierungsformen un- gemeinsames Schicksal gewesen; ihre Hinterlassen- terworfen waren; ihnen Hilfen bei der Auseinander- schaft sei gemeinsame Last.

Abg. Wolfgang Mischnik (F.D.P.) betonte, die Arbeit 6) Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen wurde in seinem Teil A der Enquete-Kommission und in seinem Teil B der Enquete-Kommission werde sinnvoll und hilfreich dem Innenausschuß federführend sowie dem Haushaltsaus- sein, wenn es ihr gelinge, der verbreiteten Selbstge- schuß zur Mitberatung überwiesen. rechtigkeit zu begegnen. 7) Drucksache 12/2597. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 setzung mit der Vergangenheit und bei der Bewer- Phasen zu untersuchen, Gruppen von Opfern zu tung persönlicher Verantwortung anzubieten, be- identifizieren und Möglichkeiten materieller und trachtet der Deutsche Bundestag als ein wesentliches moralischer Wiedergutmachung zu erwägen, u. a.: Anliegen der Kommission. — die politische Repression durch Strafrecht, Der Deutsche Bundestag ist sich der Grenzen bewußt, Strafjustiz und Strafvollzug (Haftbedingungen, die einer politisch-rechtsstaatlichen Aufarbeitung ge- Mißhandlungen, Freizügigkeitsbeschränkun- zogen sind. Um so wich tiger ist das Bemühen, verletz- gen, Ausbürgerungen u. ä.), tem Rechtsempfinden durch Offenlegung des Un- — die politischen, geistigen und psychosozialen rechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Unterdrückungsmechanismen im alltäglichen Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Beitrag zur Leben der Menschen und ihre Folgen seit 1945/ Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten. 46; Die Enquete-Kommission soll die notwendige histori- 4. Möglichkeiten und Formen abweichenden und sche Forschung weder vorwegnehmen noch ersetzen. widerständigen Verhaltens und oppositionellen Ihre Arbeit hat das Ziel, im Dialog mit der Öffentlich- Handelns in den verschiedenen Bereichen heraus- keit zur Festigung des demokratischen Selbstbewußt- zuarbeiten samt den Faktoren, die diese beeinflußt seins und zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen haben; politischen Kultur in Deutschland beizutragen. 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur darzustel- II. len; 6. die Bedeutung der internationalen Rahmenbedin- Die Kommission hat dabei die Aufgabe, Beiträge zur gungen, insbesondere des Einflusses der sowjeti- politisch-historischen Analyse und zur politisch-mora- schen Politik in der SBZ und der DDR zu beurtei- lischen Bewertung zu erarbeiten. Dazu gehören: len; 1. die Strukturen, Strategien und Instrumente der 7. die Bedeutung- des Verhältnisses zwischen der SED-Diktatur, insbesondere die Frage der Verant- Bundesrepublik Deutschl and und der DDR zu wortlichkeiten für die Verletzung von Menschen- untersuchen, u. a.: und Bürgerrechten sowie für die Zerstörung von Natur und Umwelt zu analysieren, u. a.: — die deutschlandpolitischen Ziele, Leitvorstel- lungen und Handlungsperspektiven in den bei- — die Entscheidungsprozesse in der SED, den Staaten, — das Verhältnis von SED und Staatsapparat, — die innerdeutschen politischen, ökonomischen, insbesondere das zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Beziehun- Ebenen der SED und des MfS, gen und deren Rückwirkungen auf die Entwick- lung der DDR, — Struktur und Arbeitsweise der Staatssicherheit, der Polizei und der Justiz, — die Bedeutung der persönlichen Verbindungen für das Zusammengehörigkeitsbewußtsein, — die Rolle der Blockparteien, der Massenorgani- sationen und der Medien, — der Einfluß der Medien der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, — die Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der „bewaffneten Organe", — die Aktivitäten der SED und der DDR in der Bundesrepublik Deutschland und im internatio- — die Umgestaltung und Instrumentalisierung der nalen Bereich; Wirtschaft (Enteignung; Zwangskollektivie- rung, Zentralverwaltungswirtschaft), 8. die Frage der Kontinuitäten und Analogien des Denkens, des Verhaltens und der Strukturen in der — den rücksichtslosen Umgang mit Natur und deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbe- Umwelt; sondere der Zeit der nationalsozialistischen Dikta- 2. die Bedeutung der Ideologie, integra tiver Faktoren tur, einzubeziehen. und disziplinierender Praktiken darzustellen und zu werten, u. a.: III. — die Funktion und Instrumentalisierung des Mar xismus-Leninismus und des Antifaschismus, Die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur ist — Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung, Bil- u. a. an den folgenden historischen Daten und Zeit- dung, Wissenschaft, Literatur, Kultur und Kunst räumen exemplarisch zu verdeutlichen: sowie des Sports, — Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- — Umgang mit sowie Auswirkungen und Ro lle dingungen 1945-1949 (z. B. Potsdamer Abkom- von Karriereangeboten und Privilegien; men, Bodenreform, Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED, politische und gesellschaftliche 3. die Verletzung internationaler Menschenrechts- Gleichschaltung u. a.); konventionen und -normen sowie die Erschei- nungsformen der Unterdrückung in verschiedenen — Aufstand vom 17. Juni 1953; Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

— Zwangskollektivierung und Bau der Berliner — öffentliche Anhörungen und Foren,- Mauer; — Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die — Vergabe von Expertisen und Forschungsarbei- CSSR 1968; ten — Übergang von Ulbricht zu Honecker 1971; — friedliche Revolution im Herbst 1989 und deutsche [...] Vereinigung.

In den anschließenden Beratungen hat die Enquete- IV. Kommission den Auftrag weiter verdichtet und in sechs Themenfelder strukturiert. Diese lauten wie Die Kommission soll vorrangig folgende praktischen folgt: Konsequenzen ihrer Arbeit anstreben: — Beiträge zur politischen und moralischen Rehabili- 1. Machtstrukturen und Entscheidungsmechanis- tierung der Opfer und zur Überwindung der dikta- men im SED-Staat und die Frage der Verantwor- turbedingten Schäden; tung. — Aufzeigen von Möglichkeiten zur Überwindung fortwirkender Benachteiligungen in Bildung und 2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Beruf; Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat — Beiträge zur Klärung der Problematik von Regie- und Gesellschaft der DDR. nmgskriminalität in der DDR; — Erhalt, Sicherung und Öffnung der einschlägigen 3. Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat. Archive; — Verbesserung der Voraussetzungen der wissen- 4. Innerdeutsche Beziehungen und internationale schaftlichen Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergan- Rahmenbedingungen. genheit 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den — Handlungsempfehlungen an den Deutschen Bun- verschiedenen Phasen der SED-Diktatur. destag im Hinblick auf gesetzgeberische Maßnah- men und sonstige politische Initiativen; 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und — Hinweise zur pädagogisch-psychologischen Ver- widerständigen Verhaltens und oppositionellen arbeitimg der DDR-Vergangenheit. Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands. V. Für die Themen Staatssicherheit, Wirtschaft, Seil- Die Arbeitsweise der Enquete-Kommission soll u. a. schaften und Archive richtete die Enquete-Kommis- folgende Elemente enthalten: sion eigene Arbeitsgruppen ein. Ihre Ausgliederung aus der allgemeinen Systematik der Berichterstatter- — Gespräche mit Betroffenen und Bürgergruppen gruppen nach Themenfeldern begründet sich durch vor Ort, Dialog mit Wissenschaftlern und Initiati- die besondere Bedeutung der Themen sowie ihre ven, die die DDR-Geschichte aufarbeiten; fachspezifische Ausrichtung.

II. Arbeitsweise der Kommission

Die Enquete-Kommission war ein gesamtdeutsches Eine besondere Prägimg erhielt die Arbeit der En- Pilotunternehmen, das besonders von Abgeordneten quete-Kommission durch die Zusammenarbeit von aller Fraktionen aus Berlin, Brandenburg, Mecklen- Politikern und Wissenschaftlern (Sachverständigen). burg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Dabei haben politische Interessen, unterschiedliche Thüringen eingefordert wurde. So kam eine in der Tat Lebenserfahrungen und wissenschaftliche Positionen gesamtdeutsche Kommission zusammen, die in ihrer eine Rolle gespielt. Daraus erwachsende Spannungs- Arbeit, in ihren Beratungen — wie kontrovers sie verhältnisse konnten meist produktiv genutzt werden, gelegentlich auch waren — eine möglichst gemein- schlössen allerdings unterschiedliche Bewertungen same Sicht von der Geschichte der deutschen Teilung, nicht aus. Gelegentlich waren Kompromisse unver- ihren internationalen Rahmenbedingungen und der meidbar, desgleichen die Formulierung eines Mehr- SED-Diktatur zu erarbeiten versuchte. Der Weg war heits- und eines Minderheitenvotums (Sondervotum), hier auch schon das Ziel. wenn die politische Bewertung nicht einvernehmlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 erfolgen konnte. Dabei wurden die jeweiligen unter- tung durch den Deutschen Bundestag zu gewinnen. schiedlichen Akzentsetzungen der Parteien deutlich. Durch die rege Berichterstattung der Medien konnte Die Abgeordneten entwickelten rasch ein besonderes ferner erreicht werden, daß eine breite Öffentlichkeit Interesse an der Klärung historischer Sachverhalte mit den Fragen der historisch-politischen Aufarbei- und Zusammenhänge, während die Wissenschaftler tung der DDR-Geschichte informiert wurde. den politischen Charakter der Enquete-Kommission anerkannten; dabei blieben sie um ein methodisch Guten Gewissens nimmt die Enquete-Kommission die reflektiertes, den Forschungsstand nach Möglichkeit von der PDS geäußerte Behauptung zur Kenntnis, sie berücksichtigendes Vorgehen bemüht. Zweifellos hat habe bei ihren Recherchen den Repräsentanten, Ent- der 1994 beginnende Wahlkampf die Arbeit der scheidungsträgern und Insidern des SED-Regimes zu Enquete-Kommission nicht erleichtert; ihre Instru- wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In der Tat kam es mentalisierung für Wahlkampfzwecke konnte nicht ihr in den Anhörungen, insbesondere bei der Befra- ganz verhindert werden. gung von Zeitzeugen, darauf an, vorrangig ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR zu Wort kommen Von Anfang an war den Mitgliedern der Enquete- zu lassen, die unter dem SED-Regime entweder zu Kommission klar, daß angesichts der Komplexität des schweigen genötigt waren oder, weil sie zu den Themas in einem Zeitabschnitt von über 40 Jah- erklärten „Andersdenkenden" gehörten, unter Re- ren Schwerpunktbildungen erforderlich waren. Be- pressionen zu leiden hatten. Im übrigen sind ein gutes stimmte Themenbereiche konnten daher entweder Dutzend Inhaber von z. T. höchst einflußreichen bzw. überhaupt nicht oder nur sehr knapp behandelt wer- Einblick gewährenden Ämtern und Positionen der den. Hierzu zählen vor allem: die Rolle der Wirt- SED-Diktatur („Nomenklaturkader") von der Korn- schaftspolitik, die Geschichte der NVA, Probleme mission angehört und befragt worden; weitere wur- der Ökologie, Fragen der Sozialpolitik, alterna tive den eingeladen und sagten ab. Es versteht sich von Entwicklungsmöglichkeiten, Probleme der Wissen- selbst, daß bei der künftigen wissenschaftlichen Auf- schaftspolitik, Fragen der Außen- und Sicherheits- arbeitung des Themas das vorhandene Wissen unein- politik, die Entwicklung der internationalen Bezie- geschränkt in seiner ganzen Breite auszuschöpfen hungen der SED, die Wechselwirkungen in den Bezie- ist. hungen zwischen beiden deutschen Staaten so- wie Vergleiche mit der ersten deutschen Diktatur Neben der Erarbeitung von Vorschlägen für die The- (1933-1945) und den anderen „realsozialistischen" men der Anhörungen war es eine weitere Aufgabe der Staaten des Ostblocks. Die Enquete-Kommission hat Berichterstatter- und Arbeitsgruppen, der Enquete in den verschiedenen Themenfeldern auf besondere Kommission Vorschläge zur Vergabe von Expertisen Forschungsdesiderata hingewiesen. an auswärtige Sachverständige zu unterbreiten. Die Enquete-Kommission hat insgesamt 148 Expertisen- Von der Enquete-Kommission ist für jedes Themen- aufträge zu 95 Themen vergeben. In zahlreichen feld eine Berichterstattergruppe eingesetzt worden, Fällen wurden mehrere Autoren um ihre Mitwirkung die aus fünf bis sieben Mitgliedern aller Fraktionen gebeten, um verschiedene Fragestellungen und Er- und Gruppen bestand und mit der Erarbeitung von fahrungshintergründe zu berücksichtigen. Neben Entwürfen für den Bericht an den Deutschen Bundes- diesen Expertisen hat die Enquete-Kommission zwei tag beauftragt wurde. Ebenso wurde in den erwähn- Forschungsaufträge vergeben, die Sichtung und Aus- ten Arbeitsgruppen verfahren. Die Berichterstatter- wertung von Quellen zur sowje tischen Deutschland- gruppen hatten zunächst Vorschläge für die beiden politik aus russischen Archiven zum Gegenstand wesentlichen Informationsquellen der Arbeit der haben. Es wurden weiterhin Forschungsberichte von Enquete-Kommission zu erarbeiten: Sie berieten über der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterla- die Vergabe von Expertisen an auswärtige Wissen- gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen schaftler und legten die Thema tik der Öffentlichen DDR eingeholt bzw. von den wissenschaftlichen Mit- Anhörungen fest. Die Öffentlichen Anhörungen wur- arbeitern des Sekretariats der Enquete-Kommission den z. T. von eigenen Projektgruppen vorbereitet. Die erarbeitet. Die Titel dieser Arbeiten sind ebenso wie einzelnen Gruppen wurden von wissenschaftlichen die der Expertisen in den Berichten über den Bera- Mitarbeitern des Sekretariats unterstützt. tungsverlauf zu den einzelnen Themenfeldern und in Die Enquete-Kommission hat in den zwei Jahren ihrer der Gesamtliste im Anhang aufgeführt. Tätigkeit insgesamt 44 ganztägige Öffentliche Anhö- Um sich vor Ort ein Bild vom Stand der Öffnung rungen in Bonn, Berlin und an verschiedenen Orten russischer Archive zu verschaffen und die Möglichkeit der neuen Bundesländer durchgeführt und dabei 327 ihrer Nutzung für die deutsche Forschung insgesamt Wissenschaftler und Zeitzeugen angehört. Neben zu erkunden, unternahm eine Delegation der En- dem wissenschaftlichen Gutachtervortrag konnten quete-Kommission in der Zeit vom 5. bis 7. Juli 1993 auch die Alltagserfahrungen von Bürgerinnen und unter der Leitung des Vorsitzenden, Abg. Rainer Bürgern einbezogen und ausgewertet werden. Die Eppelmann, eine Informationsreise nach Moskau und stenographischen Protokolle, die vom Deutschen Bun-- führte dort Gespräche mit Mitgliedern des Parla- destag herausgegeben werden und sämtliche Vor- ments, mit Regierungsstellen, Wissenschaftlern und tragstexte sowie Redebeiträge im Wortlaut enthalten, Archivdirektoren. Der Delega tion gehörten neben stellen eine wertvolle Quelle zur Geschichte der dem Vorsitzenden der Abg. Prof. Dr. Hartmut Soell, Teilung und der SED-Diktatur dar. die sachverständigen Mitglieder der Kommission Prof. Der öffentliche Charakter der Anhörungen bot Inter- Dr. Alexander Fischer, Dr. Armin Mitter, Prof. em. essierten darüber hinaus die Möglichkeit, einen eige- Dr. Hermann Weber, Prof. Dr. Manfred Wilke und nen Eindruck von der historisch-politischen Aufarbei- außerdem der Präsident des Bundesarchivs, Prof. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Dr. Friedrich P. Kahlenberg, sowie der Sekretär der fentliche Sitzungen durch. Zusätzlich tagten Bericht- Kommission, Ministerialrat Dr. Dietrich Lehmberg, erstatter-, Arbeits- und Projektgruppen: an. Der Bericht der Arbeitsgruppe Archive enthält Ausführungen zum Verlauf und zu den Ergebnissen Sitzungen der Berichterstattergruppe dieser Informationsreise. zum I. Themenfeld: 15 Sitzungen der Berichterstattergruppe Grundlagen für den Abschlußbericht bildeten im zum II. Themenfeld: 25 wesentlichen alle Mate rialien der Enquete-Kommis- Sitzungen der Berichterstattergruppe sion, d. h. die Ergebnisse der Forschungsaufträge, die zum III. Themenfeld: 13 Expertisen, Berichte, Anhörungen und Diskussions- Sitzungen der Berichterstattergruppe beiträge. Schon aus Zeitgründen konnte das bis heute zum IV. Themenfeld: 27 vorliegende umfangreiche deutsche und internatio- Sitzungen der Berichterstattergruppe nale Schrifttum zum Thema nicht systematisch ausge- zum V. Themenfeld: 14 wertet werden. Desgleichen zeigte sich bei den Sitzungen der Berichterstattergruppe bestellten Expertisen, daß sich die meisten Autoren zum VI. Themenfeld: 16 auf keine neuen eigenen Forschungen stützen konn- Sitzungen der Arbeitsgruppe Archive: 10 ten. Der Bericht ist als eine Zwischenbilanz mit Sitzungen der Arbeitsgruppe Seilschaften: 12 politischer Akzentsetzung zu verstehen, nicht aber als Sitzungen der Arbeitsgruppe Staatssicherheit: 12 eine wissenschaftliche Gesamtanalyse aus der Sicht Sitzungen der Arbeitsgruppe Wirtschaft: 5 des Jahres 1994, zumal eine allseitige Einsicht in die Mechanismen und Strukturen des „realen Sozialis- Beispielhaft werden nur zwei Projektgruppen ge- mus" nicht angestrebt werden konnte. Dies muß der nannt: zukünftigen — nationalen und internationalen - Forschung vorbehalten bleiben. Der Auftrag an die Projektgruppe „Vierzig Jahre Volksaufstand im Juni Enquete-Kommission war darauf begrenzt, bei der 1953": 6 Sitzungen Aufarbeitung der SED-Diktatur vor allem Erschei- Projektgruppe „Zur Auseinandersetzung mit den bei- nungsformen, Wirkungen und Lehren zu verdeutli- den Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und chen. Gegenwart": 5 Sitzungen Die mitunter unterschiedliche Form der inhaltlichen und sprachlichen Darstellung der einzelnen Kapitel Die Obleute der Fraktionen und Gruppen kamen in im vorliegenden Bericht erklärt sich aus der Vielzahl 52 Bersprechungen zusammen. Die Arbeitsgruppen und Verschiedenheit der Bearbeiter. Eine vollstän- der Fraktionen trafen sich in jeder Sitzungswoche des dige inhaltliche und sprachliche Überarbeitung des Deutschen Bundestages. Darüber hinaus führten sie Gesamtberichts konnte aus zeitlichen und strukturel- zusätzlich zu den Anhörungen der Enquete-Kommis- len Gründen von der Kommission nicht geleistet sion eigene Anhörungen durch. werden. Der Beratungsverlauf im einzelnen ist in den Berich- Die Enquete-Kommission führte neben den bereits ten zu den einzelnen Themenfeldern (Teil B) und zu genannten 44 Öffentlichen Anhörungen 37 nichtöf den Besonderen Problemen (Teil C) dargelegt.

III. Zusammensetzung der Kommission

Von den Fraktionen und Gruppen wurden folgende Dr. Dorothee Wilms (Obmann bis 7. 93) Mitglieder des Deutschen Bundestages für die En- Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (ab 11. 92) quete-Kommission benannt:

CDU/CSU-Fraktion: (stellv. Mitglieder) (ordentliche Mitglieder)

Rainer Eppelmann (Vorsitzender) Dr. Else Ackermann (ab 3. 93) Hartmut Büttner (ab 10. 93) Jürgen Augustinowitz (ab 11. 92) Wolfgang Dehnel (bis 11. 92) Wilfried Böhm Susanne Jaffke (ausgeschieden 9. 92) - Wolfgang Dehnel (ab 11. 92) Dr. Harald Kahl (ausgeschieden 10. 93) Dr. Rainer Jork Hartmut Koschyk (ab 10. 93, Obmann ab 7. 93) Hartmut Koschyk (bis 10. 93) Dr. Rudolf Krause (ausgeschieden 3. 93) Maria Michalk (bis 3. 93) Klaus-Heiner Lehne (ab 10. 92 ausgeschieden Werner Skowron (ausgeschieden 11. 92) 10. 93) Reinhard Frhr. von Schorlemer Maria Michalk (ab 3. 93) Michael Stübgen (ab 10. 93) Dr. Günther Müller Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (bis 11. 92) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

SPD-Fraktion Theologe und Berliner Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- (ordentliche Mitglieder) ligen Deutschen Demokratischen Republik Christel Hanewinkel (ausgeschieden 9. 93) Prof. em. Dr. Dr. h.c. H ans-Adolf Jacobsen (ab Stephan Hilsberg 3. 93) Regina Kolbe (ab 9. 93) Seminar für Politische Wissenschaften der Rheini- Markus Meckel (Obmann) schen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn Margot von Renesse (stellv. Vorsitzende) Prof. Gert Weisskirchen Walter Kempowski (bis 12. 92) Lehrer und Schriftsteller (stellv. Mitglieder) Angelika Barbe Dr. Armin Mitter Evelin Fischer Institut für Geschichte der Humboldt-Universität Rolf Schwanitz (ausgeschieden 9. 92) Berlin Prof. Dr. Hartmut Soell Martin-Michael Passauer Wolfgang Thierse Pfarrer der Sophien-Gemeinde Berlin und Superin- Gunter Weißgerber (ab 9. 92) tendent des Kirchenkreises Berlin Stadt III Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder F.D.P.-Fraktion Universität Regensburg, Juristische Fakultät, Lehr- stuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Ostrecht (ordentliche Mitglieder) Prof. em. Dr. Hermann Weber Institut für Politische Dirk Hansen (Obmann) Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Dr. Jürgen Schmieder Mannheim und Leiter des Arbeitsbereichs DDR Geschichte am Mannheimer Zentrum für Europäische (stellv. Mitglieder) Sozialforschung Dr. Karlheinz Guttmacher (ab 10. 93) Heinz-Dieter Hackel (ausgeschieden 10. 93) Prof. Dr. Manfred Wilke Wolfgang Lüder Fachhochschule für Wirtschaft Berlin; „Forschungs- verbund SED-Staat" der FU Berlin Prof. em. Dr. Herbert Wolf Bündnis 90/Die Grünen frühere Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner" Berlin (ordentliches Mitglied) Gerd Poppe (Obmann)

(stellv. Mitglied) Berichterstattergruppen (Stand Mai 1994) Dr. Wolfgang Ullmann 1. Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung

PDS/LL Prof. em. Dr. Hermann Weber (Einberufer), Dirk Hansen, Prof. Dr. Alexander Fischer, Dr. Armin Mitter, (ordentliches Mitglied) Prof. em. Dr. Herbert Wolf Dr. Dietmar Keller (Obmann) 2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer (stellv. Mitglied) Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Dr. Hans Modrow Gesellschaft der DDR

Auf Vorschlag der Fraktionen und Gruppen berief die Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Einberuferin), Ange- Präsidentin des Deutschen Bundestages als sachver- lika Barbe, Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Dr. Karlheinz ständige Kommissionsmitglieder: Guttmacher, Stephan Hilsberg, Dr. Dietmar Keller, Maria Michalk, Dr. Armin Mitter Prof. Dr. Bernd Faulenbach Forschungsinstitut für Arbeiterbildung Recklinghau- 3. Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat sen; Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhruni- Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder (Einberufer), versität Bochum Wolfgang Lüder, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbert Wolf Prof. Dr. Alexander Fischer Seminar für Osteuropäische Geschichte der Rheini- 4. Innerdeutsche Beziehungen und Internationale schen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn; z. Zt. - Rahmen-Bedingungen Gründungsdirektor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Dresden Prof. Gert Weisskirchen (Einberufer), Prof. em. Dr. Hans-Adolf Jacobsen, Dr. Dietmar Keller, Dr. Armin Karl Wilhelm Fricke Mitter, Gerd Poppe, Prof. Dr. Manfred Wilke, Dr. Publizist, ehemaliger Leiter der Ost-West-Abteilung Dorothee Wilms des Deutschlandfunk, Köln 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den Martin Gutzeit verschiedenen Phasen der SED-Diktatur Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Martin Michael Passauer (Einberufer), Martin Gutzeit, (stellvertretende Leiterin des Sekretariats), Dirk Hansen, Stephan Hilsberg, Regina Kolbe, Prof. Thomas Ammer, Dr. Manfred Wilke Klaus Hanfland, Dr. Lydia Lange, 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und Dr. Bernhard Marquardt, widerständigen Verhaltens und oppositionellen Han- Prof. Dr. Peter Maser, delns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Martin Rißmann, Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Friederike Sattler. Strukturen und Mechanismen der Diktatur Weiterhin waren im Sekretariat tätig: Gerd Poppe (Einberufer)/Dr. Armin Mitter, Karl Wil- OAR Jürgen Wiesner (Büroleitung), helm Fricke, Martin Gutzeit, Dr. Dietmar Keller, Juliane Korten, Dr. Jürgen Schmieder, Prof. Dr. Manfred Wilke Iris Mohr, Heike Töllner. Arbeitsgruppe Archive Wissenschaftliche Mitarbeiter der Sekretariate der Prof. Dr. Manfred Wilke (Einberuferj, Prof. Dr. Alexan- Fraktionen: der Fischer, Dr. Dietmar Keller, Dr. Armin Mitter, Dr. Jürgen Schmieder, Reinhard Frhr. von Schorle- CDU/CSU mer, Prof. em. Dr. Hermann Weber

Klaus Hoff, Gerhard Finn, Arbeitsgruppe Seilschaften Jost Vielhaber (ab 12. 93)

Hartmut Koschyk (Einberufer bis 4.94)/Hartmut Bütt- ner (Einberufer ab 4. 94), Dirk Hansen, Stephan SPD Hilsberg, Dr. Armin Mitter/Gerd Poppe, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbe rt Wolf Wilfried Busemann (bis 12. 93) Brigitte Deja (bis 12. 93), Dr. Ingrun Drechsler (ab 1. 94), Arbeitsgruppe Staatssicherheit Peter Hurrelbrink (ab 1. 94)

Martin Gutzeit (Einberufer), Rainer Eppelmann, Karl Wilhelm Fricke, Dr. Dietmar Keller, Gerd Poppe, F.D.P. Dr. Jürgen Schmieder, Prof. Dr. Hartmut Soell

Bernard Bode Arbeitsgruppe Wirtschaft

Reinhard Frhr. von Schorlemer (Einberufer), Stephan PDS/Linke Liste Hilsberg, Dr. Rainer Jork, Margot von Renesse, Prof. em. Dr. Herbert Wolf Dieter Lehmann

Kommissionssekretariat Bündnis 90/Die Grünen

Die Verwaltung des Deutschen Bundestages stellte Udo Baron der Kommission ein Sekretariat zur Verfügung, das organisatorische und wissenschaftliche Aufgaben zu Die im Text in eckige Klammem gesetzten Verweise beziehen erfüllen hatte. sich auf von der Enquete-Kommission eingeholte Expertisen und Berichte, vergebene Forschungsaufträge sowie auf Proto- Leiter des Sekretariats: kolle der Öffentlichen Anhörungen. Letztere sind großenteils MinRat Dr. Dietrich Lehmberg bereits zum jetzigen Zeitpunkt über das Sekretariat der Enquete-Kommission zu beziehen. Sämtliche Mate rialien der Wissenschaftli che Mitarbeiter waren: Enquete-Kommission (Expe rtisen, Anhörungsprotokolle u. a.) Dr. Marlies Jansen werden voraussichtlich ab Herbst d. J. veröffentlicht. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

B. Themenfelder

L Themenfeld: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung

Inhalt 4.5 Motive für die Mitgliedschaft a) Beratungsverlauf 4.6 Die Frage der politischen Verantwortung 4.7 Gesamtdeutsche Parteistrukturen 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- dingungen 4.8 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung Grünen sowie der Sachverständigen Faulenbach, von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Gutzeit, Mitter, Weber 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit 4.8.1 Vorbemerkung (MfS) 4.8.2 Die Funktion der Blockparteien im System 4. Rolle und Funktion der Blockparteien und Mas- der SED-Diktatur senorganisationen 4.8.2.1 Alibifunktion 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wi rt 4.8.2.2 Gesamtdeutscher Auftrag -schaft 4.8.2.3 Mobilisierung 4.8.2.4 Einbindung und Disziplinierung b) Bericht 4.8.3 Mitglieder und Funktionäre, Mo tive für die

Mitgliedschaft 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- dingungen 1945-1949 4.8.4 Herausforderungen für Christdemokraten und Liberale nach der Vereinigung mit den 1.1 Historische Grundlagen entsprechenden Blockparteien 1.2 Die Rolle der Alliierten, insbesondere der Sowjet- union 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirt- schaft 1.3 Entstehung und Umgestaltung der Parteien 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der 2.1 Rechtliche und sonstige Regelungen zum Aufbau „bewaffneten Org ane" und zur Machtsicherung der SED 8. Schluß 2.2 Zur Praxis der Machtausübung der SED-Füh- rung 2.3 Rekrutierung des Funktionärsapparats der SED a) Beratungsverlauf 2.4 Methoden der „Kaderführung" 2.5 Zu den Beziehungen zwischen SED und KPdSU Das Themenfeld „Machtstrukturen und Entschei- dungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der 2.6 Zur Frage der Verantwortung Verantwortung" umfaßte gemäß dem Rahmenplan 2.6.1 Gesamtverantwortung: Zur Hierarchie der der Enquete-Kommission die folgenden Untersu- Verantwortlichkeiten chungsbereiche: 2.6.2 Einzelverantwortung 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Rahmenbe- 3. Die SED und das Ministerium für Staatssicher- dingungen 1945-1949 heit 2. Die Machthierarchie der SED - die Verquickung 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und Mas- von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat senorganisationen 3. Die SED und das Ministe rium für Staatssicher- 4.1 Ansätze zu einer Neubewertung heit 4.2 Die gesellschaftliche Funktion: „Transmission der 4. Rolle und Funktion der Blockparteien und Massen- SED-Politik" organisationen 4.3 Das Verhältnis zur SED: Abhängigkeit und Kon- trolle 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirt- schaft 4.4 Das Verhältnis zwischen Mitgliedern und Funk- tionären 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der am Beispiel der CDUD (Alex ander Fischer, sachver- „bewaffneten Org ane" ständiges Kommissionsmitglied) sowie die Formie- rung der SED und ihre Rolle im Parteiensystem der Das Themenfeld wurde in elf Öffentlichen Anhörun- SBZ/DDR (Hermann Weber, sachverständiges Korn- gen behandelt. Die Enquete-Kommission gab zusätz- missionsmitglied). lich 32 Expertisen, zwei Forschungsaufträge und neun Berichte in Auftrag. Die sachverständigen Mitglieder Ergänzend wurden in Vorträgen die Entwicklung der der Enquete-Kommission Prof. Dr. Alex ander Fischer SED von 1946 bis 1950 im Lande Thüringen (Günter und Prof. Dr. Hermann Weber hielten einführende Braun) sowie die Instrumentalisierung der Massenor- Vorträge . zur Geschichte der SBZ/DDR in einer inter- ganisationen durch die SED am Beispiel des Kultur- nen Arbeitssitzung der Enquete-Kommission am bundes (Magdalena Heider) und der Gesellschaft für 8. Mai 1992 [-> Protokoll Nr. 5]. Deutsch-Sowjetische Freundschaft (Lothar Dralle) Als ein Kernbereich des Themenfeldes I erwies sich behandelt. Weitere Expertisenaufträge wurden zum Thema „Entstehung und Entwicklung des Parteiensy- der Fragenkomplex „Die Machthierarchie der SED — die Verquickung von Partei-, Regierungs- und Staats- stems 1945-1950" vergeben (Werner Mü ller, Mi- apparat" , innerhalb dessen auch die Frage der Ver- chael Richter). Zwei Expertisen über die „Sonderent- antwortung behandelt wurde. wicklung der SPD in Berlin 1945-1961 " (Siegf ried Heimann, Stefan Wolle) untersuchen die politische In ihrer ersten Öffentlichen Anhörung in am Arbeit der SPD in den Ost-Berliner Bezirken, die bis 29. September 1992 zum Thema „Regierungskrimina- 1961 auf Grund des alliierten Status von Berlin noch lität und justitielle Aufarbeitung — Möglichkeiten und möglich war. Grenzen" [-> Protokoll Nr. 13] informierten im ersten Teil Vertreter der Justizbehörden über den St and ihrer Aus Anlaß des vierzigsten Jahrestages des Volksauf- bisherigen Tätigkeit und nahmen grundsätzlich zu standes gegen die SED-Herrschaft in Ost-Berlin und der Problematik einer strafrechtlichen Verfolgung des der DDR veranstaltete die Enquete-Kommission in SED-Unrechts Stellung. In einem weiteren Teil Berlin am 16. Juni 1993 eine Öffentliche Anhörung, berichteten Vertreter von Organisationen, die sich mit die sich eingehend mit den außenpolitischen Rahmen- der Aufarbeitung der DDR-Geschichte befassen, über bedingungen und der inneren Situa tion der DDR in ihre Tätigkeit [-> Protokoll Nr. 14]. den Jahren 1952/1953 befaßte [-> Protokoll Nr. 42]. Ein Erfahrungsaustausch mit Zeitzeugen, die sich im Juni 1953 aktiv an den Demons trationen beteiligt hatten, ging den Vorträgen und dem Podiumsge- 1. Konstituierung der Diktatur und ihre spräch voraus. Rahmenbedingungen

Die deutschlandpolitischen Ziele der alliierten Sieger- mächte, die Gründe für die Entstehung der deutschen 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung Teilung sowie insbesondere Rolle und Bedeutung der von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Sowjetischen Militäradministration in Deutschl and (SMAD) für die schwerwiegenden strukturellen Ver- Schwerpunkte einer zweitägigen Anhörung in Berlin änderungen in der sowje tischen Besatzungszone am 26. und 27. Januar 1993 über „Die Machthierar- Deutschlands (SBZ) sind Gegenstand von zwei chie der SED" [-> Protokolle Nr. 25 und 26] waren die Berichten, die im Sekretariat der Enquete-Kommis- internen Entscheidungsstrukturen im Parteiapparat sion erarbeitet wurden (Alexander Fischer/Martin der SED, die Verflechtung zwischen Partei und Staat Rißmann). Auf der Grundlage vorliegender wissen- sowie die Methoden der sowjetischen Einflußnahme schaftlicher Literatur leiten sie die Berichterstattung in verschiedenen Phasen der DDR (Vorträge von Sv über das Themenfeld ein. Zwei Expertisen bewerten Hermann Weber, Fritz Schenk, Wolfgang Seiffert, Umfang und Folgen von „Kriegsschäden, Demonta- Thomas Ammer). Ein weiterer Vortrag behandelte die gen und Reparationen" (Lothar Baar/Rainer Karlsch/ politischen und rechtlichen Grundlagen der Tätigkeit Werner Matschke, Christoph Buchheim). von Funktionären auf regionaler und lokaler Ebene (Gero Neugebauer). Es schlossen sich zwei Podiums- In Vorträgen und Zeitzeugenberichten der Anhörung gespräche mit früher führenden Funktionären der in Bonn am 13. November 1992 „Die Veränderung des SED (Karl Schirdewan, Günter Schabowski, Gerhard Parteiensystems 1945-1950" [-> Protokoll Nr. 18] Schürer, Hans Modrow, Manfred Uschner) sowie mit wurden die Absicherung der Führungsrolle der KPD/ Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunk tionären an, die in SED und die Stalinisierung der Partei sowie die ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern die zentralen Vor- schwierigen Arbeitsbedingungen von CDUD und gaben umzusetzen hatten. Zu diesen Fragen wurden LDP e ), die sich in den ersten Nachkriegsjahren dem Expertisen mit der Themenstellung „Staatsapparat kommunistischen Hegemonieanspruch noch zu wi- und Parteiherrschaft in der DDR" (Georg Brunner) dersetzen vermochten, geschildert. Die Referate sowie „Herrschaftsinstrumente und Funktionsmecha- behandelten im einzelnen die politische Konzeption nismen der SED in Bezirk, Kreis und Kommune" der KPD-Führung für Deutschl and in den Jahren (Monika Kaiser, Lutz Prieß) vergeben. Ein schriftlicher 1944/45 (Manfred Wilke, sachverständiges Kommis- Bericht von Thomas Ammer über die Machthierarchie sionsmitglied), den Einfluß der sowje tischen Besat- der SED vermittelt einen Überblick über die in jüng- zungsmacht auf die Entstehung des Parteiensystems ster Zeit erschienene wissenschaftliche Literatur.

*) Die Schreibweise der Parteinamen folgt der Selbstbezeich- In engem Zusammenhang mit den Strukturen der nung in den verschiedenen Zeitphasen. Parteiherrschaft stehen die Folgen, die die SED- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Diktatur für Lebensentwürfe und Gestaltungschancen mann Hertle stellte am Beispiel des FDGB Funktion der Bevölkerung in der DDR mit sich brachte. In der und Bedeutung einer Massenorganisation im SED- zweitägigen Anhörung in Berlin am 30. November Staat dar. Ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der und 1. Dezember 1992 „Die SED-Diktatur — politi- Blockparteien berichteten über ihre Tätigkeit. sche, geistige und psychosoziale Unterdrückungsme- Zu diesem Themenkomplex vergab die Enquete- chanismen: Erfahrungen im Alltag" [-> Protokolle Kommission sechs Expertisenaufträge zur „Rolle, Nr. 20 und 21 ] kamen Bürger zu Wort, die von Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Block- Eingriffen des Staates in ihr privates und berufliches parteien" (Jürgen Frölich, Christel Nehrig, Gerhard Leben berichteten. Diese Alltagserfahrungen aus vier Papke, Michael Richter) und zur „Funktion der Mas- Jahrzehnten DDR wurden durch Vorträge ergänzt, die senorganisationen im Alltag des DDR-Bürgers" (Rai- Handlungsmöglichkeiten „Zwischen Anpassung und ner Eckert, Peter Hübner). Einen Überblick über die Verweigerung — der Einzelne im realen Sozialismus" „Funktion der Massenorganisationen" bietet der (Ehrhart Neubert), „Mobilisierungsstrategien und Bericht von Friederike Sattler. politische Bewußtseinsbildung im realen Sozialis- mus " (Wolfgang Templin) sowie „Repressionsmecha- nismen in der DDR — Auswirkungen auf den Alltag" (Wolfgang Schuller) behandelten. 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Wirtschaft

3. Die SED und das Ministerium für Die Enquete-Kommission behandelte den Themenbe- Staatssicherheit (MfS) reich „Die DDR-Volkswirtschaft als Instrument der SED-Diktatur" in einer öffentlichen Anhörung in Zur Bedeutung des ehemaligen Ministe riums für Bonn am 5. Februar 1993 [-> Protokoll Nr. 27]. Erörtert Staatssicherheit und seiner Arbeitsweise veranstal- wurden zunächst der „Einsatz der Volkswirtschaft der tete die Enquete-Kommission in Bonn am 15. Januar DDR für das Erreichen politischer Ziele der SED" 1993 eine Öffentliche Anhörung [-> Protokoll Nr. 23]. (Gernot Gutmann) und die „Errungenschaften der Während sich Karl Wilhelm Fricke in einem Vortrag SED-Wirtschaftspolitik und ihre Bewertung unter mit Funktion, Aufbau, Personal und Hauptaufgaben marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten" (Harry des MfS als Herrschaftsinstrument der SED auseinan- Maier). Am Beispiel des Wohnungsbaus wurde das dersetzte und dabei das strukturelle Beziehungsge- Niveau der sozial- und wirtschaftspolitischen Leistun- flecht zur führenden Partei und zu den staatlichen gen in der DDR geschildert (Hannsjörg Buck). In der Institutionen hervorhob, schilderte Thomas Rudolph Anhörung von Zeitzeugen zum Thema „Der sozialisti- Methoden, Aufgaben und Zusammenarbeit einzelner sche Betrieb" wurde über Erfahrungen aus verschie- Abteilungen des MfS bei der Informationsbeschaf- denen Wirtschaftsbereichen (volkseigene Wirtschaft, lung und „Zersetzung". halbstaatliche Betriebe u. a.) und über historische Entwicklungsphasen berichtet. In einem Podiumsgespräch mit Zeitzeugen und Experten wurde ferner die Arbeit der Inoffiziellen Die Enquete-Kommission vergab zum Thema der Mitarbeiter (IM) aus der Sicht von Opfern und Tätern DDR-Wirtschaft mehrere Expertisenaufträge, die sich erörtert. Zwei Expertisen über „Das Ministe rium für mit der Veränderung der Eigentumsstrukturen und Staatssicherheit und die Volkswirtschaft" (A rnold mit der Verstaatlichung befaßten: „Herausbildung Seul) und über „Die Arbeit des MfS im Operationsge- und Entwicklungsphasen des Volkseigentums" biet und ihre Auswirkungen auf oppositionelle Bestre- (Wolfgang Mühlfriedel), „Herausbildungs- und Ent- bungen in der DDR" (Irene Chaker) behandeln diese wicklungsphasen der Planungs-, Lenkungs-, und Arbeit des MfS in Fallstudien. Der Bericht „Die Kontrollmechanismen im Wirtschaftssystem" (Gernot Zusammenarbeit von MfS und KGB" (Bernhard Mar- Gutmann), „Umgestaltung von Eigentumsverhältnis- quardt) sowie zwei Berichte des Bundesbeauftragten sen und Produktionsstruktur in der Landwirtschaft" für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der (Adolf Weber). Zwei Expertisen bearbeiten das ehemaligen DDR („Inoffizielle Mitarbeiter" ; „Mög- Thema „Formen, Instrumente und Methoden von lichkeiten und Grenzen der Verwendung der MfS- Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Unterlagen") ergänzten die Untersuchungen zu die- Privatwirtschaft" (Gert Leptin, Hannsjörg Buck). Wei- sem Themenbereich. tere Expertisen untersuchen die Integra tion der DDR- Wirtschaft in den RGW (Alfred Schüller) sowie die offizielle Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Lei- stungen der DDR-Wirtschaft (Peter von der Lippe). 4. Rolle und Funktion der Blockparteien Ergänzend behandelt ein Bericht das Thema „Struk- und Massenorganisationen tur und Entwicklung der Planwirtschaft" (Herbert Wolf/Friederike Sattler). Die Enquete-Kommission Die Instrumentalisierung der Blockparteien und Mas- war sich jedoch bewußt, daß sie den Themenkomplex senorganisationen zur Integra tion bestimmter Bevöl- „Wirtschaft" damit nur unzureichend behandeln kerungsschichten in das System war das Thema der konnte. Anhörung in Bonn am 11. Dezember 1992 über „Erfassung und Einbindung des Menschen im SED- Der Themenbereich „Umweltpolitik und Umweltzer- Staat: Zur Rolle der Blockparteien und Massenorgani- störung" konnte von der Enquete-Kommission eben- sationen" [-4 Protokoll Nr. 22]. Vorträge von Siegf ried falls nicht eingehend behandelt werden. Eine einge- Suckut und Peter Joachim Lapp analysierten die den hende Darstellung des Umfangs der Umweltzerstö- Blockparteien zugewiesenen Funktionen. Hans-Her- rung in der DDR durch die Wirtschaftspoli tik der SED, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode der staatlichen Maßnahmen zum Schutz der ökologi- Die deutsche Expansionspolitik zwang die Groß- schen Grundlagen sowie des Umgangs mit dem Kon- mächte Großbritannien, Sowjetunion und USA im flikt zwischen ökonomischem Wachstum und Natur- Jahre 1941 zu jenem „seltsamen" Bündnis, dem es schutz hätte den Untersuchungsauftrag überschritten; schließlich vier Jahre später gelang, den deutschen sie hätte auch in zeitlicher Hinsicht nicht behandelt Aggressor und seine Verbündeten niederzuwerfen. werden können. Die Expertise „Umweltpolitik und Das Zusammentreffen amerikanischer und sowjeti- Umweltzerstörung" (Carlo Jordan) bietet daher scher Truppen am 25. April 1945 an der Elbe bei anhand ausgesuchter Beispiele lediglich einen ersten Torgau symbolisierte nicht nur den totalen Zusam- Überblick über Teilbereiche der Umweltproblematik menbruch des „Dritten Reiches", sondern auch die in der DDR sowie eine Bestandsaufnahme über die Tatsache, daß das weitere Schicksal des besetzten bisherige Forschung. Deutschland vor allem von den amerikanisch-sowjeti- schen Beziehungen abhängen würde. Zum Themenkomplex „Die Medien als Herrschaftsin- strument der SED" wurden Expertisenaufträge verge- Deutschland hatte 1945 nicht nur eine militärische ben zur Funktion der Presse (Gunter Holzweißig), des Niederlage erlitten, sondern mußte auch mit Gebiets- Rundfunks (Ansgar Diller, Silvia Müller) sowie des verlusten im Osten rechnen, die mit einer massenhaf- Fernsehens (Peter Ludes). ten Vertreibung der deutschen Bevölkerung eingelei- tet wurden. Es war von der NS-Diktatur befreit, aber Zum Themenbereich „Militarisierung der Gesell- auch den Besatzungsmächten bedingungslos ausge- schaft und die Rolle der ,bewaffneten Organe' " wur- liefert. Die in der Ära Bismarck gewonnene Groß- den Expertisen über „Die NVA 1956 — 1990" (Peter machtstellung, die bereits durch den Ersten Weltkrieg Joachim Lapp) und „Die Baueinheiten der Nationalen geschwächt worden war, hatte es selbstverschuldet Volksarmee der DDR — Einrichtung, Entwicklung vollends verspielt. und Bedeutung" (Uwe Koch) in Auftrag gegeben. Am 5. Juni 1945 übernahm der Alliierte Kontrollrat die Weiterhin gab die Enquete-Kommission zwei Doku- oberste Regierungsgewalt in Deutschland („Berliner mentationen von Quellen aus russischen Archiven in Erklärung"). Deutschland war damit zwar nicht als Auftrag: „Dokumentation zur sowjetischen Deutsch- Völkerrechtssubjekt ausgelöscht, aber faktisch und landplanung während des Zweiten Weltkrieges rechtlich zum Objekt der vier Siegermächte gewor- (1944/45) und zu den Anfängen der Besatzungsherr- den. Deren gegensätzliche Zielsetzungen und wider- schaft in der SBZ (1945)" (Jan Lipinsky); „Berichte des strebenden Interessen machten es zunehmend un- Hohen Kommissars der UdSSR in Deutschland aus möglich, zu einer gemeinsamen Grundlage für die den Jahren 1953/54" (Jan Foitzik). zunächst vereinbarte einheitliche Behandlung Deutschlands zu gelangen. Die Einteilung in Besat- zungszonen begann sich zur politischen Teilung zu verfestigen. b) Bericht Während des Kalten Krieges — dessen Ursachen in der Geschichtsforschung zwar umstritten, dessen 1. Konstituierung der Diktatur und ihre Auswirkungen auf das Deutschlandproblem aber Rahmenbedingungen 1945 —1949 unbestreitbar sind — wurden die beiden Teile Deutschlands, die westliche Besatzungszonen und die 1.1 Historische Grundlagen sowjetisch besetzte Zone, in die We rt- und Ordnungs- vorstellungen der Besatzungsmächte eingebunden; sie gerieten in den „Sog der Systeme" (Theodor Wesentliche Grundlage der über vierzigjährigen Eschenburg). Dieser Systemkonflikt, in den später SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der auch die beiden deutschen Staaten einbezogen wor- sowjetischen und deutschen Kommunisten. Die ent- den sind, prägte die deutsche Teilungsgeschichte: In scheidende Voraussetzung für die Errichtung der den drei Westzonen wurde schrittweise die Soziale kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besat- Marktwirtschaft aufgebaut, vor allem aber die politi- zungszone (SBZ) und damit für die Teilung Deutsch- sche Demokratie und eine rechtsstaatliche Ordnung -lands schuf jedoch die nationalsozialistische Kriegs eingeführt. Damit wurden zugleich die Voraussetzun- und Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges. gen für die Integration in das demokratische Westeu- Vor dem Hintergrund einer totalen Militarisierung der ropa geschaffen. Der Bevölkerung der SBZ/DDR deutschen Gesellschaft haben Hitler und seine Partei dagegen wurde schrittweise das politische System der niemals einen Zweifel daran gelassen, daß die Errich- kommunistischen Diktatur, einschließlich der zentral- tung ihres „Großgermanischen Reiches deutscher gesteuerten Staatswirtschaft, aufgenötigt. Nation" auch mit Waffengewalt durchgesetzt werden sollte. Begünstigt durch das komplizenhafte Verhal- Vor diesem historischen Hintergrund hat sich die ten Stalins, entfesselten sie am 1. September 1939 mit Enquete-Kommission mit Fragen auseinandergesetzt, dem Angriff auf Polen den Krieg in Europa, der zwei die jahrzehntelang in Forschung und Publizistik Jahre später — durch den Überfall Deutschlands auf umstritten waren: Welche Entwicklungen verhinder- die Sowjetunion und den Angriff Jap ans auf Pearl ten eine Einigung der Alliierten auf konsensfähige Harbour — zum Weltkrieg ausgeweitet wurde. In Richtlinien für eine gemeinsame Verwaltung des seinem Verlauf ist das deutsche Volk durch die besiegten Deutschland? Wie definierten die alliierten systematische Judenvernichtung („Holocaust") und Verhandlungspartner ihre Interessenlage? Auf wel- durch die rücksichtslose Ausbeutung der eroberten che Weise bestimmte und mit welcher Intensität Länder mit schweren Hypotheken belastet worden. kontrollierte die SMAD die Entwicklung in der SBZ? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

In welchen Etappen vollzog sich die Transforma tion (1945) in vier Zonen einzuteilen und es einem Alliier- der politischen, wirtschaft lichen und gesellschaftli- ten Kontrollrat zu unterstellen. Berlin sollte gemein- chen Ordnung in der SBZ, nicht zuletzt die Umgestal- sam verwaltet werden [-> Protokoll Nr. 18]. tung der Parteien? In welchem Zeitraum bildeten sich Auch nach Kriegsende erreichten die Verhandlungen in den westlichen Besatzungszonen auf der einen und der Siegermächte trotz aller verbalen Beteuerungen in der SBZ auf der anderen Seite politische und nicht jene Verbindlichkeit, die für einen dauerhaften gesellschaftliche Strukturen heraus, die schließlich Zusammenhalt der vier Besatzungszonen erforderlich eine gemeinsame alliierte Deutschlandpolitik verhin- gewesen wäre. Durch die Konferenz von Potsdam derten? Obwohl von der historischen Forschung noch (Juli/August 1945) wurde vielmehr die maßgebliche längst nicht alle Probleme einer Geschichte der deut- Entscheidungsbefugnis für die jeweilige Besatzungs- schen Teilung geklärt werden konnten, der geregelte zone den einzelnen Oberbefehlshabern zugewiesen, Zugang zu den russischen Archiven außerdem immer so daß der nur einstimmig aktionsfähige Alliierte noch zu wünschen übrig läßt, sind auf die gestellten Kontrollrat mit seiner Zuständigkeit für die „Deutsch- Fragen gültige Antworten möglich [-> Bericht AG land als Ganzes „ betreffenden Fragen Sonderent- Archive; vgl. zu den Einzelheiten: Anhörungen und wicklungen in den einzelnen Besatzungszonen nicht Expertisen]. verhindern konnte. Zudem scheiterte die Überein- kunft der „Großen Drei" in Potsdam, zentrale Verwal- tungen für Gesamtdeutschland einzurichten, die eine 1.2 Die Rolle der Alliierten, insbesondere Klammerfunktion im Bereich der Exekutive hätten der Sowjetunion darstellen können. Die Westmächte USA und Großbritannien hatten Obwohl von der „Anti-Hitler-Koalition" frühzeitig neben der Wahrung ihrer ökonomischen und politi- Überlegungen für eine europäische Nachkriegsord- schen Interessen vor allem für das universalistische nung angestellt wurden und die bedingungslose Kapi- Prinzip der Demokratie und damit für Selbstbestim- tulation Deutschlands seit 1943 gemeinsames Kriegs- mung und Menschenrechte gefochten (Atlantik- ziel der Alliierten war, gelang es bis Kriegsende nicht, Charta 1941). Die Zielvorstellungen der Sowjetunion detaillierte Richtlinien für eine gemeinsame Politik stimmten damit inhaltlich nicht überein, auch wenn gegenüber dem besiegten Deutschland festzulegen. deren Vertreter in alliierten Verhandlungen dieselben Die Vordringlichkeit militärischer Entscheidungen, Worte wie „Frieden", „Freiheit" und „Demokratie" der Wunsch nach einem Offenhalten politischer gebrauchten. Die sowje tische Führung suchte aus Handlungsspielräume für die Zeit nach der deutschen großmachtpolitischen wie ideologischen Gründen Kapitulation sowie die teils gegensätzlichen, teils eine möglichst breite Einflußsphäre von im kommuni- noch wenig präzisierten Vorstellungen von einer stischen Sinne „fortschrittlichen" Staaten zu etablie- europäischen Friedensordnung und die in diesem ren sowie einen Ausgleich für die kriegs- und besat- Rahmen zu bestimmende Ro lle Deutschlands trugen zungsbedingten Verwüstungen ihres Landes zu erhal- dazu bei, daß bei Kriegsende in Europa, im Mai 1945, ten [-> Expertise Buchheim]. eine Übereinkunft über die politischen Strukturen eines neuen Deutschl and noch nicht erzielt worden Detaillierte Planungen für ein neues Deutschland war [-> Bericht Fischer/Rißmann]. nach dem militärischen Sieg, auf die von der sowjeti- schen Führung zurückgegriffen werden konnte, Die Konferenzen von Teheran (1943) und Jalta (1945) waren von der KPD-Führung im Moskauer E xil seit hatten in der deutschen Frage ausschließlich Grund- Februar 1944 in Zusammenarbeit zwischen sowjeti- satzerklärungen über die Notwendigkeit erbracht, schen Dienststellen und der KPD-Führung erarbeitet einen „dauerhaften Frieden" zu gewährleisten bzw. worden [-> Bericht Fischer/Rißmann; Wilke, Protokoll den „deutschen Nazismus und Militarismus" zu ver- Nr. 18]. Zu den wesentlichen Zielsetzungen eines nichten. Die Verhandlungen wurden durch wachsen- „Aktionsprogramms" vom Oktober 1944, das eine des gegenseitiges Mißtrauen und durch den aufkom- Rückkehr zur Weimarer Demokratie ausschloß, menden machtpolitischen Gegensatz zwischen der gehörten u. a. die enge Bindung an die Sowjetunion, Sowjetunion einerseits sowie Großbritannien und den die „Blockpolitik", d. h. die Unterordnung neu entste- USA andererseits belastet. Das sowjetische Bestreben, hender Parteien und politischer Organisationen unter nach den baltischen Staaten die Länder Ostmittel- und den Führungsanspruch der KPD, grundsätzliche Ver- Südosteuropas der eigenen Verfügungsgewalt zu änderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruk- unterwerfen, sowie die Uneinigkeit über eine ange- tur sowie die „Ausrottung von Faschismus und Impe- messene Reparationspolitik gegenüber Deutschl and rialismus mit ihren Wurzeln" . Die Deutschlandpolitik bestärkten vor allem die britische Regierung frühzei- der sowjetischen und deutschen Kommunisten war tig in ihrer Absicht, dem sowje tischen Hegemonial- darauf angelegt, alle entscheidenden Funktionen in streben zumindest auf deutschem Gebiet deutliche Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu kontrollieren Grenzen zu setzen [-> Bericht Fischer/Rißmann]. (Walter Ulbricht 1945: „Es muß demokratisch ausse- hen, aber wir müssen alles in der Hand haben."). Entgegen einer schier unausrottbaren Legende ist Europa in Jalta nicht geteilt worden. Allerdings traf Die sowjetische Besatzungsmacht begann in ihrer die „Europäische Beratende Kommission" im Septem- Zone rasch mit grundlegenden Veränderungen der ber 1944 eine weitreichende Entscheidung, die für die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, regionale Aufteilung Deutschlands bestimmend wer- die mit der Notwendigkeit begründet wurden, „die den sollte: Danach war vorgesehen, Deutschland für Garantie dafür zu schaffen, daß Deutschland nie die Zeit seiner militärischen Besetzung in drei, später wieder in der Lage sein wird, den Weltfrieden zu Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

brechen" [-> Bericht Fischer/Rißmann]. Tatsächlich Die Verantwortung für den Aufbau der SED-Diktatur führten diese Maßnahmen dazu, daß die entscheiden- trug in der Stalin-Ara, in der Moskau jede politische den Funktionen in Verwaltung, Wirtschaft und Gesell- Maßnahme diktierte, die sowje tische Führung. Doch schaft deutschen Kommunisten übertragen wurden, konnte sie sich dabei auf die deutschen Kommunisten Eine Bodenreform, die unter ökonomischen und sozia- der Ulbricht-Führung stützen, die sich aktiv am kon- len Gesichtspunkten nicht völlig unberech tigt gewe- tinuierlichen Ausbau ihrer Hegemonie beteiligten. sen wäre [-> Expertise Adolf Weber], wurde durch die Selbst in der Anfangszeit gab es keine alleinige Ablehnung jeder Entschädigung, den ideologisch Verantwortung der sowje tischen Kommunisten und geprägten Begründungszusammenhang und die un- erst recht nicht in den späteren Phasen. Die Sowjet- differenzierte Durchführung zum Anlaß hef tiger Aus- union bestimmte zwar die großen Linien der Politik, einandersetzungen [-> Protokoll Nr. 18]. Vergleichbar Konkretisierung und Ausführung blieben aber der rigorose Eingriffe ordnete die SMAD in den Bereichen DDR- bzw. SED-Führung überlassen, deren Verant- der Verwaltung und Justiz, der Bildung und Erzie- wortlichkeit eindeutig ist. hung, des Sports, der Industrie und der Banken an. Damit wurden in der Sowjetischen Besatzungszone Das System der SED-Diktatur konnte in erster Linie Tatsachen geschaffen, denen eine gesamtdeutsche deshalb vier Jahrzehnte überdauern, weil die Sowjet- Modellfunktion zugedacht war, die jedoch die Spal- union seine Existenz garantierte. Die inneren Fakto- tung Deutschlands forcierten. ren, die das Regime während seiner ständigen Schwankungen zwischen Krisen und relativer Stabili- Die SMAD, deren direkte Anleitung durch die ober- tät aufrechterhielten, sind im einzelnen noch genauer sten sowjetischen Führungsorgane ebenso noch näher zu erforschen. Daß dazu vor allem die Machtmecha- zu erforschen ist wie die Umsetzung dieser Politik, nismen der zentralistischen Diktatur zählten, aber entschied über alle Fragen von grundsätzlicher auch die integrativ wirkenden Faktoren [-> II. The- Bedeutung — einschließlich der Personalentschei- menfeld] sowie das Bemühen der Führung um „Neu- dungen — und überwachte auch die Durchführung tralisierung", d. h. um angepaßtes Verhalten größerer der eingeleiteten Maßnahmen [-> Protokoll Nr. 18, Bevölkerungskreise, kann schon jetzt festgestellt wer- Bericht Fischer/Rißmann]. Landesregierungen und den. -parlamente in der SBZ wurden in die Rolle von bloßen Ausführungsorganen oder Akklamationsgre- mien gedrängt. Zeitzeugen, die sich in den ersten 1.3 Entstehung und Umgestaltung der Parteien Nachkriegsjahren um politische Spielräume für die beiden bürgerlichen Parteien CDUD und LDP bemüh- Die überraschend frühe Zulassung politischer Par- ten, haben mehrfach ihren Eindruck bekräftigt, daß teien (Befehl Nr. 2 der SMAD, 10. Juni 1945) in der sie die Entscheidungsgewalt der SMAD und insbeson- Tradition des deutschen Parteiensystems (SPD, KPD, dere auch die abgestimmte Rollenverteilung zwi- CDU, LDP) zeigte das Bestreben Moskaus, die Ver- schen SMAD und KPD/SED als „allmächtig" erlebten hältnisse in der SBZ im Hinblick auf die gesamtdeut- [-> Protokoll Nr. 18]. Neuere wissenschaftliche Unter- sche Option für die anderen Besatzungszonen mög- suchungen und Erfahrungsberichte legen es nahe, die lichst zügig als Vorbild vorzuprägen. Ausübung der Kontrolle durch die Org ane der SMAD und deren vorgesetzte Moskauer Behörden aufgrund Um eine unkontrollierte Entwicklung von vornherein der sowje tischen Akten detailliert zu erforschen, um auszuschließen, formierten SMAD und KPD eine Ein- so zu differenzierteren Bewe rtungen zu gelangen heitsfront der „antifaschistisch-demokratischen" Par- [-> Expertise Baar/Matschke, Protokoll Nr. 18, Bericht teien, deren Fundament das vorausgegangene Ak- Fischer/Rißmann]. tionsabkommen zwischen KPD und SPD vom 15. Juni 1945 war. Die Entscheidung der Sowjetunion, die Stalinisierung Eine Zäsur wurde der Zusammenschluß von KPD und ihres Besatzungsgebietes unter Aufrechterhaltung SPD zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutsch- der gesamtdeutschen Op tion forciert zu be treiben, lands" (SED) im Frühjahr 1946 nicht nur für das kündigte sich in der SBZ spätestens seit dem II. Par- Parteiensystem in der SBZ. Die KPD, die nach ihrer teitag der SED (September 1947) an; sie fand insbe- Gründung zunächst auf ihre Sonderstellung Wert sondere in der nachdrücklichen Durchsetzung der gelegt hatte, nahm seit Herbst 1945 Kurs auf eine SED-Hegemonie im Parteiensystem ihren Ausdruck. Einheitspartei, nachdem sich die SPD als stärkste Nach jüngsten Erkenntnissen wurde diese Absicht politische Kraft profiliert und ihr Vorsitzender Otto innerhalb der SED früher verfolgt als bisher angenom- Grotewohl einen Führungsanspruch erhoben hatte men [-> Protokoll Nr. 18]. [-> Expertise Müller III]. Grotewohl schwenkte dann aber, unter dem Druck von sowjetischen Besatzungs- Mit dem „real existierenden Sozialismus" bildete sich offizieren und einigen Landesvorsitzenden seiner Par- in der DDR ein diktatorisches Gewalt- und Unrechts- tei (Buchwitz, Hoffmann, Moltmann) um. [-> Expertise system heraus, das nicht dem Machtmißbrauch ver- Müller III]. antwortungsloser Einzelpersonen entsprang (der kam erschwerend hinzu), sondern sich folgerichtig aus Demgegenüber sah Kurt Schumacher die Trennlinie seinen historischen Wurzeln entwickelte, die in der zwischen KPD und SPD darin, daß die Kommunisten Übertragung des sowje tischen Modells auf die SBZ fest „an Rußland als Staat und an seine außenpoliti- liegen. Seine Entstehung ist ohne die gebührende schen Ziele gebunden" seien. Er kämpfte gege n die Berücksichtigung der deutschlandpolitischen Zielset- „Einheit" , in der Sozialdemokraten „Blutspen der" für zungen Stalins nicht zu erklären. die Kommunisten sein sollten. Bei der Urabstimmung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 der Berliner SPD-Mitglieder, die im Ostsektor auf- nicht anpassungswillige Sozialdemokraten und Korn- grund eines SMAD-Verbots unterbleiben mußte, munisten in der SED wurden politisch ausgeschaltet, stimmte in den Westsektoren eine große Mehrheit nicht selten inhaftiert oder sahen sich zur Flucht in die gegen die Vereinigung, allerdings für eine enge westlichen Besatzungszonen gezwungen. Zusammenarbeit mit der KPD [-> Expertise Heimann] . Der nachdrückliche Widerstand Schumachers und Gegen spürbaren Widerstand von Sozialdemokraten anderer antikommunistischer Sozialdemokraten ge- setzte dann die SMAD im Ap ril 1946 die Zwangsver- gen die Vereinigung von KPD und SPD war eine der einigung [-3 Exper tise Müller III] von KPD und SPD Voraussetzungen für die Schaffung eines demokrati- zur „Einheitspartei" SED nur in ihrem Besatzungsge- schen Staatswesens in den Westzonen. Ebenso biet durch. Bei der Vereinigung deklarierte sich die gehörte der Widerstand führender christlicher Demo- SED formal noch als sozialistische, demokratische und kraten (Andreas Hermes, Jakob Kaiser u. a.) und deutsche Arbeiterpartei. Liberaldemokraten (Waldemar Koch, Arthur Lieute- In dem Maße, in dem auf den alliierten Außenmini- nant) zu den Grundlagen des demokratischen, antito- sterkonferenzen die Unvereinbarkeit der Zielsetzun- talitären Wiederaufbaus im Nachkriegsdeutschland gen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion [-> Dieter Rieke, Erika Wolf, Wolfg ang Schollwer, deutlich wurde und somit taktische Rücksichten Mos- Protokoll Nr. 18]. Die Etappen im Entstehungsprozeß kaus auf die ehemaligen Verbündeten sowie auf die der beiden deutschen Staaten in den Jahren 1947 bis deutsche Öffentlichkeit an Gewicht verloren, setzte 1949 werden ausführlich im Bericht von Alexander die SED ihr Machtmonopol zunehmend offen durch. Fischer und Martin Rißmann dargestellt. Die These vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" wurde widerrufen, die SED seit 1947/ 1948 zur „Partei neuen Typus" umgestaltet [-> Exper- 2. Die Machthierarchie der SED — die Verquickung tise Müller III]. von Partei-, Regierungs- und Staatsapparat Der „demokratische Zentralismus", die strikte Herr- schaftsausübung von oben nach unten sowie die Die SED sicherte ihr — verharmlosend „führende „Parteidisziplin" wurden zu Prinzipien des Parteiauf- Rolle" genanntes — Machtmonopol durch eine Reihe baus. Das Bekenntnis zur KPdSU Stalins sowie zur von Elementen totalitärer Herrschaft: „führenden Rolle" der Sowjetunion und der Kampf — verbindliche Ideologie des Marxismus-Leninis- gegen den „Sozialdemokratismus" waren nunmehr mus für alle SED-Mitglieder verpflichtend. Die Partei wurde nach sowje tischem Vorbild durch „Parteisäu- — enge personelle und institutionelle Verschmel- berungen" (allein 1950/51 Ausschluß von 150 000 zung von Partei und Staat Mitgliedern und Funktionären) zur monolithischen — Aufhebung von Gewaltenteilung, föderalem Prin- Organisation. In den fünfziger Jahren gab es im zip und kommunaler Selbstverwaltung Politbüro zwar Auseinandersetzungen um die Politik der Partei, die jedoch die Ulbricht-Führung für sich — Steuerung der Justiz entschied, zugleich wurden die Vertreter einer Politik des „dritten Weges" verfolgt [-> Protokoll Nr. 18]. — straffe zentralistische Lenkung der Partei, Herr- schaft der Parteispitze Parallel dazu wurde die Gleichschaltung der bürger- lichen Parteien forciert. Im Sommer 1945 hatten sich in — parteiliche Kaderpolitik und Nomenklatursystem der SBZ die CDUD und LDP als demokratische Par- — auf allumfassende Kontrolle und Verfolgung aller teien konstituiert; bei den Landtagswahlen 1946 „Abweichungen" angelegter Geheimdienstappa- erhielten sie, trotz massiver Behinderungen durch die rat („Schild und Schwert der Partei") Besatzungsmacht, insgesamt mehr Stimmen als die SED, die z. B. in Berlin hinter SPD (48,7 vH) und CDUD — Instrumentalisierung der Wi rtschaft durch ihre (22,2 vH) sogar nur den dritten Platz (19,8 vH) ein- Umwandlung in eine zentralgeleitete Planwirt- nahm. Anfänglich konnten CDU und LDP, trotz Mit- schaft wirkung in der von den Kommunisten ins Leben — Beherrschung von Armee und Polizei durch die gerufenen „Einheitsfront der antifaschistisch- demo- Partei kratischen Parteien", ein eigenständiges Profil bewahren; dies schloß die Bemühung um gesamtdeut- — Anleitung der Massenorganisationen und Block- sche Parteistrukturen ein. Mit massiver Unterstützung parteien als „Transmissionsriemen" der Besatzungsmacht gelang es der KPD/SED aber zunehmend, ihren Führungsanspruch durchzusetzen — Instrumentalisierung der Medien als Agita tions- und damit die „Einheitsfront" im Sinne ihrer Bündnis- und Propagandamittel der Partei mit dem Ziel des politik zu instrumentalisieren [-> Protokoll Nr. 18, Meinungsmonopols - Expertisen Müller III, Richter I]. Hierzu diente auch — möglichst totale Erfassung des Menschen (Mas- die Gründung und Blockeinbindung zweier weiterer senorganisationen; politisch-ideologische Erzie- „bürgerlicher" Parteien durch SMAD und SED, die hung; Dauermobilisierung; Militarisierung der von vornherein unmittelbar von letzterer abhängig Gesellschaft) waren: der Demokratischen Bauernpartei Deutsch- lands (DBD) und der National-Demokratischen Partei Um die Strukturen der SED-Diktatur und die Metho Deutschlands (NDPD). Nicht anpassungswillige den ihrer Herrschaftspraxis beurteilen zu können, Kräfte in den bürgerlichen Altparteien ebenso wie sind vorrangig zwei Fragestellungen wich tig, die für Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode die Klärung von Machtausübung und Machterhaltung beschluß vom Juli 1960, demzufolge alle staatliche der SED-Führung eine wichtige Rolle spielen: Angelegenheiten be treffenden Politbüro- und ZK- Beschlüsse unverändert dem Ministerrat als Vor- — Wie wurden Entscheidungen vorbereitet, gefällt, lage zu unterbreiten waren) sowie ausgeführt und kontrolliert? — die Satzungen und Statuten der Blockparteien und — Wie wurde die Machthierarchie in der Funktio- Massenorganisationen närsschicht aufgebaut, wie wurde sie erhalten und regeneriert, wie wurde die Zuverlässigkeit dieser Das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" (d. h. Funktionärsschicht bewirkt? die absolute Verbindlichkeit der Beschlüsse der höhe- Andere Faktoren, die für die Machtausübung und ren Organe und Gremien für die unteren einschließ- Machterhaltung der SED-Spitze und ihres Apparats lich der Vorgaben der Kaderpolitik für Wahlen in von Bedeutung waren, können nur erwähnt, aber Leitungsgremien) als Grundregel der Kompetenzhier- nicht näher erläutert werden, sie sind Desiderate der archie in Partei und Staat wurde sowohl im SED- Forschung: die politische und militärische Präsenz der Programm als auch in der Verfassung von 1968/1974 Sowjetunion, die äußeren Einwirkungen aus dem (Artikel 47 Abs. 2), darüber hinaus aber auch in den Westen, die innerdeutschen Beziehungen, die ökono- Statuten und Satzungen der Blockparteien und Mas- mische Lage, Art und Ausmaß der Repression, die senorganisationen festgeschrieben [-> Exper tise psychologische Befindlichkeit der Bevölkerung usw. Brunner I; Bericht Ammer; Protokolle Nr. 25 und Hier werden nur einige wich tige Fragen aus den 26]. beiden obengenannten Problemkreisen, im wesentli- chen für die Zeit nach dem IX. Parteitag der SED 1976, behandelt. Der Forschungstand zeigt noch viele 2.2 Zur Praxis der Machtausübung „weiße Flecken", und insbesondere die Archivsitua- der SED-Führung tion in Rußland ist derzeit noch so problematisch, daß die Vergabe von Expertisen nicht sinnvoll erschien. Eine unentbehrliche Grundlage der Herrschaftspraxis Für die Vergabe von Forschungsaufträgen war die der SED-Führung war die Durchdringung aller Berei- Zeit, die der Enquete-Komission in der laufenden che von Staat und Gesellschaft (ausgenommen die Legislaturperiode zur Verfügung stand, nicht ausrei- Kirchen) mit den Organisationsstrukturen der SED. chend. Dazu gehörten insbesondere

— die Existenz von Parteiorganisationen in den ober- 2.1. Rechtliche und sonstige Regelungen zum sten Verwaltungs- und Justizbehörden (in wichti- Aufbau und zur Machtsicherung der SED gen Ressorts im Rang einer Kreisparteiorganisa- tion) sowie in allen zentralen und örtlichen Staats- Die Machtposition („führende Rolle") der SED in der organen DDR und die Machthierarchie in der Partei („demo- kratischer Zentralismus") wurden zum größten Teil — die Existenz der Politischen Hauptverwaltung erst lange nach ihrer tatsächlichen Durchsetzung auch bzw. der politischen Verwaltungen in den bewaff- rechtlich festgeschrieben. Die umfassendsten und neten Organen und bei der Deutschen Reichsbahn, wichtigsten dieser Regelungen waren die zugleich als Leitungen der Parteiorganisatio- nen ihres Zuständigkeitsbereiches (z. B. im Falle — das Programm und das Statut der SED von 1976 der NVA im Rang einer Bezirksparteiorganisation) (ähnlich wie schon 1963), die beide in ihrem fungierten politischen Gewicht bis zum Ende des SED-Regi- mes vor der Verfassung rangierten (die SED ist — die faktische Leitung der Wirtschaft über den von danach „die führende Kraft der sozialistischen der Partei festgelegten Pl an und über hierarchisch Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiter- gegliederte Leitungsinstrumente bis zu den Partei- klasse und der Werktätigen, der staatlichen und leitungen in den Betrieben, in Großbetrieben über gesellschaftlichen Organisationen") und Industriekreisleitungen oder deren Erstem Sekre- tär, einem vom ZK eingesetzten und ihm unterstell- — die DDR-Verfassung von 1968/74 (Artikel 1, ten „Parteiorganisator des ZK" Abs. 1), — die Parteiorganisationen in den Massenorganisa- darüber hinaus: tionen bzw. deren Leitungen, z. B. als Kreispar- — das Gesetz über den Ministerrat vom 16. Oktober teiorganisation „Zentrale Leitungen der Gewerk- 1972 (§ 1 Abs. 1 Satz 2) schaften" für den FDGB-Bundesvorstand und die Zentralvorstände der Industriegewerkschaften — das Statut des Nationalen Verteidigungsrates von (Ziff. 69 SED-Statut) 1973/1981 — die Parteigruppen in der Volkskammer und in den — das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen örtlichen Volksvertretungen, die die Mitglieder vom 4. Juli 1985 (§ 1 Abs. 1 Satz 1) der SED-Fraktion und die der SED angehörenden — alle Statuten der Ministerien und anderer zentraler Mitglieder der Fraktionen der Massenorganisatio- Staatsorgane nen umfaßten (Ziff. 69 SED-Statut) — unveröffentlichte, aber inzwischen zugängliche — die Parteiorganisationen im Bildungswesen und in Beschlüsse der Parteiführung (z. B. ein Politbüro- den wissenschaftlichen Einrichtungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— die Existenz „zeitweiliger Parteigruppen", denen Kreisleitungen, die etwa 44 000 hauptamtlichen Par- die an Kongressen und ähnlichen Veranstaltun- teifunktionäre (1989) sowie etwa 100 000 Personen gen teilnehmenden SED-Mitglieder angehörten des Militär- und Sicherheitsapparates. In der DDR (Ziff. 69 SED-Statut) spielte das „Parteiaktiv", ein Kreis von ca. 250 000 bis 300 000 Funktionären, bei der Bewäl tigung von Kri- — das Kontrollrecht der Parteiorganisationen in senlagen eine erhebliche, in den letzten Jahren der Betrieben und anderen Einrichtungen über die DDR jedoch abnehmende Rolle. Tätigkeit der Betriebsleitung, Institutsleitung usw. (Ziff. 63 SED-Statut) Alle Partei- und Staatsfunktionäre, Wirtschaftsfunk- tionäre sowie Funktionäre in den Massenorganisatio- Sowohl auf zentraler als auch auf regionaler Ebene nen in wichtigen oder für wichtig gehaltenen Positio- gab es einen weitgehend parallel verlaufenden Auf- nen waren „Nomenklaturkader", d. h. zuverlässige bau der Ressorts im Partei- wie im Staatsapparat, so Funktionäre, die in „Nomenklaturlisten" unterschied- daß den Fachabteilungen des ZK-Apparates die Fach- licher Wertigkeit von der Parteiführung, von regiona- ministerien,- den Fachabteilungen der SED-Bezirks len Parteileitungen und auch von Staatsorganen und Kreisleitungen die Fachabteilungen der Räte der geführt wurden. Die in den Nomenklaturlisten enthal- Bezirke bzw. der Kreise zugeordnet waren. Die Par- tenen Positionen galten als bedeutsam für das Funk- teiinstitutionen waren den Verwaltungsinstitutionen tionieren und die Stabilität des SED-Regimes. Aus stets übergeordnet. Alle Vorlagen kamen entweder offiziellen Angaben läßt sich schließen, daß es in den aus dem Parteiapparat oder bedurften zumindest achtziger Jahren mehr als 320 000 Nomenklaturkader seiner Zustimmung, bevor auf staatlicher Ebene dar- gegeben haben muß. über beschlossen werden konnte. Analog war der Zugriff der SED auf das Gerichtswesen gestaltet. Die Parteiführung schuf sich über — auch heute noch Charakteristisch für die Herrschaftspraxis der SED- nicht hinreichend erforschte — Kader- und Nomen- Führung war die Konzentration der Entscheidungsbe- klaturordnungen einen hierarchisch strukturierten fugnisse beim Politbüro und beim ZK-Sekretariat. Personalstamm und sicherte damit eine sorgfältige Politbüro und ZK-Sekretariat entschieden ständig Auswahl unter den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern, zu über eine Fülle von Einzelproblemen, wobei häufig einem kleineren Teil auch unter Parteilosen und nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwich tigem Angehörigen der Blockparteien. Letztere durften unterschieden wurde. bedeutsame Positionen in ihren Parteiapparaten nur mit Zustimmung der SED besetzen, so daß die Füh- Das ZK als nominell höchstes Führungsgremium der rungspositionen der Blockparteien ebenfalls zum SED zwischen den Parteitagen kommt kaum als Nomenklatursystem der SED zu zählen sind. Organ der Entscheidungsfindung in Betracht; es diente unter Honecker nur noch als Podium der Die Kriterien für die Auswahl und die Karrieren von Verkündung der vom Politbüro gefällten Entschei- Kadern sind in der DDR nicht bekannt gewesen. Der dungen. Diese wurden im Politbüro bis zum Sturz veröffentlichte Beschluß des ZK-Sekretariats zur Honeckers fast immer ohne Abstimmung oder ein- Kaderpolitik vom 7. Juni 1977 enthält lediglich allge- stimmig getroffen; die Meinungen des Generalsekre- meine, nahezu unerfüllbare sowie umfassende Pflich- tärs und herausragender Politbüromitglieder (z. B. ten- und Anforderungskataloge. Aus der Praxis und Günter Mittag) waren stets ausschlaggebend. Ober- durch zahlreiche Zeitzeugenaussagen ist jedoch einstimmend wird berichtet, daß der Informationsgrad bekannt, welche Kriterien die Karrieren von Kadern der meisten Politbüromitglieder und -kandidaten bei vorrangig bestimmten: Problemen, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich — politisch-ideologische und möglichst nachgewie- fielen, relativ gering gewesen ist, obwohl grundsätz- sene Zuverlässigkeit (u. a. die Tatsache der lich alle Funktionäre des Politbüros an dessen Zusammenarbeit mit dem MfS) Beschlüssen beteiligt wurden [-> Exper tise Brunner I, Bericht Ammer, Protokolle Nr. 25 unf 26]. — familiärer Hintergrund (große Teile der Funktio- närsschicht rekrutierten sich aus sich selbst heraus, vor allem im Sicherheitsapparat) 2.3 Rekrutierung des Funktionärsapparats der SED — keine Kirchenzugehörigkeit — fachliche Qualifikation Die Diktatur der SED war „Herrschaft durch Kader", Voraussetzung für ihr Funktionieren war die Existenz — keine Westverwandtschaft oder zumindest Ver- einer eng mit der Parteispitze verbundenen Schicht zicht auf Westkontakte von Partei- und Staatsfunktionären, die die Politik der — positive Beurteilung durch das MfS (nahezu unver- Parteiführung ausführte, sie gegenüber der Bevölke- zichtbar vor allem in den letzten Jahren der DDR) rung vertrat und erforderlichenfalls auch mit Zwangs- und nicht zuletzt auch mitteln durchsetzte. Dieser Funktionärsschicht dürf- ten von den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern, darunter — persönliche Beziehungen ca. 1,8 Millionen Funktionsträger, nur etwa 350 000 bis 400 000 Funktionäre, also etwa 3 Prozent der Auch außerhalb der offiziellen Kaderpolitik war es erwachsenen DDR-Bevölkerung, angehört haben. höheren Partei- und Staatsfunktionären gelegentlich möglich, geeignete Mitarbeiter vor allem wegen ihrer Zum Kern der Funktionärsschicht gehörten die mei- fachlichen Qualifikation und nicht allein wegen ihrer sten der über 100 000 Parteisekretäre, der überwie- unbedingten politischen Zuverlässigkeit einzustellen, gende Teil der Mitglieder von SED-Bezirks- und sofern das MfS seine Zustimmung erteilte [-> Exper- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode ltise Brunner I, Bericht Ammer, Protokoll Nr. 25/26, ienangehörigen) bewirkte jedoch, daß der Funktio- Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993]. närsapparat der SED innerhalb und außerhalb der Partei bis etwa Mitte 1989 im Sinne der Führung im Aus den Berichten der Zeitzeugen ergab sich, daß das wesentlichen zuverlässig blieb [-> Bericht Ammer; Nomenklatursystem und das die Kaderpolitik bestim- Protokolle Nr. 25 und 26, Vortrag Abg. Keller am mende Regelwerk auch unter SED-Funktionären 22. Januar 1993]. nicht allgemein bekannt gewesen sein dürfte. Beide Strukturelemente dürften bis zum Ende des SED- Regimes weitgehend dem sowje tischen Vorbild ent- sprochen haben. Insgesamt sind auf diesem Gebiet die 2.5 Zu den Beziehungen zwischen SED und KPdSU Desiderate der Forschung noch groß. Zu diesem Thema kann wegen der z. Zt. geringen Materialbasis (daher konnten dazu auch keine Exper- tisen vergeben werden), den schon erwähnten 2.4 Methoden der „Kaderführung" Schwierigkeiten in den russischen Archiven sowie widersprüchlicher Zeitzeugenaussagen, vor allem für Die Parteiführung verstand es, ihre Funktionäre, teil- die Zeit seit Mitte der siebziger Jahre, noch kein weise auch die einfachen Parteimitglieder, durch Bericht vorgelegt werden. Das zentrale Themenfeld Kataloge letztlich unerfüllbarer Anforderungen in „Beziehungen zwischen SED und KPdSU" bleibt ein Parteiprogramm und -statut sowie in anderen Füh- wichtiger Merkposten für Forschungen und weitere rungsdokumenten der SED-Zentrale in ein — oft nur Untersuchungen. Um die hier vorhandenen For- psychologisch wirksames — Abhängigkeitsverhältnis schungslücken schließen zu können, ist die Nutzung zu bringen. Der Bewahrung dieser Abhängigkeit der russischen Archive unverzichtbar [-> Bericht AG dienten u. a. die Pflicht zur regelmäßigen oder auch Archive]. gesondert angeordneten Berichterstattung vor über- geordneten Parteileitungen, die „Abrechnung von Parteiaufträgen", „Kritik und Selbstkritik" sowie ins- 2.6 Zur Frage der Verantwortung besondere regelmäßige Mitgliederüberprüfungen. Letztere — zwei davon in den achtziger Jahren — Die Frage der Verantwortung für die Herrschaftsme- bedeuteten zuletzt nicht mehr, wie noch zu Beginn der fünfziger Jahre, eine großangelegte „Parteisäube- thoden und -praktiken des SED-Regimes mit all ihren rung", wohl aber eine jedes Parteimitglied treffende schwerwiegenden Konsequenzen für die Bürger der DDR, insbesondere für die unmittelbar be troffenen Zuverlässigkeitsprüfung, über deren Ausgang sich Opfer, zählt wohl zu den sensibelsten und komplizier- niemand völlig sicher sein konnte. testen Problemen, denen sich die Enquete-Kommis- Ein unentbehrliches Mittel der Kaderführung ist die sion bei der Aufarbeitung von Geschichte und Folgen innerparteiliche Informationspolitik der Parteispitze der SED-Diktatur gegenübersah, auf die es aber zu gewesen. Der Zugang zu Informationen war in der reagieren gilt. Das bet rifft auch die daraus abzuleiten- Funktionshierarchie ein Privileg nach dem Motto: Je den Schlußfolgerungen für die Gegenwart. Es wird höher die Position, desto größer die Informationsmög- sowohl das Recht auf historischen Irrtum zu bedenken lichkeit. Dazu gehörten differenzierte Informationen sein als auch das Bedürfnis nach moralischer Verur- der Funktionäre in speziellen Beratungen mit höheren teilung verwerflicher Taten. Das gilt in ähnlicher Parteileitungen, die Verbreitung interner Informa- Weise für Verstrickung, Manipula tion, mangelnde tionsmaterialien, das mehrstufige System der Partei- Zivilcourage, Anpassung und persönliche Schuld, die schulen sowie Sonderveranstaltungen des Parteilehr- viele auf sich geladen haben, ohne daß immer eine jahres für ausgewählte Funktionäre. Diese selektive juristische Ahndung möglich sein wird. Für diese sind Informationspolitik war mit dem Versuch der Abschot- allein rechtsstaatliche Grundsätze (Strafverfahren tung gegenüber allen der SED-Führung unerwünsch- und individueller Schuldnachweis, Rückwirkungs- ten Informationen und Einflüssen verbunden — insge- verbot usw.) maßgeblich. Es wird stets ein schwieriges samt eine Strategie, die im wesentlichen bis in die Unterfangen bleiben, Verhaltensweisen in einem letzten Jahre des SED-Regimes erfolgreich praktiziert totalitären System ebenso gerecht wie angemessen zu worden ist. beurteilen. Jedoch sollten Verantwortlichkeiten, di- rekte und indirekte, in der notwendigen Abstufung Die Vergabe von Privilegien zur Belohnung und (Hierarchie der Verantwortung) zu präzisieren und zu Disziplinierung von Funktionären war ein weiteres kennzeichnen sein. Mittel der Kaderführung, wobei viele dieser „Privile- gien" nur unter den Bedingungen einer Mangelwirt- Die Aufstellung unzweideutiger Kriterien für die Ver- schaft als solche gelten konnten. Vorteile wie die antwortlichkeit von Funktionsträgern des SED-Regi- Zuweisung von Wohnungen und hochwertigen Kon- mes stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die eine sumgütern, eine höhere Entlohnung, berufliche Kar- Klärung dieser Frage nur in engen Grenzen ermögli- rierechancen, günstigere Ausbildungsmöglichkeiten - chen. Die schon vor 1989 weithin bekannten Grob- für die Kinder und gelegentlich auch ein gewisser strukturen des Regimes reichen dafür und erst recht Schutz vor Maßnahmen des MfS waren in der Regel für die Feststellung von Verantwortlichkeiten im Ein- nicht ohne erhebliche zusätzliche Arbeitsbelastungen zelfall nicht aus. Die Erforschung der Feinstrukturen und auch psychische Belastungen zu haben. Der im befindet sich aber trotz der jetzt offenliegenden Quel- Falle der Insubordination drohende Verlust echter len noch in den Anfängen. Die Konzentration der oder scheinbarer Privilegien (bis hin zum Verlust der Macht in den Händen weniger Spitzenfunktionäre, beruflichen Existenz und zu Nachteilen für die Fami die auf das Prinzip des „demokratischen Zentralis- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 mus" gegründete starre Machthierarchie, der Vor- oder sachlichen Zuständigkeit — die Sekretariate der rang oft mehrdeutiger Parteibeschlüsse vor allen SED-Bezirks- und Kreisleitungen bzw. Erste Sekre- anderen Normen, die Geheimhaltung von Entschei- täre [-> Expertisen Brunner I, Prieß, Bericht Ammer, dungsvorbereitungen und Entscheidungswegen so- Schabowski, Protokoll Nr. 25]. Dies kann durchaus wie unklare und wechselnde Kompetenzabgrenzun- auch bei Parteisekretären wich tiger Grundorganisa- gen bieten ehemaligen Funktionsträgern nicht leicht tionen der SED, z. B. im Sicherheitsapparat, in zentra- zu widerlegende Argumente, wenn sie Verantwort- len Staatsorganen sowie in den Räten der Bezirke und lichkeit im konkreten Fall bestreiten oder verschleiern Kreise, der Fall gewesen sein. Sie ist besonders wollen. Hierzu zählen vor allem das Abschieben der schwerwiegend für die Angehörigen der Repressions Verantwortung- auf übergeordnete Ebenen des Partei organe und ihre Auftraggeber in SED-Gremien, dage- und Staatsapparats bis in die Spitzenpositionen, von gen abgestuft weniger bedeutsam für viele Mitarbei- der staatlichen Ebene auf die Parteiebene und nicht ter in den Apparaten von Staatswirtschaft, Wissen- zuletzt von DDR-Institutionen auf sowje tische Wei- schaft, Bildungswesen usw. sungen oder Einflüsse. Die Gesamtverantwortung ist aufgrund der seit lan- gem bekannten, durch Expertisen und Anhörungen zusätzlich belegten „Suprematie der SED" [-> Vor- 2.6.1 Gesamtverantwortung: Zur Hierarchie der träge Schenk, Seiffert, Protokoll Nr. 25, Expertisen Verantwortlichkeiten Brunner I, Bericht Ammer] bei Parteifunktionären und Angehörigen von Leitungsgremien der SED größer als Es gibt Aussagen von Spitzenfunktionären und auch bei Funktionären im Staatsapparat, Abgeordneten der von nachgeordneten Funktionsträgern über ihre Volksvertretungen, Funktionären der nichtkommuni- Gesamtverantwortung für die Herrschaftsmethoden stischen Blockparteien sowie der Massenorganisatio- des SED-Regimes und ihre Folgen in allgemeiner nen. In allen relevanten Bereichen gab es in der DDR Form, je nach Ranghöhe des Bekennenden abgestuft Überschneidungen von Strukturen der SED und der für das Regime als Ganzes oder für den eigenen anderen Apparate. Mit Hilfe des Nomenklatursystems Zuständigkeitsbereich H Schürer, Schabowski, En- besetzte die SED-Führung alle bedeutsamen Positio- zian, Krause, Protokolle Nr. 25 und 26]. Solche nen außerhalb des Parteiapparates mit ihren Mitglie- Bekenntnisse sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie sind dern und Funktionären und integ rierte diese durch im historischen und moralischen Sinn hilfreich, weil Einbeziehung in ihre Leitungsgremien in die Struktu- sie Rolle, Funktionsweise und Bedeutung von Organi- ren der Partei [-> Exper tise Brunner I; Bericht Ammer]. sationen, Gremien, Institutionen usw. verdeutlichen Funktionäre, die als Staatsfunktionär zugleich Mit- und so der Entstehung von Legenden entgegenwir- glied des Sekretariats einer SED-Leitung der gleichen ken. Ebene waren (z. B. Vorsitzender eines Rates des Kreises und Mitglied des Sekretariats der SED-Kreis- Eine unterschiedlich zu gewichtende Gesamtverant- leitung), sind daher hinsichtlich ihrer Gesamtverant- wortung (unabhängig von persönlicher Verantwor- wortung nicht wesentlich anders zu bewerten als tung des einzelnen Funktionärs für bestimmte Maß- Parteifunktionäre, die direkt und überwiegend im nahmen, Beschlüsse usw.) der Mitglieder bzw. Mitar- Parteiapparat tätig waren. Angehörige des Staatsap- beiter bestimmter Organisationen, Gremien oder parates und anderer Gremien außerhalb der SED Institutionen ergibt sich zum einen daraus, daß die können ihre Gesamtverantwortung nicht mit dem Tätigkeit als Partei- und Staatsfunktionär in a ller Hinweis auf die „Suprematie der SED" zurückweisen. Regel freiwillig übernommen wurde. Kaum ein Funk- Dies gilt z. B. für die Volkskammer der DDR, die u. a. tionär hat sich also, wie häufig behauptet, in einem das StGB von 1968 und seine Verschärfungen in den echten „Notstand" befunden. Sie ergibt sich zum siebziger Jahren beschlossen hat und noch im Juni anderen aber aus der Tatsache, daß jeder Partei- und 1989 eine Resolution verabschiedete, mit der die Staatsfunktionär dem SED-Regime nicht nur im Rah- Niederschlagung der Demokratiebewegung in China men seiner Zuständigkeit zu dienen hatte, sondern begrüßt wurde. Die Gesamtverantwortung der Volks- auch die Politik der SED und die Beschlüsse ihrer kammer für diese und ähnliche Beschlüsse besteht Führung sowie generell die Staats- und Gesellschafts- ungeachtet der Tatsache, daß z. B. die Strafgesetzge- ordnung der DDR mittrug [-> Exper tise Brunner I, bung der DDR oder die China-Resolu tion auf Veran- Bericht Ammer, Enzian, Protokoll Nr. 26]. lassung der SED-Führung beschlossen und die Ent- würfe zweifellos bis ins Detail im ZK-Apparat vorfor- Im Hinblick auf die Gesamtverantwortung für die muliert wurden. Verhältnisse in der DDR insgesamt oder in einzelnen Bereichen muß eine bestimmte Abstufung unterschie- Aus den vorstehenden Darlegungen können nach den werden, was die Enquete-Kommission in ihrem Ansicht der Enquete-Kommission folgende Konse- Bericht nur exemplarisch darstellen kann. Sie wiegt in quenzen gezogen werden: Personen, die sich durch der Regel schwerer bei Mitgliedern von Spitzengre- ihre Funktionen im SED-Regime anerkanntermaßen mien der SED (Politbüro, ZK-Sekretariat, teilweise - kompromittiert haben, sind für leitende Posi tionen in auch ZK) als bei Angehörigen der unteren Leitungs- den Institutionen des demokratischen Staates sowie in organe und wird letztlich in der Regel eher geringfü- demokratischen Parteien nicht geeignet. Wer als maß- gig oder gar bedeutungslos bei der Masse der Klein- geblicher Funktionsträger für die Zustände in der funktionäre und einfachen Mitglieder der SED. DDR insgesamt oder in wichtigen Teilbereichen Ver- Gesamtverantwortung in großem Ausmaß tragen antwortung trug, dem kann keine politische Macht, Funktionäre von Gremien wie SED-Politbüro und die immer auch Macht über Menschen einschließt, ZK-Sekretariat sowie — im Rahmen ihrer territorialen anvertraut werden. Die Schwierigkeiten liegen in der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Abstufung der Gesamtverantwortung für die ver- Indizien für ein mehr oder weniger ausgeprägtes schiedenen Leitungsebenen bzw. Zuständigkeitsbe- Unrechtsbewußtsein der Verantwortlichen darstellt. reiche usw. — ein Problem, das nur durch weitere Erforschung der Feinstrukturen des SED-Regimes — fachliche Zuständigkeit (z. B. aufgrund der Statu- geklärt werden kann. Ungeachtet dessen wird die ten von Behörden, Aufgabenzuweisungen, Ge- Prüfung des Einzelfalles unerläßlich bleiben, da die schäftsverteilungs-, Funktions- und Arbeitsplä- formale Gleichbehandlung von Funktionären einer nen) Funktionsebene — z. B. Kreisstaatsanwälte, Oberbür- germeister, Polizeioffiziere — mit Sicherheit zu Unge- Über die fachliche Zuständigkeit gibt es zahlreiche rechtigkeiten führen würde. Belege, z. B. über die von in einer SED-Kreisleitung tätigen Funktionäre [-> Exper tise Prieß]. Ein anderes Beispiel sind die Arbeitspläne zu „Operativen Vor- gängen" des MfS, in denen regelmäßig für Einzel- 2.6.2 Einzelverantwortung maßnahmen verantwortliche MfS-Angehörige be- nannt sind [-> Protokoll Nr. 23]. Die Feststellung einer Das politische und berufliche Schicksal von Funk- persönlichen Verantwortlichkeit ist oft relativ einfach tionsträgern des SED-Regimes im vereinten Deutsch- etwa in der Justiz, dagegen häufig schwierig in den land darf nicht allein vom Grad ihrer Gesamtverant- Bereichen von Repression und Überwachung außer- wortung bestimmt werden. Eine noch größere Rolle halb der Justiz. Aus der „Allzuständigkeit" des Ersten spielt die persönliche Verantwortung für einzelne Sekretärs einer SED-Bezirks- oder Kreisleitung kann Maßnahmen, Entscheidungen, Beschlüsse usw. Diese zwar auf die politische, nicht jedoch ohne weiteres auf Einzelverantwortung läßt sich anhand folgender die persönliche Verantwortlichkeit für die Repres- Sachverhalte feststellen: sionsmaßnahmen in seinem territorialen oder funktio- nalen Zuständigkeitsbereich geschlossen werden. — Einbeziehung in Leitungsstrukturen, Informations- Bisher konnte zwar eine regelmäßige und detail lierte und Entscheidungsstränge; Bindung an Weisun- Informationstätigkeit des MfS festgestellt werden. gen, Parteibeschlüsse, Leitungsdokumente, Richt- Den Bürger belastende Entscheidungen, z. B. die linien, Arbeitsordnungen usw. Ablehnung von Besuchsreise- oder Ausreiseanträgen in die Bundesrepublik, wurden formal in den dafür Nach dem Prinzip der „Einzelleitung" war in der DDR zuständigen Abteilungen Inneres der Räte der Kreise, grundsätzlich jeder leitende Funktionär für die von in Volkspolizeidienststellen usw. gefällt, tatsächlich ihm getroffenen Entscheidungen allein verantwort- aber sehr oft vom MfS und gelegentlich auch von lich. Es bedarf jedoch sorgfältiger Nachprüfungen im Betrieben, Instituten und dergleichen initiiert. Es wird Einzelfall, inwieweit ein Funktionär bei seiner Ent- zu klären sein, ob Funktionäre dabei auf besondere scheidungsfindung von bestimmten Vorgaben, Bestä- Anweisung der Partei gehandelt haben. tigungen usw., die seinem Einfluß entzogen waren, abhing. Bedeutsam ist außerdem nicht allein die — Zugang zu Informationen über das dem Durch- Feststellung der Verantwortlichkeiten für eine be- schnittsbürger zugängliche Maß hinaus stimmte Entscheidung, sondern auch für deren Vorbe- reitung, z. B. in Form von Entwürfen zu Rechtsnor- Die SED-Führung hat ihren Spitzenfunktionären men, vorbereitenden Gutachten, Beschlußvorlagen durch ihr Nachrichtensystem, speziell durch das MfS, usw. In der Entscheidungsvorbereitung tätige Perso- differenzierte Informationen über die Entwicklung in nen blieben in der DDR weitgehend anonym. Es der DDR und in einzelnen Bereichen zur Verfügung konnten bisher auch nicht die Personen festgestellt gestellt. Spitzenfunktionäre konnten auf ein reichhal- werden, von denen für die Bürger besonders bela- tiges Angebot an Informationen, auch über Vorgänge stende Gesetze und Anordnungen (z. B. Verschärfun- außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, zurückgrei- gen des politischen Strafrechts in den siebziger Jah- fen, wenngleich dieses Angebot aus Bequem lichkeit, ren; obligatorischer Wehrunterricht für Schiller) aus- Verantwortungsscheu usw. oft ungenügend genutzt gingen. Unstrittig ist zwar die Verantwortlichkeit der wurde [->Schürer, Protokoll Nr. 25]. Partei- und zuständigen Funktionäre im zentralen Parteiapparat Staatsfunktionäre in verantwortlichen Posi tionen der SED (z. B. ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und erhielten regelmäßig ausgewählte, zweckdienliche ihm zugeordnete Abteilungs- und Sektorenleiter), Informationen vom MfS[ -> Schabowski, Protokoll ungeklärt blieb jedoch bisher, von wem die Initiative Nr. 25]. Unter den zahlreichen bekannt gewordenen für solche Maßnahmen ausging (etwa vom Minister Themen von MfS-Informationen für Parteileitungen für Staatssicherheit, vom SED-Generalsekretär, vom finden sich allerdings, soweit bisher bekannt, keine Minister für Nationale Verteidigung oder aber von über die Tätigkeit des MfS selbst, so daß viele Funk- nachgeordneten Funktionären). Zweifellos wird es in tionäre als Empfänger solcher Informationen über vielen Fä llen möglich sein, durch die detaillierte dessen spezifische Methoden keine genaueren Auswertung jetzt zugänglicher Archivmaterialien Kenntnisse gehabt haben dürften. Grundsätzlich kann gerade diese bisher verdeckten Veranwortlichkeiten jedoch der Zugang von Funktionären zu von der zu klären. Im übrigen ist festzuhalten, daß die SED-Führung ausgewählten Sonderinformationen Geheimhaltung der Namen entscheidender Funktio- ein Indiz dafür sein, daß diese Personen sich der näre, die Verschleierung der Entscheidungswege und Tragweite ihrer Entscheidungen bewußt gewesen die Weigerung, z. B. Anklageschriften bzw. Urteile in sind. Dies gilt insbesondere für diejenigen, denen als politischen Strafverfahren den Angeklagten bzw. Privileg westliche Presseerzeugnisse zugänglich wa- Verurteilten auszuhändigen, schwer widerlegbare ren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— Ausmaß, Intensität und Häufigkeit von Kontrol- 3. Die SED und das Ministerium für len Staatssicherheit

Die SED hat die Tätigkeit der Partei- und Staatsfunk- Die Geschichte des Ministe riums für Staatssicherheit tionäre durch verschiedene Kontrollapparate nahezu (MfS) ist von der Geschichte der SED nicht zu trennen. lückenlos überwacht, sie zudem einer regelmäßigen Ähnlich wie in der Sowjetunion war auch in der DDR und ausgedehnten Berichtspflicht unterworfen [-> die Einordnung der Sicherheitsorgane in die sowjet- Neugebauer, Enzian, Protokoll Nr. 25]. Diese Kontrol- kommunistische Staats- und Rechtsverfassung ge- len waren teilweise so häufig und intensiv, daß die setzlich nicht definiert. Das Gesetz vom 8. Februar Verantwortung eines Funktionärs für seine Entschei- 1950 über die Bildung eines Ministe riums für Staats- dungen reduziert sein kann (vor allem in den Sicher- sicherheit enthielt keinerlei Bestimmungen über Auf- heitsorganen), oft aber auch rein formal und ober- gaben, Struktur und Zuständigkeiten des MfS. Erst flächlich, so daß die Unterwerfung unter solche Kon- das am 15. Oktober 1953 erlassene erste Statut des trollen die persönliche Verantwortung kaum berührt. Staatssicherheitsdienstes, das allerdings s treng ge- In der Justiz war es z. B. möglich, die erforderliche heimgehalten wurde, wies ihm konkret die Aufgabe Berichtspflicht zu vermeiden, wenn m an sich bei einer zu, „auf der Grundlage der gegebenen Beschlüsse, von „Orientierungen" höherer Instanzen abweichen- Anordnungen und Befehle die Voraussetzungen zu den Entscheidung vorher bei bestimmten Partei- oder schaffen und die Maßnahmen zu treffen, die die Justizfunktionären „rückversicherte" [-> Enzian, Pro- Sicherheit des Staates, die Festigung der Staatsmacht tokoll Nr. 25]. Es ist Aufgabe der Forschung, die und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung Tätigkeit und Wirksamkeit der von der SED-Führung gewährleisten". Als „Grundlage für die Arbeit" wur- geschaffenen Kontrollapparate sowie die Konsequen- den ausdrücklich die „Beschlüsse und Direktiven des zen ihrer Berichte für die Kontrollierten aufzudek- Zentralkomitees (ZK) bzw. des Politbüros der SED, die ken. Gesetze und Verordnungen bzw. die Anweisungen des Ministerpräsidenten sowie die Befehle und — Entscheidungsspielräume im Rahmen von Vorga- Anordnungen des Ministers des Innern" genannt. Die ben Zuständigkeit des MdI ergab sich aus der Tatsache, daß der Staatssicherheitsdienst vom 23. Juli 1953 bis Partei- und Staatsfunktionäre haben häufig, wenn- zum 24. November 1955 als Staatssekretariat diesem gleich in sehr unterschiedlichem Außmaß, Spielräume Ministerium eingegliedert war. für begrenzt eigenständige Entscheidungen genutzt Mit Datum vom 30. Juli 1969 erließ der Na tionale [-> Bericht Ammer, Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993, Verteidigungsrat der DDR ein neues Statut des Mini- Schabowski, Protokoll Nr. 25]. Es war auch möglich, steriums für Staatssicherheit. Darin war das MfS daß Juristen Einmischungsversuche der SED in die formell als „ein Organ des Ministerrates" ausgewie- Tätigkeit der Rechtspflegeorgane ignorieren oder sen — obwohl es faktisch ein Instrument der Politbü- abwehren konnten. Selbst die Rechtsprechung betref- rokratie der SED gewesen ist, mit dem auch der fende „Leitungsdokumente" höherer Justizorgane Ministerrat überwacht wurde. Auch nach dem zwei- ließen Ermessungsspielräume offen. Begrenzte Mög- ten, bis zur Auflösung des MfS am 17. November 1989 lichkeiten für eigenständige Entscheidungen gab es gültigen Statut rangierten Parteibeschlüsse in ihrer auch in der Kaderpolitik [-f Exper tise Brunner I, Verbindlichkeit für das MfS vor staatlichen Normen. Vortrag Abg. Keller am 22.1.1993, Enzian, Wötzel, Konkret waren im Statut das Programm sowie die Protokoll Nr. 26]. Ehemalige Funktionäre haben als Beschlüsse des Zentralkomitees und des Politbüros Zeitzeugen vor der Enquete-Kommission ausführlich der SED benannt. Erst danach wurden auch die über die Nutzung solcher Spielräume zugunsten von Verfassung, die Gesetze und Beschlüsse der Volks- Bürgern berichtet [-> Schabowski, Enzian, Krause, kammer, Erlasse und Beschlüsse des Staatsrates, tive für Wötzel, Protokoll Nr. 26]. Ungeachtet der Mo Beschlüsse und Anordnungen des Nationalen Vertei- ge Aussagen dürften diese im wesentlichen derarti digungsrates, Befehle, Direktiven und Weisungen zutreffend sein. seines Vorsitzenden sowie Verordnungen und Be- schlüsse des Ministerrates als für das MfS ebenfalls Verständlicherweise gibt es keine Aussagen von verbindlich ausgewiesen, was nicht verhinderte, daß Funktionären vor der Enquete-Kommission, daß sie es in seiner Tätigkeit nicht nur „bürgerliche" — vor Ermessensspielräume zu Lasten der Bürger, im Sinne allem justitielle — Grundrechte, sondern auch gel- einer Verschärfung von Vorgaben, Anweisungen, tende Gesetze der DDR vielfach mißachtete oder Richtlinien usw., mißbraucht hätten. Dennoch wird es verletzte. Fälle dieser Art gegeben haben. Durch den Vergleich von Entscheidungen in unterschiedlichen Behörden, Seitdem die Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in an verschiedenen Orten sowie von Angaben Betroffe- Artikel 1 den Führungsanspruch der „marxistisch- ner kann u. U. geklärt werden, wo und von wem leninistischen Partei" verankert und damit sanktio- Bürger über das von übergeordneten Instanzen hin- niert hatte, war der Rückgriff auf Parteibeschlüsse in aus geforderte Ausmaß hinaus belastet, schikaniert staatlichen Normierungen wie dem Statut des MfS und unterdrückt worden sind. Bei der Aufklärung verfassungsrechtlich durchaus der „sozialistischen konkreter Fälle ist vor allem die taktisch begründete Gesetzlichkeit" gemäß [-> Protokolle Nr. 25 und 26]. und verdeckte Steuerung von Entscheidungen durch Laut Statut war die Führung des Ministe riums für das MfS zu beachten, ohne deren Kenntnis die Hin- Staatssicherheit dem Minister „nach dem Prinzip der tergründe — vieler die Bürger belastende — Vor- Einzelleitung" übertragen. Er war „persönlich für die gänge im Dunkeln bleiben werden. gesamte Tätigkeit des MfS" verantwortlich. Ein Kol- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode legium diente ihm als „beratendes Organ". Seine Minister für Staatssicherheit im übrigen auch Mitglied Mitglieder — zuletzt dreizehn — rekrutie rten sich aus des Politbüros; er war also an den Entscheidungen der den Stellvertretern des Ministers, dem Ersten Sekretär Parteiführung persönlich beteiligt. der Parteiorganisation der SED im MfS sowie aus den wichtigsten Hauptabteilungsleitern. Im Kontext dazu ist die Rolle der Parteiorganisation der SED im MfS zu sehen. Mit ihren auf allen Ebenen, Das MfS sollte — und wollte auch nach dem Willen in allen Strukturen und Diensteinheiten bestehenden seiner Minister — Herrschaftsinstrument der SED Grundorganisationen und Parteigruppen, die nach sein. Selbst für Wilhelm Zaisser, der sich als Chef des besonderen Instruktionen des ZK arbeiteten, sicherte MfS von 1950 bis 1953 der Kontrolle durch die die Politbürokratie nicht nur die politische Anleitung Politbürokratie der SED zu entziehen versucht hatte, und die ideologische Erziehung aller Genossinnen war die Tätigkeit seines Ministe riums „spezifische und Genossen, sondern auch ihre bedingungslose Parteiarbeit". Für seinen Nachfolger Ernst Wollweber Disziplinierung. „Parteiarbeit" im Staatssicherheits- sollte der Staatssicherheitsdienst „ein scharfes dienst galt als Voraussetzung für „gute tschekistische Schwert sein, mit dem unsere Partei den Feind uner- Leistungen" (Tscheka = erste bolschewistische bittlich schlägt, gleichgül tig, wo er sich festgesetzt Geheimpolizei von 1917 bis 1922). Die Spitze der hat". Unter dem Einfluß von E rich Mielke schließlich, Parteiorganisation im MIS, die den Status einer Kreis- der Wollweber 1957 als Minister für Staatssicherheit leitung der SED hatte, war strukturell der Abteilung ablöste, wurde das Wort der Partei zur gültigen für Sicherheitsfragen im Apparat des ZK unterstellt, Handlungsmaxime des MfS verabsolutiert. Mielkes die ihrerseits zum Verantwortungsbereich des für die Credo — am 6. Februar 1985 zum 35. Jahrestag des Militär- und Sicherheitspolitik jeweils zuständigen MIS erneut bekräftigt — lautete: „Die Staatssicherheit Sekretärs des ZK gehörte. Auch von daher war dem wird sich jederzeit als zuverlässiger Schild und schar- von der Führung der SED gefürchteten Risiko einer fes Schwert der Partei und der Arbeiter-und-Bauern- Verselbständigung des MfS vorgebeugt. Macht erweisen" [-> Fricke, Protokoll Nr. 23].

Solche Bekenntnisse waren keine verbalen Pflicht- Erst vor dem Hintergrund dieses Beziehungsgeflechts übungen, sondern grundlegende Orientierungen, die zwischen Staatspartei und Staatssicherheitsdienst sich auf die Aktivitäten des MfS bis in die letzte wird die qualitative und quantitative Entwicklung des Diensteinheit hinein auswirkten. Auch alle internen MfS plausibel. Seinen sich mehr und mehr — intern Richtlinien, Dienstanweisungen und grundsätzlichen wie extern — erweiternden Aufgaben und Zuständig- Befehle zur Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, keiten, die mit einem entsprechenden Zuwachs an deren Zahl sich in der Endzeit seiner Tätigkeit auf ca. Macht verbunden waren, entsprach die Aufblähung 700 belief, basierten auf Beschlüssen der Parteifüh- des Personalapparats: 1950 betrug die Stärke der rung oder bezogen sich ausdrücklich auf sie. Umge- hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS 1 000 Personen; kehrt war es bezeichnend, daß zwar Einzelpersonen, 1953 waren es bereits 4 000; 1955 belief sich die Zahl nicht aber der bürokratische Apparat der SED vom auf 13 000 und 1957, beim Wechsel von Wollweber zu MIS nicht „operativ bearbeitet", überwacht oder Mielke, auf 17 500 - immer offiziellen Zahlen zufolge. bespitzelt wurde. Im Gegensatz hierzu sind in die Der weitere Anstieg von 52 700 im Jahre 1973 auf Blockparteien und Massenorganisationen zielgerich- 85 600 im Jahre 1989 nahm schließlich absurd anmu- tet Inoffizielle Mitarbeiter und Offiziere im besonde- tende Dimensionen an. ren Einsatz eingeschleust worden. In der Endphase der DDR gliederte sich das MfS in Als Hebel zur Durchsetzung ihres Führungsanspruchs dreizehn Hauptabteilungen und zwanzig selbstän- im MfS nutzte die SED die Kaderpolitik. Mit ihrer Hilfe dige Abteilungen, mehrere Stäbe, Verwaltungen und wurden planmäßig alle seine hauptamtlichen Mitar- zentrale Arbeitsgruppen — darunter die für Lageana- beiter „durchleuchtet". Das Eindringen „feindlicher lysen zuständige Zentrale Auswertungs- und Informa- Elemente" in den Dienst wurde so unterbunden. tionsgruppe (ZAIG) — sowie in die für „Aufklärung" Sogenannte Selbstbewerber wurden nur im Ausnah- (Spionage) und „aktive Maßnahmen" zuständige mefall (OibE) eingestellt. Zudem wurden sämtliche Hauptverwaltung A. Auf mittlerer Ebene stützte sich Führungspositionen im MfS mit sogenannten Nomen- das MfS auf fünfzehn Bezirksverwaltungen (ein- klaturkadern besetzt, d. h. mit im Sinne der Politbü- schließlich Ost-Berlins), deren Leiter dem Minister für rokratie der SED zuverlässigen Funktionären, die Staatssicherheit unmittelbar unterstellt waren, sowie nach genau festgelegten Personallisten — der auf 211 Kreisdienststellen und sieben Objektdienst- Nomenklatur — ausgesucht und berufen wurden, stellen, die in industriellen Großbetrieben sowie an nicht selten übrigens im Wege eines sogenannten der Technischen Universität Dresden existierten. Die Parteiauftrages. Die Einbindung von Generalen und „operative Basis" des MfS stellten Inoffizielle Mitar- Offizieren des MfS in die SED-Parteileitungen aller beiter (IM) dar. Sie bildeten ein verdecktes Informa- Ebenen war ein weiteres Mittel zur Schaffung von tionsnetz, in dem zuletzt mehrere hunderttausend IM Loyalität. Durch ihre Mitgliedschaft im Zentralkomi- tätig waren. In Kombination mit der permanenten tee sowie in den Bezirks- und Kreisleitungen ist die Kontrolle des Post- und Fernmeldeverkehrs war so in Führungselite des MfS durch Personalunion mit den der Tat eine „flächendeckende Überwachung" der Parteileitungen der SED so eng verknüpft gewesen, Bevölkerung kein unerreichbares Ziel mehr [- daß jeder Verselbständigung des Überwachungs- und Rudolf, Protokoll Nr. 23]. Querverbindungen zur Poli- Unterdrückungsapparates als Staat im Staate auch auf zei, insbesondere zur Abteilung K 1 der Kriminalpoli- diese Weise entgegengewirkt wurde. In den Jahren zei, sicherten jederzeit Einblick in und Einfluß auf die von 1950 bis 1953 und von 1976 bis 1989 war der operative Parteiarbeit [-> Bericht Marquardt]. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Die Gefährlichkeit eines solcherart überdimensionier- kowski ein eigener Beitrag des Ministeriums für ten Überwachungs- und Unterdrückungsapparates, Staatssicherheit zur Devisenbeschaffung geleistet dessen Budget sich in der Endzeit der DDR auf jährlich werden. Die war damit auch in Kunstraub, 4 Milliarden Mark belief, lag in der Bündelung seiner Häftlingsfreikauf, Waffenhandel, Handel mit Embar- nicht legal definierten und darüber hinaus unkontrol- gogütern und in die Finanzierung von kommunisti- lierten Kompetenzen als politische Geheimpolizei, als schen Gruppierungen außerhalb der DDR einbezo- Untersuchungsorgan in schweren politischen Strafsa- gen. chen, als Einrichtung zur Beschaffung von Devisen Vor dem Hintergrund des personellen und materiellen und als Spionagedienst in der Gewalt der führenden Aufwands, mit dem die SED das MfS ausgestattet Clique der Politbürokratie. hatte, bleibt die Frage nach seiner Effizienz offen. Sie Das Wachregiment Berlin des MfS war als Verfü- ist historisch beantwortet: Auch das MfS konnte den gungstruppe des MfS in Spannungszeiten gedacht. Zusammenbruch der DDR nicht verhindern. Dazu war Normalerweise nahm es Aufgaben des Personen- und die revolutionäre Krise, in die der SED-Staat Ende der Objektschutzes wahr. Mit 11 700 Mann hatte es achtziger Jahre geraten war, zu tiefgehend. Zudem zuletzt Divisionsstärke erreicht. Soldaten des Wachre- vermochte die Politbürokratie die Überfülle an Infor- giments, das sich als Elitetruppe verstand, waren am mationen, die im MfS „erarbeitet" worden war, bei 6. Oktober 1989 in Ost-Berlin an dem gewalttätigen ihrer Willensbildung und Entscheidungsfindung Vorgehen gegen friedliche Demons tranten beteiligt. kaum auszuwerten. Zu den Aufgaben des MfS gehörte laut Statut auch die Entscheidende äußere Ursachen kamen hinzu. An- Verpflichtung, „die zuständigen Partei- und Staatsor- alog den in der DDR stationierten Sowjettruppen, die gane rechtzeitig und umfassend über feindliche „Gewehr bei Fuß" standen, griff das KGB 1989 nicht Pläne, Absichten und das gegnerische Potential sowie sichtbar in den revolutionären Prozeß ein — und über Mängel und Ungesetzlichkeiten zu informie- demoralisierte damit den Staatssicherheitsdienst. ren" . In der alltäglichen Praxis lief diese Verpflichtung Darin mag letztlich auch der Grund dafür gelegen auf eine regelmäßige Unterrichtung der führenden haben, daß das MfS auf bewaffneten Widerstand Kader der SED, speziell des Generalsekretärs der gegen den revolu tionären Wandel in der DDR verzich- SED, ausgewählter Mitglieder des Politbüros sowie tete H Bericht VI. Themenfeld]. Mit der Krise der SED der Ersten Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen geriet zugleich das MfS in die Krise. Ein Staat im der SED, hinaus. Staate — wäre das MfS denn ein solcher gewesen — hätte sich nicht widerst andslos gefügt. Da sich die Im Selbstverständnis der DDR zählte das MfS zu den Existenz des MfS ausschließlich aus seiner Funktion „bewaffneten Organen" der DDR, die — soweit sie als Machtinstrument der SED herleitete, war sein nicht dem Oberkommando des Warschauer Paktes Niedergang an das Ende der SED verbunden. unterstellt waren — in Spannungszeiten der Befehls- gewalt des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) Wie dargelegt, sollte und wollte das Ministerium für unterstanden. Dieser Sachverhalt erklärt, warum auch Staatssicherheit der DDR „Schild und Schwert der der Staatssicherheitsdienst strukturell und personell Partei" sein; nach Auffassung der Politbürokratie wie in die Einsatzleitungen einbezogen war, die sich aus nach seinem Selbstverständnis war das MfS also das dem Hauptstab des NVR, den Bezirkseinsatzleitun- wichtigste Herrschaftsinstrument der SED. Aus die- gen und den Kreiseinsatzleitungen zusammensetzten. sem Grunde ist der Führung prinzipiell auch die Auf jeder Ebene führten Einsatzleitungen in den politische Verantwortung für die Tätigkeit der Staats- Bezirken und Kreisen unter Leitung des jewei ligen sicherheit zuzuweisen. Andererseits war das MfS aber Parteichefs den für die Sicherheit zuständigen Partei- nicht nur ein bloßes Ausführungsorgan der SED. Mit sekretär sowie die Chefs des Staatssicherheits- seinem Machtpotential und seiner Effizienz sicherte dienstes, der Volkspolizei und der Volksarmee zusam- das MfS die Herrschaft der SED und ermöglichte erst men. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates viele ihrer Maßnahmen. An dieser Gesamtverantwor- war der Generalsekretär der SED, Vorsitzender der tung tragen alle Mitarbeiter des MfS, hauptamtliche Bezirkseinsatzleitung jeweils der Erste Sekretär der wie inoffizielle mit, wobei zwischen hauptamtlichen Bezirksleitung, Vorsitzender der Kreiseinsatzleitung und inoffiziellen Mitarbeitern gewiß zu differenzieren jeweils der Erste Sekretär der Kreisleitung der SED. ist, wenn der Grad ihrer Verantwortlichkeit gemessen Die Einsatzleitungen aller Ebenen traten nicht nur wird. Gleichwohl ist die Rolle der Inoffiziellen Mitar- beim inneren Notstand oder bei internationalen Sp an beiter nicht gering zu erachten, denn sie waren es, die -nungen, sondern auch in normalen Zeiten zusammen, durch ihre verdeckte Spitzeltätigkeit die ersten und um regelmäßig Fragen der militärischen, vor allem der zudem privaten Äußerungen von Opposition und inneren Sicherheit zu beraten und dazu in ihre Zustän- Andersdenken aufspürten und meldeten. Mit ihrer digkeit fallende Entscheidungen zu treffen. Für das Überwachungsfunktion bewirkten sie die völlige Verhältnis von SED und MfS waren diese Zusammen- Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der freien hänge deshalb von besonderer Bedeutung, weil die - politischen Auseinandersetzung in der DDR. Sie tru- Parteichefs als Vorsitzende der Einsatzleitungen gen damit Mitverantwortung für die in der DDR jeweils auf ihrer Ebene unmittelbar weisungsbefugt herrschende Atmosphäre der Einschüchterung, des auch gegenüber dem Staatssicherheitsdienst waren. gegenseitigen Mißtrauens und der Verstellung. Neben vielfältigen Sonderaufgaben zur Absicherung Bei der individuellen Verantwortung ist zwischen des Lebensstandards der DDR-Elite sollte mit der solchen Mitarbeitern des MfS zu unterscheiden, die Schaffung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung für konkrete Maßnahmen gegen Einzelpersonen ver- unter dem MfS-Oberst Alex ander Schalck-Golod antwortlich waren, und solchen, die allgemein das Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Funktionieren dieses Unterdrückungsinstruments si- kelten die sogenannten Blockparteien offensichtlich cherten. Bei den ersteren ist die Verantwortung kei- mehr politischen „Eigensinn" (Siegf ried Suckut), vor neswegs hauptsächlich bei denen zu suchen, die die allem auf den unteren Ebenen, und unterschieden Maßnahmen ausführten. Größer ist die Verantwor- sich zudem in ihrem Verhalten stärker voneinander, tung derjenigen, die als „Schreibtischtäter" die Maß- als bisher verschiedentlich angenommen wurde. Eine nahmen planten und anordneten, insbesondere dann, differenzierte Beurteilung erfordert dabei eine Ab- wenn sie einen gewissen Entscheidungsspielraum grenzung der CDUD und LDP von den erst 1948 durch hatten. Die Mitarbeiter des MfS unterlagen zwar bei SMAD/SED gegründeten NDPD und DBD. Während ihrer Tätigkeit bestimmten dienstrechtlichen Rege- in den beiden 1945 gegründeten Parteien CDUD und lungen. Diese eröffneten jedoch teils allgemein durch LDP durchgängig Traditionslinien bürgerlicher Poli- den Grundsatz der „sozialistischen Gesetzlichkeit" als tik und ein trotz der sozialökonomischen Umwäl- „parteiliche Anwendung der Gesetze", teils durch zungsprozesse in der Mitgliedschaft zu beobachten- ihre gewollte Zweideutigkeit Möglichkeiten für des Festhalten an eigenen Wertvorstellungen zu kon- . Zwangs- und Willkürakte gegenüber dem Einzelnen; statieren sind, waren NDPD und DBD von vornherein außerdem wurde das zweideutige DDR-Recht auch vom Führungsanspruch der SED abhängig; sie dien- bewußt mißbraucht oder wissentlich gebrochen, wenn ten der SED als Instrumente gegen die nichtsozialisti- und insofern die Interessen der Politbürokratie der schen Altparteien und zur Spaltung bürgerlicher, SED oder des MfS dies erforderlich zu machen schie- liberal bzw. christlich orientierter Bevölkerungs- nen. Die geltenden DDR-Gesetze waren niemals ein kreise. [-> Expertisen Richter II, Frölich, Papke, Neh- ernsthaftes Hindernis für Rechtsmißbrauch oder rig]. Rechtsbruch durch das MfS. Die Vergehen reichten von der groben Mißachtung von Menschenrechten bis Die gesellschaftspolitische Funktion der Massenorga- zur Strafvereitelung und Rechtsbeugung aus politi- nisationen ist bekannt und bedarf keiner Neubewer- schen Gründen. tung. Festzuhalten ist, daß es ihnen zu keinem Zeit- punkt gelungen ist, das Leben der Bevölkerungs- Zwar galten für die übergroße Mehrzahl der haupt- mehrheit in der DDR tiefgreifend zu prägen. Sie übten amtlichen Mitarbeiter des MfS, die als Soldaten, insofern nur in geringem Umfang zwischen Regime Unteroffiziere, Offiziere und Generale Dienst taten, und Bevölkerung eine „moderierende Scharnierfunk- wie für andere Angehörige der „bewaffneten tion" [-> Expertise Hübner] aus, wirkten aber immer- Organe" besondere dienstrechtliche Bestimmungen. hin systemstabilisierend. Weitergehende Fragestel- Durch den von ihnen zu leistenden Fahneneid waren lungen, vor allem nach sozialgeschichtlichen Auswir- sie verpflichtet, „den Vorgesetzten unbedingten kungen ihrer Tätigkeit, konnten bisher noch nicht Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlos- näher untersucht werden [-> Expertisen Ecke rt I, senheit zu erfüllen". Eine zusätzliche politische Bin- Hübner]. dung gingen sie mit einer schriftlichen Verpflich- tungserklärung bei Eintritt in das MfS ein. Aber nach Die wichtigsten Massenorganisationen — der Freie § 258 StGB der DDR war ein Befehl, dessen Ausfüh- Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie rung gegen die anerkannten Normen des Völker- Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauen- rechts oder gegen Strafgesetze verstieß, unverbind- bund Deutschlands (DFD) und der Kulturbund zur lich. Diese Bestimmung wurde in einer Vielzahl von demokratischen Erneuerung Deutschlands (KB) — Fällen mißachtet. Inwieweit Angehörige des MfS wurden zwischen 1945 und 1947 als dem Anspruch durch Drohung zur Ausführung rechtswidriger nach überparteiliche Organisationen gegründet. Die Befehle gezwungen wurden, bedarf der Nachprüfung Kommunisten verschafften sich allerdings schon in im Einzelfall. der Gründungsphase beherrschenden Einfluß auf den hauptamtlichen Apparat, durch den sie diese Massen- Von den Inoffiziellen Mitarbeitern tragen zweifellos organisationen im kommunistischen Sinn dominier- jene die größte individuelle Verantwortung, die mit ten. Die FDJ wurde gezielt als „Kaderschmiede" der ihrer Zuträgerarbeit oder durch aktive Ausführung SED funktionalisiert. Eine Werbung für andere Par- von „Zersetzungsplänen" an Unrechtsmaßnahmen teien war in den FDJ-Gruppen untersagt. Gleichzeitig gegen Einzelne mitgewirkt haben. sind Versuche zur Gründung von Suborganisationen (z. B. Jugendausschüsse) in den Blockparteien unter- bunden. Die Massenorganisationen wurden zur Ein- 4. Rolle und Funktion von Blockparteien und flußminderung von CDUD und LDPD auf Betreiben Massenorganisationen der SED in den „Block" aufgenommen und damit auch offiziell zu Bestandteilen des politischen Systems. Der Einflußminderung von CDUD und LDP 4.1 Ansätze zu einer Neubewertung diente auch die durch Blockbeschluß (statt durch Wahlen) erfolgte Aufnahme von NDPD und DBD in Eine grundlegende Neubewertung von Rolle und die Landes- und Kommunalparlamente. Im „Demo- Funktion der Blockparteien (hierunter werden im kratischen Block der Parteien und Massenorganisatio- folgenden die CDUD, LDPD, NDPD und DBD verstan- nen", wie die „Einheitsfront" seit 1949 genannt den, nicht die ebenfalls zum „Demokratischen Block" wurde, sicherte sich die SED so eine unangreifbare gehörende SED) und Massenorganisationen ist auch Vormachtstellung. aufgrund neuerer Forschungsergebnisse nicht erfor- derlich: Sie waren unselbständige, von der SED Um diese Vormachtstellung auch ohne demokratische abhängige Organisationen. Dieses Gesamtbild wird Legitimation dauerhaft aufrechterhalten zu können, sich in Teilaspekten sehr wohl verändern: So entwik- schuf die SED am 7. Oktober 1949 — dem Gründungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 schen Deutschland". Als eine Art Dachorganisation koll Nr. 22]. Bis zu einem gewissen Grad ist die von zuletzt insgesamt fünf Parteien und 27 Massenor- gesellschaftliche Mobilisierung zwar gelungen; der ganisationen bestand ihre Hauptaufgabe u. a. darin, Rückschluß, daß dadurch aber eine nachhaltige von der SED diktierte Einheitslisten für die Schein- Systemstabilisierung erreicht worden sei, ist aufgrund wahlen zu den Volksvertretungen aufzustellen, die neuerer Forschungsergebnisse so nicht zulässig [-> den Parteien und Massenorganisationen des „Demo- Expertisen Richter II, Papke]. Die Blockparteien kratischen Blocks" eine stets gleichbleibende, nur auf haben die ihnen von der SED zugedachte Funktion als Geheiß der SED gelegentlich geänderte Zahl von „Transmissionsriemen" nur bedingt erfüllt. Obwohl Mandaten sicherte. Darüber hinaus diente sie der SED — beispielsweise — der dem Marxismus-Leninismus als Bühne bzw. Instrument für ihre politische Einheits- immanente Atheismus lediglich von der CDU abge- propaganda. lehnt oder in Frage gestellt werden durfte, konnte diese Partei in der christlichen Bevölkerung nicht Die Blockparteien und Massenorganisationen konn- wirklich Fuß fassen oder gar maßgeblichen Einfluß auf ten im „Demokratischen Block" keinen eigenständi- die Kirchen und ihre Amtsträger gewinnen. gen Einfluß geltend machen, wurden aber von der SED zur sachlichen Zuarbeit her angezogen und muß- Im übrigen organisierten sich in den Blockparteien ten politische Entscheidungen der SED nach außen viele Angestellte und Intellektuelle, die von der SED hin mitverantworten. ihrerseits zumindest als potentielle Mitglieder hätten angesehen werden können. Wie erste Untersuchun- gen zeigen, war die tatsächliche Wirkung der politisch ideologischen Erziehung bei der Mehrzahl der Mit- 4.2 Die gesellschaftliche Funktion: „Transmission glieder in den Blockparteien eher gering [-> Experti- der SED-Politik" sen Richter II, Papke].

Nach der Gleichschaltung von CDU und LDPD sowie Den Massenorganisationen gelang, begüns tigt durch dem von der SED offiziell erklärten Übergang zum Organisationsmöglichkeiten in den Betrieben, zumin- „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" im Jahre dest eine flächendeckende Erfassung der DDR-Bevöl- 1952 übernahmen die Blockparteien und Massenor- kerung. Viele Menschen gehörten sogar zwei oder ganisationen, auch in Form von neuen Parteiprogram- drei dieser gesellschaftlichen Organisationen an. men bzw. Satzungen, die ihnen von der SED zugewie- Besonders hoch war der Organisationsgrad des FDGB, sene „Transmissionsfunktion" : Sie sollten die Politik der fast sämtliche Berufstätigen der DDR erfaßte, weil der SED in bestimmte soziale Zielgruppen hineintra- er Träger der DDR-Sozialversicherung war. Da die gen, um diese damit in die sozialistische Staats- und Massenorganisationen jedoch unter dem ideologi- Gesellschaftsordnung zu integ rieren. Zudem ver- schen Postulat der gesamtgesellschaftlichen Interes- folgte die SED das Ziel, poten tielle oppositionelle senidentität die tatsächlich vorhandenen, auch kon- Strömungen mittels dieser Parteien zu kontrollieren fliktträchtigen Interessen ihrer Mitglieder nicht wirk- und zu kanalisieren. sam vertreten konnten, gelang es ihnen nicht, eine dauerhafte und tiefgehende Mobilisierung ihrer Mit- an alle sozia- Während sich die Massenorganisationen glieder für die von der SED vorgegebenen Ziele zu len Gruppen und Schichten der Gesellschaft wandten erreichen. und sie entsprechend ihren sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen, sportlichen und anderen Interes- sen organisieren sowie für die Politik der SED mobili- sieren sollten, bestand die Aufgabe der Blockparteien 4.3 Das Verhältnis zur SED: Abhängigkeit und speziell darin, auf traditionell eher „bürgerlich" Kontrolle geprägte, der SED fernstehende Bevölkerungskreise, wie z. B. private Handwerker, Kleingewerbetrei- Sowohl Blockparteien als auch Massenorganisationen bende und Freiberufler (LDPD), Ch risten (CDU), Bau- standen in einem grundsätzlichen Abhängigkeitsver- ern (DBD) ideologisch-erzieherisch im Sinne der SED hältnis zur SED. Während die letzteren von der SED einzuwirken oder als Sammelbecken für ehemalige selbst direkt gelenkt wurden, forderte die „führende Wehrmachtsangehörige und Nationalsozialisten Partei" von den Blockparteien ausdrücklich „eigen- (NDPD) zu dienen. Die SED achtete aber darauf, daß ständige, unverwechselbare Beiträge" zur Gestaltung durch eine geschickte Klientelvermischung keine des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der Blockpartei zu stark auf bestimmte Bevölkerungs- DDR. Auf Blockparteien wie Massenorganisationen schichten reflektieren konnte. übte die SED jedoch über ihren Parteiapparat — speziell über die ZK-Abteilung „Befreundete Parteien Nach dem Willen der SED war es die Aufgabe der und Massenorganisationen" sowie über das Ministe- Blockparteien, in bürgerlichen Bevölkerungsgruppen rium für Staatssicherheit — ständige Kontrolle aus. das Bewußtsein für die propagierte historisch-gesetz- Mit Hilfe eines Nomenklatursystems, dessen genaue mäßige Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Funktionsweise noch zu untersuchen bleibt, besetzte marxistisch-leninistischen Partei zu stärken. Erreicht sie alle wichtigen Führungspositionen in den Massen- werden sollte zudem eine Mobilisierung der gesell- organisationen mit ihren Funktionären. Darüber hin- schaftlichen Kräfte und des ökonomischen Potentials aus ist anzunehmen, daß die SED durch gezielte in diesen Parteien für den „Aufbau des Sozialis- Einschleusung von eigenen Funktionären sowie mus". Abstimmung ihres Vorgehens mit dem MfS massiv Ihren Aufgaben sind die Blockparteien offensichtlich Einfluß auf die Personalpolitik der Blockparteien nur ungenügend gerecht geworden [-> Suckut, Proto- nahm [-> Expertisen Papke, Richter II]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Selbständigkeit der Blockparteien wurde außer- schauenden und von der SED gelenkten „Appara- dem durch zahlreiche organisatorische Regelungen tes". eingeschränkt: Sie durften z. B. seit 1953 nur noch hi territorialen Organisationen arbeiten, nicht jedoch Da der Loyalitätsdruck gegenüber der SED von unten wie die SED und die Massenorganisationen auch in nach oben stetig zunahm und die Führungen der Betrieben und Verwaltungen präsent sein. Auch Blockparteien somit als reine Steuerungsinstrumente Kooperationsabsprachen zwischen den einzelnen der SED betrachtet werden können, ist es Aufgabe der Blockparteien konnten auf allen Ebenen nur über die Forschung, die individuelle politische Verantwortung SED bzw. den „Demokratischen Block" oder die differenziert zu untersuchen. „Nationale Front" erfolgen. Durch ein ausgedehntes Informations- und Berichtswesen, das Massenorgani- sationen und Blockparteien von unten nach oben 4.5 Motive für die Mitgliedschaft durchlief und auf den verschiedenen Ebenen mit dem Parteiapparat der SED sowie mit dem MfS eng ver- Die Massenorganisationen waren integraler Bestand- knüpft war, hatte sich die „führende Partei" ein teil des alltäglichen Lebens in der DDR. Sich für eine zusätzliches Kontrollinstrument geschaffen. Die Stim- Mitgliedschaft zu entscheiden, war deshalb nahezu mungslage der Bevölkerung sollte so ständig beob- eine Selbstverständlichkeit und meist keine bewußte achtet, eventuelle politische Konflikte sollten frühzei- politische Entscheidung. Ausschlaggebend war in tig erkannt und durch gezielte Kampagnen von oben vielen Fällen die „Monopolfunktion" der jeweiligen nach unten bekämpft werden. Organisationen für bestimmte Betätigungen oder soziale Leistungen: So wurde man als Berufstätiger Mitglied im FDGB, dem alleinigen Träger des Sozial- versicherungssystems (Urlaubsbetreuung; Zuschuß 4.4 Das Verhältnis zwischen Mitgliedern und bei längerer Krankheit und bei Geburt des Kindes; Funktionären Bewilligung von Kuren; Stellungnahme bei Antrag auf Invalidität; Sterbegeld, Notwendigkeit einer Emp- In Blockparteien und Massenorganisationen gab es fehlung beim Bau eines Eigenheimes oder Bunga- zwischen einfachen Mitgliedern und den Funktionä- lows). Auch der Nachweis eines gewissen gesell- ren als Repräsentanten des jeweiligen „Apparates" schaftlichen Engagements, der von der SED als Loya- qualitative politische Unterschiede. Die Unterschei- litätsbeweis immer wieder gefordert wurde, konnte dung zwischen dem hauptamtlichen Apparat in den durch eine — oft nur formale — Mitgliedschaft, z. B. in Blockparteien und der Mitgliedschaft ist von funda- der „Gesellschaft für deutsch-sowjetischen Freund- schaft" (DSF), relativ leicht erbracht werden. Die mentaler Bedeutung, wenn m an den Lebensverhält- hohen Beitragsrückstände einzelner Mitglieder und nissen in der ehemaligen DDR gerecht werden wi ll. „Eintrittswellen" infolge gezielter Werbekampagnen Bedingt durch die Abhängigkeit und Nähe der Block- lassen vermuten, daß es insgesamt sehr viel mehr parteileitungen zur SED bestand zwischen ihr und der politisch unmotivierte oder rein formale als politisch jeweiligen „Parteibasis" in den Ortsgruppen oft eine engagierte Eintritte gab. von Mißtrauen geprägte politische Kluft. Während Dagegen war der Eintritt in eine Blockpartei in der sich die Blockparteileitungen immer wieder rituell Regel ein überlegter bzw. zweckorientierter Schritt, öffentlich zu den Verhältnissen in der DDR bekannten mit dem der einzelne eine bewußte politische Ent- und jede Wendung der SED-Linie willig nachvollzo- scheidung traf und sich von anderen deutlich absetzte. gen, standen viele Mitglieder von Blockparteien der Nicht zuletzt deshalb können auch die persönlichen „führenden Rolle" der SED passiv hinnehmend oder Motive und Beweggründe für den Eintritt in eine innerlich ablehnend gegenüber. Eine genaue Trenn- bestimmte Blockpartei als Grundlage für Aussagen linie zwischen der „Parteibasis" und dem linientreuen zum politischen Selbstverständnis dieser Parteien und „Parteiapparat" zu ziehen, ist dabei sehr schwer, denn ihrer Haltung zum SED-Regime her angezogen wer- auch hauptamtliche Kreissekretäre setzten sich teil- den. Durch die Mitgliedschaft in einer Blockpartei weise gegen zentrale Anweisungen für die Bel ange konnte man auf lokaler Ebene gewisse eigene — von Mitgliedern und Ortsgruppen ein. Eine Folge wenn auch oft nur geringfügige —Akzente setzen und dieser politischen Kluft war, daß zentrale Vorgaben die Schutzfunktion der Blockparteien als „politische vom Parteiapparat und seinen Funktionären zwar Nischen" nutzen [-> Expertisen Richter II, Papke]. Der nach unten weitergeleitet, in den einzelnen Ortsgrup- überwiegende Teil der Mitglieder von CDU und pen aber nur formal oder oft gar nicht umgesetzt LDPD entwickelte in vieler Hinsicht routinierte Aus- wurden. weichmechanismen gegenüber den permanenten ideologischen Indoktrinationsversuchen. Insofern Auch in den Massenorganisationen verlief zwischen darf der formelle Nachweis von Staatsloyalität durch Mitgliedern sowie den durch intensive Lehrgangs- den Beitritt zu einer Blockpartei nicht undifferenziert und Schulungstätigkeit herausgebildeten Funktio- mit einem Nachweis wirklicher Loyalität zum System närshierarchien eine deutliche Trennlinie. Während des „real existierenden Sozialismus " gleichgesetzt die vor Ort, z. B. im Betrieb oder im Wohngebiet, werden. tätigen ehrenamtlichen Funktionäre von den Mitglie- dern in der Regel als eigene Interessenve rtreter und Vielmehr kann man zu Recht von Systemdistanz bei Vertrauensleute anerkannt wurden, galten ihnen vielen Mitgliedern in den Blockparteien sprechen. bereits die auf Kreisorganisationsebene tätigen Funk- Wichtige Gründe für den Parteibeitritt waren z. B. bei tionäre als Angehörige des nicht genau zu durch- Handwerkern und Gewerbetreibenden der Aus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 tausch- mit Gleichgesinnten sowie praktische Lebens LDPD aber über einige kurzfristige Aufmerksamkeits- und Berufshilfe vor Ort; mancherorts setzte die Ertei- erfolge hinaus systembedingt nur begrenzt nutzen. In lung einer Gewerbeerlaubnis die Mitgliedschaft in der friedlichen Revolution von 1989/90 trat die in den einer Blockpartei (vor allem der LDPD) voraus. Die vorherigen Jahrzehnten latente gesamtdeutsche Blockparteien fungierten somit als eine A rt Meinungs- Identität in beiden Parteien wieder offen hervor und forum und berufliche Interessenvertretung bei kon- bestimmte deren neue politische Wirksamkeit [-> kreten Einzelproblemen. Ausschlaggebend war für Bericht VI. Themenfeld]. viele Mitglieder, daß sie durch ihren Eintritt das von der SED für bestimmte berufliche Ziele geforderte politische Engagement nachweisen konnten, ohne der SED selbst beitreten zu müssen. Der Aufstieg in 4.7 Gesamtdeutsche Parteistrukturen politische Spitzenämter und hohe Leitungspositionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft war ihnen damit Im Zuge der „friedlichen Revolu tion" von 1989/90 allerdings meist verwehrt. Zudem sind Mitglieder von wandelten sich die Blockparteien in einem ebenso Blockparteien in der Regel von einer Beschäftigung in schwierigen wie konfliktreichen Prozeß nach jahr- sicherheitsempfindlichen Bereichen (z. B. Offiziers- zehntelanger Abhängigkeit von der SED zu eigen- ränge in der NVA; Tätigkeit bei der SDAG Wismut) ständigen Organisationen. CDU und LDP wurden von ausgeschlossen gewesen. Auch eine Mitgliedschaft in den Bonner Regierungsparteien als Schwesterpar- den Betriebskampfgruppen war bis in die späten teien anerkannt und unterstützt. Erste sichtbare Zei- achtziger Jahren nicht möglich. chen des Wandels bildeten — regionale und in ihrer Art unterschiedliche — Auseinandersetzungen zwi- schen Parteibasis und Parteiführung. Diese Kontro- versen führten zur Ablösung der bisherigen Parteifüh- 4.6 Die Frage der politischen Verantwortung rungen, zur Wahl neuer Vorsitzender in demokratisch einwandfreien Verfahren, zur Aufkündigung der Nach ihrer Gleichschaltung dienten Blockparteien Blockpolitik, zur Streichung der Anerkennung des und Massenorganisationen der SED zur Absicherung SED-Führungsanspruchs aus der Satzung und zu der ihres Herrschaftssystems. Als „Transmissionsriemen" Festlegung, nicht wieder mit der SED/PDS zusam- instrumentalisiert, sollten sie die Politik der SED über menzuarbeiten. ein weitverzweigtes Organisationsgeflecht in sämtli- che Bereiche der Gesellschaft hineintragen und Bereits im Frühjahr 1990 fanden sich neugegründete umsetzen. Auch wenn ihnen dies im Sinne einer Parteien und die veränderten ehemaligen Blockpar- ideologischen Erziehung der Bevölkerung zur Konf or- teien CDU und LDP zu Wahlbündnissen zusammen. mität mit der SED-Politik offensichtlich nicht gelang Der Demokratische Aubruch (DA), die Deutsche [-3 Suckut, Protokoll Nr. 22], fungierten sie als Hilfsin- Soziale Union (DSU) und die Ost-CDU bildeten die strumente, mit denen die SED das politische System „Allianz für Deutschland"; die LDP, die Deutsche der DDR beherrschen und sich Informationen über die Forumpartei und die F.D.P. in der DDR bildeten den tatsächliche politische Stimmungslage der Bevölke- Bund Freier Demokraten. So personell und politisch rung verschaffen konnte. verändert, war nach der Fusion von DA, Demokrati- scher Bauernpartei Deutschlands (DBD) und Ost-CDU Bei der Bewe rtung der Blockparteien müssen ihre auf der einen und nach der Fusion von LDP und NDPD völlig unterschiedlichen Funktionen für die SED, für zur Partei Bund Freier Demokraten und dem Zusam- die Funktionäre der Blockparteien und für die Mitglie- mengehen mit der Deutschen Forumpartei und der der Berücksichtigung finden. Mit der Übernahme von F.D.P. in der DDR auf der anderen Seite der Weg frei Funktionen in Teil- und Randbereichen der Gesell- zum jeweiligen Zusammenschluß mit der westdeut- schaft trugen sie zweifellos zu einer gewissen Stabili- schen CDU und F.D.P. zu gesamtdeutschen Parteien. sierung des politischen Systems der DDR bei. Indessen Historisch fand damit eine Entwicklung ihren kann aufgrund aufgezeigter Faktoren nur bedingt von Abschluß, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren Verantwortung und Teilhabe am Regime gesprochen eingeleitet worden war, als Christdemokraten wie werden. Liberale die Bildung gesamtdeutscher Parteien anstrebten und als organisatorische Vorformen eine Bemerkenswert bleibt, daß ein gesamtdeutscher zonenübergreifende Arbeitsgemeinschaft (CDU) Bezug in der Mitgliedschaft der beiden vormals bür- bzw. eine Demokratische Partei Deutschlands (DPD) gerlichen Parteien CDU und LDPD nie ganz erloschen gebildet hatten. ist. In der Politik der beiden Blockparteien hatte er allerdings eine geringe und zudem unterschiedliche Für die CDU und F.D.P. stellt sich durch den Zusam- Bedeutung. Die CDU in der Bundesrepublik Deutsch- menschluß mit den ehemaligen Blockparteien die land lehnte Kontakte zur Block-CDU ab, um eine Aufgabe, ihre jeweilige Parteigeschichte ebenso kri- Aufwertung der SED-abhängigen Parteiführung zu tisch wie verantwortungsbewußt aufzuarbeiten. Un- vermeiden; sie sah in der Exil-CDU die legitime terschiedliche politische Wege in zwei entgegenge- Vertreterin der christlichen Demokraten der DDR. setzten Systemen haben Prägungen geschaffen, die Demgegenüber gab es in der FDP seit 1956 kontinu- bis heute fortwirken und eine ebenso sensible wie ierliches Interesse an Gesprächen mit Vertretern der vorurteilsfreie Bewertung erfordern. Voreilig von poli- LDPD — zum einen, um den Gesprächsfaden nicht tisch-moralischen Kontinuitäten zu sprechen, wird abreißen zu lassen, zum anderen in der Hoffnung, auf dem Auftrag zu einem verantwortungsvollen Umgang diesem Wege politische Anregungen in die SED mit der Vergangenheit nicht gerecht. In dem Bemü- hineintragen zu können. Dieses Interesse konnte die hen von Ost- wie Westdeutschen in beiden Parteien, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode trotz unterschiedlicher Biographien gemeinsam für und nach hinausgedrängt wurde. Ende der fünfziger politische Ziele in einer pluralistischen Demokratie Jahre war der SED-Führung die vollständige Integra- einzutreten, zugleich aber jenen die Mitarbeit zu tion der Blockparteien in ihr Herrschaftssystem gelun- verweigern, die in der DDR anderen Menschen nach- gen. weislich Schaden zugefügt haben, liegt für CDU und Bei der Beschreibung der Funktion der Blockparteien F.D.P. die besondere Herausforderung, am Prozeß der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands mitzu- in diesem System stehen folgende Fragen im Vorder- wirken. grund: — Welches Interesse hatten SMAD und SED, CDU und LDPD zu erhalten und NDPD und DBD zu 4.8 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der gründen? Welchen Einfluß nahmen sie auf die SPD und des Mitglieds der Gruppe Bündnis Entstehung, innere Gestaltung und Entwicklung 90/Die Grünen sowie der Sachverständigen der Blockparteien? Faulenbach, Gutzeit, Mitter, Weber — Inwieweit haben die Blockparteien die ihnen von der SED zugewiesene Funktion im Herrschafts- 4.8.1 Vorbemerkung und Gesellschaftssystem der DDR tatsächlich wahrgenommen? "Der vorliegende Text beschränkt sich auf die Dar- stellung der Funktion der Blockparteien im SED- — Welche Handlungsspielräume hatten die Block- Herrschaftssystem, weil hinsichtlich der Massenorga- parteien innerhalb der ihnen von der SED gezoge- nisationen kein Dissens zum Bericht der Koalitions- nen Grenzen und- angesichts ihrer Anerkennung fraktionen besteht. der Führungsrolle der Kommunisten? Die Blockparteien waren verläßliche Stützen des SED- — Wie funktionierte eine Blockpartei? Welche Bezie- Regimes. Vom Staat wurden sie mit erheblichen hungen bestanden zwischen den einfachen Mit- materiellen Ressourcen ausgestattet. Sie existierten gliedern und den Funktionären auf den verschie- als von der SED abhängige, instrumentalisierte Orga- denen Leitungsebenen? nisationen, die breite Schichten der Bevölkerung in — Welche Motive haben Menschen zum Eintritt in das Herrschaftssystem der Einheitspartei einbinden eine der Blockparteien bewogen? sollten. — Worin unterschieden sich die Mitglieder in den Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges Blockparteien von der großen Mehrheit der partei- wurde auch in der SBZ, wie in den westlichen Besat- losen Bevölkerung? zungszonen, zunächst die SPD sehr schnell politisch handlungsfähig. Neben ihr gründeten sich außerdem — Welche Verantwortung tragen die Blockparteien CDU und die LDP als bürgerliche, demokratische für mehr als 40 Jahre DDR-Diktatur? Parteien, die rasch eine beachtliche Zahl von Mitglie- — Welche personellen, organisatorischen und finan- dern gewinnen konnten. Diese beiden Parteien wur- ziellen Kontinuitäten gibt es zwischen den ehema- den jedoch von SMAD und KPD sehr bald systema- ligen Blockparteien und CDU wie F.D.P., in denen tisch unterwandert, so daß sie ihre Unabhängigkeit sie nach der Wende aufgegangen sind? Inwieweit verloren. Durch die Zwangsvereinigung mit der KPD profitieren diese beiden Parteien von den Privile- im April 1946 wurde auch die SPD als eigenständige gien, die die Blockparteien in der DDR genos- politische Kraft besei tigt. Lediglich in Ost-Berlin gab sen? es noch bis zum Bau der Mauer 1961 legale SPD- Gruppen. Sozialdemokraten, die sich dem SED-Kurs Einige dieser Fragen lassen sich beim gegenwärtigen offen widersetzten, wurden politisch verfolgt, inhaf- Forschungsstand noch nicht abschließend beantwor- tiert oder ermordet. Bei der Ausschaltung der bürger- ten. Sie müssen für die verschiedenen Phasen der lichen Parteien als unabhängige politische Kräfte DDR-Geschichte anhand der nunmehr zugänglichen verfolgten SMAD und SED-Führung eine andere Archivalien weiter untersucht werden. Daraus könn- Strategie: In die Leitungsgremien von CDU und LPD ten sich differenzierte Erkenntnisse ergeben. wurden systematisch SED-hörige Mitglieder einge- schleust, die dann in unauffälliger Weise auf SED- freundliche Entscheidungen hinwirkten. Um den Ein- 4.8.2 Die Funktion der Blockparteien im System der fluß dieser beiden Parteien zu verringern, veranlaßte SED-Diktatur die SED zudem 1948 die Gründung von DBD und NDPD, in denen von Anfang an der SED ergebene Die SED verzichtete auf die Abschaffung der Block- Funktionäre ausschlaggebenden Einfluß besaßen. parteien, weil diese bis zum Herbst 1989 wich tige Mit Druck und Einschüchterung, durch Verhaftungen Funktionen für die Erhaltung des Regimes wahrnah- und politische Prozesse hat die SED versucht, die men. Die Blockparteien hatten politische Gleichschaltung der Blockparteien, vor (a) eine Alibifunktion, indem sie die kommunistische allem von CDU und LDP, bis in deren Basis hinein Einparteienherrschaft verschleiern helfen sollten, durchzusetzen. Die Ereignisse im Juni/Juli 1953 zeig- d. h. sie hatten die Aufgabe, Demokratie nach ten jedoch, daß dies nicht vollständig gelang. Bis zum innen und außen vorzutäuschen; Mauerbau existierte an der Basis aller Blockparteien ein kritisches Poten tial, das jedoch keinen Einfluß auf (b) einen gesamtdeutschen Auftrag, indem sie Kon- die Generallinie der Parteien besaß, zudem auch nach takte vor allem in westliche Staaten dort aufrecht- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

erhalten sowie auf- und ausbauen sollten, wo SED oft eine traditionelle Distanz. Die Blockparteien SED-Funktionäre unerwünscht waren; übernahmen die Aufgabe, auf diese im Sinne der SED einzuwirken, um sie für das Regime zu gewinnen. Zur (c) eine Mobilisierungsfunktion, indem sie der SED Begründung der SED-Politik trugen die Blockparteien fernstehende Bevölkerungsgruppen ansprechen meist nicht marxistisch-leninistische, sondern hu- sollten, um sie in das DDR-System einzubinden manistisch-christliche bzw. liberale Deutungsmuster und damit politisch zu disziplinieren. vor. Während die ersten beiden Funktionen zunehmend Jede dieser Parteien sollte bestimmte gesellschaftli- an Bedeutung verloren und die Mobilisierung nicht che Zielgruppen erreichen. Die LDPD w andte sich an den erwünschten Erfolg einbrachte, erwiesen sich die Handwerker und an die Reste des Mittelstandes, die Einbindungs- und die Disziplinierungsfunktion als CDU an die kleinen Unternehmer, an bürgerliche dauerhafte und wich tigste Aufgaben. Intellektuelle und insbesondere an Ch risten, die DBD an die ländliche Bevölkerung und die NDPD an eher national gesinnte Kreise und frühere Berufssoldaten 4.8.2.1 Alibifunktion der Wehrmacht. Die Mitgliederwerbung durfte nur in den jeweiligen Bevölkerungsgruppen erfolgen, was In den Staaten des sowjetischen Imperiums, die über von der SED streng kontrolliert wurde. Damit sollte eine demokratische Tradi tion verfügten und vor dem das Wirken dieser Parteien von vornherein auf die Zweiten Weltkrieg ein Mehrparteiensystem besessen ihnen zugewiesenen sozialen Schichten und Hand- hatten, wurden nach Kriegsende wieder verschie- lungsräume begrenzt werden. Ihrer Mobilisierungs- dene, auch bürgerliche Parteien zugelassen, alsbald funktion konnten die Blockparteien insgesamt jedoch jedoch in einem Blockparteiensystem zusammenge- nur in geringem Umfang gerecht werden. Die ihnen faßt und damit der Kontrolle von sowje tischer Besat- zugeordneten Bevölkerungschichten haben sie nicht zungsmacht und kommunistischer Partei unterwor- zu überzeugten Anhängern des DDR-Systems ma- fen. In der SBZ geschah dies entsprechend einem chen können. Diktum Ulbrichts: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir (die Kommunisten) müssen alles in der H and haben!" Sowohl der eigenen Bevölkerung als auch dem Ausland gegenüber sollte dadurch ein demokra- 4.8.2.4 Einbindung und Disziplinierung tischer Schein gewahrt werden. Die Existenz einer formalen Mehrparteiendemokratie, die innenpolitisch Im Laufe der Jahre mußte die DDR-Führung erken- das Herrschaftsmonopol der SED in keiner Weise in nen, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht von der Frage stellte, hatte gleichwohl außenpolitisch einige Richtigkeit der Ideologie und Politik der SED über- Bedeutung: Sie förderte bis in die achtziger Jahre zeugt werden konnte. Zwar war diese auch weiterhin hinein das Streben der SED nach internationaler bemüht, die Menschen marxistisch-leninistisch zu Anerkennung und Ansehen. So wurden beispiels- indoktrinieren, doch wurde die politische Einbindung weise Besuchsdelegationen in Lander der Dritten jener Menschen, die sich innerlich dem Wahrheitsan- Welt, vor allem nach Lateinamerika und Af rika, häu- spruch der SED nicht unterwarfen, für die Fortexistenz fig von Spitzenfunktionären der Blockparteien gelei- des Regimes immer wichtiger. Für die SED und ihr tet. Herrschaftssystem kam es mehr und mehr darauf an, daß sich die Menschen, wenn sie schon nicht über- zeugt werden konnten, wenigstens den Erwartungen 4.8.2.2 Gesamtdeutscher Auftrag der SED entsprechend verhielten, d. h. spontane und subjektive politische Willensbekundungen unterlie- ßen und ein äußerliches Wohlverhalten an den Tag Bis Anfang der siebziger Jahre hatten CDU und LDP legten. Wer sich ideologisch der SED teilweise oder die Aufgabe, unter den Anhängern der westdeut- vollständig entzog, mußte zumindest formal in das schen CDU und F.D.P. für die DDR und eine Wieder- System eingebunden werden. Dies zu erreichen, war vereinigung unter kommunistischem Vorzeichen zu eine wesentliche Aufgabe der Blockparteien, die sie werben. Während die F.D.P. über Jahrzehnte hinweg bis zuletzt zuverlässig im Sinne der SED erfüllten. Kontakte zur LDPD aufrechterhielt, verweigerte die Wichtigste Zielgruppe war dabei die eigene Mitglied- CDU diese zur Ost-CDU (insbesondere die hier massiv schaft [-> Expertise Richter II]. Diese erreichte mit Einfluß nehmende Exil-CDU, die durch ihren Vorsit- zuletzt 470 000 Personen eine beachtliche Größenord- zenden im CDU-Bundesvorstand vertreten war). nung (1987: CDU ca. 140 000, davon 20 000 hauptamt- liche Staatsfunktionäre und Abgeordnete; LDPD 104 000; DBD 115 000, NDPD 110 000); der Einfluß 4.8.2.3 Mobilisierung der Blockparteien auf die parteilose Bevölkerungs- mehrheit ging dagegen kontinuierlich zurück. In der SBZ/DDR existierte eine vertikal und ho rizontal differenzierte, historisch gewachsene Gesellschaft mit Den Funktionen der Blockparteien im Herrschaftssy- unterschiedlichen sozialen Schichten, die ihrerseits stem der SED entsprach es, den Macht- und Führungs- spezifische geistige Prägungen aufwiesen und über anspruch der SED ohne Einschränkung anzuerken- ebenso spezifische Erfahrungen verfügten. Handwer- nen. Dazu gehörte aber auch, der marxistisch-lenini- ker, Unternehmer und Bauern, eher na tional stischen Ideologie fremde und entgegenstehende Gesinnte, Christen und bürgerliche Intellektuelle Denkmuster und Wertvorstellungen als durchaus mit besaßen zur marxistisch-leninistischen Ideologie der dieser Ideologie vereinbar darzustellen bzw. sogar Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode umzudeuten. Für die Erfüllung dieser Aufgabe wur- Die Blockparteien waren somit — ohne Einschränkun- den den Blockparteien von der SED begrenzte Frei- gen seit Anfang der sechziger Jahre — ein Teil der räume gewährt. Dies sollte bei den Mitgliedern die SED-Diktatur mit wich tigen Stabilisierungsfunktio- Vorstellung fördern, daß die Blockparteien tatsächlich nen. Sie tragen daher insgesamt und vor allem ihre eine eigenständige Rolle spielten, auch wenn dies nur Funktionäre Mitverantwortung für das Unrecht in 40 eine Fiktion blieb. In diesen Freiräumen durften die Jahren DDR-Geschichte. So wenig, wie innerhalb der Blockparteien gelegentlich — und strikt im Rahmen Blockparteien selbständiges politisches Handeln der SED-Vorgaben — etwas von der SED-Linie abwei- möglich und so gering ihr Status als unabhängige chende politische Akzente setzen. Dabei wurde politische Akteure insgesamt war, so wenig gingen berücksichtigt, daß sie sich zwar an partiell Anders- auch von ihnen Impulse für politische Veränderungen denkende wandten, diese aber zur politischen Anpas- aus. Erst recht stellten sie kein Poten tial zur Überwin- sung und zur Konfliktvermeidung mit der SED bereit dung der Diktatur und damit auch keine politische waren. Die Konzession der Freiräume entsprach der Gefahr für die SED dar. Forderung der Einheitspartei an die Blockparteien, „eigenständige und unverwechselbare Beiträge" zur Die politische Bedeutung der Blockparteien wuchs Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen erst, als die Macht der SED sichtbar zu verfallen Lebens in der DDR zu leisten. So hat die CDU in den begann. Zum Sturz der Diktatur haben sie jedoch achtziger Jahren — wenn auch in sehr engen Grenzen nicht beigetragen. Gewiß haben auch Mitglieder von — ökologische Themen angesprochen. In den Verla- Blockparteien, wie selbst viele Mitglieder der SED, an gen der Blockparteien konnte Literatur erscheinen, trationen aller Bevölkerungsschichten im den Demons die ein SED-Verlag nicht herausgegeben hätte. Durch Herbst 1989 teilgenommen. Die Blockparteien traten die Bereitstellung begrenzter, von der SED s treng jedoch im Verlauf der Wende-Ereignisse als Parteien kontrollierter politischer Freiräume suchten die Block- überhaupt nicht in Erscheinung. Für sie war die parteien auch jene Menschen für eine gesellschaftli- Anpassung an die jeweiligen Machtverhältnisse che Mitarbeit zu gewinnen, zu denen die SED keinen längst zur selbstverständlichen Verhaltensnorm ge- Zugang hatte. Gerade in Phasen machtpolitischer worden. Für sie gab es bis zuletzt keine „Infragestel- Verunsicherung erfreuten sich deshalb die Blockpar- lung des SED-Machtmonopols" [—* Expertise Papke]. teien besonderer Wertschätzung durch die SED-Füh- Diejenigen Kräfte, die das anstrebten, mußten sich rung, die von ihnen Hilfe bei der Kontrolle von ihre eigenen Strukturen schaffen. Unruhepotential in bestimmten Gesellschaftsschich- ten erwartete. Die Grenzen zugestandener Freiräume lagen nie von vornherein fest, so daß es im Einzelfall auch immer wieder zu Konflikten gekommen ist. Selbst in diesen Freiräumen konnten die Blockpar- 4.8.3 Mitglieder und Funktionäre, Motive für die teien nicht politisch eigenständig handeln. Sogar die Mitgliedschaft Reden ihrer Funktionäre wurden von den zuständigen SED-Gremien, unabhängig von dem behandelten Die Instrumentalisierung der Blockparteien durch die Thema, zensiert. SED war so angelegt, daß sie von ihren Mitgliedern zumeist nicht vollständig durchschaut wurde. Da alle Alle Versuche, heute eine politische Mitverantwor- personalpolitischen Entscheidungen mit der SED tung für die Politik des SED-Regimes und seine l ange abgestimmt wurden, haben jedoch die Funktionäre Lebensdauer allein den Funktionsträgern der Block- der Blockparteien, bis zur Kreisebene hinab, im Wis- parteien anzulasten, mißachten die vielfältigen Erfah- sen um die tatsächlichen Zusammenhänge die ihnen rungen der DDR-Bevölkerung, insbesondere der kri- zugeteilte Rolle im Sinne der SED gespielt. Dies gilt tisch-oppositionellen Gruppen und Kirchen. Zwar gab erst recht für den enorm aufgeblähten Apparat der hauptamtlichen Funktionäre. es — was durchaus nicht selbstverständlich war — Unterschiede im Verhalten von Mitgliedern der SED und der Blockparteien. Aber im Vergleich zur Mehr- Nachdem die „bürgerlichen" Parteien der SBZ/DDR heit der Bevölkerung, die keiner Partei angehörte, ihren demokratischen Charakter verloren hatten und fielen auch Mitglieder von Blockparteien durch ihr das Blockparteiensystem etabliert worden war, haben deutlich unkritisches Mitmachen, durch Anpassung viele Mitglieder diese Parteien verlassen. Andere und Loyalität gegenüber dem System auf. So war zogen sich zurück oder flüchteten in den Westen. Wer Mißtrauen gegenüber CDU-Mitgliedern gerade in später in diese Parteien eintrat, tat dies häufig im den Kirchen weit verbreitet. Zusammenhang mit unpolitischen Erwägungen, etwa um als Handwerker eine Gewerbeerlaubnis zu erhal- ten oder um Karriere bis zu einer mittleren Leitungs- Materiell waren die Blockparteien von der SED stufe machen zu können. Viele der neuen Mitglieder abhängig; finanziert wurden sie weitgehend aus dem wollten einfach das in der DDR geforderte gesell- Staatshaushalt. Bei allen ihren Entscheidungen — schaftliche Engagement nachweisen können, ohne in tagespolitischen, programmatischen und personellen die SED einzutreten. Dabei war von Anfang an klar, — wurden die Erwartungen der SED als unumstößli- daß Mitglieder von Blockparteien nicht in Spitzenäm- che Vorgaben behandelt, gelegentlich sogar in vor- ter gelangen oder wichtige Leitungspositionen in auseilendem Gehorsam als Leitlinien für das eigene Gesellschaft, Staat und Wirtschaft erreichen konnten. Handeln antizipiert. Häufig war es daher gar nicht So entschieden eben häufig Karrierewünsche, als Teil nötig, daß die SED ihr gesamtes Steuerungs- und eines verbreiteten Anpassungssyndroms, über den Kontrollpotential sichtbar einsetzte. Eintritt in eine bestimmte Partei. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

4.8.4 Herausforderungen für Christdemokraten und Staatsmacht. Indem die Partei bestimmte knappe Liberale nach der Vereinigung mit den Güter oder Privilegien als Gratifikationen vergeben entsprechenden Blockparteien oder auch verweigern konnte, machte sie Menschen zusätzlich steuerbar [-> Expertise Gutmann]. Nach der Vereinigung der christdemokratischen und Die Beseitigung des „Privateigentums an Produk- der liberalen West- mit den entsprechenden Ostpar- tionsmitteln" war die wi rtschaftliche Grundlage für teien stellt sich heute auch für CDU und die F.D.P. die den Aufbau des „realen Sozialismus" in der DDR. Frage nach der politischen Mitverantwortung der Ausgehend von den ideologischen Vorstellungen des Blockparteien für die Politik des SED-Regimes. Nicht Marxismus-Leninismus erfolgte die Enteignung der nur die SED-Nachfolgepartei PDS muß sich offen mit sogenannten „Großkapitalisten", „Kriegsgewinnler" der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen, auch sowie der „Junker und Barone", die Verstaatlichung Christdemokraten und Liberale müssen sich der Her- der mittleren und kleineren Bet riebe und die Kollek- ausforderung stellen, die Geschichte der Blockpar- tivierung landwirtschaftlicher Betriebe. Die weitge- teien ohne Scheuklappen aufzuarbeiten — eine hende Verdrängung des privaten Einzelhandels und Geschichte, die nun Teil der Gesamtgeschichte von die zwangsweise Bildung von Produktionsgenossen- CDU und F.D.P. geworden ist. Aufschlußreich sind schaften des Handwerks belegen zusätzlich die weit- hierbei die Unterschiede zwischen den Aussagen in gehende Durchsetzung des angeblichen Volkseigen- den Reden von Lothar de Maizière im Dezember 1989 tums an den Produktionsmitteln [-> Expertisen Mühl- und auf dem Vereinigungsparteitag im Oktober 1990. frieden, Weber, Buck]. Vor allem bedürfen noch die personellen, organisatio- rischen und finanziellen Kontinuitäten zwischen den Bis Anfang der fünfziger Jahre erfolgte der komplette ehemaligen Blockparteien sowie CDU und F.D.P. der Aufbau eines nach sowje tischem Vorbild gestalteten kritischen Analyse. Insbesondere ist den Fragen nach- Systems der zentralen staatlichen Planung, Leitung zugehen, wo und inwieweit diese beiden Parteien bis und Kontrolle. Die SED beanspruchte die Führungs- heute von Privilegien der nun mit ihnen zusammen- position in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies geschlossenen Blockparteien profitieren, die diese in schloß ein, daß die wirtschaftspoli tischen Ziele (hin- der DDR genossen haben, und welche Auswirkungen sichtlich Produktion und Verteilung von Gütern und die weitgehende personelle Kontinuität bei der Beset- Leistungen, des Einsatzes an Arbeitskräften und Pro- zung von Ämtern in den neuen Bundesländern mit duktionsmitteln) von den zuständigen Parteigremien Mitgliedern aus den ehemaligen Blockparteien hat. beschlossen und gemäß diesen Vorgaben von der Die Beantwortung dieser Fragen wird darüber Auf- staatlichen Verwaltung umgesetzt wurden. Die Wi rt schluß geben, ob die Mitverantwortung der Blockpar- -schaftspolitik der SED wurde vermittels der Fünfjahr- teien für Politik und Dauer des SED-Regimes wirk lich pläne und der Jahresvolkswirtschaftspläne durchge- ernst genommen wird." setzt. Die SED bediente sich hierzu eines umfassen- den, hierarchisch gegliederten Apparates. Parallel zu den eigentlichen Planungsinstitutionen (Staatliche 5. Umgestaltung und Instrumentalisierung der Plankommission, Industrie- und sonstige wirtschafts- Wirtschaft leitende Ministe rien und Ämter, Vereinigungen Volkseigener Betriebe (bis 1979), Kombinate (ab Die Rolle der Wirtschaft in der vierzigjährigen 1979) und Volkseigene Betriebe) schuf sie ein weitge- Geschichte der DDR, die Bedeutung ökonomischer fächertes Kontrollinstrumentarium: Partei- und Ge- Faktoren bei ihrem Untergang und bei den Folgen der werkschaftsorganisationen auf allen Ebenen, die SED-Diktatur ist zweifellos ein entscheidendes Pro- „Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle", die blemfeld. Die Untersuchungen der Enquete-Kommis- „Staatliche Finanzrevision" und die „Staatliche sion zur Wirtschaft der DDR mußten sich auf die Bilanzyinspektion" [-> Expertise Gutmann]. Formen, Wege und Konsequenzen ihrer Umgestal- Die Umgestaltungsmaßnahmen von 1945 bis 1949 und tung zu einer zentralistisch-administrativen Planwirt- die endgültige Etablierung eines Wirtschaftssystems schaft sowie ihrer Instrumentalisierung für die Ziele zentraler Planung, Lenkung und Kontrolle nach der SED-Diktatur konzentrieren. Somit konnten nicht sowjetischem Vorbild in den Jahren danach bargen alle Aspekte der DDR-Wirtschaft erfaßt werden: ihre den Keim der gesellschaftlichen und wirtschaft lichen signifikanten Wesenszüge wurden jedoch deutlich Spaltung Deutschlands in sich. Sie schlossen weiter- herausgearbeitet. Wichtige Fragestellungen waren hin eine völlige Neuorientierung der Außenwirt- zum einen die Zielsetzung und die Methoden der schaftsbindungen gegenüber der Vorkriegszeit ein. Umgestaltung der Eigentums- und Lenkungsordnung Nicht zuletzt durch den sowje tischen Zugriff auf in der Wirtschaft [-> Expertisen Weber, Gutmann, wichtige Teile der ostdeutschen Wirtschaft im Zusam- Mühlfriedel, Buck, Bericht Wolf/Sattler], zum anderen menhang mit den Reparationsleistungen (Bildung der die Mechanismen und Auswirkungen ihrer Instru- SAG) entwickelte sich die Eingliederung der DDR- mentalisierung [-> Protokoll Nr. 27]. Wirtschaft in das sowje tisch dominierte Wirschaftsge- Die Zentralverwaltungswirtschaft war die ökonomi- biet des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, dem sche Grundlage der SED-Diktatur: Die Verfügung die DDR im September 1950 beitrat [-> Exper tise über Produktionsmittel und Produkte sicherte das Baar/Matschke]. Es galt das absolute staatliche Machtmonopol der SED und machte die Bürger, Außenwirtschaftsmonopol. Der herrschenden wirt- denen Lebenschancen und Konsummöglichkeiten — schaftspolitischen Doktrin folgend, aber auch unter im Rahmen des in diesem System Produzierbaren — dem Eindruck der Kündigung des Interzonenhandels- zugeteilt wurden, zu Abhängigen der Partei- und abkommens im Jahre 1960 und angesichts westlicher Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Embargomaßnahmen wurde zeitweilig eine „Störfrei- Die wirtschaftlichen Ursachen für den Zusammen- machung" der DDR-Wirtschaft, d. h. Unabhängigkeit bruch des Systems zentraler Planung, Leitung und und vollständige Abkopplung vom westlichen Welt- Kontrolle sind in diesem System selbst, in seinem markt, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ideologischen Gesamtanspruch und in seinen Kon- (NSW), versucht. Nicht zuletzt trugen der Mauerbau struktionsfehlern zu finden. Ein entscheidender im August 1961 und der Ausbau der Grenzanlagen zur Schritt zur Instrumentalisierung der Wirtschaft der weiteren Abschottung und selbstgewählten Isolie- SBZ/DDR war die Umgestaltung der Eigentumsord- rung der DDR bei. Das von ihr ausgebildete Preis- und nung, aus der wiederum charakteristische Defizite, Produktionsgefüge konnte wohl im RGW angesichts z. B. die Innovationsfeindlichkeit, resultierten. Ein mangelgeprägter Verteilungs- und Verhaltensmech- wesentlicher Konstruktionsfehler lag in dem für dieses nismen funktionieren, war jedoch in keiner Weise System nicht zu lösenden Problem der Informa tions- weltmarktkompatibel [->. Expertise Schüller]. gewinnung und -verwertung [-> Expertise Gutmann]. Zentrale Planung setzt grundsätzlich ein in der Wirk- Schwerpunkte wurden zentral, d. h. im Zentralkomi- lichkeit nicht erreichbares zentrales Wissen über die tee der SED bzw. in Abstimmung mit diesem in den Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft und Industrieministerien, gesetzt. Das geschah nach poli- die Bedürfnisse des Marktes voraus. In der DDR wurde tischen Zielvorgaben und führte u. a. zur Verschleu- versucht, dieses Problem durch einen Katalog von derung von Investitionen, da letztlich in keinem Fa ll Kennziffern zu lösen. Gleichzeitig sollten durch soge- der Weltstandard erreicht werden konnte (Beispiele nannte Hebel der materiellen Interessiertheit bzw. der Flugzeugbau, Robotertechnik, Mikroelektronik/Re- wirtschaftlichen Rechnungsführung Anreize zu plan- chentechnik, Energieträgerumstellung). Die Pläne entsprechendem Verhalten geschaffen werden. Ins- wurden zentral — vorwiegend nach politischen Krite- gesamt traten die Funktionsfehler seit dem Ende der rien — festgelegt und über das hierarchisch geglie- sechziger Jahre, als intensives Wirtschaftswachstum derte Leitungssystem bis zu den Bet rieben verbindlich immer notwendiger wurde, deutlicher als in der durchgesetzt. Scheinbar demokratische Mechanis- Anfangsphase in Erscheinung. men der Vorbereitung und Durchführung der Pläne (Plandiskussion, Gegenpläne, Sozialistischer Wettbe- Der im Interesse der Sicherung des „Volkseigentums" werb, „Aktivisten"-Initiativen u. ä.) veränderten nicht an Produktionsmitteln gezielt dezimierte p rivate den zentralistisch-administrativen Charakter der Pla- Handels-, Handwerks- und Dienstleistungssektor nung und Leitung. Häufig (in den achtziger Jahren [-> Expertisen Buck, Mühlfriedel] verstärkte die M an regelmäßig) erfolgten während der Plandurchführung rtschaftlichen Bereich. Andererseits-gelprägung im wi „Präzisierungen" der Pläne (nach unten), obwohl sie erforderten Steuerungs-, Verteilungs- und Kontroll- „Gesetz" waren. Damit war die sozialistische Volks- mechanismen die allseitige Bürokratie, die in Ergän- wirtschaft im Vergleich zum „Weltniveau" vor allem zung zu gegebener Ineffizienz und zum allgegenwär- durch relativ ineffektive Technologien, hohen Ener- tigen Sicherheitsapparat erhebliche Beschäftigungs- gie- und Materialeinsatz, umweltbelastende, verbü- anteile erzeugte. Hieraus (aber auch aus der Arbeits- rokratisierte Produktionsbedingungen und unzurei- platzgarantie selbst bei geringer Produktivität) ergab chendes Marketing gekennzeichnet [-> Protokoll sich eine erhebliche „verdeckte" Arbeitslosigkeit. Nr. 27]. Die Planungstätigkeit auf Betriebsebene erbrachte eine durchgängig „weiche" Planung, d. h. eine mög- Durch Privilegien der unterschiedlichsten Art, finan- lichst niedrige Ansetzung der eigenen Produktionsan- ziert aus Mitteln, die der Wirtschaft entzogen und gebote, um die voraussehbaren Mindestanforderun- entsprechend verteilt wurden, sicherte sich die Partei gen und Risiken — z. B. bei der Bereitstellung von die Loyalität der Angehörigen der Herrschaftselite auf Zulieferungen — niedrig zu halten und die Erfüllung allen Ebenen von Planung und Kontrolle. Die Einbin- der Pläne sicherzustellen [-> Expertise Gutmann]. Die dung der übrigen Bevölkerung in die Herrschafts- Produktion war in vielen Bereichen durch monatliche strukturen von Partei und Staat sollte erreicht werden Diskontinuität gekennzeichnet: Am Monatsanfang durch ein von der Partei gesteuertes kollektives Siche- trat (sofern nicht noch für die bereits gemeldete rungssystem versorgungs- und sozialpolitischer Art, Planerfüllung des Vormonats gearbeitet wurde) wobei der einzelne einer lückenlosen administrativen wegen Materialmangels Arbeitsausfall auf (ohne daß Zuteilung von Lebenschancen unterworfen wurde. etwa nicht „gearbeitet" wurde), und am Monatsende Dieses Versorgungs- und Fürsorgesystem umfaßte die wurden (bezahlte) Überstunden erforderlich und formale Sicherheit eines Arbeitsplatzes, die Lenkung Arbeitskräfte der „nicht produzierenden Bereiche" beruflicher Karrieren und Qualifikationen, die Versor- (z. B. auch aus Forschung und Entwicklung) in „die gung mit subventioniertem Wohnraum, die Subven- Produktion" abgestellt [–p Protokoll Nr. 27]. tion von Konsumgütern des Grundbedarfs, der Ver- kehrstarife und der Dienstleistungen. Das letztlich Das Verfahren der Preisbildung und der Leistungsab- gescheiterte Honecker-Programm der „Einheit von rechnung durch Plankennziffern führte dazu, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik" ist als ein Versuch in Betriebe in dem Bestreben, hohe Arbeitsergebnisse diese Richtung zu deuten [-> Buck, Protokoll Nr. 27]. abzurechnen, an der hohen Ansetzung ihrer Kosten Da die Verteilungsmechanismen nicht am Markt, also und Leistungen interessiert sein mußten [-> Exper tise am tatsächlichen Bedarf, orientiert waren, blieb das Gutmann]. Dies führte zu einer in der volkswirtschaft- Prinzip der „Mangelsteuerung" funktionsfähig. Es lichen Gesamtbilanz erheblichen, von außen gleich- entstand eine umfangreiche Schattenökonomie (Han- wohl kaum einschätzbaren künstlichen Wertaufblä- del mit Mangelprodukten, Forumschecks und „West- hung, die die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR geld"). schönte und bis zu der Fehleinschätzung führen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 konnte, die DDR nehme in der Reihe der Industrie- tees zur „Anleitung" der Medien reibungslos. Dies staaten den zehnten Rang ein [-> Exper tise von der bedeutete jedoch nicht, daß die auf vielfältige Weise Lippe]. betriebene Manipulation und versuchte Indoktrina- tion der Bevölkerung auch die erwünschten Ergeb- Einer der wesensbedingten Mängel dieses Systems nisse erbracht hätten. Zeitungen, Rundfunk und Fe rn war dessen Innovationsfeindlichkeit. Ein wirtschafts- tion-sehen hatten durch ihre durchsichtige Manipula politisches Hauptziel bestand in den beiden letzten von Information nur noch mittelbar eine Bedeutung Jahrzehnten darin, technischen Fortschritt durch für die Meinungsbildung. Die Nachricht als Halb- schwerpunktmäßige Investitionen bei wechselnden wahrheit ist in der DDR zur Norm geworden. Nur Schlüsselindustrien, verbunden mit teilweise außeror- durch das Lesen zwischen den Zeilen, vor allem aber dentlich hohen Aufwendungen für Forschung und in Verbindung mit Informationen aus westlichen elek- Entwicklung durchzusetzen. Einerseits wurden wis- tronischen Medien, deren Kenntnis die offizielle senschaftliche Einrichtungen mit erheblicher zentra- Medienpolitik zunehmend voraussetzte, konnte das -ler staatlicher Förderung weitgehend in Forschungs Geschehen im eigenen Staat einigermaßen nachvoll- und Entwicklungsaufgaben für die Indust rie einbezo- zogen werden. Freiräume für die Journalisten gab es, gen (z. B. Akademie der Wissenschaften, Universitäts- ungeachtet anderslautender Feststellungen einiger institute). Andererseits hemmten auch hier Bürokratie westdeutscher Kommunikationswissenschaftler, nicht (Entwicklungsstufen mit Berichten und Kontrollen) [-> Expertise Holzweißig]. DDR-Journalisten hatten und politisches Mißtrauen schnelle und hochwertige sich — auch wenn sie nur Mitglied einer Blockpartei Neuentwicklungen. Aktuelle Fachliteratur zu bezie- waren — als „Funktionäre der Partei der Arbeiter- hen oder Gespräche mit NSW-Betrieben auf der klasse" zu verstehen. Selbständiges Denken mußte Leipziger Messe zu führen, war nur ausgewählten bei ihnen deshalb der „Schere im Kopf" zum Opfer Kadern nach besonderer Verpflichtung und mit fallen. anschließender Berichterstattung erlaubt. Technischen Fortschritt einzuführen, brachte zudem Zur Deformation der Medienpolitik trugen die Gene- auf betrieblicher Ebene das Risiko der Planverfehlung ralsekretäre Ulbricht und Honecker maßgeblich bei. mit sich, mit möglichen Konsequenzen persönlicher Insbesondere Honecker ließ es sich z. B. nicht neh- und materieller Art. Darüber hinaus war auch der den men, kurzfristig vor Sendebeginn der „Aktuellen technischen Fortschritt vorantreibende inte rnationale Kamera" Änderungswünsche übermitteln zu lassen Wettbewerb systembedingt nicht vorhanden, weder — etwa als Reaktion auf die „heute"-Sendung des in der DDR selbst noch — wegen weitgehender ZDF um 19.00 Uhr. Darüber hinaus redigierte er ökonomischer Abschottung nach Westen — außen- Kommentare für „Neues Deutschl and", das FDJ- wirtschaftlich [-> Expertise Schuller]. Organ „Junge Welt" oder politisch besonders b risante Die ideologisch legitimierte, quasi kostenlose Nut- Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur ADN. zung der Umwelt durch die Betriebe stellte eine Wie aus internen Vermerken, aber auch gelegentlich Ressourcenverschwendung größten Ausmaßes mit aus öffentlichen Verlautbarungen hervorgeht, wußten teilweise bis heute nachwirkenden katastrophalen sowohl Ulbricht als auch Honecker, daß die von ihnen Folgen dar. Die Umwelt nahm im wi rtschaftlichen permanent geforderte „Massen- und Lebensverbun- Zielkatalog der Partei- und Staatsführung keinen denheit" der Medien eine Schimäre war. Einerseits nennenswerten Platz ein [-> Expertise Jordan]. verlangten sie auch kritische Berichterstattung über Mißstände und Probleme an der Basis, andererseits Der Zusammenbruch der zentralen staatlichen Pla- mußten aber die Probleme als lösbar dargestellt wer- nung, Leitung und Kontrolle der Wirtschaft war auf- den, was meist unmöglich war. Außerdem galt für jede grund ihrer Konstruktionsfehler und des daraus her- Redaktion das strikte Gebot, den „feindlichen vorgehenden Entwicklungsverlaufs vorprogram- Medien" keine Ansatzpunkte zur „Diversion" zu miert. Reformansätze in der DDR und in anderen liefern. Ostblockstaaten zeigten, daß diese Systemmängel ohne gleichzeitige Änderung auch des politischen Systems nicht entscheidend zu korrigieren waren. Die angestrebte „Massenverbundenheit" der Medien geriet vor allem deshalb zur Farce, weil die von ihnen gleichgeschaltete veröffentlichte Meinung im krassen 6. Die Medien als Herrschaftsinstrument der SED Gegensatz zu den Alltagserfahrungen der meisten DDR-Bewohner stand. Auch deshalb vertrauten sie mehr dem Informationsgehalt der westlichen elektro- Die Medien spielten als Instrument des „Klassen- nischen Medien, die von bis zu 90 Prozent der Bevöl- kampfes" im Systemwettbewerb eine bedeutende kerung der DDR regelmäßig eingeschaltet wurden. Rolle. ihre Funktionen als Herrschaftsinstrument der Die Einschaltquoten der Nachrichten- und Informa- SED, deren Bemühen, ein Meinungs- und Informa- tionssendungen des DDR-Fernsehens lagen dagegen tionsmonopol zu errichten, sowie die Haltung der häufig deutlich unter 10 Prozent. Anfang 1988 ermit- Journalisten sind in mehreren Expertisen untersucht telte das Leipziger Zentralinstitut für Jugendfor- worden [-> Expertisen Holzweißig, Di ller, Ludes, schung, daß nur 4 Prozent der befragten Jugendlichen Müller II]. eine volle Übereinstimmung der gewonnenen Infor- Obwohl es in der DDR im Unterschied zu anderen mationen aus DDR-Medien mit ihren Lebenserfahrun- Ländern des sowje tischen Einflußbereiches keine gen bestätigen konnten. Derartige Untersuchungen institutionalisierte Zensurbehörde gab, funktionierten verdrängten die Medienverantwortlichen und ver- die Steuerungsmechanismen des SED-Zentralkomi- schlossen sie in ihren Panzerschränken. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Grundstruktur der Zeitungslandschaft entstand Gegensatz zu allen anderen Presseerzeugnissen vor kurz nach dem Kriege nach Maßgabe der sowjeti- der Drucklegung von einem staatlichen Zensor begut- schen Besatzungsmacht. Seit Anfang der fünfziger achtet werden. Aus einer Disse rtation, mit der der Jahre gab es insbesondere im Hinblick auf die Anzahl langjährige Leiter des Presseamts, Kurt Blecha, an der der 39 Tageszeitungen kaum noch Veränderungen, Juristischen Hochschule des MfS promoviert wurde, weil die Lizenzträger ausschließlich Parteien und von sind erstmals detai lliert die perfiden Methoden der SED gelenkte Massenorganisationen sein durften. bekannt geworden, mit denen die Kirchenpresse Der Anteil der SED-Presse an der Gesamtauflage aller diszipliniert und schikaniert wurde [-> Expertise Holz- Tageszeitungen belief sich auf über 90 vH; den 18 weißig]. Die Zensoren im Presseamt rechtfertigten im Zeitungen der Blockparteien wurden 8,6 vH (834 000 übrigen in nicht nachvollziehbarer formalistischer Exemplare) zugestanden. Der prinzipielle Ausschluß Weise ihre Tätigkeit damit, daß die Kirchenzeitungen, von privaten Verlegern machte die in der Verfassung die nicht am Kiosk verkauft werden durften, erst nach gewährleistete Pressefreiheit zur Makulatur. ihrer Freigabe durch das Presseamt vom Postzeitungs vertrieb den Abonnenten zugestellt wurden. Die Medien als Propagandainstrument gaben vor, was offiziell zu denken und zu sagen war. Die Vorgaben der Die Verantwortung für die Medienpolitik lag zwar bei Medien sollten eigene Urteile vermeiden, die Wieder- der Führung der SED, doch war die große Mehrzahl gabe schütze etwa auch vor „Abweichungen". der Journalisten bereit, deren Weisungen und Vorga- ben zu akzeptieren. Zusammenfassend läßt sich fest- Hörfunk und Fernsehen waren nur der Form nach stellen, daß die Methoden der SED-Medienpolitik den staatlich organisiert. Die Staatlichen Komitees für bekannten Praktiken totalitärer Diktaturen entspra- Rundfunk und Fernsehen unterstanden tatsächlich chen. der Medienbürokratie im SED-Zentralkomitee. In einem Bericht über die Kaderentwicklung im Rund- funk aus dem Jahre 1961 hieß es: „Die Bildung des Staatlichen Rundfunkkomitees war eine entschei- 7. Militarisierung der Gesellschaft und die Rolle der dende Maßnahme bei der Säuberung des Rund- „bewaffneten Organe" funks ... Nur die besten, unserer Partei und Regie- rung treu ergebenen Mitarbeiter wurden übernom- Die Militarisierung von Staat und Gesellschaft sowie men ... Entscheidungen über Kaderfragen wurden ihre Funktion der Herrschaftsstabilisierung gegen- von der ideologischen Standfestigkeit des Mitarbei- über der Bevölkerung bildeten in der Arbeit der ters abhängig gemacht" [-> Expertise Müller II]. Daß Enquete-Kommission keinen eigenen Untersu- dies bis 1989 praktiziert wurde, läßt sich an den chungsbereich. Während Entstehung und Entwick- Schicksalen von in Ungnade gefallenen Rundfunk- lung der paramilitärischen Organisationen („Kampf- journalisten illustrieren. Über das Fernsehen als Herr- gruppen der Arbeiterklasse", Gesellschaft für Spo rt schaftsinstrument der SED mit dem von der Partei und Technik, Reservistenkollektive, Zivilverteidi- verlangten Berufsprofil für Mitarbeiter des Fernse- gung), ihr ideologischer Erziehungsauftrag und ihre hens wird konstatiert: „Vertraulich weitergegebene wehrsportliche Ausbildungsaufgabe im wesentlichen Informationen betonten, daß vor allem die Redaktion bekannt sind, bedarf die aggressive Indoktrination in der ,Aktuellen Kamera' zu ,schillernden Leistungsträ- zivilen Lebensbezügen, die häufig auch auf militäri- gem der Speichelleckerei in der Stalin/Honecker- sche Denkmuster zurückgriff, noch einer genaueren Ara' gehörte" [-> Exper tise Ludes]. Analyse. Dabei ist im Hinblick auf die alltägliche Abgesehen von den bereits erwähnten Eingriffen der Beeinflussung durch Feindbilder besonders zu Generalsekretäre, waren die jeweiligen ZK-Sekretäre berücksichtigen, daß bereits die Kinder im Vorschul- für Agitation für die Exekution der Medienpolitik alter zum Haß auf die „Feinde der DDR" erzogen und verantwortlich. Von 1978 bis 1989 war dies Joachim die ideologische Beeinflussung sowie die Bereitschaft Herrmann, ein Gefolgsmann Honeckers, der weder im zur „sozialistischen Landesverteidigung" in allen Parteiapparat noch unter den Journalisten Sympathie Lebensphasen kontinuierlich gefördert wurden. Wäh- genoß. Ihm zur Seite stand der seit 1973 amtierende rend jedoch die institutionalisierten Formen der Heinz Geggel als Leiter der Abteilung Agita tion, der Wehrerziehung in den Schulen, in den Pionierorgani- eigentlichen Schaltzentrale der SED-Medienbürokra- sationen und in der FDJ sowie am Arbeitsplatz für die tie. Die Sektoren Presse und Rundfunk/Fernsehen Betroffenen in den meisten Fällen eine vorüberge- dieser Abteilung werteten systema tisch die elektroni- hende Erfahrung gewesen sein dürfte, sind die lang- schen und Printmedien nach ideologischem Fehlver- fristigen Wirkungen der zielgerichteten Vermittlung halten aus und wachten darüber, daß die zahlreichen von Feindbildern in zivilen Bereichen (Medien, spe- telefonisch, fernschriftlich und mündlich auf den zielle Publikationen für Kinder und Jugendliche, Lied- sogenannten „Donnerstags-Argus" mit den SED gut, organisierte Freizeitgestaltung) und die Bedeu- Chefredakteuren ausgegebenen „Empfehlungen" tung der Nachahmung militärischer Rituale im Schul- strikt beachtet wurden. alltag noch nicht ausreichend erforscht. - Das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats Aus den zwei vergebenen Expertisen kann folgendes war gleichsam der Transmissionsriemen der ZK- zusammengefaßt werden: Abteilung Agitation für die Anleitung der Blockpar- teizeitungen, die Überwachung der Lizenzbestim- — Rolle im Warschauer Pakt mungen und die Koordination der staatlichen Öffent- lichkeitsarbeit. Außerdem oblag dem Presseamt die Hinsichtlich der Rolle der bewaffneten Org ane ist Vorzensur der Kirchenzeitungen. Sie mußten im zwischen einer äußeren, sicherheitspolitischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

und einer inneren, herrschaftspolitischen Funktion — Weiterer Forschungsbedarf zu unterscheiden. Die Eingliederung der NVA in Die Kommission konnte sich mit dem Thema der die Verteidigungskonzeption des Warschauer Militarisierung nur anhand zweier Expertisen Paktes ist ein weitgehend erforschtes Gebiet. Die beschäftigen und verweist auf die in der Forschung NVA unterstand jedenfalls zu keinem Zeitpunkt noch zu behandelnden Bereiche: dem nationalen Oberbefehl, sondern war stets dem Oberkommando des Warschauer Paktes unter- • Kasernierte Volkspolizei (KVP) als Vorläuferin stellt, das von den Richtlinien der sowjetischen der Nationalen Volksarmee (NVA) Militärführung bestimmt wurde und sich auf alle wesentlichen Bereiche von Aufbau, militärische • „Kampfgruppen der Arbeiterklasse" bzw. Be- Planung, Ausbildung, Logistik und Bewaffnung triebskampfgruppen und ihre Aufgaben als erstreckte [-> Exper tise Lapp]. Auch die Militär- Miliz sowohl für Aufgaben innerhalb der DDR doktrin des Warschauer Bündnisses wurde in Mos- als auch in den Einsatzplänen für den Ernstfall kau formuliert. außerhalb der DDR • Rolle der Zivilverteidigung — Politisierung der NVA • Rolle und Aufgaben der Grenztruppen der DDR in ihren verschiedenen Organisationsformen In den „bewaffneten Organen" unterlagen alle Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung • Rolle und Aufgaben der Verbände des Ministe- der Kontrolle der SED, die von Beginn an jede riums des Innern (Bereitschaftspolizei, Feuer- Führungsposition von Beginn an fast ausschließ- wehr, Strafvollzugseinheiten) lich durch ihre Mitglieder besetzte. Große Bedeu- • Baueinheiten der NVA, Diskussion über den tung hatte die ideologische Erziehung der NVA- Wehrersatzdienst Angehörigen zu „sozialistischen Soldatenpersön- lichkeiten" durch Politoffiziere, die der Politischen • System der Reservistenverbände Hauptverwaltung unterstanden. Das Ministe rium • militärischer Strafvollzug für Staatssicherheit besaß mit der „Verwaltung 2000" eine eigene Diensteinheit in der NVA, mit • Rolle der Militärattachés der DDR und Einsatz deren Hilfe sie die Armee flächendeckend durch von Experten im militärischen und polizeilichen offizielle und inoffizielle Mitarbeiter überwachte Bereich von Entwicklungsländern sowie vor allem die Kontakte der NVA-Angehöri- Zu den Themen, die in der Enquete-Kommission gen im In- und Ausland kontrollierte [-> Expe rtise ebenfalls nicht hinreichend behandelt werden konn- Lapp]. Die innere Struktur der NVA war gekenn- ten, gehören vor allem die Beteiligung der NVA am zeichnet durch eine s treng autoritäre, auf Befehl Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die und absolutem Gehorsam ausgerichtete Hierar- CSSR 1968 und entsprechende Vorbereitungen für chie. einen Einmarsch in Polen 1981. Darüber hinaus bedarf insbesondere das übergeordnete Thema der Militari- — Wehrersatzdienst sierung der Gesellschaft noch der weiteren Bearbei- tung. Dabei ist insbesondere auch die Wehrerziehung Zwei Jahre nach Einführung der Wehrpflicht in schulischen Einrichtungen [-> Expertise Marge- (1962) wurden vor allem auf Druck der Kirche dant, II. Themenfeld] und in der FDJ sowie durch die Baueinheiten geschaffen, die die Einbindung der- „Gesellschaft für Spo rt und Technik" (GST) zu jenigen jungen Männer in die Armee gewährlei- berücksichtigen. Ferner sollte die Frage untersucht sten sollten, die den Einsatz mit der Waffe „aus werden, ob und inwieweit die „Sozialisationsetappe religiösen Anschauungen oder ähnlichen Grün- NVA" Einstellungen und Verhalten der NVA-Ange- den" ablehnten. Von einem zivilen Ersatzdienst hörigen geprägt und dadurch die Eingliederung in die konnte jedoch keine Rede sein. Die Bausoldaten sozialistische Gesellschaft gefördert oder behindert waren fest in das militärische System eingebunden hat. und hatten ein Gelöbnis auf Staat und Partei Hinsichtlich der Verantwortlichkeit ist festzustellen, abzulegen; sie erfüllten Aufgaben, die z. T. auch daß die SED-Spitze auch die Politik der NVA militärische Relevanz hatten. In vielen Fällen muß- bestimmte; deren Führung und das Offizierskorps ten die Bausoldaten erhebliche Behinderungen trugen bis zum Oktober 1989 wissentlich und willent- und Einschränkungen in ihrer beruflichen Karriere lich die entsprechenden Entscheidungen der Partei hinnehmen. Überdies gab es keine öffentliche mit. Information über die Möglichkeit, Bausoldat zu werden. Man erfuhr es nur durch Be troffene oder die Kirche. 8. Schluß Im Zusammenhang mit der wachsenden Friedens- bewegung in der DDR stieg die Zahl der Bausol- Bei der Untersuchung von Machtstrukturen und Ent- daten in den achtziger Jahren erheblich an [-> scheidungsmechanismen im SED-Staat konzentrierte Expertise Koch]. Die Wehrdienstverweigerung sich die Enquete-Kommission vornehmlich auf die wandelte sich im Gegensatz zur religiösen Begrün- grundsätzliche Funktionsweise des politischen Sy- dung immer mehr zu einem Ausdruck oppositio- stems, die Instrumente der Herrschaftssicherung nellen Verhaltens. sowie die Methoden und den Verlauf der „sozialisti- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

schen Umgestaltung" in Wirtschaft und Gesellschaft. 3. Funktionszuweisung und Funktionsweise: Diffe- Der eng begrenzte Zeitrahmen der Kommissionsar- renz zwischen notwendigen pragmatischen Ver- beit machte es erforderlich, auch innerhalb der haltensweisen, die im Widerspruch zu Richtlinien genannten Bereiche zentrale Aspekte nur exempla- und ideologischen Vorgaben standen (u. a. am risch darzustellen, bestimmte Zeitphasen in der Ent- Beispiel der Kaderarbeit); Entstehen informeller wicklung der Machtstrukturen hervorzuheben und Entscheidungsstrukturen, die von einzelnen Funk- die Frage der Verantwortung im wesentlichen auf die tionären dominiert wurden. zentrale Entscheidungsebene zu beziehen. Einen ersten Schwerpunkt bildete im I. Themenfeld die 4. Zusammenhang von Ineffizienz und Stabilität: Fol- Entstehung der SED-Diktatur in den späten vierziger gen der strukturellen Systemmängel für die und den frühen fünfziger Jahren sowie das struktu- Arbeitsfähigkeit der einzelner Apparate; Ursachen relle Beziehungsgeflecht ihrer wesentlichen Bestand- für das langfristige Funktionieren des Gesamtsy- teile (SED, MfS, Militärapparat, Blockparteien, Mas- stems, obwohl wichtige Bestandteile ineffektiv senorganisationen). Unabhängig von diesen Akzent- arbeiteten und auch nicht jederzeit als zuverlässig setzungen ist zu berücksichtigen, daß die zugrunde- beurteilt wurden (z. B. Mitgliedschaft der Block- liegenden Mate rialien auf einem im einzelnen unter- parteien; Rezeption der Medien bei weitgehender schiedlichen Stand der Auswertung neuer zeitge- inhaltlicher Ablehnung); Anpassung der Erwar- schichtlicher Quellen beruhen. Die Enquete-Kommis- tungshaltung der Bevölkerung an die strukturelle sion weist daher auf die Notwendigkeit der Vertiefung Mangelsituation. zahlreicher Teilergebnisse hin. Sie ist sich der Tatsa- che bewußt, daß die wissenschaftliche Erschließung neu zugänglicher Archivbestände erst vor einer rela- 5. Zwang und Gehorsam: Darstellung der Einwir- tiv kurzen Zeit begonnen hat und in den kommenden kungsmechanismen, die die Bereitschaft zur Jahren quellengestützte Arbeiten unsere Kenntnisse Anpassung förderten; Darstellung des Systems aus auch über die Machtstrukturen und deren Wirkung Vergünstigung und Sanktionierung; Umfang der auf das Leben der Menschen in der DDR erweitern direkten und indirekten staatlichen Verfügungsge- werden. Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, wait über die Bürger. daß die DDR-Forschung finanzielle und institutionelle Rahmenbedingungen erhält, die der politischen 6. Alltagserfahrungen in den verschiedenen Phasen Bedeutung des Themas angemessen sind. der DDR-Geschichte (vgl. Konzept der Berliner Anhörung am 30. November/1. Dezember 1992). Aus der Arbeit der Enquete-Kommission ergeben sich eine Reihe offener Fragen zu deren Klärung die Erarbeitung spezieller Fallstudien empfohlen wird. 7. Sozialwissenschaftliche Untersuchungsbereiche: Folgen einer systema tischen und kontinuierlichen 1. Rahmenbedingungen des politischen Handelns ideologischen Indoktrination; Verlauf und Bedeu- der SED: Darstellung von Inhalten und Methoden tung geistiger Anpassungsprozesse; unbewußte der sowjetischen Einflußnahme auf die staatliche Aneignung von Denkmustern, die entweder in Politik; Untersuchung des Bewegungsspielraums allmählicher Hinnahme oder durch Abgrenzung der SED-Führung; Fallstudien über die Anleitung entstanden sind; Besonderheiten der Sozialisa- von Partei- und Regierungsstellen; Vergleich mit tion. anderen sozialistischen Staaten. 2. Institutionengeschichtliche Untersuchungen: Tä- Privatsphäre8.Folgen für die und Öffentlichkeit: tigkeit und Verantwortlichkeit der Instanzen in politische Partizipationsbereitschaft im politischen Bezirken und Kreisen für die Verwirklichung zen- System des vereinigten Deutschland (Mitglied- traler Beschlüsse; Darstellung der vertikalen schaft in Parteien und Bürgerinitiativen, Wahlbe- Befehlsstränge; Handlungsspielraum der nachge- teiligung); besonderes Staatsverständnis; gestei- ordneten bürokratischen Apparate von Partei und gerte Erwartungen an die staatliche Kompetenz für Staat. Problemlösungen und soziale Absicherung.

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II. Themenfeld: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft dar DDR

Inhalt Rechtsextremismus Die Haltung der SED zu Juden und Jüdischen Ge- a) Beratungsverlauf meinden 1. Öffentliche Anhörungen 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR 1.1 Öffentliche Anhörung am 12. Februar 1993 in 2.1 Mittel zur Formung der „sozialistischen Ge Bonn zum Thema „Marxismus/Leninismus selischaft" und deren Wirksamkeit und die soziale Umgestaltung in der SBZ/ 2.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der DDR". SPD und der Sachverständigen Faulenbach, 1.2 Öffentliche Anhörung am 5. März 1993 in Gutzeit und Weber zur Gesellschaftspolitik der Bonn zum Thema „Antifaschismus und SED Rechtsradikalismus in der SBZ/DDR". 3. Frauen- und Familienpolitik 1.3 Öffentliche Anhörung am 16./17. März 1993 in Halle zum Thema „Die Erziehung zur soziali Vorbemerkung stischen Persönlichkeit" . 3.1 Gesellschaftspolitische und gesetzliche 1.4 Öffentliche Anhörung in Bonn am 26. März Grundlagen 1993 zum Thema „Wissenschaft und Technik in der DDR". 3.2 Frauen im Spannungsfeld zwischen Familie und Beruf 1.5 Öffentliche Anhörung am 4. und 5. Mai 1993 in Berlin zum Thema „Kultur und Kunst in der 3.3 Frauen in Ausbildung und Beruf DDR". 3.4 Frauen in Gesellschaft und Politik 1.6 Gemeinsame öffentliche Anhörung des Spo rt 3.5 Nachwirkungen ausschusses und der Enquete-Kommission am 21. Juni 1993 in Bonn zum Thema „Die Rolle 3.6 Forschungsdesiderata des Sports in der DDR". 4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung und Bildung Bericht b) 4.1 Bedeutung von Erziehung und Bildung für die Vorbemerkung SED

1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des Mar 4.2 Ausgestaltung des „einheitlichen sozialisti xismus-Leninismus schen Bildungssystems" 4.3 Ausgewählte Problembereiche 1.1 Marxismus-Leninismus 4.4 Erziehung und ideologische Ausrichtung au 1.1.1 Marxismus-Leninismus als Grundlage des ßerhalb der Schule SED-Staates 4.5 Wirkungen des Bildungs- und Erziehungssy 1.1.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der stems SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit und Weber zur Funktion des Marxis 4.6 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs mus-Leninismus mit der Erziehung und Bildung 1.1.3 Ideologie und Gesellschaft 4.7 Offene Fragen, Forschungsdefizite und Emp fehlungen 1.1.4 Zur Frage der Nachwirkungen 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED - 1.2 Zur Rolle des Antifaschismus Staat 1.2.1 Zur Entwicklung des Antifaschismus 5.1 Ziele der SED-Wissenschaftspolitik 1.2.2 Zur Funktion des Antifaschismus in der DDR 5.2 Die Politik der SED gegenüber Hochschulen und Akademien 1.2.3 Zur Frage der Nachwirkungen des „verordne- ten" Antifaschismus und der Aufgabe histo- 5.3 Lenkung und Instrumentalisierung der For risch-politischer Bildungsarbeit schung durch die SED Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

5.4 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs — Jugendpolitik und Jugendleben von 1945 bis mit der Wissenschaft 1989

5.5 Offene Fragen und Forschungsdesiderata — Agitation und Propaganda als Erziehungsinstru- 5.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der mente der SED-Diktatur SPD und der Sachverständigen Faulenbach, — Rolle und Funktion der Wissenschaften im SED- Gutzeit und Weber zur Funktion von Wissen- Staat schaft und Forschung in der DDR — Kunst-, Literatur- und Kulturbetrieb in der SBZ/ 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirk- DDR: Organisationen, Auftragsvergabe, Ideolo- lichkeit gievermittlung

— Umgang mit dem kulturellen Erbe Vorbemerkung — Funktion und Instrumentalisierung des Sports 6.1 Der kulturpolitische Anspruch der SED-Füh- rung und Phasen der SED-Kulturpolitik — Karriereangebote, Karrieremuster und Eliterekru- 6.2 Die Rolle der kulturellen Verbände bei der tierungen Instrumentalisierung der Kultur 6.3 Die Steuerung der kulturellen Tätigkeiten durch Repressionen und Privilegierung 1. Öffentliche Anhörungen

6.4 Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der Die Mehrheit dieser Themen wurde in Öffentlichen Kulturpolitik Anhörungen und Vortragssitzungen in der Zeit vom 6.5 Alternativkultur in der DDR Februar bis April 1993 behandelt. 6.6 DDR-Gefängnisliteratur und Haftberichte 6.7 Die Behandlung des kulturellen Erbes 1.1 Die Öffentliche Anhörung am 12. Februar 1993 in Bonn wurde unter das Thema 6.8 Städtebau und Architektur „Marxismus/Leninismus und die soziale 6.9 Nachwirkungen und Forschungsdesiderata Umgestaltung in der SBZ/DDR" gestellt [-> Protokoll Nr. 28]. 7. Rolle des Sports in der DDR

7.1 Zentralistische Organisationen Der Marxismus-Leninismus galt in der DDR als „herr- schende Ideologie", die für die gesamte Politik der 7.2 Breitensport als Integrationsinstrument SED und damit für die gesellschaftliche Um- und 7.3 Leistungssport Ausgestaltung der DDR grundlegend war. In den Vorträgen, Zeitzeugenberichten und Diskussionsbei- 7.4 Doping im DDR-Leistungssport trägen wurde der Frage nach der marxistisch-lenini- 7.5 Die Rolle der SED und des MfS bei der Durch- stischen Grundlegung des SED-Regimes ebenso setzung der Sportpolitik nachgegangen wie der nach der Indoktrination und den materiellen und psychischen Folgen für die Bevöl- 7.6 Folgen der SED-Sportpolitik, Forschungsdesi- kerung der DDR. derate und Empfehlungen Abg. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) und das sach- verständige Mitglied der Enquete-Kommission Her- a) Beratungsverlauf mann Weber führten in das Thema ein. Es schlossen sich folgende Vorträge an:

Das II. Themenfeld „Rolle und Bedeutung der Ideolo- Konrad Löw: „War der SED-Staat" marxistisch?" gie, integrativer Faktoren und disziplinierender Prak- tiken in Staat und Gesellschaft der DDR" wurde Wolfgang Leonhard: „Marxismus-Leninismus und die gemäß den Vorgaben im Rahmenplan der Kommis- soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR" sion bearbeitet und in folgende Einzelthemen unter- teilt: Wilhelm Ernst: „Die Zerstörung personaler und sozia- ler Werte im Sozialismus" -- Rolle und Bedeutung des Marxismus-Leninismus Als Zeitzeugen berichteten die Abgeordneten: — Marxismus-Leninismus und die soziale Umgestal- tung in der SBZ/DDR Wolfgang Thierse (SPD); Karlheinz Guttmacher (FDP); Udo Haschke (CDU/CSU); Wolfgang Ullmann — Rolle und Funktion des Antifaschismus sowie Ein- (Bündnis 90/Die Grünen); Dietmar Keller (PDS/LL). stellung der SED gegenüber jüdischen Mitbürgern und zur nationalsozialistischen Judenverfolgung Zur Thematik wurden ferner folgende Expertisen und Berichte in Auftrag gegeben: — Bildungs- und Erziehungssystem in der SBZ/DDR: Stellenwert für das politische System, Funktionali- — Abg. Roswitha Wisniewski/Bernhard Marquardt: sierung für die Parteidiktatur, Indoktrination und „Marxismus — die Voraussetzung des politischen die Rolle der Erzieher Systems der DDR" (Bericht) Deutscher Bundestau — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— Bernhard Marquardt: „Totalitarismustheorie und der ideologischen Erziehung, für alle Bevölkerungs- die Aufarbeitung der SED-Diktatur" (Bericht) gruppen im Sinne des „sozialistischen Staates„. — Hermann Weber/Lydia Lange: „Zur Funktion des Nach Einleitungs- und Grußworten von Minister Ha rt Marxismus-Leninismus" (Bericht) -mut Perschau und Oberbürgermeister Dr. Rauen wur- den die folgenden Vorträge gehalten: — Konrad Löw; Johannes Kuppe: „Zur Funktion des Marxismus/Leninismus" (zwei Expertisen) Ministerin Christine Lieberknecht: „Die sozialistische — Irma Hanke: „Sozialstruktur und Gesellschaftspo- Persönlichkeit als Erziehungsziel" litik im SED-Staat und die geistig-seelischen Fol- Ministerin a.D. Marianne Birthler: „Die sozialistische gen" (Expertise) Persönlichkeit als Erziehungsziel" Rüdiger Thomas: „Ursachen und Folgen der — Heidi Vollmann: „Lehrer im Zwiespalt" Gesellschaftspolitik im SED-Staat" (Exper tise) Gunnar Berg: „Hochschule als Instrument der ideolo- — Gisela Helwig: „Frauen im SED-Staat" (Exper- gischen Erziehung" tise) — Dieter Voigt; Eberhard Schneider: „Karriereange- Uwe Blachnik: „Wehrerziehung in der Schule" bote, Karrieremuster und Eliterekrutierungen" Martin Hannemann: „Heimerziehung" (zwei Expertisen) Dieter Müller: „Berufsausbildung in der DDR"

Wolfgang Donner: „Ideologie und Politik in der 1.2 Die Öffentliche Anhörung am 5. März 1993 Erwachsenenbildung" in Bonn befaßte sich mit dem Thema Es fand ein Podiumsgespräch statt, an dem ein Teil der „Antifaschismus und Rechtsradikalismus Vortragenden und die Zeitzeugen bzw. Sachverstän- in der SBZ/DDR" digen Jan Hoffmann, Adolf Kossakowski, Rudi [-> Protokoll Nr. 30]. Pahnke unter Leitung der Abgeordneten Christel Hanewinckel (SPD) teilnahmen. Ausgangspunkt war die Feststellung, daß die DDR von der SED als „antifaschistischer Staat" legi timiert Nach einer Vorführung von Dokumentarfilmen über wurde. Zu untersuchen war dabei insbesondere auch den Kindergarten in der DDR fand eine Diskussion mit die instrumentelle Verwendung des Antifaschismus- den Autoren Anne Richter und Hans Wintgen unter begriffs im Sinne der KPD/SED. Außerdem wurde die der Leitung der Abgeordneten Angelika Barbe (SPD) Frage nach Ursachen und Erscheinungsformen statt. rechtsradikaler Tendenzen in der DDR behandelt. Weiterhin wurden Expertisen und Berichte zu folgen- In die thematischen Schwerpunkte führten die Abge- den Themen in Auftrag gegeben: ordnete Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) und das sachverständige Mitglied der Enquete-Kommission — Ulrich Mählert: „Jugendpolitik und Jugendleben Bernd Faulenbach ein. Es schlossen sich folgende von 1945 bis 1961 " (Expertise) Vortrage an: — Barbara Hille: „Jugend und Jugendpolitik in der Giinter Fippel: „Antifaschismus als Integrationsideo- DDR von 1961 bis 1989" (Expertise) logie und Herrschaftsinstrument" — Bernd-Reiner Fischer; Udo Margedant: „Das Bil- Manfred Wilke: „Der instrumentelle Antifaschismus dungs- und Erziehungssystem der DDR — Funk- der SED und die Legitimation der DDR" ion, Inhalte, Instrumentalisierung, Freiräume" (zwei Expertisen) Karl Wilhelm Fricke: „Nazigrößen in der DDR" Abg. Konrad Weiß: „Rechtsextremismus in der End- — Dietrich Sengbusch: „Das System der Jugend- zeit der DDR" werkhöfe in der DDR" (Exper tise) Hansjörg Geiger: „Rechtsextremismus in der DDR — Martin Hannemann: „Heimerziehung in der DDR" und das MfS" (Expertise) Zur Thematik wurde folgender Bericht in Auftrag gegeben: 1.4 In der Öffentlichen Anhörung in Bonn am Peter Maser: „Juden und Jüdische Gemeinden in der 26. März 1993 wurde das Thema „Wissenschaft DDR" (Bericht) und Technik in der DDR" behandelt. [-> Protokoll Nr. 33] - 1.3 In der Öffentlichen Anhörung am 16J17. März Im Zentrum der Anhörung stand die Steuerung und 1993 in Halle [-> Protokolle Nr. 31 und 32] wurde Kontrolle der Wissenschaften in der DDR durch die das Thema „Die Erziehung zur sozialistischen SED-Führung. Persönlichkeit" behandelt. Die Vorträge wurden gehalten von:

Die Themenstellung ergab sich aus der zentralen Jörn Schütrumpf: „Steuerung und Kontrolle der Wis Funktion der Erziehung und Bildung, insbesondere senschaft durch die SED-Führung: — Akademie der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Wissenschaften, Akademie für Gesellschaftswissen- — Jan Faktor: „Bruche und Abgrenzungstendenzen schaften beim ZK der SED" unter den jungen Oppositionellen in der DDR. Brüche und Abgrenzungstendenzen in der alterna- Staatsminister Hans Joachim Meyer: „Hochschulpoli- tiven Kultur. Verdeckte Brüche, der Verrat und die tik in der DDR" Konsequenzen" (Expertise) Als Zeitzeugen berichteten der Abgeordnete Rainer — Klaus Michael: „Alternativkultur und Staatssicher- Jork (CDU/CSU) und die sachverständigen Mitglie- heit 1976 bis 1989" (Exper tise) der der Enquete-Kommission Herbert Wolf und Armin Mitter. — Manfred Ackermann: „Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR unter besonderer Es wurden verschiedene Berichte des Wissenschaftli- Berücksichtigung des Denkmalschutzes" (Exper- chen Dienstes des Deutschen Bundestages in Auftrag tise) gegeben. — Charlotte Schubert: „Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR" (Exper tise) 1.5 In der öffentlichen Anhörung am 4. und 5. Mai — Bruno Flierl: „Städtebau und Architektur im 1993 in Berlin wurde das Thema „Kult ur und Staatssozialismus der DDR " (Exper tise) Kunst in der DDR" behandelt. [-4 Protokolle Nr. 35 und 36] — Jörg Bernhard Bilke: „Unerwünschte Erinnerun- gen. Gefängnisliteratur 1945/49 bis 1989" (Exper- Im Mittelpunkt der Anhörung standen die Bedingun- tise) gen, unter denen die Künstler und im kulturellen — Theo Mechtenberg: „Staatssicherheit und Litera- Bereich Tätigen standen, also insbesondere das pro- turszene in der DDR" (Expertise) blematische Spannungsverhältnis zwischen geforder- ter Parteilichkeit und künstlerischem Freiraum. — Abg. Maria Michalk: „Kultur in der DDR" (Be- richt) Die Vorträge wurden gehalten von: — Materiaiien des Wissenschaftlichen Dienstes des Manfred Jäger: „Kulturpolitik der DDR" Deutschen Bundestages. Joachim Walther: „Literatur und MfS" Siegmar Faust: „Zensur in der Literatur" 1.6 In einer gemeinsamen öffentlichen Anhörung Freya Klier: „Die Rolle des Theaters in der Kultur- des Sportausschusses und der politik der DDR" Enquete-Kommission am 21. Juni 1993 in Bonn wurde das Thema „Die Rolle des Sports in der Bärbel Bohley: „Zensur in der Malerei" DDR" behandelt. Krescan Baumgärtel: „Kulturpolitik gegenüber den [-> Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses] Sorben" Untersucht wurden insbesondere die Zielsetzungen Götz Altmann: „Gedanken fiber regionale Volkskul- der Sportpolitik der SED (Erziehung zur sozialisti- tur in der ehemaligen DDR am Beispiel des Erzgebir- schen Persönlichkeit, gesundheitliche und wehrerzie- ges" herische Aspekte, Identifikation mit Staat und Partei, Lutz Seiler: „Strukturen der Literaturföderung durch innerdeutsche und internationale Aufwertung). die FDJ" Die thematische Einführung erfolgte durch den Vor- Hans-Adolf Jacobsen: „Auswartige Kulturpolitik der sitzenden des Sportausschusses, Abg. Ferdin and Till- DDR" mann (CDU/CSU) und den Vorsitzenden der Enquete-Kommission, Abg. Rainer Eppelmann. Peter Böthig: „Alterna tive Literatur" Die Vorträge wurden gehalten von: Christoph Tannert: „Subkultur: Bildende Kunst" Gunter Holzweißig: Peter Wicke: „Pop-Musik" „Die Funktion des Sports für das Herrschaftssystem der DDR (Zielsetzung, Strukturen, politischer Stellen- Als Zeitzeugen berichteten: wert) " Frank Beyer, Jutta Wachowiak, Hartwig Ebersbach, er: Hans Bentzien, Günter Feist, Jurek Becker. Jürgen Hill „Ergänzende Darstellung aus ostdeutscher Sicht Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Künstler zwi- unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-deut- schen Anpassung und Widerstand in den achtziger schen Sportbeziehungen" Jahren" fand unter Beteiligung von Lutz Rathenow, Wolfgang Herzberg, Helga Schube rt, Toni Krahl unter Hans-Jörg Geiger, stellvertretender Leiter der Bun- der Leitung des Abgeordneten Gerd Poppe (Bündnis desbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheits- dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen 90/Die Grünen) statt. Republik: Weiterhin wurden Expertisen zu folgenden Themen „Sport und Staatssicherheit: Überwachung, Verfol- verfaßt: gung und Außendarstellung" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Werner W. Franke, Horst de Marées: 1. Rolle und Bedeutung der Ideologie des „Sportmedizin und Sportwissenschaft im Dienste des Marxismus-Leninismus Staatsauftrages ,Sport'". Nach dem Selbstverständnis der SED war der Marxis- Als Zeitzeugen berichteten: mus-Leninismus die ideologische Grundlage der Lothar Pickenhain, Alois Mader, Heiner Schumann, DDR. Zugleich stellte sich die DDR als antifaschisti- Winfried Dreger, Günter Schaumburg, Jürgen scher Staat dar. Der Antifaschismus gehörte zu den in Schult. der Gesellschaft der DDR zweifellos bedeutsamen integrativen Faktoren. Erkennbar ist zudem, daß die Weiterhin wurden Expertisen zu folgenden Themen SED ständig, verstärkt aber seit den siebziger Jahren, verfaßt: bemüht war, Traditionen der deutschen Geschichte Hans-Dieter Krebs: in eine positive Beziehung zur DDR zu bringen „Die politische Instrumentalisierung des Sports in der [-> Expertisen Schubert, Ackermann]. Offensichtlich DDR „ reichten Marxismus-Leninismus und Antifaschismus zur ideologischen Begründung nicht — bzw. zuneh- Werner Franke: mend weniger — aus. „Funktion und Instrumentalisierung des Sports in der DDR: Pharmakologische Manipulationen (Doping) Eine Analyse der Wirkung der von der SED instru- und die Rolle der Wissenschaft „ mental eingesetzten ideologischen Faktoren hat von der Tatsache auszugehen, daß in der Gesellschaft der In einer gemeinsam mit der Enquete-Kommission DDR stets gegen den Willen der SED auch andere vorbereiteten Öffentlichen Anhörung des Innenaus- Realitäten eine Rolle spielten, die im Gegensatz oder schusses wurde am 7. März 1994 die Thematik der in Konkurrenz zu den staatlich durchgesetzten und Gedenkstätten behandelt. Die anwesenden Mitglie- sanktionierten Faktoren standen. Inwieweit letztere der des Innenausschusses und der Enquete-Kommis- tatsächlich die gesamte Gesellschaft durchdrangen, sion hörten Stellungnahmen und Diskussionsbeiträge ist gegenwärtig noch nicht zu beantworten. der Sachverständigen Barbara Distel, Alex ander Fischer, Thomas Hofmann, Annette Leo, H ans Mommsen, Günther Morsch, B rigitte Oleschinski, 1.1 Marxismus-Leninismus Dieter Preißler, Helmut Trotnow, Reinhard Rürup sowie Manfred Wilke. Von Verbänden und öffentli- Es konnte nicht die Aufgabe der Enquete-Kommission chen Einrichtungen, die mit der Gedenkstättenpro- sein, sich kritisch mit der Ideologie des Marxismus- blematik befaßt sind, lagen schriftliche Stellungnah- Leninismus im einzelnen auseinanderzusetzen. men vor. Gleichwohl sind zum Verständnis der SED-Diktatur ideologische Aspekte einzubeziehen und zu beleuch- ten [-> Protokoll Nr. 28]. In dieser Frage herrschte innerhalb der Enquete-Kommission Übereinstim- b) Bericht mung. Unterschiedliche Meinungen wurden jedoch hinsichtlich der Bedeutung der ideologischen Grund- lage des Marxismus-Leninismus für den SED-Staat Vorbemerkung vertreten. Der Grundkonsens a ller Demokraten hin- sichtlich des totalitären Charakters der SED-Diktatur Eine Analyse der SED-Diktatur und ihrer bis heute wurde dadurch aber nicht in Frage gestellt [-> Proto- nachwirkenden Folgen muß die ihr zugrundeliegende kolle Nr. 74, 75]. Während die Mehrheit der Kommis- Ideologie und das darauf aufbauende Herrschaftssy- sion [-> Abschnitt 1.1.1] einen wesentlichen Akzent stem untersuchen. Sie hat dabei auch jene Faktoren auf die theoretische Fundierung des Herrschaftsan- einzubeziehen, die darauf abzielten, auf der subjekti- spruchs der SED durch den Marxismus-Leninismus ven Ebene die Integra tion der Menschen in die setzte, betonte die SPD in einem Sondervotum Diktatur zu gewährleisten. Hierzu zählten vor allem [-> Abschnitt 1.1.2] stärker die Funktion des Mends- die direkte Indoktrination, die ideologische Ausrich- mus-Leninismus als Legitimations- und Herrschafts- tung und Wirkungsweise des Erziehungs-, Bildungs- instrument für die SED. Beide Sichtweisen, wie sie in und Wissenschaftssystems sowie die Instrumentalisie- den folgenden Abschnitten skizziert werden, schlie- rung der Kunst und des Sports. Darüber hinaus ßen einander nicht prinzipiell aus, sondern artikulie- wurden die Gewährung von Privilegien und der ren Standpunkte, die zur weiteren Diskussion und zur Einsatz verschiedener Mittel gesellschaftlicher Aner- Aufarbeitung der Problematik beitragen sollen. kennung, aber auch direkter und indirekter Druck, politische Kontrolle und Gängelung sowie adminis tra- tive Schikanen vielfältigster Art in fast allen Bereichen 1.1.1 Marxismus-Leninismus als Grundlage des des Lebens der DDR angewandt, um die Menschen für das System zu gewinnen oder gefügig zu machen. SED-Staates

Es ist deutlich geworden, daß noch große Forschungs- Der Marxismus-Leninismus bildete die ideologische arbeit zu leisten sein wird, um die ideologischen Grundlage für das politische System in der DDR, das Voraussetzungen, Wirkungen und integra tiven Fak- durch das Herrschaftsmonopol der SED bestimmt war. toren in der Gesellschaft der DDR, im täglichen Leben Der Führungsanspruch der Partei in Staat und Gesell- der Menschen, in ihrer Vielfalt und zeitlichen Dimen- schaft wurde durch den Marxismus-Leninismus ideo- sion zu erfassen und angemessen zu beschreiben. logisch legitimiert: Dieser ist als „wissenschaftliche Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Weltanschauung" und als „Anleitung zum Handeln" — Instrumentalisierung des Rechts zur Aufrechter- propagiert worden. Der Marxismus-Leninismus mo- haltung der „Herrschaft der Arbeiterklasse" [-> III. nopolisierte die Ausübung der Macht, indem er die Themenfeld] Gesellschaft dem Autoritätsanspruch der Staatspartei politisch unterwarf. Die Diktatur der Partei fand ihren — Kollektivierung aller Lebensbereiche theoretischen Ausdruck im Dogma des Marxismus- — umfassende ideologische Einflußnahme auf die Leninismus [-f Berichte Wisniewski, Marquardt]. gesamte Gesellschaft durch die „sozialistische Die SED verfolgte das Ziel, die DDR zu einem homo- Erziehung" der Kinder und Jugendlichen in genen Weltanschauungsstaat zu formen. Das politi- Schule und organisierter Freizeit, das „marxi- sche Machtmonopol sollte durch ideologische Konfor- stisch-leninistische Grundlagenstudium" an Uni- mität abgesichert werden. Dies bezeugen auch die versitäten und in parteigesteuerten „gesellschaftli- Verfassungen der DDR von 1968 und 1974 [-> Exper- chen Organisationen" sowie ein umfassendes tisen Löw, Thomas]. Agitation und Propaganda hatten System der Parteischulung für Mitglieder und die einheitliche Ausrichtung des Denkens durch „so- Kandidaten der SED zialistische Bewußtseinsbildung" zu gewährleisten. Als Ideologie der Herrschenden war der Marxismus- — Einsatz der Massenmedien als „kollektiver Propa- Leninismus jeder Kritik entzogen. Er wurde zur Recht- gandist, Agitator und Organisator" im Sinne fertigung der Parteiherrschaft und zur Disziplinierung Lenins der Gesellschaft, zur Verschleierung von Repressio- — Reglementierung und Zensur der Kultur nach nen und zur Abwehr von Systemkritik instrumentali- Maßgabe des „Sozialistischen Realismus". siert [-> Expertise Kuppe; Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Die beabsichtigte „sozialistische Umwälzung" in allen Bereichen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Grundsätzlich galt der Vorrang der „sozialistischen gelang indessen nur teilweise [-> Kapitel 2f]. Gesellschaft" vor dem einzelnen Menschen. Der Mar- xismus-Leninismus ordnete das unveräußerliche na- türliche Recht der Freiheit des Individuums dem ideologischen Postulat einer „Befreiung der Gesell- 1.1.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der schaft" unter. Freiheit wurde dabei im Sinne von SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Friedrich Engels als „Einsicht in die Notwendigkeit" Gutzeit und Weber zur Funktion des verstanden, d. h. als die bewußte Anwendung der Marxismus-Leninismus historischen Entwicklungsgesetze, wie sie vom Mar- xismus-Leninismus aufgestellt worden sind. „Es kann hier nicht um eine Exegese von Marx/ Die Vorrangstellung der „sozialistischen Gesell- Engels, Lenin oder anderen „Klassikern" des Marxis- schaft" vor dem Individuum stellt den grundsätzlichen mus-Leninismus gehen. Aufgabe der Enquete-Kom- Unterschied zum freiheitlichen Rechtsstaat dar, der mission war vielmehr, die Funktion des Marxismus die Würde des einzelnen mit seinen individuellen Leninismus in der DDR zu bestimmen, so weit dies Menschenrechten zur Grundlage staatlichen H an nach der bisherigen Forschungslage, die durch einen -delns macht und damit die Macht des Staates gegen- Mangel empirischer Untersuchungen geprägt ist, über dem Einzelnen begrenzt. möglich erscheint. Die unantastbare marxistisch-leninistische Ideologie Der Aufbau einer kommunistischen Parteidiktatur in und Struktur des politischen Systems der DDR kamen der SBZ/DDR, die Folge der NS-Politik und des in einer Reihe von Komponenten zum Ausdruck: dadurch herbeigeführten Ausgreifens sowje tischer Politik bis nach Mitteleuropa war, wurde ideologisch — deterministische Deutung der Geschichte und der mit dem Marxismus-Leninismus — zunächst in seiner künftigen Entwicklung der sozialistischen Gesell- stalinistischen Variante — gerechtfertigt. Der Marxis- schaft mus-Leninismus blieb die ganze Zeit der DDR hin- — Umwälzung der bürgerlichen in eine „klassenlose durch die absolut verbindliche herrschende Ideologie, Gesellschaft" (Kommunistisches Manifest) und auf die sich das SED-System bezog. Die Verfassungen Umsetzung dieser Theorie durch Lenin und Stalin von 1968 und 1974 erklärten den Marxismus-Leninis- im Sinne revolutionärer Veränderungen sowie mus zur verbindlichen ideologischen Grundlage der Rezeption dieses Modells durch die SED DDR [-> Expertise Löw]. Allerdings wurde dieser Marxismus-Leninismus in den verschiedenen Phasen — revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft unterschiedlich interpre tiert [-> Bericht Weber/ durch die „Aufhebung" (= Abschaffung) der sie Lange; Expertise Kuppe]. Ob und inwieweit er von der prägenden gesellschaftlichen Strukturen: Ab- großen Mehrheit der Menschen akzeptiert wurde, ist schaffung des Privateigentums an Produktionsmit- noch nicht präzise zu sagen. Stieß er anfangs noch auf teln, Errichtung staatssozialistischen Eigentums- erhebliche offene Widerstände, so wurde er später mit zentral gelenkter Planwirtschaft, Aufhebung mehr hingenommen als akzeptiert. Daß er als Integra- bürgerlicher Wertnormen in Moral und Ethik tionsideologie im Laufe der Zeit immer weniger — ideologischer Absolutheitsanspruch und uneinge- wirkte, scheint die SED seit den siebziger Jahren zur schränkter Machtanspruch der SED verstärkten Heranziehung anderer integra tiver Fak- toren veranlaßt zu haben, ohne daß sie freilich bereit — Lenkung aller Bereiche des staatlichen und gesell- gewesen wäre, am absoluten Geltungsanspruch des schaftlichen Lebens Marxismus-Leninismus rütteln zu lassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Der Marxismus-Leninismus, wie er in der DDR einge- Der Marxismus-Leninismus wurde mit einer Vielzahl führt und durchgesetzt wurde, war eine geschlossene von Mitteln diktatorisch durchgesetzt. Er bildete die Weltanschauung, die den Anspruch erhob, wissen- Grundlage des Erziehungs- und Bildungssystems, auf schaftliche Lehre zu sein. Sie sollte nicht nur Mensch, allen Stufen war seine Vermittlung obligatorisch, seit Natur, Gesellschaft und Geschichte „wissenschaft- 1951 war er an den Hochschulen bei allen Studien- lich" erklären, sondern auch für gegenwärtiges Den- gängen Pflichtfach, seit 1968 wurde er auch noch ken und Handeln in allen Bereichen begründete Bestandteil der Weiterbildung von Hochschullehrern. Wegweisung bieten. Wesentliche Komponenten der Besonders relevant war der Marxismus-Leninismus in Ideologie waren nach offizieller Version eine Philoso- den Geisteswissenschaften, die er teilweise durch- phie mit der Weltanschauung des „dialektischen drang, wirkte sich aber auch auf die Naturwissen- Materialismus" und einer Geschichtsphilosophie, die schaften aus [-> Expertise Kuppe]. — Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte behauptend — gleichermaßen Einsicht in die Vergangenheit wie Von besonderer Bedeutung war der Marxismus-Leni- in die Zukunft lieferte, eine politische Ökonomie, in nismus im Schulungssystem der SED [-> Leonhard, deren Zentrum der Klassenkampfgedanke stand, und Protokoll Nr. 28]. Ideologische Häresien hatten viel- eine politische Theo rie, der „wissenschaftliche Sozia- fach Sanktionen, die Entfernung aus öffentlichen lismus" bzw. Kommunismus. Bestandteil des Marxis- Funktionen oder gar aus der Partei, in schwerwiegen- mus-Leninismus war eine Anthropologie, die die den Fällen, insbesondere während der fünfziger Menschen externalistisch als Resultat gesellschaftli- Jahre, Gefängnis- oder Zuchthausstrafen zur Konse- cher Verhältnisse sah und an ihre weitgehende Form- quenz. Von großer Bedeutung war für die Funktionäre und Steuerbarkeit glaubte [–> Weber, Wisniewski, und Mitglieder der SED das Studium der jeweiligen Leonhard, Löw, Protokoll Nr. 28; Bericht Weber/ Parteilinie, wobei es bei deren Befolgung nicht nur um Lange]. das inhaltliche Nachvollziehen, sondern auch um Beweise von Zuverlässigkeit und Disziplin ging. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die seit 1948 in ihrer stalinistischen Ausformung in der SBZ/ Insgesamt ist festzustellen, daß der Marxismus-Leni- DDR zur Grundlage von Politik, Gesellschaft und nismus für die SED-Führung eines der wich tigsten Kultur erklärt wurde, ist im Laufe der Entwicklung Legitimation- und Herrschaftsinstrumente war und unterschiedlich gefaßt worden, wobei gewisse Auf- bewußt in diesem Sinne eingesetzt worden ist. " lockerungen ursprünglich starrer Dogmen — etwa in der Formationstheorie auf der Ebene der theoreti- schen Diskussion — nicht zu verkennen sind [-> Ex- pertise Kuppe]. Die meisten Menschen der DDR haben den Marxismus-Leninismus jedoch als einen 1.1.3 Ideologie und Gesellschaft Kanon von starren Formeln und Denkschablonen kennengelernt. Die marxistisch-leninistische Auffassung vom Verlauf der Menschheitsgeschichte wurde in der DDR für alle Der Marxismus-Leninismus sollte Grundlage und Bin- staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ver- deglied der herrschenden Partei sein und durch bindliche Lehre. Schulen, Universitäten, Museen, Indoktrination Anhänger gewinnen. Er sicherte die außerschulische Bildungseinrichtungen und der ge- Diktatur der herrschenden Partei. Von größter Bedeu- samte Staatsapparat propagierten diese unablässig. tung war, daß die SED-Führung das Interpretations- Die „Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte" monopol über den Marxismus-Leninismus besaß, der galt in den „sozialistischen Staaten" als „wissen- seinerseits als Wahrheit galt, mit der Konsequenz, daß schaftlich" begründete Aussage. Deshalb war vom die SED-Führung über das Wahrheitsmonopol ver- „wissenschaftlichen Sozialismus" die Rede. Damit fügte („Die Partei hat immer recht"). Wie der Marxis- wollte die SED beweisen, daß sie durch die Lehren des mus-Leninismus die führende Rolle der SED dogma- Marxismus-Leninismus über die wissenschaftliche tisierte, so dogmatisierte die SED-Führung den Mar- Erkenntnis von den gesellschaftlichen Bewegungs- xismus-Leninismus, wobei sie lange Zeit ideologisch und Entwicklungsgesetzen sowie dem daraus abzu- von der KPdSU abhängig war — eine Abhängigkeit, leitenden politischen Handeln verfüge [-> Expertise die sich erst in der Ära Gorbatschow wirklich Kuppe]. abschwächte. Die SED-Führung entschied über die jeweilige ideologische Linie, die kampagnenartig Da der Marxismus-Leninismus als Programm auch der durchgesetzt wurde [-> Bericht Weber/Lange]. Die nachträglichen Rechtfertigung politischen Handelns Rolle der ML-Wissenschaftler und -Philosophen war diente, wurden mit ihm selbst unvollendete, erfolglose bei der Festlegung der jeweils neuen Linie offenbar oder — wie behauptet wurde — richtig geplante, aber unterschiedlich, ist im einzelnen aber noch aufzuar- falsch durchgeführte Aktionen als sinnvoll und „wis- beiten. Ein Ignorieren der jewei ligen neuen Linie zog senschaftlich" begründet erklärt. Man unterstellte, — im Einzelfall unterschiedliche — Sanktionen nach daß sie den historischen Gesetzmäßigkeiten entsprä- sich [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Generell gehörte chen und bezeichnete sie deshalb als ideologiekon- es zum Wesen dieser Ideologie, daß trotz ihres wissen- form und fortschrittlich [-> Exper tise Kuppe]. schaftlichen Anspruchs Kritik und Zweifel an ihr weder erlaubt noch offene Diskussion über zentrale Die Bemühungen von Parteiführung und Regierung Axiome und Theoreme des Marxismus-Leninismus der DDR, die Ideologie des Marxismus-Leninismus im zugelassen waren. Mit ihrem Absolutheitsanspruch Bewußtsein der Gesellschaft zu verankern, waren zu zielte die Ideologie auf Konformität, daher war Re- allen Zeiten mehr oder weniger intensiv. Jedoch kann pression die Kehrseite der Ideologie. man berechtigte Zweifel an ihrem Erfolg hegen. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Zumindest erfüllten sich häufig nicht die Erwartungen grenzungs- und Kontrollfunktionen, denen Partei und der Partei [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Der Marxis- Gesellschaft unterworfen wurden. Der Marxismus mus-Leninismus konnte nur ausschnittweise vermit- Leninismus wurde ständig instrumental genutzt, um telt werden, so daß sich eher ideologische „Leerfor- abweichendes Verhalten als „bürgerliche Ideologie", meln" als Argumentationszusammenhänge in den „Sozialdemokratismus" oder „sektiererisches Verhal- Köpfen der Menschen festsetzten. Sofern Kritik geübt ten" zu verurteilen. Mittels des Marxismus-Leninis- wurde, ist diese sehr schnell als Abweichung von der mus versuchte die SED also, Staat, Gesellschaft und sakrosankten Lehre diskriminiert worden [-> Proto- Kultur ideologisch zu durchdringen, zu steuern und zu kolle Nr. 28, 30]. kontrollieren; dies war auch beim Kampf gegen die Kirchen [-4 V. Themenfeld] der Fa ll. Selbst die In den Anhörungen und Expertisen spiegelt sich ein geheimdienstlichen Methoden der Stasi erhielten von breites Interpretationsspektrum wissenschaftlicher daher ihre ideologische Legi timation [-> Bericht Mar- Analysen, politischer Meinungen und subjektiver quardt III]. Wahrnehmungen wider. Es ist keine Frage, daß der Marxismus-Leninismus für „gläubige" Funktionäre Höchst ambivalent waren die Wirkungen des Marxis- die Aufgabe hatte, Welt und Geschichte zu interpre- tieren, Sinn zu vermitteln und entsprechende Hand- mus-Leninismus auf die Funktionäre in Spitzenposi- tionen selbst. Da man auf der Basis des Marxismus- lungsanweisungen zu ermöglichen. Er erfüllte damit Leninismus glaubte, mit der Geschichte im Bunde zu eine quasireligiöse Funktion. Entsprechend der allge- dazu, die Realität zu verkennen meinen weltanschaulichen Fundierung konnten sich stehen, neigte m an und die Schwierigkeiten zu bagatellisieren, denen Funktionäre und viele Parteimitglieder als die „Avantgarde" bezeichnen, die das Recht hatte, sich das System gegenübersah. Zudem wurden wich- andere Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen tige Teile der Wirklichkeit verdrängt [-> Schabowski, zu zwingen. Protokoll Nr. 25], was zweifellos zum Zusammen- bruch der DDR mit beigetragen hat. In der Enquete-Kommission wurde kontrovers dar- über diskutiert, ob der Marxismus-Leninismus in der Die in der SED und von der Führung verbreitete DDR konkret handlungsanleitend gewirkt hat. Das Ausblendung wichtiger Teile der Realität hatte erheb- sachverständige Mitglied der Enquete-Kommission liche Auswirkungen in der Gesellschaft. Folgen, die Hermann Weber hob in seinem Vortrag hervor [-> Pro- sich aus der Diskrepanz zwischen ideologischem tokoll Nr. 28], daß die DDR und ihre Strukturen Anspruch und der Realität ergaben, waren die Ten- großenteils durch Übertragung des sowje tischen denz zum Moralisieren gegenüber subjektiven Unzu- Modells auf die deutschen Verhältnisse entstanden länglichkeiten und das „So-tun-als-ob" [-> Bericht wären, wobei diese Übertragung ideologisch mit der Weber/Lange]. Hinzu kam eine nur formale Anerken- führenden Rolle der Sowjetunion und der KPdSU nung der Ideologie und äußerliche Anpassung an gerechtfertigt wurde. Danach diente der Marxismus- diese bei mehr oder weniger bewußten, aber öffent- Leninismus also mehr der Rechtfertigung der Partei- lich nicht ausgesprochenen Zweifeln und Bedenken, diktatur der SED als ihrer Handlungsanleitung. In der verbunden mit „schizophrenen" Denk- und Verhal- Regel mußte seine Interpretation allerdings der jewei- tensmustern [-> Abschnitte 2 und 4]. Charakteristisch ligen Politik der SED (und der Linie der KPdSU) für weite Teile des Erziehungs- und Bildungssystems angepaßt werden [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. war ein ritualisierter Umgang mit dem Marxismus Leninismus, der schließlich bei vielen die Distanz zum Demgegenüber stellten die Abg. Wisniewski (CDU/ System sogar gefördert hat. CSU) und der Zeitzeuge Ernst besonders die funda- mentale Bedeutung der Ideologie des Marxismus- Leninismus für die reale Politik in der DDR und damit Gegenwärtig läßt sich die Frage noch nicht hinrei- den ordnungspolitischen Aspekt der Gestaltung des chend beantworten, inwieweit es der SED-Führung politischen Systems heraus. Sie vertraten die Ansicht, gelang, die DDR-Gesellschaft mit den Lehren des daß die ideologisch bedingten gesellschaftlichen Marxismus-Leninismus tatsächlich zu durchdringen Umgestaltungen zu tiefen Einschnitten in die gewach- und sie zu befähigen, sich damit zu identifizieren. Auf senen Strukturen des sozialen Lebens führten [-> Pro- jeden Fall darf nicht verkannt werden, daß der Mar- tokoll Nr. 28]. In den Anhörungen und Expertisen blieb xismus-Leninismus auf Teile der Gesellschaft eine umstritten, inwieweit auf dem Boden des Marxismus gewisse Anziehungskraft ausgeübt hat. Der Wissen- demokratische Lebens- und Herrschaftsformen mög- schaftsanspruch, die Behauptung historischer Gesetz- lich seien [-> Protokoll Nr. 28; Expertisen Kuppe, mäßigkeiten, die den Weg des Kommunismus bestim- Löw]. Kuppe betonte in seiner Expertise, daß die men, die Siegeszuversicht der kommunistischen Ideologie des Marxismus-Leninismus auch eine wich- Bewegung, die Propagierung eines überlegenen tige „instrumentelle Herrschaftssicherungsfunktion" „fortschrittlichen" gesellschaftlichen Systems gegen- für die SED besaß und als „geistiges Herrschaftsin- über der Welt des „Kapitalismus", die Idee des strument" bis zum Ende der DDR bestimmend - Gerechtigkeit und die Forderung nach sozialer blieb. Gleichheit haben das Bewußtsein der Menschen in der Geschichte der DDR in unterschiedlicher Intensi- Bedeutsam war, daß der Marxismus-Leninismus in tät und in zeitlich wechselndem Ausmaß beeinflußt der DDR im Kontext seiner Klassenkampfideologie [-> Leonhard, Protokoll Nr. 28]. Die Überzeugungs- ein besonderes Feindbild propagierte („Bourgeoisie" kraft und Glaubwürdigkeit dieser ideologischen der Bundesrepublik als „Klassenfeind"; „US-Imperi- Orientierungsmuster wurden aber durch den Wider- alismus"). Darauf rekurrierten vielfältige Ab-, Aus spruch zwischen den proklamierten Zielen und den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Erfahrungen in der politischen Rea lität zunehmend 1.1.4 Zur Frage der Nachwirkungen relativiert. Prozesse des Loyalitätsverfalls waren für die Endphase der SED-Herrschaft kennzeichnend. Es läßt sich nach dem gegenwärtigen Forschungs- Die Herrschaftspraxis wurde immer mehr als Politik stand noch nicht klar sagen, inwieweit die jahrzehn- ideologischer Fiktion betrachtet. telangen Bemühungen der SED-Führung nachwir- ken, die Menschen in der DDR im Sinne des Marxis- In unterschiedlicher Weise distanzierten sich kleinere mus-Leninismus zu indoktrinieren. Inwieweit ist der Zirkel vom Marxismus-Leninismus, indem sie alterna- Marxismus-Leninismus gleichsam internalisiert und tive Sozialismuskonzeptionen diskutierten, sich vom habitualisiert worden? Dazu einige Beobachtungen: System des „realen Sozialismus" abwandten oder sich in private Nischen zurückzogen [-> Abschnitt 2]. — Theoreme des Klassenkampfes und der System- Insbesondere seit dem gewaltsamen Ende des „Prager auseinandersetzung mit dem Kapitalismus wirken Frühlings" 1968 wurden Konzeptionen eines „demo- nach. kratischen Sozialismus" entwickelt (Robert Have- — Die parlamentarische Demokratie wird weiterhin mann), daneben gab es — vor allem seit Mitte der als formal gekennzeichnet, die parteienstaatlichen siebziger Jahre — in verschiedenen intellektuellen Auseinandersetzungen werden mit Distanz be- eus Vorstellungen eines „Dritten Weges", d. h. Mili trachtet oder gar abgelehnt. einer Synthese von Sozialismus und Demokratie, die von der Hoffnung auf eine tiefgreifendere Reform des — Der Staat wird weiterhin als Adressat für umfan- totalitären Staates und des „realen Sozialismus" greiche politische Wünsche, Ansprüche und For- getragen war. derungen angesehen; das gesellschaftliche Enga- gement ist unterentwickelt. Die Legitimationsfunktion des Bildungssystems be- gann ab Mitte der siebziger Jahre als Mittel zur — Erkennbar ist eine Sehnsucht nach monistischen Verwirklichung sozialer Gleichheit, lange Zeit ein Erklärungen, klaren Feindbildern und übersichtli- wichtiges Bindeglied zwischen Führung und sozialen chen Verhältnissen. Aufsteigern in der DDR-Gesellschaft, brüchig zu wer- — Die Gewohnheit, sich an einer verbindlichen Mei- den. Das „Wohl der Arbeiterklasse" war zwar eine nung orientieren zu können, führt zu Orientie- häufig gebrauchte politische Beschwörungsformel, rungsproblemen in der pluralistischen Gesell- die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen lie- schaft mit ihrer Medienvielfalt, in der es verbindli- Ben jedoch erkennen, daß der „reale Sozialismus" che Wegweisung von oben nicht mehr geben weit davon entfernt war, die behauptete „System- kann. überlegenheit" tatsächlich zu erreichen. Politische Distanzierungsprozesse verstärkten sich in dem — Die Schwierigkeiten der Gegenwart führen bei Maße, wie sich die Menschen als bloße Verfügungs- einzelnen dazu, sich erneut der Gewißheit der objekte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fühlen Vergangenheit zuzuwenden („DDR-Nostalgie"). mußten und sich die „sozialistische Demokratie" als rhetorisches Alibi uneingeschränkter Parteiherrschaft — Bestimmte Denktraditionen, insbesondere des dekuvrierte. Indem die SED die Gesellschaft pro- Westens, werden in den neuen Bundesländern erst pagandistisch und aktionistisch zu politisieren such- nach und nach beachtet; die traditionelle deutsche te, leistete sie tatsächlich einer Entpolitisierung politisch-kulturelle Besonderheit wird hingegen weiter Bevölkerungskreise Vorschub und höhlte akzentuiert. zugleich ihre ideologische Glaubwürdigkeit aus Im Hinblick auf die Frage der Nachwirkung ist freilich — auch wenn sie dies nicht wahrhaben wollte und zu berücksichtigen, daß es der SED-Führung niemals dafür den feindlichen Einfluß der „bürgerlichen gelungen ist, oppositionelles Denken völlig auszu- Ideologie" und des „Revisionismus" verantwortlich schalten. Für große Teile der Gesellschaft war die machte. Akzeptanz des Marxismus-Leninismus mehr äußer- lich. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß sich in Mit Blick auf die Ausprägungen von Mentalitäten in den achtziger Jahren in der DDR jenseits des Marxis- der DDR-Gesellschaft ist festzuhalten, daß in der mus-Leninismus, doch teilweise auch unabhängig Lebenswelt der Bürger die soziale Sicherheit zu den vom Westen, ein eigenständiges politisches Denken wichtigsten Akzeptanzwerten zählte, während die entwickelte, das Motor der Oppositionsbewegung in „sozialistische Demokratie" von einem erheblichen der Zeit der „Wende" war. Viele Menschen hatten Teil der Bevölkerung kritisch beurteilt wurde. Bemer- sich dem „realen Sozialismus" aus unterschiedlichen kenswert ist dabei, daß die Distanz gegenüber dem Gründen entzogen und blieben anderen Wertvorstel- DDR-Sozialismus bei Arbeitern deutlich stärker aus- lungen (christliche, sozialdemokratische und/oder geprägt war als bei Angehörigen der sogenannten liberale Werte) verhaftet, an die nach der „Wende" werktätigen Intelligenz [-> Exper tise Thomas]. Nach angeknüpft werden konnte. heutigen Erkenntnissen zur Mentalitätsgeschichte der DDR hatte die Gesellschaftspolitik der SED diszi- Der totalitäre Anspruch des Marxismus-Leninismus plinierende Effekte, indem sie die Entstehung eines wird heute — abgesehen von kleinen Gruppen — signifikanten Widerstandspotentials verhindern kaum mehr offen propagiert. Insgesamt gilt der Mar- konnte. Sie mußte aber eine fortschreitende ideologi- xismus-Leninismus als obsolet, allerdings trifft dies sche Desintegration hinnehmen, deren Ausmaß und nicht generell für alle marxistischen Denkansätze zu. Folgen zu bestimmen weiteren Forschungen vorbe- Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der halten bleiben muß. politischen Diskussion werden marxistische Frage- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode stellungen und Positionen vermutlich auch künftig schen Parteien, auch gegen die Sozialdemokraten, die eine gewisse Ro lle spielen. als „Sozialfaschisten" in der Weimarer Republik zeit- weilig zum Hauptfeind erklärt wurden. Dem kommu- Darüber hinaus wurde von der CDU/CSU- und FDP- nistischen Antifaschismuskonzept blieb die SED auch Arbeitsgruppe darauf hingewiesen, daß die Ausein- nach 1945 verbunden. Sie mißbrauchte den Antifa- andersetzung mit der These dringend notwendig sei, schismus als politischen Kampfbegriff [-> Fippel, Pro- das politische System der DDR sei nicht auf die tokoll Nr. 30] undifferenziert gegen alle politischen Theorie des Marxismus zurückzuführen, sondern und gesellschaftlichen Strömungen, die die Politik der durch strikte Befolgung der Vorgaben des stalinisti- Sowjetunion in ihrem Ringen um eine „Welt des schen Machtsystems entstanden. Weiterhin müßten Friedens " nicht unterstützten. die anthropologischen und gesellschaftspolitischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus vor dem Hin- Die SED nutzte die in der Bevölkerung verbreitete tergrund der Erfahrungen mit der SED-Diktatur ver- Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes und stärkt Gegenstand wissenschaftlicher, interdisziplinä- seiner Greueltaten, urn ihren Entwurf eines „antifa- rer Forschung werden. schistischen, sozialistischen, f riedliebenden" Staates zu legitimieren. Die Bewäl tigung des NS-Erbes, die Die SPD-Arbeitsgruppe hält demgegenüber folgende Entnazifizierung und der antifaschistisch-demokrati- Probleme für klärungsbedürftig: sche „sozialistische" Aufbau sowie die Errichtung — Die Praxis der Propagierung des Marxismus-Leni- einer Diktatur wurden dicht zusammengerückt. Liqui- nismus ist für die verschiedenen politisch-gesell- dierung des NS-Erbes und Realisierung einer soziali- schaftlichen Bereiche, für Wissenschaft und Kultur stischen Gesellschaft unter kommunistischer Führung im einzelnen empirisch zu untersuchen. wurden in eins gesetzt. Die Bereitschaft, beim Aufbau des Sozialismus mitzuwirken, wurde — etwa bei — Genauer zu analysieren sind die Mechanismen, Mitläufern des NS-Systems — als Beweis antifaschi- mit denen die SED-Führung ihre „ideologischen" stischer Gesinnung gewertet. Die Entnazifizierung Positionen in den verschiedenen Phasen durchge- erfolgte keineswegs so gründlich, wie häufig behaup- setzt hat . tet worden ist [-> F ricke, Protokoll Nr. 30]; NS- — Intensiverer Untersuchung bedarf das Verhältnis Belastete wurden sogar bewußt instrumental einge- von SED und KPdSU im Hinblick auf ideologische setzt, wie umgekehrt NS-Verfolgte keineswegs vor Fragen, insbesondere auch für die achtziger Jahre, Verfolgung in der SBZ/DDR sicher waren [-> Fippel, in denen die SED nicht bereit war, sich der Gorba- Protokoll Nr. 30]. tschowschen Politik anzuschließen. Die Bewältigung der Nachwirkungen des Marxismus- 1.2.2 Zur Funktion des Antifaschismus in der DDR Leninismus ist vorrangig Aufgabe der politischen Bildung, auch der gesellschaftlichen Gruppen, Par- Der teils als Mythos, teils als politisches Konzept teien und nicht zuletzt der Medien. gefaßte Antifaschismus diente der Legitima tion der SED-Herrschaft. Die SED beanspruchte für sich das Erbe des antifaschistischen Kampfes. Die Führungs- 1.2 Zur Rolle des Antifaschismus positionen waren l ange Zeit überwiegend mit „An ti -faschisten" besetzt, was diesen einen spezifischen Der vielleicht wirksamste ideologische Integra tions- Nimbus verlieh und sie gleichsam unangreifbar faktor für das SED-System war der Antifaschismus. Im machte. Der Antifaschismus wurde offensichtlich einzelnen ist seine Wirkung zwar noch zu untersu- bewußt als Element der Machtbehauptungsstrategie chen, doch läßt sich feststellen, daß er — über den der SED eingesetzt. engeren Bereich des Systems hinaus — eine gewisse emotionale und politische Bindekraft besaß, die der Der Mythos des Antifaschismus lieferte das Mate rial Marxismus-Leninismus in vergleichbarer Weise nicht für einen quasireligiösen Staatskult, für eine säkulari- auszuüben vermochte. sierte Religion, die in den Formen Anleihen bei den Kirchen — etwa im Märtyrer-Kult oder in der Gestal- tung der Gedenkstätten — machte, bestimmte Rituale entwickelte und dabei insbesondere Bedeutung in der 1.2.1 Zur Entwicklung des Antifaschismus „sozialistischen Erziehung" erhielt. Die Wirkungen dieser quasireligiösen Bemühungen lassen sich nach Der Antifaschismus war ursprünglich ein Beg riff, der dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht alle Opposition gegen den Faschismus in Italien abschließend beantworten, sind jedoch — insbeson- kennzeichnete. Bereits Mitte der zwanziger Jahre dere bei jungen Menschen — keineswegs gering zu wurde der Begriff jedoch vielfach verengt zur Legi ti schätzen. Fraglos sind durch den Antifaschismus Ide- tion kommunistischen Handelns bzw. eines Bünd--ma alismus und Engagement in weiten Teilen der Bevöl- niskonzepts, in dem die Kommunisten die Führung- kerung geweckt worden, die vor allem aus der Ableh- beanspruchten, gegen einen Faschismus, der nach nung der NS-Diktatur resultierten, die aber letzten diesem Verständnis in engem Zusammenhang mit der Endes die SED-Herrschaft stabilisieren sollten bürgerlichen Ordnung als „höchstentwickelter Form [->Faulenbach, Protokoll Nr. 30]. des Monopolkapitalismus" und der „offen terroristi- schen Herrschaft des Finanzkapitals" interpre tiert Dem Antifaschismus in der DDR entsprach ein Feind wurde [-> Faulenbach, Wilke, Wisniewski, Protokoll bild, das keineswegs auf faschistisches und na tional Nr. 30]. Er richtete sich gegen alle nichtkommunisti sozialistisches Denken und H andeln beschränkt war, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 sondern sich potentiell auf a lles, dem kommunisti- objektiven Konsequenzen aus der Zeit des Na tional- schen Handeln entgegengesetzte Tun bezog. Poten- sozialismus gezogen und somit sei dessen Aufarbei- tiell „faschistisch" waren nicht nur äußere (die Bun- tung lediglich als ein Problem des Westens zu betrach- desrepublik bzw. wesentliche Kräfte in dieser), son- ten. dern auch innere Gegner. So wurde z. B. der 17. Juni Demgegenüber vertritt die Enquete-Kommission die 1953 „faschistischen Kräften" angelastet. Der Antifa- Auffassung, daß Aufarbeitung der NS-Zeit und die schismus wurde gerne zur Rechtfertigung strittiger Würdigung ihrer Opfer ein konstitutiver Bestandteil politischer Entscheidungen instrumental eingesetzt, der demokratischen Geschichtskultur des vereinten wie beim Bau der Mauer, die zum „antifaschistischen Deutschlands ist und daher die Aufklärung über diese Schutzwall" erklärt wurde. Solche politische Instru- Epoche eine wesentliche Aufgabe historisch-politi- mentalisierung des Antifaschismus führte teilweise scher Bildungsarbeit bleiben muß. Die großen „Natio- zur Erosion seiner Glaubwürdigkeit [-> Wisniewski, nalen Mahn- und Gedenkstätten" in der DDR gilt es Protokoll Nr. 30]. umzugestalten. Die Dokumentationen sollten auf der Eine zentrale Funktion für die Pflege des DDR- Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes Antifaschimus hatten die Mahn- und Gedenkstätten und zeitgemäßer didaktischer Konzepte erneuert und [-> Expertise Overesch], in deren Mittelpunkt die die Denkmalsanalyse historisch geklärt werden. Bei heroisierten kommunistischen Opfer standen, die im -der Neukonzeption sollte unter Beteiligung der Opfer quasireligiösen Staatskult verehrt wurden. Hierzu und Betroffenenverbände der öffentliche Diskurs wei- zählten u. a. Jugendweihen, Fahnenrituale, Aufmär- tergeführt werden. sche mit Bildern ermordeter Antifaschisten. Wo, wie in Sachsenhausen und Buchenwald, am Ort Die Instrumentalisierung des Antifaschismus ver- von NS-Konzentrationslagern „Speziallager" des drängte zugleich die Mithaftung des östlichen Teils NKWD eingerichtet wurden, ist die Erinnerung auch Deutschlands für die nationalsozialistische Epoche. an das Geschehen in der Nachkriegszeit bei der Ein gewisses Gefühl moralischer Überlegenheit Neugestaltung zu berücksichtigen. Dabei ist jedoch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland resul- einer Gleichsetzung der Lager und einer Tendenz tierte aus dem Vorwurf, der Westen habe mit dem zum Aufrechnen entschieden entgegenzuwirken. Die Faschismus nicht endgültig gebrochen. Verschwie- NS-Verbrechen dürfen nicht relativiert werden; aller- gen wurden die erheblichen Wiedergutmachungslei- dings darf das Geschehen in den NKWD-Lagern auch stungen der Bundesrepublik Deutschl and, die seitens nicht bagatellisiert werden. der DDR kein Pendant hatten. Aufs Ganze gesehen hat der Antifaschismus offenbar nicht unwesentlich zur Identifikation mit der SED Rechtsextremismus beigetragen. Dies gilt insbesondere für Intellektuelle, die aufgrund des „verordneten Antifaschismus" das Trotz der Bedeutung des Antifaschismus ist nicht zu wahre Wesen des DDR-Regimes zunächst verkannt leugnen, daß es auch in der DDR seit den siebziger und entsprechend verharmlost haben. Inwieweit zwi- Jahren Rechtsextremismus gegeben hat [-> Weiß, schen dem „verordneten Antifaschismus" und einem Geiger, Protokoll Nr. 30]. Auch die „antifaschistische demokratischen unterschieden werden kann, bedarf Erziehung" konnte diesen nicht verhindern. Es läßt noch eingehender wissenschaftlicher Diskussion. sich sogar fragen, ob die spezifische Prägung des Antifaschismus durch die SED nicht umgekehrt „fa- schistische", rechtsextremistische Phänomene geför- 1.2.3 Zur Frage der Nachwirkungen des dert hat — eine Frage, die sich nach dem gegenwär- „verordneten" Antifaschismus und der tigen Forschungsstand nicht endgültig beantworten Aufgabe historisch-politischer Bildungsarbeit läßt. Im Rechtsextremismus wird man offenbar nicht lediglich eine Imitation von Phänomenen des Westens sehen können; er scheint vielmehr hauptsächlich auch Zu den Nachwirkungen des Antifaschismus gehört genuine, DDR-spezifische Ursachen zu haben. Dar- ein ebenso verzerrtes wie einseitiges Bild vom natio- über hinaus kann man davon ausgehen, daß es in der nalsozialistischen System, seinen Opfern und dem SBZ/DDR Kontinuitäten nationalsozialistischen Den- Widerstand gegen ihn. Es gilt, dieses Bild in der kens gegeben hat. Das belegen Dokumentationen wie historisch-politischen Bildung der Schulen und in der das „Braunbuch DDR" [-> F ricke, Protokoll Nr. 30]. Erwachsenenbildung angemessen zu korrigieren. Vom MfS wurden rechtsextremistische Vorkomm- Die spezifische Ausprägung des Antifaschismus in der nisse seit 1978 als solche dokumentiert und klassifi- DDR läßt es ausgeschlossen erscheinen, in der not- ziert (1978/79 insgesamt 188 Fälle von „staatsfeindli- wendigen Auseinandersetzung mit rechtsextremen cher Hetze mit faschistischem Charakter"). In den Tendenzen an den DDR-Antifaschismus anzuknüp- achtziger Jahren häuften sich solche „Störfälle" , die in fen, für den eine Distanz zum demokratischen Denken öffentlichen Verlautbarungen als „unpoli tisches Row- — insgesamt gesehen — charakteristisch war. dytum" verharmlost wurden. Es ist in dieser Phase der Eine weitere Folge des DDR-Antifaschismus ist, daß in Übergang von einer „rechten Jugendkultur" zu einer den neuen Bundesländern vielfach die Vorstellung organisierten rechtsextremen Bewegung und die besteht, mit dem Antifaschismus sei auch die Erinne- Identifikation mit den Versatzstücken einer Ideologie rung an die NS-Zeit obsolet. Zudem wirkt die Tatsa- festzustellen. Die Rechtsextremisten bedienten sich che nach, daß die Propagandisten des Antifaschismus dabei „moralischer Werte der sozialistischen Gese ll behauptet hatten, die DDR habe die notwendigen tive Einstellung zur Arbeit, Ordnung,-schaft" wie posi Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Sauberkeit und vorbildliches Verhalten in der parami- den Verwandten und Freunden im Ausland, insbeson- litärischen Gesellschaft für Spo rt und Technik. Dies dere in Israel, abschotteten [-> Bericht Maser]. erschwerte den DDR-Behörden die Auseinanderset- zung mit ihnen und förderte die Akzeptanz dieser Der Anteil jüdischer Menschen am Widerstand gegen Jugendlichen in der Bevölkerung. Diese Jugendli- den Nationalsozialismus wurde weitgehend ver- chen griffen Kritikpunkte auf wie fehlende Freizügig- schwiegen. In der Präsentation der antifaschistischen keit, Privilegien („Leute werden für Arbeit bezahlt, Gedenkstätten erschienen Juden nur am Rande als die sie nicht machen"), Vorurteile gegen Außenseiter, beklagenswerte Opfer der nationalsozialistischen Rechtswillkür statt persönlicher Freiheit. Die Hoff- Verfolgung. Die konspirative Durchdringung der nung auf Verwirklichung von Freiheit und Gerechtig- Jüdischen Gemeinden durch das MfS ist bisher erst keit richtete sich bei den rechtsextremistischen durch Einzelfälle bekannt. Hier besteht ebenso For- Jugendlichen nicht auf eine freiheitliche Demokratie, schungsbedarf wie bei der Aufarbeitung der Geschichte sondern auf die ebenfalls totalitäre Struktur einer der Jüdischen Gemeinden unter besonderer Berücksich- rechtsgerichteten Diktatur, sofern man ihre Ideologis- tigung der einschlägigen SED-Direktiven. men überhaupt ernstnehmen kann [-> Expertise Rog- gemann]. Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, Weber:

Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD „Die Lage der Juden und der Jüdischen Gemeinden und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, wie auch die SED-Politik gegenüber Juden und jüdi- Weber: schen Gemeinden in den verschiedenen Phasen der DDR verlangen eine differenzierte sorgfältige Unter- „Absatz 1 sollte am Ende 1.2.2 eingefügt werden. Der suchung. Diese ist von der Enquete-Kommission nicht nachfolgende Absatz ist hier entbehrlich; verwiesen geleistet worden. Die vorliegende Textpassage zum sei auf die Texte der Anhörung." Judentum ist ganz unzureichend, ihre Plazierung im Anschluß an die Passage über den Rechtsradikalismus läßt Sensibilität vermissen." Die Haltung der SED zu Juden und Jüdischen Gemeinden 2. Die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR An dieser Stelle ist eine kurze Anmerkung zur Hal- tung der SED gegenüber den Juden erforderlich. Das 2.1 Mittel zur Formung der „sozialistischen ganze Problem der Juden und Jüdischen Gemeinden Gesellschaft" und deren Wirksamkeit konnte von der Enquete-Kommission aus Zeitgründen nicht erörtert werden. Es gehört zweifellos zu den Die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung folgte in wichtigen Desideraten der Forschung. der SBZ/DDR nur selten der Eigendynamik gesell- Die etwa 4 500 Überlebenden der Shoa, die in der SBZ schaftlicher Strukturveränderungen oder gar indivi- 1946 lebten, waren schon frühzeitig neuen Repressio- dueller Entscheidungen, sondern wurde staatlich nen ausgesetzt. Sie wurden als passive „Opfer des politisch gelenkt entsprechend den Zielvorstellungen Faschismus" eingestuft und erhielten im Gegensatz der SED. Die dabei von der „führenden Partei der zur Bundesrepublik Deutschland in der Regel keine Arbeiter- und Bauernklasse" auf dem Weg zur For- Entschädigung. In das „Komitee der Antifaschisti- mung und weiteren Ausgestaltung der „sozialisti- schen Widerstandskämpfer" konnten sie nur aufge- schen" Gesellschaft eingesetzten Mittel konnten im nommen werden, wenn sie gegen den Nationalsozia- Rahmen der Arbeit der Enquete-Kommission nur lismus gekämpft hatten. punktuell untersucht und können auch an dieser Stelle nur skizziert werden: Für die antijüdischen Maßnahmen der SED spielten zu Beginn der fünfziger Jahre insbesondere die Ver- 1. Die „antifaschistischen" Enteignungen trafen im dächtigungen Stalins eine Rolle, daß der Zionismus Sinne der konsequent umgesetzten Ideologie die und die internationalen jüdischen Organisationen Großindustrie, den Großgrundbesitz und die Bau- „Werkzeuge des amerikanischen Imperialismus" wä- ern [-> I. Themenfeld]. Die soziale Schicht freier ren. Auch nach dem Tode Stalins bestimmte die Bauern wurde aufgelöst und damit die gesamte Feindschaft gegen den Staat Israel, „die Speerspitze Landwirtschaft zwangsweise kollektiviert. des amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten", 2. Durch die zusätzliche, ebenfalls überwiegend die Haltung gegenüber den Juden in der DDR, deren erzwungene Überführung von Handwerksbetrie- Gemeinden streng kontrolliert wurden. Juden konn- ben, Kleinunternehmern und Selbständigen in ten sich auch nicht politisch organisieren. Lediglich Genossenschaften wurde das „Besitzbürgertum" der „Verband der Jüdischen Gemeinden" war als - aufgelöst. religiöse Organisation offiziell zugelassen. Auch in 3. Die Zerschlagung des „bürgerlich-faschistischen" diesem nahmen SED-Funktionäre Spitzenpositionen Staatsapparates führte zur Entfernung der Eliten ein. aus allen Bereichen der Verwaltung; sie traf kei- Die SED gewährte den Juden soziale Sicherheit, neswegs nur Anhänger des Nationalsozialismus, sofern sie auf ihre jüdische Identität verzichteten, die sondern zielte auf die bürgerliche Elite insgesamt eigene Vergangenheit, die sozialen Traditionen ver- (Entlassungen von Beamten, Lehrern, Hochschul- schwiegen und verleugneten sowie sich gegenüber . lehrern u. a. bzw. ideologische „Umerziehung"). Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Trotz der Auflösung des Besitzbürgertums war die — Andererseits besaßen Familie, Verwandtschaft DDR weit entfernt von einer „klassenlosen" Gesell- und Freundeskreis für den einzelnen eine hohe schaft. Es gab weiterhin eine Unterschicht, die sich aus Wertigkeit. Manch einer entwickelte ein gespalte- niedrig entlohnten Arbeitern und Angestellten, beruf- nes Bewußtsein, ein widersprüchliches Dasein von lich Benachteiligten aus politischen Gründen und aus Beruf und Privatleben. Rentnern sowie Fürsorgeempfängern zusammen- setzte. Die neue Mittelschicht bildeten die leitenden Die Sozialpolitik wurde mit dem Anspruch auf univer- Kader in den Betrieben und Organisationen und — selle Lenkung der Gesellschaft betrieben. Sie zielte soweit möglich bzw. noch vorhanden — die Handwer- daher auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse ker und wenigen Selbständigen [-> Expertisen Voigt, insgesamt im Sinne einer Lenkung durch Versorgung Schneider]. Zu dieser Schicht sind auch die Nomen- und Privilegiengewährung ab [-> Expertise Hanke]: klaturkader und andere höhere SED- und Staatsfunk- tionäre einschließlich der Leiter von militärischen, — Die Bürokratie ermittelte den Bedarf und wissenschaftlichen, kulturellen und sonstigen Institu- bestimmte die Verteilungskriterien. Diesen Zugrif- tionen zu zählen. Eine besondere Gruppe innerhalb fen waren die „Werktätigen „ mehr oder weniger dieser Schicht war die „Intelligenz". Sie hob sich hilflos ausgeliefert. durch ein breit gestaffeltes System der Zusatzversor- gung und durch die Einbindung in die Staatshierar- — Die „Durchstaatlichung" und Normierung der chie hervor, was sich in zunehmendem Maße auch in Gesellschaft erfolgte im sozialpolitischen Bereich der Möglichkeit zur Selbstrekrutierung (Studien- durch die Wohnungsbaupolitik (Zuweisung der plätze für ihre Kinder) niederschlug [-> Expertisen Wohnungen; niedrige Mieten auf Kosten von Hanke, Voigt]. An der Spitze st and die kleine, herr- Sanierungsmaßnahmen; stereotyper Plattenbau schende Schicht der hohen Parteifunktionäre, die einschließlich der notwendigen Infrastruktur wie isoliert von der breiten Bevölkerung aber auch von Schulen, Kindergärten, HO- und Konsum-Läden niederrangigen Kadern und den anderen Funktionä- und zentralen Gaststätten). ren lebte. Das Ergebnis dieser Politik war der „versorgte Die Elitenrekrutierung erfolgte durch Kaderauswahl Mensch", der gewohnt war, daß für ihn entschieden nach den Kriterien Treue zur Partei, „sozialistisches wurde. Systemkonformes Verhalten und Arbeitslei- Bewußtsein", Durchsetzungsvermögen nach unten, stungen wurden abgestuft materiell und moralisch Bildungsgrad, fachliche Leistung und soziale Her- anerkannt (Auszeichnungen und Privilegien). Dem kunft [-> Expertisen Hanke, Schneider, Voigt]. Für Repressionssystem entsprach also ein Belohnungssy- alle, die politische Vorgaben und Erwartungen nicht stem für systemtreues Verhalten. Die Mechanismen erfüllten, gab es wirkungsvolle Mechanismen zur wirkten so stark, daß Aufbegehren in größerem Maße Karriere-Erschwernis bzw. Karriere-Verweigerung, erst dann zu beobachten war, als die wirtschaftliche angefangen von der Schule (Noten in den ideologie- Leistungsfähigkeit des Staates und damit das Versor- trächtigen Fächern) bis hin zur Einflußnahme durch gungssystem gefährdet waren. das MfS auf die Auswahl der Kader. Die SED erreichte zeitweise durch ihr Wohlfahrtspro- Diese Schritte und Mittel zur Umgestaltung der gramm einerseits und durch Angsterzeugung als Gesellschaft gaben der SED das entscheidende Herrschaftsinstrument andererseits gesellschaftliche Machtmittel in die H and, um Gesellschaft und Wirt- Akzeptanz. Es läßt sich jedoch nicht nachweisen, daß schaft zentral zu gestalten und zu lenken. die „sozialistische Bewußtseinsbildung" als Mobil- sierungsstrategie in der Gesellschaft im Sinne der Die so entstehende „sozialistische Gesellschaft" Ausbildung parteiideologisch erwünschter mentaler neuen Typs zeichnete sich u. a. durch folgende Merk- und sozialer Verhaltenweisen massenhaft legitimato- male aus: risch wirksam geworden wäre [-> Expertise Thomas]. — Eine Arbeiter- und Angestellten-Gesellschaft, die Vielmehr löste bereits ab der Anfangsphase der „ an- zu 98 vH aus abhängig Beschäftigten zusammen- tifaschistisch-demokratischen" Umwälzungen bei gesetzt war. den Betroffenen das Erlebte ein Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins aus. Diesem entzog man sich durch — Die statusmäßige, berufliche Integration der DDR- „Republikflucht" oder durch den Rückzug in p rivate Bevölkerung wurde durch ein dichtes Netz von Refugien. Das heißt: Wo das Eigenleben in den Organisationen verstärkt, die jeden Bürger mehr- Kollektiven zu stark unterbunden wurde, wanderten fach erfaßten und kontrollierten [-> I. Themenfeld; die Menschen zumindest „innerlich" aus der offiziel- Bericht Michalk, Expertise Hanke]. len Sphäre in einen Freiraum informeller Beziehun- gen aus (Rückzug in die Familie; Aufbau privater — Möglichst auch alle privaten Lebensbereiche soll- Beziehungsnetze) und suchten damit die Unzuträg- ten durch Kollektive, die von der SED politisch lichkeiten der vorgegebenen Wirklichkeit zu unter- direkt oder indirekt durchdrungen waren, kontrol- laufen [-> Expertise Hanke]. Die Menschen leisteten liert werden. In den hierarchisch organisierten dabei häufig erheblichen Einsatz für den aktiven Auf- Kollektiven wurden die Organisationsmitglieder und Ausbau einer Nische ihres Privatlebens (-> die diszipliniert (u. a. durch Kritik und Selbstkritik; „Datschen" als Lebensmittelpunkt). Nur in den priva- Aufnahme und Übergaberituale z. B. bei den Thäl- ten Bereichen, die dem staatlichem Zugriff entzogen mannpionieren, der FDJ oder in sozialistischen waren, konnten sich Flexibilität, Eigenständigkeit, Brigaden) und möglichst gleichgeschaltet. Einfallsreichtum und Durchsetzungskraft entfalten. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Einengung eigenverantwortlicher Gestaltungs- wichtigen Aspekten der Gesellschaftspolitik sei hier möglichkeiten erzeugte teilweise ein starkes Autori- lediglich der der Frauenpolitik etwas genauer ange- tätssyndrom: Obrigkeitsdenken, Autoritarismus, Pa- sprochen, obgleich auch er zu den von der Kommis- ternalismus, Staatsgläubigkeit, vor allem aber Un- sion nicht eingehender behandelten Fragen gehört selbständigkeit, Versorgungsmentalität, mangelndes [--> Abschnitt 3]. Selbstvertrauen gekoppelt mit der Bereitschaft zur Hauptziel der SED-Gesellschaftspolitik war die Errei- Anpassung H Expertisen Thomas, Hanke]. Charak- chung eines bisher in der Geschichte unbekannten teristisch war ein „angepaßtes Ausweichverhalten" . Zustandes, dessen Eintritt jedoch vom Marxismus Es gab eine eigentümliche Mischung aus „symboli- Leninismus als historisch gesetzmäßig, also determi- scher Mitwirkung und politischer Absenz" [-> Exper- niert bezeichnet wurde: die klassenlose Gesellschaft tise Thomas]. des Kommunismus. Dabei handelte es sich gleicher- Der informelle Sektor des Privaten war also von maßen um eine konkrete Utopie, um eine quasi größter Bedeutung als Entfaltungsraum für Initiativen, religiöse Verheißung, um ein strategisches Fernziel Einfallsreichtum, Selbständigkeit, Selbstwertgefühl, wie um einen propagandistischen Rauchvorhang, hin- den Aufbau und die Pflege eines persönlichen Bezie- ter dem sich ein umfassender Repressionsapparat hungsgeflechts. Diese wich tigen sozialpsychologi- etablierte, der sich dann auch noch mit der Aufgabe schen Eigenschaften blieben auf das p rivate Leben rechtfertigte, diesen paradiesischen Endzustand her- des Einzelnen beschränkt, da es keinen öffentlichen beizukämpfen. Raum gab, in dem man gemeinsam gemäß den Die Expertise Thomas hat wichtige gesellschaftspoli- eigenen Überzeugungen hätte h andeln können. Eine tische Problemfelder abgesteckt: Ausnahme bildeten nur die Kirchen [-> V. Themen- feld]. — ideologisch fixierte Konstitutionsprinzipien und Legitimationsmuster der SED-Gesellschaftspolitik Von den großen Umstrukturierungsprozessen wurde in den verschiedenen Phasen die Gesellschaft nur partiell erfaßt, da der p rivate Bereich einschließlich des Miteinanders in der — Wechselwirkungen von Gesellschaftspolitik und Arbeitswelt hiervon weitgehend unberührt blieb. So Mentalitätsentwicklung entstand jener eigentümliche scheinbare Wider- die Frage des Genera tionswechsels spruch zwischen den Aktionen zentralstaatlicher Pla- — nung und den Beharrungstendenzen einer immobilen — lebensweltliche und psychosoziale sowie politi- Gesellschaft in den informellen Kleinstrukturen. sche Konsequenzen der SED-Gesellschaftspolitik Das gesamte Gebiet der direkten und indirekten — die Entwicklung von Wertorientierungen ange- Einflußnahme des SED-Staates auf die Bevölkerung sichts des Scheiterns der Ansprüche der SED bedarf dringend vertiefter Untersuchungen insbeson- Politik. dere zu folgenden Problemen: Die Expertise Hanke behandelte u. a. — Enteignung als psychische Schädigung und volks- wirtschaftliches Unrecht, — das Spannungsverhältnis von Sozialstrukturent- wicklung und Gesellschaftspolitik — psychische Gefahren des Versorgungsstaates, — die Diskrepanz zwischen angestrebter sozialisti- — psychische Gefahren der Karrierenprogrammie- scher und realer Lebensweise rung, — die gesellschaftlichen Probleme, die durch Entdif- — Wirkungen des Lebens im informellen Sektor, ferenzierung und Abwanderung erzeugt wurden — vergleichende Untersuchungen zu den psychoso- — die von einer „paternalistischen" Sozialpolitik zialen Auswirkungen freiheitlicher, demokrati- geschaffenen Abhängigkeiten scher und totalitärer Systeme. — die Bedeutung informeller Beziehungen. Beide Expertisen geben zusammen einen guten Über- blick über den gegenwärtigen Diskussionsstand, der 2.2 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der zu weiteren Forschungen innerhalb der angegebenen SPD und der Sachverständigen Faulenbach, Themenfelder führen muß. Gutzeit und Weber zur Gesellschaftspolitik der Zahlreiche bedeutsame, in ihrer Nachwirkung rele- SED vante Fragen sind bislang von der wissenschaftlichen Forschung ganz unzureichend behandelt worden. „Die Gesellschaftspolitik war ein zentrales Politikfeld Dazu gehören: der SED. In ihr manifestierte sich der Wi lle, die Gesellschaft nach Vorstellungen der herrschenden — die Folgen der Entlassungen und Vertreibungen - Partei zu gestalten, zugleich aber war sie auch Mittel der alten Eliten nach Ende des Zweiten Weltkrie- zum Zweck, um das SED-System abzusichern. Sie ges und die Mechanismen neuer Rekrutierungsmu- gehört zweifellos zu den wirksamen „integrativen" ster in den einzelnen Phasen der DDR-Geschichte Faktoren des SED-Systems. (alle Spielarten der Kaderpolitik, nicht nur im Hin- blick auf die Nomenklaturkader A und B) Die Enquete-Kommission hat diesen Themenbereich nicht näher ausgeleuchtet (hier liegt ein wesentliches — die Aufhebung der tradierten deutschen, vom Themenfeld für eine Fortsetzung der Arbeit). Von den Nationalsozialismus nur kurz unterbrochenen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

föderalistischen staatlichen und gesellschaftlichen der Gleichberechtigung der Frau von selbst ergeben. Verfassung Deutschlands mit ihren stark-regiona- Der gesellschaftspolitische Rahmen wurde in der listischen kulturellen Prägungen und ihr Ersatz SBZ/DDR daher so gestaltet, daß die Frauen in allen durch einen hypertrophen Zentralismus gesellschaftlichen Funktionen weitgehend gleichbe- rechtigt hätten integ riert werden können. Die Familie — die Folgen der Hypostasierung des Kollektivs auf und ihre Bedeutung für den einzelnen trat dabei allen gesellschaftlichen Ebenen für die SED, die zurück. gesamte Gesllschaft und den einzelnen — die systematische Untersuchung des Wechselver- hältnisses von fortgeltenden tradierten und von 3.1 Gesellschaftspolitische und gesetzliche oktroyierten neuen Wertmustern und der Einfluß Grundlagen eventuell entstandener Wertkonglomerate auf bis heute praktizierte, den Vereinigungsprozeß för- Seit ihrer Gründung hat sich die SED die traditionelle dernde bzw. ihn behindernde Verhaltensweisen marxistisch-leninistische Auffassung zu eigen ge- — die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entste- macht, daß die Emanzipation der Frau das Werk der hung gegenkultureller Orientierungen und die Emanzipation der Arbeit vom Kapital und deshalb nur Herausbildung sogenannter Selbstentfaltungsmo- in der sozialistischen Gesellschaft möglich sei. Die delle (orientiert an der westdeutschen „Bezie- Bemühungen der DDR um Berufstätigkeit von Frauen hungsgesellschaft") aus ideologischen Gründen korrespondierten mit dem Bestreben, möglichst viele Frauen für den Produkti- — Stadt-Land-Migrationen, Urbanisierungs- und onsprozeß zu gewinnen. Neben den politisch-ideolo- Agrarisierungstendenzen, Stadtarchitektur und gischen und ökonomisch-pragmatischen Elementen Wohnungsbau und ihre gesellschaftlichen Fol- umfaßte der Emanzipationsgedanke einen erzieheri- gen schen Aspekt. Die volle Entfaltung und Selbstverwirk- — die Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik im enge- lichung der Persönlichkeit sei, so lehrte die Ideologie, ren Sinne, also Renten-, Behinderten- und Famili- nur im Prozeß der Arbeit und hier wiederum nur den enpolitik und ihre verschiedenen Phasen im sozialistischen Kollektiv arbeitenden Menschen erreichbar. — die Analyse der Widerstände, die einer zentral dramaturgisierten Gesellschaftspolitik aus infor- Für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschafts- mellen sozialen und kulturellen Milieus erwach- ordnung war nach Auffassung der SED auch die sen Gleichberechtigung der Frau unerläßliche Vorausset- zung. Damit einher ging die Ansicht, daß die Herstel- — Gesellschaftspolitik als Reaktion auf Einflüsse, die lung wirklicher Gleichberechtigung neben den oben von außen auf die DDR wirkten und auf die die genannten Voraussetzungen auch die ökonomische Einheitspartei reagieren mußte Unabhängigkeit vom Mann erfordere. Diese wie- — Gesellschaftspolitik unter Modernisierungszwang derum war nur durch die Teilnahme der Frau am angesichts des stets propagierten „wissenschaft- gesellschaftlichen Produktionsprozeß zu sichern. lich-technischen Fortschritts" bzw. der „wissen- Bei der Forderung nach Verwirklichung der Gleich- schaftlich-technischen Revolu tion" berechtigung knüpfte die DDR an die sozialistische — auch die Fragen, welche strukturellen und legiti- Tradition an, wie sie etwa in dem bedeutenden Werk matorischen Begrenzungen für eine Gesellschafts- „Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel politik a priori gelten, die in einer Teil-Na tion entworfen wurde, das auch in der DDR große Verbrei- vollzogen werden soll. tung und Propagierung erfuhr. Dieser Katalog der Desiderate ist nicht vollständig und Formal-juristisch war in der DDR die Gleichberechti- stellt auch keine Prioritätenliste dar. Zu seiner Bear- gung der Frau umfassend verwirklicht. In der Verfas- beitung ist umfangreiche Forschungsarbeit — eine sung von 1949 wurde die volle rechtliche, ökonomi- Vielzahl von Projekten — nötig. Es war nicht Aufgabe sche und politische Gleichstellung der Frau, ihre der Enquete-Kommission, diese Forschungsarbeit Gleichberechtigung auf allen Gebieten des öffentli- selbst zu leisten. Was ihr zu diesem Thema an Mate rial chen und privaten Lebens — insbesondere im Arbeits- vorgelegt wurde, läßt ein abschließendes Gesamtur- und Familienrecht — prinzipiell gesichert. teil über 40 Jahre SED-Gesellschaftspolitik noch nicht Alle der Gleichberechtigung der Frau entgegenste- zu." henden oder dieselbe beeinträchtigenden gesetzli- chen Bestimmungen wurden aufgehoben. So nimmt Artikel 20 Abs. 2 der Verfassung von 1968 die bereits 3. Frauen- und Familienpolitik in Artikel 7 Abs. 1 der ersten Verfassung der DDR enthaltenen Bestimmungen über die Gleichberechti- Vorbemerkung gung der Frau in erweiterter Form auf: „Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben die gleiche Die SED verfolgte im Bereich der Frauen- und Fami- Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftli- lienpolitik, abgesehen von wi rtschaftlichen Notwen- chen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die För- digkeiten, zwei Ziele: Die Integra tion der Frauen in derung der Frau, besonders in der beruflichen Quali- die Gesellschaft sollte durch die Berufstätigkeit fizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche geschehen, und dabei sollte sich die Verwirklichung Aufgabe."

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Dieser verfassungsmäßigen Festschreibung voraus- Verlautbarungen seitens der SED-Spitze waren nicht gegangen waren mehrere Beschlüsse und Regelun- das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsens, son- gen, die das Ziel hatten, die Frauen nicht nur eine dern die Zielprojektion eines in der gesellschaftlichen gleichberechtigte Stellung, sondern auch einen Realität nicht existierenden Idealbildes [--> Exper tise gleichwertigen Platz neben den Männern in der Helwig]. zunehmend technisierten Produktion einnehmen zu lassen. Im sogenannten Frauen-Kommuniqué des Politbüros 3.2 Frauen im Spannungsfeld zwischen Familie und des ZK der SED vom 23. Dezember 1961 wurde die Beruf unzureichende Durchsetzung frauenpolitischer Ziele hinsichtlich ihrer Rolle und Stellung in der sich verän- Marx und Engels hatten die Aufhebung von Ehe und dernden Gesellschaft artikuliert sowie eine gezielte Familie gefordert. Lenin folgerte daraus, daß die Anhebung des Qualifizierungsniveaus, eine ver- berufliche Emanzipation der Frauen parallel zu einer stärkte Heranziehung für naturwissenschaftlich-tech- generellen Entlastung von Familienpflichten verlau- nische Berufe und eine stärkere Vorbereitung für fen müsse. Die Hausarbeit sollte „industrialisiert", die Leitungsfunktionen festgelegt (Beschluß über die Kindererziehung „vergemeinschaftet" werden. In Aufgaben der Staatsorgane zur Förderung der Frauen keinem sozialistischen Land, auch nicht in der SBZ/ und Mädchen in Durchführung des Kommuniqués des DDR, konnten diese Vorstellungen voll verwirklicht Politbüros des ZK der SED von 1961). Das Frauenkom- werden, Ansätze zur Verwirklichung dieser Konzep- muniqué wurde die Richtschnur künftiger Beschlüsse tion lassen sich aber in sozialistischen Ländern durch- in den Bereichen Familie, Arbeit und Bildung. aus finden, wenn auch die ideologische Konzeption oft von arbeits- und bevölkerungspolitischen Zielsetzun- Um den Belangen der Frauen entgegenzukommen gen und Notwendigkeiten durchkreuzt wurden und eine Erhöhung der Geburtenrate zu erreichen, [—> Expertise Helwig]. wurden familienfreundliche Sozialprogramme aufge- legt. Das Gesetzbuch der Arbeit von 1961 (GBA) und Das Familiengesetzbuch der DDR (FBG) von 1965 das Arbeitsgesetzbuch (AGB) von 1977 bauten die erkennt Ehe und Familie als „kleinste Zelle der besonderen Rechte der berufstätigen Frauen und Gesellschaft" an, verpflichtet aber auch die Ehegatten Mütter aus: dazu, „ihre Beziehungen zueinander so zu gestalten, daß beide das Recht auf Entfaltung ihrer Fähigkeiten — Einrichtung von Kinderkrippen, Kindergärten, zum eigenen und gesellschaftlichen Nutzen voll Kinderhorten, betrieblichen Verkaufsstellen und wahrnehmen können" [--> Expertise Helwig]. Daraus Wäschereien ergab sich die Forderung nach voller Berufstätigkeit der Frau. Der Verzicht darauf wurde mit dem negati- — arbeitszeitliche Sonderregelungen und Kündi- ven Signum des „Bewußtseinsrückstandes" versehen. gungsschutz für Schwangere Selbst Müttern mit Kleinkindern wurde prinzipiell mit — Arbeitsfreistellung bis zum Ende des ersten bzw. — Blick auf die Wochen- und Tages-Kinderkrippen im Falle der Nichtbereitstellung eines Krippenplat- keine Sonderstellung eingeräumt [— Exper tise Hel- zes — dritten Lebensjahres des Kindes bei teilwei- wig]. ser Zahlung von Mütterunterstützung Die Mobilisierung der Frauen für die Berufsarbeit — Gewährung einer 40-Stunden-Arbeitswoche und entsprang in der SBZ/DDR von Anfang an neben den von Hausarbeitstagen ideologischen Vorgaben auch den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Sie ergaben sich anfänglich aus — Eheschließungskredite mit der Möglichkeit, Rück- den Kriegsfolgen, dann aus der wirtschaftlich schiech- zahlungsraten bei der Geburt von Kindern erlassen ten Situation in der DDR. Die Übernahme einer Arbeit zu bekommen bis hin zur völligen Streichung der war für die meisten Frauen tatsächlich nicht eine Kreditsumme Frage des Strebens nach emanzipatorischer Einord- — ab 1979 Verlängerung des Grundurlaubs für Müt- nung in den „gesamtgesellschaftlichen Produktions- ter mit mindestens zwei Kindern unter sechzehn prozeß" oder nach Gleichberechtigung, sondern des Jahren ökonomischen Zwanges für jede einzelne. Hierin war die Ausgangslage in Ost und West nach dem Krieg — Förderung studierender Mütter, etc. zunächst ähnlich. Während der Beschäftigungsgrad Es gab detaillierte Weiterbildungsmaßnahmen für die der Frauen im Westen jedoch schon bald nach der weiblichen Beschäftigten in Frauen-Förderplänen Normalisierung der Verhältnisse rückläufig tendierte, und es wurden Frauenausschüsse gebildet. war er im Osten aus den genannten Gründen ständig steigend [-4 Expertise Helwig]. 1989 befanden sich Anspruch und Realität gerieten jedoch ständig in 91,3 vH aller Frauen im arbeitsfähigen Alter entweder Widerspruch zueinander. Es mußten zum einen poli- in einem Arbeitsverhältnis oder in der Ausbildung. tisch-administrative Entscheidungen ge troffen wer- den, die mit staatlicher Förderung und Unterstützung Die einseitige Zuschreibung der Familienrolle an die Frauen — allerdings zusätzlich zur Erwerbsarbeit — den berufstätigen Frauen entgegenkamen. blieb bestehen. Das schlug sich u. a. darin nieder, daß Zum anderen mußte jedoch ein gesellschaftlich- im Arbeits- wie im Sozialrecht Familienpflichten stets emanzipatorischer Diskurs stattfinden, um das tra- bei Müttern, nicht bei Vätern, berücksichtigt wurden. dierte Männerbild zu ändern. Ein solcher Diskurs fand Nur in Ausnahmefällen bezog die betriebliche Praxis in der DDR über Jahrzehnte nicht statt. Die offiziellen auch Väter in solche Rücksichtnahmen ein.

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Die Durchsetzung der vollen Berufstätigkeit der der erheblichen Mehrbelastung berufstätiger Mütter Frauen geschah also weitgehend unter Beibehaltung niederschlugen. der tradierten arbeitsteiligen Lebensform in den Fami- Auch haben die finanziellen Zuwendungen keines- lien. Rund 80 vH der häuslichen Pflichten blieben den falls ein stabiles Fortbestehen der positiven Einstel- Frauen überlassen. Für die zur Berufstätigkeit ver- lung zu Kindern in der Gesellschaft bewirkt. Dem pflichteten Frauen ergab sich daraus eine Doppel- und kurzfristigen Erfolg familienpolitischer, vor allem Dreifachbelastung, die nach Entlastung streben ließ: finanzieller Maßnahmen, folgte immer wieder die — immer mehr verheiratete Frauen und Mütter gin- Phase der Stagnation, so daß auch dadurch die Bevöl- gen von einer Vollbeschäftigung zur Teilzeitarbeit kerungszahl in der DDR ständig abnahm [–> Exper tise über, Helwig]. — die Geburtenrate sank rapide, Die Frage, inwieweit diese Rea lität die Interessen der Kinder berüchsichtigte, muß immer wieder neu — die Zahl der Ehescheidungen nahm kontinuierlich gestellt und durchdacht werden. Dazu gehört vor zu. allem auch die Frage, ob psychosoziale Folgen durch 1970 waren zwar 80,7 vH der Ehefrauen berufstätig, die außerfamiliäre Erziehung der Kleinkinder einge- jedoch davon nur 52,2 vH vollbeschäftigt. Die SED treten sind. Eine Längsschnittuntersuchung aus dem mußte wenige Jahre nach Inkrafttreten des Familien- Jahr 1963 ergab, „ ... daß die durchschnittliche gesetzbuches zur Kenntnis nehmen, daß ein erhebli- neuropsychische Entwicklung der Kinder im allge- cher Abstand zwischen dem sozialistischen Leitbild meinen um so günstiger ist, je enger sie mit dem Alltag und der Wirklichkeit bestand. der Erwachsenen verbunden sind und durch die Beobachtung und den Umgang mit den Erwachsenen Die Folge war ein vehementer Kampf der SED gegen während deren Tätigkeit lernen können. Deshalb die Teilzeitarbeit. Die Frauen mußten „unwiderleg- stehen die ... überprüften Familienkinder in fast allen bare Gründe" angeben, um verkürzt arbeiten zu Seiten der Entwicklung an der Spitze. Ihnen am dürfen. Die Propaganda für sozialistische Familienbe- nächsten stehen Kinder aus den Tageskrippen, im ziehungen wurde verstärkt: Die Frau dürfe nicht, um Abstand folgen dann die Kinder aus den Wochenkrip- den wachsenden Erwartungen und Anforderungen pen. " [-3 Expertise Helwig] beider Lebensbereiche gemäß ihr Leben gestalten zu können, auf Teilzeitbeschäftigung ausweichen oder Ungeachtet vielfältiger gesetzlicher Grundlagen und verantwortungsvolle Funktionen ablehnen oder auf Bestimmungen bleibt festzustellen, daß der Lebens- mehrere Kinder verzichten. Die Drei-Kinder-Familie alltag der Frauen in der DDR hinter dem politisch- als gesellschaftliche Norm wurde propagiert. ideologisch formulierten Anspruch weit zurück blieb. Folgt man der Theo rie, daß sich in Industriestaaten der Erfolg der Familienpolitik in der Bevölkerungsent- Bis zum Ende der DDR blieb die überwiegende wicklung niederschlägt, dann muß der DDR ein Mehrzahl der Bevölkerung allen sozialistischen Pro- gewisser Erfolg ihrer Familienpolitik bescheinigt wer- grammreden und Zwängen zum Trotz bei der Mei- den. Eheschließungen und Geburtenentwicklung ver- nung, daß Mütter zeitweise bzw. „wenn die Kinder liefen seit den siebziger Jahren steigend. Diese Ent- klein sind" beruflich zurückstecken sollten. Das mein- wicklung hing ursächlich mit den gezielten familien- ten 1980 62 vH der Frauen und 69 vH der Männer. Nur fördernden Maßnahmen zusammen. 3 vH der Frauen und nur 1 vH der Männer meinten, die Väter sollten zeitweise beruflich zurückstecken. Trotz all dieser Bemühungen, die Eheschließung und Bedeutung und Anspruchsniveau des Berufs wurde Familiengründung zu fördern, nahm die DDR aber bei also deutlich dem familiären Bereich nachgeordnet der Scheidungsrate eine Spitzenposition ein. Dafür [—> Expertise Helwig]. waren u. a. die folgenden Gründe ausschlaggebend: — zu jung und zu schnell geschlossene Ehen (Ehe- schließungskredite waren altersmäßig be- 3.3 Frauen in Ausbildung und Beruf grenzt!), Das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bil- — fehlender eigener Wohnraum, dungssystem von 1965 garantierte den Frauen und — mangelnde partnerschaft liche Zusammenarbeit Mädchen gleiche Ausbildungsmöglichkeiten und den und gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsinstitu- tionen. In den Schulen wurden Mädchen und Jungen — wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen. gemeinsam und nach einheitlichen Lehrplänen (ab- Die Zahl alleinlebender und in nichtehelicher gesehen von Sport) unterrichtet. Detaillie rte Weiter- Gemeinschaft lebender Frauen nahm ständig zu. bildungsmaßnahmen für die weiblichen Beschäftig- Auch die Zahl der außerehelich geborenen Kinder lag ten in Frauen-Förderplänen (Bestandteil der Betriebs- mit 33,8 vH (1985) außerordentlich hoch. kollektivverträge BKV) und die Bildung von Frauen- ausschüssen unterstützten, allerdings weniger erfolg- Obwohl einige Teilerfolge bei den Bemühungen der reich, die Weiterqualifizierungsbemühungen. DDR-Gesellschaft, die Gleichberechtigung der Frauen in der Familie zu erreichen und damit eine Das Ergebnis der Qualifizierungsbemühungen bei günstigere Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Frauen war posi tiv. Hatten noch zu Beginn der sieb- Beruf und Familie zu schaffen, verzeichnet werden ziger Jahre nur ca. 50 vH der beschäftigten Frauen konnten, blieben große Defizite, die sich vor allem in einen Berufsabschluß, waren es 1986 81,5 vH. Seit

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den siebziger Jahren waren jeweils etwa 50 vH a ller Gehaltsstufen 1 500 bis 1 700 DDR-Mark und darüber Abiturienten und Studierenden weiblich. Der Anteil betrug nur 17 vH bzw. 15,7 vH. Eine bittere Konse- weiblicher Studierender war ständig steigend. In quenz daraus war die verbreitete „weibliche Altersar- einzelnen Studienrichtungen wie Humanmedizin, mut". 1989 erhielten 92 von 100 Frauen eine Alters- Zahnmedizin, Pharmazie und Pädagogik waren sie rente von unter 500 DDR-Mark und die Bezieher von stark überrepräsentiert. In den naturwissenschaftli- Mindestrenten (zuletzt 330 DDR-Mark) waren fast chen Disziplinen behaupteten sie sich mit einem ausschließlich Frauen. Anteil von ca. 45 vH. Bei den Qualifizierungsabschlüs- sen für spätere Führungspositionen, etwa bei Promo- Obwohl der Staat die meisten Berufe für Mädchen und tionen und Habilitationen, war der Frauenanteil aller- Frauen geöffnet hatte und für Frauen in „Männerbe- dings ähnlich gering wie im Westen. rufen" warb, zeigte sich schon bei der Berufswahl letztendlich ein tradiertes Rollenverständnis Der hohe Grad der Erwerbstätigkeit der Frauen galt [—> Expertise Helwig]. der SED als Nachweis der vollzogenen Gleichberech- Der DDR ist die volle Integra tigung. Bei näherem Hinsehen zeigten sich jedoch tion der Frauen in das erhebliche Benachteiligungen von Frauen. Berufsleben quantitativ gelungen, qualitativ blieb sie hinter ihren propagierten Zielen zurück. Trotz der 1985 wurde in einem Bericht der DDR-Regierung an aufgezeigten Diskrepanzen kann aber behauptet den Generalsekretär der Vereinten Nationen behaup- werden, daß die Berufstätigkeit der Frauen ein fester tet, daß rund ein Drittel aller Leiter in der sozialisti- Bestandteil ihrer Lebensplanung und ihres Selbstver- schen Wirtschaft Frauen seien. Der Verzicht auf die ständnisses war. Aufschlüsselung nach Leitungsebene ließ allerdings den Schluß zu, daß die tatsächliche Situa tion anders war. 3.4 Frauen in Gesellschaft und Politik Legt man die Qualifizierungsmuster von Facharbei- tern, Meistern, „Fachschulkadern" (mit Fachschulab- Die von der SED geforderte gleichberech tigte Teil- schluß), „Hochschulkadern" zugrunde, darin waren nahme der Frauen am öffentlichen Leben war beson- 1986 Frauen im Meisterbereich mit 12,4 vH am ders groß in jenen gesellschaftlichen und staatlichen geringsten, als „Fachschulkader" mit 61,8 vH am Organisationen und Gremien, die primär einen reprä- stärksten vertreten, bei den Facharbeitern lag ihr sentativen Charakter hatten oder lediglich eine bera- Anteil bei 48 vH. Unter den Hochschulkadern gab es tende Funktion ausübten. Die umfangreiche Einbe- insgesamt 38,2 vH Frauen, jedoch betrug der Prozent- ziehung der Frauen in die Volksvertretungen der DDR satz bei den Professoren nur 5 vH. war ideologisch motiviert, da sie wegen deren verfas- sungsrechtlichen Primats als Beweis weiblicher Mit- 1987 wurde in der medizinischen Fachzeitschrift „hu- bestimmung in der Politik galt. manitas" moniert, daß bei einem Anteil weiblicher Der Frauenanteil betrug: Mediziner von über 50 vH nur 1,9 vH der Kreisärzte Frauen waren. 1989 war der DDR-Frauenzeitschrift — bei der SED 35 vH „Für Dich" zu entnehmen, daß es in der gesamten DDR-Industrie nur vier weibliche Generaldirektoren — bei der CDU 46 vH gab. — bei der NDPD 34 vH

Die Begründung dafür läßt sich aus einer unveröffent- — bei der LDPD 32 vH lichten Studie des DDR-Instituts für Berufsbildung entnehmen. Die Bet riebe begründeten die Bevorzu- — bei der DBD 32 vH gung männlicher Mitarbeiter für bestimmte Bereiche — in der Volkskammer 31,2 vH und für Führungspositionen vorrangig damit, daß die Ausfallquote und die Fluktuationsrate bei Frauen — in den Bezirkstagen 31,2 vH wesentlich höher lägen als bei Männern. 1987 kriti- sierte die Zeitschrift „Für Dich" auffallend sarkastisch, — in den Kreistagen und Stadtverordnetenversamm- daß auch gut ausgebildete Frauen wegen biologisch lungen 42,6 vH begründeter Störanfälligkeit namentlich für leitende — in den Gemeindevertretungen 36,8 vH. Positionen offenbar generell weniger geeignet erschienen als „babymäßig nicht störanfällige" männ- In den politischen Entscheidungsorganen und Ent- liche Kollegen [—> Expe rtise Helwig]. Die notwendi- scheidungsfunktionen von Partei und Staat, in denen gen und familienpolitisch sinnvollen sozialen Hilfs- ein hoher weiblicher Anteil wirksame Gleichberechti- maßnahmen erwiesen sich also gelegentlich als gung hätte bedeuten können, waren die Frauen Hemmnis für die Verwirklichung der beruflichen hingegen weder ihrem Mitgliederanteil in den Par- Gleichstellung der Frau und verstärkten die Tendenz teien — namentlich der SED — noch ihrer Bedeutung zur Ausgrenzung der Frauen aus attraktiven berufli- für die Volkswirtschaft entsprechend vertreten: chen und gesellschaftlichen Posi tionen. — im Politbüro, dem obersten Führungszirkel der Die Folgen ungleicher beruflicher Aufstiegschancen SED, gab es nie eine Frau, lassen sich in der beruflichen Pyramide erkennen: — unter den nicht stimmberechtigten Kandidaten des Ende der achtziger Jahre stellten Frauen ca. 75 vH Politbüros waren zwei Frauen, jener Vollbeschäftigten in der DDR, die 600 bis 700 DDR-Mark verdienten. Ihr Anteil an den höchsten — im Sekretariat des ZK gab es eine Frau,

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— unter den ersten Sekretären der fünfzehn SED- in den neuen Bundesländern doppelt so hoch wie die Bezirksleitungen war eine Frau (1988 im Bezirk der Männer (11 vH). Dabei wird insbesondere L ang- Frankfurt/Oder), zeitarbeitslosigkeit (gegenwärtig knapp die Hälfte der Frauen über ein Jahr) zu einem besonderen — dem Staatsrat gehörten sieben Frauen an und Problem der Frauen. Diese Entwicklung ist trotz der — dem Ministerrat nur zwei Frauen (Hilde Benjamin finanziellen Absicherung durch Arbeitslosen- und und Margot Honecker). Sozialhilfe für viele Be troffene nicht leicht zu verkraf- ten — blieb doch der Wunsch zur Berufstätigkeit bei Der FDGB war mit einem Anteil von 52,6 vH weibli- den Frauen in den neuen Bundesländern sehr hoch. cher Mitglieder (fünf Millionen) die größte „Frauenor- Von den zur Zeit nicht berufstätigen Frauen wollen ca. ganisation „ der DDR. Auch hier waren die Frauen nur 60 vH, sobald sie eine Stelle finden, wieder arbeiten. auf unterster Ebene (Vertrauensleute, Orts- und Kreis- Bezeichnenderweise sind 40 vH davon an Teilzeitar- gewerkschaftsleitungen) entsprechend ihrem Mit- beit interessiert, so daß sich diese Möglichkeit besse- gliederanteil vertreten. Unter den Bezirksvorsitzen- rer Vereinbarkeit von Familien- und Berufstätigkeit, den befand sich eine Frau. die in der DDR aus ideologischen Gründen verpönt Die einzige zugelassene Frauenorganisation der DDR, war, erneut als angemessen und politisch erstrebens- der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD), wert erweist. Es bleibt die Erwartung, daß mit der war eine von der SED gesteuerte Einheitsorganisation Neustrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bun- der Frauen. Ihr gehörten 1,5 Millionen Frauen an. Der desländern auch die Beschäftigungsquote der Frauen DFD war eine Massenorganisation, die bei den angemessen verbessert wird. Frauen dürfen nicht in Wahlen auf allen Ebenen Kandidatinnen für die arbeitsmarktpolitischer Hinsicht die Verliererinnen Volksvertretungen auf den Einheitslisten der Natio- der deutschen Einheit werden. nalen Front der DDR nominierte und in den Volksver- tretungen eigene Fraktionen bilden durfte. Der DFD- Fraktion der Volkskammer gehörten 35 Frauen an (ab Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD 1986 32). Der DFD war aber trotz dieser Repräsen- und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, tanz nicht in der Lage, frauenpolitische Anliegen Weber: durchzusetzen. Stellt man die drei Bereiche Arbeitswelt, Familie und „Die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit der Politik gegenüber, so zeigt sich deutlich, daß die Frauen (April 1994: 775 000; 10 vH höher als Apr il Gleichberechtigung der Frauen auf dem Feld der — 1993) liegt nicht nur — wie häufig behauptet wird Politik am wenigsten durchgesetzt war. Die m an an der systembedingten hohen Erwerbsquote von -gelnde Repräsentanz der Frauen in den gesellschaft- Frauen in der ehemaligen DDR. Vielmehr ist für die lichen und politischen Entscheidungsgremien wurde überproportional hohe Arbeitslosigkeit der Frauen in der DDR nur selten öffentlich thematisiert. Zwar entscheidend, daß sich in den neuen Bundesländern lassen sich in den Ansprachen der Funktionäre stän- sehr schnell die Muster einer problematischen, west- dig Hinweise darauf finden, daß der Zustand noch lichen Beschäftigungsstruktur durchgesetzt haben. nicht befriedigen kann, ein ernsthaftes Bemühen Das heißt Frauen unterliegen nun auch bei den hingegen, diesen Mißstand wirksam zu ändern, war Neueinstellungen vielfach geschlechtsspezifischer nie feststellbar. Diskriminierung, obwohl ihr Qualifizierungsgrad sich nicht von dem der Männer unterscheidet. Hierzu Als besonders hinderlich wirkte es sich aus, daß es in kommt die Umstrukturierung innerhalb des Arbeits- der DDR keine unabhängige Frauenbewegung gab, marktes. Bisher frauentypische Branchen werden die diese Mißstände hätte aufgreifen können. Erste Mischbranchen (Handel, Banken, Versicherungen), verändernde Ansätze lassen sich über die Frauen- Mischbranchen werden zu tendenziell männerdomi- gruppen in den Kirchen und der Friedensbewegung nierten Branchen (verarbeitendes Gewerbe), männer- und bei einigen Wissenschaftlerinnen in den achtziger dominierte Branchen zu reinen Männerbranchen Jahren wahrnehmen. (Bau, Metall, Elektro). Ein Hierarchiegefälle zugun- sten der Männer bestand zwar auch in der ehemaligen DDR, jedoch waren die Frauen weitgehend wirt- 3.5 Nachwirkungen schaftlich unabhängig. Diese Unabhängigkeit ge- hörte zu ihrem Selbstverständnis und war Bestandteil Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen ihrer persönlichen Lebensplanung. Gesellschafts- und Wirtschaftssystems in der DDR und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft in den Die Vereinigung von Ost und West wäre eine Ch ance neuen Bundesländern hatte die Veränderung der gewesen, die Gleichstellung von Frauen und Män- Arbeitsmarktsituation besonders negative Folgen für nern voranzutreiben. Diese Chance wurde nicht die Frauen. Die systembedingt hohe Erwerbstätig- genutzt. " keitsquote von Frauen (über 90 vH) sank bereits bis April 1991 auf 77 vH (bei Männern auf 86 vH). Personelle Überbesetzungen und verdeckte Arbeits- 3.6 Forschungsdesiderate losigkeit in der DDR wurden also sehr bald sichtbar. Bis 1992 schrumpfte die Zahl der Arbeitsplätze für Viele Forschungsthemen in diesem Bereich sind nicht Frauen auf knapp zwei Drittel des Standes von 1990. allein DDR-spezifisch, müssen aber unter den beson- 1993 lag die Arbeitslosenquote von Frauen mit 22 vH deren Bedingungen in der DDR untersucht werden:

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— Überbeschäftigung in der DDR als Grund für die begründet, die Arbeitsproduktivität zu steigern, die

erhöhte Arbeitslosigkeit von Frauen nach der schließlich den Ausschlag geben und die Überlegen-

Wende heit der sozialistischen Gesellschaftsordnung bewei-

sen werde. — Langzeit-Auswirkungen der Wochen- und Tages-

krippenbetreuung In den ersten Jahren der SBZ/DDR war die „Brechung

des Bildungsmonopols der bürgerlichen Schichten" Ursachen für die unterschwellige Frauen-Diskri- — ein energisch proklamiertes aber nicht immer durch- minierung in Beruf und Politik setzbares Ziel. Die Förderung von Arbeiter- und

— Situation der Rentnerinnen Bauernkindern für weiterführende Bildungseinrich- tungen stand im Vordergrund. In den späteren Jahr- — Wohnungsproblematik hinsichtlich Bestand der zehnten lag der Akzent stärker als am Anfang auf der Ehen, Familienleben politischen Anpassung [--> Expertise Fischer]. — Frauenanteil in bestimmten akademischen Fach- Die Ausrichtung auf das sowje tische Vorbild und die richtungen. kontinuierliche Aufforderung an die Lehrer und Erzie-

her, sich an der Sowjetpädagogik zu orientieren, sollte gewährleisten, daß „bürgerliche Einflüsse" ausge-

4. Stellenwert und Mißbrauch von Erziehung schaltet wurden. In welchem Maße sowjetische Vor- und Bildung stellungen tatsächlich wirksam wurden, bedarf noch

genauerer Untersuchung.

4.1 Bedeutung von Erziehung und Bildung für die SED

Aufgrund der beherrschenden Rolle der SED in der 4.2 Ausgestaltung des „einheitlichen

Gesellschaft der DDR wurden auch Bildung und sozialistischen Bildungssystems"

Erziehung inhaltlich und strukturell von der Partei

gesteuert und geleitet. Politische und ideologische Es kann an dieser Stelle nur auf einige Aspekte des

Entscheidungskriterien waren dabei ausschlagge- Themas eingegangen werden. Im übrigen sei auf die

bend. In diesem Sinne war das Bildungs- und Erzie- Anhörungen und Expertisen verwiesen. Auf- und

hungssystem der DDR für die Heranwachsenden Ausbau des Bildungswesens in der SBZ/DDR sind

fremdbestimmt und wurde von „oben" her ausgerich- außerdem in der einschlägigen Literatur detai lliert

tet. Erziehung stand an erster Stelle, auch wenn behandelt.

ständig die „Einheit von Bildung und Erziehung" In allen Ländern der SBZ wurde 1946 das gegliederte verkündet wurde. Sie wurde als Anliegen der ganzen Schulsystem abgeschafft und durch das „Gesetz zur Gesellschaft für alle Altersstufen be trachtet. Bildung Demokratisierung der deutschen Schule" eine acht- war demgegenüber etwas Spezifischeres. Die Partei jährige, gemeinsame Schule für alle Kinder einge- erhob den Anspruch, allein zu wissen, wohin die führt. Erstmals gab es damit in einem Teil Deutsch- Menschen erzogen werden müßten. In diesem Sinne lands eine achtjährige (Grund-)Schule für alle Kin- war Erziehung in der DDR vor allem Bevormun- der. dung. Nach der „antifaschistisch-demokratischen Umge- Ziel war die Erziehung zur Konformität. Anspruch und staltung" erfolgte die Ideologisierung des Bildungs- Erziehungspraxis verhielten sich, wie in anderen wesens in Anlehnung an das sowjetische Vorbild Bereichen der DDR-Gesellschaft auch, widersprüch- (Einführung als marxistisch-leninistisch bezeichneter lich zueinander. Auf der Grundlage eines primär an Lehrpläne; Russisch als einziger Fremdsprache ab der äußeren, gesellschaftlichen Faktoren orientierten 5. Klasse; Kampagnen zum Studium der sowjetischen Menschenbildes glaubte man, mit Hilfe der marxi- Pädagogik mit obligatorischer Weiterbildung). Dieser stisch-leninistischen Ideologie „sozialistische Persön- Prozeß fand seinen Abschluß mit dem „einheitlichen lichkeiten" formen zu können, die den Ansprüchen an sozialistischen Bildungssystem", das entscheidend die neue Gesellschaft genügten. Die Praxis war dem- zur „Entdifferenzierung der Gesellschaft" beitrug. gegenüber viel differenzie rter und reichte von der Es wurde mit einem entsprechenden Gesetz 1965 Indoktrination bis zum Unterlaufen der Vorgaben Expertise Margedant] eingeführt. Seit diesem [-> oder sogar bis zum „elastischen Widerstand". Zeitpunkt gab es die Allgemeinbildende Polytechni-

Im Zentrum der Erziehung st and die ideologische sche Oberschule (POS, bis zur 10. Klasse) und die

Beeinflussung, die Ausrichtung auf Anpassung. Diese Erweiterte Oberschule (EOS, 11. und 12. Klasse). Beeinflussung begann im Kinderga rten und er- Bereits 1959 war die zehnklassige Schule zur Pflicht-

streckte sich auf alle Bildungseinrichtungen und alle schule gemacht worden. Erst ab 1983 war die EOS von

Formen der Berufsausübung in staatlichen Institutio- der POS völlig getrennt, d. h. es entschied sich erst in

nen bis zum Rentenalter [--> Exper tise Margedant, der 10. Klasse, wer die Erweiterte Oberschule besu-

Protokoll Nr. 32]. chen durfte.

Die fachliche Bildung hatte immer einen hohen Stel- Die erzieherische und ideologische Einflußnahme

lenwert, besonders im naturwissenschaftlichen und wurde durch formulierte Programme und Aufgaben-

technischen Bereich. Dies wurde von der Partei im stellungen in den Erziehungs- und Bildungsplänen

ökonomischen Wettlauf mit dem Kapitalismus auf der Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Fachschu-

dem Gebiet der Produktivkräfte mit dem Erfordernis len, Universitäten) festgeschrieben, die von der Partei

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 weitgehend festgelegt wurden. Die Bildung diente Arbeiter auf die Schüler über den üblichen „Praxis- außerdem der zunehmend politisch ausgerichteten schock" hinaus oft desillusionierend. Auswahl geeigneter „Kader" für höhere Posi tionen in Partei und Staat. Bis in die sechziger Jahre herrschte in der DDR Ideologische Erziehung in Staatsbürgerkunde Pädagogik die ideologisch begründete Vorstellung, und Geschichte allein die gesellschaftlichen Verhältnisse seien päd- agogisch wirksam. Man glaubte, durch deren Gestal- Die von der SED propagierten sozialistischen Ober- tung jede pädagogische — und auch politisch-ideolo- zeugungen sollten im Geschichtsunterricht historisch gische — Wirkung erzielen zu können. Ungeachtet begründet werden und wesentlich zum obersten der Vereinheitlichungsbemühungen in der Erziehung Erziehungsziel der Formung „sozialistischer Persön- und Bildung wurden aber bald Differenzierungen in lichkeiten" beitragen, was auf die Erziehung zum der Förderung von Begabungen notwendig. Spezial- parteitreuen gläubigen Verhalten hinauslief. Im Inter- schulen mit den Schwerpunkten Mathematik oder esse der Politik der SED wurde der Unterricht instru- Fremdsprachen (vor allem Russisch) oder Musikschu- mentalisiert; er reagie rte inhaltlich und methodisch len förderten besonders Begabte. Begabtenförderung didaktisch auf Veränderungen der Geschichtswissen- wurde auch noch auf andere Weise betrieben, so schaft, der Pädagogik und der gesellschaftlichen und durch die Einbindung naturwissenschaftlich interes- politischen Verhältnisse in der DDR, die von der SED sierter und begabter Schüler höherer Klassen in För- diktiert wurden. Die ideologische Einflußnahme auf dergruppen an den Universitäten oder durch Mathe- den Unterricht reichte bis in die Gestaltung der matik- und Russisch-Olympiaden. Es gab auch spe- einzelnen Unterrichtsstunden. Entsprechend wurden zielle Kinder- und Jugendsportschulen. Wie schwer es Unterrichtsziele formuliert, wie „sozialistischer Pa- aber war, Differenzierungen in der Volksbildung triotismus", Hervorhebung der „fortschrittlichen und durchzusetzen, zeigt sich an der Tatsache, daß es bis revolutionären Traditionen des deutschen Volkes" zuletzt trotz mannigfacher Bemühungen von Pädago- und seiner großen historischen Persönlichkeiten. Der gen nicht möglich war, die Regelung, die Schüler für Akzent wurde zunehmend auf die na tionale Ge- die zum Abitur führende EOS erst in der 10. Klasse schichte und die Parteinahme für die „historische auszuwählen, wieder rückgängig zu machen. Diese Mission der Arbeiterklasse", d. h. die Führung der Regelung hatte politisch-ideologische Gründe. Die SED, gelegt. SED hoffte, die Jugendlichen zu stärkerem Entgegen- kommen in politischen Entscheidungssituationen Die erhoffte Effektivität der politisch-ideologischen (z. B. bei der Auswahl von Offiziersbewerbern) bewe- Erziehung konnte nicht im erwünschten Maße gen zu können, wenn die Auswahl, wer zur EOS erreicht werden. Deshalb verstärkte die SED vor allem zugelassen wurde, spät getroffen wurde. in den achtziger Jahren ihre Bemühungen, bewußt- seinsprägend zu wirken. In den neuen Geschichtsbü- chern und -lehrplänen von 1988/89 schlug sich dieses u. a. darin nieder, daß sich der Unterricht in der Klasse 4.3 Ausgewählte Problembereiche 10 ausschließlich mit der DDR befaßte. Begründet wurde dieser Schritt damit, daß den Schülern ein Obschon Erziehung und Bildung bei der Behandlung „konkretes, wissenschaftlich exaktes und parteiliches der DDR-Vergangenheit als zentrale Themen be- Bild" von der Entwicklung der DDR als Teil des trachtet werden müssen, hat die Enquete-Kommission sozialistischen Weltsystems vermittelt werden sollte; diesen Themenbereich nur knapp bearbeiten können. zudem verkörpere die DDR die besten Traditionen Dementsprechend sollen hier nur einige Problembe- deutscher Geschichte. reiche behandelt werden, die aus Sicht der Kommis- sion jedoch charakteristisch für die DDR-Gesellschaft Auswahl und Ziele der zeitgeschichtlichen Stoffein- waren. heiten stimmten weitgehend mit dem Elementen des Staatsbürgerkundeunterrichts überein. Im Lehrplan- werk wurden entsprechend die Stoffe der beiden Verbindung zu praktischer Arbeit Fächer zusammengefaßt, um die „Leitlinien der ideo- logischen Erziehung im Unterricht" zusammenzufüh- In den allgemeinbildenden Schulen wurde besonde- ren. Dem Staatsbürgerkundeunterricht fiel dabei die rer Wert auf die Verbindung zu praktischer Tätigkeit Aufgabe zu, die „Verwirklichung der historischen gelegt. Praktische Fertigkeiten sollten im Polytechni- Mission der Arbeiterklasse" durch die SED „konkret schen Unterricht angeeignet werden. Daneben gab es historisch" aus den Grundzügen der gesellschaftli- das Unterrichtsfach „Einführung in die sozialistische chen Entwicklung der DDR abzuleiten. Folglich hatte Produktion". Die Beziehungen zur „materiellen Pro- der Unterricht die Aufgabe, grundlegende Erkennt- duktion und ihrem Träger, der Arbeiterklasse " sollten nisse des Marxismus-Leninismus in enger Verbin- durch den Unterrichtstag in der Produktion und durch - dung mit Kenntnissen der Politik der SED zu vermit- Patenschaften zwischen Produktionsbrigaden und teln, um den Schüler zur „unverrückbaren Klassen- Schulklassen hergestellt werden. Die SED verband position" zu erziehen und seine Bereitschaft zu ent- damit auch die Absicht, durch Arbeit in Produktions- wickeln, für das SED-System und die Politik der betrieben die Einpassung in gesellschaftliche Struktu- SED-Führung „Partei zu ergreifen". Der gesamte ren zu befördern. Jedoch wirkte die unmittelbare Staatsbürgerkundeunterricht sollte durch einen Anschauung der Arbeitsbedingungen in den Produk- „kämpferischen und polemischen Stil" gekennzeich- tionsbetrieben und der Lebensbedingungen der net sein [--> Expertise Margedant].

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Die Vermittlung „sozialistischer Werte" in diesen Umerziehung in Spezialheimen

Unterrichtsfächern bediente sich einer Sprache mit und Jugendwerkhöfen stereotypen Floskeln. Autoritative Handlungsanwei- sungen durchzogen die Lehrpläne, Unterrichtsmate- Eine unbeabsichtigte Folge des Ziels, sozialistische rialien und Unterrichtshilfen („Linienführung des Persönlichkeiten zu formen, war die Hilflosigkeit von Unterrichts"). Vor allem die im Unterricht vermittelten in pädagogischem Optimismus gedrillten Erziehern ideologischen Phrasen fanden wenig Anklang bei den gegenüber Kindern und Jugendlichen, die sich nicht Schülern. Zudem wirkten der Frontalunterricht und anpassen wollten oder konnten. Politisch renitente die Lehrervorträge motivationshemmend. Kritisches Arbeiten mit Quellen und Texten war nicht vorgese- Jugendliche, kindliche und jugendliche Straftäter, Heranwachsende mit Persönlichkeits- und Verhal- hen und mit den vorhandenen Mate rialien auch nicht tensstörungen ließen sich nur schwer oder auch gar möglich. nicht im gewünschten Sinne pädagogisch beeinflus- sen [--> Experlltisee]. Auch in derHi Pädagogik neigte man dazu, den Widerspruch zwischen den politischen Militarisierung als Ziel der Erziehung Anforderungen und der Wirklichkeit mit Beschöni- gungen zu „überwinden". Dies wirkte sich auch bei Das ständige Streben der SED-Führung, die gesamte der „Umerziehung" von schwer erziehbaren Heran- Gesellschaft zu militarisieren, wurde zunehmend wachsenden aus. Entwürdigende Disziplinierungs- zu einem Charakteristikum der DDR-Gesellschaft praktiken sind in einigen Kinderheimen (Spezial- und [--> I. Themenfeld]. Es äußerte sich in der Einführung Durchgangsheimen) systema tisch angewendet wor- militärischer Strukturen als gesellschaftliches Organi- den, also in Kenntnis und mit Billigung der jeweiligen sationsprinzip. Die Militarisierung galt als eine erzie- Heimleitung [--> Expertise Hannemann, Beispiele für herische Aufgabe, die unter Losungen wie „Erhöhung Brutalität durch Erzieher in einigen Jugendwerkhöfen der Verteidigungsbereitschaft" oder „Verstärkung [--> Expertise Sengbusch]. der revolutionären Wachsamkeit” propagiert wurde und zu deren Erfüllung Zwangsmaßnahmen auch Es gab in der DDR Normalkinderheime und — abge- außerhalb der Wehrpflicht angewendet wurden. stuft mit zunehmender Intensität in der Anwendung Massiv betrieben wurde die „Wehrerziehung" an den von Zwangs- und Disziplinierungsmaßnahmen — Einrichtungen der Volksbildung und des Hochschul- Spezialkinderheime, Jugendwerkhöfe für Jugendli- wesens. Sie wurde in den siebziger Jahren forciert che sowie für sich als besonders renitent erweisende aufgebaut. Bereits in den Kindergärten wurden den Jugendliche den geschlossenen Jugendwerkhof Tor- Kindern altersgemäß Freund-Feind-Schemata nahe- gau. gebracht [— Expertise Margedant]. In den Schulen und Hochschulen wurde die obligatorische oder Als Kernproblem der Persönlichkeitsdeformierung, quasi-obligatorische Teilnahme an Wehrübungen die zur Einweisung in ein Spezialkinderheim oder in sowie an Militär- oder Zivilverteidigungslagern ein- einen Jugendwerkhof führte, wurden individuelle geführt [--> Expertise Margedant; Blachnik, Protokoll Konflikte zwischen dem einzelnen und den gesell- Nr. 31]. schaftlichen Verhaltensnormen genannt, die sich u. a. in einer negativ eingeschätzten politisch-ideologi- Die Lehrer sollten in ihren Fächern Beispiele aus dem schen Position, in negativer Einstellung zum Lernen militärischen Bereich verwenden. Besondere Bedeu- und zur Arbeit und in Rechtsverletzungen äußerten. tung hatten dabei Geschichte und Staatsbürger- kunde. Über die Jungen Pioniere wurde in der Unter- Die Umerziehungspädagogik in den Spezialheimen stufe während der Winterferien regelmäßig das „Ma- und Jugendwerkhöfen war Ausdruck einer Radikali- növer Schneeflocke" organisiert. Für Jugendliche war sierung der Erziehungskonzepte in der DDR; sie die GST (Gesellschaft für Sport und Technik) als beruhte auf dem Prinzip absoluter Gruppenerzie- paramilitärische Organisa tion gedacht, die mit Fahr- hung. Es gab keine individuelle Förderung, vielmehr schulausbildung auf dem Motorrad und Möglichkei- waren völlige Anpassung und Aufgabe der Individua- ten zum Segelflug lockte. lität das pädagogische Ziel. Gewaltanwendung und Der obligatorische Wehrunterricht wurde in den obe- Isolierhaft gehörten zu den pädagogischen Mitteln ren Klassen der Allgemeinbildenden Polytechnischen [-->annemann, Protokoll Nr. 31]. Einweisungs- Oberschule 1978 eingeführt. Ab 1981 wurde er auf die gründe waren Fluchtversuche, renitentes Verhalten, EOS (Klasse 11) ausgedehnt [--> Exper tise Marge- wiederholte Arbeitsverweigerung, „Aufwiegelei", dant]. Wehrausbildungslager gab es für die männli- Angriffe auf Erzieher, Kritik am gesellschaftlichen chen Schüler (9. Klasse) ab 1979. Ab 1982 wurde für System der DDR, die Weigerung, im „offenen" die Teilnahme „freiwilliger Zwang" ausgeübt. Die Jugendwerkhof eine gesellschaftliche Funktion (z. B. Schießausbildung war dort ab 1985 obligatorisch FDJ-Sekretär) zu übernehmen. [ausführlich zum Thema Wehrerziehung —> Blachnik,- Protokoll Nr. 31]. Es gab „Tage der Wehrbereitschaft" Im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau wurden an den Schulen und jedes Jahr im Februar den Jugendliche ab vierzehn Jahren psychisch und phy- „Marsch der Bewährung" an den Universitäten. sisch geschädigt und einzelne sogar in den Selbstmord Ergänzend sei auf die Ordnungsgruppen der FDJ getrieben. Es handelte sich um Jugendliche, bei hingewiesen, in denen etliche tausend Jugendliche denen Erziehungsmethoden in anderen Jugendhil- organisiert waren. Sie übten mit Pistolen, Maschinen- feeinrichtungen versagt hatten [---> Expertise Seng pistolen, Karabinern. busch].

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4.4 Erziehung und ideologische Ausrichtung SED. Sie sollten der praktischen Aneignung von außerhalb der Schule sozialistischen Haltungen und Einstellungen, der „Ausbildung gefestigter sozialistischer Überzeugun- Erziehung als ideologische Ausrichtung war an keine gen" und gleichzeitig der Heranführung und Auswahl Altersgrenze gebunden und wurde systema tisch in künftiger hoher FDJ- und Parteifunktionäre an ihre allen staatlichen Institutionen, nicht nur in der Volks- Aufgaben im Dienste der politischen Führung die- bildung, in Verantwortung der Parteileitungen und nen. der „staatlichen Leiter" betrieben. Neben dem Fachwissen und der Berufsarbeit wurde Ein umfangreiches Schulungs- und Versammlungssy- die „gesellschaftliche Aktivität" als notwendiger Teil stem sollte diese Indoktrination verwirklichen, was einer „allseitig entwickelten sozialistischen Persön- allen Beteiligten viel Zeit und Aufwand abverlangte lichkeit" begriffen und gefordert. Jugendliche und und sicher auch ökonomisch zu negativen Folgen Erwachsene, die sich nur auf ihrem Fachgebiet bzw. in führte (die Veranstaltungen fanden oft in der Arbeits- ihrem Beruf anstrengten, wurden als Menschen cha- zeit statt). Die Pioniernachmittage für Schüler, das rakterisiert, die „nur auf einem Bein stehen" . Für die FDJ-Studienjahr für Studenten und Berufsschüler, die Heranwachsenden waren die Jungen Pioniere/Thäl- „Schulen der sozialistischen Arbeit" oder das Partei- mann-Pioniere und die FDJ — als eine besonders lehrjahr (in der Volksbildung und im Hochschulwesen wichtige Organisation — die maßgeblichen vorge- auch für Parteilose) für Berufstätige, marxistisch- schriebenen Betätigungsbereiche für „gesellschaftli- leninistische Weiterbildung für wissenschaftliche Mit- che Tätigkeit". Diese wurde von der Partei nach- arbeiter und Hochschullehrer, waren obligatorische drücklich gesteuert. Der Nachweis wenigstens eines Veranstaltungen. Hinzu kamen Zeitungsschauen, „Stückchens" solcher geleisteter gesellschaftlicher FDJ- und Gewerkschaftsversammlungen, „aktuelle Arbeit war wichtig für die ständig anzufertigenden politische Gespräche", die jeweils den aktuellen Beurteilungen. Wer es aus den unterschiedlichsten Bezug zur von der Partei festgelegten ideologischen Gründen ablehnte, „gesellschaftliche Tätigkeit" zu Linie herstellen sollten. leisten, wurde von den Funktionären oder von Kollek- tivmitgliedern aufgefordert, die „gesellschaftlichen Eine wichtige, vermutlich auch beabsichtigte, aber und individuellen Interessen in Übereinstimmung zu nicht offen proklamierte Folge der umfangreichen bringen". Die individuellen Wünsche und Neigungen Schulungs- und Disziplinierungsmaßnahmen sowie waren der jeweiligen ideologischen Linie der Partei der „gesellschaftlichen Aktivität" war, daß auch die unterzuordnen. Heranwachsenden ständig organisiert und „in Trab gehalten" wurden und somit über ihre Freizeit nur Wenn man schon nicht selbst aktiv wurde bei der beschränkt verfügen konnten. Besonders in der Organisation von Veranstaltungen oder dem Abhal- Jugend entwickelte sich eine Abneigung gegen die ten von Versammlungen, so sollte man doch wenig- andauernde einseitige ideologische Beeinflussung stens an ihnen teilnehmen. So wurde die Teilnahme und pädagogische Gängelei. an den Veranstaltungen der FDJ, oft auch des FDGB, als „freiwilliger Zwang" erlebt. Es war aber auch Die DDR-Pädagogik zeichnete sich besonders in der möglich, sich unter der Überschrift „gesellschaftliche ideologischen Erziehung häufig durch einen be- Tätigkeit" in unpolitische Nischen zu begeben. Nicht lehrenden, trockenen, schulungsmäßigen Stil aus. nur die Gestaltung von Wandzeitungen, die Teil- Abstrakte Persönlichkeitsideale wurden konstruiert, nahme am Wettbewerb „Junger Agitator", die Orga- denen allerlei hervorragende Eigenschaften zugeord- nisation von Kollektivveranstaltungen auch kulturel- net wurden, die die Pädagogen und Leiter bei den ler oder sportlicher Natur, die Bildung von „Patenbri- ihnen Anvertrauten herausbilden sollten. Solche gaden" in Betrieben und Produktionsgenossenschaf- Schablonen wurden dann mit hochtrabenden Worten ten zur erzieherischen und materiellen Unterstützung wie „Sozialistische Leiterpersönlichkeit", „Sozialisti- von Schulklassen, Kinderheimen, Kindergärten, gal- sche Frauenpersönlichkeit", „Sozialistische Lehrer- ten als gesellschaftliche Arbeit, sondern auch die persönlichkeit" usw. bezeichnet. Natürlich trugen Mitwirkung im Chor, einer Sportgemeinschaft oder diese abstrakten und blutleeren Muster nicht zur die Tätigkeit als Kassierer für eine gesellschaftliche Motivation bei. Es gab durchaus Funktionäre auf Organisation. unteren Ebenen in der FDJ, dem FDGB und auch in der SED, die versuchten, die Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und täglich erlebter Wirk- lichkeit in recht offen geführten Diskussionen zu Rolle der FDJ thematisieren, freilich ohne dabei die Grundsätze in Frage zu stellen. Im Bereich der Volksbildung waren Die Jugendlichen waren überwiegend in der FDJ solche Versuche bis zuletzt vergeblich oder blieben organisiert. Bei ihrer Gründung 1946 wurde die FDJ auf kleine Gruppen begrenzt. noch als „überparteilich" bezeichnet, aber bereits seit Anfang der fünfziger Jahre betrachtete die SED die Jugendorganisation als ihre Kaderreserve [–>Exper- tise Mählert, I. Themenfeld]. Gesellschaftliche Tätigkeit Jeder Betrieb, jede Schule und Universität hatte eine Man verstand darunter politische, soziale, kulturelle, FDJ-Leitung, in größeren Institutionen im Status einer sportliche, organisatorische Aktivitäten im Rahmen Kreisleitung. Die Kreisleitungen, in denen auch der Parteien sowie der gesellschaftlichen und Mas- hauptamtliche Funktionäre tätig waren, leiteten die senorganisationen unter ideologischer Anleitung der FDJ-Leitungen an. Die FDJ-Gruppenleitungen hatten

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode nicht nur die Aufgabe, die Gruppenmitglieder ideolo- 4.5 Wirkungen des Bildungs- und gisch zu erziehen und politisch zu schulen, sondern Erziehungssystems auch Veranstaltungen sportlicher und kultureller Art zu organisieren und dabei möglichst viele FDJ Das Ziel der SED-Führung, mit Hilfe der Bildungs- Mitglieder einzubeziehen. Die FDJ-Leitungen hatten und Erziehungsinstitutionen den „neuen Menschen" ein gewisses Mitspracherecht bei betrieblichen Ent- zu „formen", konnte fraglos nicht erreicht werden. scheidungen auf Ausführungsebene und übten in Unbeabsichtigte Nebenwirkungen dieser Pädagogik bestimmten Bereichen auch Kontrollfunktionen im waren Apathie, Ausweichen und Lippenbekennt- Betrieb aus. Sie konnten sich dabei auf das Jugend- nisse. Dessenungeachtet wurde ein hoher Bildungs- gesetz berufen, insbesondere auf das 3. Jugendgesetz stand erreicht, besonders auf naturwissenschaftli- von 1974 [—> Expertise Hille]. Die FDJ-Sekretäre der chem und technischem Gebiet. Das Interesse in der oberen Leitungsebenen spielten oft eine zwiespältige Bevölkerung an Fragen des technischen Fortschritts Rolle. Als FDJ-Sekretäre der Gruppen waren keines- war stark ausgeprägt. Aber auch in diesem Bereich wegs nur fanatische Einpauker der jeweiligen politi- wirkte sich manche von der Partei initiierte Kampagne schen Linie tätig, obschon es solche FDJ-Funktionäre demotivierend aus. Der andauernde Zwang zur Aus- gab. einandersetzung mit ideologischen und politischen Die Partei war bemüht, alle Aktivitäten von Jugendli- Fragen erzeugte nicht nur Widerwillen gegen die chen in der FDJ einzufangen. Es gab keine Möglich- „Berieselungspraktiken" von Partei und FDJ, sondern keit, sich in selbstorganisierter Weise in der Freizeit zu auch kritische und skep tische Haltungen gegenüber betätigen, nur in der FDJ (bzw. in einer anderen politischen Verlautbarungen bei gleichzei tig guter Massenorganisation wie dem DTSB oder der GST) Informiertheit über gesellschaftspolitische Fragen. In oder innerhalb der Kirchen. Jedes Jugendklubhaus, der Jugend zeigte sich jedoch zunehmend (ab den das Haus der Jungen Talente in Berlin, Diskotheken, achtziger Jahren) eine Tendenz zur Entpolitisierung, Singegruppen — alles wurde von der FDJ organisiert die bei dem starken ideologischen Druck als Versuch und ideologisch beeinflußt. gewertet werden kann, sich den ständigen Indoktri- nationen zu entziehen [—> Expertisen Hille, Fischer]. Letzteres wurde von der Parteiführung als beunruhi- gend beurteilt. Parteischulungen

Die Parteimitglieder waren einem speziellen System von Parteischulungen und Parteischulen unterworfen, Widerspruch zwischen offizieller Ideologie das sehr differenziert war [--> Leonhard, Protokoll und erlebter Wirklichkeit Nr. 28, Donner, Protokoll Nr. 32]. Alle Mitglieder waren verpflichtet, am Parteilehrjahr teilzunehmen. Der unauflösbare Widerspruch zwischen krampfhaft Es gab Betriebs- und Kreisschulen des Marxismus- aufrechterhaltenem Erziehungsziel und Wirklichkeit Leninismus, Bezirksparteischulen (Direkt- und Fe rn konnte natürlich an den Schülern nicht spurlos vor- -studium) sowie die Parteihochschule (Direkt- und übergehen. Sie lernten früh und manchmal auf Fernstudium). Je nach Posi tion und Karriereambitio- schmerzhafte Weise, sich anzupassen. Immer wieder nen hatten die jewei ligen „Kader" aus der SED dort wird gefragt, wie sich denn dieses „Gespaltensein" — ein Studium zu absolvieren. Das Studium in den zu Hause anders reden als m an das im Unterricht Betriebs- und Kreisschulen fand z. T. während der mußte — bei den Heranwachsenden ausgewirkt Arbeitszeit, z. T. außerhalb derselben statt. Für ein haben mag. Da auch für die Schiller die eigene Studium an einer Bezirksparteischule oder der Partei- Erfahrung und Wahrnehmung der bestehenden Ver- hochschule wurde man von der beruflichen Tätigkeit hältnisse gegenüber der Einflußnahme in der Regel freigestellt. die entscheidendere Sozialisationsbedingung war Die Schulungen wurden aber auch fortlaufend am [—> Expertise Fischer], sind Behauptungen, den Men- Arbeitsplatz durchgeführt. Die Planung dazu wurde schen in der DDR sei durch die Erziehung generell vom Zentralkomitee der SED geleitet. Zwischen den „das Rückgrat gebrochen" worden oder sie seien Parteitagen gab es jährliche Vorgaben zur Durchfüh- durch die Erziehung zur Heuchelei charakterlich rung der Parteischulungen. In den Bezirken und deformiert, so nicht haltbar. Sicher gab es Menschen, Kreisen, z. T. auch auf zentraler Ebene, wurden jedes die im politisch-ideologischen Aufstiegskampf psy- Jahr im September oder Oktober Partei-Aktivtagun- chische Deformationen erlitten, wie es andere gab, gen durchgeführt, wo die SED-Mitglieder die Gene- deren Widerstandswillen durch den ständigen Druck rallinie der SED-Führung erfuhren. gestärkt wurde. Was jedoch die Schüler bet rifft, so hatten diese viele Gesprächspartner, entweder zu Die nach jedem Parteitag der SED und nach jeder Hause oder in der Schulklasse, um die Diskrepanzen Tagung des Zentralkomitees veröffentlichten Reden ohne psychischen Schaden überstehen zu können und Materialien sollten von allen „Werktätigen" und - [--> Birthler, Protokoll Nr. 31]. Allerdings führten die Studenten durchgearbeitet werden, nicht nur von den politischen Vorgaben und die Ausrichtung auf ideolo- Parteimitgliedern. Dazu wurden an den Hochschulen gische Kriterien oft zu einer negativen Auswahl bei und in den Betrieben, so in FDJ- oder Gewerkschafts- Aufstiegsmöglichkeiten [—> Expertise Voigt] oder zur versammlungen, spezielle Seminare und Auswertun- späteren Desillusionierung derjenigen, die den gen angesetzt. Eigene Schulungssysteme besaßen Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit auch die Massenorganisationen und die Blockpar- zunächst nicht durchschauten. Auch wurden durch teien. die vielfältigen Anpassungsleistungen, besonders im

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Bereich der Volksbildung, sowohl durch die Lehrer als Widerständiges Verhalten zeigte sich eher im Unter- auch die Schüler, erhebliche Kräfte verbraucht [--> Ex- lassen (z. B. Fernbleiben von der Jugendweihe), auch pertise Hille]. Dennoch waren Möglichkeiten psychi- durch die Lehrer und Erzieher selbst, als in expliziten scher Balance auch innerhalb der gesellschaftlichen Äußerungen oder H andlungen. Es gab z. B. nicht Strukturen vorhanden [—> Exper tise Hanke], wenn wenige Kindergärten, in denen das obligatorische auch entsprechende Gestaltungs- und Ausgleichs- Kriegsspielzeug perm anent , auf dem höchsten möglichkeiten in der Volksbildung viel geringer Schrank der Einrichtung aufbewahrt wurde. Andere waren als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Gelegenheiten, sich den ideologischen Anforderun- gen und Indoktrinationsbemühungen zu entziehen, bestanden in der lediglich formalen Erfüllung von Forderungen. Sie eröffneten sich dadurch, daß sich Behinderung von Kreativität viele der hochgestochenen Zielstellungen in Volksbil- dung, Berufsbildung und Hochschulwesen nicht ohne Die ständige Außensteuerung im Bildungs- und Erzie- weiteres vereinbaren ließen oder sich sogar gegensei- hungssystem, die Behandlung auch des jungen Men- tig ausschlossen. schen als Objekt im Dienste eines zu verwirklichen- den höheren Zieles, führte häufig zur Abwertung, Verschüttung und Unterdrückung spontaner kreati- Die Situation der Lehrer ver Impulse und Neigungen, auch schon im Kindesal- ter. Die unentwegt proklamierte Notwendigkeit, sich Diejenigen, die die Konsequenzen der verfehlten selbst und die eigenen Neigungen und Leistungen in Bildungspolitik der SED-Führung zuerst und am deut- den Dienst einer „höheren Sache" zu stellen („Siche- lichsten spürten, waren die Lehrer. Sie hatten sowohl rung des Friedens", „Erfüllung der historischen Mis- die Probleme zu bewäl tigen, die sich aus den oft sion der Arbeiterklasse", „dem gesellschaftlichen unrealistischen bildungspolitischen Vorgaben als Fortschritt zum Durchbruch verhelfen"), wirkte sich — auch aus den politisch-ideologischen Zielvorstellun- sicher ungewollt — hemmend auf Kreativität und gen ergaben. Die Lehrer waren einem doppelten Originalität aus. Auch kreative Leistungen sollten Druck ausgesetzt, da sie zwischen den Anordnungen planmäßig, am rechten Ort, zur rechten Zeit, und des Ministeriums für Volksbildung und nachgeordne- möglichst auch noch von der rechten Person — einem ter Dienstellen und den Bedürfnissen der Schüler der Partei „zutiefst ergebenen Kader" oder auch standen, für deren Verhalten sie verantwortlich Kollektiv — erbracht werden. Erinnert sei an das gemacht wurden. Nicht wenige hielten dem Druck Schlagwort vom „Schöpfertum der Massen" . Selb- von oben nicht stand und versuchten, die Vorgaben ständiges Denken war nicht erwünscht, auch wenn es des Ministeriums für Volksbildung durchzusetzen. Es natürlich nicht völlig unterdrückt werden konnte. Es gab aber auch andere, die die Widersprüche zwischen gab Lehrer, „die inmitten eines wirk lich repressiven Anspruch und Realität als unerträglich erlebten und Systems es geschafft haben, Freiheit zu vermitteln, diese Spannungen oft jahrzehntelang zu ertragen Fragen zu provozieren und wirklich Erwachsenwer- hatten. Der Drang, die Volksbildung zu verlassen, war den zuzulassen" [—>Birthler, Vollmann, Protokoll dementsprechend sehr stark und wurde vom Ministe- Nr. 31]. rium sowohl mit administrativen Maßnahmen als auch der Gewährung von Privilegien (spezielle Altersver- sorgung, sog. Intelligenzrente, für alle pädagogisch Beschäftigten in der Volksbildung) sowie mit zahlrei- Reaktionen auf Kritik, Möglichkeiten, sich zu chen Ehrungen und Würdigungen (Tag des Lehrers, entziehen Medaillenverleihungen) bekämpft. on der Lehrer in den neuen Bundesländern Trotz des repressiven Erziehungs- und Bildungssy- Die Situati stems gab es gelegentlich Bedingungen in Schulen, ist gegenwärtig teilweise durch Unsicherheit geprägt. Der alte autoritäre Leitungsstil, der durch die Struktur die öffentliche kritische Äußerungen von Schü- des Systems vorgegeben war, ist diskreditiert. Die lern ohne nachfolgende Sanktionen ermöglichten Schüler haben jetzt mehr Möglichkeiten, ihre Interes- [--> Expertise Fischer]. Waren diese Bedingungen (liberale Schulleitung, undogmatische Parteileitung sen zu artikulieren und auch durchzusetzen. in der Schule, fehlende Nähe zu SED-Führungsperso- nen) jedoch nicht gegeben, konnten selbst harmlose kritische Äußerungen in der „(Öffentlichkeit” (z. B. an 4.6 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs einer Wandzeitung) gravierende Folgen haben, wie mit der Erziehung und Bildung die Relegation von Schillern an der Carl-von- Ossietzky-Oberschule 1988 in Pankow zeigt [--> Ex- Der Umbau des DDR-Bildungssystems durch Einfüh- pertise Fischer]. Ausgesprochene Tabu-Themen, bei rung des gegliederten Schulsystems in Anlehnung an denen die ideologisch wachsamen Kräfte sehr emp- die alten Bundesländer stellt alle Beteiligten vor findlich zu reagieren pflegten, waren kritische Äuße- schwierige Aufgaben und Probleme: die Neuorgani- rungen zu den zunehmenden Versuchen der Militari- sation der Schulen, die Weiterbildung von Lehrern, sierung der DDR-Gesellschaft sowie alterna tive ideo- die Erarbeitung von neuen Lehrplänen, die Einfüh- logische Bestrebungen im Marxismus-Leninismus rung neuer Fächer, die Demokratisierung der Schule oder in dessen gedanklicher Nähe, speziell in anderen usw. Diese Aufgaben und Probleme sind keineswegs kommunistischen Parteien (ausgenommen die KPdSU bereits durchgängig gelöst, eine Bilanzierung des bis 1985). gegenwärtigen Standes ist noch nicht möglich.

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Der Zusammenbruch des SED-Systems bereitete auch 4.7 Offene Fragen, Forschungsdefizite der politisch-ideologischen Erziehung ein Ende. Es und Empfehlungen stellt sich freilich die Frage nach den Nachwirkungen, die im einzelnen der empirischen Untersuchung Um vergangene Benachteiligungen auszugleichen, bedürfen. Hypothesen über mögliche Nachwirkun- sollten besondere Förderungsprogramme in der Bil- gen sind teilweise oben im Abschnitt über Ideologie dungspolitik entwickelt werden, die relativ unabhän- formuliert. gig vom Alter der Betroffenen umzusetzen sind (keine starren Altersgrenzen). Nachwirkungen des Bildungs- und Erziehungssy- stems der DDR auf die heutige Zeit bestehen vor allem In den Schulen sollte die Auseinandersetzung mit der in Gewohnheiten, hauptsächlich auf Außensteuerun- DDR-Vergangenheit intensiv thematisiert werden, gen zu reagieren und in fortwirkenden autoritären um das demokratische Selbstbewußtsein zu entwik- Denkmustern. keln. Dabei sollte zum einen die lokale Vergangen- heitsaufarbeitung im Vordergrund stehen, zum ande- ren sollten die Mechanismen und Folgen von Dikta- Die Außensteuerung im Bildungs- und Erziehungssy- turen den Schillern am Beispiel der DDR verdeutlicht stem der DDR, also die ständige Gängelung, Bevor- werden. mundung und Reglementierung, unterminierte nicht nur Initiative und Kreativität. Manchem gewährlei- Forschungsdefizite bestehen im empirischen Nach- stete sie auch einen gewissen Halt. Es war klar, was zu weis der tatsächlichen Wirkungen ideologischer tun war und auch, was man lieber unterließ. M an Indoktrination. Die Anzahl der Hypothesen auf die- an die Bevormundung gewöhnen, es gab konnte sich sem Gebiet ist viel größer als die der erhobenen aber auch andere Reaktionen, mit der ständigen verallgemeinerungsfähigen Untersuchungsergeb- Gängelei zurechtzukommen, so Ironie oder Unterlau- nisse. Eine Reihe von wich tigen Forschungsthemen fen des Geforderten. Heute fehlen die Vorgaben, zur DDR-Pädagogik und zur Volksbildung ist an jeder muß sich selbst orientieren. Für viele ist das eine unterschiedlichen Einrichtungen in Bearbeitung, so Erleichterung, aber nicht alle Eltern, Schüler und auch zur Wehrerziehung, der Pionierorganisation, dem Lehrer sind dieser neuen Situa tion, in der man aus- Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterricht, der wählen und Entscheidungen treffen darf und muß und Bildungs- und der Erziehungstheorie, dem Jugend- dadurch auch Verantwortung übernimmt, sofort werkhof Torgau, der Erziehung zur „Völkerfreund- gewachsen. Für Eltern und Heranwachsende besteht schaft", der Jugendweihe. Andere wichtige Bereiche die Gefahr, Verheißungen und Verlockungen nachzu- scheinen noch nicht erforscht zu werden. Hier eine geben und sich dadurch in Schwierigkeiten zu brin- Zusammenstellung einschlägiger Probleme, die sich gen, zumal noch nicht immer die notwendige Sach- bei Anhörungen der Enquete-Kommission ergaben: kenntnis für die Auswahl von Alternativen vorhanden ist. In dem Maße, in dem es gelingt, den Übergang von — Untersuchung der Faktoren, die gegenwärtig poli- Vorgabe und Bevormundung zu Offenheit und Plura- tisches Engagement in den neuen Bundesländern lismus für Pädagogen und Erzogene als Chance zu ver- oder behindern und die die Übernahme von verstehen und zu bewäl tigen, wird auch Orientie- Verantwortung und den Erwerb von Fähigkeiten, rungslosigkeit überwunden. diese wahrzunehmen, fördern — Empirische Untersuchungen zu Verhaltensformen Daß autoritäre gesellschaftliche Muster im Verhalten bei Pädagogen und Eltern gegenüber den ver- sogleich nach der Veränderung der gesellschaftlichen schiedenen Leitungsebenen der Volksbildung Strukturen verschwinden, ist nicht zu erwarten. Es bestand keine ausreichende Möglichkeit, Verhaltens- — Empirische Untersuchung des Alltagsverhaltens weisen zu lernen und zu üben, die in einer freien von Kindern und Jugendlichen gegenüber Päd- Gesellschaft unverzichtbar sind und die man in der agogen, sowie der FDJ DDR nicht erwerben konnte, wie z. B. das freie Reden — Der Stellenwert der Behinderten- und Rehabilita- vor einer größeren Öffentlichkeit. Man konnte in der tionspädagogik DDR nicht lernen, mit konfligierenden Auffassungen konstruktiv umzugehen und andere Meinungen zu — Die wissenschaftliche Entwicklung in der DDR ertragen. Die Bereitschaft, sich politisch zu engagie- Pädagogik und die Rolle der Akademie der Päd- ren, ist wenig ausgeprägt und beschränkt sich auf agogischen Wissenschaften. einen relativ kleinen Personenkreis. M an hält sich zurück, wenn es darum geht, Verantwortung wahrzu- nehmen und wartet ab, wohl auch aus Unsicherheit. 5. Rolle und Funktion der Wissenschaft Die Fähigkeit, zur Konfliktbewältigung ist im neuen im SED-Staat Umfeld noch eingeschränkt und muß in Disputen und Rechtsabläufen erst noch erworben werden. Die skep- 5.1 Ziele der SED-Wissenschaftspolitik tische Haltung gegenüber Parteien und Vereinen- sowie gegenüber der Politik im allgemeinen resultiert Es gibt kaum ein Gebiet des gesellschaftlichen aus den Erfahrungen der Vergangenheit und dem Lebens, in dem mehr pluralistische Meinungsvielfalt Gefühl, mißbraucht worden zu sein. Es wird noch und individualistische Selbständigkeit vorhanden zuviel „von oben" erwartet. Die Möglichkeiten, und notwendig sind als in der Wissenschaft. „Wissen- eigene Interessen durchzusetzen, indem m an sich schaftler sind Individualisten oder sie sind keine organisiert, werden noch zu wenig erkannt und wahr- Wissenschaftler. " [—> Schroeder, Protokoll Nr. 33] Ent- genommen. sprechend groß waren die Schwierigkeiten für die

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SED, wissenschaftliche Einrichtungen in das soziali- 5.2 Die Politik der SED gegenüber Hochschulen stische Ganze der SED-Diktatur einzufügen und sie und Akademien sich als theoretisches Instrument für die Planung und Lenkung des gesamten Gesellschaftsprozeses verfüg- Hochschulen bar zu machen. Wie für das sozialistische Schulwesen begann auch für Den Naturwissenschaften und der Technik hat die das Hochschulwesen in der SBZ/DDR die Entwick- SED-Führung entscheidende Bedeutung in der „Klas- lung mit der sogenannten antifaschistisch-demokrati- senauseinandersetzung mit dem Imperialismus" bei- schen Ordnung, die durch die 1. Hochschulreform gemessen. Sie meinte, daß der Wettbewerb zwischen hergestellt wurde. Die traditionelle Fakultäten- und den Gesellschaftssystemen auf dem Gebiet der Pro- Ordinarienstruktur der deutschen Universitäten blieb duktivkräfte und der Arbeitsproduktivität entschie- erhalten. Aber die notwendige Entfernung national- den werde. Wissenschaft und Technik wollte die sozialistischen Personals und die Wiedereinsetzung SED-Führung bewußt auch nutzen, um die Wirtschaft politisch und rassisch verfolgter Hochschullehrer international konkurrenzfähig zu machen, die „ Ver- wurde bald verbunden mit dem systema tischen teidigungsfähigkeit" des L andes zu sichern und inter- Zurück- und Hinausdrängen solcher Gelehrter, die als national Ansehen zu erwerben. Sie glaubte, aufgrund antisozialistisch oder antikommunistisch galten. Es ihrer „wissenschaftlichen Weltanschauung" einen folgte die Zerschlagung von demokratisch gewählten Vorteil bei der Nutzung der Wissenschaft gegenüber Studentenräten, weil SED und FDJ in diesen keine dem Westen zu haben. Den Gesellschaftswissenschaf- Mehrheiten gewinnen konnten [--> Meyer, Protokoll ten wurde folglich vorrangig eine ideologische, sinn Nr. 33]. stiftende, interpre tierende und motivierende Funk- Wichtig für die Struktur der geplanten sozialistischen tion zugeordnet. Hochschule war die Einrichtung von Vorstudienan- stalten für Kinder aus der Arbeiter- oder Bauernschaft, Die SED-Führung erhob den Anspruch, die wissen- die ab 1946 unter dem Namen „Arbeiter- und Bauern- schaftliche Entwicklung nach ihren Vorstellungen zu fakultäten" fortgeführt wurden. Neben dem berech- leiten. Sie glaubte, die wissenschaftliche Forschung tigten Anliegen, die Zugangsmöglichkeiten sozial ähnlich planen zu können, wie sie es in der Wirtschaft weiter zu öffnen, dienten sie dem Zweck, eine der SED vorhatte. Die wissenschaftliche Kommunikation nahestehende Intelligenz heranzubilden, um die wurde zudem überwacht und gestört, Berichte wur- damals noch unverzichtbare bürgerliche Intelligenz den geschönt, wissenschaftliche Öffentlichkeit fehlte allmählich ablösen zu können. insbesondere in kritischen Bereichen. Aus diesem Grunde konnte man nicht aus Fehlern lernen und sie Erst durch die 2. Hochschulreform von 1951 unter der nicht rechtzeitig korrigieren. Losung „Stürmt die Festung Wissenschaft" wurde der Marxismus-Leninismus als obligatorisches Studien- fach für alle Studiengänge eingeführt (dreijähriger Folglich gab es auch für die wissenschaftlichen Ein- Kurs mit den Bestandteilen marxistisch-leninistische richtungen keinen Raum für eigenständige Kompe- Philosophie, Politische Ökonomie und Wissenschaftli- tenzen. Jede Universität und jede Forschungsstätte cher Sozialismus). Russisch wurde obligatorische war im Verständnis der SED eine ausschließlich Fremdsprache. Ein erstes zentralistisches Leitungs- staatliche Institution, der bestimmte Aufgaben zur element wurde durch die Einrichtung von Prorektora- eigenen Erledigung übertragen wurden, der jedoch ten für Studienangelegenheiten und für marxistisch- keine wirkliche Eigenkompetenz zukam. Alle, die leninistisches Grundstudium in die Hochschulstruktur z. B. ein Amt an einer Universität innehatten, waren eingeführt. Die direkte Einflußnahme der SED wurde prinzipiell den Parteifunktionären nachgeordnet. dadurch erreicht, daß SED- und FDJ-Repräsentanten in die Senate der Universitäten einzogen. Die externen Steuerungsversuche der Partei störten die Einhaltung der für wissenschaftliche Qualität Bereits auf der 3. Hochschulkonferenz 1958 orien- unerläßlichen Kriterien und behinderten die wissen- tierte die SED die Gesellschaftswissenschaften allein schaftliche Kommunikation. Da die notwendige finan- auf den Dialektischen und Historischen Mate rialismus zielle und materielle Unterstützung für die Forschung und stellte ihnen im wesentlichen zwei Aufgaben: die oft fehlte und wissenschaftliche Fragestellungen stets „Wissenschaftlichkeit" der Politik der Partei zu bele- den politischen untergeordnet wurden, gelang es gen und zur „sozialistischen Bewußtseinsbildung der auch nur in eingeschränktem Maße, mit Hilfe der Werktätigen" beizutragen. Wissenschaft internationale Reputa tion für die DDR Eine weitere Zäsur läßt sich für die Zeit des Mauer- zu . Die ständigen Rechtfertigungs- und baus ausmachen. Zwischen August 1961 und Januar Legitimierungsbestrebungen der Wissenschaftler ge- 1962 fand die größte Verhaftungswelle nach dem Bau genüber der Partei, deren Einmischung in fachliche der Mauer statt, und in dieser Zeit gab es an den Angelegenheiten, untergruben die gesellschaftlichen- Universitäten große Disziplinierungsaktionen. Der und organisatorischen Voraussetzungen für wissen- Anteil der berufenen SED-Mitglieder betrug damals schaftliche Produktivität und Kreativität. Diese Wis- an den gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten senschaftspolitik war zwar realitätsfe rn, wenn den- 90 vH, an den naturwissenschaftlichen Fakultäten noch teilweise beachtliche wissenschaftliche Leistun- lediglich 20-40 vH [—> Mitter, Protokoll Nr. 33]. gen erbracht wurden, dann lag das daran, daß die SED Kompromisse eingehen mußte [--> Meyer, Wolf, Proto- Mit der 3. Hochschulreform 1968/69 versuchten koll Nr. 33]. Ulbricht und die Parteiführung, die Wissenschaft

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode effektiv und für die gesellschaftliche Entwicklung Mit Honeckers Machtantritt wurde die Unterstützung unmittelbar nutzbringend zu gestalten. Großzügige des Hochschulwesens durch den Staat deutlich einge- finanzielle Ausstattungen wurden zur Umstrukturie- schränkt [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. Im Zuge der rung der Universitäten in Aussicht gestellt (z. B. die umfangreichen Sparmaßnahmen wurden an manchen Errichtung eines Universitätscampus mit modernsten Universitäten und in manchen Fächern sogar die Einrichtungen in Jena-Lobeda, im Stadtzentrum von Institutsbibliotheken aufgelöst (z. B. an der Universi- Halle und in Berlin-Friedrichsfelde), aber dann doch tät Leipzig) und zentralistisch zusammengefaßt. Die nicht aufgebracht. Verwirklicht wurden lediglich tief Isolierung von der internationalen wissenschaftlichen in die historisch gewachsene disziplinäre Struktur der Kommunikation, die erhebliche Einschränkung des Universität greifende Änderungen durch Auflösung Zugangs zu westlicher Fachliteratur ab 1976 und die von Instituten und Fakultäten, an deren Stelle Sektio- sich ständig verschlechternden Arbeitsbedingungen nen traten. Ohne die betroffenenen Wissenschaftler von Lehre und Forschung führten zu einem deutlichen zu konsultieren, wurden aus ideologischen und öko- Rückgang der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit. nomischen Gründen in den Natur- und Geisteswissen- Den Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern schaften Fächer zu Sektionen zusammengefaßt, die wurde immer wieder nahegelegt, den Studierenden oft nicht zusammenpaßten. Sie waren zum Teil so sowjetische Fachliteratur zu empfehlen. Bei Qualifi- abenteuerlich und wirklichkeitsfremd, daß sie teil- kationsarbeiten, z. B. Dissertationen, mußte in spe- weise schon nach wenigen Wochen wieder zurückge- ziellen Fragebögen angegeben werden, wieviel nommen wurden. sowjetische Autoren zitiert worden waren.

Durch diese Hochschulreform wurde an den Univer- sitäten der Einfluß der Parteileitungen gestärkt, die Gestaltung des Studiums den Status von Kreisleitungen hatten [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. War auch vorher schon der Einfluß Das Hochschulwesen galt in seiner erzieherischen der SED z. B. in Berufungsfragen sehr deutlich gewe- Funktion als Fortsetzung der DDR-Volksbildung für sen, so wurde er nun noch direkter durchgesetzt. Es eine spezielle Gruppe. Es zeichnete sich dementspre- gab aber keinen vollständigen Austausch der Hoch- chend durch ähnliche Elemente aus wie die Volksbil- schullehrer. dung: Verschulung, ideologische Indoktrination mit Hilfe des Marxismus-Leninismus, „Betreuung" der Gravierende Veränderungen erfuhren die Geistes- Studenten, straff organisierte Ausbildung, Einfluß wissenschaften durch die Besei tigung der — ideolo- militärischer Organisationsformen und Inhalte im Stu- gisch natürlich besonders verdächtigen — histori- dienablauf, hoher gesellschaftlicher Organisa tions- schen Fächer, wie etwa der Klassischen Philologie und grad, ideologisch geprägte Kaderauswahl. der Alten Geschichte, oder der historischen Fachteile, z. B. der Mediävistik in der Germanistik, Romanistik Die Studierenden wurden intensiv in Seminargrup- und Anglistik. Die Fremdsprachen-Philologien sollten pen fachlich und politisch „be treut" [—> Meyer, Proto- durch die Ausblendung des kulturellen Kontextes koll Nr. 33]. Zu Beginn jeden Studienjahres im Sep- auf die bloße Sprachvermittlung verwiesen werden tember gab es eine Woche, in der in fast nur politi- [--> Meyer, Protokoll Nr. 33]. schen Veranstaltungen die Studierenden auf die aktu- elle politische Situation im Sinne der Partei einge- Strukturell gesehen bedeutete diese Reform einen stimmt werden sollten [--> Berg, Protokoll Nr. 31]. Zu radikalen Bruch mit der Universitätstradition und Beginn des Studienjahres oder während der Sommer- einen schweren Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. ferien nahmen Studenten an Ernteeinsätzen auf dem Die Einordnung von Lehrstühlen und Instituten in Lande teil. Sektionen führte zum Verlust eigener Etats und zur Die Studierenden waren organisatorisch in Studien- Einschränkung der selbständigen Gestaltung des jahre eingeteilt und hörten in der Regel studienjahres- Lehrangebots. Die Direktoren der Sektionen waren weise Vorlesungen. Die Studienjahre waren wie- weisungsgebunden und unterstanden direkt dem derum in Seminargruppen (von fünfzehn bis zwanzig Rektor und ersten Prorektor der Universität. Dieser Studenten) unterteilt. In jeder Seminargruppe, die Schritt beinhaltete zugleich die zentrale Lenkung der einer FDJ-Gruppe mit gewählter FDJ-Leitung ent- Professorenschaft. sprach, gab es eine „Parteigruppe Studenten". Nach der 3. Hochschulreform versuchte die Partei, die In der staatlichen Leitungshierarchie der Sektionen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme war der Stellvertretende Direktor für Erziehung und durch stärkere Einbeziehung wissenschaftlicher Er- Ausbildung für Erziehungsfragen zuständig. Ihm kenntnisse, insbesondere aus den Wirtschaftswissen- waren Studienjahresleiter aus dem Lehrkörper unter- schaften, der Operationsforschung und der Kyberne- stellt und diesen wiederum Seminargruppenbetreuer. tik, zu lösen. Die sog. Leitungswissenschaften wurden Die FDJ-Gruppenleitung hatte Einfluß auf studienor- vorübergehend stark gefördert. Da aber auch hier die - ganisatorische Maßnahmen. Ein Vertreter der FDJ ideologische Anpassung wichtiger war als wissen- Leitung hatte z. B. in den achtziger Jahren das Recht, schaftliche Solidität, versandeten — auch zum Teil aus als Beisitzer bei mündlichen Prüfungen teilzunehmen. Geldmangel — die Reformbemühungen schnell wie- Gab es „ideologische Probleme" bei Studierenden, der. Es kam sogar zu Gegenkampagnen (z. B. zur hatten die Seminargruppen oder die übergeordneten neuerlichen Stigmatisierung von Kybernetik und der Leitungen (SED- und FDJ-Kreisleitung) unterschiedli- Anwendung mathematischer Methoden in den che Sanktionsmitteln, die man auch differenziert ein- Gesellschaftswissenschaften). setzte.

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Durch die straffe Organisation des Studiums, die Einfluß auf die Akademie gewann. Ab 1988 hatte eine Betreuung, aber auch die Verschulung, wurden kurze Ablehnung durch die Staatssicherheit bei einer Studienzeiten eingehalten. Die Verschulung des Stu- geplanten Einstellung absolut bindende Wirkung diums wurde besonders am ungeliebten obligatori- [--> Schütrumpf, Protokoll Nr. 33]. schen Fach Marxismus-Leninismus deutlich. Damit dieses Fach, das oft — allerdings nicht immer — recht 1951 wurde das Institut für Gesellschaftswissenschaf- einseitig und unkritisch gelehrt wurde, von den Stu- ten beim ZK der SED — seit 1976 Akademie der dierenden auch wirk lich ernstgenommen wurde, Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED — mußte die Gesamtnote in Marxismus-Leninismus bei gegründet mit der Aufgabe, „Kader" für die Durch- der Festlegung der Diplomnote berücksichtigt wer- setzung des Marxismus-Leninismus in den Gese ll den. -schaftswissenschaften der DDR auszubilden. Viele der so Ausgebildeten wurden nach Abschluß ihrer Es bildete sich eine Art des Studiums heraus, das eher Dissertation an die Universitäten delegiert, wo sie oft Unselbständigkeit als wissenschaftliche Selbständig- Schlüsselpositionen übernahmen und die Linie der keit förderte [--> Mitter, Berg, Protokoll Nr. 33]. SED durchsetzten. Von der Akademie für Gese ll -schaftswissenschaften wurden auch Kräfte ausgebil- Immer wieder wurde versucht, die Verschulung auf- det, die für die Besetzung von geistes- und sozialwis- zubrechen und die Studierenden zu „eigenverant- senschaftlichen Lehrstühlen in der Bundesrepublik wortlichem Handeln " und „schöpferischem Denken" vorgesehen waren, um auf diese Weise für eine zu erziehen. Man versuchte, die gebremste Kreativität mögliche Wiedervereinigung geistig gerüstet zu sein in der DDR-Wissenschaft, besonders im Studium, [--> Schütrumpf, Protokoll Nr 33]. durch Reformen zu stimulieren: „wissenschaftlich produktives Studium", d. h. die Einbeziehung der Seit den siebziger Jahren spielte das Ins titut für Studierenden in die Forschung, alljährliche Durchfüh- Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED keine rung von Studententagen in Verantwortung der FDJ, wichtige Rolle mehr. Es blieb Produzent von promo- Begabtenförderung durch spezielle Stipendien und vierten Kadern. Weiterhin gepflegt wurde die gesell- von Schülern direkt durch die Universität, Leistungs- schaftswissenschaftliche Forschung. Doch die Ergeb- schauen, Auslandspraktika. Da die Partei aber auch nisse hatten kaum noch Wirkung auf die Politik der bei diesen Aktivitäten nicht über ihren Schatten SED. springen konnte, waren sie nur begrenzt erfolg- Eine politisch bedeutsame Rolle erhielt die Akademie reich. für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die eng mit der Sowjetischen Akademie der Wissenschaf- ten kooperierte und gemeinsame interdisziplinäre Forschungsprojekte durchführte. Daneben gab es Akademien und sozialwissenschaftliche Parteihochschulen der Blockparteien, die jedoch Einrichtungen kein Promotionsrecht besaßen. Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften trat nach 1985 anläßlich der Gespräche der SED-Führung mit der SPD bei der Im Zuge der 3. Hochschulreform wurde — sowjeti- Erarbeitung des SED-SPD-Papiers von 1987 [--> Schü- schem Vorbild entsprechend — die Akademie der trumpf, Protokoll Nr. 33] ins öffentliche Bewußt- Wissenschaften zur zentralen Forschungseinrichtung sein. der DDR umstrukturiert (zuletzt insgesamt 60 Ins titute mit ca. 25 000 Mitarbeitern). Hauptaufgabe war die Die eigentliche Kaderschmiede der SED, an der die

Grundlagenforschung vor allem in den Natur- und ersten und zweiten Kreissekretäre geschult wurden,

Technikwissenschaften. Die Geistes- und Sozialwis- war die Parteihochschule. Spitzenfunktionäre wurden senschaften banden nur etwa 10 vH des Potentials. zusätzlich an den Hochschulen der KPdSU qualifi-

Fächer, die weder einen ökonomischen noch militäri- ziert. schen Nutzen in ihrer Anwendung versprachen (z. B.

Klassische Philologie oder die Alte Geschichte) wur- Soziologische Fragen wurden bis zum Beginn der

den vernachlässigt. sechziger Jahre ausgeklammert. Bis dahin glaubte man, die Soziologie auf den historischen Materialis-

Mit der Umstrukturierung der Akademie der Wisssen- mus reduzieren zu können. Ab 1963/64 jedoch wurde schaften der DDR bahnte sich eine Entwicklung an, plötzlich der Ruf nach empirischer sozialwissenschaft-

die von dem alten Humboldtschen Ideal der Einheit licher Forschung durch das Politbüro laut (Schlagwort von Forschung und Lehre mehr und mehr Abschied „konkrete Sozialforschung"). Ein Ins titut für Mei- nahm. Gleichzeitig wurde versucht, die Wissenschaft nungsforschung wurde gegründet (bezeichnender-

dem Zugriff der SED total auszuliefern. An der Aka- weise wurde es dem Minister des Innern zugeordnet)

demie führte das dazu, daß alle fünf Jahre ein Zentra- sowie das bis zum Ende der DDR in der empirischen ler Forschungsplan aufgestellt wurde, der vom Polit-- sozialwissenschaftlichen Forschung führende Zen- büro des ZK der SED bestätigt werden mußte. Über tralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. Dieses war Einhaltung und Durchführung dieses Pl ans hatte die direkt dem Ministerrat, also der Regierung, unter-

Kreisleitung der SED zu wachen. Die ideologische stellt. Wenige Jahre nach seiner Gründung durfte Ausrichtung der Belegschaft der Akademie wurde dieses Institut seine empirischen Forschungsergeb- intensiviert, ebenso die straffe Anbindung an das ZK. nisse nicht mehr veröffentlichen und die instituts- Sicherheitspolitisch relevante Forschungsarbeiten eigene Zeitschrift „Jugendforschung" wurde einge- führten wohl dazu, daß die Staatssicherheit großen stellt.

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5.3 Lenkung und Instrumentalisierung Juristen" ausgebildet wurden. Die Stasi-Kader- der Forschung durch die SED schmiede besaß auch Promo tions- und Habilitations- recht, das sie mißbräuchlich für politische Zwecke Das Prinzip der Selbststeuerung der Wissenschaft nutzte [—> Expertise Voigt]. wurde von der SED-Führung auch für die Forschung In den ersten Jahren der SBZ/DDR wurde besonders außer Kraft gesetzt. Die Strukturen für die Forschung im Hochschulbereich die „Brechung des Bildungsmo- (Institutsgründungen oder -umstrukturierungen z. B.) nopols" der Bourgeoisie als Ziel verkündet und durch wurden von der Partei festgelegt, die Forschungsmit- entsprechende Maßnahmen (Förderung von Arbeiter- tel und von ihr als wich tig angesehene Forschungs- oder Bauernkindern) umgesetzt. In späteren Jahr- themen beschlossen, die leitenden Wissenschaftler zehnten kam es jedoch mehr und mehr zur Rekrutie- von ihr berufen. An den Hochschulen und Akademien rung der Studierenden aus den herrschenden Schich- hatten nach der 3. Hochschulreform die SED-Kreis- ten der Partei- und Militärbürokratie sowie aus der leitungen auch die Forschungspolitik zu bestimmen Intelligenz. Dem Ziel, hochqualifizierte, politisch aus- [—> Meyer, Schütrumpf, Protokoll Nr. 33]. gerichtete „Kader" heranzubilden, wurde durch Die Wissenschaftler gerieten aufgrund der externen strikte politische Auswahl nachgeholfen. So konnten Steuerung der Forschung unter Legitimierungs- männliche Studienbewerber ihre Aussichten, für lich zwänge. Es gab zwei grundsätzliche Begründungs- begehrte Fächer zugelassen zu werden, be trächt muster: Den Nutzen für die sozialistische Gesellschaft, erhöhen, wenn sie sich verpflichteten, drei Jahre statt den die jeweiligen Forschungsergebnisse erbringen achtzehn Monate ihren „Ehrendienst bei der Nationa- würden, und der ideologische Gewinn, der mit den len Volksarmee" abzuleisten. Die Hochschulen hatten auch die Aufgabe, „Kader" in höheren Leitungsposi- betreffenden Untersuchungen in der internationalen Klassenauseinandersetzung zu erzielen sei. Der For- tionen, die sich bereits politisch bewährt hatten, aber schungsalltag unterschied sich allerdings oft von die- keine ausreichenden Fachkenntnisse besaßen, fach- sen Begründungsvorgaben [—> Meyer, Protokoll lich weiterzubilden [--> Exper tise Voigt]. Der größte Nr. 33]. Die an den Universitäten und Akademien Teil der nur begrenzt anpassungsfähigen oder -berei- offiziell durchgeführte Forschung war in Plänen ten Wissenschaftler blieb im Mittelbau stecken, d. h. unterschiedlich hoher Ebenen niedergelegt. Es gab in meistens unbefristeten Stellen als wissenschaftliche Forschung, die in zentralen Staatsplänen verankert Assistenten oder Oberassistenten, in der Regel promo- war (sog. ZP-Themen), in Plänen auf Ministeriums- viert, oft auch habilitiert, aber ohne reale Aussicht, ebene (ZM-Themen) oder lediglich auf Universitäts- jemals als Hochschullehrer berufen zu werden. ebene.

Wegen der Ausrichtung auf den ökonomischen Nut- 5.4 Nachwirkungen des SED-geprägten Umgangs zen war die Industrieforschung in der DDR stark mit der Wissenschaft entwickelt. Die Pläne Wissenschaft und Technik erfuhren durch Parteivorgaben besondere Wertung. Lehre und Forschung wurden einerseits direkt von der Diese Kampagnen entsprachen den auf Parteitagen SED gelenkt, andererseits zur „wissenschaftlichen" der SED vorgegebenen Hauptzielstellungen. Auf die Steuerung von Wirtschaft, Kultur, Bildung und allen entsprechenden Betriebe wurden Staatsplanthemen, Bereichen des gesellschaftlichen Lebens instrumenta- Arbeitskräfte, Investitionen und Mate rial konzen- lisiert. Die DDR ist ein Beispiel für den Versuch triert. Staatsplanthemen waren in der Regel gleichzei- externer Steuerung der Wissenschaft. tig unter Parteikontrolle [--> Jork, Protokoll Nr. 33]. Die Neuordnung des Hochschulwesens in den neuen Politisch als wichtig erachtete Forschungsthemen und Bundesländern hatte vor allem die Wiederherstellung -arbeiten wurden oft geheimgehalten. Das hatte zur der Freiheit der Wissenschaft durch eine angemes- Folge, daß ein freier Informationsaustausch innerhalb sene Struktur der Hochschulen und der Forschungs- der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht möglich einrichtungen zum Ziel, ferner den Wiederaufbau der war, nicht einmal im eigenen Land. kulturwissenschaftlichen Fächer, die Besei tigung des Faches Marxismus-Leninismus, die erneute Wieder- Offen ist, ob durch solche Geheimforschungen inter- herstellung der Einheit von Forschung und Lehre essante wissenschaftliche Erkenntnisse erbracht wur- durch Abbau bzw. Neustrukturierung der Akademie den. Erste Recherchen lassen die Vermutung sinnvoll der Wissenschaften und anderer Forschungseinrich- erscheinen, daß das in der Regel nicht der Fa ll tungen. Mit diesen strukturellen Neuordnungen ging gewesen sein dürfte, außer vielleicht im militärischen der Abbau enormer Überkapazitäten einher, vor Bereich [--> Expertise Voigt]. Als besonders kritische allem aber auch die Entlassung solcher Wissenschaft- Gebiete, in der die Geheimhaltung recht intensiv und ler, die sich zum Nachteil ihrer Kollegen und Studen- extensiv betrieben wurde, galten militärische Berei- ten in den Dienst des MfS hatten einspannen las- che, andere „sicherheitsrelevante" Themen (z. B. aus sen. der Kriminalistik), ökonomische Fragestellungen, sportwissenschaftliche Untersuchungen (z. B. zu Trai- Zur Bewältigung dieser Probleme wurden in den ningsmethoden von Leistungssportlern) und empiri- einzelnen Ländern unterschiedliche Wege einge- sche Forschungsergebnisse aus den Sozialwissen- schlagen, und es muß späteren Untersuchungen und schaften. Generell geheim war die Tätigkeit an der Berichten vorbehalten bleiben, ein differenziertes und Juristischen Hochschule Potsdam des MfS [--> Arbeits- umfassendes Bild über diese noch nicht abgeschlosse- gruppe Staatssicherheit], an der Staatssicherheitsoffi- nen Vorgänge zu entwerfen. Das Bemühen durch ziere im Direkt- und Fernstudium zu „Diplom- Evaluierungen und durch Stasi-Überprüfungen eine

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 gerechte Auswahl unter den Be troffenen vorzuneh- 5.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der men, scheint im großen und ganzen gelungen, wenn SPD und der Sachverständigen Faulenbach, auch in Einzelfällen zweifelhafte Entscheidungen Gutzeit und Weber zur Funktion von getroffen wurden [---> AG Seilschaften]. Der Wieder- Wissenschaft und Forschung in der DDR aufbau einiger besonders be troffener Fächer war nur durch Berufungen westdeutscher oder ausländischer „Die Arbeitsgruppe der SPD in der Enquete-Kommis- Professoren möglich, weil in der DDR dafür überhaupt sion hält es für angebracht, in den Abschlußbericht kein qualifiziertes, nicht-kompromittiertes und erfah- keinen Abschnitt über das Thema Wissenschaft (und renes Hochschulpersonal vorhanden war. Forschung) aufzunehmen. Dafür gibt es a) formale und b) sachliche Gründe: Dies alles zusammengenommen führte zu mancher Unzuträglichkeit und wurde und wird von den Betrof- a) Die Kommission konnte sich aus Zeitgründen dem fenen vielfach nicht ganz verstanden oder falsch Thema nicht in der notwenigen Intensität zuwen- interpretiert. Durch die „Feststellung der Gleichwer- den. Zu den wichtigsten Problemkreisen wurden tigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Arti- keine Expertisen erstellt. In einer Anhörung wur- kel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages" wurden Aner- den nur Teilaspekte des Themas erörtert, so daß kennungen und Anerkennungsverfahren für alle mit zwangsläufig kein halbwegs vollständiges Bild von den Abschlüssen der alten Bundesländer vergleichba- der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in ren Bildungsabschlüssen der DDR durch die Kultus- der DDR bis zur Wende im Herbst 1989 sowie von ministerkonferenz der Länder festgelegt. Für die Stu- ihrer strukturellen wie ideologischen Bedeutung dierenden aus den neuen Bundesländern bedingt die für das Herrschaftssystem entstehen konnte. neue Situation an den Hochschulen (Strukturände- rung, Freiheit der Wissenschaft und Forschung), eine b) Eine nur beiläufige oder verknappte Darstellung erhebliche Umstellung und ein hohes Maß an Selb- der Funktion von Wissenschaft und Forschung in ständigkeit. der DDR widerspräche zunächst einmal dem Anspruch jener Menschen auf gerechte Beurtei- lung, die häufig ein ganzes Leben im Wissen- schafts- und Forschungsbetrieb der DDR verbracht 5.5 Offene Fragen und Forschungsdesiderata haben. Sie würde aber auch nicht dem Stellenwert gerecht, den dieses gesellschaftspolitische Ak- Rolle und Funktion der Wissenschaft im SED-Staat tionsfeld für die Herrschenden besessen hat. Für konnten von der Enquete-Kommission nicht einge- die hier notwendige und hinreichende Akkura- hend behandelt werden, so daß gerade in diesem tesse wäre die systematische Klärung einer Reihe Bereich vielfältige Themen für die weiterführende grundsätzlicher Fragen notwendig gewesen. Forschung empfohlen werden müssen: Hierzu gehörte: — Exemplarische Studien über einzelne Hochschu- len und Wissenschaftsdisziplinen sowie das Ver- — die Definition der Begriffe „Wissenschaft", halten von Wissenschaftlern bei dem Versuch der „Forschung" und vor allem „Wissenschaftlich- SED, die wissenschaftliche Entwicklung durch- keit" sowie „Wahrheit" im ideologischen gängig extern zu steuern Sprachhaushalt des in der DDR propagierten Marxismus-Leninismus (ML) — Auswirkungen marxistisch-leninistischer Dogmen und Prägungen auf die Geisteswissenschaften und — die Analyse der Folgen jener verhängnisvollen die Rolle und Funktion von Parteiinstitutionen im Tatsache, daß der ML in dogmatischer Weise als Bereich vor allem der Geisteswissenschaften eine Art „Oberwissenschaft" verordnet und bis in die Forschungsergebnisse der Einzelwissen- — Die Rolle der Industrieforschung in der DDR und schaften hinein als Kontrollinstrument der Wis- ihre Wirksamkeit in der sozialistischen Planwirt- senschaftsfunktionäre der SED eingesetzt schaft wurde — Auswirkungen der Bündnispolitik der SED mit der Intelligenz auf die Gegenwart — die sorgsame Analyse des Verhältnisses von Grundlagen- zur angewandten, von Akademie-, — Umfang und Ergebnisse nichtregulärer Forschun- Universitäts- und Industrieforschung in der gen in der Wissenschaft der DDR infolge persönli- DDR. In diesem Kontext wäre die Frage zu chen Engagements von Wissenschaftlern beantworten, warum die — auch im internatio- nalen Vergleich — erheblichen Mittel, die die — Ursachen und Folgen aus ideologischen Gründen SED über vier Jahrzehnte für Wissenschaft und verhinderter und abgelehnter Qualifikationsarbei- Forschung ausgegeben hat, in einigen Berei- ten an den Universitäten und Hochschulen der chen nur Mittelmäßigkeit erzeugt haben, und DDR warum in anderen, zumeist den natur- bzw. — Ursachen und Bedingungen für hohe Leistungen in technikwissenschaftlichen aber beachtliche, einzelnen Wissenschaftsdisziplinen trotz der stän- auch international beachtete Resultate erzielt digen Versuche der externen Einflußnahme, so in wurden der Linguistik oder in der Psychologie — die Kaderpolitik an den Lehr- und Forschungs- — Untersuchung der Frage, ob die Ausweitung von einrichtungen in den einzelnen Phasen der Fachschulen als Kompensation für die Einschrän- DDR-Geschichte einschließlich ihrer Auswir- kung des Hochschulstudiums zu werten ist. kungen auf die Lage der Studentenschaft und

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ihr Selbstverständnis (Versorgungsmentalität, formulierten ideologischen Herrschaftsanspruch. Anpassungsverhalten etc.) Ende der vierziger Jahre wurde die Kultur dann offen den Maßgaben einer stalinistischen Herrschaftspraxis — die (Anleitungs-) Funktion der außeruniversitä- unterworfen. ren, insbesondere der SED-Ins titute mit wissen- schaftlichem Anspruch (AfGW, IPW, IfML, Insti- Im Rückblick auf 45 Jahre SBZ/DDR läßt sich erken- tut für Meinungsforschung, Hochschule „Karl nen, daß die Kulturgeschichte der DDR einerseits zu Marx" etc.) einer Geschichte „verlorener Illusionen", anderer- seits zu einer Geschichte „ästhetischer Selbstbehaup- — die Erörterung der Frage, welche Folgen die tung" geriet [--> Expertise Thomas]. Damit wird ein ideologisch fixierte Vorstellung von der Pl an Grundkonflikt markiert, der die kulturellen Prozesse -barkeit von Wissenschaft und Forschung in der in der SBZ/DDR über vier Jahrzehnte in wechselhafter Praxis gehabt hat Ausprägung bestimmen sollte: Es war das Ziel der — die Darstellung der Formen der Abschottung Staatspartei, eine institutionelle Kultur zu etablieren, von Wissenschaft und Forschung von den inter- die den Normen ihrer utilitaristischen Scheinästhetik nationalen Kommunikationsströmen, v.a. den folgen sollte. Andererseits war es die Sehnsucht vieler westlichen, und ihre Folgen, einschließlich der Künstler einen authentischen Ausdruck für ihre internen, z. T. ins Absurde gesteigerten Ge- eigene Welt- und Selbsterfahrung zu finden sowie heimhaltungspraxis, die weit über den militär- eine autonome Kultur zu entwickeln. wissenschaftlichen und sicherheitspolitischen Dieser Antagonismus zwischen institutioneller und Bereich hinausreichte autonomer Kultur wurde auf unterschiedliche Weise — die Analyse der mittel- und unmittelbaren Ein- verarbeitet und führt auch heute noch zu einer unter- griffe der Partei in den Lehr- und Forschungs- schiedlichen Einschätzung der SED-Kulturpolitik und betrieb. ihrer Wirkungen in der ehemaligen DDR. Dies kam auch im Rahmen der Anhörung „Kunst und Kultur in Dieser Aufgabenkatalog ist nicht vollständig. Schon der DDR" und in manchen einschlägigen Expertisen die genannten Themenkomplexe lassen sich aber zu diesem Thema zum Ausdruck. Die Enquete-Kom- nicht en passant oder, wie im vorliegenden Fall, im mission hat einige dieser Widersprüche zu beleuchten Weg eines rhapsodischen Eklektizismus erledigen. versucht. Dabei ist deutlich geworden, daß auch im Für die Aufarbeitung der Geschichte eines Systems, Kulturbereich noch eine Fülle von Forschungsarbei- dessen Träger sich jeder Kritik mit dem Hinweis ten zu leisten ist. entzogen, daß ihre Politik auf einer wahren, weil „wissenschaftlichen Weltanschauung" beruht, ist — Waren bildende Kunst und Literatur tatsächlich jedoch die adäquate Bewertung der Funktion gerade immer nur Formen parteilicher Kultur, eine Waffe von Wissenschaft und Forschung unerläßlich. Hierbei zur weiteren Durchsetzung bzw. zur Aufrechter- wären insbesondere die schon vorliegenden Ergeb- haltung der politischen Herrschaft der SED-Füh- nisse der Wissens- und Wissenschaftssoziologie zu rung? berücksichtigen. Angesichts des Zeit- und Arbeits- — Waren Kunst und Literatur ausschließlich Waffen drucks, unter dem die Kommission stand, war das für den Sozialismus, wie Kurt Hager meinte? leider nicht möglich." — Setzt ein totalitäres Herrschaftssystem nicht auch schöpferisch künstlerische Energien frei oder ist Kultur nicht steuerbar, in ihren Wirkungen unbe- 6. Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit rechenbar, nicht abschirmbar gegenüber uner- wünschten Einflüssen? Vorbemerkung Dem Streit um die „Gesinnungsästhetik" folgte der Schock über die Skrupellosigkeit, mit der die Staats- Das SED-Regime versuchte, alle kulturellen Bereiche sicherheit die Kulturszene zu unterminieren suchte. .in den Dienst einer „Staatskultur" zu stellen. Bildende Zeitweilig wurde gar der Eindruck erweckt, als Kunst wie Literatur, Theater und Film, Musik, die könnte unter den Bedingungen einer Diktatur keine Kulturwissenschaften und die Architektur sollten die wirkliche Kunst entstehen, sondern nur eine „Staats- aus ideologischen Gründen verordneten Richtungen, kultur". Es ist offenkundig, daß es in der DDR eine vor allem den „sozialistischen Realismus" vertreten „Staatskultur" gegeben hat und sich „Kulturschaf- und das Bild des „sozialistischen Menschen" propa- fende" den bornierten Maßgaben der SED-Politik und gieren. Mittel der Durchsetzung dieser Ziele waren dem Reglement des Überwachungsstaates unterwor- die offene oder indirekte Zensur und ein Instrumenta- fen haben. Damit gewinnt die alte Frage nach dem rium von Kontroll-, Belohnungs- und Bestrafungsmaß- Verhältnis von Geist und Macht eine beklemmende nahmen, von der Vergabe von Preisen und Gewäh- Aktualität. In aller Regel hat die SED mit ihrer Politik rung von Privilegien, bis hin zur Verweigerung von die Kultur gezähmt und beschädigt. Die Kulturpolitik Vergünstigungen, dem Ausschluß aus Verbänden, blieb somit ein unerträglicher Störfaktor für die Künst- der strafrechtlichen Verfolgung oder der Ausweisung, ler [--> Jäger, Protokoll Nr. 35]. der Überwachung und „operativen Bearbeitung" Die Aufarbeitung der Kulturpolitik in der DDR steht durch das MfS [–> Walther, Protokoll Nr. 35]. aufgrund der jetzt zugänglichen Aktenbestände noch Anfangs verdeckte der demonst rierte Konsens den ganz am Anfang. Das gesamte Geflecht, die Einzel- von der KPD-Führung bereits 1944/45 in Moskau vorgänge, auch die Publikationsschicksale einzelner

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Werke, die Wege und Umwege von Personalentschei der Wahl der ästhetischen Mittel nicht zu mehr dungen usw. können erst durch den zusammenfassen widerständigem Verhalten der Künstler geführt, als es den Vergleich der Unterlagen des Kulturministeri vorher beobachtet werden konnte. Vielmehr gelang ums, der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees, es der SED mit Hilfe ihrer flexibleren Haltung, Rei- der Künstlerverbände, einschließlich der Akademie bungsverluste zwischen ihrer Kulturpolitik und den der Künste und der Staatssicherheit, voll erschlossen Künstlern abzubauen. Eine kulturpolitische Groß- werden. kampagne war der 1959 initiierte „Bitterfelder Weg". Künstlerisch tätige Laien sollten im Sinne des Slogans „Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalliteratur braucht dich! " mobilisiert werden. 6.1 Der kulturpolitische Anspruch der SED-Führung Außerdem sollten Künstler in die Betriebe gehen, um und Phasen der SED-Kulturpolitik den Werktätigen die Kunst nahezubringen. Aber bald wurde sichtbar: Diskussionen der Werktätigen zeig- Der Neuaufbau der Kulturlandschaft Deutschlands ten den Betriebsalltag zu kritisch, ließen die Planer- nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in der sowjeti- und Leiterebene vermissen, waren propagandistisch schen Besatzungszone sehr früh. Künstler, Intellektu- eher untauglich — insgesamt blieb auch die künstle- elle und Wissenschaftler kamen aus dem Exil zurück, rische Qualität zu weit zurück. Die „kulturrevolutio- nicht zuletzt deshalb, um einen Beitrag zum Aufbau näre" Initiative Bitterfeld, eine Ini tiative von oben, einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung zu wurde zuerst abgeschwächt, dann ganz begraben. leisten, wie von der KPD im Juni 1945 und wenig später von den anderen in der sowjetischen Besat- Die Kafka-Konferenz (27./28. Mai 1963) markierte in zungszone zugelassenen Parteien verkündet wurde. der Kulturpolitik der sechziger Jahre eine Zäsur. Jedoch vollzog sich dieser Neuaufbau unter der Parole Franz Kafkas Werk erschien auch als ein Deutungs- des Antifaschismus von Anfang an selektiv; d. h. muster für die Undurchsichtigkeit des bürokratischen bereits vor der Gründung der DDR hatte die sowjeti- Systems des Stalinismus. Eine Aktualisierung Kafkas sche Besatzungsmacht und die KPD bzw. spätere SED im Sinne einer literarisch gestalteten Anwendung der ihre kulturpolitischen Ziele zumindest perspektivisch Entfremdungstheorie auf das sozialistische System formuliert und zum Teil realisiert [–> Jäger, Protokoll selbst mußte zu einer politisch folgenschweren Nr. 35]. Erschütterung führen. Im Inneren wurden die Künst- ler auf eine parteiliche Kunst und Literatur „im Dienst Schon 1948 wurde vom Büro der Kominform verkün- von Volk und Fortschritt", auf den „sozialistischen det, daß es in den „Volksdemokratien" in der Kultur Realismus" verpflichtet [—> Exper tise Mechtenberg; keine eigenen Wege geben könne. Wie zuvor in der Jäger, Protokoll Nr. 35]. Sowjetunion wurde moderne Kunst in der Malerei und Architektur (so die Kampagne gegen die Bauhaus Unter den Bedingungen der DDR bestand aber seit Tradition) unterbunden. Hatten zunächst noch sowje- jeher ein Spannungsverhältnis zwischen der staatli- tische Kulturoffiziere zonenübergreifende Initiativen chen Kulturpolitik auf der einen und den „Kultur- gefördert und künstlerische Freiräume gesichert, schaffenden" auf der anderen Seite. Die Durchset- wurde der Einfluß des Stalinismus seit Anfang 1948 zung der Ziele der SED-Kulturpolitik über die Par- immer stärker. teiorganisationen auf den verschiedenen Ebenen, die staatlichen Organisationen sowie die einzelnen Die Kulturpolitik in der DDR hatte die Aufgabe, die Künstlerverbände blieb ein widerspruchsvo ller Pro- Herausbildung von sozialistischen Denk- und Verhal- zeß, der sich sowohl in verordneten Maßnahmen, als tensweisen zu fördern. Künstlergruppen, Kunsthoch- auch im nachträglichen Reagieren auf künstlerische schulen und Verbände wurden systematisch gleich- Entwicklungen vollzog. Die innere und die äußere geschaltet und Kunstwerke, die nicht den Vorstellun- Situation blieben maßgebend für die Art und Weise, in gen der Kulturabteilung des ZK der SED entsprachen der die Konflikte zwischen den „Kulturschaffenden" und von der vorgegebenen Sicht von der Rolle der und der Obrigkeit ausgetragen wurden [--> Bentzien, Partei und ihrer Politik abwichen, als dekadent und Protokoll Nr. 35; Bericht Michalk]. abweichlerisch verurteilt. Exemplarische Beispiele für die Konfliktaustragung Die „Kunstschaffenden" sollten ihren Beitrag zur zwischen den Kulturschaffenden und der Obrigkeit Festigung der kommunistischen Ideologie leisten und waren das gewaltsame Ende des Prager Frühlings zur Prägung der „sozialistischen Persönlichkeit" bei- 1968 und die Machtübernahme Honeckers 1971 in der tragen. Die entschiedene Parteinahme für den Sozia- DDR. In Ulbrichts harmonisches Konzept der „soziali- lismus beinhaltete zugleich ein Freund-Feind- stischen Menschengemeinschaft " ließ sich die subjek- Schema, das einerseits mit Hilfe der Kunst seinen tive Erfahrung widerspruchsvoller Wirklichkeit nicht ästhetischen Ausdruck finden sollte, das andererseits einfügen. So erscheint es beinahe zwangsläufig, daß aber auch zur Ablehnung „bürgerlich-dekadenter" sich die Kluft zwischen Kunst und Kulturpolitik zuneh- Kunstrichtungen und -entwicklungen führen konnte. - mend vertiefte. Erinnert sei hier an die „ismen"-Debatten (z. B. For- malismus) der fünfziger und sechziger Jahre, oder die Der Rücktritt Ulbrichts weckte zunächst neue Hoff- Ablehnung der Rock-Musik durch Ulb richt. In den nungen. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 siebziger Jahren änderte sich hier allerdings die registrierte der neue Parteichef, E rich Honecker, Taktik der Kulturpolitik. Die Künstler erlangten eine „Oberflächlichkeit, Außerlichkeit und Langeweile" in größere Freiheit in der Wahl der Form ihrer künstle- der DDR-Kultur und ermutigte die „Suche nach neuen rischen Mittel, ohne damit den Protest der SED Formen". Die Künstler sollten die „Breite und Vielfalt hervorzurufen. Allerdings hat die größere Freiheit in der Lebensäußerungen" mit dem „Reichtum ihrer

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Handschriften und Ausdrucksweisen" ausschöpfen Ausgehend von dem ideologisch bedingten Selbstver- und dadurch zur Prägung der „sozialistischen Persön- ständnis der Führungseliten und ihres Kulturbegriffes, lichkeit" beitragen. Es sollte keine „Tabus" geben, der dem „kommunistischen Klassenstandpunkt" und wenn man von „festen sozialistischen Positionen aus- damit der „sozialistischen Lebensweise" entsprechen geht" — erklärte Honecker im Dezember 1971. mußte, standen Parteilichkeit, „Volksverbundenheit" und „sozialistischer Ideengehalt" als Anspruch im Die Veröffentlichung verschiedener zurückgehalte- Mittelpunkt von Äußerungen, Richtlinien, Vereinba- ner Werke, zu denen u. a. Stefan Heyms „König David rungen und Aktivitäten. Gemeint war damit aber, daß Bericht", Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des die Auswärtige Kulturpolitik zuerst und vor allem den jungen W. " und Brigitte Reimanns „Franziska Linker politischen Interessen der DDR-Führung, der Ver- hand" zählten, wurde als Indiz für eine hoffnungsvolle wirklichung des sozialistischen Internationalismus Entwicklung aufgefaßt. Spätestens im Herbst 1976 sowie der Strategie und Taktik der nationalen Befrei- war das Ende aller Träume auf einen wirklichen ungsbewegungen in der Dritten Welt zu dienen hatte. Wandel der Kulturpolitik gekommen. Rainer Kunze Im Zuge der Entspannungspolitik hat sie darüber wurde nach der Veröffentlichung seines Buches „Die hinaus einen besonderen Beitrag zur Politik der wunderbaren Jahre" in der Bundesrepublik am „friedlichen Koexistenz", d. h. der Zusammenarbeit 26. Oktober 1976 aus dem Schriftstellerverband der unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zu leisten, DDR ausgeschlossen und konnte im April 1977 in die ohne jedoch den Klassenantagonismus in Frage zu Bundesrepublik ausreisen. Wenige Tage nach einem stellen. Konzert in Köln wurde Wolf Biermann am 16. Novem- ber 1976 die Staatsbürgerschaft der DDR entzogen Im Rahmen und als zusätzliches Instrument der Aus- und damit eine Zwangsausbürgerung veranlaßt, die wärtigen Politik wurden der Auswärtigen Kulturpoli- der ZK-Sekretär Kurt Hager zynisch als „reinigendes tik drei besondere Aufgaben übertragen: Gewitter" bezeichnete. Die „adminis trative Blitzak- — die Integration der sozialistischen Staaten nach tion" (M. Jäger) wurde von vielen Künstlern der DDR besten Kräften zu fördern als Schock empfunden. — offensiv die ideologische Auseinandersetzung des Die politische Reaktion der SED-Führung zerstörte Sozialismus mit dem „Imperialismus" mit allen jede Illusion. Aus dem „Fall Biermann" war ein kulturellen Mitteln zu unterstützen, um gleichzei- kulturpolitischer Grundkonflikt geworden, der den tig endgültigen Bruch zwischen Geist und Macht herbei- defensiv den „zersetzenden" Einfluß der „bürger- führte. Der kulturpolitische Klimawechsel äußerte — chen Pseudokultur" zu bekämpfen. Diese Auf- sich nicht nur in verschiedenen Parteiausschlußver- li gabe wurde nach Unterzeichnung der KSZE- fahren, sondern wurde vor allem durch die Ausreise Schlußakte (1975) im Hinblick auf den Korb III zahlreicher prominenter Künstler (wie E rich Loest, (Informationsfluß usw.) noch dringlicher. Rainer Kunze, Angelika Domröse, Hilmar Thate, Armin Mueller-Stahl, Manfred Krug, Günter Kunert, Nach der weltweiten Anerkennung der DDR und der Sarah Kirsch) bestätigt [--> VI. Themenfeld]. Dieser Aufnahme in die UN (1973) änderten sich die Schwer- Exodus wurde von der skrupellosen SED-Kulturpoli- punkte der Auswärtigen Kulturpolitik. In den Vorder- tik zunächst als Entlastung von Konflikten be trachtet, grund trat nunmehr die wachsende Konkurrenzsitua- doch bedeutete er vor allem einen wachsenden Pre- tion mit den kulturpolitischen Einflüssen der Bundes- stige- und Substanzverlust. Die Verstörung und Resi- republik Deutschland im Zeichen der Propagierung gnation vieler Künstler wurde vom Mißtrauen der einer „sozialistischen Nation" , verbunden mit einer SED-Politiker begleitet, die zu den Mitteln der Diffa- unmißverständlichen Abgrenzung von der Bundesre- mierung, der verschärften administrativen Kontrolle publik — also das Streben nach einer eigenen kultu- und der Überwachung durch die Staatssicherheit rellen Identität. Dieses Programm konnte allerdings griffen, um auf diese Weise die Kulturszene zu unter- nicht überzeugen, wie dies u. a. die Reaktionen in drücken. In der Kulturpolitik war eine neue Eiszeit mehreren sozialistischen Staaten des Warschauer angebrochen. Paktes und anderen Industrienationen verdeutlicht haben. Trotz beachtlicher Einzelerfolge konnte die Auch die Auswärtige Kulturpolitik der DDR hat bei Auswärtige Kulturpolitik der SED zu keinem Zeit- der angestrebten Systemstabilisierung des sozialisti- punkt — sieht man einmal vom Sport ab — die schen SED-Staates eine stetig wachsende, nicht zu Überlegenheit der „sozialistischen deutschen Natio- unterschätzende Rolle gespielt. Es dürfte jedoch nicht nalkultur" im Ausland beweisen. Das lag in erster leicht fallen, die De-facto-Wirkungen im Ausland im Linie an der Herrschaftspraxis der SED-Führung, der Sinne der jeweiligen Zielsetzung angemessen zu Mißachtung von Menschenrechten und dem einge- bewerten. Sicherlich waren diese regional unter- schränkten Handlungsspielraum für die Bürgerinnen schiedlich. Dort, wo die DDR weniger mit einer und Bürger der DDR Jacobsen, Protokoll Nr. 36]. Systemkonkurrenz (Bundesrepub lik Deutschland) zu- rechnen hatte, dürften sie nachhaltiger gewesen sein. Jedoch hat die Auswärtige Kulturpolitik in zahlrei- chen Fällen mitgeholfen, die Aufnahme diplomati- 6.2 Die Rolle der kulturellen Verbände bei der scher Beziehungen der DDR mit anderen Staaten zu Instrumentalisierung der Kultur erleichtern und die zunehmende Bedeutung des zwei- ten deutschen Staates in der internationalen Politik zu Der am 14. Juli 1945 gegründete Kulturbund trat als verdeutlichen [--> Jacobsen, Protokoll Nr. 36]. „antifaschistische Sammelbewegung" auf. Ursprüng-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 lich zur Stärkung des klassisch-humanistischen Erbes 6.3 Die Steuerung der kulturellen Tätigkeiten durch und zur Überwindung der Folgen des Nationalsozia- Repressionen und Privilegierung lismus gedacht, wurden auf diesem Wege die Künstler in eine kontrollierende Organisa tion eingebunden Obwohl offiziell eine Zensur bestritten wurde und und instrumentalisiert. Nur in den ersten Nachkriegs- man allenfalls von Maßnahmen zur Ausschaltung jahrenkonnten sich unter dem Dach des Kulturbundes feindlicher Einflüsse sprach, gab es mit der „Anord- unterschiedliche Posi tionen artikulieren. Die propa- nung über das Genehmigungsverfahren für die Her- gierten Leitsätze des Kulturbundes traten bereits in stellung von Druck- und Vervielfältigungserzeugnis- den Anfangsjahren zunehmend als angewandte Prin- sen" seit 1959 eine Handhabe für die Durchsetzung zipien der sozialistischen Kulturpolitik zutage. Letzt- der staatlichen Kontrolle. Vorbild für die Zensurme- lich war auch der Kulturbund — wie die anderen chanismen war die Sowjetunion [--> Faust, Protokoll Massenorganisationen — ein „Transmissionsriemen", Nr. 35]. eine Verbindung zwischen Partei und bestimmten Das 3. Strafrechts-Änderungsgesetz vom 28. Juni Bevölkerungsschichten [--> Expertise Mechtenberg; 1979 stellte die Weitergabe von „Nachrichten, Manu- Jäger, Protokoll Nr. 35]. skripten und anderen Mate rialien, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden" unter S trafe. Damit hatte sich Partei und Staat ein Rechtsmittel Der Verband Bildender Künstler war das entschei- geschaffen, das als latente Drohung über jeder nicht dende Werkzeug, um in diesem Bereich der Kunst genehmigten Drucklegung eines Manuskripts in der Zensur auszuüben. Mitgliedschaft in dem Berufsver- Bundesrepublik schwebte und der Partei den Ermes- band eröffnete — nach einer dreijährigen „Probezeit" sensspielraum gab, gegen kritische Schriftsteller als Kandidat — die Möglichkeit, künstlerisch tätig zu strafrechtlich vorzugehen. werden; denn der Verband vergab die Aufträge von Betrieben und den Abteilungen Kultur der Räte der Steuerungselemente in der Kulturpolitik waren z. B. Bezirke an die Künstler. Zensur wurde auch über den materielle Anreize, die bewußt eingesetzt wurden, Staatlichen Kunsthandel ausgeübt, der die Künstler jedoch oft eine Eigengesetzlichkeit entwickelten und auswählte, deren Werke ausgestellt werden durften den literaturpolitischen Zielsetzungen der SED-Füh- [--> Bohley, Protokoll Nr. 35]. rung oftmals entgegenwirkten. Die wich tigsten Anreize für Schriftsteller waren die hohen Auflagen, die bei der 1. Auflage durchschnittlich zwischen Der Schriftstellerverband, 1952 auf dem III. Deut- 10 000 und 25 000 Exemplare erreichten. Die Kalku- schen Schriftstellerkongreß gegründet, hatte eine lation beruhte auf gesichertem Absatz bei den zahl- Monopolstellung in der DDR, die weitgehend unter- reichen Büchereien der Betriebe und gesellschaftli- binden konnte, daß oppositionelle Schriftsteller in der chen Organisationen, dem stark ausgebauten öffent- Öffentlichkeit auftraten. Eine Aufnahme in den lichen Bibliothekswesen und der vielfach geübten Schriftstellerverband setzte eine kontinuierliche Praxis, Bücher als Prämien zu verschenken. Diese staatsloyale schriftstellerische Arbeit voraus; außer- materiellen Anreize (u. a. auch hohe Entgelte für dem benötigten die Kandidaten zwei Bürgen für die Fernseh- und Hörspiele, Anstellungen als Lektor oder Aufnahme. Die Mitgliedschaft im Schriftstellerver- Dramaturg) wurden durch ein ausgedehntes System band verbürgte einen bestimmten Anspruch auf von Preisen ergänzt. Wohn- und Arbeitsraum, auf Stipendien und Reisen, auf Kranken- und Sozialversicherung und hatte die Folge, daß die Schriftsteller im Verständnis der Behör- den als Berufstätige galten und nicht Gefahr liefen, 6.4 Die Rolle des MfS in die Nähe des kriminell Straffälligen zu geraten. bei der Durchsetzung der Kulturpolitik Nach der rechtswidrigen Biermann-Ausbürgerung wurde die Aufnahme in den Schriftstellerverband Das Thema DDR-Literatur und Staatssicherheit steht zunehmend restriktiver gehandhabt. Bewarben sich neben dem der Verstrickung der Kirchen und einzel- Schriftsteller nicht um die Aufnahme in den Schrift- ner Politiker an herausragender Stelle des öffentli- stellerverband, wurde ihnen die Arbeitsmöglich- chen Interesses. keit in der DDR in absehbarer Zeit erschwert und schließlich verwehrt [-> Exper tise Michael; Bericht Das Ministerium für Staatssicherheit verfügte über Michalk] . wenig Einsicht in die Besonderheiten von Literatur und Kunst. Sein Instrumentarium war darauf gerich- tet, primär die ideologischen Abweichungen und Zur kulturpolitischen Abhängigkeit gehörte auch die Gefährdungen zu messen. Der SED-Staat gründete Parteizugehörigkeit der Mehrzahl der Präsidiums- seine niemals legi timierte, usurpierte Macht nicht mitglieder des Schriftstellerverbandes, unter ihnen — unwesentlich auf eine normierte Sprachregelung, um wie wir heute wissen — zahlreiche Inoffizielle Mitar- Denk-Tabus hinter Worthülsen zu verstecken. In solch beiter (IM). Eine Vernetzung mit dem ZK der SED war einer Gesellschaft wird unreglementiertes Denken zudem durch den Präsidenten Hermann Kant gege- und Sprechen, wird das frei geführte Wort tatsächlich ben. Diese enge Verbindung von Politbüro, ZK, MfS und notwendigerweise zur Bedrohung des s treng und Parteiorganisation mit dem Schriftstellerverband bewachten Scheins. Dieses Unvermögen schuf Unsi- bot die Garantie dafür, daß kulturpolitische Be- cherheit, Mißtrauen bei den ohnmächtig Mächtigen schlüsse der SED innerhalb des Schriftstellerverban- und löste letztendlich den Impuls aus, die Kunst im des umgesetzt wurden. ganzen, wenn sie schon nicht total beherrschbar war,

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode vendoch wenigstens „Liberalität" umfassend zu überwachen. und Auflockerung Diese gegeben. Es hat mit den Jahren zunehmend hypertrophe Tendenz läßt gewiß eine „Staatskultur" gegeben. Besonders sich auch an der strukturellen und quantitativen augenfällig ist dies in der Architektur und in der Ausweitung der „literaturoperativen" Abteilung des inhaltlichen Gestaltung von Museen und Gedenkstät- MfS belegen [--> Walther, Protokoll Nr. 35; Exper tise ten [–> 6.8]. Im Bereich der Literatur und der bildenden Michael]. Kunst sind die Normen der SED jedoch immer wieder auch verletzt worden. Schriftsteller wählten den Aus- Der strukturelle Zugriff des Staatssicherheitsdienstes weg, ihre Werke in Westdeutschland zu veröffentli- auf die Bereiche Kultur, Bildung und Wissenschaft chen oder ganz in den Westen überzusiedeln, ihre erfolgte 1954 mit der Einrichtung einer Hauptabtei- Rückwirkung in die DDR war ihnen trotz alledem lung (HA V). 1969 — nach dem Prager Frühling — sicher. Doch auch die in der DDR erschienene Litera- verfügte Mielke die Schaffung einer eigenständigen tur überschritt den offiziellen Rahmen oft, die „Bot- Hauptabteilung (HA XX), deren vornehmliche Auf- schaften" steckten zwischen den Zeilen. gabe es bis 1989 war, das kulturelle Leben der DDR mit all seinen Einrichtungen zu kontrollieren und für Das tatsächliche Kunstschaffen vollzog sich demnach, eine reibungslose Durchsetzung der SED-Kulturpoli- nicht zuletzt wegen der flächendeckenden Überwa- tik zu sorgen. Das MfS observierte Schriftsteller und chung des kulturellen Bereichs durch das MfS, im ließ die Führungspositionen in Verlagen, Verbänden Schatten der SED-Politik, zugleich aber vielfach auch und anderen Kulturorganisationen mit Inoffiziellen im Streben nach mehr Autonomie und nach Auswei- Mitarbeitern besetzen. Nach den aufsehenerregen- tung der — je nach ideologischer Linie schwankenden den Vorgängen um Biermann, Havemann, Kunze u. a. — zugestandenen Freiräume. Anstelle einer uner- wurden die Aktivitäten der Stasi flächendeckend reichbaren Totalvereinnahmung mußte sich die SED ausgeweitet. Besondere Aufmerksamkeit widmete mehr und mehr mit einer flexiblen — teilweise auch das MfS ab 1979 dem künstlerischen Nachwuchs, um die Wünsche der Künstler und des Publikums berück- Ansätze auch systemimmanenter Kritik möglichst im sichtigenden — Kontrolle begnügen, blieb mit dieser Keime zu ersticken. Etwa 30-40 vH der Mitglieder aber insoweit erfolgreich, als auch in der Kunst Kritik des Präsidiums und Vorstandes des Schriftstellerver- im System nur bis zu einem gewissen Grad artikulier- bandes und des Verbandes Bildender Künstler waren bar, Grundsatzkritik am System — soweit sie über- Inoffizielle Mitarbeiter. Personen, die im kulturellen haupt gewollt war — öffentlichkeitsunfähig blieb Alternativbereich tätig waren und nicht als IM der H Schubert, Protokoll Nr. 36]. Staatssicherheit hervorgetreten sind (etwa fünfzehn bis zwanzig vH), wurden in Opera tiven Vorgängen verfolgt und observiert [–> Walther, Protokoll Nr. 35; Expertise Michael]. 6.5 Altemativkultur in der DDR Mechtenberg u. a. erbrachten aber auch den Nach- weis, daß für die DDR-Literatur in ihren besten Ver- In der DDR hatte sich in den achtziger Jahren eine tretern und Werken ein Emanzipationsprozeß von den „alternative/autonome Kultur" energisch zu Wort Auflagen der Kulturpolitik kennzeichnend war, der gemeldet. Sie bezeugt das künstlerische Selbstver- auch durch repressive Maßnahmen des MfS nicht ständnis einer Generation, die zwar in die DDR aufzuhalten war. Der schmerzliche, doch literarisch „hineingeboren" war, diese aber nicht mehr als ihr produktive Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin, eigenes Land erfahren wollte. Sie bezeugt die Skepsis der das Autonomiestreben bestimmte, hat nicht nur und den Widerstand einer Genera tion, die in ihrem Werke von literarischem R ang hervorgebracht, son- Staat nicht mehr eine fortschrittliche „Übergangsge- dern auch zu einer geistigen, letztlich auf die Über- sellschaft" sah, sondern eine „Untergangsgesell- windung des repressiven Systems gerichteten Ent- schaft". Die Erfahrungen dieser Generation hat Rei- wicklung beigetragen. Daher muß entgegen einer ner Müller in einer Würdigung Thomas Braschs so unter dem Eindruck der Diskussion um die Einfluß- charakterisiert: „Die Genera tion der heute Dreißig- nahme der Staatssicherheit auf die Literatur verbrei- jährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als teten Tendenz, den in der DDR verbliebenen Autoren Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als defor- ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen und ihre Werke mierte Realität." Kultur wird als Ausdruck der „Ver- als letztlich systemstabilisierend einzustufen, das antwortung vor sich selbst", als „Gegenwehr gegen Autonomiebestreben als Teil einer geistigen Wider- kollektive Vereinnahmung" (Stephan Ernst) verstan- standskultur gewertet werden [—> Exper tise Mechten- den. berg]. Vor allem ab Ende der siebziger/Anfang der achtziger Kunst und Kultur in der DDR waren mehr als nur Jahre bildete sich die Alternativkultur oder „zweite „Staatskultur" im Sinne der SED, obwohl die Partei Kultur" in der DDR heraus; sie war eine ausgegrenzte, mit ihren Instrumentarien des Regierungsapparates, „marginalisierte" [--> Böthig, Protokoll Nr. 36] Kultur. des Schriftstellerverbandes und des MfS dauerhafte Hierzu zählten Ausstellungen in p rivaten Wohn-, Einflußnahme versuchte. Die kulturpolitischen Richt- Produzenten- oder „Selbsthilfe"-Galerien, Leserei- linien des Staates konnten nun den Rahmen bestim- hen in Wohnungen und Ateliers oder in Kirchen, die men, innerhalb dessen die Künstler tätig sein durften. „Samisdat-Literatur" (Literaturzeitschriften, Künst- Die Künstler haben diesen Rahmen aber immer wie- lerbücher und politisch-kulturelle Informationszeit- der auch überschritten und haben ihn dadurch erwei- schriften), die unabhängige Musikszene. Die Ur- tert. Bei allen Rückschlägen und immer neuen Diszi- sprünge der Alternativ-Kulturszene reichen auf die plinierungsversuchen hat es auch Phasen einer relati- Zeit des massiven Vorgehens gegenüber Literatur

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und Kunst nach der Ausweisung Biermanns zurück, Die Fülle von Haftberichten, die von 1977 bis 1989 in nachdem 1978 die Bildung eines „Lektorats für Kul- der Bundesrepublik veröffentlicht wurden, zeigt, daß

tur „ durch die Abteilung Kultur des ZK der SED das unerwünschte Thema nicht mehr ignoriert oder verfügt worden war, welche die Biermann-Sympathi- auf Einzelfälle reduziert werden konnte. Dafür sorgte santen aus den Verlagen und Künstlerverbänden auch der Freikauf von Gefangenen, der Jahr um Jahr

entfernen ließ. Zwischen 1979 und 1989 erschienen mit Hunderten von Schicksalen aus dem SED-Staat

etwa 30 Zeitschriften im Selbstverlag, die zum Teil als bekannt machte. In den Zeitungen erschienen zuneh- lose Manuskriptsammlungen oder Abschriften von mend Berichte aus Bautzen, Br andenburg, Waldheim, Büchern herausgegeben wurden. Mit den Opposi- Hoheneck, aus einer totalitären Gegenwelt zum

tions- und Bürgerrechtsgruppen entstanden ab Mitte Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschl and. Hörspiele

der achtziger Jahre die ersten politisch-kulturellen im Rundfunk, später auch Zeugenbefragungen und

Informationszeitschriften. Jedoch bestanden partiell Spielfilme im Fernsehen wirkten wiederum hinein in

Verbindungen zwischen diesen Publikationen und die ummauerte Republik.

den literarischen Ausgaben, da die Mehrzahl der Autoren nicht oder nur am Rande an den Bürger- rechtsgruppen beteiligt war. 1988/89 versuchten Zeit- 6.7 Die Behandlung des kulturellen Erbes schriften wie „Kontext" und „Ostkreuz" Verbindun-

gen zu Oppositionsbewegungen in osteuropäischen Unter dem kulturellen Erbe verstand die SED „die Staaten herzustellen bzw. zu intensivieren. Gesamtheit von Bindungen, Beziehungen und Ergeb- nissen der geistigen Produktion vergangener ge- Die Alternativkultur oder „zweite Kultur" der DDR schichtlicher Epochen". Seine Bewertung „erfolgt war eine ausgegrenzte Kultur [--> Expertise Michael]. vom Standpunkt seiner praktischen Anwendung Sie war erst in zweiter Hinsicht eine politische Protest- durch soziale Gruppen (Klassen, Nationen), durch kultur. Ihre Brisanz bestand weniger darin, daß sie ganze Generationen und durch neue sozialökonomi- sich in Gegensatz zum Staat begab. Sie erregte sche Formationen". Aus dieser Doktrin ergaben sich Aufmerksamkeit, weil sie allein schon durch ihre für die kulturpolitische Praxis sowohl Schwerpunkte Existenz die kulturpolitische Hoheit und den Allein- als auch Widersprüche. vertretungsanspruch des Staates in Frage stellte. Alternativkultur läßt sich daher nur in eingeschränk- Die „Pflege des kulturellen Erbes " in der DDR steht im tem Maße als eine bewußt gewählte politische Alter- Zusammenhang mit einer auf die „sozialistische Per- native zum offiziellen Kulturbetrieb und zur Kulturpo- sönlichkeit" und die „sozialistische Nationalkultur"

litik der DDR verstehen. Viele Künstler, Galeristen, ausgerichteten Kulturpolitik und mit dem Anspruch

Musiker, Autoren und Kunst- und Literaturkritiker der SED, historische Vollenderin aller „progressiven"

begannen hier, weil es in der DDR keine anderen und „humanistischen" Tendenzen in der deutschen

Möglichkeiten für die unabhängige Arbeit und die Geschichte zu sein. Es ist eine Entwicklung zu ver-

öffentliche Wirksamkeit gab. Dies führte im Laufe der zeichnen, die von einer engen Auffassung des „Erbe

letzten fünfzehn Jahre dazu, daß sich bis 1989 eine Verständnisses" zu Beginn der fünfziger Jahre (z. B.

eigenständige kulturelle Infrastruktur mit einer zwar Abriß des Berliner Stadtschlosses) hin zu einer Diffe- eingeschränkten, aber lebendigen und stetig wach- renzierung zwischen „anzueignendem" und kritisch

senden Öffentlichkeit entwickelt hat [—> Exper tise auszusonderndem Erbe in den siebziger und achtziger

Michael]. Jahren (z. B. „Preußenrezeption", Rezeption der Romantik, Rekonstruktion ausgewählter historischer

Bauwerke und Stadtkerne) führte. Welche Phasen

und Zäsuren hierbei zu unterscheiden sind, ist bis

heute Gegenstand der Diskussion geblieben, die noch 6.6 DDR-Gefängnisliteratur und Haftberichte bei weitem nicht abgeschlossen ist [--> Expertisen

Schubert, Ackermann].

Neben Berichten über Flucht und Vertreibung aus Es lassen sich zwei Hauptphasen unterscheiden: Die dem historischen Ostdeutschland, neben der Kritik an Herausbildung der „Zwei-Linien-Theorie" sowie die- staatlicher Willkür, an ineffektiver Planwirtschaft und jenige der „Zwei-Traditionen-Theorie" seit dem wachsender Umweltverschmutzung zählte die Erfah- Beginn der siebziger Jahre. In der „Zwei-Linien- rung mit politischer Strafjustiz zu den verbotenen Theorie" liegt der Schwerpunkt auf der Herausbil- Themen der DDR-Literatur. Wie Monika Marons dung eines sozialistischen nationalen Geschichtsbil- Roman „Flugasche" (1981) über Umweltverschmut- des, die „Zwei-Traditionen-Theorie" hat dagegen das zung im Bitterfelder Industrierevier von keinem DDR- Ziel, neben der Integration der DDR-Geschichte in die Verlag veröffentlicht werden durfte, konnten auch Geschichte der sozialistischen Gemeinschaft, das politische Häftlinge, bei Strafe erneuter Festnahme gewonnene Geschichtsbild so auszuweiten und zu und Verurteilung, über ihre Erlebnisse in Gefängnis- - differenzieren, daß die DDR-Geschichte in ein erwei- sen, Zuchthäusern, Arbeitslagern nicht einmal im tertes Spektrum der deutschen und europäischen Verwandten- und Freundeskreis berichten. Eine Geschichte eingepaßt werden konnte [--> Exper tise gewisse „Lockerung" dieses Verbots war erst wenige Schubert]. Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer zu beobach-

ten, als im Sommer 1989 Christoph Heins Roman „Der Symptomatisch für diesen konfliktreichen Prozeß ist

Tangospieler" erschien. So blieb ein ganzer Sektor die Rezeption des kulturellen Erbes der deutschen

DDR-Wirklichkeit in der DDR-Literatur ausgespart Vergangenheit. In den ersten Jahren nach Gründung

[--> Expertise Bilke]. der DDR hielt die SED-Führung den Anspruch einer

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode einheitlichen deutschen Kulturnation aufrecht, bean- der von ihm erlassenen „Sozialistengesetze" hef tig spruchte jedoch schon damals das „fortschrittliche geschmähte Reichskanzler Otto von Bismarck einer Erbe" für sich und grenzte es von der „imperialisti- differenzierteren Bewertung unterzogen. Zwischen schen Kultur" im Westen Deutschlands ab. Zeitgleich der Biographie von Ingrid Mittenzwei über „F riedrich parallel zur Entwicklung der Formel vom „sozialisti- II. von Preußen" im Jahre 1979 und der Bismarck- schen deutschen Nationalstaat" verlief die Absage an Biographie von Ernst Engelberg im Jahre 1985 hat es das gesamtdeutsche kulturelle Erbe. eine vielbeachtete Umorientierung in der Tradi tions- pflege der DDR gegeben. Die Propagandisten und Kulturtheoretiker der SED versuchten, spezifische Traditionslinien einer „sozia- Das Bemühen um Traditionslinien zur Schaffung einer listischen deutschen Nationalkultur" herauszuarbei- eigenen nationalen Identität der DDR führte schließ- ten. Einzelne Abschnitte und Ereignisse der deut- lich auch zur Aneignung des kulturellen Erbes über schen Geschichte, etwa die Bauernkriege oder pro- eine verstärkte Förderung der Denkmalpflege [—> Ex- gressiv-realistische und sozialistisch-revolutionäre In- pertise Ackermann] und des Heimatgefühls. Auf alte halte der deutschen Literaturgeschichte, sind dabei in Traditionen beruhende Volksfeste, Umzüge, Kirmes- direktem Zusammenhang mit der gesellschaftspoliti- sen wurden zunehmend wiederentdeckt bzw. unter schen Entwicklung der DDR gestellt worden. Dies sozialistischen Vorzeichen wiederbelebt. geschah mit dem Anspruch, „die besten Traditionen der Geschichte und Kultur wieder zum Leben zu Der mehrfach festzustellende W andel im Erbe- und erwecken und im Sozialismus zu ihrer eigentlichen Traditionsverständnis der DDR spiegelt einen Prozeß, Blüte zu führen". Der Bundesrepublik Deutschl and der von der politischen Führung initiiert und gesteuert wurde das Recht auf Aneignung und Verwaltung des worden ist. Darin ist vor allem der Versuch der SED zu kulturellen Erbes abgesprochen. sehen, ihre Herrschaft überwiegend als Kontinuitäts- element der deutschen Geschichte zu legitimieren In dem Bemühen, ein eigenes DDR-Nationalgefühl zu und ihre Ideologie auf eine breitere historische Grund- entwickeln, und weil sich viele kulturelle Werte der lage zu stellen. Die verschiedenen Phasen und Zäsu- Vergangenheit nicht nahtlos in dieses Konzept einfü- ren des Erbeverständnisses der DDR zeigen deutlich, gen ließen, plädierte die SED-Führung für eine „kri- daß vor allem die Konstruktion der Tradi tion beliebig, tische Aneignung" des kulturellen Erbes. Das führte je nach politischen Gegebenheiten durch die staatli- in der Praxis zunächst zu einer verstärkten Pflege chen Organe im Sinne des ideologischen Bedarfs kultureller Werte und Traditionen auch aus den osteu- bestimmt wurde [—> Expertise Schubert]. ropäischen sozialistischen Ländern und der Sowjet- union; es hat aber auch die Auseinandersetzung mit Die DDR war gegen Ende ihrer Zeit selbst zur Tradi- früher verpönten oder ignorierten deutschen und tion erstarrt. Vierzig Jahre einer an der Klassik orien- ausländischen Kulturgütern (z. B. dem Surrealismus, tierten „Erbepflege" produzierten eine Kette von den Werken Robert Musils) ermöglicht. Wiederholungen oder Wieder-Hereinholungen. Eine ritualisiertes Programm wurde abgespult: mit Ge- Unter der Regentschaft von Ulb richt gab es fortlau- denkstätten, Feiertagen und Auszeichnungen; in fend kulturpolitische Anweisungen zum Kulturerbe, Schulen und Betrieben, in Massenorganisationen und in deren Gefolge auch Abkanzelungen und Streit. Massenmedien, bei Staat und Partei. Interess Eine kritische Diskussion begann erst mit dem ant war Anfangsschwung der frühen Honecker-Jahre. Vor eigentlich nur — und dies wurde besonders aus der Bundesrepublik mit großer Aufmerksamkeit regi- allem in der Literaturwissenschaft wollte m an das striert — wann die SED-Führung sich wieder welches Erbe in seiner „Gesamtheit" diskutieren. Germani- neue Stück deutscher Geschichte „aneignete". Nach sten und besonders Schriftsteller relativierten in den der Aneignung von Preußen und Luther blieb am Fachzeitschriften wie „Weimarer Beiträge" oder Ende nur noch die NS-Zeit und das, was m „Sinn und Form" die Urteile bekannter Persönlichkei- an ihr zuschrieb tabu bzw. eine „Erblast" der Westdeut- ten, welche wesentlich verantwortlich waren für das schen [—> Expertise Ackermann]. Kulturverständnis der SED-Mächtigen: „Was Erbe ist und was nicht — steht nicht ein für allemal fest" (H ans Kaufmann 1973). Besonders auffallend und in der DDR selbst nicht 6.8 Städtebau und Architektur unumstritten waren zu Beginn der achtziger Jahre zwei prinzipielle Wendungen in der Erbe-Rezeption: Für Städtebau und Architektur gab es kaum Möglich- der 200. Geburtstag Karl F riedrich Schinkels im Jahre keiten, Alternativen zur „Staatsarchitektur" zu ent- 1981 und die Ankündigung einer großen Preußen- wickeln. Das gesamte Bauwesen wurde zentral Ausstellung in West-Berlin führten zu einer Änderung gelenkt. Die SED „führte", d. h. sie leitete im Grunde des offiziellen, bisher weitgehend nega tiven Preußen- vom Politbüro aus über das do rt angeschlossene bildes. Sie wurde eingeleitet mit einer Biographie Sekretariat für Wirtschaft sowie über die Abteilung Friedrichs II. der Historikerin Ingrid Mittenzwei. Bauwesen des ZK das gesamte Baugeschehen der Danach verfügte Honecker persönlich die Wiederauf- DDR auf allen Ebenen, von der Planung im Baumini- stellung des Reiterstandbilds F riedrich des Großen sterium bis zur Verwirklichung auf der Baustelle. von Christian Daniel Rauch in der Ost-Berliner Straße Diese radikale Zuordnung von Städtebau und Archi- Unter den Linden. Die Vorbereitung des Luther- tektur zum Bauwesen als einem Volkswirtschafts- Jahres 1983 bot der DDR Anlaß, auch ihr bisheriges zweig führte nicht nur zur Geringschätzung, sondern Bild vom „Fürstenknecht" Martin Luther zu revidie- geradezu auch zur Beschneidung ihrer kulturellen ren. Kurze Zeit später wurde auch der früher wegen Dimension.

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Die Instrumentalisierung von Städtebau und Archi- Semperoper in Dresden, sondern vorzugsweise mit tektur durch den SED-Staat als Ausdruck der herr- dem Massenbau im Rahmen des Wohnungsbaupro- schenden Ideologie führte in der DDR — wie im gramms als Ausdruck seiner Sozialpolitik. Kein Wun- gesamten Block der sozialistischen Länder — zu den der, wenn er das bevorzugt dort tat, wo ,westliche' allgemein bekannten charakteristischen Merkmalen: Beobachter die DDR von innen und außen sehen Verfall der Innenstädte mit ihren (bürgerlichen) Indi- konnten: in Berlin. Die Wohnhochhäuser entlang der vidualbauten, Aufbau riesiger Gebäudekomplexe in Leipziger Straße — als Antwort auf die zuvor gebauten Blockbauweise mit normierten Wohnungen und mit Westberliner Hochhäuser „nebenan" — wie auch das stereotypen Plattenfassaden, versehen mit sozialen Wohngebiet an der Otto-Grotewohl-Straße, heute Einrichtungen wie Kinderbetreuungseinrichtungen, wieder Wilhelmstraße, waren — ganz im Sinne einer Altenbetreuungseinrichtungen, zentraler Gaststätte, städtebaulich-ideologisch gemeinten „Grenzbefesti- Einkaufsmöglichkeiten etc. Dieses städte- und woh- gung" — geradezu als Außenansicht der DDR über die nungsbaupolitische Konzept wurde zum sichtbaren Mauer hinweg errichtet worden [--> Expertise Ausdruck der „sozialistischen Integration" und Flierl] . Gleichschaltung der gesamten Bevölkerung. In den siebziger Jahren gab es keine neuen städte- In den frühen fünfziger Jahren ging es dem Staat baulichen Direktiven mehr. Das hing auch damit hauptsächlich darum, mit den Investitionen für die zusammen, daß das 1973 beschlossene Wohnungs- dringendsten Bauaufgaben zugleich Zeichen zu set- bauprogramm der DDR zur Lösung der Wohnungs- zen für den Neuaufbau der kriegszerstörten Städte im frage als soziales Problem nicht nur zum Kernstück — Rahmen des Aufbaus der neuen Gesellschaft. Haupt- wie es hieß — der Sozialpolitik erklärt, sondern auch tätigkeitsfelder waren neben dem Industriebau der zur Hauptbauaufgabe gemacht worden war, unter die Bau von Wohnungen und gesellschaftlichen Einrich- alles andere, auch der Städtebau subsumiert wurde. tungen für Kultur, Bildung und Sport, Handel und Städtebau wurde vorwiegend als Wohnungsbau Versorgung sowie für die neu zu installierenden betrieben, noch dazu fast ausschließlich extensiv auf staatlichen Verwaltungen. der ,grünen Wiese' am Rande der Stadt (Plattenbau- weise). Der Verfall der Innenstädte mit historischen Viele Bauprogramme waren durch das sowjetische Bauten, namentlich auch der „bürgerlichen Epoche", Vorbild geprägt, das für den ,sozialistischen Aufbau' wurde bewußt in Kauf genommen. Erst Anfang der in der DDR generell und die ,sozialistische' Entwick- achtziger Jahre wurden die dadurch eingetretenen lung von Städtebau und Architektur speziell — nach volkswirtschaftlichen und sozial-kulturellen Verluste dem Willen von Ulbricht — als verpflichtend galt. So einer solchen Stadtentwicklung beg riffen. Um dem entstanden in den fünfziger Jahren — angeregt durch Wohnungsbauprogramm eine tragfähige urbanisti- die repräsentativen Magistralen mit ihren Wohnstra- sche Dimension zu geben, erließ 1982 das Politbüro ßen in Moskau, Kiew und anderen sowjetischen des ZK der SED und der Ministerrat „Grundsätze für Städten — die großen Wohnungsbauensembles ent- die sozialistische Entwicklung von Städtebau und lang der Stalinallee in Berlin, an der Roßstraße in Architektur in der Deutschen Demokratischen Repu- Leipzig, am Altmarkt in Dresden, im Zentrum von blik" . Sie waren völlig unter dem Niveau, das die Magdeburg sowie an der Breite Straße in Rostock. Sie gesellschaftliche Situation erfordert hätte: Alle realen demonstrierten in durchaus differenzierter Anleihe an Entwicklungswidersprüche zwischen Leben und die empfohlenen 'nationalen Traditionen, die ge- Bauen, Wohnungsbau und Städtebau wie auch mög- wünschte „Neue Deutsche Architektur" mit neoklas- liche Varianten zu ihrer Lösung waren durch Wunsch- sizistischen, neobarocken und neogotischen Stilele- vorstellungen wegretuschiert; Ausdruck einer bereits menten. Vor allem die Stalinallee — die heutige konzeptionslos gewordenen Gesellschaft. Als sich Karl-Marx-Allee — ist zum Symbolbauwerk der DDR dann gegen Ende der achtziger Jahre immer mehr geworden. Mit gutem Grund wurde sie mit dem Tag herausstellte, daß die vielgepriesene Einheit von Wirt- der staatlichen Vereinigung Deutschlands zum denk- schafts- und Sozialpolitik nicht in der gedachten malgeschützten Objekt erklärt. harmonischen Übereinstimmung zu entwickeln war, Die Idee, in jeder bedeutenden Stadt, in erster Linie in sondern an ihren wachsenden Widersprüchen zerbre- der Hauptstadt und in den Bezirksstädten, je eine chen mußte, da stand auch die Stadtplanung vor nicht zentrale städtebauliche Dominante als politisch-ideo- beantwortbaren Fragen. logisches Symbol der Gesellschaft zu errichten, folgte Die Erwartungen, daß in der sozialistischen Gesell- sowohl dem sowjetischen Konzept vom Bau eines schaft wegen des Wegfalls von Bodenspekulantentum „obersten Gebäudes" der Stadt als auch der deut- die Architektur zu neuer Entfaltung kommen würde, schen Tradition der Stadtkrone. Die Projekte gingen hatten sich nicht erfüllt. Der in der Endzeit der DDR mit großflächigen Stadtzerstörungen einher und einsetzende Bau von Eigenheimen erfolgte in trostlo- betrafen die Städte Ber lin (Ost) — die Errichtung ser Uniformität. Einzig die Restaurierung einiger des Fernsehturms zerstörte die Reste des Marienvier- historischer Bauten in der Phase der „Pflege des tels —, Leipzig — das Universitätshochhaus erforderte kulturellen Erbes" führte zu anerkennenswerten Lei- den Abriß der gotischen Universitätskirche — und stungen wie dem Wiederaufbau des Ensembles der Jena — für das Zeiss-Hochhaus mußte ein Großteil der Bauten am Gendarmenmarkt und des Nikolaiviertels Jenaer Altstadt weichen. in Berlin. Auch einige der Sonderbauten für „hochan- In den siebziger Jahren präsentierte und repräsen- gebundene" gesellschaftliche Zwecke wie der Palast tierte sich der Staat nicht in erster Linie mit seinen der Republik, der Friedrichstadtpalast und einige solitären Sonderbauten wie dem Palast der Republik große Hotelbauten gelten als architektonischer Aus- in Berlin, dem Neuen Gewandhaus in Leipzig und der druck einer Epoche der deutschen Geschichte.

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6.9 Nachwirkungen und Forschungsdesiderata Verlauf wurden die bisherigen kommunalen Sportge- meinschaften durch Betriebssportgemeinschaften er- Die Nachwirkungen der sozialistischen Wohnungs- setzt. Am 17. März 1951 ordnete das ZK der SED die baupolitik der SBZ/DDR sind besonders dauerhaft Durchführung von „Aufgaben auf dem Gebiet der und können nicht beseitigt werden. Forschungen über Körperkultur und des Sports" an und forde rte die die psychosozialen Folgen der sozialistischen Wohn- planmäßige Ausweitung und Propagierung der vom bauviertel sowie Programme zu ihrer individuelleren DSA geleiteten „Demokratischen Sportbewegung": Gestaltung sind dringend erforderlich. Sie solle nicht mehr der Leitung durch FDGB und FDJ unterstehen, um so mehr bedürfe sie „der Unterstüt- Wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zung aller demokratischen Massenorganisationen". sind auch in der Kultur erhebliche Neuorientierungen Entsprechend der Organisationsstruktur des FDGB nach der Wende notwendig geworden. Vor allem die wurden die Betriebssportgemeinschaften in Sportver- Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System mit einigungen zusammengefaßt. Auf „Produktionsba- Wettbewerb und einer Fülle von Möglichkeiten, aber sis" entstanden achtzehn Sportvereinigungen. „Zur nur mit begrenzter beruflicher Sicherheit durch feste Verbesserung der Tätigkeit und Struktur der Demo- Anstellungsverhältnisse, erfordert von den nun weit- kratischen Sportbewegung" erfolgte am 27./28. April gehend freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern 1957 die Umwandlung des DSA in den Deutschen viel Umstellungs- und Risikobereitschaft. Sie bedeu- Turn- und Sportbund (DTSB). tet andererseits die Freisetzung der in diesen Berufen besonders notwendigen individuellen Entfaltungs- kraft. 7.2 Breitensport als Integrationsinstrument Für die kulturelle Breitenarbeit und die Einübung in demokratische Verhaltensweisen und Umgangsfor- Die außergewöhnlich große Förderung des Spo rts — men ist der Aufbau von Vereinen nach zwei Diktatu- auch mittels gesetzgeberischer Maßnahmen — war ren von unschätzbarer Bedeutung. Es sollten Möglich- durch die konkreten innen- und außenpolitischen keiten der Unterstützung dieses gesellschaftspolitisch Zielsetzungen der SED-Führung motiviert. Vorrangig wichtigen Aufbauprozesses durch die Regierungen innenpolitische Aufgaben des Sports waren seine des Bundes und der Länder geprüft werden. Beiträge zur Erhöhung der Produktivität und der Wehrkraft, zur Gesunderhaltung, zur Ausrichtung der Die Erforschung der psychosozialen Folgen der SED- Jugend am Leistungsprinzip und zur allgemeinen Politik ist in kultureller Hinsicht besonders bedeu- Mobilisierung der Bevölkerung. Im Mittelpunkt stand tungsvoll. Für den ideologisch bedingten Umgang mit die Erziehung zu „patriotisch-klassenbewußtem" dem historisch-kulturellen Erbe und für die ideolo- Denken und Handeln. Die Wertschätzung des Sports gisch geforderten Kunstrichtungen sind intensive For- als Phänomen von großer gesellschaftspolitischer schungsarbeiten in Verbindung mit den geisteswis- Bedeutung war sicherlich zum Teil auf Erfahrungen senschaftlichen Fächern notwendig. Ulbrichts in einem Arbeiter-Turn- und -Sportverein in der Weimarer Republik zurückzuführen. Ulb richt, dessen Name untrennbar mit dem Aufstieg des DDR Sports verbunden ist, verkündete 1958 die Massen 7. Rolle des Spo rts in der DDR sportlosung: „Jedermann an jedem Ort — einmal in der Woche Sport ", die später von ihm in „jede Woche mehrmals Sport" erweitert wurde. Ulb richt gab auch 7.1 Zentralistische Organisationen am 8. November 1964 vor Studenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig das Kommando zur Mobilisierung der Schüler und Stu- Im Zuge der Liquidation des Nationalsozialistischen denten für den Sport. Reichsbundes für Leibesübungen verfügte die Kon- trollratsdirektive Nr. 23 vom 17. Dezember 1945 die Die Zusammenarbeit zwischen DTSB sowie FDGB Auflösung aller Turn- und Sportvereine in Deutsch- und FDJ diente vorrangig der Intensivierung des land. Der zweite Teil dieser Direktive bestimmte die Massensports. Im DDR-Gesetzblatt vom 30. Novem- Zulassung „nichtmilitärischer Sportorganisationen lo- ber 1972 wurde die Anordnung über die Wahrneh- kalen Charakters". mung der Verantwortung der Betriebe und staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet von Körperkultur und Unter Aufsicht der Sowjetischen Militäradministra- Sport veröffentlicht. Den Leitern der Volkseigenen tion in Deutschland (SMAD) begannen 1946 ehema- Betriebe und staatlichen Einrichtungen ist damit die lige Arbeitersportler und zur Mitarbeit bereite Funk- volle Verantwortung für eine regelmäßige und inten- tionäre mit dem Aufbau einer zentralistischen Sport- sive sportliche Betätigung der Bürger übertragen organisation nach sowjetischem Vorbild. Im Juni 1948 worden. Während der seit 1959 jährlich im Juni setzte eine breit angelegte Kampagne zur Neuorgani- - veranstalteten „Woche der Jugend und Sportler" zur sation des Sports ein, die vorher in allen ihren Einzel- „Mobilisierung einer bewußten schöpferischen Mitar- heiten zwischen der SMAD, der SED, der FDJ, dem beit im Kampf für den Sieg des Sozialismus und die FDGB und den Verwaltungsstellen des Kommunal- Sicherung des Friedens" kam es zu einer Fülle mas- sports vereinbart und vorbereitet worden war. Mit sensportlicher Veranstaltungen. Zustimmung der SMAD kündigten am 1. August 1948 FDJ und FDGB übereinstimmend die Gründung des Im Gegensatz zu den ständig erweiterten Sportaktivi Deutschen Sport-Ausschusses (DSA) an. Im späteren täten von FDGB und FDJ dienten sportliche Förde-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 rungsmaßnahmen der Nationalen Volksarmee und 7.3 Leistungssport der Volkspolizei sowie des Staatssicherheitsdienstes vorwiegend dem Leistungssport. Bis Ende 1956 war Der staatstragende DDR-Spo rt war zentralistisch auf der Grundlage der militärischen Struktur organisiert, generalstabsmäßig geführt (opera tiv ge- die Organisation der Armeesportklubs (ASK) und lenkt), straff reguliert und in seiner Leistungseffekti- der Armeesportgemeinschaften (ASG) abgeschlos- vität wie auch in der ideologisch-poli tischen Zuverläs- sen. sigkeit konsequent kontrolliert. Die personelle und oft strukturelle Vernetzung mit der Partei und ihren Die Sportpolitik der SED verfolgte unterschiedliche Organen, einschließlich des MfS, auf allen Ebenen gesellschaftspolitische Absichten. Die erzieherischen erlaubte die durchgängige Verwirklichung der ver- und rekreativen Aspekte des Spo rts sind unter diesen bindlichen Pläne und Direktiven. Sie wurden grund- Zielsetzungen ebenso zu subsumieren wie gezielte sätzlich von den Spitzengremien der SED als der Integrations-, Mobilisierungs- und Disziplinierungs- entscheidenden Befehlszentrale beschlossen und aufgaben. Verschränkungen von augenscheinlich kontrolliert; dem „gesellschaftlichen Dienstleistungs- politisch neutralen oder rein individuellen Wirkungen kombinat Sport" war keine Sonderrolle eingeräumt des gesamten Sportsystems in staatlich dominierten [--> Expertise Krebs]. Die Staats- und Parteifüh- Organisationen, Verbänden, den Sportgemeinschaf- rung der DDR sah im Leistungssport eine hervorr- ten, der Wissenschaft und dem Schul- und Hochschul- agende Möglichkeit, sich interna tional darzustellen. bereich mit der Freizeit und dem persönlichen Sport- Davon zeugt z. B. die vielgebrauchte Bezeichnung erlebnis müssen in die Be trachtung einbezogen wer- der Spitzensportler als „Diplomaten im Trainings- den. anzug".

Der Sport besaß für Partei und Politik als „Mehr- Der internationale Sportverkehr war — im Jargon der zweckwaffe" im Inneren und als Sympathieträger- SED — „ein wichtiges Feld der Klassenauseinander- welle des Sozialismus nach außen eine herausragende setzung" sowohl im „Weltmaßstab" als auch, und dies Bedeutung. Vor allem in den späten siebziger und im besonderen Maße, zwischen den beiden deutschen achtziger Jahren sollte der DDR-Sport mit seinen Staaten. Der Sport sollte dem außenpolitischen Anse- international erfolgreichen Athleten und „sozialisti- hen der DDR dienen und zugleich Ausdruck der schen Kollektiven" die zunehmend bedrohte innere Überlegenheit des Sozialismus sein. In der Tat Stabilität stützen, das Regime als Basis dieses Erfolgs- erreichte die DDR auf diesem Feld, worum sie sich system bestätigen und die geistige Konformität sonst vergeblich mühte: „Weltniveau" Holzwei- sichern helfen [—> Expertise Krebs]. ßig, Hiller, Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses]. Der Sport war natürlich auch innenpolitischer Integra- Nur so erklärt sich der ungeheure Aufwand in perso- tionsfaktor und sollte zur Identitätsfindung weiter neller, finanzieller und materieller Hinsicht, den die Teile der Bevölkerung mit dem politischen System Partei- und Staatsführung der DDR betrieb, um ein beitragen. eher Meines Land wie die DDR zu einer der führenden Die gesellschaftliche und materielle Anerkennung „Sportnationen" der Welt zu entwickeln. So wurden sportlicher Erfolge, aktiven systemkonformen Verhal- im Jahre 1989 allein für die Zuwendungen an Sportler tens, wenngleich es zuweilen als Pflichtübung ver- und für Löhne im unmittelbaren Trainingsbereich standen wurde, und einer wie auch immer bezeugten über 190 Millionen Mark ausgegeben. Die gesamten politisch-ideologischen Zuverlässigkeit galten als Ausgaben, von Bau und Unterhaltung der Trainings- starke Motivationsanstöße im Spitzensport [--> Picken- objekte bis zur Finanzierung der Forschung, umfaßten hain, Hummel, Protokoll Nr.35 des Sportausschusses, ein Vielfaches davon [--> Geiger, Protokoll Nr. 35 des Expertise Krebs]. Sportausschusses]. Die Vorteile umfaßten eine breite attraktive Pa- Ob der Sport den angestrebten wirksamen Beitrag zur lette: DDR-eigenen Identität leistete, war seit jeher unge- Prestigegewinn und soziale Absicherung ein- wiß. Auch in der DDR nahm der Freizeit- und Erho- — lungssport eine besondere gesundheits- und freizeit- schließlich des gesicherten Schul- und Hochschul- abschlusses mit beruflicher Perspektive von Offi- politische Bedeutung ein. Sie ging über die Erhaltung zierspositionen in NVA und MfS sowie von Kader- der Arbeitskraft hinaus und beeinflußte das (offenbar neutrale) individuelle Wohlbefinden und die Lebens- stellen in Trägerbetrieben ähnlich wie bei Studen- ten die Freistellungen für den nach professionel- freude Dreger, Protokoll Nr. 35 des Sportausschus- dard betriebenen Spitzensport erlaub- ses, Expertise Krebs]. Der Breitensport als Wettkampf- lem Stan sport auf unterer Ebene und der sozialpolitisch ten bedeutsame Freizeit- und Erholungssport oder Mas- — materielle Vergünstigungen, wie die bevorzugte sensport besaßen im Sportsystem der DDR verbal eine Zuteilung von Wohnungen oder Häusern, von hohe Bedeutung. In der Realität standen diese Berei- Autos und anderen, der Mehrheit der Bevölkerung che mit ihrer oft unzureichenden Infrastruktur im erst nach langen Wartefristen zugänglichen „Lu- Schatten des Leistungssports. Es gehört zu den Absur- xusgütern" ditäten des DDR-Sports, daß im Breitensport trotz vielfältiger Kontrollen und Überwachungen größere — festgelegte Prämienzahlungen für Erfolge, die mit Spielräume und mehr Chancen für Eigeninitiativen Orden und abgestuften Auszeichnungen, wie bestanden als im durchreglementierten Aushänge- „Meister des Sports" und „Verdienter Meister des schild Leistungssport. Sports ", gekoppelt waren

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— die Möglichkeit von Auslandsreisen, mitunter quente, alle wesentlichen Mitarbeiter einschließlich auch für Spitzensportler, deren nichtkonformes der Medien umfassende Kaderpolitik durch ZK und Umfeld westliche Auslandsbesuche eigentlich Politbüro legte den Grund für die effektive, exakte ausgeschlossen hätte. und zugleich flexible Durchsetzung der Direktiven und Pläne [—> Expertise Krebs]. Die Privilegien und Vorteile für Leistungen im Dienste der DDR waren integraler Bestandteil eines ausge- Für die außergewöhnliche Bedeutung des Sports prägten Systems von Belohnungen und abschrecken- spricht, daß der für Sicherheit zuständige Sekretär des den Sanktionen. Der stets drohende Entzug dieser ZK auch für den Sport verantwortlich war. In Fragen Vorrangstellung und der Rückfall in die soziale der Finanz-, Außen- und Deutschlandpolitik erteilte er Bedeutungslosigkeit oder gar die Ausgrenzung dem DTSB-Präsidenten Ewald die Weisungen. Die gehörten zum System skrupelloser Gefügigma- Präsidiumsmitglieder des DTSB, des NOK und der chung. Fachverbände wurden vor ihrer Bestätigung von der Kaderkommission der Partei „durchleuchtet". Das Politbüro gab die Zustimmung zu den Berufungen, 7.4 Doping im DDR-Leistungssport entließ auch, setzte um oder ordnete Bestrafungen an: „Die politisch richtige Besetzung ist zu sichern", so ein Nach dem Ende der DDR konnten trotz umfangreicher Politbürobeschluß bereits 1959. Dokumentenvernichtungsaktionen bisher noch über Die steuernde Rolle des MfS auf allen Ebenen dieses 150 eindeutige und in ihrer Qualität unanfechtbare Kontrollsystems entsprach dem Verständnis vom Schriftstücke zur Dopingpraxis im Sport der DDR Sport als „Gebiet, wo die ideologische Diversion zum sichergestellt werden. Sie waren meist als „Vertrauli- Tragen kommt" (Mielke, 1992) und vor allem dem che Verschlußsachen" (VVS) bzw. „Vertrauliche leistungssportlichen Geheimbereich. Zuständig für Dienstsachen" (VD) geführt und beweisen ein umfan- den Sport war die Hauptabteilung XX/3 [—> Geiger, greiches, staatlich angeordnetes und gelenktes Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses], die alle zen- Dopingsystem im DDR-Spo rt spätestens seit 1967. Seit tralen Einrichtungen und Organisationen, einschließ- Anfang der siebziger Jahre wurden Dopingmittel von lich der hauseigenen Sportvereinigung Dynamo der DDR-Regierung und ihrem Sportmedizinischen sowie der GST, zudem die Sportler, Funktionäre und Dienst Jahr für Jahr in den meisten Sportarten und bei Begleiter bei Reisen in das Nicht-Sozialistische Aus- Tausenden von Sportlern zur Leistungssteigerung land (NSA) wie auch die Redaktion des „Deutschen benutzt. Schädliche Nebenwirkungen wurden in Kauf Sport-Echo" und den Sportverlag zu kontrollieren genommen und z. T. sogar in den Berichten verzeich- hatte. Die „Qualität der jeweiligen Aufgaben" und die net. In der Regel erfolgte keine Aufklärung der Sensibilität der Einsatzbereiche waren ausschlagge- Sportler über die Natur der Dopingmittel und die bend für die Tätigkeit des MfS: Überwachung der Nebenwirkungsrisiken; die Be troffenen mußten sich Reisekader, einschließlich der in das nichtsozialisti- vielmehr zu strenger Geheimhaltung verpflichten. sche Ausland Reisenden, der mit IM durchsetzten Der durch Doping erzielte Leistungszuwachs wurde Mannschaften und der Sportjournalisten, der Funk- systematisch ausgewertet. Besondere Forschungspro- tionsträger in den Leistungszentren und von „Perso- jekte befaßten sich mit der Entwicklung von Metho- nen, die maßgeblich an der Erarbeitung wissenschaft- den zum „Unterlaufen" der internationalen Doping- lich fundierter Lösungen zur Trainings- und Lei- kontrollen; einige dieser Betrugsmethoden sind stungsentwicklung oder Personen, die Aufgaben schließlich routinemäßig eingesetzt worden. Der haben im Bereich der Forschung und Entwicklung systematische Verstoß gegen die Regeln des interna- neuer Höchstleistungen ermöglichender Wettkampf- tionalen Sports sowie der ärztlichen und wissenschaft- geräte und die zur Entwicklung neuer sportmedizini- lichen Ethik, aber auch gegen Gesetze der DDR, scher diagnostischer Methoden eingesetzt sind". wurde durch Sprachregelungen verschleiert und mit Gerade für den sensiblen Sicherheitsbereich des der politischen Zielsetzung und der weltanschaulich- Sports galt Mielkes Devise: „Wir müssen a lles erfah- moralischen Überlegenheit des eigenen politischen ren. Es darf an uns nichts vorbeigehen. " Systems begründet [--> Fr anke, de Marées, Picken- hain, Kruczek, Protokoll Nr. 35 des Sportausschus- Das MfS diente nicht nur zur Kontrolle und Überwa ses]. chung — so war die Olympiamannschaft und deren Begleiter in Lake Placid 1980 zu 20 vH mit MfS- Mitarbeitern durchsetzt —, sondern auch zur defensi- ven Abwehr und aktiven Aufklärung. Daran wirkten 7.5 Die Rolle der SED und des MfS bei der auch andere Abteilungen des MfS wie die Hauptver- Durchsetzung der Sportpolitik waltung A mit. Im Vordergrund standen Informatio- nen aus internationalen Sportgremien, sportpolitische Als Schaltstelle zwischen den Sportorganisationen Konzeptionen „zur Feststellung und Präzisierung der und der Parteiführung diente die Abteilung Sport Angriffsrichtung der Gegner" sowie das Eindringen in beim ZK der SED, die 23 Jahre lang von Rudi - genau präzisierte „Gegenobjekte der Leistungssport- Hellmann geleitet wurde. Das Politbüro faßte alle forschung" vor allem in der Bundesrepublik Deutsch- grundsätzlichen Beschlüsse und Direktiven, beschloß land. In das Hochsicherheitssystem der Dopingmani- Pläne und sportpolitischen Konzeptionen, fällte pulationen war das MfS entscheidend integ riert zudem die personellen Entscheidungen. Die Sport- [--> Geiger, Protokoll Nr. 35 des Sportausschusses]. führung konnte auf ein großes Maß an Selbständigkeit der sporteigenen Kompetenz und das Machtpotential Das MfS, das auch im Bereich Sport mit dem KGB eng von Partei und Regierung zurückgreifen. Die konse kooperierte, beteiligte sich an der Überwachung von

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Republikflüchtigen, „abwerbeverdächtigen" Perso- haben. Die Verstrickungen von Athleten, Trainern, nen oder von sportpolitischen Kontrahenten in der Wissenschaftlern und Funktionsträgern mit dem MfS Bundesrepublik Deutschland; es schreckte dabei und den geheimen, von der Partei- und Sportführung selbst vor brutaler Gewalt nicht zurück [---> Bericht der angeordneten Doping- und Manipulationspraktiken Gauck-Behörde zum Leistungssport, MfS und Doping, gehören neben dem geduldeten Verrottungsprozeß 1993]. der Sportstätten zu den Relikten, die den reibungslo- sen Vereinigungsprozeß zweier unterschiedlicher Sportorganisationen am meisten belasten. Dazu 7.6 Folgen der SED-Sportpolitik, gehört im übrigen auch das oktroyierte Unschuldsbe- Forschungsdesiderate und Empfehlungen wußtsein. Die Strukturen des DDR-Leistungssports waren orga- Das von der Konkurrenz neidvoll betrachtete Sportsy- nisatorisch eng miteinander verzahnt: von den Trai- stem effektivster Leistungskonzentration, das noch ningszentren über die Kinder- und Jugendsportschu- 1989 westdeutsche Sportmanager als zu kopierende len bis zu den Leistungszentren der Sportclubs, die Herausforderung ansahen, war keineswegs monoli- konsequente wissenschaftliche und medizinische thisch oder gar widerspruchsfrei. Im Gegenteil, es Betreuung, einschließlich des Dopingeinsatzes, der verlangte ein hohes Maß von Ausbalancierung unter- Leistungskontrolle und der sicherheitspolitischen und schiedlicher, auch gegenläufiger Faktoren im Unter- ideologischen Kontrolle. Die Planungsziele wurden bau des durchgeplanten Erfolgssystems hoher äuße- im olympischen Vier-Jahres-Rhythmus von der Par- rer Qualität mit dem legitimierenden und motivieren- teispitze festgelegt. Die propagandistische Begleitung den ideologischen Überbau. Dieser Spagat zwischen durch die parteiischen Medien als „Teil des Teams" dem Pragmatismus der Sportführung und der die war gesichert. Eine hervorragende personelle und Sportpolitik legitimierenden Ideologie schien lange materielle Ausstattung schuf den nötigen Unterbau, Zeit gelungen — allerdings auf Kosten moralischer der nach der Wende zumeist zusammenbrach. Substanz, ungezählter seelischer und physischer Opfer, des Breitensports, der sportbezogenen Ehren- Den in die deutsche Einheit hineinwirkenden interna- amtlichkeit und der verluderten Infrastruktur. Diese tionalen Erfolgen von Sportlern, deren Karriere in der entscheidenden Aspekte sind bei der Beurteilung der DDR begonnen hatte, stehen zahlreiche bittere Hin- politischen Instrumentalisierung des Spo rts in der terlassenschaften gegenüber: DDR ebenso einzubeziehen wie die beherrschende Rolle der SED, deren Organisation das eigentliche — die Verwahrlosung von fast 90 vH der Sportanla- Machtzentrum darstellte, und die dienenden Struktu- gen, für deren Wiederherstellung — ohne die ren des MfS, die Wissenschaft und die Medien. nötigen Neubauten — rund 25 Milliarden DM notwendig sind Vergleiche mit dem Sport der Bundesrepublik Deutschland können trotz augenscheinlicher techni- — die personellen, organisatorischen und finanziel- scher und organisatorischer Parallelen im Leistungs- len Schwierigkeiten beim Neuaufbau eines demo- sport nur schwerlich gezogen werden, weil die Struk- kratischen und selbstverantwortlichen Vereinswe- turen im Kern inkommensurabel sind. Die Gründe sens durch die Austrocknung der Ehrenamtlichkeit hierfür liegen in der ideologischen Einpassung und in in vielen Sportarten den legitimierenden Prinzipien sowie in der „Skrupel- losigkeit der feudalistischen sportpolitischen Herr- — Leistungsdefizite und beeinträchtigte Vorbild- schaftsklasse der DDR" [--> Expertise Krebs]. funktionen durch Dopingpraktiken Das vereinte Deutschland nutzt zwar Hochleistungs- — Aufklärung und Aufarbeitung der Verstrickungen erfolge aus der DDR-Substanz, muß aber noch auf von Athleten, Trainern, Wissenschaftlern und Jahrzehnte hinaus die Schulden in Milliardenhöhe Funktionsträgern über die von der Partei- und bezahlen, die das Sportregime der SED hinterlassen Sportführung der DDR angeordneten Doping- und hat. Vor allem aber bleibt die kaum meßbare Schuld Manipulationspraktiken, die berücksichtigen, daß an seelischen Schäden und Verkrümmungen, die solche Praktiken nicht nur in der DDR existier- Funktionäre und Mediziner den Sportlern zugefügt ten.

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III. Themenfeld: Recht, Justiz und Polizei im SED - Staat

Inhalt a) Beratungsverlauf a) Beratungsverlauf Im Themenfeld III „Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat" waren nach dem Arbeitsplan der 1. Öffentliche Anhörungen Enquete-Kommission vor allem folgende Themen zu untersuchen: 2. Expertisen — Exemplarische Maßnahmen beim Aufbau des Re- pressionsapparates: b) Bericht „Speziallager" 1945-1950 Die Waldheimer-Prozesse 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz began- Deportationen in die Sowjetunion genen Unrechts — Strafrecht, Strafjustiz und Strafvollzug 2. Unterschiedliche Phasen des Unrechts — Auf- und Ausbau der Grenzanlagen (u. a. Mai 2.1 Die ersten Jahre der SBZ/DDR 1952; 13. August 1961); Schießbefehl und Gewalt 2.2 Auswirkungen der Entstalinisierung und des an der innerdeutschen Grenze Mauerbaus 2.3 Erneute Verhärtung seit Ende der sechziger — Die internationalen Menschenrechtskonventionen Jahre und -normen als Bewertungsmaßstab für die Beur- 2.4 Abwehr der „Peres troika" aus der Sowjet- teilung persönlicher Verantwortung im SED- union Staat.

3. Die Instrumente des Justizunrechts Die Enquete-Kommission bearbeitete das Themen- 3.1 Die Umwandlung des Rechtsbegriffs feld III im Rahmen von vier Öffentlichen Anhörungen. 3.2 Die Abwehr der Schutzwirkung der Menschen- Außerdem gab sie elf Expertisen in Auftrag. rechte 3.3 Die Umgestaltung von Rekrutierung und Aus- bildung der Juristen 1. Öffentliche Anhörungen 3.4 Die Verhinderung einer unabhängigen Rechts- wissenschaft Im Zeitraum vom Mai bis Juni 1993 wurden folgende 3.5 Einflußnahmen auf die Staatsanwälte und Rich- Öffentliche Anhörungen durchgeführt: ter 3.6 Behinderung anwaltlicher Beratung und Ver- tretung 1:1 Die Öffentliche Anhörung vom 14. Mai 1993 in Bonn widmete sich dem Thema „Die 4. Die Instrumentierung von Recht und Justiz in den verschiedenen Gerichtszweigen sowie Umwandlung der Justiz in der SBZ und in den durch die Polizei Anfangsjahren der DDR" [--> Protokoll Nr. 37]. 4.1 Strafjustiz, Strafvollzug und Aufsicht über Straf- Einleitend gab Abg. Margot von Renesse (SPD) einen entlassene 4.1.1 Strafbestimmungen Überblick über die Gesamtzusammenhänge der 4.1.2 Ermittlungsverfahren Rechtsentwicklung in Deutschland nach dem Ende 4.1.3 Das Recht auf Verteidigung des Zweiten Weltkrieges. Friedrich-Christian Schroe- 4.1.4 Strafvollzug der, sachverständiges Kommissionsmitglied, schil- 4.1.5 Aufsicht über Strafentlassene derte „Die Übernahme der sozialistischen Rechtsauf- 4.2 Militärjustiz fassung in ihrer Stalinschen Ausprägung in der SBZ/ 4.3 Polizei DDR" . Der Rechtssoziologe Robert Alexy ergänzte 4.3.1 Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet der diese Ausführungen mit einem Vortrag „Über den DDR zur Bundesrepublik Deutschland Rechtsbegriff Walter Ulbrichts". Grundlage hierfür 4.3.2 Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war die Rede, die Ulb richt auf der sog. Babelsberger 1960/61 Konferenz 1958 gehalten hatte. In zwei weiteren 4.3.3 Rechtsverletzungen bei den Zusammenstößen Vorträgen wurde die Frage behandelt, wie sich der in der Woche vom 3. bis 9. Oktober 1989 in personelle Neuaufbau der Justiz in der SBZ/DDR Dresden vollzogen hat. Die Historikerin Wilfriede Otto schil- derte den Prozeß der Entnazifizierung der Justiz in der 5. Schlußfolgerungen SBZ/DDR. Die Juristin Julia Pfannkuch berichtete auf 5.1 Verantwortung der Grundlage ihrer Dissertation — bezogen auf das 5.2 Umgang mit der Hinterlassenschaft Land Sachsen — über die Volksrichterlehrgänge in 5.3 Forschungsdesiderata der SBZ. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

1.2 Am 28. Mai 1993 folgte in Bonn eine Öffentliche Berichte von vier Zeitzeugen, die wegen politischer Anhörung zum Thema „Die Babelsberger Meinungsäußerungen verfolgt und z. T. zu mehrjäh- Konferenz" [--> Protokoll Nr. 39]. rigen Haftstrafen verurteilt worden waren (Prozeß gegen die Werdauer Oberschüler 1951; Volksauf- Nach einer Einführung durch Friedrich-Christian stand am 17. Juni 1953; Einmarsch von Truppen des Schroeder referierte der Rechtshistoriker Jörn Eckert Warschauer Paktes in die Č SSR 1968; Ausbürgerung über „Die Babelsberger Konferenz — Legenden und Wolf Biermanns 1976/77). Fakten —". Der Schwerpunkt seiner Ausführungen lag darauf zu untersuchen, welchen Einfluß die Ergeb- nisse der Konferenz auf die Rechtsentwicklung der 1.3.2 Themenkreis „Das Vorgehen gegenüber DDR hatten und welches Schicksal denjenigen Ausreisewilligen" Rechtswissenschaftlern widerfuhr, die zu den dort Angegriffenen zählten. Hermann Klenner und Karl Ausreisewillige waren in der DDR in besonderem Mollnau, von Ulbricht auf dieser Konferenz attackiert, Maße der Willkür und den Schikanen staatlicher berichteten als Zeitzeugen über die Auswirkungen Stellen ausgesetzt. Hierzu Näheres zu erfahren, war der Zusammenkunft. Abg. Uwe-Jens Heuer (PDS/LL) Ziel des zweiten Teils der Öffentlichen Anhörung in ergänzte diese Ausführungen durch einen Bericht Rostock. Zugleich eröffnete sich der Enquete-Kom- über die Folgen der Konferenz für seine wissenschaft- mission durch diese Thematik die Möglichkeit, Ein- liche Tätigkeit. Abschließend erläuterte Abg. Hartmut blicke in ein Rechtsgebiet zu erhalten, das es in der Soell (SPD) aus der Sicht des Historikers die politi- DDR überhaupt nicht gab: das Verwaltungsrecht. schen Rahmenbedingungen der Konferenz. Hans-Hermann Lochen vom Bundesministerium der Justiz, Mitherausgeber einer Dokumentation über die geheimen Anweisungen des MfS und des MdI zur 1.3 Am 1. und 2. Juni 1993 tagte die Diskriminierung Ausreisewilliger, vermittelte der Enquete-Kommission in Rostock und Kommission Erkenntnisse darüber, auf welche Weise behandelte in Öffentlichen Anhörungen die die verantwortlichen Stellen das Ausreiseverfahren „Lenkung der Justiz in der DDR" und das steuerten. Er berichtete u. a., wie mit Hilfe detai llierter „Vorgehen gegenüber Ausreisewilligen" geheimer Anweisungen des Innenministeriums alles [--> Protokolle Nr. 40 und 41]. getan wurde, um Antragsteller zu diskriminieren bzw. potentielle Ausreisewillige von ihrem Vorhaben abzuschrecken. Anschließend berichteten vier Zeit- 1.3.1 Themenkreis „Die Lenkung der Justiz zeugen über Hintergründe und nähere Umstände der in der DDR" von ihnen betriebenen Ausreiseverfahren. Hierbei wurde wiederum das große Maß an Rechtsunsicher- Nach einem Grußwort des Justizministers des L andes heit, Diskriminierung und Konspiration erkennbar, Mecklenburg-Vorpommern Herbert Helmrich refe- mit dem Ausreisewillige meist vom Tage der Antrag- rierte der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner über stellung an konfrontiert wurden. den institutionellen Rahmen sowie über Strukturen und Methoden der Justizlenkung in der DDR. Bei seinen Ausführungen, die sich auf ein umfangreiches 2. Expertisen Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeri- ums der Justiz stützten, unterschied er zwischen den Die Enquete-Kommission hat elf Expertisen und einen Anfängen der DDR (50er und z. T. 60er Jahre) und der Bericht an die nachfolgend benannten Bearbei- Zeit der Konsolidierung der SED-Herrschaft danach. ter vergeben (Georg Brunner, Gerhard Finn, Dieter Karl Wilhelm Fricke, sachverständiges Kommissions- Gräf [2], Hans- Jürgen Grasemann, Steffen Heitmann, mitglied, ergänzte diese Ausführungen mit einer Fall- Knut Ipsen, Hannes Kaschkat, Hans-Diet rich Knoth, studie, in der er das Zusammenspiel von Staatsanwalt- Roland Lange, Bernhard Marquardt, Herwig Rogge schaft, Oberstem Gericht und Staatssicherheit beim mann, Falco Werkentin — vgl. Anlage). Ablauf von fünf politischen Prozessen in den 50er Jahren darstellte. Anschließend berichteten vier Rechtsanwälte sowie ein ehemaliger Staatsanwalt darüber, inwieweit sie selbst bei der Ausübung ihres b) Bericht Berufes von Justizlenkungsmaßnahmen des Staates betroffen waren. Es folgten Berichte von Hubert Baier, 1. Dimensionen des durch Recht und Justiz Norbert Mette und Christian Schäfer — alle drei begangenen Unrechts Richter an einem Rehabilitationssenat beim Bezirks- gericht Cottbus — darüber, wie sich die Lenkung der 45 Jahre „Recht" und „Justiz" in SBZ und DDR Richter und Staatsanwälte nach den vorliegenden und bedeuteten für die Bevölkerung die ständige Erfah- von ihnen ausgewerteten Akten vollzogen hatte. Die-- rung, daß Menschen- und Bürgerrechte vor dem ther Bischoff, Präsident des Verfassungsgerichtshofes Machtwillen der SED wenig galten. Nicht nur über das des Landes Nordrhein-Westfalen a. D., vom Justizmi- Rechtsbewußtsein der eigenen Bürger und über inter- nisterium des Landes Brandenburg damit beauftragt, national anerkannte Menschenrechte, sondern auch die Einsetzung der sog. Richterüberprüfungsaus- über das von ihm selbst geschaffene geschriebene schüsse zu leiten, ergänzte diese Ausführungen um Recht setzte sich der SED-beherrschte Staat immer seine Erkenntnisse zur Persönlichkeits- und Sozial- dann hinweg, wenn es darum ging, „feindlich-nega- struktur der Richter der DDR. Dem Vortragsteil folgten tive Kräfte" einzuschüchtern, zu isolieren und auszu-

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode schalten oder sonstige Ziele der SED durchzuset- ler, Wiedemann Protokoll Nr. 40]. Dieses Bewußtsein zen. zwang nicht nur einzelne und Gruppen in die Oppo- sition gegen den SED-Staat, sondern untergrub stetig Besonders geeignet erschienen Strafrecht und Straf- auch deren Legitimationsanspruchseti Gra- [--> Exper justiz, wenn es galt, wirkliche oder vermeintliche semann]. Dies war eine der Ursachen für die immer Systemgegner auszuschalten. „Kampagneartig" wieder aufflammenden oppositionellen Bewegungen, [--> Rottleuthner, Protokoll Nr. 40] wurde Strafrecht deren letzte 1989 schließlich zum Zusammenbruch eingesetzt, um zunächst Angehörige bestimmter des Regimes beitrug. gesellschaftlicher Gruppen (darunter z. B. politische Gegner, Industrielle, Großgrundbesitzer, Gewerbe- Die Enquete-Kommission hat sich dem Rechtssystem treibende, Bauern, die sich der Kollektivierung wider- der DDR zugewandt, um aufzuklären, wie es war und setzten) um Leben, Freiheit, Gesundheit und Eigen wie es sich entwickelte, auf welchen Grundlagen es turn zu bringen. Vertreter eigenständiger Haltungen aufgebaut, welchen Zielen es verpflichtet war und wie (z. B. Mitglieder der Kirchen und anderer Glaubens- es sich auf die Be troffenen auswirkte. Der vorliegende gemeinschaften) oder kritischer Meinungen vor Bericht stellt das Ergebnis der — zugegebenermaßen allem, wenn man ihren Rückhalt in der Gesellschaft schlaglichtartigen — Untersuchungen dar: Recht, Gesetz und Justiz der DDR hatten die — alle sonstigen fürchtete (z. B. nach dem Einmarsch in die Č SSR oder nach der Ausbürgerung Biermanns), wurden mit Hilfe Funktionen von Recht in einem modernen Industrie- eines extensiv ausgelegten politischen Strafrechts zu staat überragende — Rolle, dem Machterhalt der SED Kriminellen gestempelt und drakonisch abgestraft als der beherrschenden Staatspartei auf allen Gebie- [--> Berichte von Schäfer, Mette, Bayer, Grünhagen, ten zu dienen. Raab, Kögler, Protokolle Nr. 40 und 41]. Gleiches Diese Erkenntnis ist fundamental. Sie schließt aus, das geschah denen, die zur Ausreise entschlossen waren Gesamturteil nach Bereichen im Rechtssystem zu [--> Lochen, Brockhoff, Protokoll Nr. 41; vgl. auch differenzieren, die „gut", vielleicht sogar vorbildlich „Auflistung der Opfergruppen"]. waren, in denen mehr oder weniger Unrecht geschah, Nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Zivil-, und solchen, die wenigstens gut gemeint, aber in der Familien- und Arbeitsrecht sowie im allgemeinen Ausführung mißlungen sein mochten. Ein Rechtssy- Handeln staatlicher und quasi staatlicher Stellen stem, das vor allem anderen im Dienst der Macht steht, nutzte der SED-Staat alle Möglichkeiten, um an verfehlt im Kern die allem Recht zugrunde liegende seinen Kritikern Exempel zu statuieren. Dazu dienten Aufgabe, im Konflikt zwischen Macht und Recht der die Verweigerung von Schulabschlüssen und die Macht Schranken zu setzen. Es war die Erkenntnis der Behinderung bei der Berufsausbildung. Darüber hin- europäischen Rechtsphilosophie, daß die sich entwik- aus gab es sonstige Benachteiligungen: z. B. bei kelnde Machtkonzentration im modernen Staat nur staatlichen Leistungen wie Wohnungszuteilung, Rei- erträglich sein werde, wenn sie durch Recht begrenzt seerlaubnis, beruflichem Aufstieg, ferner auch direkte ist. Indem das Rechtssystem der DDR den Interessen belastende Eingriffe, so z. B. der Entzug des Personal- der SED zu Diensten war und sein sollte, stellte es als ausweises oder unbegründete Kündigungen des Ganzes einen historischen Rückschritt dar. Arbeitsverhältnisses [--> Pohl, Feigl, Gester, Protokoll Die Bevölkerung der DDR wußte sehr wohl, daß das Nr. 41]. Die Staatssicherheit drang in die engsten Recht ihr keinen Beistand bot, wenn sie in Konflikt mit persönlichen Bindungen ein, nutzte sie zu erpresseri- den Interessen der SED geriet. Soweit nicht der schem Druck oder zur Bespitzelung, ließ sie gar nicht Ausweg über Flucht und Ausreise gesucht wurde, erst zu oder zerstörte sie planmäßig. Weder ein arrangierte sie sich notgedrungen mit der gegebenen Verwaltungsrecht noch Verwaltungsgerichte boten Situation und wich dem Konflikt mit der Partei aus, dem Bürger wirksame Abwehrrechte. indem sie sich nach außen anpaßte und es vermied, negativ aufzufallen. Die Menschen hatten ihre Erfah- Auch soweit Diskriminierung und Verfolgung schein- rungen im Umgang mit der Macht und kannten die bar nur Minderheiten trafen, zielte Einschüchterung Grenzen, die nicht ohne Gefahr überschritten werden durch Angsterzeugung absichtsvoll stets auf ein wei- durften. Nicht das Recht war in der DDR eine kalku- tes Umfeld der unmittelbar Verfolgten. Einem großen lierbare Größe, wohl aber die SED-Führung für eine Teil der Bevölkerung vermittelten sich die Erfahrun- Bevölkerung, die mit ihr zu leben gelernt hatte. gen von Rechtsunsicherheit und der Unkalkulierbar- Daraus — nicht aus dem Recht — bezog sie eine keit staatlichen Handelns, wann immer politische gewisse Sicherheit für ihre private Existenz. Blieben Interessen der SED im weitesten Sinne im Spiel ihre Rechtskonflikte innerhalb dieser Grenze, so waren. Die Kluft zum allgemeinen Rechtsbewußtsein konnte damit gerechnet werden, daß sie durch die war ein wesentlicher Grund für die Distanz zwischen Anwendung der Gesetze bef riedigend geregelt wur- dem SED-Staat und den von ihm Beherrschten. Diese den, auf welchem Rechtsgebiet auch immer. Ebenso Kluft ließ sich auch nicht dadurch überbrücken, daß konnte jedoch in einem Zivilverfahren zwischen Bür- sich die DDR bei ihren Rechtssetzungen um Volks- gern das Eis dünn werden, wenn etwa bei einem tümlichkeit der Sprache und in den Verfahren um - Kindschaftsverfahren das elterliche Sorgerecht nach Laiengerechtigkeit bemühte. Auch wenn die Mehr- dem Kriterium der politischen Zuverlässigkeit zuge- heit der justitiellen Vorgänge, soweit politisch irrele- teilt wurde. vant, ohne spektakuläre Rechtsstaatswidrigkeiten abgewickelt wurden [---> Brockhoff, Protokoll Nr. 41], Die Enquete-Kommission hat es nicht unternommen, war sich die Bevölkerung doch darüber im klaren, daß die einzelnen Rechtsgebiete oder Verfahrensarten immer dann das Recht des einzelnen weichen mußte, des DDR-Rechts auf mehr oder weniger Rechtsstaat- wenn es mit dem Interesse der SED kollidierte [--> Kög lichkeit zu überprüfen. Die DDR war kein Rechtsstaat,

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 wollte es auch nicht sein. Was das für Rechtssystem ganda" und damit als „Propaganda für Nationalsozia- und Rechtswirklichkeit bedeutete, hat die Enquete lismus oder Militarismus". Die Wirtschaftsstrafverord- Kommission untersucht. Sie hat bei ihren Anhörun- nung von 1948 nahm kleinste Verstöße gegen die sehr gen, aber auch bei Augenscheinterminen in ehemali- unscharf formulierten Vorschriften zum Vorwand für gen Strafvollzugsanstalten der DDR sowie durch zahl- hohe Zuchthausstrafen und vor allem für die Einzie- reiche Mitteilungen von be troffenen Bürgern in hung des Vermögens oder die Anordnung der Treu- erschütternder Weise erfahren, wie sich der Miß- handverwaltung über beteiligte Betriebe; sie diente brauch von Recht und Justiz auf das Schicksal vieler damit der Verstaatlichung des P rivateigentums. Menschen auswirkte. Diese Feststellungen lassen sich in Worten, noch dazu in der Form eines zusammen- Nach der Gründung der DDR im Jahre 1949 sind rd. fassenden Berichts, auch nicht annähernd wiederge- 3 400 übriggebliebene Insassen der „Speziallager" ben. Im folgenden werden die Erkenntnisse der den Behörden der DDR zur Untersuchung und Abur- Enquete-Kommission nach den Phasen des Unrechts, teilung überstellt worden. Innerhalb von nur zweiein- seinen grundlegenden Instrumenten und seinen Aus- halb Monaten wurden im Jahre 1950 in Waldheim wirkungen in den einzelnen Gerichtszweigen struktu- 3 390 von ihnen zu Regelstrafen von 15 Jahren Zucht- riert. Wenn dabei die Auswirkungen auf den einzel- haus und mehr, 34 zum Tode verurteilt. Die „Wald- nen zwangsläufig in den Hintergrund treten, haben heimer Prozesse" waren ein erster Modellfall SED sie doch der Enquete-Kommission immer vor Augen gesteuerter Schein- und Willkürjustiz [—> Expertise gestanden. Werkentin]. Neben der Einschüchterung der politi- schen Gegner dienten sie zugleich der „antifaschisti- schen" Selbstlegitimation der DDR.

2. Unterschiedliche Phasen des Unrechts Im übrigen wurde nach der Gründung der DDR Artikel 6 Absatz 2 der Verfassung ( „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen") als Strafdro- 2.1 Die ersten Jahre der SBZ/DDR hung für alle Handlungen gegen die Herrschaft der SED benutzt. Kritische Äußerungen über das System, Unmittelbar nach der Besetzung Ost- und Mittel- Kontakte zu West-Berliner Flüchtlingsstellen, die Bil- deutschlands durch die sowje tischen Truppen im dung von Gruppen mit politischen Zielen, die sog. Jahre 1945 nahmen die „operativen Organe" des Fluchthilfe u. a. wurden als „Boykotthetze" bezeich- NKGB/MGB Massenverhaftungen vor, die sich gegen net und mit hohen Freiheitsstrafen geahndet, teil- „Faschisten", sonstige „gefährliche Personen", Ange- weise sogar mit der Todesstrafe. Die Zugehörigkeit zu hörige der „kapitalistischen Klasse", aber auch aus den „Zeugen Jehovas" ist als Spionage nach Artikel 6 irgendwelchen Gründen Denunzierte richteten. Sie der Verfassung verurteilt worden. Das Gesetz zum wurden in „Speziallager" mit extrem harten Bedin- Schutze des innerdeutschen Handels von 1950 setzte gungen, z. T. in ehemaligen Konzentrationslagern, den Mißbrauch des Strafrechts zur Zerschlagung des verbracht [—> Expertise Finn]. Die Gesamtzahl der in Privateigentums fort; das Gesetz zum Schutze des „Speziallager" eingewiesenen sowie aus den Unter- Volkseigentums von 1952 machte jeden Widerstand suchungsgefängnissen der sowje tischen Geheimpoli- gegen die rücksichtslose Verstaatlichung von Indu- zei direkt in die Sowjetunion deportierten Deutschen strie und Handel sowie gegen die Kollektivierung der beträgt mindestens 140 000. Von den in Deutschland Landwirtschaft zur Straftat. Im Zivilrecht wurden viele verbliebenen Häftlingen wurden etwa 43 000 in den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht Jahren 1948 und 1950 entlassen, etwa 14 000 an die mehr angewendet, insbesondere die Vorschrift über DDR zur Aburteilung bzw. weiteren Strafverbüßung den Schadensersatz bei rechtswidrigen H andlungen übergeben; mindestens 53 650 Häftlinge sind in den von Beamten. Ein Verwaltungsrechtsschutz wurde Lagern umgekommen oder hinge richtet worden. nicht eingeführt. 20 000 bis 30 000 verurteilte und nichtverurteilte Deutsche wurden in die Sowjetunion depo rtiert oder starben schon in der Untersuchungshaft auf deut- schem Boden. Dazu kamen ca. 500 000 Deutsche aus 2.2 Auswirkungen der Entstalinisierung und des den deutschen Ostprovinzen, die als sogenanntes Mauerbaus „mobiles Kontingent" unmittelbar nach der Beset- zung durch die Sowjetarmee in Lagern zusammenge- Nach dem Tod Stalins spitzte sich in der DDR die Lage faßt und zu „schwerstem" Arbeitseinsatz in die zu. Zunächst gab es gewisse Lockerungen des politi- Sowjetunion deportiert wurden. Die Sowjetischen schen Drucks. Im Zuge des „Neuen Kurses" sind Militärtribunale wandten rückwirkend sowjetisches einige Strafvorschriften aufgehoben oder abgemil- Strafrecht mit seinen hohen Strafdrohungen an und dert, 25 000 frühere Verurteilungen überprüft wor- mißachteten elementare, im Rechtsstaat übliche Ver- den. Gleichwohl brach sich der l ange aufgestaute fahrensregeln [—> Exper tise Finn]. Im Dezember 1945 Unmut der Bevölkerung in dem Volksaufstand vom sind durch Befehl Nr. 160 der SMAD die uferlosen - 17. Juni 1953 Bahn. Nach seiner Niederschlagung war sowjetischen Strafvorschriften gegen „Diversion" und die weitere Entwicklung der Strafverfolgungspraxis „Sabotage" in der Sowjetischen Besatzungszone ein- zwiespältig. Während auf der einen Seite der „Neue geführt worden. Außerdem wurden die Bestimmun- Kurs" mit der Revision politischer Strafverfahren aus gen des Alliierten Kontrollrats gegen den Nationalso- der Vergangenheit fortgesetzt wurde, ging die Justiz zialismus zum Kampf gegen die Gegner der kommu- mit den alten stalinistischen Methoden brutaler Ver- nistischen Herrschaft mißbraucht. Kritische Äußerun- folgung gegen die Teilnehmer am Volksaufstand, gen verfolgte man als „antidemokratische Propa darunter auch von den Belegschaften delegierte Ver-

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode handlungsführer, vor [--> Protokoll Nr. 41]. Justizmini- Rechtsfälle zu erledigen und das Schwergewicht ihrer ster Max Fechner, der das Streikrecht der Arbeiter Tätigkeit im Arbeitsrecht hatten, letztlich zu bewerten anerkannt und sich für Straffreiheit ausgesprochen sind, konnte die Enquete-Kommission in der ihr zur hatte, wurde im Juli 1953 verhaftet und nach zwei Verfügung stehenden Zeit nicht klären. Da diese Jahren Untersuchungshaft zu acht Jahren Zuchthaus Kommissionen aus Laien bestanden und nicht regel- verurteilt. Wegen Teilnahme am Volksaufstand sind mäßig tagten, sind Mitglieder sowie von den „Erzie- mindestens zwei Todesurteile verhängt und voll- hungsmaßnahmen" Be troffene wie auch Verfahrens- streckt worden (die nach wie vor tätigen sowjetischen akten schwer zu ermitteln. Die Enquete-Kommission Militärtribunale verhängten mindestens achtzehn konnte lediglich feststellen, daß einige ehemalige Todesurteile). 1957 wurden der Chefredakteur der Vorsitzende von Konfliktkommissionen die Ins titution „Deutschen Zeitschrift für Philosophie", Wolfgang auch heute noch positiv beurteilen. Harich, und die Mitglieder der „Gruppe Harich" nach der Vorlage eines wirtschaftspolitischen Reformpro- Im übrigen führte der Bau der Mauer — abgesehen gramms wegen „Bildung einer konspirativen staats- von der Härte der allgemeinen Einmauerung der feindlichen Gruppe" vor Gericht gestellt, Harich Bevölkerung — zu weiteren schweren Eingriffen in selbst zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Straf- die Rechte einzelner, insbesondere zu Zwangsaus- rechtsergänzungsgesetz von 1957 ersetzte zwar den siedlungen aus dem Grenzbereich [--> Protokolle wenig präzisen Sammelbegriff „Boykotthetze" durch Nr. 20, 21]. Ferner führte die DDR elf Tage nach dem elf einzelne Strafvorschriften, doch fanden sich hier- Bau der Mauer mit der Aufenthaltsbeschränkung die bei wieder sehr unscharfe Formulierungen wie sowjetische Strafart der Verbannung an entlegene „ staatsgefährdende Propaganda und Hetze", „Staats- Orte und die sowjetische Bestrafung von „arbeits- verleumdung" , „Diversion" , „Schädlingstätigkeit" scheuen” Personen mit „Arbeitserziehung" in beson- und „Sabotage". Strafbar war auch die „Verleitung deren Arbeitserziehungskommandos ein. Zahlreiche zum Verlassen der DDR"; der Versuch der Flucht aus erfolglose Fluchtversuche wurden nach dem Bau der der DDR selbst wurde gleichzeitig durch das Paßge- Mauer mit harten Freiheitsstrafengeahndet [--> Proto- setz mit Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren bedroht. koll Nr. 20]. Oft wurden auch Fluchthelfer aus West- Das Strafrechtsergänzungsgesetz wurde bald darauf deutschland und West-Berlin, insbesondere Studen- zur Verurteilung von oppositionellen Studentengrup- ten, bestraft. pen aus Jena und Dresden zu Freiheitsstrafen bis zu Im Strafgesetzbuch von 1968 koppelte m an die Lok- fünfzehn Jahren benutzt. Immerhin setzte das Gesetz kerung hinsichtlich der Kleinkriminalität mit ein- die hohen Strafen für den Diebstahl von Volkseigen schneidenden Maßnahmen zur Kontrolle potentieller turn wieder herab und ließ eine bedingte Verurtei- Straftäter. Strafentlassene waren durch die Betriebs- lung, ja sogar ein völliges Absehen von Strafe zu, belegschaften und die Verwaltungsbehörden, nach wenn im Verhalten des Täters eine grundlegende höheren Strafen durch die Volkspolizei zu beaufsich- Wandlung eingetreten war. tigen. Darüber hinaus konnten Personen mit Anzei- Nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 und chen von „arbeitsscheuem" Verhalten oder „asozia- nach der Abkehr von dem stalinistischen Terrorstraf- ler" Lebensweise als „kriminell gefährdete Bürger" recht in der Sowjetunion seit Ende der fünfziger Jahre „erfaßt" und unter Aufsicht gestellt werden. kam es auch in der DDR zu einer gewissen Abmilde- rung der Strafjustiz. Kürzere Freiheitsstrafen wurden durch die Übergabe von Straftätern in die „Bürg- 2.3 Erneute Verhärtung seit Ende der sechziger schaft" von Betriebsbelegschaften ersetzt, kleinere Jahre Strafsachen gänzlich aus dem normalen Strafprozeß ausgegliedert und an von den Betriebsbelegschaften Der „Prager Frühling" 1968 löste bei der Führung der gewählte „Konfliktkommissionen" sowie an gewählte DDR ernste Besorgnis aus, die zu der Beteiligung an „Schiedskommissionen" übergeben. Auch der Bau seiner Niederschlagung im August 1968 führten. der Mauer im August 1961 mit seiner schockierenden Unmittelbar danach sprach Walter Ulbricht wieder Einmauerung der Bevölkerung der DDR erzwang eine von der „Diktatur des Proleta riats". 1971 wurde er als gewisse Lockerung. Die sechziger Jahre werden Erster Sekretär der SED durch Erich Honecker ersetzt. daher als „die ,liberalste' Phase der DDR-Geschichte" Der VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verfügte eine bezeichnet [---> Exper tise Brunner II]. allgemeine Verschärfung der Strafen. Durch die Straf- Indessen betraf die Abmilderung des Strafrechts aus- rechtsänderungsgesetze von 1974, 1977 und 1979 ist schließlich kleinere Straftaten ohne politischen Cha- das Strafrecht laufend verschärft worden. 1976 kam es rakter, die die Herrschaft der SED nicht berührten. zur Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann Außerdem fühlten sich die meisten Bürger durch eine aus der DDR, der Physiker Robert Havemann wurde Verhandlung vor den Augen der gesamten Betriebs- unter Hausarrest gestellt. 1978 wurde Rudolf Bahro belegschaft stärker bedroht als durch die Verhand- wegen seines Buches „Die Alte rnative" zu acht Jah- lung vor den ordentlichen Gerichten. Die Konflikt- - ren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Strafrechtsände- kommissionen ermöglichten im übrigen eine ideologi- rungsgesetz von 1979 stellte sogar die Sammlung von sche Einwirkung auf die Betriebsbelegschaften und nicht der Geheimhaltung unterliegenden Nachrich- waren somit nicht nur ein Mitwirkungsrecht der ten „zum Nachteil der Interessen der DDR", ja die Betriebsbelegschaften, sondern auch ein Hebel für Übergabe von Schriften und Manuskripten, die geeig- deren ideologische Mobilisierung durch die SED („Er- net waren, „den Interessen der DDR" zu schaden, an ziehung und Selbsterziehung"). Wie die Konflikt- und das „Ausland", womit vor allem die Bundesrepublik Schiedskommissionen, die im allgemeinen kleinere Deutschland gemeint war, unter S trafe. Von diesen

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Regelungen waren nicht nur Bürger bei Klagen über glieder eines kirchlichen Friedens- und Umwelt- Mißstände in der DDR, sondern auch kritische Schrift- kreises. steller betroffen. Auch unter Honecker wurden meh- rere Todesurteile verhängt und vollstreckt. — Im Dezember 1987 wurden zehn Mitglieder der Ost-Berliner „Initiative für Frieden und Menschen- rechte „ verhaftet. 2.4 Abwehr der „Perestroika" aus der Sowjetunion — Im Januar 1988 wurden bei der offiziellen Luxem- burg-Liebknecht-Demonstration in Ost-Berlin Seit Mitte der achtziger Jahre leitete der neue Gene- über einhundert Angehörige der Friedens- und ralsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow in der Menschenrechtsbewegung festgenommen, die ein Sowjetunion schrittweise eine grundlegende Umge- Transparent mit dem Satz Rosa Luxemburgs „Frei- staltung von Staat und Gesellschaft ein, die als „Pe- heit ist immer Freiheit des Andersdenkenden" mit restroika" („Umbau „ ) bezeichnet wurde. Gleichzeitig sich geführt hatten. forderte Gorbatschow Öffentlichkeit und Transparenz — Im Februar 1988 wurden bei der Gedenkfeier zur („ Glasnost") des staatlichen Lebens. Diese Forderung Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg Bürger setzte ebenso breite wie hef tige Diskussionen über die verhaftet, die für die Einhaltung der Menschen- Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit im allge- rechte demonstrierten. meinen sowie über die sowje tische Vergangenheit im besonderen in Gang. Dies führte dazu, daß auf der — Im November 1988 wurde die Auslieferung der 19. Unionskonferenz der KPdSU Ende Juni 1988 die sowjetischen Zeitschrift „Sputnik" wegen ihrer Schaffung eines „sozialistischen Rechtsstaats" be- Kritik am Stalinismus unterbunden. schlossen wurde. Das Fünfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 14. De- Die DDR war nicht bereit, sich dieser neuen Entwick- zember 1988 beseitigte zwar die Strafbarkeit der lung anzupassen. Der Chefideologe Kurt Hager einfachen Homosexualität; auch wurden einige der äußerte noch Anfang 1987, daß „ein Tapetenwechsel harten Strafschärfungen beim Rückfall aufgehoben. beim Nachbarn" nicht zur Nachahmung zwinge. Das politische Strafrecht blieb jedoch von der Reform Zwar schaffte die DDR Mitte 1987 die Todesstrafe ab, völlig ausgeklammert, ja die Vorschriften gegen den eröffnete ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen Geheimnisverrat wurden noch erweitert. Am gleichen der Strafsenate des Obersten Gerichts in erster Instanz Tage wurde für eine Reihe von Verwaltungsakten die in politischen Strafsachen und erließ eine weitge- Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung einge- hende Amnestie. Diese Maßnahmen waren jedoch führt und damit eine wichtige Anforderung des wenig bedeutsam. Ohnehin war in den Jahren zuvor Rechtsstaats aufgegriffen. Allerdings trat das Gesetz in der DDR eine Vollstreckung von Todesurteilen erst am 1. Juli 1989 in Kraft. Überdies waren zahlrei- nicht mehr bekanntgeworden. Dafür hatte m an — wie che Verwaltungsakte und vor allem alle Angelegen- in den Anhörungen und Besichtigungen belegt heiten, die Interessen der nationalen Sicherheit oder wurde — den Strafvollzug zu einem derart persönlich- der Landesverteidigung berührten, von der Überprä keitsbrechenden Mittel gemacht, daß die Todesstrafe fung ausgeschlossen. demgegenüber kaum noch eine erhöhte Abschrek- kungswirkung entfalten konnte (s. u. 4.1.4). Die Ein- Im übrigen gab es auch im Jahre 1989 Menschen- führung eines Rechtsmittels war bei der durchgängi- rechtsverletzungen: Im Januar kam es in Leipzig gen Steuerung der Justiz in der DDR und der Vorab- anläßlich einer Demons tration zum 70. Jahrestag der sprache aller wichtigen Urteile mit den höchsten Ermordung Rosa Luxemburgs zur Festnahme von politischen Instanzen eine Farce. Bei der Amnestie über achtzig Personen. Im Februar wurde der zwanzig spielte mit, daß die Haftanstalten der DDR wegen des Jahre alte Chris Gueffroy an der Mauer trotz Aufgabe überzogenen Strafrechts chronisch überfüllt waren seines Fluchtversuchs erschossen. Am 7. Juni wurden und die DDR daher schon vorher regelmäßig alle vier in Ost-Berlin 120 Personen bei dem Versuch, dem bis sieben Jahre Amnestien erlassen mußte, um wie- Staatsrat eine Eingabe wegen Fälschungen bei der der Platz für Neuzugänge zu schaffen. Kommunalwahl zu übergeben, vorübergehend fest- genommen. Einen Tag später billigte die Volkskam- Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Diskus- mer das Massaker auf dem Platz des Himmlischen sions- und Meinungsfreiheit in der DDR zeigten sich Friedens in Peking und bezeichnete es als „Nieder- nicht. Für die fortdauernden und massenhaften Ein- schlagung einer Konterrevolution". Im September griffe seien hier nur folgende Beispiele genannt: wurden bei einer Demons tration nach dem Friedens- — Für die bloße Aufschrift „Tapetenwechsel ist gebet in Leipzig zahlreiche Demonstranten festge- machbar" auf die Wand der Bühnengarderobe des nommen, elf von ihnen zu Haftstrafen bis zu sechs Geraer Theaters wurde ein Schauspieler zu sechs Monaten, über einhundert zu Geldstrafen verurteilt. Monaten Haft verurteilt. Bei den Demons trationen anläßlich des 40. Jahresta- - ges der Gründung der DDR erfolgte ein brutaler — Mitte 1987 ging die Volkspolizei brutal gegen Einsatz der Volkspolizei mit der Festnahme von über Jugendliche vor, die auf der östlichen Seite der eintausend Personen. Mauer einem Rockkonzert vor dem Reichstag zuhören wollten. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur begann, als die bisherigen „Bruderländer" die immer zahlreiche- — Im November 1987 durchsuchte der Staatssicher- ren Flüchtlinge nicht mehr zurückschickten und das heitsdienst die Räume der evangelischen Zionsge- System somit sein wichtigstes Drohmittel verlor. Die meinde in Ost-Berlin und verhaftete mehrere Mit SED versuchte, sich mit einer Öffnung der Grenzen zu

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retten. Dies nützte jedoch nichts mehr. Die ersten Kommunisten, reklamie rten für das geschriebene freien Wahlen in der DDR besei tigten endgültig die Recht der DDR noch eine gewisse eigenständige 44 Jahre lange Herrschaft der SED. Bedeutung gegenüber dem Machtanspruch der SED. Ob die Differenzen zwischen den Gemaßregelten und der offiziellen Rechtslehre der SED tatsächlich eine 3. Die Instrumente des Justizunrechts echte Alternative darstellten, ist dabei bis heute umstritten [--> Vortrag Ecke rt und Zeitzeugenberichte, Wie konnte es in der DDR zu diesem massenhaften Protokoll Nr.39]. Ulbricht nutzte jedenfalls die Gele- Unrecht im Gewande des Rechts kommen? Es han- genheit, letzte Reste eines dem geschriebenen Gesetz delte sich nicht um auf Unfähigkeit beruhende Miß- tendenziell verpflichteten Positivismus endgültig zu stände und auch nicht um Exzesse einzelner Justiz- beseitigen. Nach dem V. Parteitag der SED galt es, alle funktionäre, sondern um Folgen, die planmäßig und Überreste von Eigenständigkeit bei den juristischen mit voller Absicht herbeigeführt wurden. Hierzu Funktionsträgern .zu besei tigen, denn große gesell- diente ein umfassendes System von Maßnahmen. Die schaftliche Umwandlungsprozesse, z. B. die Kollekti- wichtigsten Instrumente zur Herbeiführung des mas- vierung der Landwirtschaft, standen unmittelbar senhaften Justizunrechts waren die folgenden: bevor. Seit der Babelsberger Konferenz galt nur noch das als Recht, was dem jeweils aktuellen Interesse der SED als der „Partei der Arbeiterklasse" entsprach — und zwar weitgehend unabhängig davon, was sie 3.1 Die Umwandlung des Rechtsbegriffs selber vorher als Gesetz kodifiziert hatte. Nur wer sich innerlich mit der SED vollständig identifizierte, war in Zur Rechtfertigung und Herbeiführung des massen- der Lage, das in einer gegebenen Situa tion richtige haften Justiz- und Verwaltungsunrechts bedurfte es Recht zu erkennen. Nicht nur die äußere Hinnahme zunächst einer Umwandlung des Beg riffs des Rechts des vom SED-Staat erlassenen Gesetzesrechts, son- selbst. Bei diesem radikalen Wandel kam der SED zu dern auch seine Auslegung aufgrund von „sozialisti- Hilfe, daß die überkommenen „bürgerlichen" Rechts- scher Moral", der Disziplin im Sinne der SED, war vorstellungen durch die Erfahrungen des „Dritten Sinn der Beschäftigung mit dem Recht. Damit nahm Reiches" gründlich diskreditiert waren. Das galt ins- man „die Seelen in die Pflicht" [—>Vortrag Alexy, besondere für den klassischen Positivismus, der vor Protokoll Nr. 37]. allem — und zwar in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen — für das Versagen der Justiz in der Als Gegenbegriff zu Rechtsstaat und Rechtssicherheit NS-Zeit verantwortlich gemacht wurde. Die SED diente die „sozialistische Gesetzlichkeit". Sie wurde nutzte die Kritik am Positivismus dazu, immer dann auf die „historische Gesetzmäßigkeit" bezogen und Rechtsbrüche zu legitimieren, wenn sie solche um ermöglichte sogar die Nichtbeachtung der Gesetze, ihrer politischen Interessen wi llen für erforderlich angeblich im Interesse der Arbeiterklasse, in Wahr- hielt. Wer dem geschriebenen Recht eine eigene heit nach Willkür der SED. Hilde Benjamin, die nach Qualität zuschrieb, das auch der politischen Macht der Verhaftung des Justizministers Max Fechner Grenzen setzen durfte, wurde als „kleinbürgerlicher wegen seiner Billigung der Arbeiterstreiks im Juni Positivist" denunziert. Man verstand das Recht nicht 1953 (s. o. 2.2) an dessen Stelle ge treten war, defi- mehr als an der Gerechtigkeit ausgerichtete norma- nierte die „sozialistische Gesetzlichkeit" als „dialek- tive Ordnung für die Lösung von Konflikten, sondern tische Einheit von strikter Einhaltung der Gesetze und übertrug die polemische Charakterisierung des sei- Parteilichkeit ihrer Anwendung". Als die DDR im Jahr nerzeitigen Rechts durch Karl Marx und F riedrich 1961 ihre Polemik gegen den Begriff des Rechtsstaats Engels als „Wille der herrschenden Klasse" auf das aufgab und sich selbst als Rechtsstaat bezeichnete, eigene Recht. Seine alleinige Interpreta tion behielt blieb dies nur eine propagandistische Behauptung sich die SED vor. Wenn sie ihre Kompetenz — zu ohne Auswirkungen auf das Rechtssystem. Ausge- definieren, was rechtens war — zum Zweck von rechnet in der Präambel des Strafgesetzbuchs von Machtgewinn und Machterhalt einsetzte, so war dies 1968 mit seinen brutalen Strafvorschriften gegen in ihren Augen durch ihren angeblich wissenschaft- politische Gegner und gegen den Versuch zur Flucht lich begründeten, historisch legitimen Machtan- aus der DDR wurde diese als „der wahre deutsche spruch gerechtfertigt. Das Recht wurde offen als Rechtsstaat" bezeichnet. Nach dem „Prager Früh- „Instrument", als „scharfe Waffe der Verteidigung der ling" hat die SED den Beg riff des Rechtsstaats als demokratischen Errungenschaften" bezeichnet. Die „Aushöhlung der marxistisch-leninistischen Staats- Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR Hilde lehre" wieder aufgegeben. Durch das zweite Straf- Benjamin verlangte 1951 eine „Umwertung aller rechtsänderungsgesetz von 1977 strich man die Rechtsbegriffe" [—> Vortrag Sv Schroeder, Proto- Bezeichnung der DDR als Rechtsstaat sogar wieder koll Nr. 37]. Diese Auffassung erlaubte die Auslegung aus der Präambel des Strafgesetzbuchs. der bestehenden Gesetze zum Nachteil von Angehö- rigen „feindlicher Klassen" , die Nichtanwendung von Schutzbestimmungen bei ihnen sowie den Erlaß von 3.2 Die Abwehr der Schutzwirkung der Gesetzen, die eine krasse Benachteiligung von „Klas- Menschenrechte senfeinden", ja ihre völlige Entrechtung und brutalen Terror gegen sie vorsahen. Die Verfassungen der DDR von 1949 und 1968 ent- Auf der sog. Babelsberger Konferenz 1958 setzte sich hielten ausführliche Kataloge von Grundrechten. Dar- Walter Ulbricht scharf mit einigen „Abweichlern" in über hinaus bekannte sich die DDR im Grundlagen- der Rechtswissenschaft auseinander. Diese, selber vertrag vom 21. Dezember 1972 gegenüber der Bun-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 desrepublik zur Wahrung der Menschenrechte. Sie Ausschüssen zur Überwachung internationaler trat zahlreichen internationalen Verträgen zum Konventionen („Opting out"). Schutz der Menschenrechte bei, insbesondere Ende Der Pflicht zur Berichterstattung vor dem Menschen- 1973 dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Sie unterzeichnete die Schlußakte rechtsausschuß über die Verwirklichung der in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische der KSZE von Helsinki und das Abschließende Doku- Rechte enthaltenen Rechte konnte die DDR allerdings ment des Wiener Folgetreffens. Die Grund- und Men- nicht ausweichen. Sie hat in den Jahren 1977 und 1984 schenrechte wurden jedoch in der DDR durch ein entsprechende Berichte vorgelegt. Dabei versuchte Bündel von Maßnahmen weitgehend ihrer Schutzwir- sie, den Stand der Verwirklichung der Menschen- kung beraubt. Diese Maßnahmen bestanden: rechte in ihrem Bereich vornehmlich auf das von ihr — in der Zulassung gesetzlicher Einschränkungen propagierte Verständnis von Menschenrechten zu- und in der extensiven Ausnutzung der in interna- rückzuführen. Diese Konzeption leugnete die Funk- tionalen Verträgen vorgesehenen Einschrän- tion der Menschenrechte als individuelle Schutz- und kungsmöglichkeiten Abwehrrechte. Ihre höchste Verwirklichung beruhte nach dieser Lehre nicht darauf, daß sich der einzelne So konnte nach Artikel 12 Abs. 3 des Internationa- gegenüber staatlicher Machtausübung auf eigene, len Pakts über bürgerliche und politische Rechte unverletzliche Rechtskreise berufen konnte, sondern das Recht auf Verlassen des eigenen Landes ein- auf der Einbindung aller Individuen in Kollektive, die geschränkt werden, wenn dies zum Schutz der letztlich widerspruchsfrei im Staatsganzen mündeten. nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Nur in der Übereinstimmung mit seinem Kollektiv der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder seinem Staat könne der einzelne seine „Rechte" oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig entfalten. Ein Gegensatz von Staat und Individuum ist. Diese Bestimmung, die auf bestimmte Personen war danach ausgeschlossen [–> Expertise Ipsen]. Die beschränkte Einschränkungen des Rechts auf Aus- SED bediente sich dieser Konzeption, um die freiheit- reise, in Ausnahmefällen auch eine zeitlich befri- liche Tradition der individuellen Menschenrechte stete völlige Unterbindung der Ausreisefreiheit, nach innen und außen abzuwehren sowie Kritik an zuläßt, wurde von der DDR dazu benutzt, die den von ihr praktizierten kontinuierlichen Menschen- Ausreise während ihrer gesamten Existenz völlig rechtsverletzungen als unzulässige „Einmischung in zu verbieten bzw. auf Personen zu beschränken, ihre inneren Verhältnisse” zurückzuweisen. Der die wegen ihres Alters wirtschaftlich nicht mehr zweite Bericht von 1984 ist das wich tigste Zeugnis der nutzbar waren. Selbstdarstellung der DDR vor einem internationalen Menschenrechtsorgan. Dabei mußte die DDR zum — in der allgemeinen Bindung der Wahrnehmung Teil die gestellten Fragen unbeantwortet lassen; zum der Grundrechte an die „Grundsätze und Ziele der Teil hat sie sogar zum Mittel der Falschdarstellung Verfassung" gegriffen [-->Expertise Ipsen]. in der Bindung der Ausübung der Grundrechte an die Einhaltung von „Grundpflichten" (Grundsatz der „Einheit von Rechten und Pflichten") 3.3 Die Umgestaltung von Rekrutierung und in der Uminterpretation und damit Umfunktionie- Ausbildung der Juristen rung der Grund- und Menschenrechte von Rechten zur Abwehr staatlicher Eingriffe in Rechte zur Ein wichtiges Mittel zur Umwandlung des Rechts war Mitwirkung und Mitgestaltung die Umgestaltung von Rekrutierung und Ausbildung der Juristen. Nach der sowjetischen Besetzung wur- Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde den in der SBZ fast alle Richter und Staatsanwälte dadurch zum Recht, durch positive Äußerungen an entlassen. Ansatzpunkt war die Ausschaltung natio- der Gestaltung des „sozialistischen Aufbaus" mit- nalsozialistisch belasteter Personen. So ordnete der zuwirken. Befehl Nr. 49 der SMAD vom 4. September 1945 die in der Nichtbestätigung des Internationalen Pakts Entfernung „aller Mitglieder der Nazipartei" aus der über bürgerliche und politische Rechte durch die Justiz an. Das betraf etwa 80 v. H. der Richter und Volkskammer Staatsanwälte [--> Vortrag Otto, Protokoll Nr. 37]. Die Entfernung nationalsozialistisch belasteter Personen Artikel 51 der Verfassung der DDR verlangte die aus der Justiz diente aber zugleich zur Besetzung mit Bestätigung von völkerrechtlichen Verträgen, die dem neuen politischen System ergebenen Personen in Gesetze der Volkskammer änderten, durch die diesem Bereich. Die Entnazifizierung wurde so zur Volkskammer. Diese Bestätigung wurde hinsicht- Erreichung eigener Ziele instrumentalisiert. Dies lich der Menschenrechte teilweise für unnötig zeigt sich insbesondere darin, daß in führenden Posi- erklärt, da „allgemein anerkannte, dem Frieden tionen der Justiz der SBZ und DDR durchaus einzelne und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker ehemalige Nationalsozialisten tätig sein konnten dienende Regeln des Völkerrechts" nach Artikel 8 [--> Vortrag Otto und Stellungnahme Sv F ricke, Proto- der Verfassung für die DDR unmittelbar verbind- koll Nr. 37]. lich sein sollten. Von 1945 bis 1953 wurden in Schnellkursen von — in der Nichtzulassung der Beschwerde anderer zunächst sechs Monaten, dann von einem Jahr und Staaten gegen eigene Menschenrechtsverletzun- schließlich von zwei Jahren sogenannte Volksrichter gen und im Ausschluß der Zuständigkeit von ausgebildet. Wenngleich auch andere „antifaschisti-

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sche" Parteien ein Vorschlagsrecht hatten, lag der und unveröffentlichten Anweisungen der Ministe rien Anteil der SED-Mitglieder unter den Teilnehmern bei informierte; dieses Unterrichtsfach blieb seinerseits 80 v. H. Bevorzugt wurden Arbeiter und Arbeiterkin- geheim und erschien in keinem Studienführer. der sowie Personen mit nicht höherer als Volksschul- bildung. Verhandlungsführung und Urteile zeigten Die Studierenden wurden in „Studentenkollektiven", häufig sprachliche und intellektuelle Mängel. Be- FDJ-Studiengruppen und Seminargruppen zusam- zeichnenderweise wurden auch ehemalige Kriegsteil- mengefaßt, um eine bessere Kontrolle insbesondere nehmer, die sich längere Zeit in westlicher Kriegsge- der gesellschaftspolitischen Aktivität und der einge- fangenschaft befunden hatten, nicht zugelassen. Seit gangenen Selbstverpflichtungen zu sichern. Dozen- 1949 bildete die „Gesellschaftskunde" einen hohen ten und Studenten, die der SED angehörten, bildeten Anteil an der Ausbildung. Ende 1949 waren 47 v. H., Grundorganisationen an den Fakultäten/Sektionen, 1953 92 v. H. aller Richter in der DDR Absolventen der während die Massenorganisationen zu „Grundein- Volksrichterlehrgänge. Sie prägten für die folgenden heiten" zusammengefaßt waren. Alles war darauf zwanzig bis dreißig Jahre das Bild der Rechtspre- ausgerichtet, den Studierenden keine Ch ance zu chung in der DDR [--> Expertise Gräf I; Vortrag sonst für das Lebensalter typischen Distanzierungs- Pfannkuch, Protokoll Nr. 37]. prozessen und alternativen Denkexperimenten zu lassen.

Auch die allgemeine Ausbildung an den Universitä- Die praktische Ausbildung als Rechtsreferendar sowie ten wurde radikal umgewandelt [—> Expertise Gräf I]. das Zweite Juristische Staatsexamen wurden 1953 Aufgrund von knapp bemessenen Prognoseplänen abgeschafft und für angehende Richter durch eine des Ministeriums der Justiz wurden sehr geringe viermonatige Praktikantenzeit ersetzt, die schließlich Zulassungszahlen festgelegt. Ab 1970 wurde die Aus- zu einer einjährigen „Assistenzzeit" wurde. Auch bildung stark spezialisiert und damit die juristische diese Zeit diente einer gründlichen politisch-ideologi- Bildung verengt: Die Humboldt-Universität Berlin schen Überprüfung und der Ausscheidung ungeeig- und die Friedrich-Schiller-Universität Jena bildeten neter Bewerber. nur noch Rechtspflegejuristen, die Martin-Luther- Universität Halle und die Karl-Marx-Universität Leip- Den evangelischen Landeskirchen auf dem Gebiet zig nur noch Wirtschaftsjuristen aus; Ausbildungs- der DDR gelang es, unter schwierigsten Bedingungen stätte von Juristen für die staatliche Verwaltung war und unter Verzicht auf staatliche Anerkennung eine allein die Akademie für Staats- und Rechtswissen- eigene juristische Ausbildung nach überkommenen schaft der DDR Potsdam-Babelsberg. Zulassungsvor- Grundsätzen von acht Semestern Dauer mit anschlie- aussetzungen waren die „treue Ergebenheit gegen- ßender dreijähriger Referendarzeit und einem Zwei- über der DDR" und die Bereitschaft zur „Verteidigung ten Examen durchzuführen [--> Exper tise Heftmann/ des sozialistischen Vaterlandes und der sozialisti- Knoth]. Diese Ausbildung erfolgte allerdings nur für schen Staatengemeinschaft gegen alle Angriffe", die den eigenen Bedarf und konnte nur ca. 30 Personen vorbehaltlose Anerkennung der Beschlüsse der Par- zuteil werden. tei- und Staatsführung, eine klare politische Grund- haltung, die Entwicklung gesellschaftlicher Aktivitä- ten sowie die Befolgung der „Grundsätze der soziali- 3.4 Die Verhinderung einer unabhängigen stischen Moral und Ethik". Voraussetzung war ferner Rechtswissenschaft seit 1970 die Ableistung eines dreijährigen freiwilli- gen Wehrdienstes und die Verpflichtung, Reserveoffi- Der Umwandlung des Rechts zu einem Herrschaftsin- zier der Nationalen Volksarmee zu werden. Studien- strument diente auch die Verhinderung der Unabhän- bewerberinnen mußten sich — wie auch in anderen gigkeit der Rechtswissenschaft als Faktor zur eigen- Studienfächern — verpflichten, an der vormilitäri- ständigen Auslegung und Fortentwicklung des schen Ausbildung während des Studiums teilzuneh- Rechts. Die Mechanismen zur Rekrutierung des men. Seit Mitte der sechziger Jahre wurden Richter rechtswissenschaftlichen Nachwuchses sind bisher und Staatsanwälte durch Verträge des Ministe riums noch weithin ebenso unbekannt wie die Frage, ob in der Justiz mit SED- und FDJ-Mitgliedern über die der Rechtswissenschaft Einschüchterung oder voraus- Delegierung zum Studium und die Finanzierung des eilender Gehorsam überwog. Auf der Babelsberger Studiums rekrutiert. Auch sonst war die Aufnahme Konferenz von 1958 wurden einige Rechtswissen- des Jurastudiums nur in Form einer Delegierung schaftler der DDR von Ulb richt scharf angegriffen durch das Kreisgericht oder die Kreisstaatsanwalt- (s. o. 3.1). Es ist allerdings umstritten, ob hier echte schaft, durch einen Bet rieb oder eine Verwaltung auf Alternativen unterdrückt wurden, zumal da die der Grundlage eines Studienförderungsvertrages Gemaßregelten nach verhältnismäßig kurzer Zeit möglich. Das Studium erfolgte somit von Anfang an wieder in höchste Posi tionen aufrückten und Reiseka- für einen bestimmten Auftraggeber mit entsprechen- der wurden [--> Vortrag Eckert, Protokoll Nr. 39]. der Abhängigkeit. Einen hohen Anteil der Ausbildung hatten auch hier die „gesellschaftswissenschaftli- Die wissenschaftliche Öffentlichkeit war stark einge- chen" Fächer (Wissenschaftlicher Kommunismus, schränkt. Die Dissertationen und Habilitationen Geschichte der Arbeiterbewegung, marxistisch-leni- („Dissertationen B") blieben meist urpubliziert, oft nistische Theorie des Staates und des Rechts, sogar geheim. Die Möglichkeit zur Veröffentlichung Geschichte der staats- und rechtstheoretischen wissenschaftlicher Auffassungen war erheblich redu- Anschauungen sowie Geschichte der SED). Ein spe- ziert. Außerdem unterlagen rechtswissenschaftliche zielles Ausbildungsfach war der „Geheimnisschutz", Publikationen einer s trengen Vorzensur. Zu den das über den Umgang mit vertraulichen Dienstsachen grundlegenden Gesetzbüchern wurde typischerweise

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 jeweils nur ein Erläuterungswerk veröffentlicht, das das Einwirkungsmuster hervor: Von der Anklageer- dadurch einen amtlichen Charakter erhielt [—> Exper- hebung über den Prozeßverlauf bis hin zum Urteil tise Roggemann] . An diesen Erläuterungswerken sind beherrschte die SED die Verfahren, verfaßte „Dreh- fast alle Strafrechtswissenschaftler und auch höhere bücher" für die Verhandlungen, präparierte Ange- Richter beteiligt worden, so daß eine Konkurrenz der klagte wie Zeugen und bestimmte Umfang oder Meinungen ausgeschaltet wurde. Es gab kaum kriti- Ausschluß der Öffentlichkeit. Sie schrieb dem Gericht sche Besprechungen von Urteilen der höheren das Urteil einschließlich des Strafmaßes vor. Nicht Gerichte. einmal der Anschein der Rechtsstaatlichkeit wurde gewahrt. Eine Vielzahl politischer Strafverfahren, vor allem wenn mit größerem Aufsehen zu rechnen war, lief mehr oder weniger nach diesem Muster ab 3.5 Einflußnahmen auf die Staatsanwälte und [-->. Vortrag Sv Fricke, Protokoll Nr. 41]. Nicht nur zu Richter Lasten, sondern auch zugunsten von Beschuldigten erlaubte sich die Parteiführung solche Eingriffe, wenn Einheitlichkeit justitiellen Handelns und Entschei- es um strafrechtliche Vorwürfe gegen Angehörige der dens ist für die Rechtsgemeinschaft eines Staates eigenen Machtkaste ging [—> Expertise Grasemann, grundsätzlich von hohem Wert; sie bedeutet Rechtssi- Bericht Raab, Protokoll Nr. 40]. Gegenüber der Früh- cherheit für die Bürger. Kalkulierbares Recht ist Vor- zeit nahmen im ausgebauten und entwickelten Justiz- aussetzung für individuelle Freiheit. In einem natürli- system der siebziger und achtziger Jahre die Eingriffe chen Spannungsverhältnis dazu steht der Grundsatz durch Parteianweisungen ab, nicht aber der Einfluß richterlicher Unabhängigkeit, gibt er doch unver- der SED auf justitielle Verfahren. Man hatte inzwi- meidlich subjektiven Wertungen und Auslegungen schen subtilere Methoden entwickelt, um diesen Ein- Raum. Auch er ist für die Garan tie der Bürgerfreihei- fluß zu sichern. ten unverzichtbar, denn nur unabhängige Gerichte können der Macht Grenzen setzen. In Rechtsstaaten Von wesentlicher Bedeutung für die Beeinflussung wird dem Spannungsverhältnis dadurch Rechnung der Justiz in der DDR war die starke Stellung der getragen, daß neben das Gesetz als Grundlage für Staatsanwaltschaft in den strafrechtlichen und allen justitielle Verfahren die vereinheitlichende Wirkung sonstigen Verfahren, in denen sie bei Bejahung eines einer obergerichtlichen Rechtsprechung tritt, um politischen Interesses ebenfalls Einfluß ausüben extreme Schwankungsbreiten in der Anwendung des konnte [--> Expertise Grasemann]. Ihren Anträgen Rechts zu verhindern. Vollkommene Einheitlichkeit wurde in der Regel durch die Gerichte entsprochen. der Rechtsprechung kann bei Respektierung der rich- Wichen Urteile davon ab, so waren die Rechtsmittel terlichen Unabhängigkeit jedoch nicht erreicht wer- der Staatsanwaltschaft meist erfolgreich. Die Nähe den [--> Vortrag Rottleuthner, Protokoll Nr. 40]. der Staatsanwaltschaft zur SED war ebenso institutio- nell wie personell gesichert. Alle Staatsanwälte waren Solche rechtsstaatlichen Prinzipien hinzunehmen, Mitglieder oder Kandidaten der SED. Beruflicher kam für den SED-Staat nicht in Betracht: Subjektivis- Aufstieg war mit dem Besuch von Parteischulen ver- men in der justitiellen Praxis galt es gezielt zu verhin- bunden [—> Raab, Protokoll Nr. 40]. Die Organisa tion dern. Diesem Ziel mußte die richterliche Unabhängig- der Staatsanwaltschaft war nach sowjetischem Vor- keit, obwohl verfassungsmäßig garantiert, weichen. bild streng zentralistisch. Regelmäßige „Leiterbespre- Dabei ging es jedoch nicht um eine größere Rechts- chungen" dienten der Koordination mit der SED und klarheit im Interesse der rechtsuchenden Bürger. Daß anderen von ihr dominierten Stellen. In enger Füh- dies gerade nicht angestrebt wurde, zeigt sich schon lungnahme mit SED, MfS und MdI sind „gemeinsame darin, daß im Rechtswesen der DDR eine krankhaft Standpunkte" und andere innerdienstliche Weisun- anmutende Geheimhaltung waltete. Den Bürgern gen erarbeitet worden. Dabei spielten die Funktions- wurden wesentliche Vorschriften, Richtlinien und träger der Staatsanwaltschaften — so stark ihre Stel- verbindliche „gemeinsame Standpunkte" für die lung im Gerichtsverfahren auch war — nur die Rolle Rechtsauslegung vorenthalten, obgleich sie weit mehr von juristisch beratenden Befehlsempfängern. Lag ein als das geschriebene Gesetz die Rechtswirklichkeit Ermittlungsverfahren — wie regelmäßig in politisch prägten. Selbst Anklageschriften und Urteile beka- relevanten Verfahren — beim MfS, so waren die men die Betroffenen in politischen Strafverfahren Staatsanwälte nur formal Herren des Verfahrens, nicht oder nur kurzfristig ausgehändigt [—> Exper tise hatten aber in Wirklichkeit die Vorgaben des MfS bis Grasemann]. Die angestrebte Einheitlichkeit der hin zum Strafantrag zu übernehmen. Ihre Aufgabe Justiz diente der Schlagkraft des Instruments Justiz im war es, den politischen Zielsetzungen eine juristische Sinne allgemeiner und aktueller politischer Zielset- Form zu geben und sie im Einzelverfahren durchzu- zungen der SED. Kalkulierbar und damit einsatzfähig setzen. Durch die straffe organisatorische Hierarchie sollte die Justiz für die Staatspartei sein. Dem hätte der und die gleichzeitige Einbindung aller Staatsanwälte Respekt vor richterlicher Unabhängigkeit entgegen- in die parallelen Parteiorganisationen war juristisch gestanden. So wurde die Justiz der DDR in vielfältiger fachlicher Widerspruch ausgeschlossen. Weise „auf Linie" gebracht und zu einem brauchba-- ren Instrument der Herrschaftsausübung entwickelt. Neben der Staatsanwaltschaft als dem marxistisch- leninistischen Elitecorps der DDR-Juristen war die In der Frühzeit der DDR dominierte noch — vor allem Stellung der Richter vergleichsweise schwach, ihr in politischen Prozessen — der unmittelbare Eingriff Sozialprestige mäßig, der Frauenanteil hoch. In ihrer seitens der Parteiführung in justitielle Vorgänge. Ein beruflichen Stellung waren sie von formeller Wieder- besonders eklatantes Beispiel sind die Waldheimer wahl alle fünf Jahre abhängig. Gleichwohl sicherte Prozesse [—> Expertise Werkentin]. Hier trat frühzeitig die SED auch bei ihnen mit vielfältigen Mitteln ihren

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Einfluß. Die weitaus meisten Richterinnen und Richter verhandlung und die Vermittlung von Kontakten zu gehörten der SED an, ein geringer Teil den staatsna- Familienangehörigen. hen Blockparteien, ein verschwindend geringer Teil war parteilos. Auch bei denen, die nicht SED-Mitglie- Trotz der begrenzten Einflußmöglichkeiten der der waren, stand die Übereinstimmung mit der Staats- Rechtsanwälte nahm die SED auch auf sie und ihre doktrin fest [--> Vortrag Bischoff, Protokoll Nr. 41]. Organisationen bestimmenden Einfluß. Als Rechtsan- Innerhalb der Gerichtsorganisation gab es zur Len- walt wurde nur zugelassen, wer in einem Anwaltskol- kung der richterlichen Spruchpraxis nicht nur regel- legium Aufnahme fand. Dies wiederum war in der mäßige „Instruktionen" auf allen Ebenen, sondern Regel von politischer Zuverlässigkeit abhängig. Der auch ein ausgefeiltes System von Berichtspflichten Ausschluß aus dem Anwaltskollektiv bedeutete für der einzelnen Richter und der Gerichtsvorsitzenden, die Betroffenen das Ende jeder anwaltlichen Berufs- die regelmäßig auf höherer Ebene in Übereinstim- tätigkeit. Nur einige wenige Anwälte waren als Ein- mung mit der SED-Führung ausgewertet wurden. zelanwälte zugelassen, und zwar solche, deren Tätig- Ständige Gerichtsanalysen und -statistiken machten keit die SED besondere Bedeutung beimaß (z. B. für „Leistungsdefizite" deutlich, die durch neue Instruk- den Häftlingsfreikauf). In politisch relevanten Verfah- tionen und Einzelaussprachen korrigiert wurden. Die ren sorgte der ermittelnde Staatssicherheitsdienst Gerichtsvorsitzenden waren befugt, Verfahren ohne dafür, daß nur bestimmte Anwälte mit der Verteidi- Rücksicht auf einen „gesetzlichen Richter" anders gung beauftragt wurden. Überhaupt durften nur zuzuordnen oder auch an sich zu ziehen, wenn dies wenige den Beruf des Rechtsanwalts ausüben: Zum nötig erschien. Auch sie besprachen sich in monatli- Schluß waren in der DDR etwa 600 Rechtsanwälte zugelassen. chen „Leitertreffen" mit Vertretern von SED, MfS und MdI. Zusätzlich waren die Richter in die neben der Auch unter Rechtsanwälten war die Mitgliedschaft in Gerichtshierarchie bestehenden Parteiorganisation der SED verbreitet. Der Anteil derer, die einer Block- eingebunden [—> Vorträge Bischoff, Baier, Rottleuth- partei angehörten, ist etwas größer gewesen als bei ner, Protokolle Nr. 40, 41]. den Richtern; Parteilosigkeit war selten. Die Bereit- schaft, dem Regime rückhaltlos zu dienen, war bei Wenn sich die meisten Richterinnen und Richter etlichen der Rechtsanwälte nicht nur das Ergebnis tatsächlich „unabhängig" fühlten, so deshalb, weil sie äußeren Druckes. Die Loyalität zum SED-Regime ging — innerlich durchdrungen von dem in der Verfassung bei manchen sogar so weit, daß sie gegen ihre festgeschriebenen Führungsanspruch der SED — ihre Mandanten mit dem Staatssicherheitsdienst zusam- Kontrolle nicht als illegitime Beeinträchtigung ihrer menarbeiteten und an ihnen Verrat übten. Unabhängigkeit wahrnahmen [—> Vortrag Bischoff, Protokoll Nr. 41].

Die Enquete-Kommission verweist im übrigen auf das umfangreiche, vom Bundesministerium der Justiz in 4. Die Instrumentierung von Recht und Justiz in Auftrag gegebene Forschungssvorhaben „Einfluß- den verschiedenen Gerichtszweigen sowie durch nahme der Politik in der DDR auf Richterschaft, die Polizei Staatsanwaltschaft und Rechtsprechung", von dem sie Kenntnis genommen hat. Vorbemerkung

3.6 Behinderung anwaltlicher Beratung und Die Enquete-Kommission konnte die Bereiche Zivil- Vertretung justiz/Familienrechtssachen aus Zeitgründen leider nicht mehr behandeln. Aus der inneren Systematik des Rechtssystems der DDR war die Institution der anwaltlichen Vertretung von Bürgern im Gerichtsverfahren schwer zu begrün- 4.1 Strafjustiz, Strafvollzug und Aufsicht über den, weil die Existenz eines wirklichen Interessen- Strafentlassene konflikts zwischen Staat und Bürger nach der herr- schenden Staatsdoktrin beg rifflich ausgeschlossen 4.1.1 Strafbestimmungen war. Das Recht auf und die Möglichkeit zur Verteidi- gung waren jedoch wegen der internationalen Repu- Die Strafbestimmungen, auf die sich die Strafjustiz der tation der DDR notwendig. Dieser Widerspruch wirkte DDR stützte, (z. B. „Staatsfeindliche Hetze", „Öffent- sich so aus, daß die Stellung der Rechtsanwälte im liche Herabwürdigung", „Verfassungsfeindlicher Zu- Gerichtsverfahren stark behindert wurde, vor allem sammenschluß", „Ungesetzliche Verbindungsauf- bei der Verteidigung in Strafprozessen. Waren politi- nahme", „Ungesetzlicher Grenzübertritt", „ Beein- sche Interessen im Spiel, so hatten die Verteidiger trächtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit weder auf das Ermittlungsverfahren noch auf die - durch asoziales Verhalten") mißachteten elementare Beweisaufnahme oder die Urteilsfindung einen korri- bürgerliche und politische Rechte. Außerdem waren gierenden Einfluß [–> Expertise Lange; Vorträge Gräf, sie so weit und unbestimmt formuliert, daß sie dem Wiedemann, Protokoll Nr. 40]. Akteneinsicht erhiel- einzelnen Bürger keine Sicherheit darüber verschaff- ten sie überhaupt erst nach Abschluß der Ermittlun- ten, welches Verhalten eine S trafe nach sich ziehen gen. Ihre Hilfe für Beschuldigte und Angeklagte konnte. Die Rechtsprechung hat wesentlich dazu beschränkte sich oft auf menschlichen Zuspruch, die beigetragen, die ohnehin sehr weit gefaßten Strafbe- Hervorhebung mildernder Tatumstände in der Haupt stimmungen in einer oft unvorhersehbaren Weise zu

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Ungunsten des Angeklagten auszulegen und zu über- 4.1.3 Das Recht auf Verteidigung dehnen. So wurden der Besitz von Büchern des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Bö ll als „Staats- Das Recht des Beschuldigten auf angemessene Ver- feindliche Hetze", der Fluchtversuch eines Leiters der teidigung war weitgehend reduziert. § 61 der Straf- Städtischen Verkehrsbetriebe als Versuch der „Lan- prozeßordnung (StPO) bestimmte zwar, daß sich ein desverräterischen Nachrichtenübermittlung" be- Beschuldigter in jeder Lage des Verfahrens einen straft; sportliche Betätigung vor einem Fluchtversuch Verteidiger nehmen konnte. „Beschuldigter" im galt als „Vorbereitung des ungesetzlichen Grenz- Sinne des Gesetzes wurde man allerdings erst, wenn übertritts mit besonderer Intensität". Die Unschärfe dies durch eine entsprechende Verfügung der Straf- der Strafvorschriften beruhte nicht auf einer Unfähig- verfolgungsorgane förmlich festgelegt worden war. keit der für die Gesetzgebung Verantwortlichen in der Verhöre, die im Vorfeld einer solchen Verfügung DDR, sondern bezweckte bewußt die Verunsicherung stattfanden, wurden grundsätzlich ohne anwaltlichen und Einschüchterung der Bürger. Es kam hinzu, daß Beistand durchgeführt. bei vielen Strafbestimmungen auch die Vorbereitung unter Strafe gestellt worden ist. Dadurch wurden Zusätzliche Behinderungen ergaben sich für den Handlungen strafbar gemacht, die noch keinerlei Beschuldigten, wenn er sich in Untersuchungshaft Schaden verursacht hatten und die sich schwer von befand. Seine Bitte, einen Anwalt seiner Wahl konsul- normalen Handlungen abgrenzen ließen. Schließlich tieren zu dürfen, wurde oftmals indirekt dadurch sahen die Strafbestimmungen der DDR hohe Strafrah- abgeschlagen, daß m an durchblicken ließ, bei Beauf- men vor (bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe bei „Staats- tragung eines solchen Verteidigers sei eine höhere feindlicher Hetze", § 106 StGB; bis zu acht Jahre Strafe zu erwarten [--> Protokoll Nr. 40]. Nicht selten Freiheitsstrafe bei „Ungesetzlichem Grenzübertritt", wurden auch Briefe des U-Häftlings an seinen Anwalt § 213 StGB). Dabei wurde dieser Strafrahmen viel mit Bitte um Kontaktaufnahme zurückgehalten, oder stärker ausgeschöpft als in anderen Rechtssystemen; es wurde dem Beschuldigten wahrheitswidrig mitge- die Höchststrafen beschränkten sich keineswegs auf teilt, daß dieser Verteidiger kein Interesse an der seltene Ausnahmen. Die Unschärfe der Straftatbe- Bearbeitung des Falles habe [--> Exper tise Gräf II]. Zu stände ermöglichte es überdies den Führungsgremien einer ersten Begegnung zwischen Verteidiger und der SED, Anweisungen für die Auslegung zu Beschuldigtem kam es infolgedessen in politischen geben. Fällen regelmäßig erst, wenn die Ermittlungen abge- schlossen waren. Auch in diesem späten Stadium konnte die Staatsanwaltschaft noch gemäß § 64 Abs. 3 StPO für das anwaltliche Beratungsgespräch „Bedin- gungen" festsetzen. Häufig durften mit dem Beschul- 4.1.2 Ermittlungsverfahren digten nur noch persönliche Angelegenheiten bespro- chen werden [—> Protokoll Nr. 40]. Insbesondere im Bereich der sog. politischen — d. h. aller vom Regime als systemgefährdend angesehenen Wenn, was die Regel war, die Öffentlichkeit in der Straftaten — war eine enge Verflechtung von Staats- Hauptverhandlung wegen „Gefährdung der Sicher- anwaltschaft und MfS zu verzeichnen. Ermittlungs- heit des Staates" bzw. der „Notwendigkeit der verfahren in diesem Bereich wurden federführend von Geheimhaltung bestimmter Tatsachen" ausgeschlos- der Abteilung IX des MfS betrieben [--> Expertisen sen war, mußte die Strafverteidigung mit zusätzlichen Grasemann; Gräf II; Vortrag Sv F ricke, Protokoll Behinderungen kämpfen: Die StPO sah in solchen Nr. 41]. Das MfS nutzte eine breite Palette des ihm Fällen vor, daß die Anklageschrift dem Beschuldigten zustehenden Repertoires von Druck und Zersetzung, bzw. seinem Verteidiger nur „zur Kenntnis" gebracht um meist unter Umgehung der bestehenden Gesetze werden mußte (§§ 203 Abs. 3, 211 Abs. 3). In der Praxis die zu untersuchenden Tatvorwürfe „anklagefest" zu bedeutete dies, daß Anwalt bzw. Beschuldigter das machen. Als Beispiele für verbotene Ermittlungsme- Schriftstück nur kurzfristig ausgehändigt bekamen. thoden seien genannt: Mitunter wurde ihnen der Anklagevorwurf auch nur von einem Vernehmer vorgelesen. Die Frist der — willkürliche Verhaftung und Inhaftierung Ladung zur Hauptverhandlung und damit der Kennt- nis der Anklageschrift konnte auf 24 Stunden verkürzt — verbotene Vernehmungsmethoden psychischer werden. Die Schöffen hingegen wurden vom Vorsit- und physischer Art zur Erzwingung eines Geständ- zenden Richter über Details der Anklage informiert nisses und zur Akteneinsicht angehalten [—> Expertise — Androhung der Verhaftung von Angehörigen Gräf II]. Dadurch war ihre Unvoreingenommenheit dem Angeklagten gegenüber beeinträchtigt. — psychische Destabilisierung durch Schlafentzug und Isolation In der Hauptverhandlung setzte sich die Waffenun- gleichheit zwischen Staatsanwalt und Gericht auf der — Unterbindung der Orientierung einen sowie Angeklagtem und Verteidiger auf der — konspiratives Eindringen in die Wohnung des anderen Seite fort. Eine Belehrung über das Schwei- Beschuldigten ohne Durchsuchungsbefehl gerecht des Angeklagten gab es grundsätzlich nicht. Machte ein Angeklagter gleichwohl hiervon Ge- — ungesetzliche Telefonüberwachung und andere brauch, wurde er oftmals in rüder und lauter Form vom Abhörmaßnahmen [-->Expertise Gräf II; Zeitzeu- Richter bzw. Staatsanwalt darauf hingewiesen, „der genberichte ehem. „politischer" Gefangener, Pro- Wahrheit die Ehre zu geben" [-p Expertise Gräf II]. tokoll Nr. 41 ] Behinderungen gab es auch bei Beweis anträgen, die

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der Angeklagte bzw. sein Verteidiger stellten. § 68 System mit einbezogen: Mit entsprechenden Lock- StPO verpflichtete das Gericht zwar zur Feststellung und Drohmitteln wurden sie zur Bespitzelung ange- der objektiven Wahrheit. In bezug auf Beweisan träge halten. Der Strafvollzug diente demnach als Instru- bedeutete dies nach der Gesetzeslage, daß der Richter ment dafür, die Menschenwürde des Gefangenen ihnen stattzugeben hatte, wenn es für die Feststellung auch in ihrem Kernbereich zu zerstören. Dinge, die zur der Wahrheit erheblich sein konnte (§ 223 Abs. 1 Aufrechterhaltung eines Minimalstandards menschli- StPO). In der Gerichtspraxis wurde allerdings der chen Daseins dienen, wurden den Be troffenen vorent- Begriff der „Erheblichkeit" einschränkend ausgelegt, halten, um sie gefügig zu machen. Merkmale des wenn es um Beweisanträge des Angeklagten ging. Strafvollzuges an politischen Häftlingen in der DDR waren: Besaß ein Angeklagter den Mut, in der Hauptver- handlung eine Aussage unter Hinweis auf unzulässige — Überbelegung der Zellen (teilweise drei bis vier- Vernehmungsmethoden zu widerrufen, war hiermit stöckige Etagenbetten) und — daraus folgend — oftmals das Risiko verbunden, wegen Erfüllung eines weiteren Straftatbestandes („Öffentliche Herabwür- — unzumutbare sanitäre Verhältnisse und völliger digung” der Untersuchungsorgane des MfS) erneut Wegfall auch eines Minimums an persönlichem strafrechtlich belangt zu werden [—> Expertise Freiraum Gräf II]. — gemeinsame Unterbringung mit Kriminellen Die Möglichkeit des Anwalts zur Verteidigung war — Anordnung von Einzel- und/oder Dunkelhaft meist darauf beschränkt, Gericht und Staatsanwalt- schaft auf mildernde Umstände hinzuweisen, die in — Einteilung zu schwerer und überlanger, teilweise der Persönlichkeit des Angeklagten lagen. Der Ver- gesundheitsgefährdender Arbeit unter Mißach- such, den Tatvorwurf zu entkräften, ist aufgrund der tung arbeits- und gesundheitsschutzrechtlicher oben dargestellten Praxis der Sachverhaltsaufklärung Bestimmungen nur selten erfolgreich gewesen. Oft beschworen Anwälte ihre Mandanten, ein Urteil anzunehmen, das — gesundheitsgefährdende Verpflegung, mangel zwar den Schuldvorwurf zu Unrecht bestätigte, jedoch hafte medizinische Be treuung im Krankheitsfall von der Strafhöhe her als milde erschien. unmittelbare Gewaltanwendung durch das Bewa- Das Gefühl der Ohnmacht, mit dem ein Anwalt in chungspersonal (Knebelungen, Schläge, Fuß politischen Strafsachen oftmals konfrontiert war, tritte) wurde von manchem Verteidiger resignierend als das — Verletzung des Schamgefühls insbesondere weib- Betreiben einer „Anzugsache" beschrieben: M an lichen Gefangenen gegenüber durch entwürdi- demonstrierte lediglich physische Anwesenheit im gende körperliche Durchsuchungsmethoden Gerichtssaal, indem man — bildlich gesprochen — „seinen Anzug dort aufhing"; gedanklich ging man — Gewährung des Freigangs nur in kleinen Parzellen jedoch derweil draußen spazieren, da keinerlei Aus- mit hohen Mauern sowie Drahtgeflecht- und Lauf- sicht auf effektive Verteidigung des Mandanten stegüberdeckung bestand [—> Protokoll Nr. 40]. — Unterbindung von Angehörigenbesuchen, wi ll riefen, Eingaben und-kürliche Einbehaltung von B Beschwerden des Häftlings 4.1.4 Strafvollzug grausame Disziplinarstrafen, insbesondere Arrest Nach § 2 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz sollten die Straf- ohne ausreichende Bekleidung und Decken, Ver- gefangenen im Rahmen des Strafvollzuges dazu erzo- weigerung der Notdurft [—> Exper tise Gräf II; gen werden, „künftig die Gesetze des sozialistischen Berichte betroffener Zeitzeugen, Protokoll Staates einzuhalten und ihr Leben verantwortungsbe- Nr. 41]. wußt zu gestalten"; Menschenwürde und Persönlich- keit des Strafgefangenen waren zu achten (§ 3 Abs. 2 Die Vorstellung von einem erzieherisch wirksamen Strafvollzugsgesetz). Zuständig für den Strafvollzug Strafvollzug entartete in der DDR zu einer Umerzie- war nach sowjetischem Vorbild nicht das Justiz-, hungsmaschinerie, die vor der Persönlichkeit der ihr sondern das Innenministerium. Die Praxis zeigte aller- Ausgelieferten nicht halt machte, sondern ihre Men- dings, daß insbesondere gegenüber „politischen" schenwürde auszulöschen suchte. Häftlingen der Resozialisierungsgedanke nicht exi- stent war [--> Zeitzeugenberichte Be troffener, Proto- koll Nr. 41]. Statt dessen sollte in der Haft der von 4.1.5 Aufsicht über Strafentlassene diesen Strafgefangenen gezeigte Wille zur Opposition vollständig gebrochen werden. Wer sich als Gegner Mit der Entlassung aus der Haftanstalt hatte die des Systems zu erkennen gegeben hatte, dem begeg- - völlige Entrechtung der Systemgegner kein Ende. Im nete das Regime mit der ganzen Härte der ihm zur Anschluß an die Verbüßung der Freiheitsstrafe konn- Verfügung stehenden diktatorischen Mittel. Das ten nämlich für weitere fünf Jahre „staatliche Kon- Wesen des Strafvollzuges war hier gekennzeichnet trollmaßnahmen durch die Deutsche Volkspolizei" durch völlige Rechtlosigkeit und Rechtsunsicherheit. verhängt werden (§ 48 StGB). Dazu gehörten: Weder Art noch Ausmaß von Druckmitteln und Schi- kanen war für die Gefangenen vorhersehbar und — regelmäßige Meldepflicht bei Dienststellen der berechenbar. Auch Mitgefangene waren in dieses Volkspolizei, oft mit schikanöser Ausgestaltung

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— Verbot der Kontaktaufnahme mit politisch Gleich- führer des MfS (s. o. 4.1.2) dem Zugriff der ordentli- gesinnten, Mithäftlingen, politisch Vorbestraften; chen Strafverfolgung entzogen. Bei anderen wichti- hiermit verbunden gen Funktionären, z. B. im Bereich Kommerzielle Koordinierung, wurde das gleiche Ziel durch die — Zutrittsverbot für bestimmte Gaststätten oder Zuerkennung militärischer Dienstgrade erreicht. Der Wohnungen Militärgerichtsbarkeit unterlagen schließlich auch — Verbot des Besitzes bestimmter politischer Bü- Zivilisten, die die militärische Sicherheit gefährdeten cher oder deren Straftat im Zusammenhang mit der Straftat einer Militärperson stand [--> Expertise Kaschkat]. — massive Einschränkung der Freizügigkeit durch die Anordnung, einen zugewiesenen Wohnort Den Militärstraftaten war ein eigenes Kapitel des ohne Zustimmung der Volkspolizei nicht verlassen StGB der DDR gewidmet (Kapitel 9, §§ 251-283 bzw. einen zugewiesenen Arbeitsplatz nicht wech- StGB). § 253 Abs. 2 StGB eröffnete allerdings die seln zu dürfen [—Expertise Gräf II]. Möglichkeit, strafrechtliche Verstöße untergeordne- ter Art lediglich disziplinarrechtlich zu ahnden. In Kontrollmaßnahmen, die nach § 48 StGB angeordnet diesen Fällen waren die Kommandeure der NVA wurden, gestatteten der Volkspolizei zudem aus- aufgrund der Disziplinarordnung befugt, nach dem drücklich die jederzeitige Durchsuchung der Woh- Opportunitätsprinzip über entsprechende Sanktionen nung des Strafentlassenen. (bis zu sechs Monate Disziplinararrest) zu entschei- Auch bei der vorfristigen Entlassung auf Bewährung den. Eine klare Abgrenzung, wann eine Militärstraftat konnten ähnliche Auflagen ausgesprochen werden vorlag und wann ein bloßer Disziplinarverstoß, war (§ 350 StPO). Damit verfügte das Regime über ein breit kaum möglich. Kam eine disziplinarrechtliche Ahn- gefächertes Instrumentarium massiver Einschränkun- dung durch den Kommandeur in Be tracht, so spielte gen der persönlichen Freiheit auch über den Tag der sich dies in einem praktisch kontrollfreien Raum und Haftentlassung hinaus. Erfüllte der Verurteilte vor- unter Ausschluß der Öffentlichkeit ab, da die Regeln sätzlich die ihm erteilten Auflagen nicht, so konnte er der Militärgerichtsordnung bzw. der Strafprozeßord- nach § 238 StGB wegen Verletzung der Erziehungs- nung für diesen Bereich nicht galten. Dem Be troffenen und Kontrollmaßnahmen erneut mit einer Freiheits- blieb lediglich die Möglichkeit der einfachen strafe bis zu zwei Jahren bestraft werden. Das dicht Beschwerde. Die Gefahr, daß Entscheidungen will- geknüpfte Netz der Überwachung und Kontrolle auch kürlicher Art ergehen konnten, erhöhte sich hierdurch über den Termin der Haftentlassung hinaus bedeu- [--> Expertise Kaschkat]. tete, daß der Be troffene einer unzulässigen Doppel- Nach dem bisherigen Stand der Auswertung erscheint bestrafung ausgesetzt war [--> Exper tise Gräf II]. Der die Anzahl der von den Militärgerichten entschiede- Strafgefangene sollte nicht resozia lisiert, sondern mit nen Verfahren, gemessen an der Anzahl der ihnen Hilfe o. g. Repressalien zermürbt und von der Hoff- unterstehenden Personen, nicht überproportional nungslosigkeit seines Handelns „überzeugt" wer- hoch. Insgesamt wurden pro Jahr lediglich etwa den. 700-1 000 Sachen verhandelt. Ca. 75 v. H. der Ankla- gen befaßten sich mit allgemeiner Kriminalität. Eine Erklärung hierfür könnte darin liegen, daß die Masse 4.2 Militärjustiz der militärischen Delikte auf disziplinarrechtlicher Ebene entschieden worden ist [—> Exper tise Kasch Bei der Militärjustiz h andelte es sich um einen Rand- kat]. bereich der DDR-Justiz, der in besonderer Weise nach außen hin abgeschottet war. Eine grundlegende Aktenbestände, die für die weitere Forschungsarbeit Erforschung ihrer Strukturen sowie eine eingehende im Bereich der Militärjustiz auszuwerten sind, befin- Auswertung der dort verhängten Gerichtsurteile und den sich nach den Erkenntnissen der Enquete-Kom- anderer militärrechtlicher Quellen stehen derzeit mission nebst Registerbüchern im Militärischen Zwi- noch aus. schenarchiv in Potsdam. Der Aufbau der Militärgerichte begann nach Einfüh- rung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1962. 4.3 Polizei Vorher, seit 1956, existierte bereits eine Militärstaats- anwaltschaft, die Teil der allgemeinen Staatsanwalt- Die Quellenlage, mit deren Hilfe die Rolle der Volks- schaft der DDR war. Die Organisation der Militärjustiz polizei bei der Instrumentierung von Recht und Justiz gliederte sich in Militärgerichte, in Militäroberge- untersucht werden kann, ist nach dem derzeitigen richte und in das Militärkollegium des Obersten Stand der Forschung als wenig ergiebig anzusehen. Gerichts als letzte Instanz. Die Archive der Volkspolizei wurden in der Wende- Der Militärgerichtsbarkeit unterlagen nach § 4 Mili- zeit 1989/90 weitgehend von belastendem Mate rial tärgerichtsordnung neben den Militärpersonen auch- gesäubert, was u. a. darauf zurückzuführen ist, daß Zivilbeschäftigte der NVA, der Grenztruppen und der die Volkspolizei — anders als die Einrichtungen des Zivilverteidigung. Eine Durchführungsbestimmung MfS — in dieser Zeitspanne nicht im Zentrum des legte fest, daß auch Angehörige des Ministeriums für Aufklärungsinteresses st and [--> Bericht Marquardt II]. Staatssicherheit, der Volkspolizei-Bereitschaften und Dies ist um so bedauerlicher, als die Bürger im der Transportpolizei sowie besonders verpflichtete Verantwortungsbereich der Volkspolizei vielfach Personen der Militärgerichtsbarkeit unterlagen [-->Ex- Willkür und Rechtlosigkeit ausgesetzt waren. Verwal- pertise Kaschkat]. Damit waren die Untersuchungs- tungsrechtliche Schutzbestimmungen und eine Ver-

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waltungsgerichtsbarkeit fehlten. Damit gab es kein Etwaiger Widerstand wurde mit Gewalt unterbunden. Instrumentarium, das den Verantwortlichen die Gren- Meist beließ man die Menschen im ungewissen, an zen erlaubten Handelns aufgezeigt hätte. Der Bürger welchem Ort die Deportierung enden würde. war vielmehr polizeilicher Willkür schutzlos ausgelie- Gerüchte, es stehe eine Vertreibung nach Sibirien fert. Dieses Gefühl der Allmacht verleitete Angehö- bevor, trieben Menschen in den Selbstmord. Angaben rige der Volkspolizei dazu, ihre Überlegenheit mit über die genaue Anzahl der Zwangsausgesiedelten ungezügelter Brutalität auszuüben [--> Zeitzeugenbe- liegen derzeit noch nicht vor; Schätzungen gehen von richte Protokolle Nr. 20, 21]. bis zu 50 000 Personen aus [—> Bericht Mar- quardt II]. Die Volkspolizei gliederte sich in die Dienstzweige Schutzpolizei, Kriminalpolizei, Verkehrspolizei, Paß- und Meldewesen, Transportpolizei und Bereitschafts- polizei. Ferner war ihr auch die Rolle eines Instru- 4.3.2 Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ments und Hilfsorgans des Ministe riums für Staatssi- 1960/61 cherheit zugewiesen [--> Bericht Marquardt II]. Als Beispiel für letztere Funktion sind die im Dienst der Die SED strebte an, sämtliche privat geführten L and- Volkspolizei stehenden Abschnittsbevollmächtigten wirtschaftsbetriebe in staatlich gelenkten Landwirt- (ABV) zu nennen. Es handelte sich hierbei um Ange- schaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) auf- hörige der Schutzpolizei, die den Leitern der Polizei- gehen zu lassen. Nachdem sich in den Jahren von reviere unterstanden. Ihre Aufgabe war es, eine enge 1952 bis 1959 nur knapp die Hälfte der Bauern von den Verbindung zwischen Polizei und Bevölkerung in angeblichen Vorteilen der LPG überzeugen ließ, kam einem festgelegten Wohnbereich (Abschnitt) herzu- es 1960 innerhalb von nur wenigen Monaten zur stellen. Dies umfaßte auch die konspirative Beobach- Eingliederung des bis dahin widers trebenden Rests. tung „feindlicher und krimineller Elemente". Die Maßgeblichen Anteil an der raschen Durchführung Informationen, die dem ABV zugingen, nutzte das dieser von Zwangsmaßnahmen begleiteten Kampa- MfS zur Überwachung und Verfolgung vermeintli- gnen hatte die Volkspolizei. Neben polizeilichen cher und tatsächlicher politischer Gegner [--> Bericht Schikanen (Führerscheinentzug u. ä.) oder Zwangs- Marquardt II]. zuführungen zu aufgedrängten „Aussprachen" bil- ligte die Volkspolizei nicht nur Gesetzesverletzungen Dem gleichen Zweck diente die Einrichtung spezieller der „Agitationsbrigaden", z. B. Diffamierungen über politischer Abteilungen bzw. Kommissariate (K 5) der Lautsprecherwagen oder Hausfriedensbruch, son- Kriminalpolizei, später umbenannt in K 1. Diese dern ging gegen die sich dagegen Wehrenden poli- Kommissariate (auf Bezirksebene Dezernate I) wur- zeilich vor (Festnahmen, Verhöre, Beschlagnah- den schon in früheren Jahren als verdeckt arbeiten- men). des, kriminalpolizeiliches Org an aufgebaut. Späte- stens ab Mitte der siebziger Jahre mutierten sie zu einem direkten Hilfsorgan des MfS. Sie stellten eine 4.3.3 Rechtsverletzungen bei den beträchtliche personelle Erweiterung des sowieso Zusammenstößen in der Woche vom schon aufgeblähten Personalbestandes des MfS dar. 3. bis 9. Oktober 1989 in Dresden Zwischen diesen Organen und dem MfS herrschte auf Führungsebene Personalunion. Dem Zugriff der Anläßlich der Durchfahrt von Zügen mit Botschafts- Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde wa- flüchtlingen, die — aus Prag kommend — über das ren diese Gliederungen der Kriminalpolizei zu jeder Gebiet der DDR in die Bundesrepublik Deutschland Zeit entzogen. weiterfuhren, kam es im Bereich des Dresdner Haupt- Anhand von Beispielen soll aufgezeigt werden, auf bahnhofes zu massiven Zusammenstößen zwischen welche Weise die Volkspolizei an der Verletzung von Demonstranten und Polizeikräften. Insgesamt wurden Menschenrechten beteiligt gewesen ist: dabei etwa 1 300 Personen zeitweilig verhaftet. Hier- bei begingen die Polizeiorgane folgende Rechtsver- letzungen:

4.3.1 Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet — Verletzung von Demons tranten durch Faust- der DDR zur Bundesrepublik Deutschland schläge und Schlagstöcke, ohne daß sie Wider- stand geleistet hatten Die DDR errichtete 1952 an der Demarka tionslinie zur — willkürliche Verhaftung auch Unbetei ligter, z. B. Bundesrepublik Deutschl and eine 5 km ins Landesin- Reisender und Gaststättenbesucher nere reichende Sperrzone. Dies hatte zur Folge, daß Tausende von Menschen im Zeitraum 1952/53 in — menschenunwürdige Behandlung „Zugeführter", einer beispiellosen Aktion ihre Häuser zu räumen insbesondere durch den Zwang, nach ihrer Fest- hatten [--> Zeitzeugenbericht Protokoll Nr. 21]. Die nahme oftmals mehrere Stunden in sog. Flieger- Feststellung, wer zum Kreis der Be troffenen zählte, - stellung (An-der-Wand-Lehnen mit gespreizten erfolgte durch Abteilungen der Schutzpolizei, der Annen und Beinen) stehenzubleiben Kriminalpolizei sowie der Abteilung Paß- und Melde- — Überschreitung der gesetzlich bestimmten Höchst- wesen, jeweils in Zusammenarbeit mit den örtlichen frist der Ingewahrsamnahme bis zur Vernehmung Dienststellen des MfS [--> Bericht Marquardt II]. durch den Richter [--> Bericht Marquardt II]. Umgesetzt wurde die Depo rtation mit großer Brutali- tät. In der Regel riß man die Betroffenen nachts aus Auf diese Weise wurden verfassungsmäßig garan dem Schlaf, und die Verladung des Hausrats begann. tierte Grundrechte wie die Ausübung von Meinungs-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 und Versammlungsfreiheit sowie das Menschenrecht Geschäftsbereich der 1 A-Senate aus. Dies darf aber auf menschenwürdige Behandlung in der Haft miß- nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in großer achtet. Mehrheit nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch mit innerer Zustimmung ihre Funktion im Sinne der Partei (und damit Druck auf andere) ausübten 5. Schlußfolgerungen [--> Vortrag Bischoff, Protokoll Nr. 41]. Vielfach haben sie in vorauseilendem Gehorsam gehandelt und sind 5.1 Verantwortung damit für ihr Denken und Tun verantwortlich — unabhängig davon, ob sie strafrechtlich für Men- schenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen Nach 1945 — vor dem geschichtlichen Hintergrund sind. Dasselbe gilt für ihre Hilfsorgane in MfS und des totalen Zusammenbruchs eines bereits während Polizei, auch wenn sie in der DDR in einem fast der NS-Diktatur deformierten Rechts- und Staatssy- rechtsfreien Raum agierten. stems — haben deutsche Kommunisten, gestützt auf die sowjetische Besatzungsmacht, die auch in der SBZ Das Rechtssystem der DDR war ein nach innen vorhandenen Ansätze zu einem demokratischen und geschlossenes Gedankengebäude. Wäre dies anders rechtsstaatlichen Neuaufbau konsequent zerstört. gewesen, so hätte es Loyalität zu ihm nur aus Dumm- Nicht einmal loyale Kritik aus den eigenen Reihen heit oder Bosheit geben können. Von einer solchen ließen sie zu, sondern schalteten sie aus, machten sie Unterstellung ist der Bericht weit entfernt. In den mundtot und verfolgten die Kritiker darüber hinaus oft Akten der DDR-Justiz gibt es Zeugnisse menschlichen auch noch persönlich. Die SED warf sich als unum- Anstands von Rechtsanwendern ebenso wie solche schränkte Herrscherin über das Recht auf. Bei ihr liegt der Feigheit oder gar der Niedertracht. Für sein die Hauptverantwortung dafür, daß das Recht in der eigenes Verhalten ist jeder einzelne persönlich ver- DDR zum Machtinstrument in der Hand der politi- antwortlich. Das gilt in beiden Systemen, in West wie schen Führungsschicht verkam und sich während der in Ost. Das System allein hat den einen nicht schlech- Herrschaft der SED aus dieser Rolle auch nicht ter oder besser gemacht als den anderen. Insofern befreien konnte. steht der gemeinsamen Arbeit der Diplomjuristen (Ost) mit den Juristen (West) am nun gemeinsamen Zugleich muß die Verantwortung der Institutionen Rechtsstaat nichts im Wege. hervorgehoben werden, die für die Vorbereitung und den Erlaß der Gesetze der DDR zuständig waren, darunter der Volkskammer. Nicht unbeabsich tigt, gleichsam aus gesetzgeberischem Versehen, sondern 5.2 Umgang mit der Hinterlassenschaft in gezieltem Zusammenwirken mit der Führung der SED (Politbüro, Zentralkomitee) wurde hier ein Das vielfach verletzte Rechtsgefühl der Bevölkerung Gesetzeswerk nach dem anderen hervorgebracht, der ehemaligen DDR verlangt danach, daß unter der dessen bewußt unpräzise Begrifflichkeit immer wie- SED-Herrschaft begangenes Unrecht aufgeklärt wird der zum Einfallstor für politische Zielsetzungen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen geworden ist. Die beabsichtigte Mehrdeutigkeit der werden. Dabei richten sich die Erwartungen vor allem Rechtssprache war für die DDR typisch. Sie erlaubte auf die Strafjustiz des vereinigten deutschen Staates. es, der Bevölkerung Rechtssicherheit selbst im Min- Doch stößt die justitielle Aufarbeitung der zahlreichen destmaß vorzuenthalten und gleichzei tig nach außen Menschenrechtsverletzungen aus der DDR-Vergan- hin den Schein der Rechtsstaatlichkeit zu wahren. genheit aus verschiedenen Gründen an Grenzen. Das zweite Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte Nicht zu unterschätzen ist die Verantwortung der für sehen sich die Gerichte vor der Aufgabe, mit den Forschung und Lehre zuständigen Rechtswissen- Mitteln einer rechtsstaatlichen Justiz die Wirklichkeit schaft. Bis auf wenige Ausnahmen, insbesondere aus eines Staates aufzuarbeiten, der rechtsstaatliche Maß- der Frühzeit der DDR, haben sich die Wissenschaftler stäbe für sich außer Kraft gesetzt hatte. Ohne das in eine Doktrin einbinden lassen, die sich vornehmlich Unrecht des NS-Regimes mit dem der SED-Diktatur als Rechtfertigungslehre für den Machtanspruch der auf eine Stufe stellen zu wollen, lassen sich für die SED in Staat und Recht verstand. Den Dienst kritischer Strafverfolgungsbehörden eine Reihe vergleichbarer Würdigung und Auseinandersetzung mit Gesetzen Schwierigkeiten erkennen. Das gilt schon für die und Rechtswirklichkeit hat die Rechtswissenschaft Aufklärung der in Frage kommenden Unrechtshand- nicht geleistet, sondern im Gegenteil immer neue lungen und die Zurechnung einer individuellen Ver- Jahrgänge von jungen Juristen zur kritiklosen Ober- antwortlichkeit, wie sie jedes Strafurteil voraussetzt. einstimmung mit der SED und ihrem Rechtsverständ- Staatliches Unrecht ist häufig ein hochkomplexer, nis herangebildet. arbeitsteiliger Vorgang, an dem mehrere Stellen und Unter den Rechtsanwendern innerhalb der Justiz ist Personen zusammenwirken. Konkretes Tun von ein- die Verantwortung für die schweren Fehlentwicklun- zelnen Amtsinhabern, die zustimmende Verstärkung gen des Rechtssystems ungleichmäßig verteilt. Sie durch andere, sowie angepaßte Hinnahme bei weite- waren alle — auch wenn sie als „unabhängige" ren gehen oft eine Verbindung ein, die jeden Beschul- Richter amtierten — in höchst effektive Weisungsab- digten auf den anderen und alle auf die Mächtigeren, hängigkeiten eingebunden. Solche Strukturen wirk- diese wiederum auf die ausführenden Untergebenen ten sich auch noch auf Amtsinhaber mit scheinbar verweisen läßt. Im Gewirr der erkennbaren und heim- großem Handlungsspielraum wie die für die politi- lichen Kompetenzen der DDR hat es die heutige Justiz schen Strafverfahren zuständigen Gerichtsvorsitzen- oft schwer, Verantwortliche auszumachen. Sind diese den oder Richter und Staatsanwälte aus dem schließlich erkannt, so hat eine rechtsstaatliche Justiz

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode bei der Anwendung der geltenden Normen das Rück- die jede Objektivität vermissen ließ: Beweismittel wirkungsverbot des Artikel 103 Grundgesetz, das konnten ebenso unterdrückt wie auch geschaffen zugleich ein Menschenrecht ist, zu beachten. Zudem werden. Legt man die alten Sachverhalte, wie sie sich ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, daß die aus den Akten ergeben, ungeprüft auch den neuen Unrechtstaten in einem Umfeld begangen wurden, Entscheidungen zugrunde, so kann es leicht zur das durch die vom SED-Regime geprägten Konformi- Festschreibung von Unrecht kommen. Auch hier gilt, tätssignale gekennzeichnet war. Ferner sind die daß mit den Akten aus der Zeit der DDR kritisch Regelungen des Einigungsvertrages über die Anwen- umgegangen werden muß. dung der milderen Strafvorschrift zu beachten. Zwi- schen dem Vorwurf der „Siegerjustiz" auf der einen Der SED-Staat konnte seine Bürger nie von der und dem des mangelnden Engagements für die straf- Legitimität seines Herrschaftssystems überzeugen. rechtliche Aburteilung auf der anderen Seite kann die Das galt auch für sein Recht, das sich ständig dem Justiz, die auf ihre rechtlichen Vorgaben verpflichtet Vergleich mit dem des anderen deutschen Staates, der ist, nur zum Teil zur Aufarbeitung der DDR-Vergan- Bundesrepublik Deutschland, ausgesetzt sah. Mit genheit beitragen. Dieser Teil ist aber wesentlich und allen Mitteln suchte die SED darum angestrengt, unverzichtbar. Das Engagement des vereinigten deut- diesen Vergleich zu ihren Gunsten ausfallen zu las- schen Staates, ausgedrückt in der personellen und sen. Dies führte wiederum dazu daß auch juristische sachlichen Ausstattung der Justiz für diese Aufgabe, Texte immer wieder eine posi tive Unterscheidung zu sollte weiter unzweifelhaft sein. Recht und Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik herauszuarbeiten suchten. Auf das rechtsstaatliche Bei der strafrechtlichen Würdigung des durch Richter- System des vereinigten Deutschland setzten die Men- spruch bewirkten Unrechts stellt sich das Problem des schen der ehemaligen DDR nach ihrer friedlichen „Richterprivilegs". Danach können Richter nur dann Revolution ihre Hoffnung. Diese darf nicht enttäuscht strafrechtlich belangt werden, wenn ihnen eine vor- werden. Enttäuschungen drohen jedoch aus einer sätzliche Rechtsbeugung nachzuweisen ist. Damit soll Reihe von Gründen. Seit der Vereinigung ist die die richterliche Unabhängigkeit auch bei der straf- Gesetzeslage für die Bürger der ehemaligen DDR fast rechtlichen Verantwortung geschützt werden. Da es auf allen Gebieten grundlegend anders geworden. jedoch in der DDR eine unabhängige Justiz nicht nur Das für sie neue Rechtssystem ist den Menschen nicht gab, sondern auch nicht geben sollte, hält es die fremd; von ihm Gebrauch zu machen und seine Enquete-Kommission für fraglich, ob das Richterprivi- Vorteile zu erfahren, ist für sie schwierig. Das gilt leg auf Richter in der DDR rückwirkend angewendet selbst für Behörden, die zur Beratung der Rechtsu- werden darf. Es läge dann das Mißverständnis nahe, chenden verpflichtet sind. Das neue Recht ist das eines dies diene nur der Privilegierung eines Berufsstandes komplex organisierten modernen Rechtsstaates. Es ist statt dem — in der DDR nicht gegebenen — Vertrauen für eine Bevölkerung schwer durchschaubar, die nicht in eine unabhängige Justiz. an gesetzlich präzisierte Rechtsansprüche, sondern an Beim Aufbau neuer rechtsstaatlicher Strukturen sind ein unscharf umschriebenes Eingabewesen gewöhnt nach dem Vereinigungsvertrag die in der DDR ausge- war. Die schwierige Aufgabe der Rechtsvereinheitli- bildeten Juristen einbezogen. Ausgeschlossen blei- chung macht die Gesetze zusätzlich in der Handha- ben nur diejenigen, die sich persönlich durch Men- bung kompliziert. Es ist unabdingbar, der Bevölke- schenrechtsverletzungen in gravierender Weise dis- rung in den neuen Bundesländern die Vorzüge des kreditiert haben. Es wird im übrigen — neben der neuen Rechtssystems zu vermitteln und rasch in der Fortbildung der DDR-Juristen in den für sie neuen Fläche verfügbare Informa tion über das Recht sicher- Rechtsmaterien, z. B. auch durch Begegnungen von zustellen, die den Umgang mit den neuen Gesetzen Rechtsanwendern aus Ost und West — das grundle- erleichtert. Es wäre fatal, wenn sich den Bürgern als gend andere Rechtsverständnis zu vermitteln sein, das Erfahrung mit dem für sie neuen Rechtsstaat der den Rechtsstaat kennzeichnet. Schluß aufdrängte, daß die Wahrnehmung ihrer Rechte eine Frage von Wissen und Geld sei. Soll nicht Der Auftrag des Gesetzgebers von heute geht in erster eine spezifische DDR-Nostalgie entstehen, die sich Linie dahin, erlittenes Unrecht wiedergutzumachen, nach dem scheinbar „einfacheren" Rechtssystem der wo dies möglich, und es zu lindern, wo volle Wieder- DDR zurücksehnt, so muß es bald gelingen, die gutmachung nicht erreichbar ist. Auch hier ist unver- Menschen in den neuen Bundesländern zum souverä- kennbar, daß der Leistungsfähigkeit des Gemeinwe- nen Gebrauch ihrer Rechte zu befähigen. Darüber sens Grenzen gesetzt sind. Es geht bei dieser Gemein- hinaus müssen den Menschen in den neuen Bundes- schaftsaufgabe nicht darum, Jahrzehnte staatlichen ländern die völlig abweichenden philosophischen Unrechts in vollem Umfang rückgängig, sondern die Grundlagen des Rechts und der Menschenrechte und Solidarität aller Deutschen für die Folgen der gemein- die Vorzüge des Rechtsstaats als unerläßlichem samen Geschichte erfahrbar zu machen, sie nicht nur Schutz der Menschenrechte, auch für Straftäter, dar- verbal zu beschwören. gelegt werden. Bei der Rehabilitierung derer, denen in der ehemali- gen DDR Unrecht geschehen ist, kann den Opfern dadurch wiederum Unrecht geschehen, daß die alten Akteninhalte auch den neuen Entscheidungen 5.3 Forschungsdesiderata zugrunde gelegt werden. Die mit der Rehabili tierung befaßten Behörden und Gerichte sollten sich darüber Wesentliche Felder der DDR-Rechtsgeschichte sind im klaren sein, daß die Akten des SED-Staates häufig wenig oder gar nicht erfaßt; sie bedürfen der wissen- eine „Aufklärung" des Sachverhalts widerspiegeln, schaftlichen Aufarbeitung. Dazu gehören

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— Zivil- und Familienrecht — die Gründe far und die Wirkungen von Milderun- gen oder Verschärfungen im Strafrecht — das Erleben der Alltagsjustiz durch die Bevölke- rung — Theorie und Praxis des Strafvollzuges — die Schieds- und Konfliktkommissionen — Umfang und Praxis der „Erklärung zum kriminell gefährdeten Barger" — Stellung und Einflußmöglichkeiten der Rechtswis- senschaft — die Ermittlungs- und Spruchpraxis in der Militär- justiz — das mögliche Fortwirken von NS-Traditionen im DDR-Rechtssystem — Wirtschafts- und Vertragsrecht

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IV. Themenfeld: Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen

Inhalt 5. Das geteilte Deutschland 1982-1989 5.1 Internationale Rahmenbedingungen a) Beratungsverlauf 5.1.1 Die Ost-West-Beziehungen b) Bericht 5.1.2 Die Veränderungen der internationalen 1. Deutschland unter Besatzungsherrschaft Rahmenbedingungen durch den Beginn der sowjetischen Reformpolitik seit Mitte 1.1 Die Siegermächte der achtziger Jahre (Gorbatschow 1.2 Die Sowjetische Besatzungszone 5.2 Deutschlandpolitik und deutschlandpoliti 1.3 Die Westzonen sche Diskussion 1982-1989 2. Das geteilte Deutschland 1949-1961 5.2.1 Innerdeutsche Rahmenbedingungen 2.1 Internationale Rahmenbedingungen der 5.2.2 Die Deutschlandpolitik der CDU/CSU Deutschlandpolitik FDP-Bundesregierung 2.2 Adenauers deutschlandpolitische Konzep 5.2.2.1 Deutschlandpolitische Grundsätze tion: Sicherung der Freiheit, Wiederge- winnung der Handlungsfähigkeit, Ver- 5.2.2.2 Die europäische Dimension knüpfung der deutschen Interessen mit 5.2.2.3 Deutschlandpolitische Diskussionen in denen des Westens den Koalitionsparteien 2.3 Gegenpositionen 5.2.2.4 Die innerdeutschen Beziehungen 2.4 Deutschlandpolitische Erwartungen der 5.3 Von den innerdeutschen Beziehungen zur DDR-Bevölkerung und die Deutschl and- Wiedervereinigung politik der SED 5.3.1 Deutschlandpolitische Einstellungen und 2.5 Stationen und Kontroversen in der Erwartungen bei den Menschen in der Deutschlandpolitik DDR, deutschlandpolitische Vorstellun- 2.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion gen der DDR-Opposition der SPD und der Sachverständigen Fau- 5.3.2 Die Deutschlandpolitik der Bundesregie lenbach, Gutzeit, Weber rung in der Phase des politischen Um- 3. Das geteilte Deutschland 1961-1969 bruchs 3.1 Zu den internationalen Rahmenbedingun 5.4 Offene und weiterführende Fragestellun gen der Deutschlandpolitik gen 3.2 Politik und Selbstverständnis der Bundes 5.5 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion regierungen und des Berliner Senats der SPD und der Sachverständigen Fau- Sondervotum zu 3.1-3.2 der Mitglieder lenbach, Gutzeit, Weber der Fraktion der SPD und der Sachverstän- 5.5.1 Der Wandel in den internationalen Rah digen Faulenbach, Gutzeit, Weber menbedingungen Ansätze zu einem zwei- 3.3 Gegenpositionen ten Kal 3.4 Die Deutschlandpolitik der SED und 5.5.2 Strategien der Anpassung an den Wandel deutschlandpolitische Einstellungen der der internationalen Rahmenbedingungen DDR-Bevölkerung 5.5.2.1 Das internationale Agieren der beiden 3.5 Fragestellungen deutschen Staaten und die Reaktionen auf 4. Das geteilte Deutschland 1969-1982 Solidarnosc 4.1 Die sozialliberale Koalition 5.5.2.2 Die Nachrüstungsdiskussion 4.1.1 Kontinuität 5.5.2.2.1 Befürworter des NATO-Doppelbeschlus- 4.1.2 Wandel ses 4.2 Gegenpositionen 5.5.2.2.2 Kritiker und Gegner Sondervoten der Mitglieder der Fraktion - 5.5.2.2.2.1 Die Friedensbewegungen in der Bundes- der SPD und der Sachverständigen Fau- republik lenbach, Gutzeit, Weber 5.5.2.2.2.2 Die Friedensbewegungen in der DDR 4.3 Die Politik der SED gegenüber der Bun 5.5.2.3 Versuche der Schadensbegrenzung durch desrepublik eine „Koalition der Vernunft" 4.4 Kontroversen 5.5.3 Der Rückenwind der Entspannung durch 4.5 Forschungsdesiderata Gorbatschow Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

5.5.3.1 Veränderungen der internationalen Rah- — die Bedeutung der internationalen Rahmenbedin- menbedingungen mit Gorbatschow und gungen, insbesondere des Einflusses der sowjeti- die Reaktionen darauf schen Politik 5.5.3.2 Deutschlandpolitik in der Zeit Gorba- — die besondere Rolle der DDR innerhalb des War- tschows schauer Paktes (u. a. CSSR-Krise 1968; Polen 5.5.3.2.1 Die deutsch-deutschen Beziehungen 1980) 5.5.3.2.2 Die Diskussionen in den Parteien — die deutschlandpolitischen Ziele, Leitvorstellun- 5.5.3.2.3 Deutschlandpolitische Perspektiven in der gen und Handlungsperspektiven in den beiden Diskussion der Kirchen und in den opposi- Staaten in Deutschland tionellen Gruppen der DDR — die innerdeutschen politischen, wirtschaftlichen, 5.5.4 Probleme und offene Fragestellungen gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen 5.6 Sondervotum des Mitglieds der Gruppe und ihre Rückwirkungen auf die Entwicklung der Bündnis 90/Die Grünen, Abg. Poppe, und DDR des Sachverständigen Mitter — die Bedeutung der persönlichen Verbindungen für 5.6.1 Die Bedeutung der unabhängigen polni- das Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutsch- schen Gewerkschaftsbewegung Solidar- land nosc für die Entwicklung in der DDR und die innerdeutschen Beziehungen — den Einfluß der Medien der Bundesrepublik Deutschland in der DDR 5.6.2 Die Bedeutung der Friedensbewegungen für die deutsch-deutschen Beziehungen — die Aktivitäten der SED und der DDR in der Bundesrepublik Deutschland und im internationa- 6. Innerdeutsche Beziehungen 1949-1989 len Bereich. 6.1 Nationale Einheit und zwischenmenschli- che Beziehungen Das Themenfeld wurde in zehn öffentlichen Anhörun- gen behandelt. Die Enquete-Kommission vergab 22 6.2 Innerdeutscher Handel Expertisen, zwei Berichte und zwei Forschungsauf- 6.3 Innerdeutsche Transfers träge (Wolfgang Benz, Wilhelm Bleek, Hans-Jürgen 6.4 „Westarbeit" der SED am Beispiel der DKP Fischbeck, Peter Förster, Hermann Graml, Wolf D. Gruner, Jens Hacker, Ma ria Haendcke-Hoppe-Arndt, 6.5 Abschließende Bemerkungen Wolfgang Jäger, Christoph Kleßmann, Anne Köhler, Sondervotum der Mitglieder der Fraktion Werner Link, Wilfried Loth, Dieter Mahncke, Rudolf der SPD und der Sachverständigen Fau- Morsey, Hans-Peter Mü ller, Manfred Overesch, Wolf- lenbach, Gutzeit, Weber gang Pfeiler, Kurt Plück, Hein rich Potthoff, Karl-Heinz 7. Die Aktivitäten der SED und der DDR in Schmidt, Jürgen Schröder, Peter Schutt, Karl F. Schu- der Bundesrepublik Deutschland und im mann, Jochen Staadt, Monika Tantzscher, Armin internationalen Bereich Volze, Werner Weidenfeld — s. Anhang). 7.1 Wettkampf der Systeme in Deutschland Als ein Kernbereich des IV. Themenfeldes erwiesen 7.2 „Diplomatisierung" der „Westarbeit" sich die „deutschlandpolitischen Ziele, Leitvorstellun- 7.3 Der West-Apparat der SED gen und Handlungsperspektiven" (s. o.) in der Bun- desrepublik, während vergleichbare Erkenntnisse 7.4 Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) über die SBZ/DDR noch weitgehend fehlen. Das IV. 7.5 Ergebnisse der SED-„Westarbeit" Themenfeld wurde nach folgendem Schema bearbei- tet: 7.6 Forschungsdesiderata 8. Die deutsche Frage nach dem Zweiten 1. Internationale Rahmenbedingungen Weltkrieg 2. Das geteilte Deutschland 8.1 Souveränität 2.1 Phasen 8.2 Legitimität 2.2 Einzelaspekte 8.3 Selbstbestimmung und Einheit Deutsch- lands 2.3 Zeitzeugen 8.4 Deutschland in Europa 3. Innerdeutsche Beziehungen 8.5 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD und der Sachverständigen Fau- lenbach, Gutzeit, Weber 1. Internationale Rahmenbedingungen

Berlin als herausragender Gegenstand der Vier- a) Beratungsverlauf Mächte-Verantwortung und langjähriger internatio- naler Krisenherd bildete den Auftakt einer zweitägi- Das IV. Themenfeld „Innerdeutsche Beziehungen gen Anhörung am 12./13. Oktober 1993 in Berlin zum und internationale Rahmenbedingungen" umfaßte Thema „Internationale Rahmenbedingungen der gemäß dem Rahmenplan der Enquete-Kommission Deutschlandpolitik". Dieter Mahncke referierte über die folgenden Untersuchungsbereiche: „Das Berlin-Problem 1945-1989 — die Berlin-Krise Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

1958-1961". Eine Ergänzung dazu lieferte Stef an Kleßmann und Rudolf Morsey. Bei der Anhörung am Wolle mit einem Kurzvortrag über „Die Berlin-Frage 22. Oktober 1993 in Bonn referierten und diskutierten im Bewußtsein der DDR-Bevölkerung". [—> Protokoll Horst Möller und das sachverständige Kommissions- Nr. 46] mitglied Bernd Faulenbach. Zu Spezialfragen hörte die Kommission Josef Foschepoth ( „Adenauer und die Zum Thema „Internationale Rahmenbedingungen deutsche Frage") und Gerhard Wet tig („Die Deutsch- der Deutschlandpolitik 1945-1955" trug Hermann land-Note vom 10. März 1952 nach Akten des sowje- Graml vor. Daran schloß Wilfried Loth mit dem Vor- tischen Außenministeriums") [--> Protokoll Nr. 48]. trag „Internationale Rahmenbedingungen der Deutschlandpolitik 1961-1989" an. [—> Protokoll Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen Er- Nr. 46] hard und der großen Koalition sowie die Diskussion der sechziger Jahre in Parlament und Öffentlichkeit „Der Prager Frühling 1968 und seine Folgen in der untersuchte und schilderte in einer Exper tise Werner CSSR, in den sozialistischen Nachbarländern, insbe- Link. Thesenartig nahm er dazu ein weiteres Mal im sondere in der DDR und der VR Polen, sowie im Rahmen einer Anhörung (50. Sitzung, s. u.) Stel- Ost-West-Verhältnis" waren Gegenstand eines Podi- lung. umgesprächs zwischen Timothy Garton Ash (Oxford), Anna Sabatova (Prag), Zdenek Mlynar (Wien) und Über die nachfolgende Phase der Deutschlandpolitik Gerd Poppe, MdB, sowie der nachfolgenden Diskus- während der Zeit der sozialliberalen Koalition von sion mit den Kommissionsmitgliedern. Auf gleiche 1969 bis 1982 vergab die Kommission Expertisenauf- Weise wurde das Thema „Solidarnosc 1980/81 und träge an Wilhelm Bleek und Jens Hacker. Des weite- die Folgen in Polen, in den sozialistischen Nachbar- ren veranstaltete die Kommission zum Thema ländern, insbesondere in der DDR, sowie im Ost- „Deutschland- und Entspannungspolitik von den West-Verhältnis" erörtert, jetzt mit den Podiumsteil- sechziger Jahren bis 1989" am 29. Oktober 1993 eine nehmern Timothy Garton Ash, Artur Hajnicz, Woj- Anhörung in Bonn. Die beiden Hauptvorträge hielten ciech Wieczorek (beide Warschau) und Ludwig Mehl- Werner Link und Eberhard Schulz. Dieter Blumenwitz horn [—> Protokoll Nr. 47]. Der Bundesbeauftragte für referierte über „Die Bedeutung des BVG-Urteils zum die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe- Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 für die deutsche maligen Deutschen Demokratischen Republik legte Einigung 1990” und Peter Bender über „Die DDR als im Auftrag der Kommission zwei Berichte über die Partner der innerdeutschen Beziehungen". [—> Proto- Aktionen bzw. die Reaktion des MfS im Zusammen- koll Nr. 50] hang mit den Vorgängen in der CSSR 1968/69 bzw. der polnischen Krise 1980/81 vor. Zur Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition sowie zur Diskussion in Die „Wechselwirkung der gegenseitigen Beziehun- den Parteien und in der Öffentlichkeit im Zeitraum gen zwischen der Bundesrepublik Deutschl and, der von 1982 bis 1989 holte die Kommission Expertisen bei DDR und der Sowjetunion im Zeitraum 1970-1989" Wolfgang Jäger und Heinrich Potthoff ein. war Gegenstand einer Anhörung am 28. Oktober 1993 in Bonn mit Wjatscheslaw Daschitschew (Moskau), Karl-Heinz Ruffmann, dem sachverständigen Korn- missionsmitglied Alexander Fischer und Fred Olden- 2.2 Einzelaspekte burg [—> Protokoll Nr. 49]. Die Friedens- und Sicherheitspolitik der NATO sowie der Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre geführte S treit um die Nachrüstung und seine 2. Das geteilte Deutschland Auswirkungen beschäftigten die Kommission in einer Anhörung am 2. November 1993 in Berlin: Lothar Rühl 2.1 Phasen und Walther Stützle erörterten die militärisch-strate- gische Dimension des Konflikts um die Nachrüstung Zur Entwicklung der Teilung Deutschlands unter der zwischen Ost und West; Joachim Garstecki erläuterte Herrschaft der vier Besatzungsmächte von 1945 bis „Die Bedeutung der Friedensfrage für das Entstehen 1949 hat die Kommission vier Expertisen vergeben. oppositioneller Gruppen in der DDR zu Beginn der Wolfgang Pfeiler schrieb über „Die ,nationale' Politik achtziger Jahre"; Gert Weißkirchen, MdB, sprach zum der KPD/SED 1945-1952", Manfred Overesch über Thema „Die Friedensdebatte zu Beginn der achtziger „Die Gründung der DDR als nationales Kerngebiet Jahre und die Bedeutung der darin entwickelten und der gesamtdeutsche Anspruch von KPD und Optionen für das Ost-West-Verhältnis"; Karl-Heinz SED". Zum Thema „Deutschlandpolitische Grund- Schmidt referierte über die „westdeutsche Friedens- satzpositionen und Zielvorstellungen in den west- bewegung in der Strategie von KPdSU und SED" und deutschen Besatzungszonen 1945-1949" holte die Gerd Langguth über die „Friedensbewegung in der Kommission je eine Expertise von Wolfgang Benz und Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der achtziger Wolf D. Gruner ein. Jahre" [—> Protokoll Nr. 51]. Die Deutschlandpolitik der fünfziger Jahre, zur Zeit Die „Berichterstattung aus der DDR in den siebziger/ der Kanzlerschaft Konrad Adenauers, wurde in zwei achtziger Jahren" erörterten im Rahmen eines Podi- Expertisen und einer Anhörung behandelt. Expertisen umgesprächs die Journalisten Karl-Heinz Baum zum Thema „Die Deutschlandpolitik der Bundesre- (Frankfurter Rundschau), Karl Wilhelm F ricke gierungen Adenauer und die politisch-parlamentari- (Deutschlandfunk, zugleich sachverständiges Kom- sche Diskussion in dieser Zeit" verfaßten Christoph missionsmitglied), Hans-Jürgen Röder (epd), F ritz

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Schenk (ehem. ZDF), Ulrich Schwarz (Der Spiegel) propaganda der DKP als Teil der SED-Deutschland- und Peter Jochen Winters (Fr ankfurter Allgemeine politik" . Zeitung) sowie die ehemaligen DDR-Bürger Rainer Karl-Heinz Schmidt und Jochen Staadt erarbeiteten Eppelmann, Markus Meckel (beide MdB) und H ans- im Auftrag der Kommission Dokumentationen aus den Jochen Tschiche (MdL Sachsen-Anhalt) [--> Protokoll Akten der ehemaligen DDR zur Deutschlandpolitik Nr. 51]. der SED. Zum Thema „Gesamtdeutsches Bewußtsein in der Zeit der Teilung" trugen Manuela Glaab und Karl- Rudolf Korte (für We rner Weidenfeld) sowie Peter b) Bericht Förster und Anne Köhler Zwischenergebnisse ihres Forschungsauftrages vor [—> Protokoll Nr. 51]. 1. Deutschland unter Besatzungsherrschaft In je einer Expertise behandelten Karl F. Schumann und Hans-Jürgen Fischbeck die Themen „Flucht und 1.1 Die Siegermächte Ausreise aus der DDR insbesondere im Jahrzehnt ihres Untergangs" sowie „Das Mauersyndrom — die Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni Rückwirkung des Grenzregimes auf die Bevölkerung 1941 führte zu einer Koalition, deren Ziel der militäri- der DDR". sche Sieg über das nationalsozialistische Deutschl and war. Von Beginn an gab es innerhalb der „An ti -Hitler-Koalition" unterschiedliche Auffassungen über 2.3 Zeitzeugen die Gestaltung Europas in der Nachkriegszeit. Trotz des gemeinsamen Interesses, „Sicherheit vor Deutschland" zu erreichen, kam es zu keinen gemein- In vier Anhörungen, am 3. und 4. November 1993 in samen politischen, Deutschland betreffenden Be- Berlin sowie am 8. Dezember 1993 und 26. Februar schlüssen, weder auf der Gipfelkonferenz der „Gro 1994 in Bonn, hat die Kommission sachverständige ßen Drei" (Churchill, Roosevelt, Stalin) in Teher an Zeitzeugen zur Deutschlandpolitik und zu den inner- Ende 1943 noch in Jalta im Februar 1945. Die 1949 in deutschen Beziehungen gehört und befragt. Aus der Moskau eingesetzte Europäische Beratende Kommis- Bundesrepublik (alt) waren dies folgende politische sion (EAC) einigte sich u. a. lediglich auf die Eintei- Persönlichkeiten: Egon Bahr [--> Protokoll Nr. 52], lung Deutschlands in Besatzungszonen und die Auf- Rainer Barzel [--> Protokoll Nr. 55], Erhard Eppler teilung Berlins in vier Sektoren. [--> Protokoll Nr. 52], Hans-Dietrich Genscher, MdB, Bundeskanzler Helmut Kohl, MdB [beide —> Protokoll Nach Erörterungen über eine Aufgliederung Deutsch- Nr. 53], Erich Mende, Wolfgang Mischnick, MdB lands bestand unter den Siegermächten bei Kriegs- [beide --> Protokoll Nr. 52], Walter Scheel [—> Protokoll ende weitgehend Übereinstimmung darüber, daß Nr. 63], Helmut Schmidt [—> Protokoll Nr. 55], H ans- Deutschland als Ganzes erhalten bleiben sollte. Jochen Vogel, MdB [--> Protokoll Nr. 53], Dorothee Unterschiedliche Vorstellungen gab es unter den Wilms, MdB, und Heinrich Windelen [beide --> Proto- Alliierten darüber, wie die politischen Verhältnisse in koll Nr. 52]. Deutschland nach dem Krieg zu gestalten seien. Die Führung der Kommunistischen Partei der Sowjet- Als Zeitzeugen aus der ehemaligen DDR hörte und union, insbesondere Stalin, setzte ihre Erwartungen befragte die Kommission: Rainer Eppelmann, MdB, auf eine „revolutionäre Krise" in Westeuropa. Stalin Martin Gutzeit (sachverständiges Kommissionsmit- war im übrigen überzeugt, eine Aufteilung Deutsch- glied), Martin König, Martin Kramer und Frank Neu- lands werde den deutschen Nationalismus dera rt bert, außerdem aus dem Umfeld der ehemaligen provozieren, daß Sicherheit und Stabilität Mitteleuro- Entscheidungsträger der DDR Max Schmidt und M an pas eher gefährdet als gefördert würden. Ähnliche -fred Uschner [--> Protokoll Nr. 52]. Erwägungen gab es auf westlicher Seite. Allein Frankreich befürwortete 1945 noch eine Aufteilung Deutschlands. 3. Innerdeutsche Beziehungen Die Potsdamer Gipfelkonferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 bestätigte die bis dahin ge troffenen Kurt Plück hat die für den Zusammenhalt der Nation alliierten Abmachungen über die Besetzung Deutsch- überaus wichtigen zwischenmenschlichen Beziehun- lands und Berlins sowie die Übernahme der Regie- gen in den Bereichen Post, Personenverkehr, Verwal- rungsgewalt durch den Alliierten Kontrollrat bzw. die lung, Kultur, Wissenschaft, Sport und Städtepartner- Oberbefehlshaber der Streitkräfte in den jewei ligen schaften in einer Expertise dargestellt. Besatzungszonen. Die Gebiete östlich von Oder und Zum Innerdeutschen Handel und zu den innerdeut- Neiße wurden polnischer Verwaltung unterstellt; die schen Transferleistungen holte die Kommission - endgültige Regelung der Grenzfrage sollte einer Frie- Expertisen von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt und denskonferenz vorbehalten bleiben. Armin Volze ein. Bereits auf der ersten Tagung des Rats der Außenmi- Zu dem speziellen Kapitel der innerdeutschen Bezie- nister im September 1945 in London offenbarten sich hungen zwischen SED und DKP legten We rner Müller unüberbrückbare Gegensätze zwischen den ehemali- und Jürgen Schröder auf der Grundlage von Akten gen Verbündeten. Auseinandersetzungen zwischen der SED Expertisen vor. An Peter Schutt vergab die Großbritannien und den USA auf der einen und der Kommission eine Expertise zum Thema „Die Kultur- Sowjetunion auf der anderen Seite über die Möglich-

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode keiten westlicher Einflußnahme auf den Demokrati- als „Wahrerin der Lebensinteressen der gesamten sierungsprozeß in Südosteuropa mündeten in einen Nation einschließlich von Teilen des Bürgertums" Streit über prozessuale Fragen. So endeten die Ver- präsentieren. Dem „Block der kämpferischen Demo- handlungen ohne greifbare Ergebnisse. Der Alliierte kratie" mit der KPD als treibender Kraft sollten grund- Kontrollrat konnte aufgrund der Gegensätze keine sätzlich alle antifaschistischen Parteien sowie poli- gesamtdeutsche Regierungstätigkeit ausüben. Statt tisch aktive Gruppen und Personen angehören. Eine dessen setzten die Militärgouverneure in ihrem personelle Säuberung des Staatsapparats von „reak- Machtbereich die vagen Direktiven der Potsdamer tionären Kräften" und die Übernahme der entschei- Konferenz entsprechend den Interessen und Prinzi- denden Positionen in der Verwaltung sollten als erstes pien des eigenen politischen Systems durch. in Angriff genommen werden. Die kommunistischen Initiativgruppen, die Ende April/Anfang Mai 1945 aus Schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt begannen Moskau nach Deutschland kamen, hatten sich die vier Siegermächte, den jeweiligen Einflußbereich zunächst, nicht zuletzt in Berlin, auf den Aufbau abzusichern und nach eigenen Vorstellungen zu zuverlässiger Verwaltungen im kommunalen und gestalten [--> Expertise Graml]. Unter dem Einfluß des lokalen Bereich zu konzentrieren, außerdem dafür zu Kalten Krieges verstärkte sich diese Tendenz. Der sorgen, daß im Besatzungsgebiet Parteien oder ähnli- Ost-West-Konflikt, seit 1947/48 voll entbrannt, ergab che Gruppierungen nicht spontan entstanden. sich u. a. aus dem sowje tischen Bruch der Vereinba- rungen von Jalta über die gemeinsame Förderung der Ab September 1945 begann die KPD auf sowjetisches demokratischen Entwicklung in den Staaten Ostmit- Geheiß in ganz Deutschland die Vereinigung mit den tel- und Südosteuropas. Er machte endgültig eine Sozialdemokraten zu propagieren, die schließlich am Einigung der ehemaligen Kriegsalliierten über 21./22. April 1946 mit Beschränkung auf die Ostzone Deutschland unmöglich und führte zu den beiden und Ost-Berlin durch die Gründung der „Sozialisti- Staatsgründungen auf deutschem Boden. Jede von schen Einheitspartei Deutschlands" vollzogen wurde. ihnen entsprang dem Willen der Siegermächte: Ohne Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zu diesem den ausdrücklichen Willen der Sowjetunion wäre frühen Zeitpunkt, drei Jahre vor ähnlichen Zusam- 1949 nicht die DDR und ohne den Willen der West- menschlüssen in den ostmitteleuropäischen und süd- mächte nicht die Bundesrepublik Deutschl and ent- osteuropäischen „Volksdemokratien", war ein Vor- standen. Damit endete auch die Parallele: Nach dem gang von entscheidender Bedeutung für die Spaltung Vorbild der Sowjetunion wurde in deren Zone unter Deutschlands und damit ein folgenschwerer erster der Diktatur der marxistisch-lenistischen SED ein Separationsakt [--> Expertise Overesch]. „Staat der Arbeiter und Bauern" errichtet; nach dem Vorbild der westlichen liberalen Demokratien ent- Der Kurs auf die Einheitspartei war flankie rt von der stand im westlichen Deutschland, in freien und direk- Propagierung eines „besonderen deutschen Weges ten Wahlen legitimiert, ein demokratischer, bundes- zum Sozialismus", den Ulb richt im Oktober 1945 staatlich organisierter Rechtsstaat mit sozialer Markt- erstmals erwähnte und Anton Ackermann im Februar wirtschaft. 1946 in der „Einheit", der theore tischen Zeitschrift der SED, näher erläuterte. Der Tenor seiner Ausführun- gen lautete, daß in Deutschl and weder gesellschafts- politisch noch innerparteilich eine Nachahmung des 1.2 Die Sowjetische Besatzungszone Sowjetmodells beabsichtigt sei. Als im September 1947 der II. Parteitag der SED den „Kampf um die Nach der Konferenz von Teher an, als sich die militä- Einheit Deutschlands" zur Hauptaufgabe erklärte, rische Niederlage Deutschl ands bereits abzeichnete, waren jedoch längst Vorkehrungen zur Umformung wurde die nach Moskau emig rierte Führung der der SED in eine „Partei neuen Typus" und zum Kommunistischen Partei Deutschlands von der Füh- Übergang vom „deutschen Weg" zum sowje tischen rung der KPdSU beauftragt, parallel zu den Sitzungen Modell eingeleitet [--> Weber, Protokoll 18]. der EAC konkrete Vorstellungen über ihre künftige Politik in Deutschland zu entwickeln. Eine zwanzig- Erneut zeigte sich die innere Widersprüchlichkeit köpfige Arbeitskommission, der alle führenden deut- zwischen der Einheitsparole der SED einerseits und schen Kommunisten des Moskauer Exils angehörten ihrer tatsächlichen Machtsicherungspolitik anderer- [--> Wilke, Protokoll Nr. 18; Expertise PfeilerÜ, erar- seits. Dies blieb den Zeitgenossen nicht verborgen. beitete ein „Aktionsprogramm des Blocks der käm- Das gilt auch für die „Volkskongreßbewegung" zwi- pferischen Demokratie". Die strategische Zielsetzung schen 1947 und 1949 sowie den Entwurf zur „Reichs- der Planungsarbeit wurde am 6. März 1944 wie folgt verfassung" von Mitte November 1946, der am Ende formuliert: Die Bündnispolitik, die die KPD vorschla- mit geringen Änderungen zur ersten Verfassung der gen und verfolgen solle, sei so anzulegen, daß sie DDR wurde. Beide implizierten eine Tendenz zu Deutschland an die Seite der Sowjetunion führe: „Wir separater Staatsgründung. Diese wurde tatsächlich stellen nicht die Frage so: Ost- oder Westorientierung. wirksam, obwohl scheinbar die gesamtdeutsche Wir sagen: Frieden und Freundschaft mit den Nach- Zielsetzung im Vordergrund stand [—> Exper tise barn und besonders Freundschaft mit der Sowjet- Overesch]. Parallel dazu trat die KPD in den Westzo- union." Dieselbe Formel kehrte im Aufruf der KPD nen gegen Föderalismus, Separatismus und die „ame- vom 11. Juni 1945 wieder. rikanische Politik der Kolonialisierung" auf. Selbst die DDR-Geschichtsschreibung hat nach 1971 einge- Die KPD wollte aus den Fehlern in der Zeit der räumt, daß die Phase der „antifaschistisch-demokrati- Weimarer Republik lernen und den nationalen schen Umwälzung" kein eigener, gesamtdeutsch Gedanken nicht mehr bekämpfen, sondern sich selbst noch offener Geschichtsabschnitt war, sondern Teil

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 eines „einheitlichen revolu tionären Prozesses", der Debatte sollte, insbesondere auf Anweisung des fran- auf den Aufbau des Sozialismus hinsteuerte. zösischen Militärgouverneurs, s treng auf wirtschaftli- che Angelegenheiten beschränkt bleiben. Demge- Der gesamtdeutsche Anspruch, den sich die deut- genüber erhoben die fünf Ministerpräsidenten aus der schen Kommunisten mit Zustimmung Stalins als Lehre Ostzone die Forderung, den Teilnehmerkreis von aus der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg auf vornherein durch Vertreter von Parteien und Gewerk- ihr Panier geschrieben hatten, wurde in der Verfas- schaften zu erweitern sowie „in den Mittelpunkt der sung von 1949 und, in abgeschwächter Form, auch Tagesordnung die Schaffung der wirtschaftlichen und noch in der von 1968 bis zur Verfassungsrevision von politischen Einheit Deutschlands zu stellen" . Eine 1974 aufrechterhalten. Wie der erste Präsident der Einigung auch nur über die Tagesordnung war nicht DDR, Wilhelm Pieck, am 11. Oktober 1949 auf der möglich; beide Seiten verfügten nicht über die Befug- gemeinsamen Sitzung der Provisorischen Volks- und nisse, die für ein gegenseitiges Entgegenkommen der Provisorischen Länderkammer erklärte, be an notwendig gewesen wären. Tatsächlich war die Spal- -spruchte die soeben gegründete DDR „die Legitima- tung auf beiden Seiten längst im Gange [--> Expertise tion, für das ganze deutsche Volk zu sprechen", und Benz]. das so lange, „bis die widerrechtlich von Deutschland losgerissenen und dem Besatzungsstatut unterworfe- Aus dem Fehlschlag der Londoner Außenminister- nen Teile Deutschlands mit dem deutschen Kernge- konferenz vom Ende 1947 zog die westliche Seite biet, mit der Deutschen Demokratischen Republik, in Konsequenzen auf der sog. Sechs-Mächte-Konferenz einem einheitlichen demokratischen Deutschl and im Frühjahr 1948 in London. Teilnehmer waren die vereinigt sind". drei westlichen Siegermächte und die drei Benelux- Staaten. Sie sprachen „Empfehlungen" hinsichtlich einer westdeutschen föderativen Staatsgründung aus, 1.3 Die Westzonen die am 1. Juli 1948 von den Militärgouverneuren in den „Frankfurter Dokumenten" an die Ländermini- Die angelsächsischen Siegermächte verfolgten 1945/ sterpräsidenten der drei Westzonen weitergegeben 46 zunächst den Kurs, an der Einheit Deutschlands wurden. Die Kernempfehlung lautete: „Die verfas- festzuhalten und sein künftiges Schicksal gemeinsam sungsgebende Versammlung wird eine demokrati- mit der östlichen Siegermacht zu bestimmen. Auf der sche Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Pariser Außenministerkonferenz über einen Friedens- Länder eine Regierungsform des föderalistischen vertrag mit Deutschland im Frühjahr 1946 scheiterte Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegen- jedoch der amerikanische Außenminister By rnes mit wärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder- seiner Forderung, die vier Zonen zwecks Erhaltung herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder wenigstens der wirtschaftlichen Einheit zusammen- schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und zuschließen, an Gegenforderungen der Sowjetunion, die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten z. B. der Vier-Mächte-Kontrolle über das Ruhrgebiet. enthält. " Des weiteren wurden die Umrisse eines Ein Jahr später, auf der Moskauer Außenministerkon- Besatzungsstatuts angedeutet, das die Westmächte ferenz vom Frühjahr 1947, lehnte die Sowjetunion die parallel zur Staatsgründung zu erlassen gedachten. von den Amerikanern favorisierte Idee eines föderali- In ihrer Antwort vom 10. Juli 1948 waren die Minister- stischen Aufbaus Deutschlands ab und beharrte aber- präsidenten — fünf Sozialdemokraten, fünf Christde- mals auf ihren überzogenen Reparationsforderun- mokraten und ein freier Demokrat — in erster Linie gen. darauf bedacht, der kommenden Staatsgründung Aus den Fehlschlägen auf der Vier-Mächte-Ebene („dem zu schaffenden Gebilde") so weit wie möglich zogen die USA und Großbritannien schon bis Ende definitiven und staatlichen Charakter abzusprechen 1947 Konsequenzen; so faßten sie die Wirtschaftsver- und alles zu vermeiden, „was geeignet sein könnte, waltung der amerikanischen und britischen Zone zur die Spaltung zwischen West und Ost weiter zu vertie Bizone zusammen. Darüber hinaus machten die Ver- fen" . Daß es sich „lediglich um ein Provisorium einigten Staaten als westliche Führungsmacht bis zur handelt sowie um eine Ins titution, die ihre Entstehung Jahresmitte 1947 durch den Marshall-Plan klar, daß lediglich dem augenblicklichen Stand der mit der sie bereit waren, den Versuchen zur Ausdehnung des gegenwärtigen Besetzung Deutschlands. verbunde- sowjetischen Einflusses in Europa u. a. durch ein nen Umstände verdankt” , müsse vor allen Dingen in wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm entgegen- den Verfahren zum Ausdruck gelangen. zuwirken. In z. T. heftigen Auseinandersetzungen mit den Alli- Der offene Ausbruch der Konfrontation zwischen den ierten setzte sich die deutsche Seite schließlich durch: Kriegsalliierten in den Jahren 1947/48 wirkte sich Nicht eine verfassunggebende Nationalversamm- auch auf die deutsche Politik in den Besatzungszonen lung, sondern ein von den Landtagen beschickter aus und führte zu einer wachsenden Entfremdung, da Parlamentarischer Rat sollte die Verfassung ausarbei- die Verantwortungsträger sich die Prinzipien des - ten; am Ende sollte über sie nicht in einem Volksent- jeweiligen Ordnungssystems zu eigen machten. So scheid, sondern in den Landtagen abgestimmt wer- lud der bayerische Ministerpräsident Ehard 1947 den; um das Wort „Verfassung" zu vermeiden, wurde seine Amtskollegen zu einer Beratung von Maßnah- schließlich der Ausdruck „Grundgesetz" gewählt. Die men ein, die den Militärregierungen gemeinsam vor- später zuweilen dem Grundgesetz vorgehaltenen getragen werden sollten, „um ein weiteres Abgleiten demokratischen „Defizite" sind gegen den Wider- des deutschen Volkes in ein rettungslos wirtschaftli- stand der Westalliierten — insbesondere der Ameri- ches und politisches Chaos zu verhindern" . Die kaner, die auf dem Volksentscheid bestanden — auf

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode deutsches Betreiben hin zustande gekommen, dem Die grundiegenden Entscheidungen trafen nicht die nicht zuletzt nationale Erwägungen zugrunde la- Deutschen; sie wurden ihnen vielmehr von den West- gen. mächten vorgegeben. Während die Sowjetunion und mit ihr KPD bzw. SED für Deutschl and den zentrali- Bei der Option der Ministerpräsidenten für den West- stischen Einheitsstaat propagierten, legten die westli- staat fiel die Stimme des Berliner Oberbürgermeisters chen Alliierten mit den von ihnen in den Westzonen Ernst Reuter (SPD) besonders ins Gewicht. Bei seinem geschaffenen Ländern den Grundstein zu der födera- Plädoyer für eine westdeutsche Lösung konnte er sich listischen Struktur der Bundesrepublik. Obwohl diese auf eine Mehrheit von Politikern aller demokratischen territoriale Neuordnung auch historische Bande zer- Parteien Berlins stützen [-->Experise Benz]. Die sowje- schnitt und zum Teil völlig neuartige Länder schuf, tische Blockade der Westsektoren Berlins seit dem erwies sie sich als tragfähig, weil sie sich insbesondere 23./24. Juni 1948 (sie wurde erst am 12. Mai 1949 auf historisch gewachsene föderalistische Strukturen aufgehoben), die Luftbrücke der Westmächte und der in Deutschland berufen konnte. Durch die Zerschla- Selbstbehauptungswille der Berliner gaben dem Weg gung Preußens schufen die Alliierten die Grundlage zur Weststaatsgründung entscheidende Impulse. Da- für einen ausgewogenen Föderalismus, der die durch wurden Meilensteine, politischer wie psycholo- Gewichte in einem föderativ organisierten Bundes- gischer Natur, für die Beziehungen zwischen den staat austarierte, eine gewisse Garan tie gegen eine Deutschen und den westlichen Besatzungsmächten neuerliche Machtkonzentration in einem geeinten gesetzt. Berlin ließ aus Deutschen und westlichen Deutschland bot und den Einbau eines föderativ Siegermächten Verbündete und allmählich Freunde gegliederten deutschen Nationalstaates in eine euro- werden. Gelegt wurde der Grundstein des Vertrau- päische Ordnung souveräner Staaten begüns tigte. ens, auf dem die Bundesrepublik aufgebaut werden konnte. Als Vorposten der westlichen Welt und der Freiheit, personifizie rt durch Ernst Reuter und später Willy Brandt, wurde Berlin zum „Pfahl im Fleische" 2. Das geteilte Deutschland 1949-1961 des kommunistischen Regimes im Osten, zum Brenn- punkt und Katalysator des System- und Machtkon- 2.1 Internationale Rahmenbedingungen der flikts sowie zum Symbol der deutschen Teilung. Die Deutschlandpolitik Lage der Stadt, ihre unzureichende militärische und politische Sicherung sowie die in ihr besonders spür- In der Deutschlandpolitik des ersten Jahrzwölfts der baren Folgen der Teilung, bedingte sowohl die her- Bundesrepublik Deutschland ist die „Dominanz der ausgehobene Bedeutung Berlins als auch ein beson- internationalen Politik" [--> Link, Protokoll Nr. 50] deres Gespür für die politischen Notwendigkeiten, die besonders offenkundig. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: sich aus dem Ost-West-Konflikt und den Veränderun- Zum einen war Deutschland Objekt der Politik der gen der internationalen Rahmenbedingungen für die Siegermächte und Gegenstand alliierter Kontrolle. Stadt und die Menschen diesseits und jenseits der Das „nie schlafende Sicherheitsbedürfnis" [--> Exper- Mauer ergaben. tise Graml] gegenüber Deutschland wurde durch den Ost-West-Gegensatz nicht besei tigt, sondern nur In die Verantwortung für die Gründung des Weststaa- überdeckt; das Ziel, ein Wiederaufleben deutscher tes waren alle demokratischen Parteien der Westzo- Dominanz in Europa oder gar Hegemonie zu verhin- nen eingebunden. Zwar entsprachen sie dem Willen dem, blieb als „Restgemeinsamkeit" der ehemaligen der Westalliierten und waren insofern bestrebt, durch Kriegsalliierten erhalten [—> Möller, Protokoll Nr. 48]. das Verfahren der Verfassungsgebung die Verant- Zum anderen war die Gründung zweier Staaten in wortung der Westmächte klarzustellen. Andererseits Deutschland die unmittelbare Folge des nicht nur wurde ihnen eine freie, selbstverantwortliche Ent- Deutschlands wegen entstandenen, aber sofort auf scheidung abverlangt, die sie ohne persönliche das Vier-Zonen-Gebiet durchschlagenden Kalten Gefahr für die einzelnen Beteiligten hätten verwei- Krieges [--> Expertise Graml], der seine Hauptursa- gern können. In jedem Fall mußten sie ihre Entschei- chen im Antagonismus der politischen Systeme in Ost dung ihren Wählern erklären und vor ihnen verant- und West sowie in der ebenso ideologisch wie macht- worten. politisch bedingten Expansionspolitik der sowjeti- schen Führung unter Stalin und seinen Nachfolgern Was die Grundsätze der inneren Ordnung des West- hatte [--> Daschitschew, Protokoll Nr. 49]. zonenstaates anbetraf, stimmten die westdeutschen Politiker und Wähler in weiten Bereichen mit den Für die Westmächte gewann im Lichte der Erfahrun- Westalliierten überein. Das hatte die Verfassungsdis- gen, die sie mit der sowje tischen Nachkriegspolitik kussion ergeben, die bis Ende 1947 im Blick auf ein u. a. in Polen, in der Türkei, in Griechenland, im Iran alle vier Zonen umfassendes geeintes Deutschl and und in der Tschechoslowakei machen mußten, mehr geführt worden war. Die Grundsätze der (parlamen- und mehr das Ziel der Eindämmung der sowje tischen tarischen) Demokratie sowie die Achtung der Men- Expansion Priorität gegenüber dem Ziel der Siche- schen- und Bürgerrechte waren unumstritten. Hinge- rung vor Deutschland. Dieses Sicherheitsbedürfnis gen führte die Frage „Einheits- oder Bundesstaat" zu gegenüber der östlichen Vormacht wurde von den kontroversen Diskussionen. Die Fronten in der Föde- Deutschen, die zusätzlich in Mittel- und Ostdeutsch- ralismusdiskussion verliefen, historisch begründet, in land die Erfahrungen des sowje tischen Einmarsches der Hauptsache nicht zwischen den Parteien, sondern sowie von Flucht und Vertreibung gemacht hatten, zwischen dem Norden, Nordwesten (und Osten) nicht weniger stark empfunden; in der gemeinsamen einerseits sowie dem Süden und Südwesten anderer- Abwehr der Berliner Blockade wurde diese Sicher- seits [--> Expertisen Benz, Gruner]. heitsgemeinschaft erstmals erfahrbar. Die deutsche

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Bevölkerung fühlte sich zudem in ihren Wertvorstel- breiten, von der Öffentlichkeit getragenen Funda- lungen, in ihren kulturellen Orientierungen, in ihrem ment, das durch die Erfolge der Sozialen Markt- Wunsch, die geistige Enge des totalitären NS-Systems wirtschaft noch verstärkt und die Wahlergebnisse zu überwinden, weit mehr dem Westen als sowjet- der fünfziger Jahre deutlich bestätigt wurde. kommunistischen Vorstellungen verbunden. Es gab d — zunächst sein westlicher Teil — seit den fünfziger Jahren in der westdeutschen Öffent- — Deutschlan lichkeit weithin kein Empfinden für eine „Äquidis- sollte durch feste Einbindung in die westliche tanz" gegenüber Ost und West [—> Wilms, Protokoll Allianz und die entstehende europäische Gemein- Nr. 46]. Die westliche Allianz war also zugleich eine schaft Schutz und Sicherheit vor einer möglichen Sicherheits- und Wertegemeinschaft. militärischen Expansion der Sowjetunion wie vor politischer Abhängigkeit von der benachbarten In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre entstand im kommunistischen Weltmacht finden. Westen der Eindruck, daß sich das militärische Kräf- tegleichgewicht zwischen den Machtblöcken zu — Zugleich sollte diese europäische Einbindung Lasten des Westens verschob. Die Sowjetunion sowohl eine isolierte Politik als auch eine mögliche begann, bei gleichbleibender Überlegenheit im kon- Vormachtstellung Deutschlands ein für allemal ventionellen Bereich, ihren Rückstand in der nuklear- verhindern. Damit vollzog Adenauer eine „histori- strategischen Rüstung schrittweise aufzuholen; bis sche Achsendrehung" nach Westen [—> Expertise Ende der sechziger Jahre hatte sie eine Zweitschlags- Morsey], um den Rückfall Deutschlands in eine fähigkeit erreicht [--> Exper tise Link]. Für die West- „Schaukelpolitik" zu vermeiden, traditionell vor- mächte rückte damit das Bemühen um Entspannung handene Vorbehalte der westlichen Nachbarn und Rüstungskontrolle in den Vordergrund ihrer gegenüber Deutschl and zu beseitigen und allmäh- Beziehungen zur UdSSR. Die Sowjetunion nutzte die lich vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen neue Interessenlage auf westlicher Seite, um den [--> Möller, Protokoll Nr. 48]. territorialen Status quo festzuschreiben. Konsequent — Die Bundesrepublik Deutschl and sollte durch feste vertrat sie in der deutschen Frage seit 1955 die Verknüpfung mit den westlichen Partnern den Auffassung von der Existenz zweier deutscher Staa- Rückhalt und die Unterstützung gewinnen, ohne ten: Die Wiedervereinigung konnte ihrer Meinung die eine Wiedervereinigungspolitik gegenüber der nach nur durch Verhandlungen zwischen Bonn und Sowjetunion und ihren Verbündeten von vornher- Ost-Berlin herbeigeführt werden. Die „Zwei-Staaten- ein aussichtslos erschien. Deutschlandpolitischer Theorie", erweitert urn das Postulat, daß der Westteil Aspekt dieser Politik war es, den Westen zu stär- Berlins eine (dritte) „selbständige politische Einheit" ken, seine Stabilität und Prosperität zu erhöhen, darstelle, bestimmte auch ihre Position in der von um weitere mögliche Expansionsabsichten der Chruschtschow 1958 ausgelösten zweiten Berlin- Sowjetunion einzudämmen und die Voraussetzun- Krise. gen für aussichtsreiche Verhandlungen mit dieser zu schaffen.

— Besonderes Gewicht für die Zukunft kam nach 2.2 Adenauers deutschlandpolitische Konzeption: Auffassung Adenauers den Beziehungen der Bun- Sicherung der Freiheit, Wiedergewinnung der desrepublik Deutschland mit Frankreich, Israel Handlungsfähigkeit, Verknüpfung der und Polen zu; darauf wies er bereits in seiner ersten deutschen Interessen mit denen des Westens Regierungserklärung vom 15. September 1949 hin. Seit Mitte der fünfziger Jahre setzte er seine Auch in der Teilung Deutschlands manifestierte sich Hoffnung auf ein künftiges freies Polen, mit dem der zunächst europäische und schließlich weltweite alle strittigen Fragen in „f riedlicher und fairer Gegensatz zwischen der freiheitlich-demokratischen Weise" geregelt werden könnten. Wiederholt hob Ordnung des Westens und dem totalitären Sowjetsy- er sein Bestreben hervor, mit seiner Politik Ver- stem. Eine Lösung der deutschen Frage war demzu- ständnis, Achtung und Sympathie zwischen „dem folge abhängig von einer Überwindung des Ost- heutigen Deutschland und dem polnischen Volk" West-Konflikts. Adenauer hat diese grundsätzliche zu begründen, damit auf „diesem Boden dereinst Dimension der deutschen Frage früh erkannt. Für ihn eine wahre Freundschaft erwachse". ist die Wiedergewinnung der staatlichen Gleichbe- rechtigung und Souveränität Voraussetzung und Adenauer hat die Zielsetzung seiner Politik in die Grundlage für die Wiederherstellung der deutschen Trias der Leitbegriffe „Freiheit — Frieden — Einheit" Einheit gewesen. Sein strategischer Ansatzpunkt war gefaßt; Freiheit war dabei der Grundwert und der die Integration in die politische Wertegemeinschaft Kern der deutschen Frage [–> Expertise Morsey], und in das kollektive Verteidigungsbündnis der west- Selbstbestimmung die dem Wiedervereinigungsziel lichen Welt: zugrunde liegende Norm, bereits ehe sie seit 1959 als politischer Leitbegriff der Deutschland- und Außen- — Deutschland — zunächst sein westlicher Teil — politik ausdrücklich hervorgehoben wurde. sollte unzweifelhaft und unwiderruf lich eine frei- heitliche und rechtsstaatliche Demokratie sein. Der Begriff „Politik der Stärke" und die westliche Diese Orientierung entsprach zugleich der Sehn- Strategie der „Eindämmung" wurden in den fünfziger sucht der meisten Deutschen, nach den schreckli- und sechziger Jahren von der SED-Propaganda chen Erfahrungen der NS-Diktatur und des Welt- genutzt, um der Bundesrepublik Deutschl and die krieges eine stabile Rechts- und Werteordnung zu Absicht zu unterstellen, die deutsche Frage mit Hilfe schaffen. Insofern basierte diese Politik auf einem der NATO militärisch lösen zu wollen. Dem standen

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode nicht nur das im Grundgesetz festgelegte Verbot eines vereinigung zu gefährden [--> Expertisen Link, Mor- Angriffskrieges entgegen, sondern auch der Gewalt- sey]. verzicht, den die Bundesrepublik Deutschland bei ihrem Eintritt in den Nordatlantik-Vertrag und den Die Interessenverflechtung mit den westlichen Staa- Brüsseler Vertrag am 3. Oktober 1954 mit der Versi- ten, die unbezweifelbare inhaltliche Ausfüllung cherung erklärt hatte, sie werde sich aller Maßnah- des Wiedervereinigungszieles mit den Grundwerten men enthalten, „die mit dem s treng defensiven Cha- einer gesicherten freiheitlichen Ordnung — was eine rakter dieser beiden Verträge unvereinbar sind". Wiedervereinigung unter kommunistischen Vorzei- Insbesondere verpflichtete sich die Bundesrepublik chen ausschloß — und die Verknüpfung des Ziels der Deutschland, die deutsche Wiedervereinigung oder deutschen Einheit mit der europäischen Integra tion die Änderung der gegenwärtigen Grenzen „niemals bildeten die Grundlagen, auf der die unentbehrliche mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen und alle Unterstützung der Deutschlandpolitik durch die Ver- zwischen der Bundesrepublik und anderen Staaten bündeten zu gewinnen war. Entscheidendes und weit gegebenenfalls entstehenden Streitfragen mit friedli- in die Zukunft tragendes Ergebnis dieser Deutsch- chen Mitteln zu lösen". Die drei Westmächte nahmen landpolitik Adenauers war der Deutschlandvertrag diese Erklärung bestätigend zur Kenntnis. mit seinem Artikel Y [—> Mende, Protokoll Nr. 52]. Mit diesem gelang es, die Unterstützung der drei West- Tatsächlich ist die von Adenauer konzipierte Politik mächte für die deutsche Wiedervereinigung vertrag- im Sinne einer Stärkung des Westens in politischer, lich festzuschreiben. Ein wesentliches Ziel der moralischer, wirtschaftlicher und militärischer Hin- gemeinsamen Politik sollte eine frei vereinbarte frie- sicht zu verstehen. Sie zielte auf eine — mittel- oder densvertragliche Regelung für ganz Deutschl and längerfristig erwartete Entspannung mit der sein, die auch die endgültige Festlegung der Grenzen Sowjetunion [--> Möller, Protokoll Nr. 48], nicht durch (Oder-Neiße) einschloß. Diese vertragliche Festle- Hinnahme sowje tischer Hegemonialpolitik, sondern gung ist im Hinblick auf die bis 1990 erkennbaren durch Interessenausgleich auf der Basis der Selbstbe- Sorgen und Vorbehalte der Verbündeten gegenüber stimmung sowohl für die Deutschen als auch für die der Wiedervereinigung in ihrem politischen Gewicht Polen, Ungarn und die anderen europäischen Nach- und ihren Folgewirkungen bis hin zu den Zwei- barvölker [--> Expertise Morsey; Barzel, Protokoll Plus-Vier-Verhandlungen [--> Link, Protokoll Nr. 50; Nr. 55]. Damit verband sich die Erwartung, daß die Mende, Protokoll Nr. 48] kaum zu überschätzen. sowjetische Führung die freie Entscheidung der Deut- schen in der DDR akzeptieren werde.

Die demokratische Legitima tion, durch die sich die 2.3 Gegenpositionen politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland vor denen der DDR unterschieden, Grundsätzlich kritische Positionen gegenüber der begründete sowohl den Anspruch als auch den Ver- Adenauerschen Deutschlandpolitik gingen in der fassungsauftrag des westdeutschen Kernstaats, alle zeitgenössischen und gehen in der historischen Dis- Deutschen zu vertreten und in ihrem Namen zu kussion davon aus, daß die beiden erklärten Ziele handeln („Alleinvertretung"). Der Anspruch, die legi- dieser Politik (Einbindung in die westliche Allianz und time staatliche Organisa tion für das ganze deutsche Wiedervereinigung) unvereinbar gewesen seien, so Volk zu sein — den unter sozialistischen Vorzeichen daß tatsächlich eine Prioritätensetzung unter still- auf der anderen Seite auch die DDR vertrat —, schweigendem Verzicht auf das Wiedervereinigungs- verband sich mit der Erwartung, die Bundesrepublik ziel stattgefunden habe [--> Foschepoth, Protokoll Deutschland werde durch ihre politische, wirtschaftli- Nr. 48]. In der Enqute-Kommission wurde dieses che und soziale Ordnung eine politisch wirksame Thema aufgrund der Expertisen, Anhörungen und Anziehungskraft auf den unfreien Teil Deutschlands Vorträge kontrovers diskutiert. ausüben („Magnettheorie", mit unterschiedlichen Akzentuierungen von Adenauer, Schumacher, Reuter Die in der SPD dominierende Gegenposition Kurt u. a. formuliert). Der Alleinvertretungsanspruch fand Schumachers zur Deutschlandpolitik Adenauers wies, auch durch die anhaltende Massenflucht aus der DDR bei aller gelegentlichen Hef tigkeit der Kontroverse, eine Legitimierung [--> Expertisen Benz, Morsey]. zunächst weniger größere Unterschiede in der politi- schen Substanz als vielmehr in Fragen der Vorgehens- Konrad Adenauer hat an den Grundlinien seiner weise auf [--> Faulenbach, Protokoll Nr. 48]. Die So- politischen Konzeption, auch gegen Widerstände in zialdemokratische Partei war nach Tradi tion und der Union und beim Koalitionspartner FDP, über seine Überzeugung am westlichen parlamentarisch-demo- gesamte Amtszeit hinweg konsequent festgehalten kratischen Staatsmodell orientiert. Schumacher und [--> Expertise Morsey; Barzel, Protokoll Nr. 55]. seine Freunde lehnten jede Zusammenarbeit mit den Gleichzeitig hat er, als Ende der fünfziger Jahre, im Kommunisten („rotlackierte Nazis") entschieden ab. Zuge der Veränderung der internationalen Rahmen- Sie forderten jedoch für die neue deutsche Demokra- bedingungen, erkennbar wurde, daß die Wiederver- tie — aus dem Bewußtsein jener Deutschen heraus, einigung nur in größeren Zeithorizonten erreichbar die sich 1945 befreit gefühlt hatten — die volle sein könnte [--> Expertise Morsey], in Moskau Mög- Gleichberechtigung mit den westlichen Mächten, was lichkeiten für eine Politik des modus vivendi in der ihnen teilweise den Vorwurf des Nationalismus ein- Deutschlandfrage sondieren lassen, die — bei zeitwei- trug. Schumacher wollte die Einbindung Deutsch- liger Hinnahme des territorialen Status quo — den lands in ein demokratisch-sozialistisch orientiertes Menschen in der DDR größere persönliche und politi- föderatives Europa, für das er eine Posi tion zwischen sche Freiheit bringen sollte, ohne das Ziel der Wieder- den Blöcken anstrebte. Von der neuen wirtschaftli-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 chen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik und die stärkere Berücksichtigung der von den Deutschland erwartete er zudem eine deutschlandpo- Sowjets definierten Sicherheitsinteressen forderte. litische Sogwirkung auf die SBZ/DDR und die Sowjet- Seit dem Ausscheiden der FDP aus der Regierungsko- union („Magnettheorie"). Unter seiner Führung alition 1956 mehrten sich in der Partei die Überlegun- räumte die SPD der Wiedervereinigung Deutschl ands gen, in Abkehr von der Regierungspolitik Gespräche Priorität ein. Schumacher lehnte jedoch Vorleistun- mit der Sowjetunion über mögliche politische, insbe- gen auf dem Weg nach Europa ab und wandte sich sondere sicherheitspolitische Gegenleistungen gegen gegen die von Adenauer angestrebte Integra tion des Zugeständnisse in der Deutschlandfrage aufzuneh- westdeutschen Staates in die Europäische Verteidi- men. Nach Meinung vieler FDP-Politiker lag der gungsgemeinschaft (EVG), weil ihr Vollzug aus seiner Schlüssel zur Einheit in Moskau. Gleichzeitig war die Sicht die Chancen für die Herstellung der deutschen FDP bestrebt, auch die bisherige Westpolitik durch Einheit auf unabsehbare Zeit gefährdete und außer- andere sicherheitspolitische Modelle (eines die vier dem keine Gleichberechtigung der Bundesrepublik Mächte und evtl. weitere Teilnehmerstaaten über- gewährleistete. greifenden Sicherheitspaktes) zur Diskussion zu stel- len (vgl. Deutschlandplan 1956; ähnlich der „Grund- Nach Schumachers Tod entwickelten sich die Vorstel- riß eines deutschen Friedensvertrages” 1959). Dabei lungen der sozialdemokratischen Opposi tion in Rich- wurden auch durch die Siegermächte autorisierte tung auf eine Ablehnung der Westintegration und ein „Auftragsverhandlungen" zwischen den beiden Staa- Modell der kollektiven Sicherheit im Rahmen der ten in Deutschland erwogen, ohne daß damit die von Vereinten Nationen. Letzteres sollte von den beiden der Sowjetunion und der DDR geforderte Anerken- Weltmächten garantiert werden und auf diese Weise nung der staatlichen Existenz der DDR verbunden eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen. war. Diese Vorstellung lag auch noch dem Deutschland- plan der SPD vom März 1959 zugrunde, in dem der Die Priorität des Wiedervereinigungsziels wurde auch Forderung der SED nach paritätisch besetzten deut- im Berliner Programm der FDP von 1957 betont schen Institutionen mit dem Ziel Rechnung getragen [—> Mende, Protokoll Nr. 52]. Im Mittelpunkt der wurde, einen Weg zur Wiedervereinigung zu finden. zahlreichen liberalen Vorschläge und Pläne st and Mit der Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. darüber hinaus der Gedanke, den Willen aller Deut- Juni 1960 stellte sich die Sozialdemokratie auf die schen zur Wiedervereinigung zu stärken und mensch- Basis der Pariser Verträge und trug von nun an die liche Erleichterungen zu ermöglichen. Diesem Ziel vollzogene Westintegration der Bundesrepublik dienten auch die Versuche, Kontakte mit der LDP zu Deutschland mit. pflegen und innerdeutsche Regierungskontakte zu vermitteln (Genfer Außenministerkonferenz 1959) Grundsätzliche Kritik an Adenauers Politik kam viel- H Mende, Protokoll Nr. 52]. Diese Bemühungen fach aus den Reihen der evangelischen Kirche, die zu scheiterten letztlich an der Weigerung oder mangeln- der damaligen Zeit nach der faktischen Teilung die den Fähigkeit der ins Auge gefaßten Partner zu einzig bedeutsame gesamtdeutsche Körperschaft dar- offenen Gesprächen. stellte [—> Expertise Kleßmann I] . Den neutralistischen Flügel des deutschen Protestantismus repräsentierte Eine besondere Bedeutung gewannen in den fünfzi- der ehemalige Bundesminister Gustav Heinemann. Er ger Jahren die Ostbüros der im Deutschen Bundestag hielt die auf den Westen ausgerichtete Bündnispolitik vertretenen Parteien. Sie unterhielten rege Kontakte für moralisch bedenklich und strebte eine Wiederver- zu den Menschen in der DDR, halfen bei der Flucht einigung außerhalb der Blöcke an [—> Expertise Kleß- und klagten Rechtsverletzungen in der DDR an. mann I; Faulenbach, Protokoll Nr. 48]. Die von Heine- mann nach seinem Austritt aus dem ersten Kabinett Adenauer gegründete „Gesamtdeutsche Volkspar- 2.4 Deutschlandpolitische Erwartungen der tei" unterschied sich auch von der SPD Schumachers; DDR-Bevölkerung und die Deutschlandpolitik sie war bereit, in ihrer Opposi tion gegen die Westbin- der SED dung der Bundesrepublik Deutschland mit der SED partiell zu kooperieren [—> Expertise Schmidt]. Insge- Grundsätzlich zu unterscheiden ist zwischen den samt erwiesen sich diese politischen Ansätze in der deutschlandpolitischen Einstellungen und Erwartun- öffentlichen Diskussion und in den Wahlen der fünf- gen der DDR-Bevölkerung in den fünfziger Jahren ziger Jahre als nicht mehrheitsfähig [—> Faulenbach, und den deutschlandpolitischen Auffassungen und Protokoll Nr. 48]. Die GVP löste sich, nachdem sie bei Aktivitäten der SED-Führung. Beides ist bisher unge- den Bundestagswahlen 1953 unter zwei Prozent der nügend erforscht. Zu den deutschlandpolitischen Ein- Stimmen geblieben war, 1957 wieder auf; der größte stellungen der Bevölkerung liegen keine umfassen- Teil ihrer führenden Mitglieder schloß sich der SPD den, wissenschaftlich gesicherten Aussagen vor; eine an. systematische Auswertung der vorhandenen Einzel- beobachtungen gehört zu den Desideraten der zeitge- Die FDP unterstützte in der Zeit ihrer Regierungsbe- schichtlichen Deutschlandforschung. teiligung in den ersten beiden Kabinetten Adenauer dessen Politik der Vertrauensbildung nach Westen. Es ist allerdings möglich, aus den vorhandenen Beob- Eine — auch in der eigenen Partei zunächst nicht achtungen und Indizien plausible Annahmen abzulei- mehrheitsfähige — Ausnahme bildete der Deutsch- ten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die für land-Plan des Bundestagsabgeordneten Pfleiderer Westdeutschland aus den Umfragen in den fünfziger 1952 [—> Expertise Morsey; Möller, Protokoll Nr. 48], bis Mitte der sechziger Jahre ermittelte Beobachtung, der auf ein im Kern bündnisfreies Deutschland zielte die deutsche Einheit sei grundsätzlich als das Selbst-

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verständliche, die faktische Teilung als provisorisch Ende des Regimes [--> Expertise Schmidt]. Seit 1955 empfunden worden [--> Forschungsauftrag Weiden- wurde der Kerngebietsanspruch im Sinne der nun von feld/Glaab], auch für die damalige DDR zutreffend der Sowjetunion und der SED verkündeten Zwei- sein dürfte. Noch im Mai 1969 erwartete ein großer Staaten-Theorie modifiziert, wobei die sozialistische

Teil der Bevölkerung in der DDR vom Westfernsehen, Ordnung in der DDR als Vorbild für ein künftiges daß es „die Hoffnung auf Wiedervereinigung wach- Gesamtdeutschland dargestellt wurde [—> Fischer, halten sollte" [--> Expertise Plück]. Vor dem Mauerbau Protokoll Nr. 49]. Seit 1957 trug die SED ihre Forde- dürften die Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung rung nach einer deutschen Konföderation vor, die eine eher noch größer gewesen sein [--> Diskussionsbei- Weiterentwicklung der Vorschläge zu einem „ge- träge Fischer, Jork, Mitter, Protokoll Nr. 48]. samtdeutschen konstituierenden Rat" aus der ersten

Hälfte der fünfziger Jahre war. Die als „Abstimmung mit den Füßen" gedeutete

Massenflucht der fünfziger Jahre (immerhin ca. 2,7 Millionen Menschen von 1949 bis 1961), der Volksauf- stand von 1953 mit seinen auf den Sturz des SED- 2.5 Stationen und Kontroversen in der Regimes zielenden Forderungen, u. a. der nach „Ab- Deutschlandpolitik schaffung der Zonengrenze" [--> Protokoll Nr. 42], sind auch als Indikatoren gesamtdeutschen Zusam- Die nationale und internationale deutschlandpoliti- mengehörigkeitsgefühls zu verstehen. Viele Men- sche Diskussion konzentrierte sich in den fünfziger schen in der DDR gaben nach 1961 die Hoffnung auf Jahren auf zwei thema tische Schwerpunkte: die schnelle staatliche Einheit auf und vollzogen durch demokratische Legitimation eines künftigen Gesamt- die Flucht ihre ganz „private Wiedervereinigung", die deutschland und der damals bestehenden beiden ihnen Freiheit und oft auch Wohlstand brachte. Die deutschen Staaten sowie den sicherheits- und bünd- Deutschen, die in der DDR zurückblieben, begannen nispolitischen Status der Bundesrepublik Deutsch- notgedrungen mehr und mehr, sich in diesem Staat land. Die Forderung nach Wiedervereinigung durch

einzurichten. freie Wahlen in ganz Deutschland wurde von der Man wird auch aus der zu beobachtenden Westorien- Bundesregierung und den demokratischen Parteien von Anfang an vertreten und 1951 erstmals zusammen tierung (Westfernsehen, Westwaren, Westreisen) vor mit den drei Westmächten zum Gegenstand einer und nach dem Mauerbau Rückschlüsse nicht nur auf internationalen Initiative gemacht (Bundestagsent- Mangelerscheinungen des Lebens in der DDR ziehen wurf eines Wahlgesetzes für gesamtdeutsche Wahlen dürfen, sondern auch auf die Tatsache, daß sich „die 1951; UNO-Initiative der drei Westmächte zur Vorbe- große Mehrheit der Ostdeutschen als abgespaltener Teil des einen deutschen Volkes" verstand [--> Exper- reitung freier Wahlen 1951) [—> Möller, Protokoll tise Fischbeck]. Generell dürfte die Stärke des Wun- Nr. 48]. Mit dieser Forderung ist zugleich der Mangel an demokratischer Legitimation des SED-Regimes sches der Menschen, in den beiden Teilen des Volkes und die aus demokratischer Legi timation erwachsene zusammenzugehören, an den Maßnahmen abzulesen deutschlandpolitische Sprecherrolle der Bundesrepu- sein, die von der DDR zur Unterdrückung dieses blik Deutschland unterstrichen worden. Wunsches unternommen wurden [--> Expertise

Plück]. Die Forderung nach freien Wahlen als einem dem

Ausgangspunkt der SED-Politik war der Anspruch der Friedensvertrag vorausgehenden Schritt zur Wieder- DDR, als „Grundstein für ein einheitliches, demokra- vereinigung stand im Mittelpunkt der westlichen tisches und friedliebendes Deutschl and" (Stalin 1949, Aussagen in dem Notenwechsel von 1952, des Eden- —> Fischer, Protokoll Nr. 49], als „deutsches Kernge- Plans bei der Berliner Außenministerkonferenz von biet" zu gelten, dem sich die „widerrechtlich von 1954 und des Herter-Pl ans (der durch Elemente eines

Deutschland losgerissenen Teile" anschließen sollten europäischen Sicherheits- und Abrüstungspro-

[--> Expertise Pfeiler; Fischer, Protokoll Nr. 49]. Die gramms ergänzt war) auf der Genfer Außenminister- nationale Propaganda der SED bis Mitte der fünfziger konferenz von 1959. Diese Forderung entsprach dem Jahre (Forderung nach einem gesamtdeutschen pari- den Westmächten und der Bundesrepublik gemeinsa- tätischen konstituierenden Rat, „Deutsche an einen men Grundsatz, daß die Wiedervereinigung Deutsch-

Tisch! ") diente gleichzei tig dazu, Westbindung und lands an die Normen einer freiheitlich-demokrati- Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutsch- schen Ordnung gebunden und aus der Grundnorm land propagandistisch zu bekämpfen (während der Selbstbestimmung abgeleitet sein müsse. Die gleichzeitig die Kasernierte Volkspolizei weiter deutschlandpolitischen Ost-West-Verhandlungen der erheblich ausgebaut wurde), die westliche Forderung fünfziger Jahre (Berlin 1954, Genf 1955 und 1959) nach Wiedervereinigung durch freie Wahlen in ganz scheiterten jedoch an der Tatsache, daß die Sowjet-

Deutschland abzuwehren und der DDR-Führung den union nicht bereit war, das Recht auf Selbstbestim-

Rang eines eigenständigen Gesprächspartners in der mung zu akzeptieren. deutschlandpolitischen Diskussion zu verschaffen. - Eine grundsätzliche Übereinstimmung (Basis freie Die SED verknüpfte ihre Bemühungen um Kontakte Wahlen) war lediglich zwischen der Bundesrepublik auf staatlicher Ebene zwischen den beiden deutschen und ihren westlichen Partnern möglich und wurde im

Staaten mit verdeckten Aktivitäten ihrer „Westar- Deutschlandvertrag festgeschrieben. Dabei wurde die beit", um Parteien und öffentliche Meinung in der zunächst im Entwurf vorgesehene unmittelbare Bin- Bundesrepublik Deutschl and aktiv im Sinne der SED dungswirkung dieses Vertrages auch für ein wieder-

Führung zu beeinflussen. Diese Mehrgleisigkeit blieb vereinigtes Deutschland auf den Widerspruch der das Spezifikum der SED-Deutschlandpolitik bis zum FDP und von Teilen der CDU hin im endgültigen

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Vertragstext fallengelassen [--> Mende, Protokoll Berijas kann aufgrund der vorhandenen Quellen- Nr. 48]. Bei den Römischen Verträgen zur Begrün- kenntnis nach Meinung von Experten nicht bestätigt dung der EWG 1957 behielt sich die Bundesregierung werden [—> Wettig, Protokoll Nr. 48; Fischer, Protokoll ausdrücklich eine Prüfung bei Wiedervereinigung vor Nr. 42, Expertise Schmidt]. Einige Mitglieder der und setzte durch, daß im innerdeutschen H andel die Kommission machten demgegenüber die Einschät- DDR nicht als Ausland zu behandeln war [--> Exper tise zung geltend, daß die bisherige Aktenlage, die zwar Morsey]. Dies ist eine nicht nur für die Entwicklung die Überlegungen des Moskauer Außenministeriums, des innerdeutschen H andels, sondern auch für die weniger aber die des Politbüros bzw. Stalins wieder- innerdeutschen Beziehungen in den Folgejahrzehn gebe, nach wie vor ein sicheres Urteil über die mit der ten insgesamt bedeutsame Festlegung gewesen. März-Note verbundenen deutschlandpolitischen Ab- sichten der Sowjetunion nicht zulasse [—> Faulenbach, Auf östlicher Seite konzentrierte sich die deutschland- Soell, Protokoll Nr. 48]. politische Diskussion der fünfziger Jahre zunehmend auf den militärischen und bündnispolitischen Status Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre ist gekennzeich- der Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist die Mög- net durch die zunehmende Bereitschaft der West- lichkeit der Wiedervereinigung unter der Vorausset- mächte, notfalls auch auf der Basis des Status quo zu zung, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht dem Entspannungsschritten mit der Sowjetunion zu gelan- westlichen Bündnis angehöre, in allerdings unver- gen, westdeutscherseits durch den Versuch, dem bindlichen und interpretationsfähigen Formulierun- Verzicht auf operative Wiedervereinigungspolitik gen in die öffentliche Diskussion eingeführt worden. entgegenzuwirken [--> Expertise Loth] und an dem Dies war insbesondere der Inhalt des durch die Junktim festzuhalten, daß abrüstungs- und entspan- Stalin-Note vom 10. März 1952 ausgelösten Noten- nungspolitische Schritte nur in Folge oder wenigstens wechsels. Die deutschlandpolitische Bedeutung der in Verbindung mit Schritten zur Wiedervereinigung März-Note, die an die drei Westmächte gerichtet war, unternommen werden sollten. Dieses Junktim be- wurde auch im Bundeskabinett und im Bundestag stimmte noch die „Berliner Erklärung" der drei West- erörtert: mit dem Ergebnis einer Entschließung, die mächte und der Bundesrepublik im Juli 1957, in der die herausragende Wichtigkeit freier Wahlen in nochmals die gemeinsamen Grundpositionen in der Gesamtdeutschland hervorhob [--> Mende, Protokoll Deutschlandpolitik bekräftigt wurden. Nr. 48; Barzel, Protokoll Nr. 55]. Doch waren weder Um die Mitte der fünfziger Jahre änderte sich die die Westmächte noch die Bundesregierung bereit, von weltpolitische Konstellation. Eine wich tige Zäsur war der Forderung nach Entscheidungsfreiheit eines wie- der XX. Parteitag der KPdSU von 1956 mit Chrusch- dervereinigten Deutschland bei der Wahl der Bünd- tschows programmatischer Rede zur Entstalinisie- nisse abzurücken, was aus Moskauer Sicht eine fakti- rung. Zugleich bekannte er sich zum Prinzip der sche Ausdehnung der NATO bis zur Oder und damit „friedlichen Koexistenz" im Atomzeitalter. Vor die- die Preisgabe wesentlicher Teile des strategischen sem Hintergrund gewannen die politischen Beziehun- Vorfeldes der Sowjetunion bedeutet hätte. In den gen mit Moskau zusätzlich an Gewicht. 1955 nutzte Folgejahren setzte, mit dem Höhepunkt der Bundes- Adenauer die neu gewonnene Souveränität der Bun- tagsdebatte vom 23. Januar 1958, eine kontrovers desrepublik Deutschland und nahm die Einladung zu geführte Diskussion über eine angeblich verpaßte einem Besuch nach Moskau an, um eigene politische Gelegenheit ein, die auf den Vorwurf hinauslief, die Kontakte zur östlichen Großmacht entwickeln zu reale Substanz der Note nicht hinreichend ausgelotet können. Ergebnis des Besuches war die Aufnahme zu haben. diplomatischer Beziehungen im Austausch gegen die Die Enqute-Kommission hat hierzu den Forschungs- Freilassung der noch in der Sowjetunion festgehalte- stand analysiert. Sie nahm die in den Expertisen und nen deutschen Kriegsgefangenen. In dem entspre- Vorträgen [—> Expertisen Graml, Hacker, Morsey, chenden Briefwechsel zwischen den beiden Regie- Pfeiler, Schmidt; —> Möller, Wetg,ti Protokoll Nr. 48] rungschefs war die Formulierung enthalten, daß die gegebene Darstellung — bestätigt durch in jüngster Entwicklung normaler Beziehungen „auch zur Zeit gewonnene Erkenntnisse aus den Akten des Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des sowjetischen Außenministeriums — zur Kenntnis, daß deutschen Volkes — der Wiederherstellung der Ein- eine Chance zur Wiedervereinigung in Freiheit 1952 heit eines demokratischen Staates — verhelfen wird" und in der Folgezeit nicht bestanden habe. Einerseits [--> Barzel, Protokoll Nr. 55]. Adenauer übergab waren die Westmächte, im Sinne ihres Ziels der zusätzlich einen Brief zur deutschen Einheit, in dem „doppelten Eindämmung", zur Hinnahme einer Neu- ausdrücklich am Friedensvertragsvorbehalt für die tralisierung Deutschlands nicht bereit, hierin unter- abschließende Festlegung der deutschen Ostgrenze stützt von der Regierung Adenauer und der Mehrheit und am Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik des Bundestages sowie der öffentlichen Meinung. Deutschland festgehalten wurde. Gerade er wollte Andererseits kann auf der Grundlage der bisher sich mit der Auflösung des Junktims zwischen inter- erschlossenen Akten eine ernsthafte Verhandlungs- nationaler Entspannung und deutscher Wiederverei- absicht der Sowjetunion nicht festgestellt werden. Die - nigung nicht abfinden. In die gleiche Richtung zielte Aktion zielte vielmehr auf propagandistische Wir- die im Zuge des Moskau-Besuchs entwickelte „Hall- kung in der westdeutschen Öffentlichkeit, vor allem stein-Doktrin", mit der die Absicht verfolgt wurde, auf die Verhinderung des Beitritts der Bundesrepublik eine internationale Anerkennung und damit Festi- Deutschland zur geplanten Europäischen Verteidi- gung des SED-Regimes sowie der deutschen Teilung gungsgemeinschaft (EVG). Auch die Möglichkeit zu verhindern. Dies gelang bis zum Ende der sechzi- einer operativen, die freiheitliche Wiedervereinigung ger Jahre weitgehend. Auf längere Sicht wurde aber Deutschlands einkalkulierenden Sonderrolle L. P. deutlich, daß sich die Bundesrepublik Deutschl and

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode mit der „Hallstein-Doktrin" gegenüber anderen Staa- In der Enquete-Kommission wurde kontrovers disku- ten, besonders in der Dritten Welt, erpreßbar machte tiert, ob der Bau der Berliner Mauer ein Scheitern der [--> Expertise Morsey]. Adenauerschen Deutschlandpolitik bedeutete, oder ob er lediglich eine Zäsur darstellte, die das Funda- Die Direktive der Genfer Gipfelkonferenz vom 23. Juli ment der bis dahin geführten Deutschlandpolitik nicht 1955 an die geplante Außenministerkonferenz be- zerstörte, neue Schritte in der Politik gegenüber der kräftigte noch einmal die Zuständigkeit der Vier Sowjetunion jedoch notwendig machte. Adenauer Machte für die deutsche Frage: Es sollte, „im Einklang hatte neue Möglichkeiten des Ausgleichs in den mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes Jahren 1958/62 konzipiert (Österreich-Lösung, und den Interessen der europäischen Sicherheit", Globke-Plan) und in Kontakten mit der Sowjetunion über die Wiedervereinigung Deutschlands im Wege zur Sprache gebracht; in Moskau stießen sie aller- freier Wahlen beraten werden. Eine Umsetzung dieser dings auf Ablehnung. Direktive auf der Außenministerkonferenz im Herbst 1955 kam jedoch nicht zustande. Ergebnis der Berlin-Krise war, daß die Westmächte Im November 1958 kündigte die sowje tische Führung trotz des geographischen Nachteils ihre rechtliche die von der EAC 1944 in London getroffenen alliierten und politische Position in Berlin hielten. Zwar konnten Vereinbarungen über die Besetzung Berlins auf und sie nicht verhindern, daß die Regierung der DDR den forderte vorerst („gegenwärtig") die Umwandlung Ostteil als „Berlin —Hauptstadt der DDR” ausgab — West-Berlins in eine „selbständige politische Einheit mit zum Teil bizarren Auswüchsen für seine Bewoh- ner [ — in eine Freie Stadt" [ --> Expertise Mahncke]. 1961 --> Wolle, Protokoll Nr. 46] —, doch brachte die erreichte die Krise mit dem Bau der Mauer in Berlin Standfestigkeit des Westens die östliche Seite in den ihren Höhepunkt. Ihren Abschluß fand sie in dem Folgejahren allmählich zu der Erkenntnis, daß eine ersten Freundschaftsvertrag der Sowjetunion mit der Politik des modus vivendi Konzessionen in Berlin DDR im Juni 1964. Mit ihm erhielt die DDR zwar nicht erforderlich machen würde. den gewünschten Friedensvertrag, wohl aber eine A rt Bestandsgarantie als „sozialistischer Bruderstaat". Der sowjetische Vorstoß bezweckte offenbar, das 2.6 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der westliche Bündnis in Deutschland und Europa zu SPD und der Sachverständigen Faulenbach, erschüttern und zugleich die DDR durch Sperrung des Gutzeit, Weber letzten freien Fluchtweges nach Westen zu stabilisie- ren [--> Expertise Mahncke]. Einen Teilerfolg erreichte „In der Darstellung der Koalitionsfraktionen domi- die Sowjetunion dadurch, daß auf der Genfer Außen- niert die Außenpolitik, für die zudem ein einseitiger ministerkonferenz (Mai 1959) zwei deutsche Beob- Kontinuitätsnachweis, eine möglichst ungebrochene achterdelegationen („an Katzentischen") teilnahmen. Linie von Adenauer bis Kohl, konstruiert wird. Dar- Eine Verständigung über die deutsche Frage kam über hinaus wird die innenpolitische, d. h. gesell- nicht zustande, vielmehr rückten die Westmächte mit schaftspolitische, Dimension der Deutschlandpolitik der Entkoppelung des Junktims von europäischer entweder weitgehend ausgeblendet oder aber — Sicherheit und deutscher Einheit von der bis dahin mit wiederum einseitig — übersehen, was eben nicht nur der Bundesregierung gemeinsam verfolgten deutsch- für Adenauer, sondern auch für Schumacher gilt: landpolitischen Grundlinie ab [--> Expertise Mor- Auch dessen deutschlandpolitische „Vorstellungen sey]. waren in hohem Maße von gesellschaftspolitischen Vorstellungen geprägt" [--> Möller, Protokoll Nr. 48]. Den Versuch der Sowjetunion, auch die freie und Es bedarf zusätzlicher Untersuchungen, um die politi- bedingungslose Nutzung der Luftkorridore in Frage schen Unterschiede und Gegensätze zwischen den zu stellen, beantworteten die Westmächte mit der großen westdeutschen Parteien herauszuarbeiten, die Erklärung, zum Schutz der Freiheit West-Berlins und sich in diesen beiden, während der ersten Nachkriegs- zur Aufrechterhaltung des Zugangs zur Stadt notfalls jahre herausragenden Persönlichkeiten verkörperten Kernwaffen anwenden zu wollen. Sie betrachteten die und deren deutschlandpolitische Konzeptionen be- Verteidigung der von Kennedy verkündeten drei einflußten. Sie können hier nur kurz skizziert wer- „essentials" — uneingeschränkte Präsenz alliierter den. Streitkräfte in West-Berlin, ungehinderter Zugang, Recht der West-Berliner auf freie Wahl ihrer Lebens- Gegensätze bestanden zunächst in der Sicht auf die form — als Prüfstein ihrer Glaubwürdigkeit als Ursachen des Nationalsozialismus. Während Ade- Schutzmächte in Berlin und als Verbündete der Bun- nauer vor allem der modernen Massengesellschaft desrepublik Deutschland. Bundeskanzler Adenauer und den Tendenzen zur Entchristlichung in Gebieten stand auf dem Höhepunkt der Krise, am 13. August mit überwiegend protestantischer Bevölkerung die 1961, vor der Frage, ob er sofort nach Berlin reisen Hauptschuld am Aufstieg der NSDAP gab, wies Schu- sollte. Er verzichtete nach eigenen Aussagen hierauf, macher auf die Mitverantwortung des industriellen nicht zuletzt um die Emotionen in der Bevölkerung und agrarischen Großbesitzes für die Machtergrei- nicht anzuheizen und um keine Erwartungen zu fung Hitlers und auf die sich daraus ergebende wecken, die angesichts der erkennbaren alliierten Notwendigkeit einer Neuordnung von Wirtschaft und Politik anschließend notwendigerweise hätten ent- Gesellschaft hin. In Adenauers Perspektive gab es, täuscht werden müssen [ --> Expertise Mahncke; Pro- wie er bei Kriegsende gegenüber amerikanischen tokoll Nr. 46]. Diese Haltung wurde in der Öffentlich- Offizieren betonte, zwei Deutschland: „das eine im keit vielfach kritisiert, zumal ihre Hintergründe größ- wesentlichen geprägt durch die römische Kultur, das tenteils nicht erkannt wurden. andere durch Preußen". Schumacher, der das ganze

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Deutschland im Blick hatte, nannte ihn wegen solcher den Westen am frühesten — leider meist vergeblich — Außerungen einen „homo latinus". Er, als West- gewarnt hatten. preuße, war dagegen von der Notwendigkeit des Zusammenlebens mit den slawischen Völkern über- Diese kompromißlose und nicht widerlegbare Posi tion zeugt. Er wußte auch, daß die deutsche Sozialdemo- Schumachers, kombiniert mit seiner schroff vorgetra- kratie ohne ihre Anhängerjenseits von Elbe und Saale genen Forderung nach politischer und wirtschaftli- nur auf einem Lungenflügel atmete. cher Gleichberechtigung Deutschlands --- hierin de Gaulle als Sprecher des 1940 geschlagenen Frank- Aus Adenauers Deutschlandbild ergaben sich Konse- reich durchaus ähnlich —, trug ihm selbst bei westeu- quenzen für die praktische Politik. Gegenüber Jakob ropäischen Sozialisten den Ruf eines „Nationalisten" Kaiser hatte er schon 1946 betont, daß es für den ein. Auch in ihren Augen war der bürgerliche Ade- Westen wie für den Süden Deutschlands ganz ausge- nauer der kompromißbereitere Verhandlungspartner, schlossen sei, daß nach einer Wiedervereinigung der wesentlich mehr Verständnis dafür zeigte, daß die Deutschlands die politische Zentrale des neuen große Mehrheit der Westeuropäer — nach ihren Deutschland in Berlin ihren Sitz findet. Dabei sei es Erfahrungen mit den Deutschen in zwei Weltkriegen gleichgültig, ob und von wem Berlin und der Osten — in der organisierten Zusammenarbeit Westeuropas besetzt seien. Diese Einstellung Adenauers wurde nicht zuletzt Sicherheit vor den Deutschen durch rasch politisch unmittelbar relevant. Als z. B. im deren Einbindung suchte. Anschluß an das Ende der ersten Berlin-Krise der Bundestag in einer seiner ersten Sitzungen (30. Sep- Gewiß gab es auch einige Gemeinsamkeiten zwi- tember 1949) die Westalliierten aufforderte, die Sus- schen Schumacher und Adenauer. Die SPD Schuma- pendierung des Artikels 23 des Grundgesetzes (West- chers blieb in ihrer Zustimmung zur parlamentari- Berlin ist zwölftes Bundesland) rückgängig zu schen Demokratie einer Tradition treu, die sie wie machen, hielt es Adenauer zum Erstaunen des ameri- keine andere deutsche Partei begründet und unter kanischen Hochkommissars McCloy nicht für notwen- großen Opfern verteidigt hatte. Sie lehnte jede dig, der Hohen Kommission diese Bundestagsent- Zusammenarbeit mit den Kommunisten ab, erst recht schließung vorzulegen. Auch in den folgenden Mona- nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der ten und Jahren hat er gemeinsam mit der französi- SBZ. Schumacher vertrat seit 1947 als erster Politiker schen Regierung verhindert, daß die amerikanischen die „Magnettheorie", nach der von einer westdeut- Vorstöße, West-Berlin als zwölftes Bundesland zu schen Kernstaatsbildung eine Sogwirkung auf die behandeln, Erfolg hatten. [—> Soell, Protokoll Nr. 46] SBZ/DDR und den gesamten Osten ausgehen sollte [--> Faulenbach, Protokoll Nr. 48]; Adenauer bezog In ähnlicher Weise divergierten die Europakonzeptio- wenig später eine ähnliche Posi tion. Schumachers nen beider Politiker. Schumacher hatte schon 1920 als Konzept war dynamischer angelegt, weil es Elemente junger Journalist den damaligen Völkerbund als „Pro- gesellschaftlicher Umgestaltung durch Mitbestim- dukt des westeuropäischen Hochkapitalismus" be- mung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft und durch zeichnet und für eine überstaatliche Organisa tion der die Sozialisierung der Schlüsselindustrien enthielt. sozialdemokratisch orientierten Staaten Europas plä- Übereinstimmung bestand in der Furcht beider Politi- diert. In seiner Vorstellung von Europa nach 1945 ker vor einem Bündnis nationalistischer Strömungen bildeten die skandinavischen Staaten und Großbri- auf der Rechten und auf der Linken, vor allem wenn es tannien einen integralen Bestandteil. Hingegen war durch ein sowjetisches Wiedervereinigungsangebot Adenauer schon in den zwanziger Jahren für eine untermauert werden würde. Beide zogen aus dieser Verflechtung der Schwerindustrien an Rhein und Sorge allerdings unterschiedliche Konsequenzen. Ruhr mit denen in Frankreich und in Belgien einge- Dies wurde in der Auseinandersetzung um die soge- treten. In der von Jean Monnet entworfenen und vom nannte Stalin-Note vom 10. März 1952 deutlich. französischen Außenminister Schuman im Mai 1950 vorgeschlagenen Montanunion sah er die Verwirkli- Bei der Behandlung dieser Note fand die Auseinan- chung dieses Konzepts. dersetzung zwischen Regierung und Opposition über die künftige Deutschlandpolitik erstmals besonders Schumacher war aber nicht nur durch seine Ableh- deutlichen Ausdruck. Erich Mende hat zwar in der nung einer kleineuropäischen Lösung, die ihm zu Enquete-Kommission dargelegt, daß die SPD-Frak- kapitalistisch, zu konservativ und zu klerikal erschien, tion am 3. April 1952 einer gemeinsamen Entschlie- in den Augen der Westeuropäer „der Mann, der im ßung des Bundestages zugestimmt habe, aber diese Wege stand". Seine zehnjährige Haft im Konzentra- Feststellung enthält nur die halbe Wahrheit. Im Bun- tionslager machte ihn zur fleischgewordenen Wider- destag hatte die SPD-Fraktion den Antrag gestellt zu legung der in der öffentlichen Meinung Westeuropas beschließen, daß die Wiederherstellung der Einheit weithin dominierenden These von der Kollektiv- Deutschlands als europäische Aufgabe oberstes Ziel schuld aller Deutschen. Nicht ohne Sarkasmus stellte der Bundesrepublik und die Bundesregierung zu Schumacher auf der Sitzung des Sozialistischen Inf or- ersuchen ist, nur solche Abkommen zu schließen, die mationsbüros (der Vorf orm der 1951 wiedergegründe- die Möglichkeit offen ließen, auf die Einleitung von ten Sozialistischen Interna tionale) im Juni 1947 in Verhandlungen der vier Besatzungsmächte über die Zürich fest: „Wir waren schon sechs Jahre allein in friedliche Wiedervereinigung Deutschlands hinzu- Konzentrationslagern, ehe eure freundlichen Gastbe- wirken. Nur der erste Teil dieses Antrags wurde von suche kamen, die durch den Hitler-Krieg hervorgeru- der Mehrheit des Bundestages angenommen, der fen waren. " Er hätte hinzufügen können: Der Krieg zweite abgelehnt. Nach Auffassung der SPD-Führung war durch die Expansionspolitik des NS-Regimes hatte damit die Koalitionsmehrheit die Grundlage für entstanden, vor der die deutschen Sozialdemokraten ein gemeinsames H andeln aller demokratischen Par-

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode teien mit dem Ziel der Wiedervereinigung aufgege- fünfzehn Jahre befristeten „Burgfriedens" eine ähn- ben. liche Offerte, die ebenfalls negativ beschieden wurde. In diesem Fall war das Verhalten Adenauers nicht durch Rücksichtnahme auf die Sorgen der westeuro- In allen diesen Aktivitäten läßt sich weder eine aktive päischen Nachbarn bestimmt. Noch Anfang Juli 1952 noch eine kontinuierliche Wiedervereinigungspolitik wies der französische Hochkommissar André Fr ancois Adenauers erkennen, die dann — wie heute gelegent- Poncet, der als Botschafter Frankreichs in Berlin in den lich behauptet wird — auf einer langen Zeitschiene dreißiger Jahren die politische Sprengkraft nationali- letzten Endes zur Einheit Deutschlands 1990 geführt stischer Propagandaformeln wie der Dolchstoßle- haben soll. Schon eher läßt sich darin die Kontinuität gende kennengelernt hatte, mit Nachdruck darauf einer Politik feststellen, in der Freiheit und Sicherheit hin, daß die französische, englische und deutsche der Westdeutschen, später — in engerem Rahmen — Öffentlichkeit den klaren Nachweis einer Politik auch die der Ostdeutschen, nicht aber die Wiederher- benötigte, die jede Möglichkeit einer friedlichen Ver- stellung der staatlichen Einheit im Vordergrund stan- ständigung mit der Sowjetunion ausschöpft. Selbst den [—> Expertise Kleßmann I; Faulenbach, Protokoll Adenauer hat in seinen Erinnerungen an diese fran- Nr. 48]. Charakteristisch für die Adenauersche Politik zösische Mahnung erinnert. war vielmehr der für die politische Kultur der Bundes- Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung republik belastende Tatbestand, daß die Wiederverei- [--> Wettig, Protokoll Nr. 48] wissen wir, daß die in den nigung als oberstes Ziel der Politik proklamiert wurde, Stalin-Noten vom Frühjahr und Sommer 1952 enthal- doch eine an diesem Ziel orientierte kontinuierliche tenen deutschlandpolitischen „Angebote" weitge- operative Politik fehlte. hend propagandistischer Natur waren. Sie sollten vor Es ist fraglich, ob man diese Haltung und Politik mit allem den Kampf der westdeutschen KPD und anderer dem Etikett „antinational" versehen kann. Ein wich- „Friedenskräfte" gegen die Adenauer-Regierung bis tiges Motiv Adenauers war sein geringes Vertrauen in zu deren Sturz unterstützen — eine groteske Fehlein- die politische Reife des eigenen Volkes. Erhard Eppler schätzung der politischen Kräfteverhältnisse in West- hat in seiner Rede zum 17. Juni 1989 diese Einstellung deutschland. Da die SED über diese Propagandastra- als legitim bezeichnet. Diese Politik hatte allerdings tegie informiert und darin eingebunden wurde, gilt negative Folgen. Adenauer kam durch seinen auto- dieses Urteil auch für die dortige Führung. Wie bei kratischen Führungsstil dem distanzierten Politikver- einer anderen Reaktion der Bundesregierung und der ständnis der westdeutschen Bevölkerung entgegen. Westmächte die Entwicklung weitergeg angen wäre, Dies war ein wichtiger Grund, warum sich in der ist nicht zu beantworten. politischen Kultur der Bundesrepublik in den fünfzi- In der Zeit unmittelbar nach Stalins Tod, insbesondere ger und sechziger Jahren zunächst eine formal-prag- im Vorfeld des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 matische Einstellung zur Demokratie herausbildete. und in den Wochen vor der Berliner Außenminister- Das politische Bewußtsein war in dieser Zeit weitge- konferenz 1954, war die SED-Führung über die Mos- hend durch die Verdrängung der schuldhaften Ver- kauer Absichten sehr viel schlechter informiert und gangenheit, einen emo tionellen Antikommunismus, deshalb zeitweise in panikartige Stimmung geraten. die Westintegration sowie durch den Stolz auf die Ob und inwieweit sich hinter den deutschlandpoliti- eigenen wirtschaftlichen Leistungen geprägt. Auf schen Vorstößen von Stalins Nachfolgern seriöse Wie- diese Weise wurden die formalen Spielregeln der dervereinigungsüberlegungen Moskaus verbargen, Demokratie unter Effektivitätskriterien akzeptiert, kann erst die weitere Forschung, insbesondere die eine entsprechende Verinnerlichung demokratischer bisher nicht mögliche Auswertung der im sogenann- Werte und Verhaltensweisen konnte sich aber auf- ten Präsidentenarchiv in Moskau befind lichen Unter- grund dieser Dispositionen erst allmählich und ver- lagen des sowjetischen Politbüros, zeigen. stärkt seit Ende der sechziger Jahre herausbilden. Zugleich wurde den Westdeutschen suggeriert, in Selbst wenn sich nach derar tigen Forschungen einmal einem überschaubaren Zeitraum die Wiedervereini- Hinweise auf ernstzunehmende Erwägungen des gung erreichen zu können. Gegenüber Polen nährte Kreml ergeben sollten, ist die Hypothese berechtigt, die Vorstellung Adenauers, man könne mit einem daß sie auf Adenauer zu keiner Zeit Eindruck gemacht freien Polen leichter über Grenzrevisionen verhan- hätten. Darauf weisen nicht nur die von Josef Fosche- deln, in der Bevölkerung die falsche Hoffnung, daß an poth Mitte der achtziger Jahre in britischen Archiven der deutsch-polnischen Grenze zu einem späteren gefundenen Dokumente hin [—> Foschepoth, Protokoll Zeitpunkt substantielle Veränderungen vorgenom- Nr. 48], sondern auch Adenauers geradezu eiserne men werden könnten. Zurückhaltung in der Wiedervereinigungsfrage wäh- rend seines Moskau-Besuches im September 1955. Die nach Schumachers Tod von der sozialdemokrati- Heinrich von Brentano, der Adenauer nach Moskau schen Opposition entwickelten Vorstellungen hielten begleitet hatte, kommentierte später diese absolute zwar an der Priorität der Wiedervereinigungspolitik Zurückhaltung mit der Bemerkung, die Russen hätten vor der militärischen Westintegration der westdeut- gedacht: „Komisch, was die uns da vorspielen." Zu . schen Republik fest. Aber das von ihr entwickelte dieser Haltung Adenauers passen auch dessen der Modell einer von beiden Weltmächten garantierten Öffentlichkeit damals verborgen gebliebenen, aller- kollektiven Sicherheit in Europa, in das sich das dings gescheiterten Versuche (1958), mit Moskau vereinigte Deutschland einfügen sollte, ging von der über eine „österreichische" Lösung für die DDR ins anfechtbaren Annahme aus, daß sich in einer ideolo- Gespräch zu kommen. Vier Jahre später machte er gisch und machtpolitisch gespaltenen Welt die Staa- Moskau mit dem Vorschlag eines auf zehn bis ten eines solchen kollektiven Sicherheitssystems auch

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 gegen Aggressoren aus dem eigenen Lager oder gar 3. Das geteilte Deutschland 1961-1969 gegen Nuklearmächte zusammenschließen würden. Zwar konnte die SPD geltend machen, daß sie mit internationalen Rahmenbedingungen ihren Vorschlägen auch den Sicherheitsbedürfnissen 3.1 Zu den der Sowjetunion Rechnung zu tragen versuchte. Aber der Deutschlandpolitik die Möglichkeit, sowje tische Sicherheitsbedürfnisse befriedigen zu können, verlor angesichts der waffen- Seit Ende der fünfziger Jahre zeichnete sich allmäh- technischen Entwicklung, insbesondere durch das lich eine einschneidende Veränderung im Verhältnis sich Ende der fünfziger Jahre abzeichnende Patt der beiden Supermächte und der von ihnen geführten zwischen den Weltmächten, immer mehr an Bedeu- Blöcke ab. Mit dem „Sputnikschock", den sowjeti- tung. Aus dieser Entwicklung hat die SPD mit der schen Interkontinentalraketen, mit denen die USA Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 erreicht werden konnten, und der Wasserstoffbombe den Schluß gezogen, daß jede künftige Deutschland- in den Händen der UdSSR bildete sich ein „Gleichge- politik auf der Grundlage der Pariser Verträge zu wicht des Schreckens" heraus. Das atomare Patt und betreiben ist. die Gefahr eines atomaren, sich gegenseitig auslös- chenden Krieges waren die entscheidenden Gründe Während sich die SPD auch in den fünfziger Jahren für den sich allmählich vollziehenden Übergang vom gegenüber Neutralismuskonzeptionen eher skeptisch Kalten Krieg zur Pe riode der Entspannung. Dieser verhielt, hat Gustav Heinemann mit seiner 1952 Trend, der sich schon 1959 mit dem „Geist von Camp gegründeten GVP ein solches Konzept jahrelang - David" andeutete, wurde Anfang der sechziger Jahre vertreten. Er hielt die auf den Westen ausgerichtete durch eine Periode erneuter Konfrontation bedroht Bündnispolitik nicht nur angesichts der großen Opfer, und gefährdet (U-2-Zwischenfall 1960, Berlin 1961 die Hitlerdeutschland der Sowjetunion im Zweiten und Kuba-Krise 1962). Weltkrieg zugefügt hatte, für moralisch bedenklich. Er vertrat auch die Auffassung, daß die schlimmste Die Erfahrung der Doppelkrise Berlin/Kuba (1961/62) Neutralisierung Deutschlands in der wechselseitigen hinterließ in Verbindung mit der seit der zweiten Neutralisierung deutscher Waffen hüben und drüben Hälfte der fünfziger Jahre spürbaren Veränderung im besteht. In der Darstellung der Koalition ist mit dem militärischen Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken Hinweis auf die Expertise Schmidt davon die Rede, bei den Weltmächten USA und Sowjetunion ein daß die GVP in ihrer Opposi tion gegen die Westbin- gesteigertes Bedürfnis nach Mechanismen zur Krisen- dung bereit gewesen sei, mit der SED partiell zu bewältigung, nach Rüstungskontrolle und Reduzie- kooperieren. Der für diese Behauptung unter ande- rung der Spannungen (Détente-Entspannung). In den rem in Anspruch genommene frühere CSU-Abgeord- folgenden Jahren schlossen sie mehrere Sicherheits- nete Bodensteiner hat sich dagegen in einem Leser- vereinbarungen, darunter 1963 das Atomteststoppab- brief an die FAZ (6. 4. 94) ausdrücklich verwahrt. Aus kommen und 1968 das Abkommen über die Nichtwei- östlicher Sicht bestand überdies kein Zweifel, daß terverbreitung von Atomwaffen. 1972 folgte die erste Bündnispartner nur akzeptiert wurden, wenn sie Vereinbarung über Rüstungsbegrenzung (SALT I), bereit waren, sich der kommunistischen Führung voll die die strategische Parität zwischen der Sowjetunion unterzuordnen: und den Vereinigten Staaten gewährleisten sollte.

„Nach diesen Kriterien verfiel auch die Gesamtdeut- Durch die Dominanz der internationalen Politik geriet sche Volkspartei Heinemanns dem Verdikt. Dieser die Bundesrepublik immer mehr unter einen Anpas- Partei wurde zugestanden, daß sie in der derzeitigen sungsdruck. Seit der „Berliner Erklärung" vom Juli politischen Phase durchaus den richtigen Kurs ver- 1957 waren die Westmächte zu keiner opera tiven trete. Aber es hieß zugleich, diese Gruppierung der Wiedervereinigungspolitik auf Vier-Mächte-Ebene ,fortschrittlichen Bourgeoisie' sei darum auch gefähr- mehr bereit, während die Sowjetunion zur Sicherung lich, weil sie sich mit ihrer richtigen Politik nicht des 1945 erreichten politischen und territorialen Sta- kommunistischer Führung unterordne und so die tus quo nur mehr einen Friedensvertrag mit den kommunistische Seite der Bedrohung aussetze, daß beiden deutschen Staaten anbot (Molotow-Plan 1959). die Mobilisierung der westdeutschen ,Massen', an Die USA machten 1961 deutlich, daß sich ihre Berlin deren Zustandekommen und erfolgreichen Weiter- Garantie nur auf den Westteil der Stadt bezog, Staat- entwicklung man in Moskau glaubte, nicht in die präsident de Gaulle und der britische Premier Wilson, Hände der KPD, sondern in die Hände einer ,bour- daß sie die Oder-Neiße-Grenze als vollendete Tatsa- geoisen' Kraft falle. Das aber mußte unbedingt verhin- che hinnahmen und Großbritannien den Gedanken dert werden." [--> Wettig, Protokoll Nr. 48] an eine De-facto-Anerkennung der DDR zumindest erwog. Das Abbröckeln der deutschlandpolitischen Bei der Bewertung der Politik der GVP wie bei den Positionen der westlichen Alliierten war ebensowenig zuvor skizzierten außen-, innen- und europapoliti- zu übersehen wie der Trend, zu sicherheitspolitischen schen Konzeptionen Schumachers und Adenauers Arrangements mit der östlichen Vormacht zu kom- zeigt sich, daß noch weitere Forschungen notwendig men, bei denen die Bundesregierung durch ihre sind. Die Gesamtproblematik der Deutschlandpolitik zögerliche bis abwehrende Haltung zusehends in die der fünfziger Jahre eignet sich nicht für Schnell- Rolle des Störenfrieds geriet. Die Vorgänge um das schüsse auf noch immer unbef riedigender Quellenba- Atomteststoppabkommen (1963) waren dafür be- sis. Die heute schon bekannten Tatsachen widerlegen zeichnend: Das Teststoppabkommen stellte die Bun- allerdings die Behauptung von der ungebrochenen desregierung ebenso wie das spätere Nichtverbrei- Kontinuität in der Deutschlandpolitik der CDU tungsabkommen vor die Frage, ob sie mit ihrer Unter- geführten Bundesregierungen. schrift neben derjenigen der DDR-Führung nicht den

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Grundsatz der Nichtanerkennung der DDR verletzte. Treuhandstelle für Interzonenhandel Möglichkeiten Adenauer erwog sogar seinen Rücktritt. In schwieri- zu Gesprächen über eine Minderung der Spannungen gen Verhandlungen wurde eine verbindliche Erklä- in Deutschland und über menschliche Erleichterun- rung der USA erreicht, die sicherstellte, daß aus dem gen, beginnend z. B. mit einem Passierscheinabkom- Beitritt der DDR zu dem Abkommen keine stillschwei- men in Berlin, im Gegenzug gegen bundesdeutsche gende Anerkennung gefolgert werden konnte [--> Ex- Kreditgewährung [--> Expertise Link]. pertise Link]. Ein Vorstoß des Auswärtigen Amtes vom 13. August 1963, mit dem die Westmächte zu einer Außenminister Gerhard Schöder verfolgte in den neuen Deutschlandinitiative veranlaßt werden soll- Jahren seiner Amtszeit von 1961 bis 1966, unterstützt ten, wurde zur Demons tration der Unvereinbarkeit von dem Minister für gesamtdeutsche Fragen, Erich mit der internationalen Politik [--> Exper tise Link]. Mende [—> Mende, Protokoll 52], eine Politik der Bewegung gegenüber den Verbündeten der Sowjet- union in Ostmittel- und Südosteuropa. Als erstes schloß die Bundesrepublik mit diesen Handelsabkom- 3.2 Politik und Selbstverständnis der men ab. Seine Politik suchte die Sowjetunion zu Bundesregierungen und des Berliner Senats umgehen und gleichzei tig die DDR zu isolieren, hierin in relativer Übereinstimmung mit der amerikanischen In den ausgehenden fünfziger und beginnenden sech- Politik des „Brückenschlags" unter Präsident John- ziger Jahren wurden in der Öffentlichkeit zunehmend son, die — in Anknüpfung an reformkommunistische Zweifel an der Deutschlandpolitik von Bundeskanzler Bestrebungen im Zuge der Entstalinisierung — primär Adenauer laut. Das Problem lag zum einen da rin, daß die nationalen Eigenständigkeitstendenzen in Osteu- mit der vollzogenen Westbindung keine unmittelba- ropa begünstigte. Parallel dazu und auch in Reaktion ren Fortschritte in der Wiedervereinigungsfrage auf das Scheitern der Ini tiative gegenüber den West- erzielt werden konnten. Die Trennung war vielmehr mächten bot die Regierung Erhard mit der Friedens- mit dem Mauerbau 1961 im Wortsinne zementiert note vom März 1966 allen Staaten Osteuropas, nun- worden. Zudem zeigte sich im Laufe der sechziger mehr die Sowjetunion eingeschlossen, den Austausch Jahre, daß die DDR international an Boden gewann, von Gewaltverzichtserklärungen an. womit die „Hallstein-Doktrin" an Wirkung verlor und sogar geeignet war, die Aktionsfähigkeit der Bundes- In Berlin schloß der Senat unter dem Regierenden regierung einzuschränken. Zum anderen räumten die Bürgermeister Willy Brandt im Dezember 1963 mit Westmächte der Entspannungs- und Rüstungskon- Beauftragten der DDR-Regierung ein zeitlich befriste- trollpolitik Priorität ein und koppelten damit die tes Passierscheinabkommen ab. Nachdem bis dahin Sicherheitsfrage von der deutschen Frage ab, was zu die Abschnürung stetig enger gezogen worden war, dem Eindruck führte, daß sie in der Deutschlandpoli- konnten nun erstmals West-Berliner wieder Ver- tik ihre Verpflichtung aus dem Deutschlandvertrag, wandte im Ostteil der Stadt besuchen. Weitere Pas- Artikel 7, nicht mehr als vorrangig be trachteten. sierscheinregelungen konnten in den Jahren von 1964 bis 1966 vereinbart werden. Br andt wurde bei diesen Der von dieser Politik ausgehende Anpassungsdruck ersten kleinen Schritten, die Mauer durchlässiger zu wurde von allen politischen Kräften in der Bundesre- machen, von der amerikanischen Regierung unter- publik Deutschland empfunden; die notwendige stützt, die generell dem deutschen Verbündeten zu Anpassung verlief schrittweise und nicht ohne Wider- mehr Flexibilität riet, während Bundeskanzler Lud- sprüche [--> Expertise Link]. Die Schlüsselerfahrung wig Erhard und Teile der CDU/CSU diesen tastenden war für viele der Mauerbau. Willy Brandt faßte seinen Versuchen zur „Entisolierung" der DDR mit Skepsis Eindruck in die Worte zusammen, daß „ein Vorhang begegneten, weil sie für die Zukunft noch weiter weggezogen worden ist und daß sich herausstellte: gehende Konzessionen an die DDR-Regierung Die Bühne war leer. " Konrad Adenauer stellte 1963 befürchteten. fest: „Von der Mauer an hat sich die ganze Situa tion zwischen Ost und West grundlegend geändert" Hinter der Senatspolitik der „kleinen Schritte" stand [--> Expertise Link]. ein seit Anfang der sechziger Jahre entwickeltes Konzept, das auf Drängen der Regierung Kennedy die Deshalb suchte Adenauer in seinen letzten Amtsjah- Deutschlandpolitik bewußt an die amerikanische ren (bis Herbst 1963) nach Mitteln und Wegen, die Strategie des Friedens anzupassen suchte. Einen Verknüpfung Wiedervereinigung/Abrüstung zu mo- frühen und prägnanten Ausdruck fand es in einem difizieren, um so den Verbündeten Manövrierraum für Vortrag von Egon Bahr vom Juli 1963 in der Evange- Rüstungskontrollabsprachen zu verschaffen, ohne lischen Akademie Tutzing. Darin wurde Abschied daß sie dabei das gemeinsame Ziel der Wiederverei- genommen von der Vorstellung, die Wiedervereini- nigung desavouieren mußten [--> Exper tise Link]. gung sei auf dem direkten Wege von Abmachungen Seine der Sowjetunion vertraulich, doch ergebnislos und Vereinbarungen vollziehbar. Auszugehen sei unterbreiteten „Deutschlandpläne" in den Jahren von vielmehr von der operativen Unüberwindlichkeit des 1958 bis 1962 basierten auf der Vorstellung von einer Status quo, denn die Sowjetunion werde die DDR Übergangslösung: Die „nationale" Erwägung, d. h. nicht aufgeben. Wohl aber sei es denkbar, die DDR mit die Frage der Einheit, sollte bef ristet zurückgestellt Zustimmung der Sowjetunion auf dem Wege von werden, um „menschliche Überlegungen" und Verhandlungen und Vereinbarungen, durch „Annä- Erleichterungen im Sinne größerer Freiheit für die herung", in ihrer Existenzsorge zu entlasten und DDR-Bevölkerung zum Zuge gelangen zu lassen, wie damit zu einem Wandel ihrer inneren Verhältnisse zu er 1962 in einer Rede im Bundestag erklärte. Gegen- bringen; „Wandel durch Annäherung" . Die menschli- über der DDR-Führung sondierte er 1962 über die chen Erleichterungen sollten möglichst in homöopa-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 thischer Dosierung erfolgen, damit nicht die Gefahr [--> Expertise Link]. Der gegenüber der UdSSR unter- eines revolutionären Umschlags entstehe und die nommene Versuch der Bundesregierung, im Zusam- Sowjetunion dadurch „zwangsläufig" zur Inte rven- menhang mit der Bundespräsidentenwahl von 1969 tion genötigt werde. eine längerfristige Passierscheinregelung in Berlin zu erreichen, im Gegenzug gegen eine Verlagerung der Die Berliner „Politik der kleinen Schritte" demon- Wahl von Berlin nach Westdeutschland, stieß auf kein strierte die erste Anwendung einer neuen deutsch- für die Bundesregierung und den Berliner Senat landpolitischen Konzeption. Ihr Vorteil war, daß sie akzeptables Echo [--> Exper tise Link]. die längerfristige Perspektive zur Lösung der deut- schen Frage mit handlungsorientierten Anweisungen für die kurzfristige innerdeutsche Politik verband. Letztere faßte Willy Brandt auf dem Dortmunder Sondervotum zu 3.11-3.2 der Mitglieder der Parteitag der SPD von 1966 in der Formel zusammen: Fraktion der SPD und der Sachverständigen " ... ein qualifiziertes, geregeltes und zeitlich Faulenbach, Gutzeit, Weber: begrenztes Nebeneinander der beiden Gebiete,,. „ Seit Ende der fünfziger Jahre zeichnete sich allmäh- Der auf der bundesdeutschen Politik lastende Anpas- lich eine einschneidende Veränderung im Verhältnis sungsdruck brachte eine Vielzahl von Gedanken und der beiden Supermächte und der von ihnen geführten Bemühungen hervor, den weltpolitischen Entspan- Blöcke ab. Mit dem „Sputnikschock", den sowjeti- nungstendenzen durch eine größere Beweglichkeit schen Interkontinentalraketen, mit denen die USA Rechnung zu tragen. Sie zeigten sich 1966 u. a. in den erreicht werden konnte, und der Wasserstoffbombe in Verhandlungen über einen öffentlichen „Redneraus- den Händen der UdSSR bildete sich ein Gleichge- tausch" von SPD und SED, der von allen Bundestags- wicht des Schreckens heraus. Das atomare Patt und parteien mitgetragen wurde, in dem Plädoyer des die Gefahr eines atomaren, sich gegenseitig auslös- CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß für eine „Euro- chenden Krieges waren die entscheidenden Gründe päisierung der deutschen Frage" sowie in den Vor- für den sich allmählich vollziehenden Übergang vom schlägen des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Rai- Kalten Krieg zur Pe riode der Entspannung. Dieser ner Barzel für eine opera tive Wiedervereinigungslö- Trend, der sich schon 1959 mit dem „Geist von Camp sung „im Rahmen eines europäischen Sicherheitssy- David" andeutete, wurde Anfang der sechziger Jahre stems " und unter Verbleib sowjetischer Truppen, die zwar noch durch eine Pe riode erneuter Konfrontation allerdings in der Union nicht konsensfähig waren bedroht und gefährdet (U-2-Zwischenfall 1960, Berlin [--> Expertise Link; Barzel, Protokoll 55]. 1961 und Kubakrise 1962). Gerade die Erfahrung der Schließlich entwickelte die Bundesregierung der gro- Doppelkrise Berlin/Kuba verstärkte bei den Welt- ßen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesin- mächten USA und UdSSR aber das Bedürfnis nach ger zwischen Ende 1966 und Herbst 1969 tragfähige Mechanismen zur Krisenbewältigung, nach Rü- neue Elemente der Deutschland- und Ostpoli tik. stungskontrolle und nach Reduzierung der Spannun- Deren wichtigstes war die Aussage, deutsche Selbst- gen (Détente-Entspannung) auf der Basis der Fixie- bestimmung und Wiedervereinigung seien nur im rung des Status quo. Daraus resultierten mehrere Rahmen einer europäischen Friedensordnung denk- Sicherheitsvereinbarungen, darunter das Atomtest- bar, und diese müsse in einem stufenweisen Prozeß stoppabkommen (1963) und das Abkommen über die verwirklicht werden. Um die Entwicklung in diese Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (1968). Richtung anzustoßen, erklärte sich die Bundesregie- Durch die Dominanz der internationalen Politik geriet rung zum Austausch von Gewaltverzichtsverträgen die Bundesrepublik immer mehr unter einen Anpas- mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen sungsdruck. Seit der „Berliner Erklärung" vom Juli Staaten bereit; 1968 wurde auch die DDR in das 1957 waren die Westmächte zu keiner operativen Angebot offiziell miteinbezogen. Erstmals erhielt so Wiedervereinigungspolitik auf Vier-Mächte-Ebene die Sowjetunion einen gewissen Vorrang als Ver- mehr bereit, während die Sowjetunion zur Sicherung tragspartner zugesprochen, während parallele Ge- des 1945 erreichten politischen und territorialen Sta- sprächsangebote an die DDR über menschliche tus quo nur mehr einen Friedensvertrag mit den Erleichterungen dieser lediglich Geschäftsfähigkeit, beiden deutschen Staaten anbot (Molotow-Plan 1959). nicht staatlichen Charakter zusprachen. Die Bundes- Die USA machten 1961 deutlich, daß sich ihre Berlin- regierung Kiesinger hatte die Absicht, durch die Garantie nur auf den Westteil der Stadt bezog, Staats- Intensivierung der menschlichen Beziehungen zu den präsident de Gaulle und der britische Premier Wilson, Deutschen in der DDR das Zusammengehörigkeitsge- daß sie die Oder-Neiße-Grenze als vollendete Tatsa- fühl zu stärken und die na tionale Substanz für eine che hinnahmen und Großbritannien den Gedanken spätere Wiedervereinigung zu erhalten [--> Experise an eine De-facto-Anerkennung der DDR zumindest Link]. erwog. Das Abbröckeln der deutschlandpolitischen Gesprächsangebote wurden der DDR gemacht in der Positionen der westlichen Alliierten war ebensowenig Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 und in zu übersehen wie der Trend, zu sicherheitspolitischen dem Antwortschreiben vom 13. Juni 1967 auf ein Arrangements mit der östlichen Vormacht zu kom- Schreiben von DDR-Ministerpräsident Stoph. In sei- men, bei denen die Bundesregierung durch ihre nem zweiten „Bericht zur Lage der Na tion im geteilten zögerliche bis abwehrende Haltung zusehends in die Deutschland" vom 17. Juni 1969 erklärte Bundes- Rolle des Störenfrieds geriet. Die Vorgänge um das kanzler Kiesinger, daß auch der Abschluß eines Ver- Atomteststoppabkommen (1963) waren dafür ebenso trages zur Regelung der innerdeutschen Beziehungen bezeichnend wie der gescheiterte Versuch, mit der für eine Übergangszeit nicht ausgeschlossen sei MLF eine physische Beteiligung der Bundesrepublik

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode an Atomwaffen zu erwirken. Ein Vorstoß des Auswär- tes Passierscheinabkommen ab. Nachdem bis dahin tigen Amtes vom 13. August 1963, mit dem die die Abschnürung stetig enger gezogen worden war, Westmächte zu einer neuen Deutschlandinitiative konnten nun erstmals West-Berliner wieder Ver- veranlaßt werden sollten, scheiterte. Er wurde zur wandte im Ostteil der Stadt besuchen. Weitere Pas- Demonstration der Unvereinbarkeit mit der interna- sierscheinregelungen konnten in den Jahren von 1964 tionalen Politik [--> Expertise Link]. Mit dem Übergang bis 1966 vereinbart werden. Brandt wurde bei diesen von der Periode der Konfrontation zur Entspannung ersten kleinen Schritten, die Mauer durchlässiger zu geriet die Bundesrepublik in Gefahr, ins weltpoliti- machen, von der amerikanischen Regierung unter- sche Abseits zu geraten, wenn sie bei dem bisher von stützt, die generell dem deutschen Verbündeten zu der Bundesregierung verfolgten Kurs blieb und so mehr Flexibilität riet, während Bundeskanzler Lud- zum Hemmschuh des globalen Trends wurde. wig Erhard und Teile der CDU/CSU diese tastenden Versuche zur „Entisolierung" der DDR mit Skepsis begegneten, weil sie für die Zukunft noch weiter gehende Konzessionen an die DDR-Regierung Politik und Selbstverständnis der befürchteten. Bundesregierungen und des Berliner Senats Hinter der „Politik der kleinen Schritte" stand ein vor In den ausgehenden fünfziger und beginnenden sech- allem von Brandt, Bahr und Hein rich Albertz entwik- ziger Jahren wurden in der Öffentlichkeit zunehmend keltes Konzept, das die Deutschlandpolitik in Ein- Zweifel an der Deutschlandpolitik von Bundeskanzler - klang mit der amerikanischen Strategie des Friedens Adenauer laut. Das Problem lag darin, daß keinerlei zu bringen suchte. Es fand einen prägnanten Aus- Fortschritte in der Wiedervereinigungsfrage erzielt druck in den Vorträgen von Br andt und Bahr vom Juli wurden, die Trennung mit dem Mauerbau 1961 noch 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing. Ziel härter und tiefer wurde, die Hallstein-Doktrin an dieser von den machtpolitischen Realitäten ausgehen- Wirkung verlor, gar zur Belastung wurde, die DDR den Strategie war es, die begrenzten Handlungsspiel- international an Boden gewann, die Westmächte der räume der Bundesrepublik im Interesse der Menschen Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik Priorität ein- im geteilten Deutschland zu nutzen. Mit Zustimmung räumten und sie von der dabei lästigen deutschen der Sowjetunion sollte die DDR über Verhandlungen Frage abkoppelten. Adenauers Versuch in seinen und Vereinbarungen, durch „Annäherung", d. h. letzten Amtsjahren, in homöopathischen Dosen Mittel Respektierung ihrer realen Existenz, zu Zugeständ- und Wege zu suchen, um die deutsche Frage doch nissen veranlaßt und auf den Weg zu einem W andel noch an die Abrüstung anzubinden und der Sowjet- ihrer inneren Verhältnisse gebracht werden; „Wandel union Übergangslösungen nahezubringen, mündeten durch Annäherung". Die Vorteile dieser neuen in einer Sackgasse. Seine Ablösung als Kanzler (im deutschlandpolitischen Konzeption waren, daß sie die Herbst 1963) war auch ein Indiz, daß ihm nicht mehr längerfristige Perspektive zur Lösung der deutschen zugetraut wurde, den gewandelten internationalen Frage mit einer operativen, auf konkrete Verbesse- Rahmenbedingungen in der Deutschlandpolitik rungen zielenden innerdeutschen Politik verband. Rechnung zu tragen. Willy Brandt brachte letzteres (beim Dortmunder Parteitag 1966) auf die Formel: „ ... ein qualifiziertes, Außenminister Gerhard Schröder verfolgte in den geregeltes und zeitlich begrenztes Nebeneinander Jahren seiner Amtszeit 1961-1966 eine Politik der der beiden Gebiete". Bewegung gegenüber den Verbündeten der Sowjet- union in Ostmittel- und Südosteuropa. Als erstes Der auf der bundesdeutschen Politik lastende Anpas- schloß die Bundesrepublik mit diesen Handelsabkom- sungsdruck brachte eine Vielzahl von Gedanken und men ab. Schröders Politik stieß in der CDU/CSU auf Bemühungen hervor, den weltpolitischen Entspan- erhebliche Widerstände und war nur möglich, weil er nungstendenzen durch eine größere Beweglichkeit dafür die Unterstützung des FDP-Vorsitzenden und Rechnung zu tragen. Sie zeigten sich 1966 u. a. in den Ministers für gesamtdeutsche Fragen E rich Mende Verhandlungen über einen öffentlichen „Redneraus- [--> Mende, Protokoll Nr. 52] sowie der SPD-Opposi- tausch" von SPD und SED, der von allen Bundestags- tion hatte und sie sich teilweise in Übereinstimmung parteien mitgetragen wurde, in dem Plädoyer des mit der amerikanischen Konzeption des „Brücken- CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß für eine „Euro- schlags" unter Präsident Johnson befand, die primär päisierung der deutschen Frage" (und gegen den die nationalen Eigenständigkeitstendenzen in Osteu- deutschen Nationalstaat) sowie in den Vorschlägen ropa begünstigte. Schröders Linie, die Sowjetunion zu des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel umgehen und gleichzeitig die DDR zu isolieren, für eine operative Wiedervereinigungslösung „im brachte deutschlandpolitisch freilich nichts zu Wege. Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems " und Mit der Friedensnote vom März 1966, die den Staaten unter Verbleib sowjetischer Truppen, die allerdings in Osteuropas den Austausch von Gewaltverzichtserklä- der Union nicht konsensfähig war. [--> Exper tise Link; rungen anbot, wurde nunmehr zwar die Sowjetunion Barzel, Protokoll Nr. 55] eingeschlossen, die DDR jedoch nach wie vor ausge- spart. Überdies blieb unbeachtet, daß jeder wirkliche Schließlich entwickelte die Bundesregierung der gro- Fortschritt in der Ost- und Deutschlandpolitik von ßen Koalition zwischen Ende 1966 und Herbst 1969 einer Verständigung mit Moskau abhing. tragfähige neue Elemente der Deutschland- und Ost- politik. Sie folgte der Einsicht, daß das Ziel einer In Berlin schloß der Senat unter dem Regierenden friedlichen Lösung der deutschen Frage nur im Rah- Bürgermeister Willy Brandt im Dezember 1963 mit men einer europäischen Friedensordnung denkbar sei Beauftragten der DDR-Regierung ein zeitlich bef riste und es für die unübersehbar l ange Zeit der Teilung

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 darauf ankomme, das praktisch Mögliche für den wahrgenommen und daraus Schlüsse gezogen. Eine menschlichen Zusammenhalt zu tun. Im Geiste der wachsende Mehrheit der Bundesbürger hoffte auf neuen beweglicheren Politik gegenüber dem Osten Entspannung und dachte jetzt in Fragen der Wieder- bot die Bundesregierung der Sowjetunion, der ein vereinigung bzw. der Nichtanerkennung der DDR gewisser Vorrang zugesprochen wurde, und den und der deutschen Ostgrenze weniger dogmatisch als anderen osteuropäischen Staaten den Austausch von zu Beginn des Jahrzehnts, was der Politik einen Gewaltverzichtserklärungen an; 1968 wurde auch die Ausweg aus dem Dilemma Anpassung oder Isolierung DDR in das Angebot offiziell einbezogen. erleichterte. Das Umdenken in bezug auf die Oder- Neiße-Grenze war u. a. durch Denkschriften aus den Das Grundanliegen der Regierung Kiesinger/Brandt, großen Kirchen gefördert worden. Es fand sich weit- mit dem Osten „Gesprächspartnerschaften" zu gehend ausgedrückt in der von dem SPD-Vorsitzen- suchen, schloß ausdrücklich auch die DDR ein. In der den Brandt 1968 geprägten Formel „Anerkennung Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 und in bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur dem Antwortschreiben Kiesingers vom 13. Juni 1967 friedensvertraglichen Regelung". an DDR-Ministerpräsident Stoph wurden konkrete Gesprächsangebote gemacht. Das Bestreben, das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu ent- krampfen, Gräben zu überwinden und durch eine 3.4 Die Deutschlandpolitik der SED und Politik der kleinen Schritte die Tür zu praktischen deutschlandpolitische Einstellungen der Erleichterungen aufzustoßen, stieß auf erhebliche - DDR-Bevölkerung Widerstände. Sichtbare Erfolge waren der Deutsch- landpolitik unter der Regierung von CDU/CSU-SPD Die DDR-Führung unter Walter Ulb richt begegnete nicht beschieden. Auch der Versuch, im Gegenzug den westdeutschen Bestrebungen, in Anpassung an zum Verzicht auf die Bundespräsidentenwahl 1969 in die internationale Lage und das Drängen der Verbün- Berlin von der UdSSR und der DDR eine längerfristige deten von der rigiden Nichtanerkennung der DDR Passierscheinregelung in Berlin zu erreichen, für den abzugehen, eher kritisch. Zwar wollte sie Anerken- sich Herbert Wehner einsetzte, scheiterte an der nung, aber diese wollte sie nicht mit von außen kühlen Reaktion Ost-Berlins und der letztlich abwei- induzierten inneren Veränderungen bezahlen. Auch senden Haltung Kiesingers. Dieser Vorgang offen- die DDR versuchte, ihr Hauptinteresse, nämlich das barte, wie der Streit um die Respektierung der Oder- der Anerkennung, in die weltpolitische Tendenz der Neiße-Grenze und der Konflikt um die „Hallstein Entspannung bzw. der „friedlichen Koexistenz" ein- Doktrin" im Frühjahr 1969 zeigten, Differenzen, die zufügen. Die von Ulb richt zwischen 1956 und 1967 das Koalitionsklima zusehends belasteten, die Gren- mehrfach angebotene Konföderation mit der Bundes- zen des deutschlandpolitisch gemeinsam Machbaren republik wurde als „Koexistenz auf deutsch" ausge- markierten. " geben.

Nach dem Bau der Berliner Mauer trat in der DDR eine innere Konsolidierung ein, in deren Gefolge die Füh- 3.3 Gegenpositionen rung ein in der Hauptsache wirtschaftliches Reform- programm in Angriff nahm. Vom gesamtdeutschen Als erste Partei ließ die oppositionelle FDP im Herbst Aktionismus früherer Jahre, der ein nicht vorhande- 1968 im Deutschen Bundestag erkennen, daß sie nes nationales Protestpotential in der Bundesrepublik bereit war, die DDR nicht als Ausland, doch als anzusprechen bzw. zu mobilisieren vorgab, nahm zweiten deutschen Staat in ihrer politischen Realität man nun Abstand. Der Anspruch, der deutsche Kern- anzuerkennen, während die Koalitionsparteien dies staat bzw. das deutsche Kerngebiet [--> Exper tise ablehnten. In den Jahren zuvor hatte bereits ein Overesch] zu sein, wurde im „Nationalen Dokument" führender Vertreter der FDP eine „Politik der Ver- von 1962 und im Parteiprogramm der SED von 1963 klammerung" beider deutschen Staaten (Wolfg ang beibehalten, die Realisierung jedoch in eine fernere Schollwer) befürwortet, ein Vorschlag, der erst lang- Zukunft verwiesen, bis zu deren Eintreten es die sam Zustimmung fand Expertise Link; Scheel, nationale Aufgabe der DDR sei, beim Aufbau des Protokoll Nr. 63]. Als die FDP im Februar 1969 den Sozialismus voranzuschreiten. Entwurf zu einem Staatsvertrag mit der DDR im and- und Ostpolitik der Deutschen Bundestag einbrachte, zeigte sich, daß die Der kombinierten Deutschl großen Koalition setzte die DDR-Führung erhebliche Bundesregierung und insbesondere der sozialdemo- Widerstände entgegen, zugleich erhöhte sie die Hür- kratische Koalitionspartner einer vertraglichen mo- den der Teilung. Zur Nichtverlängerung der Berliner dus-vivendi-Regelung für eine Übergangszeit mit der Passierscheinregelung über 1966 hinaus kamen die DDR nicht grundsätzlich abgeneigt waren, doch vor Einführung der Pass- und Visumpflicht für den Tr ansit einem Vertrag mit der DDR ein Arr angement mit der zwischen West-Berlin und dem westlichen Bundesge- Sowjetunion anstrebten; die Reihenfolge entschied biet, die Aufkündigung der gemeinsamen deutschen über die Ablehnung, nicht der von der FDP vorgese- Staatsangehörigkeit durch die Einführung einer eige- hene Vertragsinhalt, der sich ohnehin an Themenvor- nen DDR-Staatsbürgerschaft 1967 sowie der Beschluß schläge der Regierung hielt. der Warschauer-Pakt-Staaten in Karlsbad, keine Gegen Ende der sechziger Jahre war offenbar, daß die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik auf- Gesellschaft im Laufe des Jahrzehnts einen Bewußt- zunehmen, bevor diese nicht die DDR anerkannt seinswandel durchgemacht hatte; sie hatte die Verän- habe. Dies war u. a. eine Reaktion auf die Aufnahme derung der internationalen Rahmenbedingungen der diplomatichen Beziehungen zwischen der Bun-

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode desrepublik Deutschland und Rumänien im Februar diesem Zusammenhang bleibt zu klären, ob die dama- 1967. lige westdeutsche Deutung des nach dem Bau der Berliner Mauer begreiflichen Anpassungsverhaltens Zur gleichen Zeit glaubten im Westen viele, daß die in der Bevölkerung der DDR zutreffend war, vor allem Menschen in der DDR sich nach dem Mauerbau von aber, ob die angenommene Tendenz der nationalen 1961 zunehmend mit "ihrem„ Staat arrangierten und Entfremdung infolge wachsender Identifizierung der sogar identifizierten [—> Expertise Link]. Dies war ein Menschen mit dem SED-Staat auch nach der gewalt- weiteres starkes Argument für die Kontaktaufnahme samen Beendigung des tschechoslowakischen Ver- zur offiziellen DDR, denn nur durch "menschliche suchs einer "Reform von oben„ tatsächlich anhielt. Erleichterungen„ auf dem Wege über Vereinbarun- gen ließ sich der wachsenden bzw. drohenden Ent- Unterschiedliche Auffassungen bestehen in der Frage fremdung zwischen den Bevölkerungsteilen entge- der Kontinuität zwischen der sozialliberalen neuen genwirken. Deutschland- und Ostpolitik ab 1969 und der Deutsch- land- und Ostpolitik der Vorgängerregierungen in den sechziger Jahren. Die eine Seite unterstreicht die allmähliche Vorbereitung während der sechziger Exkurs: Der Prager Frühling von 1968 und die SED Jahre [—> Scheel, Protokoll Nr. 63], insbesondere die während der Regierung der großen Koalition entwik- Mit dem Prager Frühling von 1968 sah die SED kelte Konzeption [--> Expertise Link; ders. Protokoll "konterrevolutionäre„ Gefahren für die eigene Herr- - Nr. 50]. Die andere Seite hebt in unterschiedlicher schaft heraufziehen. Ohne jede Rücksicht auf die Akzentuierung die neue Deutschl and- und Ostpolitik jüngste deutsch-tschechoslowakische Vergangenheit stärker von der vorangegangenen Politik ab und sieht und auch in der Absicht, etwaige Annäherungen 1969 statt Kontinuität eher eine Zäsur oder gar einen zwischen der Prager Reformregierung und Bonn von Bruch [—> Faulenbach, Protokoll Nr. 50; Expertisen vornherein zu unterbinden, unterstützte sie die von Bleek, Hacker]. der Sowjetunion im Namen der Blockloyalität betrie- bene Konfrontationspolitik, die im August 1968 zur militärischen Intervention von fünf Warschauer-Pakt- Staaten in der CSSR führte, Ulb richt stimmte ihr als 4. Das geteilte Deutschland 1969-1982 SED-Generalsekretär ausdrücklich zu. Die Unter- drückung des "Prager Frühlings„ durch die "P anzer- Vor dem Hintergrund der veränderten internationa- kommunisten„ zerstörte die Loyalität vieler Men- len Rahmenbedingungen und innenpolitischen Be- schen im sozialistischen Lager gegenüber dem Sozia- dingungsfaktoren (s. o.) kam es im Herbst 1969 zur lismus, die bis dahin an seine Reformierbarkeit Bildung einer Regierungskoalition aus SPD und F.D.P. geglaubt und auf einen "Sozialismus mit menschli- Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Wal- chem Antlitz„ gehofft hatten [—> Mlynar, Wilke, Pro- ter Scheel gingen in ihrer neuen Deutschland- und tokoll Nr. 47]. Die SED bekämpfte die "Konterrevolu- Ostpolitik von der Einsicht aus, daß die Teilung tion„ und besonders die "Sozialdemokratisierung„ Deutschlands vorerst andauern werde und es darauf der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ankomme, sich auf einen „längeren Marsch" einzu- mit Hilfe des MfS. Das Ministerium für Staatssicher- stellen. Grundlage ihrer Politik waren einerseits Ele- heit eröffnete 1968 mit seiner Einmischung in die mente der Kontinuität, wie sie seit 1949 die Politik der inneren Angelegenheiten der CSSR eine "dritte Front, Bundesrepublik Deutschl and bestimmt hatten, ande- die gegen die ,revisionistischen' und ,rechtsopportu- rerseits die des W andels, die vor allem Methoden, nistischen' Reformbemühungen bei den eigenen Mittel und Akzente des politischen H andelns betra- Bündnispartnern gerichtet war„ [—> Bericht BStU fen. [—> Expertisen Hacker, Link, Loth; Protokolle (Tantzscher I)]. Deutschl and- und ostpolitisch schuf Nr. 46, 48, 50] die Intervention insofern Klarheit, als deutlich wurde, daß jeder Versuch einer Annäherung an Osteuropa ohne sowjetische Zustimmung oder Vermittlung scheitern mußte. 4.1 Die sozialliberale Koalition

4.1.1 Kontinuität

3.5 Fragestellungen Hierzu zählten in erster Linie die verfassungsrechtli- chen Leitlinien deutscher Friedenspolitik, deutscher Der in den sechziger Jahren in Politik und Öffentlich- Einheit und diejenigen zur Bewahrung der freiheitli- keit der Bundesrepublik angebahnte, dann schließlich chen Grundordnung, desgleichen die vertraglichen von der sozialliberalen Koalition ab Ende 1969 vollzo- Regelungen, die die Bundesrepublik Deutschl and seit gene Übergang zu einer Politik der Respektierung der Anfang der fünfziger Jahren mit ihren westlichen DDR als Staat beruhte notgedrungen auf einer mehr Partnern getroffen hatte. Zudem ließ die Regierung oder minder westdeutschen Entscheidung. Ob diese keinen Zweifel an der völkerrechtlichen Rechtsgrund- qualifizierte, d. h. unter völkerrechtlichem Vorbehalt lage: Nach wie vor waren die drei Westmächte und die stehende, staatliche Anerkennung der DDR durch die Sowjetunion für Deutschland und Berlin als Ganzes Bundesrepublik dem Willen der Mehrheit der DDR verantwortlich. Dies wurde bei den Viermächtever- Deutschen bzw. ihrer Haltung zum Staat DDR ent- handlungen über Berlin (3. 9. 1971) noch einmal sprach, war damals ebenso ungewiß wie heute. In besonders deutlich, als es darum ging, die Überle-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 bensfähigkeit des freien Teils der geteilten Stadt zu hatte, eine bedeutende Rolle. [—> Expertisen Hacker, sichern. Die feste unzweideu tige Verankerung im Loth; Link, Schulz, Protokoll 50] westlichen Bündnis (EG, NATO; atlantische Partner- schaft, enge Bindung an Frankreich) galt als unver- rückbares Fundament ihrer Politik. Die Erweiterung des deutschen Handlungsspielraumes in Osteuropa 4.1.2 Wandel (Ostpolitik) und die erforderlichen Garantien für Ber- lin (West) hatten nichts mit einer „Rapallo-Politik " gemeinsam (d. h. mit einem Schwanken zwischen Ost Perspektiven des Wandels in der Ostpoli tik hatten sich und West oder einer „Brückenfunktion" der Bundes- bereits in den sechziger Jahren — wie hervorgeho- ben — abgezeichnet. Egon Bahrs Konzept „Wandel republik Deutschland), wie dies damals diskutiert wurde. Dies bedingte eine stetige, allerdings von durch Annäherung" war mit dem Ziel verbunden, die manchen Irritationen begleitete Abstimmung der begrenzten Handlungsspielräume der Bundesrepu- Deutschland- und Ostpolitik mit den Verbündeten in blik realistischer im Interesse der Menschen im geteil- allen Fragen von nationalem Interesse. Deshalb hat ten Deutschland zu nutzen. Insbesondere Sozialde- Egon Bahr den Sicherheitsberater des amerikani- mokraten und Freie Demokraten haben dieses Kon- ffen, „alte Verkrustungen" schen Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, vor der zept als Chance begri Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 über die (Genscher) aufzubrechen, z. B. auf den Alleinvertre- von Brandt und Scheel gefundene Formel von den tungsanspruch zu verzichten, und durch eine Politik „zwei Staaten in Deutschland" vorab informiert. Die- wechselseitiger Zugeständnisse den Zusammenhalt westeuropäische Flanke wurde auf dem Haager EG- der Nation zu wahren. (Sondervotum der Mitglieder Gipfel Anfang Dezember 1969 abgesichert. Dort ist der Fraktion der SPD und der Sachverständigen die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) Faulenbach, Gutzeit, Weber: „Die Ostverträge wur- beschlossen sowie der Weg für Verhandlungen mit den gerade noch rechtzeitig abgeschlossen, denn die Großbritannien über dessen EG-Beitritt wieder geöff- DDR war nahe daran, ihre internationale Anerken- net worden. Die rasche Unterzeichnung des Vertrages nung auch ohne verpflichtende Gegenleistungen, wie über die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen sie in den Verträgen festgelegt wurden, zu erlangen.") im November 1969 diente in West und Ost wie in Im Brief zur deutschen Einheit vom August 1970, an Teilen der Dritten Welt der weiteren Auflockerung die Führung der UdSSR und 1972 auch an die der DDR des Terrains. Für die öffentliche Meinung der Länder, gerichtet, unterstrich die Bundesregierung, daß die Verträge mit Moskau und Ost-Berlin nicht im Wider- die an der Kriegsallianz gegen Deutschland teilge- nommen hatten, war auch die damalige Aussage spruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Brandts von Bedeutung, er verstehe sich „als Kanzler Deutschland standen, auf einen „Zustand des Frie- nicht eines besiegten, sondern eines befreiten dens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Deutschlands". Im übrigen hat die sozialliberale Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder- Koalition unbeirrbar an dem Ziel festgehalten, erlangt" . Umstritten war damals, ob sich die in den bestimmte, ihrer Zeit angemessene Voraussetzungen Verträgen erbrachten „Vorleistungen" der Bundesre- zu schaffen, um mittels Selbstbestimmung sowie im publik auszahlen würden. Dies konnte ohnehin erst Einvernehmen mit Partnern und Nachbarn die Einheit im „Endergebnis" (Richard von Weizsäcker) abgele- Deutschlands in Frieden und Freiheit zu vollenden, sen werden. [--> Expertisen Bleek, Hacker; Protokoll mochte sie dies in der politischen Alltagspraxis auch Nr. 49] nicht immer so dezidiert artikulieren, wie dies ihre Der Erfolg dieser Vertragspolitik beruhte auf der politischen Gegner für erforderlich hielten. Dennoch: Erkenntnis, daß der Schlüssel für die Verbesserung Das übergeordnete Ziel blieb für sie, eine europäische der Beziehungen zu den Staaten Osteuropas und der Friedensordnung anzustreben, die es verdiente, so DDR zunächst in Moskau lag. Das von der Bundesre- genannt zu werden. [—> Expertisen Bleek, Loth, Link; gierung als „einheitliches Ganzes" be trachtete Ver- Protokoll Nr. 50] tragswerk, das auch die Verträge mit Polen (7. 12. 1970) und der Tschechoslowakei (11. 12. 1973) Wenngleich sich die Regierung Brandt/Scheel zu- umfaßte, war in den Ost-West-Entspannungsprozeß nächst für ein geregeltes Nebeneinander und schließ- sinnvoll eingebettet. So wurden z. B. die Verträge mit lich für ein gedeihliches Miteinander der beiden Moskau und Warschau erst im Zusammenhang mit deutschen Staaten im Interesse eines f riedlichen dem Inkrafttreten des Viermächteabkommens über modus vivendi einsetzte, um damit vor allem mensch- Berlin ratifiziert. Zugleich leistete die Bundesrepublik liche Erleichterungen für die Bevölkerung in der DDR einen wichtigen, eigenständigen Beitrag zum Abbau zu bewirken, lehnte sie eine völkerrechtliche Aner- der Konfrontation und zur Auflockerung der Fronten. kennung des zweiten deutschen Staates unmißver- Die Ostpolitik zeigte, daß auf dem schwierigsten ständlich ab. Bundeskanzler Brandt erläuterte diesen Terrain des Ost-West-Konfliktes Entkrampfungen Standpunkt in seiner Regierungserklärung vom und Lösungen möglich waren und Brücken geschla- 28. Oktober 1969 mit der Klarstellung, daß die beiden gen werden konnten, die insgesamt der Entspannung Staaten „füreinander nicht Ausland" seien, ihre und Vertrauensbildung dienten. Die schwierigen Ver- Beziehungen könnten nur von „besonderer Art" sein. handlungen waren allerdings innenpolitisch von par- Darüber hinaus spielte bei den Regierungsparteien teipolitischen gegenseitigen Vorwürfen überschat- die Aussöhnung mit dem polnischen Nachbarn, die tet. schon Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger in seiner Regierungserklärung 1966 als eine der vordringlich- Kennzeichnend für die neue Deutschland- und Ost sten Aufgaben deutscher Außenpolitik bezeichnet politik war die Politik des Interessenausgleichs, die in Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode ihrer Ausgewogenheit innenpolitisch umstritten war, rechten eine neue Qualität der Entspannung erreicht der Wahrung der eigenen Identität und der Friedens- werden. Dabei konnte jeder Staat die eigene Philoso- sicherung. Im Mittelpunkt derselben standen Gewalt- phie (Wertvorstellungen), die eigenen Gesetze und verzicht, das Bekenntnis zur Unverletzlichkeit der die eigene Lebensweise beanspruchen. Allerdings Grenzen, die Erklärung, gegeneinander keinerlei gelang die Durchsetzung der KSZE-Beschlüsse nur in Gebietsansprüche zu haben und solche auch nicht in Grenzen, zumal die Menschen innerhalb des kommu- Zukunft erheben zu wollen (Oder-Neiße). Eingedenk nistischen Machtbereiches nicht, wie vom Westen der historischen Belastungen war damit ein Versöh- gefordert, mitverantwortlich in diesen Prozeß einge- nungsprozeß mit den Völkern Osteuropas eingeleitet bunden werden konnten. worden, den Bundeskanzler Willy Brandt durch sei- nen Kniefall vor dem Denkmal, das an die Vernich- Die sozialliberale Koalition hat die von ihr initiierte tung des Warschauer Ghettos erinnert, symbolisch Ostpolitik als notwendige Ergänzung ihrer Westpoli- unterstrich. Diese Geste fand ein außerordentlich tik betrachtet und entsprechend gehandelt. Nach dem positives internationales Echo. Ein besonderes, z. T. Rücktritt von Bundeskanzler Brandt (1974) hat Bun- leidenschaftlich diskutiertes Problem bei den deutsch- deskanzler Helmut Schmidt durch seine pragmatische polnischen Verhandlungen betraf die Aussiedlung Politik dies in besonderer Weise auch dadurch unter- von Deutschen bzw. Deutschstämmigen aus den Ost- strichen, daß er in seiner Deutschlandpolitik die gebieten des Deutschen Reiches. Erst 1975 konnte weltpolitischen Entwicklungstendenzen, insbeson- eine befriedigende Regelung erzielt werden. Rund dere das Verhältnis zwischen den Supermächten, 125 000 Personen konnten ausreisen, nachdem die stärker beachtete und dabei das inzwischen gewach- Bundesregierung Polen einen Kredit in Höhe von- sene Gewicht der Bundesrepublik Deutschl and nutzte 1 Milliarde DM gewährt hatte. [–> Exper tise Bleek; und vergrößerte. Bender, Link, Schulz, Protokoll Nr. 50] Im Sinne der Kontinuität hat vor allem Bundesaußen- Zur gleichen Zeit sollten die innerdeutschen Bezie- minister Hans-Dietrich Genscher im In- und Ausland hungen durch Konfliktentschärfung normalisiert wer- stets darauf hingewiesen, daß die Entspannungspoli- den; das hieß, ohne die fundamentalen Gegensätze tik das Ziel verfolge, evolutionäre Veränderungen in zwischen den antagonistischen Systemen zu ver- Europa zu bewirken. Nur diese könnten dazu beitra- schleiern, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, sich im gen, jene Voraussetzungen zu schaffen, die zur Voll- Umgang miteinander von den realen politischen endung der deutschen Einheit und zur Überwindung (staatsrechtlichen) Gegebenheiten leiten zu lassen der Teilung des Kontinents notwendig seien. [--> Pro- und die jeweiligen Interessen zu respektieren. Der tokoll Nr. 52] Konsens über den Dissens in der deutschen Frage Auch als die Ost-West-Beziehungen im Geiste von (Offenhalten der Einheit als Ziel/Wertedifferenzen) Helsinki in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu wurde dabei ebenso betont wie die jeweiligen Ver- stagnieren begannen — im wesentlichen verursacht pflichtungen und rechtlichen Vereinbarungen beider durch den globalen Rüstungswettlauf, die sowjetische Staaten im Rahmen ihrer Bündnisse. Nach den Vor- Intervention in Afghanistan und die Unterdrückung stellungen der sozialliberalen Koalition sollten durch der Solidarnosc Bewegung in Polen —, ließ die Regie- eine Politik des Gebens und Nehmens im Geiste einer rung Schmidt/Genscher keinen Zweifel daran, daß sie „Verantwortungsgemeinschaft „ verbesserte Rah- zur Entspannungspolitik keine Alterna tive sah. Diese menbedingungen für die bilateralen Beziehungen könne kurzfristig die Spannungen mildern und lang- geschaffen werden, so daß durch eine systemöffnende fristig den Menschen in Osteuropa und in der DDR Kooperation evolutionäre Veränderungen im sowjet- eine Perspektive in Richtung größerer Freiheit eröff- kommunistischen Machtbereich möglich und die nen, um so den Weg zu einer demokratischen euro- Deutschen in der DDR befähigt wurden, über ihre päischen Friedensordnung zu ebnen. [--> Expertisen künftige Ordnung selbst zu entscheiden. Die Ver- Bleek, Loth; Protokolle Nr. 46, 49, 52] tragspolitik schuf die Voraussetzungen für humani- täre Verbesserungen, für eine Stärkung des nationa- len Zusammengehörigkeitsgefühls und für ein wach- sendes internationales Gewicht der Bundesrepublik. In den Reihen der Regierungskoalition verband sich 4.2 Gegenpositionen damit letzten Endes intern die Hoffnung, durch eine Anerkennung des politischen Status quo diesen lang- Das Ringen um die Ostverträge (vertragliche Grund- fristig im Interesse der Deutschen und eines friedli- lagen und Ratifizierung) beherrschte zu Beginn der chen Wandels in Europa überwinden zu können. siebziger Jahre die politische Diskussion in der deut- [--> Expertise Loth; Protokolle Nr. 49, 50, 52] schen Öffentlichkeit. Mit einer Organklage der Baye- rischen Staatsregierung zur Überprüfung des Grund- Diesem Zweck längerfristiger politischer Verände- lagenvertrages wurde das Bundesverfassungsgericht rungen diente auch die 1975 unterzeichnete Schluß- angerufen. Dieses stellte in seinem Urteil vom 31. Juli akte von Helsinki. In dieser wurde festgelegt, daß 1973 fest, daß der Vertrag verfassungskonform sei, „Grenzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, sofern er im Sinne des Grundgesetzes und der Vier- durch friedliche Mittel und durch Vereinbarungen Mächte-Rechte interpre tiert werde. Dies bedeute, daß (Korb I) ", wie dies dann 1990 geschah, verändert das Deutsche Reich völkerrechtlich in der Bundesre- werden können. Darüber hinaus sollte durch einen publik Deutschland fortbestehe. Alle Verfassungsor- freieren Fluß von Informationen, gesteigerten Aus- gane wurden erneut verpflichtet, am verfassungs- tausch, Zusammenarbeit und vertrauensbildenden rechtlichen Wiedervereinigungsgebot festzuhalten. Maßnahmen (Korb III) sowie Achtung von Bürger Die DDR sei Teil Deutschlands, gehöre demnach zum

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Inland und nicht zum Ausland [—> Expertise Hak- noch einmal besonders unterstrich. Diese Haltung ker]. schloß nicht aus, daß einzelne Vertreter der Opposi- tion — obwohl die CDU/CSU 1975 die Schlußakte von Die CDU/CSU, nunmehr in der Opposi tion, versuchte Helsinki noch abgelehnt hatte, was Bundeskanzler den ihrer Meinung nach drohenden „Ausverkauf Helmut Kohl später als Fehler bezeichnete — in den deutscher Interessen" durch die sozialliberale Koali- folgenden Jahren das Gespräch mit Vertretern der tion, wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest zu DDR suchten, um die Posi tionen der CDU/CSU in der blockieren und die laufenden Verhandlungen in Deutschlandpolitik zu verdeutlichen. [--> Expertisen ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Kritikpunkte galten Bleek, Hacker, Potthoff; Kohl, Protokoll Nr. 53; Wilms, u. a. der ihrer Meinung nach überhasteten Verhand- Protokoll Nr. 52; Protokolle Nr. 49, 50] lungsführung der Bundesregierung, die zu einem inhaltlich nicht genügend ausgewogenem Vertrags- ergebnis und zur Vertagung schwieriger Verhand- lungsziele auf einen späteren Zeitpunkt geführt hät- ten [—> Barzel, Protokoll Nr. 55; Expertise Hacker]. Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD Höhepunkt ihrer Aktivitäten war der Versuch am und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, 27. April 1972, die Regierung Brandt/Scheel durch ein Weber: konstruktives Mißtrauensvotum zu stürzen, was unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen miß- „Diese Haltung schloß nicht aus, daß auch die CDU/ lang. CSU-Führung — obwohl sie 1975 die Schlußakte von Helsinki noch abgelehnt hatte, was Bundeskanzler Den führenden Repräsentanten der Union hatte sich Kohl vor der Enquete-Kommission als Fehler bezeich- der Eindruck aufgedrängt, daß die Regierung Brandt/ nete — in den folgenden Jahren mit führenden Ver- Scheel willens sei, den deutschlandpolitischen Kon- tretern der SED das Gespräch suchte, um die inner- sens der Parteien zugunsten einer ungewissen Zusam- deutschen Beziehungen in ihrem Sinne beeinflussen menarbeit mit den kommunistischen Staaten Osteuro- und sich dabei u. a. als bessere Alterna tive zur Regie- pas aufzugeben und die Teilung mehr oder weniger rung der sozialliberalen Koalition darstellen zu kön- als dauerhaft zu betrachten. Erst durch die gemein- nen. " same Bundestagsentschließung vom 17. Mai 1972 konnte dieser in den wesentlichen Teilen wiederher- gestellt werden. Dennoch verstummte auch in der Folgezeit die oppositionelle Kritik an der innerdeut- schen Politik der Bundesregierung nicht. Zahlreiche 4.3 Die Politik der SED der Bundesrepublik Indizien — nicht zuletzt die Umbenennung des Mini- gegenüber steriums für gesamtdeutsche Fragen in das für inner- deutsche Beziehungen, die Streichung des Zusatzes Als die Sowjetunion nach der Besetzung der CSSR im „im geteilten Deutschl and" im „Bericht zur Lage der August 1968 durch Truppen des Warschauer Paktes Nation" im Deutschen Bundestag oder die Auflösung unter Beteiligung auch der Nationalen Volksarmee des „Forschungsbeirates für Fragen der Wiederverei- der DDR eine europäische Entspannungsoffensive nigung" — sprachen nach Meinung der CDU/CSU einleitete, war das SED-Regime, ihr wich tigster ideo- dafür, daß bestimmte Posi tionen in der Deutschl and- logischer, wirtschaftlicher und militärischer Partner politik nicht mehr mit früheren Gemeinsamkeiten im westlichen Glacis Moskaus, gezwungen, sich die- identisch seien. Im übrigen warf die parlamentarische ser Veränderung in der Westpolitik der Führungs- Opposition der Bundesregierung vor, die Bedrohung macht anzupassen. Die Ablösung Walter Ulbrichts aus dem Osten ebenso zu verharmlosen wie den durch Erich Honecker im Mai 1971 geschah im engen totalitären Charakter des SED-Regimes, insbesondere Einvernehmen mit der Moskauer Führung, denn aus die innerstaatlichen Willkürakte der DDR-Führung. deren Sicht schien Ulb richt am Ende seiner Amtszeit Wann immer dies möglich war, setzte sie die amtie- nicht mehr berechenbar zu sein. Die während des rende Regierung politisch unter Druck, um Unklarhei- Besuches von Willy Brandt in Erfurt (März 1970) ten aus ihrer Sicht zu besei tigen und zudem sicherzu- sichtbar gewordene gesamtdeutsche Stimmung in stellen, daß die rechtlichen Positionen in der deut- Teilen der DDR-Bevölkerung sollte durch den Wech- schen Frage gewahrt blieben. In der Grenzfrage sel an der Spitze der SED unter Kontrolle gehalten vertrat sie überdies nach wie vor die Position, daß die werden. Da mit dem Abschluß des Grundlagenvertra- endgültige Regelung einem Friedensvertrag, von ges von 1972 das bis dahin verfolgte Hauptziel der einem gesamtdeutschen Souverän unterzeichnet, vor- SED, die völkerrechtliche Anerkennung durch Bonn behalten bleiben müsse. Dies entsprach auch der zu erlangen, nicht erreicht wurde, suchte die SED es in Auffassung der sozialliberalen Koalition. Diese legte den folgenden Jahren durchzusetzen. Es galt nun allerdings besonderen Wert auf verbesserte gutnach- mehr denn je, die DDR als zweiten, irreversibel barliche Beziehungen zu Polen, da sie diesen einen unabhängigen sozialistischen deutschen Staat zu eta- ähnlichen Stellenwert einräumen wollte wie der blieren und diese Posi tion auch international-völker- deutsch-französischen Zusammenarbeit als Grund- rechtlich abzusichern. Diesem Ziel schien die SED mit lage für eine europäische Friedensordnung (vgl. auch der Aufnahme beider deutschen Staaten in die UNO Adenauers Polenpolitik). 1973 zunächst auch ein beträchtliches Stück näherge- kommen zu sein, war damit doch eine erhebliche Im übrigen drängte die Opposi tion mit Nachdruck auf internationale Aufwertung und die diplomatische die Einhaltung der Menschenrechte im anderen Teil Anerkennung durch fast einhundert Staaten, auch die Deutschlands, was sie 1977 in einem „Weißbuch" Westalliierten, verbunden. Doch weder dadurch, noch

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode durch die in den siebziger Jahren intensiver werdende es diesen „ohne den Kampf der damaligen Opposi- innerdeutsche Gesprächs- und Verhandlungspolitik tion" überhaupt gegeben hätte. Das trifft auch für die gelang es der SED, die Mehrheit ihrer Bevölkerung zu Behauptungen zu, die Regierung habe die Opposi tion befähigen, sich mit dem DDR-System und seinen über ihre Verhandlungen im Osten und mit der DDR ideologischen Grundlagen zu identifizieren. nicht hinlänglich informiert, ihre Entscheidungen allzu überhastet ge troffen sowie sich „unter Zeitdruck Während ihre Deutschlandpolitik in dieser Phase auf und Erfolgszwang gesetzt, zumal sie bestimmte, internationalen Prestigegewinn zielte, versuchte die umfassender zu regelnde Bereiche des innerdeut- SED-Führung gleichzei tig und mit allen Mitteln, schen Verhältnisses dem „Hoffnungskatalog" des Rückwirkungen dieser Politik im Sinne einer innen- Artikels 7 des Grundlagenvertrages überlassen habe politischen Auflockerung zu verhindern. Dies zeigte [--> Expertise Hacker]. sich zum einen an der Weigerung der SED, die Bestimmungen des Korbes III der Schlußakte von Helsinki in die Praxis umzusetzen. Zum anderen suchte die SED-Führung die von der innerdeutschen Vertragspolitik erzwungene Öffnung und Auswei- 4.5 Forschungsdesiderata tung der Begegnungs- und Kommunikationsmöglich- keiten zwischen den Deutschen in Ost und West durch Zweifellos haben die Expertisen und Diskussionen eine teilweise ins Absurde gesteigerte Abgrenzung — wie gar nicht anders zu erwarten — zahlreiche abzublocken. Dadurch sollten die Konsequenzen der Fragestellungen offengelassen. Hinzu kommt, daß die ihr von Bonn abgehandelten menschlichen Erleichte- - jeweilige Quellenbasis unterschiedlich war. Asym- rungen unter strikter Kontrolle gehalten werden. metrien bestanden vor allem dort, wo geheimes Mate- Hinzu kam, daß die Führungseliten der SED nichts rial aus jetzt zugänglichen Archiven der ehemaligen unversucht ließen, durch eine gezielte Einflußnahme DDR ausgewertet werden konnte, ohne gleichzei tig in der Bundesrepublik das immer noch bestehende die Möglichkeit zu haben, entsprechende Akten im negative DDR-Image abzubauen und damit günsti- Westen einzusehen, um einen kritischen Vergleich gere Voraussetzungen für die angestrebte volle völ- — unter Einbeziehung von Zeitzeugen — vorzuneh- kerrechtliche Anerkennung der DDR in der Bundes- men. Aus diesem Grunde ist Zurückhaltung im Urteil republik zu schaffen. Mit seinen Geraer Forderungen ebenso angebracht wie die Feststellung, daß die formulierte E rich Honecker 1980 die noch ausstehen- bisherigen Aussagen höchstens als vorläufig zu den Etappenschritte zur Realisierung dieses Vorha- betrachten sind. bens. Zu den wichtigsten Forschungsdesiderata zählen u. a. Ein besonders unsinniger Ausdruck der Abgren- die Frage nach der Wirkungsgeschichte der Entspan- zungspolitik war der Versuch, nach der staatlichen nungspolitik in der DDR (einschließlich der Frage Spaltung aus ideologischen Gründen auch noch die nach den Defiziten der Entspannungspolitik „von deutsche Nation künstlich zu trennen. Mit der Auf- unten" und der, ob die Détente das sozialistische spaltung des Nationalbewußtseins in eine inzwischen System „unnötig" stabilisiert hat), die der „Westpoli- angeblich ausgebildete „sozialistische deutsche Na- tik" der DDR-Führung und die der De-facto-Polen- tion", verkörpert in der DDR, und eine „bürgerlich politik, die das Politbüro unter Honecker Ende der kapitalistische" (Rest-)Nation, verkörpert durch die siebziger und Anfang der achtziger Jahre verfolgt hat. Bundesrepublik, ist das SED-Regime vollständig Es wird in weiteren Forschungen zu präzisieren sein, gescheitert. So gesehen war die Politik der kleinen wie weit die politischen und militärischen Planungen Schritte der westdeutschen Seite, der sich die SED der DDR-Führung vorangeschritten waren, sich an spätestens seit der Unterzeichnung des Grundlagen- einem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pak- vertrages nicht mehr entziehen konnte und die auch tes in Polen zu beteiligen. Es gibt substan tielle Hin- von der christlich-liberalen Koalition seit 1982 fortge- weise darauf, daß die SED nach dem Muster von Prag setzt wurde, letztlich eine Erfolgsgeschichte. Ihre 1968 Pläne vorantrieb, an einer aktiven Interven tions- Ergebnisse haben im Rahmen der veränderten inter- politik gegen die als „Konterrevolution" empfundene nationalen, insbesondere innersowjetischen und Entwicklung in Polen mitzuwirken [--> Bericht BStU osteuropäischen Entwicklung Ende der achtziger (Tantzscher II); Wilke, Protokoll Nr. 47]. In diesem Jahre den Zusammenbruch des SED-Regimes mitver- Zusammenhang müßte auch die Haltung der Bundes- ursacht. Neben den strukturellen Konstruktionsfeh- regierung Schmidt/Genscher gegenüber den Vorgän- lern der Deutschlandpolitik der SED war entschei- gen zwischen 1979 und 1981 ebenso substantieller dend, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölke- untersucht werden wie die der Opposi tion. Außerdem rung der DDR zu keinem Zeitpunkt von der Notwen- wird die umstrittene Aussage sorgfältig zu prüfen sein, digkeit einer dauerhaften Separatexistenz eines zwei- ob der zwischenstaatliche Verständigungswille ten deutschen Staates überzeugt werden konnte. (Deutschlandpolitik) der sozialliberalen Koalition [—> Expertisen Bleek, Loth; Protokolle Nr. 46, 52] dazu geführt hat, daß die Regierung und die Vertreter der Regierungsparteien die „innerstaatlichen Wi ll -küraktionen" des realsozialistischen Herrschaftssy- stems (Menschen-rechtsproblematik) verharmlost oder weiterhin unbeachtet gelassen haben. 4.4 Kontroversen Und schließlich wird die „veröffentlichte Meinung" Die Genesis des B riefes zur deutschen Einheit müßte zur Deutschlandpolitik und ihre Rückwirkung auf die subtiler untersucht werden. Desgleichen die Frage, ob Politik — und umgekehrt — zu analysieren und im

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Gesamtzusammenhang zu bewerten sein, desglei- [--> Genscher, Protokoll Nr. 53]. Zugleich war die chen die mannigfachen Verbindungen und Kontakte Frage nach der Rolle und der Standfestigkeit der von einzelnen Personen und Institutionen im bilatera- Bundesrepublik Deutschland im atlantischen Bündnis len Verhältnis sowie ihre Bedeutung für die Entwick- aufgeworfen. lung der innerdeutschen Beziehungen. Je deutlicher es wurde, daß erfolgversprechende Verhandlungen mit der Sowjetunion zunächst nicht zustande kamen und damit die Realisierung der Nachrüstung in greifbare Nähe rückte, desto geringer 5. Das geteilte Deutschland 1982-1989 ist der Rückhalt gewesen, den Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dieser Politik in seiner Partei fand. Die Weigerung einer Mehrheit der SPD, die Nachrüstung 5.1 Internationale Rahmenbedingungen mitzutragen, war eine der Ursachen für das Ausein- anderbrechen der SPD/F.D.P.-Koalition im Herbst 5.1.1 Die Ost-West- Beziehungen 1982. In der Enquete-Kommission wurde das Pro und Kontra der Nachrüstungsdebatte in Anhörungen in Am Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wesentlichen Punkten nachgezeichnet; die Einzelhei- markieren drei Ereignisse die letzte Phase des Ost ten sind hier nicht näher darzustellen [--> Protokolle West-Konfliktes: der sowjetische Einmarsch in Afgha- Nr. 51-53]. Aus der Rückschau betrachtet, sind die Ereignisse der späten siebziger und frühen achtziger nistan (27. Dezember 1979), die Verhängung des- Kriegsrechts in Polen (13. Dezember 1981) und die Jahre von besonderer Bedeutung im Hinblick auf ihre sowjetische Mittelstreckenrüstung (SS 20) mit der mittelfristigen Wirkungen für die krisenhafte Ent- Reaktion des NATO-„Doppelbeschlusses” vom wicklung in der Sowjetunion und den östlichen Bünd- 12. Dezember 1979 sowie der nachfolgenden Ausein- nisstaaten, insbesondere für die do rt wachsende andersetzung um seine Verwirklichung. innerstaatliche Opposition.

Unmittelbar wirkten sich diese Ereignisse als Bela- Auf die Frage, welche Folgewirkungen die NATO stungen des Ost-West-Verhältnisses aus [—> Gen- Nachrüstung für die internen Entscheidungsprozesse scher, Protokoll Nr. 53]. Die Verhängung des Kriegs- in der sowjetischen Führung hatte, lassen sich bei der rechts in Polen weckte die Erinnerung an die Ereig- gegebenen Quellenlage derzeit keine gesicherten nisse in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei Antworten geben. Vieles spricht jedoch für die Ein- 1968; damit war die Frage nach der Reformfähigkeit schätzung, daß Gorbatschow mit seiner Politik des kommunistisch regierter Staaten erneut gestellt. Die Spannungsabbaus bewußt die Konsequenz aus der sowjetische Mittelstreckenrüstung verschob das mili- Kräfteüberspannung der vorherigen, impe rial orien- tärische Gleichgewicht in Europa; aus westlicher Sicht tierten sowjetischen Außenpolitik gezogen [—> Da- verschaffte sich die Sowjetunion mit einer neuen schitschew, Protokoll Nr. 49] und die feste Haltung Generation weitreichender Mittelstreckenraketen ein des Westens neue Entscheidungen im Moskauer Polit- politisches Druck- und Drohpotential gegenüber büro im Sinne der Reformkräfte erleichtert hat Westeuropa, vor allem gegenüber den nichtnuklearen [--> Genscher, Kohl, Protokoll Nr. 53; Oldenburg, Pro- NATO-Staaten, also insbesondere der Bundesrepu- tokoll Nr. 49]. blik Deutschland. Die Formierung neuer oppositioneller Kräfte in den Die daraufhin einsetzende NATO-Nachrüstungsde- Ostblockstaaten und in der DDR gewann unüberseh- batte [—> Schmidt, Protokoll Nr. 46] war auch für die bar Auftrieb. Aus der Friedensarbeit der Kirchen Deutschlandpolitik von weitreichender und unmittel- [—> Garstecki, Protokoll Nr. 51] waren seit Ende der barer Bedeutung. Mit dem sogenannten Doppelbe- siebziger Jahre eine Reihe von unabhängigen Frie- schluß von 1979, der unter maßgeblicher Beteiligung densinitiativen hervorgegangen, die auch als Antwort des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf die Militarisierung in der DDR (u. a. Einführung zustande kam, bot die NATO der Sowjetunion Abrü- der „sozialistischen Wehrerziehung") zu verstehen stungsverhandlungen im Mittelstreckenbereich an ist. Die Propaganda der SED gegen die NATO und stellte zugleich für den Fall des Scheiterns der Nachrüstung und ihre Unterstützung für die Friedens- Gespräche eine Nachrüstung mit Pershing II und bewegung in der Bundesrepublik Deutschl and bot Marschflugkörpern in Aussicht. Die Sowjetunion ver- diesen Initiativen in der DDR einen Anknüpfungs- suchte, diesen Beschluß zu verhindern. Hierzu leitete punkt, ihre eigenen Friedensaktivitäten zu verstär- sie u. a. eine — vor allem gegen die Bundesrepublik ken. Obwohl sie sich zu Beginn durchaus noch nicht Deutschland als Hauptstationierungsstaat gerich- als politische Opposition empfanden, wurden sie tete — Propagandakampagne ein, bei der sie mit durch ihre Überlegungen über Abrüstung nach außen Drohungen und Angsterzeugung arbeitete. Unter und innen sowie durch die Entwicklung alternativer ihrem Einfluß bemühte sich die DKP, bestimmenden Vorstellungen von Friedenssicherung und gesell- Einfluß auf die Friedensbewegungen in der Bundes- schaftlicher Friedensgestaltung von der SED als hoch- republik Deutschland zu nehmen, während die gradig oppositionell eingestuft, als staatsfeindlich dis- UdSSR bestrebt blieb, die innerdeutschen Beziehun- kreditiert und dementsprechend behandelt [--> Gar- gen mit Hilfe der DDR in diesem Sinne zu instrumen- stecki, Protokoll Nr. 51]. Diese Initiativen wirkten talisieren. Der Westen zeigte sich jedoch gewillt, auf weiter, über die Nachrüstungsdiskussion hinaus, im diese sicherheitspolitische Herausforderung zu ant- Sinne einer Friedensarbeit, die den engen Zusam- worten und einer zunehmenden sowje tischen militä- menhang von Frieden und Menschenrechten be- rischen Dominierung Westeuropas vorzubeugen tonte.

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Eine zusätzliche Ermutigung fanden diese oppositio- tionellen Kräften. Für die SED-Diktatur konnten und nellen Kräfte in der polnischen Gewerkschaftsbewe- mußten diese Neuansätze bei konsequenter Weiter- gung Solidarnosc, die, wie die Folgejahre zeigen entwicklung zu einer systembedrohenden - und sollten, durch das Verbot von 1981 keineswegs zer- damit zugleich existenzbedrohenden - Herausforde- schlagen war und ein nachahmenswertes Beispiel für rung werden. erfolgreiches oppositionelles Wirken in „realsoziali- Das erklärte Ziel der westlichen Entspannungspolitik stischen" Staaten [--> Mehlhorn, Protokoll Nr. 47] bot. war ursprünglich der W andel der kommunistisch Das Wirken der oppositionellen Gruppen in der DDR beherrschten Staaten, ein Wandel aber zugleich in so mündete später, angesichts inzwischen gewandelter kontrollierten Formen und „homöopathischen Dosen" äußerer Bedingungen, in die Bewegung des Herbstes (Bahr), daß das Sicherheitsbedürfnis und der Domi- 1989. nanzanspruch der UdSSR nicht unmittelbar herausge-

fordert wurde. Diese Politik mußte jedoch in einen

Zielkonflikt geraten, wenn - wie in Polen - eine

5.1.2 Die Veränderungen der internationalen Oppositionsbewegung sich erfolgreich behauptete, Rahmenbedingungen durch den Beginn die das System als Ganzes in Frage stellte. Hier kam der sowjetischen Reformpolitik seit eine Ambivalenz der Entspannungspolitik [--> Poppe, Mitte der achtziger Jahre (Gorbatschow) Protokoll Nr. 47], ein potentieller Konflikt zwischen Stabilisierung der Rahmenbedingungen und Förde-

Das grundlegende innenpolitische Reformprogramm rung von Veränderungstendenzen, zum Ausdruck, Gorbatschows, das sich mit den Schlagworten „Glas- - der nicht einseitig im Sinne einer formalen „Stabili- nost" und „Perestroika" verband, erforderte auch eine tätspolitik" beantwortet werden konnte. Westliche

Umgestaltung der sowjetischen Außenpolitik („Neues Entspannungspolitik durfte sich nicht an einem „ein- Denken") im Sinne einer Entdogmatisierung, Entmi- dimensionalen Friedensbegriff" [--> Poppe, Protokoll

litarisierung, einer „freien Wahl des Weges" für die Nr. 47] orientieren, der einseitig an der Sicherung der verbündeten sozialistischen Staaten sowie eines Stabilität des Status quo ausgerichtet war und den Abbaus der enorme Ressourcen verbrauchenden Kon- untrennbaren Zusammenhang von Frieden und Frei- frontation mit dem Westen. Schrittweise entfalteten heit bzw. Menschenrechten [--> Poppe, Sabatova,

sich die Elemente einer neuen Außenpolitik - z. T. Protokoll Nr. 47; Eppelmann, Protokoll Nr. 50] außer vermutlich auch ursprünglich nicht intendierte -, acht ließ oder in seiner Bedeutung minimierte. Eine deren Ziel es war, günstige äußere Bedingungen für realistische Entspannungspolitik mußte das Ziel ver- die innere Umgestaltung zu schaffen. Dabei war die folgen, den Handlungsspielraum für evolutionäre sowjetische Führung auch bereit, in Grundsatzfragen, Veränderungen zu begünstigen [--> Genscher, Proto- wie z. B. in der Menschenrechtsproblematik, den koll Nr. 53]. In der Enquete-Kommission wurde die westlichen Positionen weit entgegenzukommen Problematik des potentiellen inneren Zielkonfliktes

[--> Expertise Hertle]. Anders als in den siebziger der Entspannungspolitik behandelt, jedoch z. T. kon- Jahren, in denen Breschnew mit seiner Entspan- trovers [--> Protokoll Nr. 47]. nungspolitik das Ziel verfolgt hatte, den Status quo des sowjetischen Imperiums in Europa zu sichern und gleichzeitig expansiv in der Dritten Welt vorzugehen 5.2 Deutschlandpolitik

Daschitschew, Protokoll Nr. 49], zielte Gorba- [--> und deutschlandpolitische Diskussion tschows Politik auf einen Abbau der Spannungsursa- chen im Verhältnis zur westlichen Welt. 5.2.1 Innerdeutsche Rahmenbedingungen

Die westlichen Staaten reagie rten auf die Reformpoli- Auch die innerdeutschen Beziehungen waren zu tik der Sowjetunion in dem Maße posi tiv, in dem diese Beginn der achtziger Jahre in eine kritische Situa tion von konkreten Schritten begleitet wurde. Insbeson- geraten [--> Windelen, Protokoll Nr. 52]. Das grund- dere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sätzliche Problem im innerdeutschen Verhältnis blieb befürwortete schon sehr frühzeitig, ohne sofort und die Tatsache, daß über die Auslegung der im Grund-

überall Gehör zu finden, eine westliche Politik, die lagenvertrag vereinbarten Normalisierung wesentli-

Gorbatschow beim Wort nehmen sollte [--> Genscher, che Meinungsgegensätze zwischen den beiden Seiten

Protokoll Nr. 53]. In den internationalen Beziehungen bestanden. Während die Bundesregierung die Ent- zählten zu den ersten wichtigen Ergebnisse dieser wicklung normaler, d. h. möglichst offener und viel- neuen Phase der Ost-West-Beziehungen der Ab- fältiger Beziehungen und Kontakte über die inner- schluß des INF-Vertrages über den Abbau der nukle- deutsche Grenze hinweg anstrebte, war das Ziel der aren Mittelstreckenwaffen 1987, das Ende der sowje- SED die volle internationale Anerkennung der DDR. tischen Afghanistan-Inte rvention 1988, der Beginn Dieses im ersten Anlauf nicht in vollem Umfang der KSE-Verhandlungen 1989 und die Anerkennung erreichte Ziel - die völkerrechtliche Anerkennung weitreichender menschenrechtlicher Verpflichtun- durch die Bundesrepublik Deutschland sowie die gen auch durch die Sowjetunion im Schlußdokument Aushöhlung und Beseitigung der auf „Deutschl and der Wiener KSZE-Folgekonferenz 1989. Folgenreich als Ganzes" bezogenen Vier-Mächte-Rechte - sollte waren gleichzeitig die Prozesse, die Gorbatschows nun schrittweise durchgesetzt werden [--> Exper tise

Öffnungspolitik in den bisherigen Satellitenstaaten Jäger]. Das war auch die eigentliche Substanz von der Sowjetunion freisetzte. Die Preisgabe der „Bre- Honeckers „Geraer Forderungen" an die Bundesre- schnew-Doktrin” eröffnete allmählich die Möglich- publik Deutschland (Anerkennung der DDR-Staats- keit zu eigenständigen Entwicklungen sowie zur bürgerschaft, Aufwertung der Ständigen Vertretun- Entfaltung von Menschenrechtsgruppen und opposi gen zu Botschaften, Schließung der Erfassungsstelle

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Salzgitter, konstitutive Festlegung des innerdeut- Vertrag Klage vor dem Bundesverfassungsgericht schen Grenzverlaufs an der Elbe). erhoben. Deshalb kam es für viele zunächst überra- schend, daß sich die Bundesregierung Kohl/Genscher Gleichzeitig hielt die SED aus Gründen der innenpoli- nach dem Regierungswechsel (Oktober 1982) ganz tischen Stabilität an ihrem „Herrschaftsprinzip" der selbstverständlich an die vorgegebene Vertragslage Abgrenzung [--> Expertise Fischbeck] und an der der Bundesrepublik Deutschland hielt. Ihre deutsch- Politik einer möglichst weitgehenden Abschottung landpolitische Position war von klaren Grundsätzen gegenüber westdeutschen Einflüssen fest [--> Daschi- bestimmt, die in allen Regierungserklärungen seit tschew, Protokoll Nr. 49]. Die 1980, wenige Tage nach Oktober 1982 unterstrichen wurden. Dazu zählte das der Bundestagswahl, von der DDR-Führung ver- Festhalten am Wiedervereinigungsgebot der Präam- hängte Erhöhung des Zwangsumtausches für westli- bel des Grundgesetzes und im Deutschlandvertrag che Besucher sollte im Sinne des Ziels der SED wirken, (Artikel 7) von 1954 sowie die Betonung der B riefe zur die aus ihrer Sicht unerwünschte Verdichtung der deutschen Einheit und des Bundesverfassungsge- innerdeutschen Kontakte zu drosseln und gleichzei tig richtsurteils zum Grundlagenvertrag. Das waren kei- die Deviseneinnahmen zu erhöhen. Als weitere neswegs bloße Deklarationen, sondern deutliche poli- Erschwernis kam zu Beginn der achtziger Jahre der tische Positionsbestimmungen, die darauf zielten, im Versuch der SED hinzu, die weitere Entwicklung der In- und Ausland deutlich zu machen, daß die deutsche innerdeutschen Beziehungen von westdeutschem Frage geschichtlich, rechtlich und politisch offen war Wohlverhalten in der Nachrüstungsfrage abhängig zu Genscher, Kohl, Protokoll Nr. 53; Wilms, Protokoll machen: „Im Schatten amerikanischer Raketen kön- - Nr. 52]. Insbesondere betonte die Bundesregierung nen deutsch-deutsche Beziehungen nicht gedeihen", den modus-vivendi-Charakter des Grundlagenvertra- hieß es in wechselnden Variationen in politischen ges, um dem im In- und Ausland inzwischen verbrei- Erklärungen [—> Expertisen Hacker, Jäger]. teten Eindruck zu begegnen, es handle sich hierbei Dieser Versuch scheiterte 1983 mit der Durchsetzung um einen Teilungsvertrag. Bundesaußenminister des Stationierungbeschlusses im Deutschen Bundes- Genscher hat auch vor der UNO mit besonderem tag. Gleichwohl trat in der Folge die für den Fa ll der Nachdruck die Offenheit der deutschen Frage, den Nachrüstung von der SED angekündigte innerdeut- verpflichtenden Charakter des Wiedervereinigungs- sche „Eiszeit" nicht ein. Die SED zeigte sich vielmehr gebotes des Grundgesetzes sowie die Notwendigkeit an einer Weiterentwicklung der Beziehungen interes- der Überwindung der Teilung Deutschlands und siert (Honecker sprach von „Schadenbegrenzung") Europas im Geist einer künftigen europäischen Frie- und nahm hierfür sogar den zeitweiligen offenen densordnung hervorgehoben [—> Genscher, Protokoll Dissens mit der Führung in Moskau in Kauf [—> Olden- Nr. 53]. burg, Protokoll Nr. 49]. Ein wesentliches Motiv dürfte dabei die wirtschaftlich problematische Situa tion der Auch über die Unannehmbarkeit der Geraer Forde- DDR H Oldenburg, Protokoll Nr. 49] gewesen sein. rungen in ihrem rechtlichen Ke rn bestand in der Diese Wirtschaftsprobleme des SED-Staates boten der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitions- Bundesregierung eine geeignete Handhabe, um auf parteien Einmütigkeit, während Stimmen führender menschliche Erleichterungen in der DDR, auf Gewäh- Oppositionspolitiker laut wurden, die die Annahme rung verbesserter innerdeutscher Kontakt- und Reise- dieser Forderungen empfahlen. Die SPD-regierten möglichkeiten sowie schließlich, bei gegebenen Rah- Länder stellten nach und nach die Finanzierung der menbedingungen im Herbst 1989, auf systemän- Erfassungsstelle Salzgitter - aus politischen, nicht dernde Reformen zu drängen. aus finanziellen Gründen — ein. Die Politik Gorbatschows, die zunächst den deutsch Von großer Bedeutung war es, daß die Grundlage landpolitischen Handlungsspielraum der DDR-Füh- bundesdeutscher Ost- und Deutschlandpolitik, ihr rung erweitert hatte, führte in der Folgezeit zu einem „Standbein" [--> Bundeskanzler a. D. Schmidt, Proto- von dieser als bedrohlich empfundenen Reformdruck. koll Nr. 55], wieder gefestigt wurde: Mit der — gegen Die DDR-Führung unternahm daher den Versuch, starken Widerstand der SPD durchgesetzten — Reali- gleichzeitig eine kontrollierte, sorgfältig begrenzte sierung des NATO-Nachrüstungsbeschlusses und Öffnung nach Westen (insbesondere im wirtschaftli- dem Vorantreiben des europäischen Einigungspro- chen Bereich) zu betreiben, im Inneren aber selbst zesses (seit der deutschen EG-Präsidentschaft im Jahr bescheidene Reformansätze zu vermeiden. Die Politik 1983) wurde das Vertrauensfundament im Westen des „Mauerstaats" mit seinem „Abgrenzungssyn- gestärkt, was sich in der Phase der Vereinigungsver- drom" [--> Expertise Fischbeck], Zusammenarbeit mit handlungen von 1989/90 als besonders bedeutsam dem Westen gleichzei tig zu nutzen und zu beschrän- erwies. ken, führte ihn in ein, wie aus der Rückschau noch In den Mittelpunkt ihrer deutschlandpolitischen Ver- deutlicher erkennbar wird, letztlich unlösbares lautbarungen stellte die Bundesregierung Kohl/Gen- Dilemma. scher in den achtziger Jahren — auch angesichts der Tatsache, daß die deutsche Einheit nicht kurzfristig 5.2.2 Die Deutschlandpolitik erreichbar zu sein schien — die Frage der Menschen- der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung rechte und ihrer Verweigerung in der DDR. Damit konnte, auch international, der eigentliche Kern der 5.2.2.1 Deutschlandpolitische Grundsätze deutschen Frage, die Unfreiheit und die verweigerte Selbstbestimmung für die Deutschen in der DDR, Die CDU/CSU hatte den Grundlagenvertrag abge deutlich gemacht werden [—> Expertise Jäger; Wilms, lehnt, die Bayerische Staatsregierung gegen diesen Protokoll Nr. 52]. Im Frühjahr 1989 hielt die Bundes-

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regierung der DDR-Führung „Verletzungen der bewerten [--> Blumenwitz, Protokoll Nr.50; Kohl, Pro- menschlichen Dimensionen des Abschlußdoku- tokoll Nr. 53]. Die Frage der deutsch-polnischen ments" der Wiener KSZE-Folgekonferenz vor [—> Ex- Grenze bildete bis zum Abschluß des 2 +4-Vertrages pertise Hertle]. Auf dieser Konferenz war u. a. der ein staats- und völkerrechtliches Element der offenen Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze ange- deutschen Frage gemäß den Vier-Mächte-Regelun- sprochen worden [--> Windelen, Protokoll Nr. 52]. Die gen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Danach war DDR-Führung sah sich hier in ihrer abwehrenden Deutschland als Ganzes weiterhin existent und die Haltung gegenüber menschenrechtlichen Forderun- Frage der endgültigen deutschen Ostgrenze einer gen weitgehend isoliert und nur noch von der Ceau- friedensvertraglichen Regelung vorbehalten. Diese sescu-Diktatur gestützt [--> Exper tise Hertle]. In den Rechtslage war durch die Urteile und Entscheidungen Berichten zur Lage der Na tion im geteilten Deutsch- des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagen- land" [--> Wilms, Protokolle Nr. 52, 55] stellte die vertrag und zu den Ostverträgen bestätigt worden. Bundesregierung die Freiheit als zentrales Problem Die menschliche und politische Dimension bestand der deutschen Frage heraus. Insgesamt betonte die darin, ehrlich mit den Belastungen aus der Vergan- Bundesregierung — bei aller Bereitschaft zu pragma- genheit umzugehen: mit der nationalsozialistischen tischen Verhandlungen mit der DDR-Regierung über Vernichtungspolitik in Polen, den Leiden der Polen im praktische Fragen — die norma tive Distanz zum Zweiten Weltkrieg, den Leiden der aus ihrer Heimat SED-Regime. vertriebenen Ostdeutschen. Die Bundesrepublik wollte Frieden und Verständigung mit Polen. Dies war Diese Grundpositionen bestimmten auch die Akzent- - bereits von Konrad Adenauer in seiner ersten Regie- setzungen in der deutschlandpolitischen Informa- rungserklärung 1949 als wich tige Aufgabe deutscher tions- und Bildungsarbeit sowie in der Deutschl and- Politik bezeichnet worden. forschung [--> Wilms, Protokoll Nr. 52], in denen es darum gehen mußte, ein möglichst realis tisches Bild Die deutschen Vertriebenen hatten in ihrer Charta der DDR zu vermitteln und den Unrechtscharakter des 1950 erklärt, Unrecht nicht vergelten, sondern an der SED-Regimes sowie die Unnatürlichkeit der Teilung Schaffung eines freien und geeinten Europa mitwir- Deutschlands zu verdeutlichen. Die Betonung der ken zu wollen, „in dem die Völker ohne Furcht und Offenheit der deutschen Frage war nicht — wie in Zwang leben können". Die Union ist sich über Jahr- einigen Diskussionsbeiträgen der Enquete-Kommis- zehnte hinweg um einen konstruktiven Dialog mit den sion vermutet wurde — als bloße rheto rische Floskel Vertriebenen und ihren Organisationen bemüht abzutun. Für die Bewußtseinsbildung der Öffentlich- gewesen. In den sechziger Jahren hatten vor allem die keit war es relev ant, ob das Thema der deutschen beiden großen christlichen Kirchen in Denkschriften Einheit immer wieder aufgegriffen oder ausgeblendet die Bedeutung einer dauerhaften deutsch-polnischen wurde. Dabei spielte auch die Tatsache eine Rolle, daß Verständigung hervorgehoben. Ein wich tiges Doku- aus Oppositionskreisen Forderungen laut wurden, die ment war der Briefwechsel zwischen den polnischen deutsche Frage als nicht mehr offen anzusehen und zu und deutschen katholischen Bischöfen von 1965, in prüfen, ob das Wiedervereinigungsgebot in der Prä- dem von beiden Seiten um Vergebung gebeten, ambel des Grundgesetzes nicht revidiert werden Vergebung angeboten sowie eine Aufrechnung von müsse. Schuld und Unrecht abgelehnt wurde.

Bundeskanzler Helmut Kohl bekräftigte vielfach die Geltung des Warschauer Vertrages als selbstver- ständliche Grundlage seiner Ostpoli tik und unter- strich, daß die Bundesrepublik Deutschland und die 5.2.2.2 Die europäische Dimension Volksrepublik Polen gegeneinander keine Gebiets- ansprüche hätten und solche auch in Zukunft nicht Die Bundesregierung und die sie tragenden Koali- erheben würden. Vom Standpunkt des Rechtes und tionsparteien haben — im Einklang mit der Präambel der Moral gebe es keine andere Haltung als die, die des Grundgesetzes und in der deutschlandpolitischen Vertreibung von Millionen von Deutschen Unrecht zu Tradition ihrer Parteien — die deutsche Einheit und nennen; es stehe ebenso außer Frage, daß dem nicht die Einigung Europas in einen engen Sachzusammen- das Unrecht einer weiteren Vertreibung folgen dürfe. hang gestellt, ja beide Ziele als zwei Seiten ein und Bundesaußenminister Genscher hat seinerseits nie derselben Medaille betrachtet. Deshalb hatte die einen Zweifel daran gelassen, daß gegenüber dem Forcierung der europäischen Einheit durch Bundes- polnischen Nachbarn ohne Wenn und Aber Marge- kanzler Kohl und Bundesaußenminister Genscher stellt werden mußte, er werde keine Gebietsverluste auch eine zutiefst deutschlandpolitische Bedeutung. zu befürchten haben, wenn es zur deutschen Einheit Die Bundesregierung hat in wiederholten Erklärun- komme. gen (u. a. Bundesministerin Dorothee Wilms in Pa ris im Januar 1988) die europäische Dimension der deut- Die Lösung der Grenzfrage im 2+4-Vertrag folgte schen Einheit unterstrichen und verdeutlicht, daß dieser Grundposition. Der deutsch-polnische Freund nach ihrer Auffassung eine Wiedervereinigung nicht schaftsvertrag vom 17. Juni 1991 soll die Grundle- gegen die Nachbarn Deutschlands, sondern nur im sung eines neuen, gutnachbarlichen und partner- Einvernehmen mit ihnen erfolgen könne. schaftlichen Verhältnisses zwischen Deutschen und Polen sein, in dem nationale Minderheiten ihre kultu- Im Rahmen dieses europäischen Kontextes war auch relle Identität pflegen und beide Völker eine gemein- die politisch wie rechtlich schwierige Problematik der same Zukunft in einem zusammenwachsenden deutsch-polnischen Grenze zu diskutieren und zu Europa gestalten können.

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5.2.2.3 Deutschlandpolitische Diskussionen Kontakte. Hierzu gehörten vor allem der Reiseverkehr in den Koalitionsparteien — speziell für jüngere Menschen — sowie die grenz-

nahen Besuchsmöglichkeiten, Städtepartnerschaften und Sportbegegnungen, aber auch kulturelle Kon- In der Enquete-Kommission wurde [–> Protokolle takte auf der Grundlage des Kulturabkommens Nr. 52, 53] die deutschlandpolitische Diskussion in der u. a. m. Besonders wich tig ist gewesen, daß in allen CDU vom Jahre 1988 angesprochen. Es gab in der Verträgen die Einbeziehung Berlins unter Beachtung Union einige Stimmen, die den Zusammenhang von seines besonderen Status die gebotene Berücksichti- zunehmender europäischer Integration und deutscher Wiedervereinigung problematisierten. In den Unions- gung fand, auch wenn sich dadurch die Verhandlun- gen oft über Jahre hinzogen. Diese Entwicklung der parteien setzte sich jedoch stets die Linie durch, die diesen Zusammenhang unterstrich und bejahte. Kurz- innerdeutschen Kontakte und Begegnungen war ein fristige Irritationen innerhalb und außerhalb der Uni- humanitäres Anliegen; es diente aber zugleich dem Zusammenhalt der Nation, in der Generationen her- onsparteien erregte die Tatsache, daß in einem ersten anwuchsen, denen der andere Teil Deutschlands nicht Entwurfspapier zum 36. Bundesparteitag der CDU oder nur vom Hörensagen bekannt war. der Begriff „Wiedervereinigung" nicht vorkam, obwohl im übrigen das Ziel der deutschen Einheit und Die wirtschaftlichen Probleme der DDR boten der Selbstbestimmung wiederholt unterstrichen wurde. Dies gab Anlaß zu der — unbegründeten — Spekula- Bundesrepublik einen geeigneten Ansatzpunkt, auf menschenrechtliche Verbesserungen in der DDR und tion, die CDU wolle jetzt die Frage der Einheit den - realpolitischen „Notwendigkeiten" der innerdeut- vermehrte Kontakte über die innerdeutsche Grenze schen Beziehungen unterordnen. In der Beschlußvor- hinweg zu drängen [–> Kohl, Protokoll Nr. 53; Winde- lage des Parteitages wurde der Beg riff „Wiederverei- len, Protokoll Nr. 52; Exper tise Hertle]. Wachsende finanzielle Transferleistungen beispielsweise sicher- nigung" ganz selbstverständlich ohne Diskussion an ten eine Verbesserung des Postverkehrs, des Reise- den Beginn des deutschlandpolitischen Kapitels verkehrs durch den Aus- und Neubau auf den Tran- gestellt und damit diese oberste Zielsetzung der sitstrecken nach Berlin u. a.; die Übernahme der CDU-Deutschlandpolitik erneut betont. Bürgschaft für zwei — in den Folgejahren zurückge- zahlte — Bankenkredite 1983 und 1984 waren sach- lich, wenn auch nicht formal, verbunden mit Gegen-

leistungen beim innerdeutschen Reiseverkehr, bei der

5.2.2.4 Die innerdeutschen Beziehungen Erleichterung der Grenzkontrollen, beim Abbau von

Grenzsicherungsanlagen u. a.

In der besonderen Situa tion des geteilten Deutschland erforderte der — in der Enquete-Kommission erör- 1987 kam der auf Einladung von Bundeskanzler terte — poten tielle Zielkonflikt zwischen Stabilisie- Helmut Schmidt geplante Gegenbesuch des Staats- ratsvorsitzenden Honecker in der Bundesrepublik rung der Rahmenbedingungen und Förderung des immer deutlicher werdenden Wandels erhöhte Auf- Deutschland zustande, der 1984 am nachdrücklichen Widerspruch der sowje tischen Führung gescheitert merksamkeit. Deutschlandpolitik konnte und durfte, war [--> Daschitschew, Protokoll Nr. 49], auf den wenn sie am Willen der Menschen und am Prinzip der Honecker aber größten Wert legte. Für die Bundesre- Selbstbestimmung orientiert bleiben sollte, nicht zu einer bloßen Status-quo-Politik degene rieren. Ande- gierung hat das Festhalten an dieser Einladung zu einem Arbeitsbesuch mit den unvermeidlichen proto- rerseits mußte jede Deutschlandpolitik der Tatsache Rechnung tragen, daß die Sowjetunion an der Erhal- kollarischen Elementen des Empfangs eines Staats- oberhaupts zu den schwierigsten politischen Ent- tung des kommunistischen Machtmonopols in der DDR ein vitales Interesse hatte und nach den Erfah- scheidungen gehört [--> Kohl, Protokoll Nr. 53]. Als Gegenleistung hatte die DDR-Führung u. a. zu akzep- rungen von 1953 (DDR), 1956 (Ungarn) sowie 1968 tieren, daß die deutschlandpolitische Grundsatzrede (Tschechoslowakei) bereit sein könnte, ihre in Deutschland stationierten Besatzungstruppen mögli- Bundeskanzler Helmut Kohls in der Bad Godesberger cherweise für die Sicherung dieses Interesses einzu- Redoute auch in die DDR live übertragen wurde; der Bundeskanzler bekräftigte hierin nachdrücklich das setzen. Dieser Zielkonflikt löste sich erst schrittweise, Wiedervereinigungsziel der Präambel des Grundge- als die sowje tische Führung unter Gorbatschow Ende setzes, das dem Wi llen, „ja der Sehnsucht" der Deut- der achtziger Jahre ihre außenpolitischen Interessen schen entspreche. zu revidieren begann.

Solange die internationalen Rahmenbedingungen Zu den wichtigsten, im Vorfeld des Besuchs ausge- friedliche Veränderungen im innerdeutschen Ver- handelten Gegenleistungen der DDR gehörte ein hältnis nicht erlaubten, konnte keine opera tive Wie- massiver Ausbau des innerdeutschen Reiseverkehrs, dervereinigungspolitik betrieben werden. Die Bemü- vor allem für Reisende unterhalb des Rentenalters in hungen mußten sich daher vorrangig darauf richten, „dringenden Familienangelegenheiten". Die Zahl die Folgen der Teilung für die Menschen erträglicher dieser Reisen pro Jahr stieg von 1985 bis 1988 auf das zu machen, das gesamtdeutsche Bewußtsein wachzu- Zwanzigfache (1,2 Millionen) an; insgesamt kam es in halten, den Zusammenhalt der Deutschen zu stärken diesem Jahr zu fünf Millionen Besuchsreisen in Ost und auf internationale Rahmenbedingungen hinzu- West-Richtung. Bis Ende 1989 fanden weitere inten- wirken, die einer Lösung der deutschen Frage förder- sive Verhandlungen zwische Regierungsvertretern lich waren. Besonders wich tig waren dabei die über den Ausbau der innerdeutschen Beziehungen

Erleichterung und Verstärkung der menschlichen statt.

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5.2.2.5 Die Frage der Kontinuität tretern der SED [--> Expertisen Staadt, Potthoff]. Hier- in der Deutschlandpolitik bei ist an Egon Bahrs Sicherheitsverhandlungen wie an das gemeinsame SPD/SED-Papier zur „Streitkul-

Die in der Enquete-Kommission diskutierte Frage, ob tur" zu denken, das bis heute umstritten ist und auch

die Deutschlandpolitik der Bundesregierung Kohl/ in der Enquete-Kommission kontrovers behandelt Genscher die Politik der vorherigen SPD/F.D.P.- wurde. Für die einen bleibt es ein Schritt auf dem Weg

Koalition fortführte oder sich eher von ihr absetzte, ist zur Erosion der Herrschaft der SED, weil es möglicher- nicht mit einer einfachen Entscheidung für „Kontinui- weise auch den oppositionellen Kräften in der DDR als tät" oder „Wandel", sondern nur differenzie rt zu Berufungsgrundlage dienen konnte [—> Eppler, Proto-

beantworten. Zu den kontinuierlichen Elementen koll Nr. 52]. Andere sehen dieses Papier — mit dem

gehörte, daß die Vertragspolitik mit der DDR mit dem Kernsatz einer Anerkennung (Existenzberechtigung) Ziel, menschliche Erleichterungen und Kontakte fo rt der SED-Diktatur — als Verrat an demokratischen -laufend zu verstärken, grundsätzlich fortgesetzt wor- Werten oder als „schwerstes Zerwürfnis des demokra- den ist. Stärker akzentuiert wurden aber der norma- tischen Konsenses der Bundesrepublik Deutschland"

[--> tive Abstand zum SED-Staat und die Offenheit der Barzel, Schmidt, Protokoll Nr. 55; Poppe, Protokoll

deutschen Frage; zudem sind die Bindung an die Nr. 52]. westliche Allianz und der Ausbau des europäischen In der SPD machte sich am Ende der achtziger Jahre Integrationsprozesses weiter gefördert worden. Das so ein Generationenkonflikt um die Frage der deutschen geschaffene Vertrauenskapital hat sich bei der Wie- Einheit bemerkbar, der nur durch „Formelkompro- dervereinigung 1989/90 bewährt. - misse" [--> Expertise Potthoff] überdeckt werden

konnte. Angehörige der jüngeren Genera tion standen

der deutschen Einheit eher skeptisch gegenüber,

5.2.3 Gegenpositionen „wobei das Spektrum von eher gleichgültig bis fast ablehnend reichte" [--> Expertise Potthoff]. Schon vor Nach dem Abrücken einer SPD-Mehrheit vom Dop- 1989 bestimmte diese „Enkelgeneration" , deren „Pro- tagonist" (Potthoff) Oskar Lafontaine war, das Bild der pelbeschluß der westlichen Allianz und dem Bruch SPD in der Öffentlichkeit. der SPD/F.D.P.-Koalition 1982 verstärkten sich in der

SPD Tendenzen, ein besonderes Verhältnis zur SED Die deutschlandpolitischen Posi tionen der Grünen, zu entwickeln. Der deutschlandpolitische Konsens der soweit von solchen überhaupt die Rede sein kann, sind demokratischen Parteien wurde zwar in parteioffiziel- von einer Vielzahl unterschiedlicher, z. T. einander len Dokumenten der SPD nicht aufgekündigt; der widersprechender Aussagen gekennzeichnet [--> Ex- Dissens innerhalb der SPD über deutschlandpolitische pertise Jäger]. Auf der Grundlage eines Konsenses Grundpositionen wurde aber immer deutlicher und über die Notwendigkeit deutscher „Friedenspolitik" schlug sich in zahlreichen Äußerungen und Diskussio- orientierten sich die Hauptströmungen innerhalb der nen innerhalb und außerhalb des Deutschen Bundes- Partei der Grünen teils an dem Ziel einer vollen, auch tages nieder. Eine der Ursachen hierfür dürfte in der völkerrechtlichen, und endgültigen Anerkennung der Verabsolutierung des Wertes „Frieden" gegenüber deutschen Zweistaatlichkeit, teils an der Perspektive anderen Werten und in seiner Gleichsetzung mit den eines sozialistischen und neutralistischen Gesamt- Vorstellungen kollektiver Sicherheit gelegen haben deutschland, teils schließlich auch an der unmittelba- [--> Expertise Jäger], was zur Folge hatte, daß der ren Aufgabe, gemeinsam mit kooperationsbereiten Freiheitsanspruch der Menschen in den Diktaturen Kräften in der DDR „Friedenspolitik von unten" zu des sowjetischen Einflußbereiches nicht die gebotene betreiben. Mit ihrer mehrheitlichen Absage an das politische Beachtung fand [—> Exper tise Jäger; Jesse, Ziel der deutschen Einheit, die bei vielen von einem Protokoll Nr. 75]. Entscheidend war die Beantwortung unrealistischen Bild des SED-Staates gefördert gewe- der Frage, ob man den lange Zeit in Europa festge- sen sein mag, standen die Grünen auch in der Zeit der schriebenen Status quo nur aus machtpolitischen Wende in offenem Gegensatz zu den Wünschen und Erwägungen heraus hinzunehmen hatte oder ihn für Zielen der Mehrheit der Bevölkerung in der DDR. legitim, gerecht und nicht revidierbar hielt [--> Exper- Folgenreich für den Herbst 1989 war allerdings ver- tise Hacker]. mutlich dennoch die Bemühung eines Teiles der

Grünen, schon frühzeitig in den achtziger Jahren Als Regierungspartei hatte die SPD die Menschen- rechtspolitik vorrangig in Form „besonderer humani- Kontakte zu oppositionellen Gruppen und Personen in der DDR zu finden [--> Expertise Jäger]. tärer Bemühungen", also vertraulicher Gespräche mit der DDR-Regierung, betrieben. An dieser Linie hielt sie aber auch als Oppositionspartei fest, obwohl die

Menschenrechtsbewegungen in den Ländern des 5.3 Von den innerdeutschen Beziehungen Ostblocks bereits von unten her zu wirken begonnen zur Wiedervereinigung hatten. Diese Entwicklung wurde von der SPD

Führung, die um ihre Verhandlungen über Sicher- 5.3.1 Deutschlandpolitische Einstellungen heitsfragen auf Parteiebene besorgt war, nicht genü- und Erwartungen bei den Menschen gend zur Kenntnis genommen. in der DDR; deutschlandpolitische Vorstellungen Wie fragwürdig die Ergebnisse einer an einem „ein- der DDR-Opposition dimensionalen Friedensbegriff" (Poppe, s. o.) orien- tierten Sicherheitspolitik waren, zeigte sich auch am Es überrascht nicht, daß es angesichts der Tatsache, Stil des Umgangs einiger Sozialdemokraten mit Ver daß das Thema tabuisiert war [--> Expertise Fischbeck]

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 und eine Realisierungschance nicht erkennbar zu sein 5.3.2 Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung schien, bei den Menschen in der DDR keine wirklich in der Phase des politischen Umbruchs wahrnehmbare Debatte über deutschlandpolitische Fragen gab. Die sowjetische Führung besaß Anzei- Die Bundesregierung bemühte sich in der Phase des chen dafür, daß der Wunsch nach Wiedervereinigung sich beschleunigenden Umbruchs in der DDR und der in der DDR-Bevölkerung verbreitet war [—> Daschi- Entwicklungen in der Sowjetunion, diesen Prozeß tschew, Protokoll Nr. 49]. Auch in den achtziger Jah- behutsam im Sinne einer positiven Gestaltung der ren hatten die meisten Menschen durch die Medien deutschlandpolitischen Rahmenbedingungen zu för- und nicht zuletzt durch verwandtschaftliche Bezie- dern [--> Genscher, Protokoll Nr. 53]. Am 1. November hungen einen engen Bezug zur Bundesrepublik. Die 1989 ließ Gorbatschow den neuen SED-Generalsekre- Möglichkeiten zu Westkonsum und Westreisen tär Krenz wissen, daß die Bundesrepublik Deutsch- gewannen angesichts der Abgeschlossenheit der land zu einer breiteren Zusammenarbeit mit der DDR-Existenz hinter der Mauer geradezu Status- und Sowjetunion bereit sei, sie „erwarte jedoch, daß die Symbolwert [--> Exper tise Fischbeck]. Es kann — erst Sowjetunion bei der Wiedervereinigung Hilfestellung recht aus der Rückschau — kaum einem Zweifel leistet" [--> Expertise Hertle]. Angesichts des gänzlich unterliegen, daß die verdichteten Begegnungsmög- offenen Ausgangs kam es u. a. darauf an, Zuspitzun- lichkeiten in den achtziger Jahren in erheblichem gen, die zu unkalkulierbaren Rückschlägen führen Maße nicht nur zur besseren Information der DDR konnten, zu vermeiden— auch angesichts der Präsenz großer sowjetischer Truppenkontingente in der DDR Einwohner über die Wirklichkeit im Westen Deutsch- - und in Polen sowie der gerade gemachten schreckli- lands, sondern auch zur Verstärkung des Zusammen- chen Erfahrungen auf dem „Platz des Himmlischen gehörigkeitsbewußtseins beigetragen haben [—> Ex- Friedens" in Peking. pertise Plück]. Sicher ist, daß diejenigen DDR Einwohner, die Gelegenheit bekamen, den anderen In den innerdeutschen Beziehungen ging die Bundes- Teil Deutschlands aus eigenem Augenschein kennen- republik im Oktober 1989 dazu über, auf systemän- zulernen, die Lage im eigenen Staat mehrheitlich dernde Reformen zu drängen. In seinem Telefonge- künftig noch kritischer als zuvor beurteilten. Die spräch am 26. Oktober 1989 mit Krenz mahnte Bun- stabilisierende Wirkung, die die SED von der Er- deskanzler Kohl eine Reformpolitik nach ungari- weiterung der Reisemöglichkeit erhofft haben schem Muster an [--> Kohl, Protokoll Nr. 53] und wies, mag, hat sich tatsächlich nicht eingestellt, eher das im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines neuen Gegenteil [--> Expertisen Plück, Hertlel. Auch die DDR-Reisegesetzes, abermals mit Nachdruck die For- Zahl der Ausreisewilligen ging infolge der verbes- derung von Krenz nach einer deutlicheren Respektie- serten Reisemöglichkeiten nicht zurück, sondern rung der Staatsbürgerschaft der DDR zurück. Kohl nahm zu. bezeichnete es als den richtigen Weg, daß man die gegenseitigen Ansichten respektiere und überall da, wo man vernünftig zusammenarbeiten könne, die Innerhalb der oppositionellen Gruppen in der DDR Zusammenarbeit zum Wohle und im Interesse der wurde vor dem Hintergrund der Geschichte und der Menschen suchen müsse. Er mahnte u. a. die Neure- europäischen Lage die Zweitstaatlichkeit Deutsch- gelung der Reisefreiheit sowie eine Amnestie für die lands weithin als gegeben hingenommen, ja stand im wegen Republikflucht Verurteilten und für die bei den Grunde nicht zur Debatte. Im Zentrum standen sicher- Oktober-Demonstrationen Verhafteten an [--> Exper- heitspolitische Fragen, Demokratie und Menschen- tise Hertle]. rechte, dazu ökologische Fragen und Probleme der In dem Augenblick, als die neue DDR-Führung unter Dritten Welt. Diesbezüglich gab es ein breites Interes- Krenz die desolate Wirtschaftslage der DDR inte rn se an einer Zusammenarbeit mit entsprechenden offenlegen mußte — die DDR war nach Einschätzung Gruppen in der Bundesrepublik Deutschl and, jedoch ihrer leitenden Wirtschaftsfunktionäre faktisch zah- auch mit der Opposition in den östlichen Nachbar- lungsunfähig [--> Expertise Hertle] —, ergab sich für ländern, vor allem mit Charta 77 und Solidarnosc. die Bundesregierung ein neuer Ansatzpunkt, den Es waren auch Posi tionen weit verbreitet, die den Reformprozeß in der DDR zu unterstützen: Der Abzug der Siegermächte aus Deutschland und des- Wunsch der DDR-Führung, ihre Lage durch umfang- sen neutralen Status befürworteten. Andere hielten reiche Kredite aus der Bundesrepublik (objektgebun- dies nicht für sinnvoll und traten eher für Verände- dene Kredite in Höhe von 10 Milliarden DM in den rungen in den Blöcken sowie letztlich für deren Auf- beiden folgenden Jahren, daneben ab 1991 jährlich lösung im Rahmen einer europäischen Friedens- 2-3 Milliarden DM in freien Devisen: so die Sondie- ordnung ein. Doch wurde von diesen Gruppen rung des DDR-Unterhändlers Schalck-Golodkowski auch an den Abzug der alliierten Truppen aus bei- gegenüber den Bundesministern Seiters und den deutschen Staaten im Rahmen von Abrüstungs- Schäuble am 6. November 1989) zu bessern, wurde abkommen gedacht. Daß die Infragestellung des von der Bundesregierung beantwortet mit der Forde- kommunistischen Systems die Teilung Deutsch- rung nach Zulassung oppositioneller Gruppen, der lands in gleicher Weise in Frage stellte, war ein Zusage freier Wahlen und dem Verzicht auf das Gedanke, der von Vertretern der Charta 77 und Machtmonopol der SED [--> Expertise Hertle]. Diese der Solidarnosc als naheliegend aufgefaßt wurde Forderung wiederholte Bundeskanzler Kohl am [--> Hajnicz, Sabatova, Protokoll Nr. 47], dem dage- 8. November 1989 öffentlich im Bundestag in gen Bürgerrechtler in der DDR erst allmählich und dem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutsch- zögernd näherzutreten wagten [—> Mehlhorn, Proto- land. Die Bundesregierung griff damit die Parolen koll Nr. 47] der Demonstranten in der DDR auf, um sie in

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode den Verhandlungen mit der SED-Führung einzu- Teil Europas und mit der Wiederherstellung der fordern. deutschen Einheit bedarf weiterer Aufklärung. Hierzu gehört insbesondere die Entwicklung der konzeptio- Drei Faktoren waren für die weitere Entwicklung der nellen Überlegungen zur Reformpolitik der Sowjet- Deutschlandpolitik von ausschlaggebender Bedeu- union und deren positive oder abwehrende Aufnahme tung. Zum ersten war die Tatsache maßgeblich, daß bei den Parteiführungen der verbündeten Staaten. die Sowjetunion darauf verzichtete, gewaltsam gegen Klärungsbedürftig ist auch, inwieweit der Beschluß die Entwicklung in der DDR einzuschreiten, auch als der NATO, ihr nukleares Kurzstreckenpotential zu diese sich mehr und mehr auf die Frage der Wieder- modernisieren, militärisch notwendig war, und wel- herstellung der deutschen Einheit zuspitzte. Ein mar- che Auswirkungen ein solcher Beschluß auf den kantes Ereignis in diesem Zusammenhang war die Reformprozeß in der Sowjetunion und die weitere Maueröffnung am 9./10. November 1989, als Gorba- politische Entwicklung in Europa gehabt hätte. tschow, offenbar gegen nachdrückliche Ratschläge aus dem KGB und Teilen der SED, daran festhielt, Weitere Fragen, die innerhalb der Enquete-Kommis- dagegen nicht mit Waffengewalt vorgehen zu lassen. sion debattiert worden sind, stellten sich im Zusam- Dem direkten Kontakt und dem persönlichen Vertrau- menhang mit der Entwicklung der Oppositionsbewe- ensverhältnis zu Bundeskanzler Kohl kam dabei gungen: Gab es im Vergleich zu den Kontakten auf offenbar besondere Bedeutung zu [--> Kohl, Protokoll Regierungsebene ein starkes Defizit in bezug auf Nr. 53]. Kontakte zur Opposition in den Ländern Osteuropas und speziell in der DDR? Inwieweit ist diese Tatsache Als es die internationalen und innerdeutschen Rah- aus dem damaligen Zeitkontext erklärbar; inwieweit menbedingungen erlaubten, ging — zum zweiten — lag sie in der Logik der Entspannungskonzeption? Wie die Bundesregierung zu einer opera tiven Wiederver- sind die Unterschiede zwischen der Politik einer einigungspolitik über. Mit seinem Zehn-Punkte-Plan Regierung und der Politik einer in Opposi tion befind- vom 28. November 1989 ergriff Bundeskanzler Hel- lichen Partei zu gewichten? Weiter zu untersuchen mut Kohl die Initiative in der Deutschlandpolitik und sind die Lehren aus den Erfahrungen mit totalitären nahm damit sowohl Signale aus Moskau als auch Staaten hinsichtlich der Durchsetzung von Menschen- Impulse der Demonstrationen in der DDR auf. Zudem rechten [--> Protokoll Nr. 75]. drängte die rapide anwachsende Übersiedlerwelle zu schnellem Handeln. Ein entscheidender Faktor wurde — zum dritten — der Tag für Tag wachsende Wille der Menschen zur Einheit, wie er mit demons trativer Deutlichkeit beim Besuch des Bundeskanzlers in 5.5 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion Dresden am 19. Dezember 1989, ebenso wenige Tage der SPD und der Sachverständigen später bei der Öffnung des Brandenburger Tores oder Faulenbach, Gutzeit, Weber bei dem Besuch Willy Brandts in Magdeburg deutlich wurde. 5.5.1 Der Wandel in den internationalen Rahmenbedingungen — Ansätze zu einem Die Bundesregierung Kohl/Genscher hat die sich zweiten Kalten Krieg beschleunigende Entwicklung des Spätsommers und Herbstes 1989 nüchtern und realis tisch eingeschätzt „Ende der 70er Jahre verschlechterten sich die inter- sowie die darin liegenden Möglichkeiten genutzt. nationalen Rahmenbedingungen spürbar. Die Ost- „Kanzler Kohl gebührt das Verdienst, am Ende der West-Entspannung trat in eine Stagnationsphase ein. achtziger Jahre die einmalige historische Ch ance Das KSZE-Schlußdokument war noch nicht lange erkannt und ergriffen zu haben, die sich aus der unterzeichnet, da begann die Sowjetunion den Abrü- ideologischen, ökonomischen, politischen Öffnung stungsprozeß durch die Modernisierung ihrer Mittel- Gorbatschows ergeben hat, aber auch aus der schnel- streckenraketen zu unterlaufen. Sie stellte im Westen len Implosion des Machtblockes Warschauer Pakt und des Landes SS 20-Raketen mit Mehrfachsprengköp- Sowjetunion" [--> Schmidt, Protokoll Nr. 55]. fen auf, die Westeuropa erreichen konnten und von Die einzelnen Etappen des Wiedervereinigungspro- erheblicher Zielgenauigkeit waren [--> Daschitschew, zesses, darunter die freien Wahlen in der DDR, die Protokoll Nr. 49]. Helmut Schmidt setzte diese Ent- 2 +4-Verhandlungen sowie die entscheidenden Be- wicklung seit 1977 auf die politische Tagesordnung. gegnungen von Bundeskanzler Kohl und Außenmini- Die NATO reagierte am 12. Dezember 1979 mit dem ster Genscher mit Präsident Gorbatschow und Außen- „Doppelbeschluß". In Verhandlungen sollte die minister Schewardnadse im Februar und Juli 1990, Sowjetunion zur Rücknahme ihrer Vorrüstung bewegt sind in den Anhörungen der Enquete-Kommission werden, andernfalls wollte die NATO ihrerseits ab angesprochen [--> Protokoll Nr. 53], aber nicht vertieft 1983 mit 108 Pershing II und 464 Cruise Missiles behandelt worden. nachrüsten. In den USA führte insbesondere die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan am 27. Dezember 1979 zu einer Verhärtung der Politik gegenüber Moskau. Der 5.4 Offene und weiterführende Fragestellungen Senat verweigerte im März 1980 die Ratifizierung von SALT II. Nach dem Amtsantritt von Ronald Reagan Eine Reihe von Einzelfragen im Zusammenhang mit wurden weitere Rüstungskontrollanstrengungen von dem Reformprozeß im früher sowje tisch kontrollierten vorherigem „Wohlverhalten" der Sowjetunion abhän-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 gig gemacht. Die Reagan-Administration trieb die Anzeichen, daß in der SED-Führung nach dem Muster Modernisierung des atomaren und konventionellen von Prag 1968 Pläne verfolgt wurden, an einer Militär- Arsenals der USA voran; später, im März 1983, kün-- intervention gegen die als „Konterrevolution” ver- digte Reagan Vorbereitungen für ein satellitenge- standene Entwicklung in Polen mitzuwirken [--> Be- stütztes Raketenabwehrsystem („SDI") an. Auch in richt BStU Tantzscher II]. Urlaubssperren in der NVA der Rhetorik, in Reden von dem „Reich des Bösen" machten auch damals schon aufmerksamen Beobach- und über die Ftihrbarkeit von Atomkriegen, spiegelte tern deutlich, daß diese Möglichkeit bestand. Nicht sich die Verschärfung des Kurses gegenüber Moskau. wenige verweigerten prophylaktisch den Wehr- [--> Expertise Loth] dienst. Parallel dazu prägten die Vorgänge in Polen die In der Bevölkerung der DDR gab es viel Respekt für Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses. Es wurde Solidarnosc. Sie war ein Zeichen der Hoffnung. Doch befürchtet, daß die Sowjetunion gegen die unabhän- gab es ebenso Unverständnis und Sorge vor nachtei- gige Gewerkschaft „Solidarnosc", die sich in Polen in ligen Folgen im eigenen Land. Um jeder Solidarisie- der Streikbewegung des Sommers 1980 gebildet und rung entgegenzuwirken, schürte die SED angesichts nach wenigen Monaten schon 10 Millionen Mitglieder der Streiks und der ökonomischen Not bewußt anti hatte, ähnlich restriktiv vorgehen würde wie seiner- -polnische Ressentiments. Das Ausbleiben des be- zeit gegen den Reformkommunismus in der CSSR. fürchteten Einmarsches wurde in der Bevölkerung mit Vor dem Hintergrund eines befürchteten sowjeti- Erleichterung aufgenommen. schen Einmarsches verhängte Ministerpräsident Jaru- zelski im Dezember 1981 das Kriegsrecht. Tausende Für die sich allmählich bildenden politischen opposi- von aktiven Mitgliedern der Gewerkschaft Solidar- nosc kamen in Gefängnisse und Lager. Solidarnosc tionellen Gruppen in der DDR hatten die Entwicklun- gen in Polen eine herausragende Bedeutung. Solidar- arbeitete im Untergrund weiter. nosc zeigte, daß das System nicht allmächtig war, daß Die Verschlechterung der internationalen Konstella- mit Widerstand und durch Opposition grundlegende tionen wirkte sich natürlich auf das Verhältnis der Veränderungen durchgesetzt werden können. Soli- beiden deutschen Staaten zueinander aus. In dieser darnosc war insofern ein wichtiges und ermutigendes Phase schien schon viel gewonnen, wenn das beste- Signal für die Menschen in den anderen sozialisti- hende Beziehungsgeflecht zwischen Ost und West in schen Ländern, die etwas für die Überwindung des Europa und Deutschland erhalten blieb. Für die wei- Systems tun wollten. [--> Mehlhorn, Protokoll Nr. 47] tere Ausgestaltung fehlten die konkreten Bedingun- gen. So ging es im folgenden um Versuche deutscher Die Reaktionen in Westeuropa und speziell in der Schadenbegrenzung innerhalb der verengten Spiel- Bundesrepublik waren zwiespältig. Einerseits gab es räume. eine große Sympathie und eine breite Bereitschaft zur Solidarität. Nach der Verhängung des Kriegsrechtes wurden von der Bevölkerung Millionen von Paketen nach Polen geschickt. Andererseits befürchtete man 5.5.2 Strategien der Anpassung an den Wandel wegen der innenpolitischen Destabi lisierung einen der internationalen Rahmenbedingungen sowjetischen Einmarsch in Polen, eine Unterbrechung der Entspannungspolitik und eine Bedrohung des im 5.5.2.1 Das internationale Agieren deutsch-deutschen Verhältnis Erreichten und Er- der beiden deutschen Staaten reichbaren [Ä --> Garton Ash, Protokoll Nr. 47]. Man- und die Reaktionen auf Solidamosc cher Unterstützung von Solidarnosc wurde mit dem Argument entgegengetreten, m an dürfe das Faß nicht Ohne im einzelnen auf die Entstehungsursachen der zum Überlaufen bringen und dürfe die Sowjetunion Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in Polen einzu- nicht reizen. Hier wirkten die Erfahrungen aus der gehen [--> Wieczorek, Protokoll Nr. 47], kann festge- DDR 1953, Ungarn 1956 und der CSSR 1968 nach. halten werden, daß die Vorgänge der Jahre 1980/81 in Bundeskanzler Schmidt versuchte auf Honecker im Polen für beide deutsche Staaten große Bedeutung Sinne einer größeren Zurückhaltung der Warschauer hatten. Pakt-Staaten gegenüber den Vorgängen in Polen hinzuwirken. Insbesondere warnte er vor den Fol- Die Auswirkungen von Solidarnosc auf die Entwick- gen einer militärischen Inte rvention sowie vor den lung in der DDR sind in ihrer Bedeutung kaum zu Konsequenzen des in Polen ausgerufenen Kriegs- überschätzen. Für die SED ging von Solidarnosc eine rechts. Bedrohung ihrer Machtbasis aus; so befürchtete sie auch die „Sozialdemokratisierung" der PVAP. Sie So tritt mit den Ereignissen in Polen ein wesentliches reagierte unmißverständlich. Der visafreie Reisever- Moment der zweiten Phase der Ost- und Entspan- kehr wurde abgebrochen; die gegenseitige p rivate nungspolitik in Erscheinung, das die achtziger Jahre Einreise wurde erschwert und oftmals unmöglich bestimmen sollte und immer wieder zu Auseinander- gemacht. Beziehungen zur Solidarnosc wurden ver- setzungen geführt hat. Man erwartete auf westlicher folgt. Seite, mit dieser Politik Schritt für Schritt eine Libera- Es wird in weiteren Forschungsarbeiten zu untersu- lisierung in den Ländern des Sowjetsystems erreichen chen sein, wie weit die Planung in der Staatsführung zu können; denn man hatte damit in den siebziger vorangeschritten war, sich an einem möglichen Ein- Jahren gute Erfahrungen gemacht. Veränderungen marsch in Polen zu beteiligen. Es gibt jedenfalls im Osten schienen in erster Linie durch die Regierun-

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gen, also von oben, erreichbar zu sein, was eine Die Sowjetunion sollte dazu gebracht werden, im gewisse Stabilität ihrer Herrschaft voraussetzte. Eine Interesse stabiler gegenseitiger Abschreckung auf Veränderung aus den Gesellschaften heraus wurde- ihre eurostrategische Op tion zu verzichten. Helmut von kaum jemandem für möglich gehalten, auch bei Schmidt unternahm äußerste Anstrengungen, als Dol- und nach Solidarnosc nicht. Gerade in bezug auf die metscher und Vermittler die beiden Großmächte für Polenpolitik wird heute — wie damals schon von der die Verhandlungslösung zu gewinnen. Je mehr sich Solidarnosc selbst — der Vorwurf erhoben, daß ange- deren Unwahrscheinlichkeit abzeichnete — die sichts der Erfahrungen mit Solidarnosc der Primat der Sowjetunion war erst ab November 1981 zu Verhand- Stabilität durch die aufkommenden Oppositionsbe- lungen bereit —, desto mehr schwand in der SPD die wegungen fragwürdig wurde. Auf die Frage, ob hier Bereitschaft, den Stationierungsteil des Doppelbe- ein Paradigmenwechsel der Ostpo litik notwendig und schlusses und die damit verbundenen Risiken mitzu- machbar gewesen wäre, ist die Antwort umstritten. tragen. Die Verwirklichung der sicherheitspolitischen Kon- zeption der NATO hing weitgehend von der Bundes- 5.5.2.2 Die Nachrüstungsdiskussion republik ab. Auf sie konzentrierten sich auch die propagandistischen Bemühungen der Sowjetunion Der NATO-Doppelbeschluß aus dem Jahre 1979 war und der DDR zur Verhinderung der Nachrüstung. Eine Nichteinwilligung in die Stationierung amerika- ein wesentlicher Eckpfeiler in den internationalen nischer Raketen würde den Zusammenhalt des Bünd- Rahmenbedingungen Anfang der achtziger Jahre. nisses und das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Die Bundesrepublik spielte dabei eine wich tige Rolle. Bundesrepublik als Bündnispartner untergraben — so Einerseits war sie das Land im Zentrum Europas, in dem der wesentliche Anteil der neuen Mittelstrecken- lautete im folgenden eines der Hauptargumente der raketen stationiert werden sollte, andererseits drängte Nachrüstungsbefürworter. Den Gegnern der Nachrü- stung wurde vorgehalten, den politischen Aspekt der gerade sie in den Folgejahren auf Verhandlungen, um eine Stationierung unnötig zu machen. Mit der — z. T. Bündnisfrage und der Unabhängigkeit Westeuropas auch von der Regierung Schmidt geteilten — Sorge, nicht zu erkennen. Durch den eingeengten Blick auf den sicherheitspolitischen Aspekt der Nachrüstung daß die Verhandlungen nicht mit der nötigen Ernst- haftigkeit geführt werden könnten, wuchs insbeson- würden sie damit faktisch die Position Moskaus dere in Deutschland und in den Niederlanden der begünstigen. [--> Rühl, Stützle, Protokoll Nr. 51] Widerstand gegen die in Aussicht genommene Statio- nierung. Sowohl für die Nachrüstungsbefürworter in Deutschland wie auch für ihre Gegner läßt sich sagen, 5.5.2.2.2 Kritiker und Gegner daß beide — trotz fundamentaler Unterschiede und sehr verschiedener Problemwahrnehmung — neben 5.5.2.2.2.1 Die Friedensbewegungen den Sicherheitsfragen ebenso den besonderen Hori- in der Bundesrepublik zont gemeinsamer deutscher Interessen im Blick hat- ten. In den Friedensbewegungen der Bundesrepublik sammelten sich zum Teil sehr verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppierungen. Zu diesen 5.5.2.2.1 Befürworter des gehörten auch solche, die antiamerikanisch argumen- NATO-Doppelbeschlusses tierten und die Bedrohung des Westens durch die SS 20 ausblendeten, wie etwa die DKP. Der kleinste gemeinsame Nenner der westlichen Friedensbewe- Die Stationierung der sowjetischen SS 20 warf für die gungen war die Ablehnung des Nachrüstungsbe- Atlantische Allianz die Frage der Glaubwürdigkeit schlusses. Es wurde bestritten, daß mit einer Stationie des amerikanischen atomaren Schutzes insbesondere rung von Pershing II und Cruise missiles mehr Sicher- für die nichtatomaren Allianzmitglieder in Westeu- heit erreichbar wäre. Statt Abrüstung zu befördern, ropa auf. Bundeskanzler Schmidt warnte seit seiner werde die Rüstungsspirale weitergedreht. Durch die Londoner Rede vom 28. Oktober 1977 davor, daß Verkürzung der Vorwarnzeiten und die Gefahr der durch das sowjetische eurostrategische Raketenarse- möglichen Erstschlagskapazität erhöhe sich das nal ein Zustand unterschiedlicher Sicherheit im Bünd- Risiko, besonders für Deutschland. Durch eine Trans- nis zwischen Nordamerika und Westeuropa entstehe, zendierung der ohnehin schon risikoreichen Ab- welcher der Sowjetunion Pressionsmöglichkeiten an schreckungslogik, die auf der Zweitschlagskapazität and gebe, ein einheitliches H andeln der Allianz die H des Gegners beruht, werde nun versucht, diese aus- zu verhindern. Schmidts ursprüngliches Ziel war die zuschalten und einen Atomkrieg führbar zu machen. Einbeziehung der eurostrategischen Mittelstrecken- In dieser Argumentation fühlte man sich später ange- raketen in die von den Großmächten geführten SALT- sichts des amerikanischen SDI-Programms bestätigt. Verhandlungen. Dies gelang nicht. Statt dessen Wesentliche Argumente waren darüber hinaus die schlug Carter vor, gegebenenfalls im Gegenzug Per- Furcht vor einer Militarisierung von Wi rtschaft und shing II und Cruise missiles in Westeuropa zu statio- Gesellschaft sowie der Hinweis auf die globale nieren. So kam es in der Folge zum NATO-Doppelbe- Dimension der Nord-Süd-Problematik. schluß des Jahres 1979, der von allen Parteien. des Bundestages getragen wurde, wenngleich sich die Gerade auf deutschem Boden standen sich die beiden Haltung der Mehrheit in der SPD in den darauffolgen- Machtblöcke unmittelbar gegenüber. Stationierungs den Jahren änderte. orte von Raketen würden in besonderer Weise zur

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Zielscheibe. Bundesrepublik und DDR würden damit West ergaben. Es kam zu einer Fülle von Kontakten auf einem qualitativ neuen Niveau zur Aufmarsch- mit Teilen der westdeutschen Friedensbewegungen basis der Drohpotentiale der beiden Systeme und im über die Grenzen hinweg. Allerdings ist auch festzu- Falle eines Krieges zu dessen Schlachtfeld. So spielte halten, daß diese Kontakte in den westlichen Frie- in einigen Teilen der Friedensbewegungen das Argu- densbewegungen zum Teil hef tig umstritten waren ment, im Falle eines Atomkrieges sei gerade Deutsch- und insbesondere von kommunistischen Gruppen land betroffen, eine wich tige Rolle — ein Aspekt, der bekämpft wurden. Außerdem wurde in der DDR in noch stärkerem Maße für die Friedensbewegungen versucht, in Kontakt mit polnischen und tschechischen in der DDR zutrifft [--> Weisskirchen, Protokoll Gruppen, mit Solidamosc und der Charta 77 zu treten, Nr. 51]. auch wenn es hier oft nur zu Kontakten einzelner kam. Für die Kritiker und Gegner der Nachrüstung wurden 5.5.2.2.2.2 Die Friedensbewegungen in der DDR gemeinsame deutsche Interessen deutlich, gingen sie doch von der besonderen Bedrohung beider deut- Die SED machte nach innen und im Rahmen ihrer schen Staaten aus. Die Friedensbewegungen in der deutschlandpolitischen Stellungnahmen eine inten- DDR wollten blockübergreifend wirken und sich sive Propaganda gegen die geplante Nachrüstung der sowohl gegen die Vernichtungswaffen im eigenen als NATO und unterstützte nach Kräften die Friedensbe- auch in dem anderen System wehren [--> Poppe, wegungen im Westen, damit und solange diese nur Protokoll Nr. 51]. Für viele spielte zudem eine für alle die amerikanischen Mittelstreckenraketen und nicht Deutschen aus der Geschichte erwachsende Verant- die Bedrohung durch die SS 20 zum Thema machten. wortung für den Frieden eine wesentliche Ro lle Das führte zu dem Mißverständnis, als lägen die [--> Meckel, Protokoll Nr. 51]. Kirchen und die Friedensbewegungen in der DDR in ihrer Ablehnung der Nachrüstung auf der Linie der Die Enquete-Kommission hat sich verschiedentlich SED [--> Besier, Schröder, Meckel, Protokoll Nr. 56]. mit der Frage beschäftigt, welche Folgen die Nachrü- stung auf die Entwicklung der deutschen Frage Viele in der DDR, die sich dann in den Kirchen und gehabt hat. In der Retrospektive wird dabei zugunsten Gruppen gegen die Nachrüstting engagierten, sahen der Nachrüstung angeführt, daß ihr Konzept sich in sich nicht nur durch das herrschende System entmün- der späteren Entwicklung voll erfüllt habe. Dies zeige digt, sondern auch durch die risikoreiche Sicherheits- sich vor allem darin, daß die Sowjetunion in der politik beider Blöcke in ihrer Existenz bedroht. Das strategischen Rüstungskonkurrenz ihre Kräfte er- forderte sie zu eigenem, selbständigem politischen schöpft habe. Die Hochrüstung habe demnach Handeln heraus. Ein solches aber war in dem System wesentlich dazu beigetragen, die strukturelle Wirt- nicht vorgesehen. Obwohl die Friedensgruppen zu schaftskrise und damit den Zerfall des Sowjetsystems Beginn durchaus noch nicht als politische Opposi tion zu beschleunigen und die Ressourcen für deren Kor- anzusprechen sind, wurden sie durch die Überlegun- rektur aufzubrauchen. Demgegenüber wurde betont, gen über Abrüstung nach außen und innen, durch die daß die von den Gegnern der Nachrüstung betonten Entwicklung alternativer Vorstellungen von Frie- Risiken zwar nicht voll wirksam geworden sind, weil denssicherung und gesellschaftlicher Friedensgestal- Gorbatschow eine neue Politik begonnen habe, durch tung von der SED als hochgradig oppositionell ange- die sicherheitspolitisch dann neue Wege möglich sehen, als staatsfeindlich empfunden und entspre- wurden, ihre Begründung damit aber nicht widerlegt chend behandelt. [--> Garstecki, Protokoll Nr. 51] sei. Erst durch die Entspannungs- und Friedenspolitik Die Argumente gegen die SS 20 und die Nachrüstung habe ein Klima des Vertrauens entstehen können, in ähnelten denen der Friedensbewegungen im Westen dem der Aufbruch zur Demokratie und der W andel im und wurden im Kontakt mit diesen weiterentwickelt. sowjetischen Machtimperium möglich geworden Um eigene und selbständige politische Posi tionen seien Eppler, Protokoll Nr. 52]. öffentlich vertreten zu können, mußte man sich gleich- zeitig der Versuche der SED erwehren, genau dies zu verhindern, selbst da, wo diese Positionen partiell mit 5.5.2.3 Versuche der Schadensbegrenzung denen der SED übereinstimmten. Auf diese Weise durch eine „Koalition der Vernunft" wurde das Engagement gegen die Nachrüstung sehr schnell zur Auseinandersetzung mit dem politischen Der Streit um die Nachrüstung wurde in der Bundes- System, in dem man lebte. Ökologie-, Dritte-Welt- republik zugunsten der Umsetzung des NATO-Dop- und Menschenrechtsgruppen machten in ihrem selb- pelbeschlusses entschieden. Nach einem langen Dis- ständigen politischen Wirken ähnliche Erfahrungen kussionsprozeß innerhalb der SPD stellte sich die wie die Friedensgruppen. So wurde aus diesen der Mehrheit der Partei gegen die Nachrüstung. Neben Anfang der Oppositionsbewegung in der DDR. Wich- anderen Fragen (v. a. allem wirtschaft licher Art) war tig war für diese Entwicklung die Arbeit der Kirchen auch diese Entwicklung ein Grund für das Auseinan- seit den siebziger Jahren, in welcher die Friedens- derbrechen der sozialliberalen Koalition. Nach der frage intensiv behandelt wurde. [--> Garstecki, Proto- Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler wurde der koll Nr. 51] NATO-Doppelbeschluß umgesetzt. Am 22. November Für die Entwicklung der deutsch-deutschen Bezie- 1983 beschloß der Deutsche Bundestag gegen die hungen sind die vielen verbindenden Elemente der Stimmen der SPD und der Grünen, Pershing II und Friedensbewegungen wich tig, die sich aus dem Cruise missiles zu stationieren. Helmut Kohl setzte Gefühl der gemeinsamen Bedrohung von Ost und nicht nur in bezug auf die Nachrüstung die Politik

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Helmut Schmidts fo rt. Befürchtungen, die innerdeut- der Mitte der Wasserstraße [Talweg]) waren Ausdruck schen Beziehungen würden sich nach dem Regie- der verhärteten Ost-West-Beziehungen. Mit dem rungswechsel in Bonn verschärfen, haben sich nicht Treffen Schmidt-Honecker im Dezember 1981 wur- bewahrheitet. den sie schon modifiziert, d. h. es hieß „Respektie- rung" und nicht mehr „Anerkennung" der Staatsbür- Erst später ist bekannt geworden, daß führende Poli- gerschaft. Ein wenigstens punktuelles Entgegenkom- tiker der CDU/CSU (z. B. Walther Leisler Kiep, Peter men, besonders bei der Elbegrenze, wurde zwar von Lorenz, Gerhard Stoltenberg, Ottfried Hennig) mit der SED stetig angemahnt, seine Erfüllung aber zu Rückendeckung des Parteivorsitzenden Helmut Kohl keinem Zeitpunkt zur Vorbedingung für den Fortgang schon seit Mitte 1975 Gespräche mit DDR-Offiziellen des innerdeutschen Verhandlungsprozesses gemacht. geführt haben. In diesen vertraulichen Gesprächen Allerdings gab es einzelne Modifizierungen — so wurde die Absicht zur Weiterführung der Kooperation stellten einige SPD-Länder die Zahlungen für Salzgit- mit der DDR für den Fall einer Regierungsübernahme ter ein, u. a. weil diese Aufgaben von den Länderju- durch die Union angekündigt. Im Kern ging es um die stizbehörden wahrgenommen werden könnten — und Vorbereitung von Kontakten bei einer Regierungs- eine De-facto-Aufwertung der DDR durch die Bundes- übernahme durch die Union. Ottfried Hennig meinte regierung und die Parteien. Gemessen an den Geraer sogar, die DDR werde mit einer CDU-geführten Forderungen blieb die Politik des SED-Regimes Regierung besser zurechtkommen können, da konser- jedoch vergleichsweise erfolglos. In der Kernsub- vative Politiker weit mehr Möglichkeiten der Zusam- stanz, der Staatsbürgerschaft, wurde nichts von der menarbeit hätten als eine labile sozialliberale Regie- Bundesrepublik preisgegeben. rung. [--> Expertise Potthoff] Während die Sowjetunion nach dem Nachrüstungs- Insgesamt führte die Regierung Kohl/Genscher die beschluß die Verhandlungen in Wien abbrach und die Deutschlandpolitik der Regierung Schmidt/Genscher Ost-West-Beziehungen vorerst auf Eis legte, sprach . Auch sie setzte auf Dialog und Kooperation mit fort sich die DDR-Führung -- ähnlich wie etwa Ungarn — den Mächtigen des SED-Systems und orientierte sich deutlich für die Fortsetzung und Intensivierung von an der Stabilität der DDR, um auf dieser Grundlage Dialog und Zusammenarbeit mit dem Westen aus. Die Erleichterungen für die Menschen und Zusammenar- Bundesgarantie für einen ungebundenen Milliarden- beit zwischen den Staaten zu schaffen und so mit kredit, die Franz Josef Strauß in Gesprächen mit kleinen Schritten die Möglichkeiten zu vertiefen, daß Schalck-Golodkowski eingefädelt hatte, und die die sich Deutsche aus Ost und West begegneten. Auch die DDR später unter anderem mit dem Abbau der neue Bundesregierung ist von der Teilung als Faktum Tötungsautomaten an der Grenze honorierte, mar- ausgegangen, weil sich erst damit Möglichkeiten kierte eine qualitative Weiterentwicklung in der eröffneten, die Folgen der Teilung zu mildem und die Deutschlandpolitik. Der ungebundene Kredit half on durch die Erfahrung der Zusam- Einheit der Nati dem DDR-Regime bei der Überwindung akuter Zah- mengehörigkeit zu stärken. Zwar wurde wieder mehr lungsbilanzprobleme und wirtschaftlicher Schwierig- davon gesprochen, daß die deutsche Frage im Grund- keiten und trug daher maßgeblich dazu bei, das tive satz offen sei, doch entsprachen dem keine opera System ökonomisch und damit auch politisch zu Politik und keine konkrete Perspektive der Vereini- stabilisieren [--> Exper tise Potthoff]. Strauß mußte für gung. Es war mehr eine nach innen gerichtete Rheto- diesen Schritt auch im eigenen Lager hef tige Kritik rik, die nach außen eher Irritationen weckte. einstecken. Beide deutschen Staaten waren auch nach dem Nach- Die Milliardenkredite, Reise- und Ausreiseerleichte- rüstungsbeschluß im Deutschen Bundestag und dem rungen sowie die Verstärkung des Innerdeutschen darauffolgenden Beginn der Stationierung von sowje- Handels sind Mitte der achtziger Jahre Zeichen des tischen atomaren Kurzstreckenwaffen in der DDR und intensiven Kooperationswillens beider. deutschen der CSSR daran interessie rt, die deutsch-deutschen Staaten. Da die Bundesregierung sich anders als die Kontakte und die Kooperation nicht abreißen zu vorherige bei dieser Deutschlandpolitik auf die lassen, wenn möglich sogar auszuweiten. In der Bun- Zustimmung der Opposition verlassen konnte und das desrepublik wurde dieser Wunsch von Regierung und Interesse der DDR-Führung aus ökonomischen Grün- on geteilt. Das inte rnationale Klima sollte sich Oppositi den sehr groß war, kam es in den deutsch-deutschen v auf die Deutschlandpolitik auswirken; nicht negati Beziehungen zu Fortschritten, die vorher in diesem „Schadenbegrenzung" wurde zu einem vielfach Umfang nicht möglich gewesen waren. Sowohl die benutzten Begriff. Bundeskanzler Kohl signalisierte Häftlingsfreikäufe als auch die Zahl der Besuche und folgerichtig, daß die Bundesregierung an guten Kon- Ausreisen von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik takten zur DDR interessiert sei und nichts zu ihrer stiegen stark an [--> Kohl, Protokoll Nr. 53]. Diese, von Destabilisierung unternehmen werde [--> Exper tise Honecker und Kohl als„Koalition der Vernunft” und Potthoff]. als „Verantwortungsgemeinschaft" bezeichnete Poli- Die sogenannten vier Geraer Forderungen vom Okto- tik der Zusammenarbeit beider deutschen Staaten ber 1980 (Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft stieß jedoch spätestens mit dem zweiten Milliarden- vor allem durch Verzicht auf die Ausstellung von kredit im Sommer 1984 an die Grenzen ihrer H and- westdeutschen Reisepässen für DDR-Bürger durch lungsspielräume und rief Mißtrauen und Irritationen Behörden der Bundesrepublik; Auflösung der „Zen- in beiden Blöcken hervor [--> Expertise Jäger; Daschi- tralen Erfassungsstelle" in Salzgitter, einer Einrich- tschew, Protokoll Nr. 49]. Die sowje tische Politik ver- tung der Länderjustizminister; Umwandlung der Stän- schärfte ab 1984 ihre Kampagne gegen Bonn, etwa mit digen Vertretungen in Bonn und Ost-Berlin in Bot- dem Revanchismusvorwurf; indirekt wollte sie damit schaften; Festlegung des Grenzverlaufs an der Elbe in auch die DDR treffen. Im Gefolge dieser Reaktionen

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 der östlichen Führungsmacht mußte E rich Honecker Auch wenn Gorbatschow noch bis zu Beginn des seinen bereits detailliert für Ende September 1984 Jahres 1990 gegen die staatliche Vereinigung der geplanten Besuch in der Bundesrepublik verschieben. Deutschen war [—> Ruffmann, Protokoll Nr. 49], so Auch im Westen blieben Irritationen gegenüber Bonn wurde die Absage an die Breschnew-Doktrin, das nicht aus. So machten die USA die Befürchtung Prinzip der Nichtanwendung von Gewalt in Ost- deutlich, die Intensivierung der deutsch-deutschen europa, zur wesentlichen Grundlage für den Sturz des Beziehungen könnte zu Lasten der atlantischen Part- SED-Regimes, für freie Wahlen und dann auch für die nerschaft gehen. Bis etwa zum Jahr 1987 segelten die Möglichkeit der deutschen Vereinigung [--> Daschi- beiden deutschen Staaten somit im Gegenwind der tschew, Protokoll Nr. 49]. Ost-West-Konfrontation. Eine entscheidende Verbes- Die Reaktionen in der bundesdeutschen Politik auf die serung der Handlungsspielräume trat erst mit dem Veränderungen mit Gorbatschow waren nicht ein- del in den internationalen Beziehungen nach Wan heitlich. Daß die SPD und Außenminister Genscher dem Amtsantritt von Gorbatschow ein. darauf drängten, Gorbatschow ernst- und beim Wort zu nehmen, wofür sie Kritik aus der CDU/CSU ein- stecken mußten, stieß auch bei westlichen Partnern 5.5.3 Der Rückenwind der Entspannung zunächst auf mißtrauisches Fragen (Stichwort „Gen- durch Gorbatschow scherismus „ ), welches Interesse die Deutschen damit wohl verbänden. Bundeskanzler Kohl glaubte erst später an die Ernsthaftigkeit der veränderten Politik 5.5.3.1 Veränderungen der internationalen der Sowjetunion und verstieg sich in der Anfangs- Rahmenbedingungen mit Gorbatschow phase sogar zu einem Vergleich Gorbatschows mit und die Reaktionen darauf Goebbels.

Gorbatschow trat innenpolitisch mit einem grundle- genden Reformprogramm an. Die Begriffe Glasnost 5.5.3.2 Deutschlandpolitik in der Zeit und Perestroika waren bald weltweit in a ller Munde. Gorbatschows Die von Gorbatschow angestrebten Reformprozesse in der Sowjetunion erforderten die Umgestaltung der 5.5.3.2.1 Die deutsch-deutschen Beziehungen sowjetischen Außenpolitik im Sinne einer Entschär- fung der Beziehungen zwischen Ost und West sowie Mit der neuen Politik Gorbatschows, der Entdogmati- die Einstellung der gefährlichen, enorme Ressourcen sierung, Entmilitarisierung und vor allem durch den verbrauchenden Konfrontation mit dem Westen. Die größeren politischen Spielraum der sowjetischen Rede vom „Gemeinsamen Haus Europa", die Hervor- Satellitenstaaten verbesserten sich die internationa- hebung menschlicher Werte und der Menschenrechte len Rahmenbedingungen für das deutsch-deutsche statt der bis dahin immer proklamierten„Klassenprin- Verhältnis grundlegend. Beide deutschen Staaten zipien" , die Anerkennung der Priorität des gemeinsa- konnten sich nun in ihrer Deutschlandpolitik in Über- men Überlebens und die Bereitschaft zum Ausgleich einstimmung mit der globalen Ost-West-Entspan- der politischen Interessen sowie schließlich die Been- nung wissen. Entsprechend wurde die Kooperation digung des Afghanistan-Krieges — das a lles waren ausgeweitet. Der Reiseverkehr konnte erweitert wer- Zeichen einer grundlegend neuen Außenpolitik der den, man einigte sich auf das l ange geplante Kultur- Sowjetunion. Als besonders wichtig erwiesen sich die abkommen, Städtepartnerschaften wurden verein- erstaunlichen, von einem „Neuen Denken" ausge- bart. Erich Honecker und Helmut Kohl setzten ihren henden Abrüstungsinitiativen sowie die Aufgabe der Meinungsaustausch nun in einem intensiven B rief- Breschnew-Doktrin, die Gorbatschow in einer gehei- wechsel fort. men Rede während eines Ostblock-Gipfels im November 1986 das erste Mal andeutete [--> Daschi- Vom 7. bis 11. September 1987 kam es zu dem seit tschew, Protokoll Nr. 49]. Im Westen war diese Kon- 1983 geplanten und mehrfach verschobenen Besuch sequenz seit der Rede Gorbatschows in Prag im Januar Erich Honeckers in der Bundesrepublik. Der General- 1987 erkennbar. sekretär der SED wurde mit fast allen Ehren empfan- gen, die dem Staatsoberhaupt eines souveränen Staa- Während die Führung der DDR wenige Jahre vorher tes zustehen. Der feine Unterschied zwischen einem eher gegen Moskau den Kurs zur Zusammenarbeit mit protokollarisch aufgezäumten Arbeits- und einem dem Westen verfolgte, distanzierte sie sich jetzt als offiziellen Staatsbesuch wurde in der Öffentlichkeit erste von der Perestroika, anders als etwa Ungarn und nicht wahrgenommen. Die Gesprächs- und Verhand- Polen. Dieser scheinbare Widerspruch der DDR-Poli- lungspolitik zwischen Bonn und Ost-Berlin seit der tik hat wohl darin seinen Grund, daß die DDR ökono- Unterzeichnung des Grundlagenvertrages 1972 er- misch auf die Zusammenarbeit mit der Bundesrepu- reichte mit diesem Besuch ihren Höhepunkt. blik angewiesen war und noch Ende der achtziger Jahre glaubte, sich gleichzei tig innenpolitischen Ver- Der Besuch Honeckers in der Bundesrepublik war änderungen verweigern zu können. Kurt Hager zwischen den Parteien des Bundestages unumstritten. sprach im April 1987 vom „Tapetenwechsel" in Mos- Später nannte Helmut Kohl ihn „eine der bittersten kau, den die DDR nicht nötig habe. Die SED fürchtete Stunde seiner politischen Laufbahn” [--> Kohl, Proto- mehr als den Kontakt mit dem Westen, den sie glaubte koll Nr. 53]. Erich Mende bezeichnete diesen Besuch kontrollieren zu können, die Peres troika Gorba- in einer Anhörung der Enquete-Kommission gar als tschows, da sie durch diese ihre Herrschaft stärker die „größte Schande der Bundesrepublik in der Nach- gefährdet sah [--> Oldenburg, Protokoll Nr. 49]. kriegsgeschichte, [--> Mende, Protokoll Nr. 52]. Die

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Bewertung des Honecker-Besuches ist bis heute 1989 eine Politik der Kooperation mit der SED auf der umstritten: Kennzeichnen ihn die einen als die Aner- Grundlage einer stabilen und berechenbaren Ent- kennung der Teilung durch die Bundesrepublik, beto-- wicklung in der DDR. Vor dem Bundestag warnte der nen die anderen seine bittere Notwendigkeit, um für Bundeskanzler am 5. September eindringlich: „Wer die Menschen in der DDR etwas zu erreichen. Für diese Stabilität gefährdet, muß wissen, welche Folgen Erich Honecker war dieser Besuch die „Krönung dies für alle Beteiligten hätte" [--> Expertise Jäger]. seines Lebenswerkes". Für ihn unterstrich dieser Noch nach der Öffnung der Mauer, am 11. November Besuch seine Qualifizierung als Staatsoberhaupt eines 1989, versicherte Helmut Kohl Egon Krenz sein Inter- souveränen Staates und den völkerrechtlichen Cha- esse daran, „daß wir zu vernünftigen Beziehungen rakter der Beziehungen zur Bundesrepublik. zueinander kommen" . Erst Ende November 1989, als die Rufe „Wir sind ein Volk" unüberhörbar wurden, In den Wochen vor dem Honecker-Besuch hatte es in veränderte sich die Perspektive. Da war das SED der DDR verstärkt Hoffnungen auf einen neuen, Regime jedoch bereits am Ende. liberaleren Kurs in Richtung der Gorbatschowschen Reformen gegeben. Anlaß dafür waren etwa die Veröffentlichung des Papiers „Der S treit der Ideolo- gien und die gemeinsame Sicherheit" Ende August im 5.5.3.2.2 Die Diskussionen in den Parteien „Neuen Deutschland" sowie der Olof-Palme-Marsch Anfang September 1987, an dem sich viele oppositio- nelle Gruppen mit eigenen Losungen beteiligten, die Seit Mitte der siebziger Jahre und verstärkt in den sie erstmals unbehelligt in der Öffentlichkeit zeigen achtziger Jahren unterhielten alle Parteien der Bun- konnten. Schon seit 1986 gab es einen sprunghaften desrepublik persönliche Gesprächskontakte mit Ver- Anstieg im Reiseverkehr, die Zahl der Reisen stieg von tretern des SED-Staates. Gemeinsam ist allen Parteien 1985 bis 1988 auf dis Zwanzigfache (1,2 Millionen). der Bundesrepublik in den achtziger Jahren, daß es Nach dem Besuch traten zudem Erleichterungen im kontroverse Debatten über die Deutschlandpolitik Paketverkehr ein. gegeben hat. Letztlich ging es allen um die Frage, wie realistisch das Ziel der deutschen Einheit sein könne. Kurze Zeit später schwanden jedoch alle Hoffnungen Als langfristige Perspektive hat keine Partei die Ein- auf eine innenpolitische Öffnung. Verhaftungen im heit Deutschlands aufgegeben, mit der Ausnahme Zusammenhang mit der Durchsuchung der Umwelt- einer bestimmten Strömung innerhalb der Grünen. bibliothek an der Zionskirche in Berlin im November Meist wurde hierbei auf den Rahmen der europäi- 1987 und noch einmal verstärkt im Januar 1988 nach schen Einigung hingewiesen. Parteiübergreifend und der Luxemburg-Demonstration machten deutlich, daß gleichermaßen in Ost wie West glaubte jedoch kaum die DDR-Führung zu Veränderungen nicht bereit war. jemand in den achtziger Jahren an eine baldige In der DDR begann nun bei den oppositionellen Realisierungschance der Vereinigung. Sie stand nach Gruppen die Suche nach neuen Möglichkeiten, allgemeiner ]berzeugung nicht auf der Tagesordnung wirkliche Opposition zu organisieren [-p Protokolle operativer Politik. Hierin fanden sich die Politiker in Nr. 67, 68]. ]bereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit Nach den Januarereignissen 1988 sagte Kanzleramts- der Bevölkerung in der Bundesrepublik. [—> Glaab, minister Schäuble Schalck-Golodkowski vertraulich Protokoll Nr. 51] die Zurückhaltung der Bundesregierung zu, die sich auch daran hielt [--> Expertise Jäger]. Bonn und Auch wenn es parteiübergreifend nicht nur einzelne Ost-Berlin verhandelten weiter über die Erhöhung der Politiker waren, die an der grundlegenden Distanz zur Transitpauschale, über praktische Fragen im Zusam- kommunistischen Diktatur keinen Zweifel ließen, ent- menhang mit dem Verlauf der Elbegrenze, über die wickelte sich in den achtziger Jahren — etwa bei den Öffnung neuer Übergangsstellen und über den Reise- Ministerpräsidenten der Länder — ein Polittourismus und Besucherverkehr sowie über humanitäre Fälle in die DDR, bei dem die fundamentale Differenz [--> Expertise Jäger]. Helmut Kohl erklärte am 1. De- zwischen Demokratie und Diktatur sowie die Frage zember 1988, die Bundesregierung be trachte die der Menschenrechte kaum noch zur Sprache kamen. inneren Schwierigkeiten des politischen Systems in Die DDR wurde vielfach so behandelt, als wäre sie ein der DDR mit Sorge. Sie habe kein Interesse daran, daß normaler Staat. Die Frage seiner demokratischen diese weiter zunähmen. Schäuble vermutete noch am Legitimation spielte eine untergeordnete Rolle. 25. Februar 1989, daß das DDR-Regime trotz a ller Gerade weil es seinen sonstigen Reden am meisten Schwierigkeiten nicht vor dem Zusammenbruch zuwiderlief, sind die an Intimität und Intensität Stehe. Wem an wirklichen Fortschritten gelegen sei, unübertroffenen Kontakte zwischen Franz Josef der müsse auf Evolution und nicht auf Revolution Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski hier setzen. Eine Destabilisierung an der neuralgischen besonders zu erwähnen. Stelle Deutschland würde Reaktionen auslösen, an Da die Quellenlage bezüglich der deutschlandpoliti- denen niemand gelegen sein könne. [--> Exper tise schen Kontroversen innerhalb der bundesdeutschen Jäger] Parteien in den achtziger Jahren unzureichend ist, Obwohl in der Rede Erhard Epplers auf der Gedenk- kann eine abschließende Bewe rtung dieser Diskussio- veranstaltung des Deutschen Bundestages am 17. Juni nen hier nicht erfolgen. Deshalb sollen im folgenden 1989 die Möglichkeit eines raschen Zusammenbruchs einige der unterschiedlichen Positionen lediglich skiz- des DDR-Systems von einem namhaften deutschen ziert werden. Voraussetzung für vertiefendere For- Politiker erstmals öffentlich angesprochen wurde, schungen ist der freie Zugang zu den relevanten verfolgte die Bundesregierung bis zum Spätherbst Archiven.

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Die CDU/CSU KPdSU in der Sowjetunion, mit der PVAP in Polen und mit der SED in der DDR geführt. Von der Regierungs- koalition wurden diese Kontakte kritisch als „Neben- Die deutschlandpolitische Debatte wurde in der Union - über viele Jahre intensiv und kontrovers geführt. außenpolitik" bezeichnet. Nachdem sie die Ostverträge mit Moskau und War- Ihrem neuen Konzept der „Sicherheitspartnerschaft" schau, den Grundlagenvertrag mit der DDR und das folgend, verhandelte die SPD unter der Leitung von Helsinki-Abkommen abgelehnt hatte, trat — wie Egon Bahr in den achtziger Jahren mit der SED auf vorher schon Rainer Barzel — Helmut Kohl für eine Parteiebene verschiedene sicherheitspolitische Vor- Änderung der Politik ein. Im Unterschied zu na tional- schläge aus, die eine chemie- und eine atomwaffen- konservativen Strömungen, die eine Politik der mora- freie Zone in Europa sowie ein Projekt zur Nichtan- lischen Stärke und der politischen Eindämmung for- griffsfähigkeit und zur Vertrauensbildung beinhalte- derten, setzte die Gruppe um Helmut Kohl auf eine ten. Zur Begründung dieser Initiativen wurde heraus- Politik der Kooperation mit der DDR. gestellt, daß diese Vereinbarungen mit der SED und Wenn eine Politik der Wiedervereinigung auch nach die damit verbundenen Zugeständnisse eine hohe wie vor in den Programmen st and, so wurde doch in Verbindlichkeit für den SED-Staat hätten, an welche vielen Reden deutlich gemacht, daß sie jedenfalls die Bundesregierung, die über diese Gespräche fo rt nicht auf der politischen Tagesordnung st and. Die -dauernd informiert wurde, hätte anknüpfen können, Frage der deutschen Einheit wurde — wie in den ohne ihrerseits durch Verhandlungen der Opposi tion anderen Parteien — immer stärker im Kontext der festgelegt zu sein. europäischen Einigung gesehen und angestrebt. Während diese Initiativen in der SPD eine breite Ende der achtziger Jahre gab es im Zusammenhang Unterstützung fanden, gab es über das von der Grund- der Vorbereitung eines neuen Grundsatzprogramms wertekommission der SPD gemeinsam mit der Akade- eine intensive Diskussion in der Union, um aus den mie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED begrenzten operativen Möglichkeiten die program- erarbeitete und am 27. August 1987 veröffentlichte matischen Konsequenzen zu ziehen. So taucht in Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame dieser Zeit z. B. in manchen Texten der Beg riff „Wie- Sicherheit" eine kritische Diskussion. Die Initiatoren dervereinigung" nicht mehr auf, wenn auch natürlich dieses „Streitpapiers" gingen davon aus, daß der die deutsche Frage weiterhin als offen bezeichnet intendierte Streit um Ideologien und geistige Grund- wird [—> Expertise Jäger]. Für diesen Trend der lagen für eine pluralistische Demokratie normal sei. Anpassung der Programmatik an die operative Politik Für ein kommunistisches System jedoch, das auf dem sind die vielbeachtete Rede von Dorothee Wilms, absoluten Wahrheits- und Machtmonopol der herr- damals Bundesministerin für innerdeutsche Bezie- schenden Partei beruht, würde ein solcher offen hungen, in Paris vom Januar 1988 und das sogenannte und öffentlich geführter S treit zur Erosion führen. Geißler-Papier, der Entwurf des Grundsatzpro- [—> Vogel, Protokoll Nr. 53] gramms, wichtige Beispiele. Nach intensiver Diskus- sion wurde letzterer schließlich zurückgewiesen. In den Kirchen der DDR und in einem großen Teil der oppositionellen Gruppen ist das Papier begrüßt und Entsprechend einem breiten Konsens in der Bundes- die Erwartung ausgesprochen worden, daß ein ent- republik ging man noch 1989 von einer unabsehbaren sprechender Streit auf der Grundlage offener Informa- Zeit der deutschen Teilung aus. Ein Beispiel dafür ist tionen und Publikationen nun auch innergesellschaft- die Äußerung Horst Teltschiks, Berater des Bundes- lich möglich wird. Andere haben es abgelehnt, weil kanzlers, daß die Einleitung eines Reformprozesses in sie meinten, daß dieses Papier der üblichen Taktik der der DDR begünstigt werde, je weniger die Staatlich- SED entspreche, sich nach außen hin offen zu geben, keit der DDR in Frage gestellt werde. [—> Vogel, die Repression nach innen aber nicht zu verringern. Protokoll Nr. 53] Die SED-Führung selbst hat das Papier nach erster Ein weiteres Problem waren für die Union die nicht Befürwortung für gefährlich gehalten. Dem entspre- ausgestandenen internen Differenzen um die Oder- chen viele Erfahrungen innerhalb der SED wie in der Neiße-Grenze. Sie belasteten schon vor dem Herbst Bevölkerung, wo man das Papier für eigene politische 1989 das Bild der Bundesrepublik im Ausland und Diskussionen genutzt und die SED in bezug auf die wenig später auch den Vereinigungsprozeß. [—> Ex- von ihr unterschriebenen Aussagen beim Wo rt nahm. pertise Potthoff; Faulenbach, Protokoll Nr. 53] [—> Eppler, Protokoll Nr. 52] Die Einschätzung des SPD/SED-Papiers zum Streit der Ideologien bleibt in der politischen Diskussion bis Die SPD heute umstritten. Auch in der Enquete-Kommission sahen es die einen als ein Dokument der Anerken- Als die SPD 1982 in die Opposition kam und mit nung einer Diktatur, als die Zusprechung der Exi- Genugtuung feststellte, daß die neue Bundesregie- stenzberechtigung und Legitimität für das SED rung ihre Deutschlandpolitik fortsetzte, wollte sie Regime und als Verrat an den demokratischen Werten nicht nur Zuschauer sein und entschloß sich zu direk- an, andere halten es für einen Schritt auf dem Weg zur ten Parteikontakten mit den kommunistischen Par- Erosion der Herrschaft der SED. Diese „Kultur des teien des Ostblocks. In diesen Kontakten sollte inhalt- Streits" sei die offensivste Form der Ostpoli tik gewe- lich gearbeitet, sondiert und deutlich gemacht wer- sen, denn sie habe den Dialog mit Meinungspluralis- den, in welcher Richtung Außen- und Deutschlandpo- mus, Grundwerten und kritischer Systemauseinan- litik von der SPD nicht nur gefordert werde, sondern dersetzung verknüpft. [—> Schmidt, Barzel, Protokoll auch umsetzbar sei. So wurden Parteikontakte mit der Nr. 55; Eppler, Protokoll 52]

Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Innerhalb der SPD entwickelte sich neben den oben zur Regierung der DDR bekannte man sich in den beschriebenen Fragen eine selbstkritische Diskussion Kirchen zu der Verantwortung, die aufgrund der darüber, ob die SPD in den Jahren der Opposi tion schuldhaften deutschen Geschichte auf allen Deut- nicht einen zu sehr etatistischen und sicherheitspoliti- schen liegt. In besonderer Weise kam dies in den schen Ansatz in der Deutschlandpolitik verfolgt habe. Aussagen zur Friedensverantwortung der Kirchen Insbesondere die sich formierende Opposi tion in der zum Ausdruck sowie in den Kontakten zu den Kirchen DDR fühlte sich auch vom Westen immer nur zu einem der östlichen Nachbarn. Da keine Chance gesehen Objekt von Politik gemacht, aber nicht als eigenstän- wurde, die Zweistaatlichkeit Deutschlands zu über- diges politisches Subjekt anerkannt. Dem entspricht winden, wurde sie anerkannt und alles dafür getan, auch ihre Kritik, daß man den Kontakt zu ihr kaum das Trennende zwischen den Staaten zu mindern und gesucht habe. Zwar kann die SPD — im Gegensatz zu die Zusammengehörigkeit der Menschen durch Part- den Regierungsparteien — auf Vertreter aus den nerschaften und vielfältige Begegnungen zu stär- eigenen Reihen verweisen, die sich intensiv um den ken. Kontakt zur Opposi tion und zu den Kirchen in der DDR bemühten, u. a. Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, In den oppositionellen Gruppen entwickelten sich Gert Weisskirchen, Freimut Duve, Jürgen Schmude verschiedene Posi tionen, wobei es keine ausgespro- oder Erhard Eppler. Gefragt wird aber dennoch, ob chen deutschlandpolitische Diskussion gab. Die Zwei- diese Kontakte, die zudem innerparteilich umstritten staatlichkeit Deutschlands wurde vor dem Hinter- waren, nicht unter den opera tiven Möglichkeiten und grund der Geschichte und der europäischen Lage als Notwendigkeiten einer Oppositionspartei blieben. gegeben hingenommen und stand im Grunde nicht zur Debatte. Im Zentrum standen sicherheitspolitische Fragen, Demokratie und Menschenrechte. In diesen Fragen gab es ein breites Interesse an einer Zusam- Die Grünen menarbeit mit entsprechenden Gruppen in der Bun- desrepublik, doch auch mit der Opposi tion in den östlichen Nachbarländern, vor allem mit Charta 77 Bei den Grünen gab es eine Vielzahl von unterschied- und Solidarnosc. Im Zusammenhang der Sicherheits- lichen deutschlandpolitischen Ansätzen, die sich im politik waren Positionen weit verbreitet, die den wesentlichen gegenseitig ausschlossen. Es gab bei Abzug der Siegermächte aus Deutschl and und einen den Grünen eine „realpolitische" Gruppierung, die neutralen Status befürworteten. Andere hielten dies u. a. forderte, die Teilung Deutschlands endgültig nicht für sinnvoll und traten eher für Veränderungen anzuerkennen. Ein sogenannter „nationalpolitischer in den Blöcken sowie letztlich für ihre Auflösung im Flügel" suchte demgegenüber über Bündnisfreiheit Rahmen einer europäischen Friedensordnung ein. den Weg zu einem vereinten, ökologischen und frie- Doch wurde auch an den Abzug der alliierten Truppen densgeprägten Deutschl and. Eine dritte „bewe- aus beiden deutschen Staaten im Rahmen von Abrü- gungspolitische Strömung" wurde vor allem durch stungsabkommen gedacht. Petra Kelly repräsentiert. Diese Strömung propagierte und praktizierte radikale Friedenspolitik von unten im Schulterschluß mit Gleichgesinnten in der DDR. 5.5.4 Probleme und offene Fragestellungen Als Besonderheit der Grünen bleibt festzuhalten, daß sie als einzige Partei nicht überwiegend den Dialog Für die Deutschlandpolitik in den achtziger Jahren mit der Staats- und Parteiführung in der DDR führten, sollen abschließend einige grundsätzliche Probleme sondern mehr und früher als alle anderen Parteien den in Form von offenen Fragestellungen angesprochen Dialog mit oppositionellen Gruppen suchten und die werden. Repressionen in der DDR härter und offener kritisier- ten [--> Expertisen Potthoff, Jäger ] . Mit Solidarnosc hatte sich Anfang der achtziger Jahre gezeigt, daß eine kommunistische Diktatur aus der Gesellschaft heraus ins Wanken gebracht werden kann. Inwiefern hätten Regierungen, Parteien und 5.5.3.2.3 Deutschlandpolitische Perspektiven gesellschaftliche Gruppierungen im Westen auf den in der Diskussion der Kirchen und inneren Wandel im Osten anders und frühzeitiger in den oppositionellen Gruppen der DDR antworten können? Zu fragen ist, warum die weitrei- chenden Veränderungen der sowje tischen Außenpo- In der breiten Bevölkerung der DDR gab es keine litik durch Michail Gorbatschow, die zur Aufgabe der wirklich wahrnehmbare Debatte über deutschlandpo- Breschnew-Doktrin geführt haben, nicht früher im litische Fragen. Auch in den achtziger Jahren hatten Westen aufgenommen wurden. Welche Handlungsal- die meisten Menschen durch die Medien und für viele ternativen hätten sich für den Westen und insbeson- ebenso durch Verwandtschaft einen engen Bezug zur dere die Bundesrepublik dabei ergeben? Zu fragen ist Bundesrepublik; gleichwohl wirkten auch manche auch, ob es veränderte Handlungsspielräume gab, ob Vorurteile nach, die durch die ideologische Propa- diese im Westen adäquat wahrgenommen wurden ganda der SED geprägt waren. und warum sie möglicherweise nicht erkannt worden sind. Oder hätte ein frühzeitiger Kurswechsel der In den evangelischen Kirchen war die Ost-Denkschrift Politik des Westens störend wirken können? In weite- der EKD von 1965 mitgetragen worden, entsprechend ren Forschungsarbeiten wird insbesondere auch zu wurde die Ost- und Deutschlandpolitik der soziallibe- untersuchen sein, inwiefern der tiefgreifende Wandel, ralen Koalition begrüßt und unterstützt. Im Gegensatz der sich in Polen vollzog, in den anderen Staaten

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Osteuropas aufgenommen wurde, wie die neuen Trä- — Genauer zu untersuchen ist, ob und inwieweit das ger dieses Wandels gesehen worden sind und wie mit vielfältige Kontaktgeflecht mit dem Westen zu ihnen umgegangen wurde. - einer gewissen Zivilisierung des SED-Staates bei- trug, ob alle Spielräume wirklich ausgeschöpft Ferner ist zu untersuchen, ob und warum der Westen wurden und ob von außen eine Liberalisierung des und speziell die Bundesrepublik die sich bildenden Systems hätte erwirkt werden können. Oppositionsbewegungen zu wenig unterstützt und in ihrer Bedeutung verkannt haben. Erkennbar ist, daß — Für die künftige Außenpolitik stellt sich die Frage, es ein Gefälle zwischen der Intensität von Kontakten welche Möglichkeiten staatliches sowie gesell- auf Regierungs- und Oppositionsebene gab. Auf wel- schaftliches Handeln hat, um die Herausbildung che Weise hätte den Oppositionsgruppen wirksam von Bürgergesellschaften in Osteuropa zu fördern. geholfen werden können? Regierungshandeln allein Es gilt, den Helsinki-Prozeß zu intensivieren und hat es jedenfalls nicht vermocht, die deutsche Verei- die Zusammenarbeit auf gesellschaftlicher Ebene nigung herbeizuführen. Doch hat die erste Phase der in ganz Europa wesentlich zu verstärken. Entspannungspolitik dazu beigetragen, Rahmenbe- — Deutsche Außenpolitik muß dazu beitragen, eine dingungen zu schaffen, in denen die Menschen in der gesamteuropäische Perspektive zu erarbeiten, die DDR selbstbestimmt und politisch verantwortungsbe- von Ost und West Anpassungsleistungen erfordert. wußt handelten. Gegen die SED-Diktatur setzten sie Den ost- und mitteleuropäischen Reformstaaten schließlich ihre eigene Freiheit durch und ermöglich- muß dabei die Möglichkeit für die politische, ten so die deutsche Einheit. Die Konstruktion einer wirtschaftliche, soziale, ökologische und sicher- kontinuierlichen „Wiedervereinigungspolitik" von heitspolitische Integra tion gegeben werden. Adenauer bis Kohl, die dann zur deutschen Einheit geführt habe, wird den historischen Tatsachen nicht — Die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn sind gerecht. so zu gestalten, daß die Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren. Zur weiteren Aussöhnung mit Zu fragen ist, ob sich der Blickwinkel in der Entspan- dem tschechischen Volk gehört nicht zuletzt ein nungspolitik zu sehr auf die gouvernementale Praxis Wort der vertriebenen Sudetendeutschen über den verengt hat und was nötig gewesen wäre, um die Beitrag der Mehrheit ihrer damaligen politischen Entspannungspolitik zu erweitern, damit sie die Vertreter zu der Zerstörung des tschechoslowaki- gesellschaftliche Komplexität komplementär unter- schen Staates in den dreißiger Jahren. stützt hätte. Zu fragen ist auch, ob es verständliche Gründe für diese Praxis der Entspannungspolitik gab — Das Verhältnis zu Polen hat für das vereinte und ob dabei Unterschiede zwischen den Regierun- Deutschland und darüber hinaus für Europa eine gen und der Opposition festzuhalten sind. Auch hier besondere Bedeutung. Versöhnung und Partner- besteht ein weiterer Forschungsbedarf. Dabei ist schaft müssen die deutsch-polnischen Beziehun- gerade für eine Beurteilung der Erfolge und Defizite gen bestimmen. Die endgültige völkerrechtliche der Entspannungspolitik nach ihren verschiedenen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war eine Entwicklungsphasen zu differenzieren. Diese Fragen freie und souveräne Entscheidung der Deutschen. sind aus der heutigen Perspektive nicht abschließend Sie als Preis für die deutsche Einheit anzusehen, zu beantworten. hieße, die politisch-moralische Dimension dieser Entscheidung zu schwächen und ihre Dauerhaftig- Dies gilt auch für die Beurteilung, welchen Einfluß der keit in Frage zu stellen. Helsinki-Prozeß auf die politisch-gesellschaftlichen Strukturen der osteuropäischen Länder, insbesondere — Die schwierigen Probleme des Vereinigungspro- die Entwicklung der Oppositionsbewegungen, ge- zesses dürfen nicht zu einer Flucht in den Nationa- habt hat. Es ist der Frage nachzugehen, inwiefern die lismus führen. Unsere nationalen Interessen müs- drei „Körbe" — insbesondere Korb III — zur Ermuti- sen mit denen der europäischen Partner zusam- gung und Entfaltung der Oppositionsbewegungen mengeführt werden. " beigetragen haben. War der Helsinki-Prozeß Auslöser oder Katalysator des demokratischen W andels und inwieweit konnten sich die Oppositionsbewegungen 5.6 Sondervotum des Mitglieds der Gruppe auf Helsinki berufen? Bündnis 90/Die Grünen, Abg. Poppe, und des In der Folge der Erfahrungen aus der Ost- und Sachverständigen Mitter Deutschlandpolitik sollen für eine künftige Außenpo-- litik einige Fragestellungen hervorgehoben werden. 5.6.1 Die Bedeutung der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc für die — Es stellt sich das Problem, welche Lehren aus der Entwicklung in der DDR und die Vergangenheit, aus der Auseinandersetzung über innerdeutschen Beziehungen Systemstabilität und Menschenrechte, zu ziehen sind, wenn heute und künftig das Verhältnis zu „Für die Veränderung der politischen Rahmenbedin- diktatorischen Systemen und fundamentalisti- gungen in den achtziger Jahren war die 1980 gegrün- schen Regimen betrachtet wird. Konsens ist, daß dete unabhängige polnische Gewerkschaftsbewe- eine aktive Menschenrechtspolitik eine wesentli- gung „Solidarnosc" von besonderer Bedeutung. che Dimension der Außenpolitik eines demokrati- schen Staates sein muß. So darf das Eintreten für Bereits in den siebziger Jahren hatte sich in Polen Freiheit und Demokratie nicht anderen außenpoli- infolge der brutalen Niederschlagung einer Arbeiter tischen Zielen geopfert werden. revolte in Radom-Ursus 1976 mit dem „Komitee zur Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode

Verteidigung der Arbeiter", dem späteren „Komitee Intervention — wie 1968 bei der Niederschlagung des zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung" (KOR), ein Prager Frühlings — war deutlich spürbar.

Kristallisationskeim für die demokratische Opposi tion

in Polen entwickelt. Auf juristischen und finanziellen Nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen war

Wegen unterstützte KOR verfolgte Arbeiter und bil- die Einstellung der ostdeutschen Bevölkerung sowohl

dete somit die erste Ins titution der selbstorganisierten von der Ablehnung dieser Maßnahme geprägt als

Gesellschaft [-> Wieczorek, Protokoll Nr. 47]. KOR auch gleichzeitig von einem Gefühl der Erleichterung

konnte sich dabei schnell auf ein Netzwerk von darüber, daß der befürchtete Einmarsch ausblieb und Unterstützergruppen in den größeren Städten stützen die Polen ihre Angelegenheiten nun intern regel-

und sich durch eine Vielzahl von Untergrundverlagen ten. und -druckereien mit unzensie rten Informationen an die Öffentlichkeit wenden. Dadurch gelang es ihm, Obwohl sich mit der „Solidarnosc" die Hoffnungen das staatliche Medienmonopol zu unterlaufen und auf Veränderungen in der DDR nicht in dem Maße langsam eine Gegenöffentlichkeit zu organisieren entwickelten wie zu Zeiten des Prager Frühlings, [-> Expertise Mehlhorn]. schlug die polnische Gewerkschaftsbewegung „ein Seit Mitte der siebziger Jahre wurde diese Entwick- Loch in die Mauer und damit in die Existenzbedin- gung des SED-Staates" [-> Mehlhorn, Protokoll lung in Polen auch von ostdeutschen oppositionellen Kreisen aufmerksam verfolgt. Für sie stellte das Pro- Nr. 47]. Die sich langsam formierenden Opposi tions- gruppierungen wurden nachhaltig von den Aktivitä- gramm von KOR, obwohl die polnische Situation nicht auf die ostdeutsche übertragbar war, mit den Forde- ten und politischen Erklärungen der „Solidarnosc" rungen nach öffentlichem und solidarischem Han- beeinflußt und erkannten, daß der „paktgebundenen deln, nach Erlangung von Räumen unzensierter Kom- Vernetzung der Machthaber" die „Vernetzung der Unterdrückten" entgegengesetzt werden mußte munikation für die Gesellschaft und nach Widerstand [-> Eppelmann, Protokoll Nr. 47]. Besonders haben durch soziale Bewegung statt des Marsches durch und die deutsch-polnischen Diskussionen über die Über- in die Institutionen „durchaus eine Erleuchtung" dar windung der europäischen und der deutschen Teilung [-> Mehlhorn, Protokoll Nr. 47]. wichtige Impulse bei Teilen der Opposi tion in der

Nachdem es in Polen zu einer Annäherung zwischen DDR ausgelöst.

Christen und Linken auf der gemeinsamen Basis des

Vorranges der Menschen- und Bürgerrechte vor son- Die SED ihrerseits wurde zwar zu keiner Zeit mit der stigen politischen und ideologischen Op tionen kam, realen Möglichkeit konfrontiert, daß die Entwicklung waren Ansätze einer solchen Entwicklung auch in der in Polen auf die DDR übergreifen könnte. Sie sah sich

DDR festzustellen [-> Exper tise Mehlhorn]. aber zur Abgrenzungspolitik auch gegenüber dem

Osten gezwungen, wodurch sie sich zwangsläufig Mit der Gründung der „Solidarnosc" entstand eine in international noch weiter isolieren mußte. kürzester Zeit große Teile des polnischen Volkes erfassende Bewegung. Die SED reagierte sofort auf Die Reaktionen in Westeuropa und insbesondere in die diese Entwicklung. Noch vor der offiziellen Zulas- der Bundesrepublik Deutschl and auf die Entwicklung sung der „Solidarnosc" im November 1980 bezeich- in Polen waren sehr gespalten. Einerseits betrachteten netete sie die polnischen Ereignisse als Konterrevolu- die bundesdeutschen Parteien die polnischen Ereig- tion und setzte den seit 1971 bestehenden visafreien nisse als Ergebnisse der Entspannungspolitik, ande- Reiseverkehr mit Polen aus. Gleichzeitig startete sie rerseits sahen sie in ihnen aber auch eine Destabili- eine gezielte Desinformations- und Hetzkampagne, sierung des Status quo. Besonders fürchteten sie eine um damit Ressentiments und Vorurteile in der ost- Bedrohung des bisher Erreichten in den deutsch- deutschen Bevölkerung gegenüber dem polnischen deutschen Beziehungen. Daraus erklärt sich auch die Volk wiederzuerwecken. Zudem wurden Kontakte sehr ambivalente Haltung der Bundesregierung zur von DDR-Bürgern zu Personen der „Solidarnosc" Entwicklung in Polen, insbesondere nach der dortigen systematisch verfolgt und unterbunden. Selbst eine Verhängung des Kriegrechts. Verbal solidarisierte militärische Niederschlagung der „Solidarnosc"- sich die Bundesregierung zwar mit der „Solidarnosc", Bewegung wurde von seiten des SED-Regimes kon- vor allem setzte sie aber auch weiterhin auf den Dialog kret in Erwägung gezogen [-> Mehlhorn, Protokoll mit den Machthabern und akzeptierte stillschweigend Nr. 47; Bericht BStU (Tantzscher II)]. die Verhängung des Kriegsrechts [-> Garton Ash,

Die Haltung der ostdeutschen Bevölkerung zu den Protokoll Nr. 47]. Ereignissen in Polen war ambivalent. Zunächst hoff- ten viele Menschen, daß es den Polen gelingen würde, Die Tragweite der Demokratiebewegung in Polen den Herrschenden ein Stück Freiheit abzutrotzen, und sowie der davon ausgehenden Initialwirkung auch für daß sich dadurch auch die Zustände in der DDR oppositionelle Bestrebungen in der DDR haben die verbessern könnten. Dann jedoch überwog bis zur jeweiligen Bundesregierungen nie wirklich erkannt

Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, oder ernstgenommen. Bis zum Herbst 1989 haben sie nicht zuletzt wegen der SED-gesteuerten antipolni- an der Entspannungspolitik festgehalten und dabei in schen Kampagne, eine Haltung des Unverständnisses erster Linie auf die offiziellen Kontakte mit den und der Besorgnis vor nachteiligen politischen und jeweiligen Führungseliten Osteuropas bei gleichzeiti- wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Geschehnisse ger Vernachlässigung der Beziehungen zu den oppo- auf die Verhältnisse in der DDR. Besonders die Angst sitionellen Kreisen gesetzt [-> Bahr, Protokoll vor der Mitwirkung der DDR an einer militärischen Nr. 52]. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

5.6.2 Die Bedeutung der Friedensbewegungen für Katalysator für den notwendigen gesellschaftlichen die deutsch-deutschen Beziehungen Veränderungsbedarf. Die Friedensgruppen entwik- kelten sich ihrerseits nun zu „Promotoren" einer Als Reaktion auf den NATO-Doppelbeschluß vom umfassenden Demokratisierung in und zwischen den 12. Dezember 1979, der die Stationierung von atoma- beiden deutschen Staaten [-> Garstecki, Protokoll ren amerikanischen Mittelstreckenraketen vom Typ Nr. 51]. Inspiriert und z. T. auch unterstützt von Teilen Pershing II und Cruise missiles in Westeuropa und der der internationalen Friedensbewegungen entwickel- Bundesrepublik Deutschland als Antwort auf die ten die ostdeutschen Friedensgruppen somit einen sowjetische Aufrüstung Ost- und Mitteleuropas mit oppositionellen Ansatz, der über den Rahmen der SS-20-Mittelstreckenraketen vorsah, organisierten „Friedensfrage im engeren Sinn" weit hinausreichte sich die Gegner jeglicher weiteren atomaren Aufrü- [-> Garstecki, Protokoll Nr. 51]. stung in den Friedensbewegungen. Diese sehr unter- Wenn Nachrüstungsbefürworter sich aus der Retro- schiedlichen und inhomogenen politischen und spektive betrachtend heute als „Sieger" darstellen gesellschaftlichen Gruppierungen verband als ge- und den Friedensbewegungen letzlich jede Bedeu- meinsames übergeordnetes Ziel der Kampf um einen tung absprechen oder sie gar als Erfüllungsgehilfen Stop der atomaren Rüstungsspirale und somit der des Ostblocks desavouieren, werden sie diesen Bewe- weltweiten Hochrüstung. Die Verhinderung der prak- gungen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der tischen Umsetzung des Nachrüstungsteils des NATO- internationalen und innerdeutschen Beziehungen — Doppelbeschlusses wurde dabei als erster Schritt zu insbesondere auch im Hinblick auf die sich in der DDR Verwirklichung dieses Zieles angesehen. Die Sorge entwickelnden oppositionellen Gruppierungen — vor einem atomaren Schlachtfeld Deutschl and im nicht gerecht. Relevante Teile der Friedensbewegun- Kriegsfalle entwickelte sich dabei zum Bindeglied gen trugen durch ihre blockübergreifenden Aktivitä- zwischen den westlichen Friedensbewegungen und ten und ihre Zusammenarbeit mit der ost- und mittel- den zu Beginn der achtziger Jahre in der DDR europäischen Opposition ein Stück weit zur Überwin- entstandenen Friedengruppen. dung der Spaltung Deutschlands und Europas bei. Ein Teil der bundesdeutschen Friedensbewegungen Zur ausführlichen Klärung der Rolle der westlichen richtete sich ausschließlich gegen die Aufstellung Friedensbewegungen bei der Auseinandersetzung amerikanischer Raketen und entwickelte keine Bezie- um die atomare Hochrüstung, ihrer Beiträge zur hungen zu den oppositionellen Gruppierungen in der Unterstützung oppositioneller Gruppierungen in der DDR. Dazu trugen auch die ständigen Versuche der DDR aber auch des Grades ihrer Unterwanderung SED bei, Friedensbewegung in ihrem Sinne zu beein- durch die kommunistischen Parteien bedarf es weiter- flussen und zu instrumentalisieren. gehender intensiver Untersuchungen auf der Basis der nun zugänglichen Archivalien." Ein anderer, nicht unbedeutender Teil der westlichen Friedensbewegungen hat dagegen Kontakte zu osteuropäischen und auch ostdeutschen Gruppen gesucht und wichtige Anstösse zu deren Entwicklung, 6. Innerdeutsche Beziehungen Stärkung und Formierung gegeben [-> Poppe, Proto- koll Nr. 51]. Zum Motor der Ost-West-Zusammenar- 6.1 Nationale Einheit und beit über die Blockgrenzen hinweg wurde dabei die zwischenmenschliche Beziehungen Initiative für Europäische Nukleare Abrüstung (END), die bereits in einem Aufruf von 1980 den Dialog mit Ohne ein gesamtdeutsches Nationalbewußtsein wäre unabhängigen Gruppen in Mittel- und Osteuropa 1990 nicht binnen weniger Monate die Vereinigung anstrebte und sich bei internationalen Konferenzen zustandegekommen. Die Nation ergriff die Gelegen- neben friedenspolitischen Fragen auch mit der Rolle heit auf beiden Seiten der Grenze, und jede Seite tat der zivilen Gesellschaften bei der Überwindung der das ihrige: Die „Kundgebungsdemokratie" in der Teilung Europas beschäftigte [-> Exper tise Mehl- DDR vom Herbst und Winter 1989/90 machte dem horn]. SED-Regime ein Ende, sorgte für eine aus demokrati- schen Wahlen hervorgegangene Regierung und ein Im Zuge dieser Entwicklung begann sich ein Teil der Programm der Vereinigung durch Beitritt zur Bundes- überwiegend im kirchlichen Raum aktiven Gruppen republik; Bundesregierung und Bundestag, an der in der DDR von der Kirche unabhängig zu machen. Sie Spitze Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesmini- lehnten die auch in der Evangelischen Kirche verbrei- ster Hans-Dietrich Genscher, trugen den Druck und teten sicherheitspolitischen Vorstellungen ab, die auf das Ergebnis dieser „Revolu tion von unten" an die der Basis des bestehenden Status quo den Frieden zu internationalen Verhandlungstische, wo sie zusam- garantieren suchten und forde rten stattdessen die men mit der ersten demokratisch gewählten Regie- Überwindung der Teilung Europas durch die Auflö- rung der DDR die Zustimmung der Völkergemein- sung der Militärblöcke, den Abzug fremder Truppen schaft zur Vereinigung Deutschlands erreichten. aus ganz Europa und eine europäische Friedensord- nung, die allen Staaten die gleichen souveränen Über die Jahrzehnte der Trennung war offenbar ein Rechte zusichern sollte. elementares Gefühl und Bewußtsein der gegenseiti- gen Zugehörigkeit erhalten geblieben, das unmittel- Hinter diesen Vorstellungen stand ein emanzipatori- bar in Vertrauen auf der einen und Verantwortungs- sches Friedensverständnis, das immer auch die Kritik übernahme auf der anderen Seite mündete. Eine Art an der realsozialistischen Gesellschaft einschloß. Die Feindbild, das die Einstellung zu den Menschen im Friedensfrage wurde dadurch zunehmend zu einem anderen Teil Deutschlands geprägt hätte, konnte sich Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode nie entwickeln. Die große Mehrheit der Westdeut- auch die Vorstellungswelt eines vereinten Deutsch- schen hat 1990 die Einheit gewollt und das Handeln land waren Bestandteile ihrer Identität als Deutsche" von Bundestag und Bundesregierung mit Zustim-- [-> Forschungsauftrag Weidenfeld/Glaab]. mung begleitet. Asymmetrisch zwischen den Bevölkerungsteilen wa- Gleichwohl hat das Zusammengehörigkeitsgefühl der ren das Interesse an der Lebenswirklichkeit des ande- Deutschen in den vier Jahrzehnten unterschiedliche ren und der jeweilige Kenntnisstand darüber [-> For- Stadien durchlaufen und unterschiedliche Färbungen schungsauftrag Köhler, Weidenfeld/Glaab]. So be- angenommen. Für die westdeutsche Seite ist berner- schämend für die eine und verletzend für die andere kenswert, daß die erkennbaren fünf Phasen der Ent- Seite diese ungleichgewichtige Aufmerksamkeit für- wicklung immer jeweils in auffallender Übereinstim- einander auch war, sie ist doch menschlich begreif- mung mit den entscheidenden Etappen der Deutsch- lich, denn die DDR bot nun einmal — erst recht von landpolitik standen [-p Forschungsauftrag Weiden- außen — ein eher flaches, wenig anziehendes und feld/Glaab]. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob die politisch abschreckendes Bild. Deutschlandpolitik die Meinung der Bevölkerung Die Westorientierung der DDR-Bevölkerung, die aus bestimmte oder umgekehrt von dieser bestimmt der Bundesrepublik ihre Vergleichsmaßstäbe bezog, wurde bzw. diese nachvollzog. Wenn auch die Frage nährte sich aus der Beobachtung der elektronischen nicht geklärt ist, so läßt sich doch zumindest schließen, Westmedien. Seit etwa 1973 hörte die DDR auf, ihren daß die Bundesregierungen mit ihrer jewei ligen Empfang generell zu stören. Deren Faszination nahm Deutschlandpolitik nie im luftleeren Raum agierten. zu, als Hörfunk, Fernsehen und einige Printmedien Zu den mannigfachen „Ungleichheiten" zwischen der infolge des Grundlagenvertrages durch eigene Korre- Bundesrepublik und der DDR zählt auch die, daß wir spondenten aus der DDR berichten und so der DDR- über die Entwicklung des Nationalbewußtseins der eigenen Berichterstattung ein Korrektiv an die Seite bundesdeutschen Bevölkerung ungleich fundierter stellen konnten [-> Protokoll Nr. 51]. Befragungen und differenzierter unterrichtet sind als über die unter Jugendlichen ergaben, daß sie in den achtziger entsprechende Entwicklung auf der Seite der DDR- Jahren ihre politische Information zunehmend vorran- Bevölkerung. Abgesehen von der weitgehenden gig aus den Westmedien bezogen und so das staatli- Tabuisierung der Demoskopie und des Themas in der che Informationsmonopol der DDR unterliefen [-> For- DDR, „äußerten" über die Jahrzehnte hinweg stets schungsauftrag Förster]. Das galt für die ganze Gesell rund zwei Drittel der Bevölkerung in der DDR Furcht -schaft der DDR. vor freier Meinungsbekundung Forschungsauf- Das eigentliche Fundament des die Jahrzehnte über- trag Köhler]. Umso mehr verdient zum Beispiel ein dauernden nationalen Zusammengehörigkeitsge- Ergebnis aus der Jugendforschung von Beginn der fühls bildeten die zwischenmenschlichen Beziehun- siebziger Jahre Beachtung, wonach trotz a ller — gen. Kontakte zu Verwandten und/oder Bekannten in überdurchschnittlichen — Zustimmung von Jugendli- der Bundesrepublik unterhielten 65-70 vH der DDR- chen zum SED-Staat und seiner Politik die verlangte Bürger, umgekehrt pflegten 32-35 vH Westdeutsche „Abgrenzung" zur Bundesrepublik nur von rund persönliche Kontakte in die DDR. Der hohe Verflech- einem Drittel einschränkungslos bejaht wurde [-> For- tungsgrad dürfte u. a. auf die Fluchtbewegung aus der schungsauftrag Förster]. Die der Kommission vorlie- DDR bis 1961 (ca. 2,7 Millionen) und die späteren genden Forschungen zur Stimmungslage in der DDR Ausreisen (bis 1989 ca. 900 000) zurückzuführen sein lassen erst in deren Endphase ein sprunghaftes [-> Expertise Schumann]. Vor allem die aus der Anwachsen der Ablehnung des Systems erkennen, SBZ/DDR Geflüchteten bzw. Ausgereisten stellten wenngleich der Anteil der offenen und verdeckten innerhalb der westdeutschen Gesellschaft jene quali- Systemgegnerschaft seit Beginn der achtziger Jahre fizierte Minderheit, welche die Bindungen und Ver- den der Identifizierung mit dem System überwog bindungen in die DDR trug und damit an der Wahrung (30 gegenüber 20 vH). De facto aber hat eine Stabili- der nationalen Einheit wesentlichen Anteil hat. In sierung des DDR-Systems durch Zustimmung breiter vielen Fällen, wo Widerspruch nicht möglich war oder Bevölkerungsschichten nie wirk lich stattgefunden keine ausreichende Resonanz versprach, war die [-> Forschungsauftrag Köhler]. Ausreise eine Form des politischen Protests. Eine umgekehrte Entwicklung war in der Bundesre- Die seit Anfang der siebziger Jahre und vor alllem in publik zu verzeichnen. Hier setzte sich spätestens in den achtziger Jahren ständig verbesserten innerdeut- den siebziger Jahren eine Identifizierung, eine A rt schen Kommunikationsmöglichkeiten haben erheb- westdeutsches Nationalgefühl durch, das auf die Lei- lich zum Erhalt bzw. zur Stärkung des nationalen stungen und Merkmale des politischen Gemeinwe- Zusammenhalts beigetragen. Die Zahlen über die sens Bundesrepublik gestützt war. Auch wenn die postalischen Beziehungen und den innerdeutschen Bundesbürger ihre eigene Gegenwart und Zukunft Reiseverkehr sprechen hier eine beredte Sprache aus der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik defi- [-> Expertisen Plück, Volze]. In der Endphase der DDR nierten, so blieb die DDR doch insofern ein wich tiger kamen viele Kontakte über Jugendreisen, das Kultur- Teil ihrer nationalen Identität, als sie diese stärker in abkommen und über Städtepartnerschaften hinzu historischer und kultureller Perspektive mit einbezo- [-> Expertise Plück]. Seit Mitte der achtziger Jahre gen [-> Forschungsauftrag Weidenfeld/Glaab]. „Im nahmen die privaten Reisekontakte nicht nur in Ost Einigungsprozeß wurde nochmals deutlich, daß im West-, sondern sogar auch noch einmal in West- Bewußtsein der Westdeutschen staatliche und natio- Ost-Richtung deutlich zu. Im nachhinein wi ll es schei- nale Orientierung verwurzelt waren: Sowohl die nen, als habe die getrennte Nation sich damals schon Erfahrungswelt der Bundesrepublik Deutschland als insgeheim in unbewußter Vorwegnahme der kom- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 menden Ereignisse zueinander auf den Weg bege- nach West-Berlin. Für die DDR hatte der IDH haupt- ben. sächlich ökonomische Bedeutung, weshalb sie auch bis zum Schluß an seinem Sonderstatus festhielt. Mit einem Anteil von durchschnittlich etwa 15 vH und 6.2 Innerdeutscher Handel mehr — die DDR-Statistik hat die tatsächliche Höhe massiv nach unten gefälscht — war die Bundesrepu- Der Innerdeutsche Handel (IDH) umfaßte den Waren- blik der zweitgrößte Handelspartner der DDR nach und Dienstleistungsverkehr zwischen der Bundesre- der Sowjetunion, während der IDH einen Anteil von publik Deutschland einschließlich West-Berlin sowie weniger als 2 vH am Gesamtaußenhandel der Bundes- der DDR einschließlich Ost-Berlin. Entstanden war er republik ausmachte. Der ökonomische Hauptvorteil aus dem ursprünglich als Interzonenhandel bezeich- des IDH erwuchs für die DDR aus dessen Bilateralität neten Warenaustausch zwischen den drei westlichen und Verrechnungsweise mit Hilfe von Verrechnungs- Besatzungszonen Deutschlands und der Sowjetischen einheiten (1 VE = 1 DM). Da der IDH sich auf etwa Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg, der 40 vH ihres Westhandels belief, brauchte sie als nach dem Konzept eines s treng überwachten Tausch- einziges RGW-Land für mehr als 40 vH ihrer Westbe- handels funktionierte. Seine „endgültige", d. h. im züge keine Hartdevisen einzusetzen, sondern konnte Prinzip bis zur deutschen Vereinigung geltende, mit Waren eigener Produktion „bezahlen". Dieser Rechtsgrundlage erhielt er durch das Berliner Abkom- Vorteil nutzte ihr besonders zu Beginn der achtziger men von 1951, das seinerseits auf der bei Beendigung Jahre, als sie wegen der katastrophalen Devisenlage der Berlin-Blockade im Jessup-Malik-Abkommen ihre Importe aus dem Westaußenhandel rigoros ein- getroffenen Verknüpfung von freiem Zugang nach schränkten mußte. West-Berlin und unbehindertem Interzonenhandel Die Entwicklung des IDH verlief schwankend und basierte. wurde von politischen Ereignissen beeinflußt. Versu- Deutschlandpolitisches Kernstück des Berliner Ab- che der Bundesregierung um die Wende zu den kommens war sein Geltungsbereich. Da dieser nach sechziger Jahren, den IDH als politisches Druckmittel den Währungsgebieten DM-West bzw. DM-Ost defi- gegen die DDR einzusetzen, wurden bald wieder niert wurde, waren beide Teile Berlins auf jeder Seite aufgegeben; die DDR hatte mit der Aktion „Störfrei- mit inbegriffen, so daß im Gegensatz zu den später machung" reagiert, allerdings mit ebensowenig geschlossenen innerdeutschen Abkommen die leidi- Erfolg. Ende der sechziger Jahre erhielt der IDH gen Statusfragen von vornherein ausgeblendet blie- kräftige Impulse durch Förderungsmaßnahmen der ben. Die volle Einbeziehung von West-Berlin manife- Bundesregierung (Dynamisierung des Swing, Mehr- stierte sich im Abkommen u. a. durch die Bestim- wertsteuerregelung u. ä. mehr). In den siebziger Jah- mung, daß ein angemessener Teil des Handels auf ren wuchs er um mehr als das Doppelte. Bis Mitte der West-Berlin entfallen solle. In der Regel war das ein achtziger Jahre stieg er noch einmal um die Hälfte. Mit Viertel bis ein Drittel der DDR-Lieferungen, davon ein 15,54 Mrd. VE erreichte er 1985 seinen größten Großteil Agrarprodukte. Dem kontrollierten Tausch- Umfang. charakter des IDH entsprachen dessen s trenge Bilate- In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre begann der ralität, der Zahlungsmodus über die Verrechnung IDH trotz des günstigen politischen Umfeldes zu durch Bundesbank und Staatsbank der DDR sowie die schrumpfen. Ursache war die aufgrund der unzurei- Genehmigungspraxis der beiderseitigen Behörden. chenden Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Produkte Der Sonderstatus des IDH galt allen Bundesregierun- immer ungünstiger werdende Struktur der Lieferbe- gen als hohes, bewahrenswertes Gut. Als solches hat ziehungen. Der IDH entsprach nicht dem H andel ihn auch das Bundesverfassungsgericht in seinem zwischen zwei hochentwickelten Industrieländern. Urteil zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 Nicht Fertigerzeugnisse, sondern Grundstoffe und gewürdigt. Interna tionale Absicherungen des IDH Vorprodukte für die Produktionsgüterindustrien bewirkte die Bundesregierung 1951 durch das Proto- machten den Hauptteil des Handels aus. In der ersten koll von Torquay (Allgemeines Zoll- und Handelsab- Hälfte der achtziger Jahre beispielsweise betrug der kommen, GATT) sowie 1957 bei Gründung der Euro- Anteil der Investitionsgüter an westdeutschen Liefe- päischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). In beiden rungen in die DDR weniger als 20 vH. Auf seiten der Fällen blieb der IDH abgesondert vom Außenhandel DDR hatten die hohen Lieferverpflichtungen im Rah- der Bundesrepublik etwas Eigenes, doch trifft die men des RGW und die dadurch veränderte Produkti- Feststellung, wenn auch nicht vollständig in der ons- und Qualitätsstruktur von Beginn an ihr Liefer- Praxis, so doch prinzipiell nicht zu, durch das Zusatz- vermögen eingeschränkt. protokoll zu den EWG-Gründungsverträgen sei die DDR in der Praxis quasi EG-Mitglied geworden, denn Der zinslose berziehungskredit (Swing), ursprünglich die Zollschranken bestanden mit Ausnahme der Bun- ein rein technisches Instrument im IDH-Verrechungs- desrepublik zu den übrigen EG-Ländern legal wei- wesen, erhielt durch die Dynamisierung von 1967 — ter. Anknüpfung an die Bezüge der DDR (Höhe 25 vH) — politische Dimension. Ab 1976 galten in Abständen Der IDH war für beide Staaten in Deutschland von von fünf Jahren getroffene Swing-Abmachungen. unterschiedlichem Gewicht. Für die Bundesrepublik Gegen Ende der DDR lag der Swing bei 850 Millionen standen die politischen Mo tive im Vordergrund. Dazu VE. Wider die ökonomische Vernunft wurde der gehörten bis zum Schluß die materielle und rechtliche Ausnutzungsgrad des Swing in den achtziger Jahren Klammerfunktion zwischen den beiden Teilen von der DDR drastisch zurückgefahren. Lag er in den Deutschlands sowie die Sicherung des freien Zugangs siebziger Jahren noch bei 90 vH, so ging er in den Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode achtziger Jahren auf 30 vH und weniger zurück. Der der DDR und damit deren internationale Kreditwür- Grund war wahrscheinlich ein politischer: Die nicht digkeit aufrechterhalten und sie „über die Runden" volle Inanspruchnahme des Swing demonstrie rte dem gebracht, aber sie waren nicht ausreichend, der DDR mißtrauischen Hauptverbündeten der DDR, der dauerhaft auf die Beine zu helfen. [-> Expertise Sowjetunion, den Grad ihrer Unabhängigkeit von der Volze] Bundesrepublik. Bei aller Verzerrung durch politische Rücksichtnah- men und die Regularien des IDH selbst hat dieser doch 6.4 „Westarbeit" der SED am Beispiel der DKP über Jahrzehnte einige Minimalvoraussetzungen für die Reintegration der deutschen Wirtschaft nach der Die deutsche Teilung hatte für die nach 1945 wieder- Vereinigung bewahrt. [-> Expertise Haendcke- aufgelebte Kommunistische Partei Deutschl and (KPD) Hoppe-Arndt] zu einer Sondersituation geführt. Zwar unterhielt sie in Westdeutschland ein eigenes Politbüro und Zen- tralkomitee, doch lag ihre wahre Anleitungs- und 6.3 Innerdeutsche Transfers Kontrollzentrale in der SBZ/DDR, bei der SED. In dem von ihr angeleiteten und kontrollierten KPD-Apparat Von den Handelsbeziehungen zu unterscheiden sind stand der SED eine Art legaler Handlungs- und die nichtkommerziellen wi rtschaftlichen Beziehun- Einflußmöglichkeit in der Bundesrepublik zur Verfü- gen, in deren Rahmen finanzielle oder andere geld- gung. Das Verbot der KPD von 1956 schob dem einen werte Leistungen aus der Bundesrepub lik ohne formalen Riegel vor. unmittelbare wirtschaftliche Gegenwerte in und an die DDR erbracht wurden. Dazu gehören Postsendun- Schon bei der bis 1956 legalen KPD waren in die gen und Geld- wie Warengeschenke ebenso wie legalen Strukturen der Partei konspirative Apparat- kirchliche Hilfsleistungen, Zahlungen für Abgaben, strukturen gleichsam eingewoben. Bei der Neukonsti- Gebühren und Mindestumtausch, jedoch nicht die der tuierung 1968 achtete man noch sorgfältiger auf die DDR gewährten Kredite, da sie marktüblich verzinst Abschottung des illegalen Apparates von den legalen und zurückgezahlt werden mußten. Die innerdeut- Strukturen der Partei, die sich nun Deutsche Kommu- schen Transfers lassen sich in zwei Großgruppen nistische Partei (DKP) nannte. Zu ihren besten Zeiten unterteilen: in Solidarleistungen, erbracht von Priva- zählte die DKP 40-50 000 Mitglieder. Diese wurden ten, Kirchen und der öffentlichen Hand der Bundesre- gesteuert von einem konspirativen Kernapparat von publik, die nicht in die Verfügung des DDR-Staates ca. 6 000, aus der Ost-Berliner SED-Zentrale finan- gelangten; und in Transfers an den DDR-Staat, zierten und dirigierten Parteiaktivisten. Trotz anhal- erbracht von Privaten (z. B. Visa-Gebühren und Min- tender Erfolglosigkeit der DKP bei Wahlen hielt die destumtausch) und der öffentlichen Hand (z. B. Tran- SED bis zuletzt an ihr fest, was die Vermutung stützt, sitpauschale, Häftlingsfreikäufe) der Bundesrepu- daß ihr an der DKP hauptsächlich als einem verdeck- blik. ten Interventionsapparat gelegen war. Aus den über- lieferten Aktenbeständen wird die Anleitung der DKP Die Summe aller von den fünfziger Jahren bis 1989 durch die SED bis in kleinste Einzelheiten ersichtlich. getätigten ]bertragungen wird nach den der Kommis- Das Festhalten an der DKP spricht auch für die sion vorliegenden Berechnungen auf ca. 90 Milliarden Beobachtung, daß die SED ihre gesamtdeutsche DM veranschlagt — eine bescheiden zu nennende Option unter kommunistisch-sozialistischem Vorzei- Summe, vergleicht man sie mit den heutigen Jahres- chen nie aufgegeben hat. leistungen. Der überwiegende Anteil entfällt mit 70 Milliarden DM auf die Solidarleistungen, die ihrer- Nach dem Willen der SED gerierte sich die DKP seits wiederum überwiegend (62,6 Milliarden) von westdeutsch, nicht gesamtdeutsch. Sie umwarb die Privaten getragen wurden. Die staatlichen Transfer- SPD-Basis und Gewerkschaften. Ihre eigentliche Auf- leistungen an die DDR beliefen sich auf 14,4 Milliar- gabe bestand darin, für die DDR in der Bundesrepu- den DM. Fast in gleichem Umfang, mit mehr als zwölf blik zu werben und deren Interessen zu unterstützen. Milliarden DM, hat sich die öffentliche Hand indirekt Ihre größte Wirksamkeit entfaltete die DKP Anfang (Steuerausfälle) oder direkt (Zuschüsse, Bargeldhilfen der achtziger Jahre insbesondere durch Hilfestellung für Besucher aus der DDR) bei den Solidarleistungen aller Art für „Friedensinitiativen" im Rahmen der engagiert. Kampagne gegen die westliche Nachrüstung [-> Ex- pertise Schröder I] sowie auf dem Felde der Kulturar- In den siebziger und achtziger Jahren trugen die beit [-> Expertise Schütt]. innerdeutschen Transferleistungen der DDR einen jährlichen Devisenzufluß in Höhe von 1—2 Milliarden Die Schätzungen über den jährlichen Gesamtetat der DM ein. Setzt man diesen in Bezug zum Gesamtdevi- DKP schwanken zwischen 80 und 100 Millionen DM. senaufkommen und zu den wachsenden Zinslasten, so Aus dem Bereich der ZK-Abteilung Finanzverwaltung zeigt sich die große Bedeutung der innerdeutschen und Parteibetriebe der SED flossen jährlich 50 bis 60 Transferleistungen für die Devisenliquidität der DDR. Millionen DM an die DKP und 12-15 Millionen an die Bei einem jährlichen Devisenbedarf in konvertierba- Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW). Al- ren Währungen von mindestens 3 Milliarden Valuta- lein die Parteizeitung „UZ" erhielt eine jährliche mark zur Bedienung der Auslandsverschuldung stell- Subvention von 12 Millionen DM. Überwiegend ten diese Milliarden DM-Deviseneinnahmen aus den wurde die Finanzierung über SED-eigene Firmen in innerdeutschen Transferleistungen eine überaus be- der Bundesrepublik und im westlichen Ausland abge- achtliche Größe dar. Sie haben die Devisenliquidität wickelt. [-> Exper tise Müller I] Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

6.5 Abschließende Bemerkungen lagen beim Zusammenbruch der SED-Diktatur nur unzureichende wissenschaftlich abgesicherte Kennt- Im nachhinein wird oft die Frage gestellt, warum der- nisse und Planungsgrundlagen, insbesondere über Zusammenbruch der DDR im Westen nicht vorausge- Ökonomie, Ökologie und den Stand der Technik in sehen wurde. Warum traf die Wende den Westen so der DDR, vor. unvorbereitet? Die Frage zielt nicht auf die DDR allein, sondern vor allem auch auf die Sowjetunion als ihren Protektor. Solange die Sowjetunion die Existenz der DDR notfalls unter Einsatz von Gewalt garantierte und Sondervotum zu den drei letzten Absätzen der deshalb die Bevölkerung ihr Los hinnahm, hätte die Mitglieder der Fraktion der SPD und der DDR allen wirtschaftlichen Schwächen zum Trotz Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, Weber: noch lange fortexistieren können; Staaten gehen nicht einfach an wirtschaftlicher Schwäche zugrunde, vor „In den siebziger Jahren hat die Bundesregierung die allem dann nicht, wenn sie von außen politisch Eventualplanung für den Fall des Zusammenbruchs gestützt werden. Diese Meinung scheint auch in der der DDR und der Wiedervereinigung eingestellt. M an DDR selbst vorherrschend gewesen zu sein , denn wird die Einstellung dieser Planung verständlich fin- auch dort wurden trotz aller direkten Einsicht in die den müssen angesichts einer deutschlandpolitischen Mängel des eigenen Wirtschafts- und Produktions- Perspektive, die eine Überwindung der deutschen apparates die meisten vom Zusammenbruch des Regi- Teilung bestenfalls in längeren Zeiträumen erwartete. mes überrascht. Der Grund für die in West- wie Bedauerlich muß jedoch aus der Rückschau erschei- Ostdeutschland gleichermaßen verbreitete Prognose- nen, daß infolge des Verzichts auf eine umfassende schwäche dürfte hauptsächlich darin zu suchen sein, kontinuierliche und auch systemkritisch ansetzende daß nach über vierzig Jahren Sowjetherrschaft sich Forschung selbst der Versuch einer rea listischen Ana- kaum jemand mehr vorstellen konnte, die UdSSR lyse der DDR-Wirklichkeit zurückgedrängt wurde. Es werde ihre im Zweiten Weltkrieg errungene Vor- gehört zu den Folgen dieser Schwerpunktsetzung, machtstellung bis an die Elbe ohne Zwang von außen daß beim Zusammenbruch der SED-Herrschaft über aufgeben; auch ist die dramatische Veränderung der weite Bereiche der DDR-Wirklichkeit nur unzurei- sowjetischen Staatsraison durch Gorbatschow zu- chende Kenntnisse vorlagen. nächst kaum begriffen worden. Generell wurde die Stabilität des östlichen Systems überschätzt, von den Unbeschadet dessen muß jedoch auch in Rechnung meisten, die in ihm lebten, ebenso wie von der gestellt werden, daß eine Eventualplanung für den Außenwelt. Dabei mag ein gerüttelt Maß an Ein- Fall des Endes der DDR das Gegenteil derjenigen schüchterung mit im Spiele gewesen sein, die das politischen Wirklichkeit vorausgesetzt hätte, von der „realsozialistische" Machtsystem nach innen wie die Bundesregierungen inzwischen ausgingen. Das nach außen, bei Freund und Feind, zu verbreiten hätte ein Ausmaß an Doppelbödigkeit verlangt, das verstand. Ein weiterer wichtiger Faktor, der ihm half, der Regierung eines demokratischen L andes mit freier seine Schwäche zu verbergen, war seine hochentwik- Presse nicht nur unwürdig, sondern auch schlechter- kelte Fähigkeit zur Geheimhaltung. dings unmöglich ist." Bis zum Ende der sechziger Jahre hat die Bundesre- gierung systemkritische Forschungsarbeiten über die Situation in der SBZ/DDR (z. B. zum Rechts- und 7. Die Aktivitäten der SED und der DDR in der Wirtschaftssystem) finanziell unterstützt, um für den Bundesrepublik Deutschland und im Fall der Wiedervereinigung die dabei entstehenden internationalen Bereich Probleme beleuchten und hierfür Empfehlungen erar- beiten zu können. Diese Arbeiten wurden Anfang der Zu den Methoden der SED-Deutschlandpolitik siebziger Jahre eingestellt. Die Auflösung des „For- gehörte die verdeckte Einflußnahme auf die politi- schungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung schen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse Deutschlands" 1975 ging zugleich einher mit einer in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Tatsache schwerpunktmäßigen Verlagerung der finanziellen war vor 1989 ebenso bekannt wie die, daß die Kom- Förderung auf die „systemimmanent" arbeitende munistische Partei Deutschlands (KPD) und die Deut- DDR-Forschung. Ab Mitte der achtziger Jahre wurden sche Kommunistische Partei (DKP) von der SED wieder verstärkt systemkritische Forschungsarbeiten, gelenkt wurden. Erst durch die Öffnung der SED- etwa im Bereich der Wirtschaftpolitik, gefördert. Archive war es möglich, einen ersten ]berblick über die Struktur und die Aufgabenstellung der SED Eine konkrete Eventualplanung für den Fall der „Westarbeit" zu gewinnen, insbesondere über die Wiedervereinigung hätte jedoch andere innerdeut- hier dargestellte Lenkung von KPD/DKP. sche und internationale Rahmenbedingungen voraus- gesetzt, als sie bis Ende der achtziger Jahre tatsächlich Mit dem Begriff „Westarbeit" ist die allgemeine vorhanden waren. Auf die Ereignisse im Herbst 1989 Agitation und Propaganda der SED in der Bundesre- waren weder Politik noch Öffentlichkeit vorbereitet, publik Deutschland und in West-Berlin sowie die zumal eine so dramatische Entwicklung nicht voraus- gezielte Anknüpfung von Kontakten zu Politikern, zusehen war. Gewerkschaftsfunktionären, Journalisten, Wissen- schaftlern und anderen Persönlichkeiten des öffentli- Da systemkritische Forschungsansätze jahrelang un- chen politischen Lebens umschrieben. In die Westpo- genügend unterstützt worden waren, fehlten 1989 litik der SED waren die Blockparteien und Massen- realistischere Analysen der DDR-Wirklichkeit. So organisationen arbeitsteilig ebenso einbezogen wie Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode der Staatsapparat und Wirtschaftsunternehmen „Westarbeit" gelöst werden: Eine kleine Zahl ausge- [-> Expertise Staadt]. wählter SED-Kader konzentrierte sich auf die Beein- flussung der politischen Landschaft in der Bundesre- publik; die vor dem Mauerbau vergleichsweise breite 7.1. Wettkampf der Systeme in Deutschland Basis der „Westarbeit" wurde gekappt. Diese Umorientierung war wiederum eine wichtige Voraus- setzung für die späteren Erfolge auf innerdeutscher Die SED betrachtete die innerdeutschen Beziehungen und internationaler Ebene, denn hier wurden viele immer aus der Perspektive des Wettkampfs der alsdann fruchtbare politische Verbindungen ge- Systeme in Deutschland. Bis zum Amtsantritt Gorba- knüpft" [-> Expertise Schmidt]. tschows konnte sich die SED in dieser Sichtweise in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der KPdSU In den sechziger Jahren ging es der SED- "Westarbeit" wähnen. Der Sieg des Sozialismus in der DDR — und darum, in der Bundesrepublik Deutschland das Klima damit in einer Industriegeselischaft — hatte grund- für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR aktiv sätzliche Bedeutung für das Schicksal des sowjeti- zu beeinflussen [-> Expertise Staadt]. Der Wechsel in schen Gesellschaftsmodells. Diese Posi tion vertrat der deutschlandpolitischen Perspektive der SED nach jedenfalls Anastas Mikojan in einem Gespräch mit 1961 spiegelte sich auch in der Namensänderung des einer SED-Delegation in Moskau, wenige Wochen vor deutschlandpolitischen Apparates beim Politbüro der dem Bau der Mauer. Mikojan referierte eine im SED wider. Westen weit verbreitete Meinung: Der Sozialismus/ Kommunismus möge zwar ein geeignetes Gesell- schaftmodell für unterentwickelte Länder sein, tauge indessen nicht als Modell für die Industriestaaten des 7.3. Der West-Apparat der SED Westens. Die DDR aber sei ein hochentwickelter Industriestaat. In Deutschland, so Mikojan, mußte sich Ende der fünfziger Jahre wurde die „Westarbeit" von entscheiden, „daß der Marxismus-Leninismus richtig einer „Kommission für Gesamtdeutsche Arbeit" bzw. ist, daß der Kommunismus auch für Industriestaaten einer „Zentralen Gesamtdeutschen Kommission" die höhere, bessere Gesellschaftsordnung ist. Und beim Politbüro koordiniert. Die Aufgabe dieser Kom- weil das so ist, deshalb ist die Bewährung des Sozia- mission war — kurz gefaßt — die „straffe opera tive lismus in Deutschland nicht nur eure Sache allein. Der Leitung der gesamtdeutschen Arbeit nach West- Nachweis für die Richtigkeit des Mar xismus-Leninis- deutschland" . Sie war „im Rahmen der Beschlüsse des mus in Deutschland ist eine grundsätzliche Frage für Politbüros weisungsberech tigt für alle Organisationen die kommunistische Weltbewegung." [-p Exper tise und Institutionen, soweit es deren gesamtdeutsche Schmidt] Arbeit betrifft" [-> Expertise Staadt]. Nach dem 13. August 1961 wurde der Name in „Westkommis- Die SED gewann durch den Mauerbau Zeit. Die DDR sion" geändert. Im Juni 1965 erhielt sie den Status sollte nach den Plänen der SED-Führung die unleug- eines beratenden Gremiums; alle Leitungsaufgaben baren Effizienzdefizite gegenüber dem westlichen wurden der bis dahin verdeckt als Apparat der West- Wirtschaftssystem ausgleichen und den Systemwett- kommission arbeitenden ZK-Abteilung 62 (später bewerb mit der Bundesrepublik Deutschland langfri- Abteilung 70) übertragen. Die Anleitung der KPD stig zugunsten des Sozialismus entscheiden. oblag dem „Arbeitsbüro" im ZK-Apparat. Neben der unmittelbar im Apparat der SED und ihren 7,2. „Diplomatisierung" der „Westarbeit" Massenorganisationen geschaffenen „Westabteilun- gen" existierten noch andere DDR-Institutionen, die Die Berliner Mauer betonierte auch den völligen der SED-Deutschlandpolitik zuarbeiten mußten. Der Mißerfolg der zentralen ideologischen Zielstellung wichtigste Braintrust auf diesem Gebiet war im Ins titut der SED in den vierziger und fünfziger Jahren: „die für internationale Politik und Wirtschaft (IPW) kon- Schaffung eines sozialistischen Deutschland" [-> Ex- zentriert, das sich entgegen seiner Namensgebung pertise Schmidt]. Die SED scheiterte nicht nur an der vorwiegend mit der Analyse von Wirtschaft und Poli- weltpolitischen Konstellation, sondern auch daran, tik der Bundesrepublik Deutschland befaßte. Das IPW daß die Mehrheit der Deutschen ihre Herrschaft als wurde gemäß einem Beschluß des Politbüros vom nicht legitim einstufte und nach dem NS-Regime als 6. Juli 1971 als staatliches Forschungsinstitut gegrün- zweite deutsche Diktatur qualifizierte. Alle Versuche det, aber entgegen dem öffentlichen Anschein direkt auch der KPD, eine nennenswerte Zahl von Arbeitern von der Westabteilung des ZK der SED geführt und im Westen für den Sozialismus in Deutschl and zu kontrolliert; der zentrale Parteiapparat wies ihm einen gewinnen, waren restlos gescheitert. erheblichen Teil seiner Forschungsaufgaben zu. Zu nennen sind noch die zwei universitären Zentren der Die Grenzsicherungen vom August 1961 symbolisier- „BRD-Forschung" an der Ost-Berliner Humboldt- und ten mit all ihrer Gewaltanwendung das zentrale an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Neben Auf- Strukturproblem, das die SED-Westarbeit von Anfang tragsforschung für Partei- und Regierungsabteilun- behindert hatte: Sie sollte ein politisches System gen fiel den einschlägigen wissenschaftlichen Exper- legitimieren helfen, das um seines Bestandes wi llen ten auch die Aufgabe zu, in den zahlreichen Begeg- auf eine Minimierung der zwischenmenschlichen nungen mit Kollegen aus der Bundesrepublik Kontakte mit den Deutschen im Westen angewiesen Deutschland das dortige DDR-Bild positiv zu beein- war. Dieser Widerspruch sollte Anfang der sechziger flussen. Herausragendes Beispiel für die Tätigkeit Jahre von der SED durch eine „Diplomatisierung" der dieser akademischen Experten im Rahmen der „West- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 arbeit" war das zwischen Vertretern der Akademie für festgelegt, wie die fingierten Arbeitsverhältnisse der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und „in den Firmen verankerten Berufsrevolutionäre" vor der Grundwertekommission des Parteivorstandes der- den Behörden abzusichern seien. Dabei wird auf die SPD ausgearbeitete gemeinsame Papier über den „bisherige Praxis" verwiesen, wonach der Leiter der „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicher- ZK-Abteilung Verkehr, die im SED-Parteiapparat für heit" [-> Expertise Staadtl. die illegalen Verbindungen zuständig war, „Vor- schläge für Geschäftsführer und Prokuristen der Fir- Mit dem Grundlagenvertrag von 1972 verdichteten men unterbreitet, die DKP-Mitglieder sind". Auch die sich die politischen, kulturellen, kirchlichen und wirt- Praxis von Sonderzuwendungen für die DKP und die schaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepu- SEW durch die Firmen wurde in dieser Ordnung blik Deutschland und der DDR. Durch die vom ZK- festgelegt: „Auf Vorschlag der Bruderparteien wie Apparat organisierte zentralistische Steuerung der DKP, SEW u. a. werden diesen Parteien bestimmte „Westarbeit" gelang es der SED, nicht nur die plura- Geschenke in Spendenform für Pressefeste, Partei- len Einflüsse aus dem Westen auf die eigene Gesell- tage usw. in Abstimmung mit der Abteilung Verkehr schaft zu kontrollieren, sondern auch die Differenzen und des Staatsekretariats für kommerzielle Koordinie- unter den westlichen Gesprächspartnern zu erfassen rung zur Verfügung gestellt" [-> Exper tise Mül- und in eine gezielte „Differenzierungspolitik" umzu- ler I]. setzen — waren doch alle Kader mit Westkontakten verpflichtet, über ihre Gespräche detail lierte Berichte Trotz aller längerfristigen politischen Erfolglosigkeit zu verfertigen [-> Expertise Staadt]. der DKP deutet alles darauf hin, daß es der SED bei dieser Partei vor allem darauf ankam, die Weiterexi- stenz ihres Interventionsapparates sicherzustellen. 7.4. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) „Als nach einer der vielen Wahlniederlagen in Ost- Berlin wieder einmal eine äußerst niedergeschlagene Im Januar 1967 hatte die SED als Reaktion auf die DKP-Spitze erschien, wurde ihr von Honecker und Bildung der Regierung der großen Koalition mit der dem Politbüro versichert, daß die DKP nicht in erster Tilgung gesamtdeutscher Reminiszenzen im offiziel- Linie dafür existiere, um Wahlsiege zu erringen, len politischen Sprachgebrauch der DDR begonnen. sondern als Vorposten der historischen Mission der Im Zuge dieser Politik der Abgrenzung tauchte in Arbeiterklasse gewissermaßen auf deutschem Fein- einer Vorlage des „Arbeitsbüros" des ZK für das desland" [-> Expertise Müller I]. SED-Politbüro im Januar 1968 der Begriff „KP-West- deutschland" als Bezeichnung für die KPD auf. Das Die Vorstellung, einem Interventionsapparat der SED „Arbeitsbüro", eine ZK-Abteilung der SED, ergriff im in der Bundesrepublik Deutschl and anzugehören, Frühsommer 1968 die Initiative, um das Problem der scheint auch das Selbstverständnis der DKP-Funktio- Re-Legalisierung der KPD in der Bundesrepublik näre in der Bundesrepublik Deutschland geprägt zu Deutschland zu lösen. Die ZK-Abteilung formulierte haben. „Der Weg (zum Sozialismus in der Bundesre- die ideologische Rechtfertigung für eine separate publik Deutschland) blieb ... nebulös, aber insgeheim KP-Gründung in der Bundesrepublik Deutschland hofften die allermeisten Genossen der Führung auf die und klärte den Weg, wie die vorgeblich eigenständige militärische ,Klärung der Machtfrage' durch die ,stär- bundesdeutsche Partei von der SED zu führen sei. Der keren Bataillone' jenseits der innerdeutschen Grenze. ZK-Apparat der SED hatte stets dafür zu sorgen, daß Theoretisch setzten sie auf die ,antimonopolistische die Führung der neuen Partei fugenlos die Posi tion der Demokratie als Vorstufe zum Sozialismus'. In ihr SED vertrat und die neue Partei keinerlei Befugnisse sollten ,die Arbeiterklasse, ihre Partei und die erhielt, selbständig strategische und taktische Überle- Gewerkschaften die politische und kulturelle Vor gungen auszuarbeiten und Schulungsmaterialien zu herrschaft'haben. " [-> Expertise Schüttj entwerfen; ebenfalls sollte das Kaderschulungssystem Teile des DKP-Apparates scheinen auch Aufgaben der neuen Partei durch organisatorische Vorkehrun- der „politischen Aufklärung" der K-Gruppen für die gen unter strikter Kontrolle der SED bleiben. Die SED übernommen zu haben [-> Expertise Müller I]. Personalunterlagen der DKP-Funktionäre wurden in Das MfS hat auch DKP-Kader militärisch ausgebildet einer zentralen Kaderregistratur beim ZK der SED und war selbst mit zwei Schwerpunkten an der geführt. [-> Exper tise Müller I]. „Westarbeit" beteiligt: Die Partei ließ nichts unversucht, um durch Wahl- und Bündnispolitik sowie durch DDR-Propag anda in der — Spionage gegen politische Parteien und Gewerk- Jugend- und Gewerkschaftsarbeit eigenständiges schaften in der Bundesrepublik Deutschl and politisches Gewicht zu bekommen. Diese Aktivitäten sowie verschlangen viel Geld. Nach den Akten aus dem — „Desinformation" und „aktive Maßnahmen" der Bereich der ZK-Abteilung Finanzverwaltung und Par- Hauptverwaltung Aufklärung [-> Expertise Cha- teibetriebe der SED flossen jährlich 50-60 Millionen ker]. DM an die DKP und 12-15 Millionen an die Soziali- stische Einheitspartei Westberlins (SEW). Es ist nachzuweisen, daß die Finanzierung des DKP- Apparats mit den Führungen von SED-Firmen in der 7.5. Ergebnisse der SED- „Westarbeit" Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Staaten verknüpft wurde. So wird in der Ordnung für Die internationale Anerkennung der DDR als zweiter die einheitliche Leitung und Kontrolle dieser Firmen deutscher Staat stärkte die Reputa tion der SED- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Führung und beförderte den Wandel des von weiten 7.6 Forschungsdesiderata Teilen der Medien, der einschlägigen Wissenschafts- disziplinen und der Pädagogik verbreiteten DDR- Die wissenschaftliche Erforschung der SED- „Westar- Bildes in der Bundesrepublik Deutschland [-> Exper- beit" ist dringend geboten. Die Archivgruppe der tise Bleek]. Dieser Wandel des DDR-Bildes kann aber Enquete-Kommission hat festgestellt, daß für die nicht als unmittelbarer Erfolg der SED-Westarbeit Erforschung der SED- „Westarbeit" wich tiges Archiv- verstanden werden; er beruht vielmehr auf der innen- material im internen Archiv des ZK (u. a. die Abtei- politischen Polarisierung, die mit der Durchsetzung lung Verkehr und die Akten der Hauptverwaltung der sozialliberalen Ostpolitik verbunden war. Die Aufklärung des MfS; vgl. Bericht Archivgruppe) ver- Rolle der DKP ist in diesem Zusammenhang nur von nichtet worden ist. Zu untersuchen sind vor allem geringer Bedeutung gewesen [-> Expertise Müller]. folgende Einzelaspekte: Auf der Ebene der Parteibeziehungen zwischen SED, DKP und SEW blieb für die SED das Bekenntnis zur — verdeckte Einflußversuche und Einflußnahmen im deutschen Zweistaatlichkeit taktischer Natur; und bis Rahmen der innerdeutschen Beziehungen zum Fall der Mauer betrachtete die SED die DDR als sozialistischen Kernstaat in Deutschland. „Entspre- — der Stellenwert und die Methoden der MfS-Aktivi- chende Äußerungen des SED-Generalsekretärs E rich täten in Parteien, Medien und Kirchen Honecker (aus den achtziger Jahren — sämtlich — die Nutzung des Innerdeutschen Handels zur unveröffentlicht) lassen sich bei seinen zahlreichen Finanzierung von DKP und SED Spitzengesprächen mit Vertretern der westdeutschen ,Bruderpartei' nachweisen" [-> Expertise Schrö- — die Anleitung der kommunistischen Parteien in der der I]. Bundesrepublik Deutschland durch die SED

— die Ergebnisse der Einflußnahmen in den außer- Die größte Wirksamkeit erzielte die DKP Anfang der parlamentarischen Bewegungen, in Gewerkschaf- achtziger Jahre vor allem mit ihrer aktiven Einfluß- ten und Verbänden nahme auf alle Arten von „Friedensinitiativen" im Rahmen der Kampagne gegen die westliche Nachrü- — die Funktion der SED- „Westarbeit" in der Bundes- stung. Auch diese Aktivitäten waren Teil der SED- republik Deutschland im Rahmen der sowjetischen „Westarbeit". „Bereits am 22.3.1982, also nur Tage Deutschlandpolitik. vor der für die Entwicklung der Friedensbewegung entscheidenden Aktionskonferenz in Bonn-Bad Go- desberg, beschloß das SED-Politbüro ,Maßnahmen zur weiteren Verstärkung der Friedensbewegung'. 8. Die deutsche Frage Der DKP-Vorsitzende Mies, der Ende April 1982 von nach dem Zweiten Weltkrieg Honecker erneut zu einem ausführlichen Gespräch empfangen wurde, erklärte, in den nächsten Wochen Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands — die deut- werde es darum gehen,, ob es gemeinsam mit anderen sche Teilung, die Geschichte der beiden deutschen gutwilligen Kräften gelingt, die Friedensbewegung Staaten, die Vereinigung — ist ein außerordentlich weiter in der Offensive zu halten mit der richtigen komplizierter Prozeß mit einer Vielzahl von Akteuren Stoßrichtung gegen den NATO-Beschluß, oder ob es und Strategien, über deren Rolle im Gesamtprozeß anderen Kräften gelingt, sie zu zersetzen oder zu kein abschließendes Urteil möglich ist. Die zeithisto- zersplittern.' Er versprach für die DKP,, uns taktisch rische Forschung wird noch längere Zeit benötigen, sehr umsichtig zu verhalten'. Honecker gab sich um zahlreiche Fragen — z. B. zur Gewichtung der optimistisch: ,Wenn wir aufpassen, wird es nicht einzelnen Faktoren oder zur sowjetischen Deutsch- gelingen, die Friedensbewegung aufzuhalten' " landpolitik — zu klären.

[-> Expertise Schröder I]. In alle diese politischen Im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft sind freilich Aktivitäten war die Kulturarbeit der DKP integriert. einige Aspekte festzuhalten: Die deutsche Frage nach Namentlich ist hier der Schriftstellerverband (VS) in der IG-Druck und Papier hervorzuheben [-> Expertise dem Zweiten Weltkrieg betraf die staatliche Organi- sation, die innere Ordnung und die außenpolitische Schütt]. Orientierung Deutschlands innerhalb des Ost-West- Gegensatzes, der bald nach Kriegsende zwischen den Einen greifbaren Einfluß auf deutschlandpolitische Siegermächten aufbrach. Dieser Gegensatz war ein oder gar allgemeinpolitische Entscheidungsprozesse zugleich machtpolitischer und ideologischer Konflikt. in der Bundesrepublik Deutschland hat die SED durch Unabwendbar wurde die deutsche Frage in ihn hin- ihre „Westarbeit" zu keinem Zeitpunkt ausüben kön- eingezogen und von ihm geprägt. In der Teilung nen. Wie weit allerdings Teile der öffentlichen Mei- Deutschlands manifestierte sich die Teilung Europas nung, der Wissenschaft und Bildungsarbeit, z. B. in antagonistische Macht- und Systembereiche. Eine durch Verbreitung von fachspezifischer Literatur und Lösung der deutschen Frage war daher nur möglich im verschiedene Formen der Kooperation, von ihr im Rahmen einer Beilegung des Ost-West-Gegensatzes. Westen beeinflußt worden sind, bedarf noch genaue- Auch nach der Vereinigung, deren Voraussetzung die rer Erforschung. Das gleiche gilt auch für die These, Zustimmung der europäischen Nachbarländer, der die SED habe, was den diktatorischen Charakter des USA und die Sowjetunion war, bleibt die Grundein- DDR-Regimes anbetrifft, den Abbau des antitotalitä- sicht: Die deutsche politische Existenz ist auf das ren Konsenses zwischen den im Bundestag vertrete- engste mit der ihrer Nachbarn und der internationalen nen Parteien mitbewirken können. Politik verschränkt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

8.1 Souveränität lich. Während die DDR Protektoratsstaat der Sowjet- union war und blieb, diesen Status zudem mit ihrer Ausgangspunkt der deutschen Politik nach 1945 war Beteiligung an der sowjetischen Interventionspolitik die totale Niederlage des nationalsozialistischen gegen die CSSR 1968 unter Beweis stellte, fand die Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Die Sieger- Bundesrepublik Deutschland dank ihrer freiheitli- machte sicherten sich die absolute Verfügungsgewalt chen und sozial-marktwirtschaftlichen Grundord- über Deutschland im Sinne ihres Zieles, künftig jede nung sowie des gleichzei tigen wirtschaftlichen Auf- Bedrohung ihrer Sicherheit durch Deutschl and auszu- bauerfolges, mit denen sich die meisten Bürger iden- schließen. Dieses Ziel bestimmte ihre Politik beider- tifizieren konnten, Legitimität, innere Stabilität, seits der Systemgrenze in Ost und West. Vorausset- Daseinsberechtigung und Lebensfähigkeit aus sich zung und zunächst vordringliches Zwischenziel jegli- selbst heraus. Die Bundesrepublik Deutschland cher deutschen Politik — auch im Hinblick auf die konnte durch die Magnetwirkung, die von ihrer frei- Wiederherstellung der deutschen Einheit — war es heitlichen und sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung somit, aus der bloßen Objektrolle herauszukommen, ausging, den Kernstaatanspruch des Grundgesetzes eigene Handlungsfähigkeit und Mitspracherechte in zu praktischer Wirkung bringen. der internationalen Politik wiederzugewinnen. Die- Dem SED-Staat gelang es in den 40 Jahren seiner ses Ziel wurde in der Bundesrepublik, im Rahmen Existenz nicht, Stabilität durch innere Legitimität zu der Selbsteinbindung in die entstehende westliche Allianz und die Europäische Gemeinschaft, mit dem erreichen. Die Herrschenden mochten der DDR als Deutschlandvertrag von 1954/55 weitgehend er- „sozialistische Alternative" zur Bundesrepublik eine Daseinsberechtigung zuschreiben, sie konnten es reicht. Die Bundesrepublik Deutschland vertrat auch jedoch zu keiner Zeit des „real existierenden Sozialis- auf internationaler Ebene, gestützt auf den Deutsch- landvertrag und die darin festgelegte Solidarität der mus" wagen, sich freien demokratischen Wahlen zu stellen. Der Volksaufstand von 1953, der Mauerbau, westlichen Verbündeten, den Anspruch der Deut- die Fluchtbewegungen und die Grenzbefestigung von schen auf Selbstbestimmung und Wiederherstellung der deutschen Einheit. 1961 sowie die dauerhafte Einsperrung der eigenen Bevölkerung waren die äußeren Manifestationen der Demgegenüber hat die DDR-Führung das Ziel, zum demokratischen Illegitimität des sozialistisch-diktato- wirklich eigenständigen Akteur zu werden, trotz spä- rischen Regimes. terer Erfolge bei der Erlangung internationaler Aner- kennung, niemals erreicht. Der SED-Staat war und blieb Vasallenstaat der Sowjetunion. Den Deutschen in der DDR blieb dadurch und durch den absoluten 8.3 Selbstbestimmung und Einheit Deutschlands Führungsanspruch der SED eine gestaltende Ro lle in der Deutschlandpolitik versagt. Die Fluchtbewegun- 1949 konstituierte sich die Bundesrepublik Deutsch- gen in den fünfziger Jahren und der Ausreisedruck in land als demokratischer Kernstaat a ller Deutschen. den siebziger und achtziger Jahren haben allerdings Das Grundgesetz legte — in Abgrenzung von der indirekt bedeutende deutschlandpolitische Wirkun- vorausgegangenen nationalsozialistischen Diktatur gen erzielt: Sie widerlegten den Legitimitätsanspruch — die Fundamente für eine freiheitlich-demokrati- der SED-Führung, die mit Mauerbau und Grenzbefe- sche Republik aller Deutschen. Dabei wurde für die stigung den dauerhaften Belagerungszustand über Deutschen mitgehandelt, „denen mitzuwirken ver- die eigene Bevölkerung verhängte. Als die Deutschen sagt war" (Präambel GG) und denen der f riedliche in der DDR — nach einem gescheiterten Versuch 1953 Weg zu einer gemeinsamen freiheitlichen Staatlich- — sich 1989 zum direkten deutschlandpolitischen keit offengehalten werden sollte. Das Grundgesetz Akteur erhoben, waren ihre Forderung „Wir sind das hat dies ausdrücklich festgehalten (Artikel 23 und Volk!" und der Druck, der davon auch auf die inter- 146) und das Staatsziel der Bundesrepublik Deutsch- nationale Ebene ausging, ausschlaggebend für die land in der Präambel als den Willen formuliert, „in Wiedererlangung der deutschen Einheit. einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", verbunden mit der Aufforderung, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutsch- lands zu vollenden". 8.2 Legitimität Die staatliche Einheit Deutschlands war nicht absolut Trotz ihres vergleichbaren Ursprungs als jeweils von gesetzt. Als Wert war sie der Freiheit als dem Inbegriff den Siegermächten abhängige Staaten zeigte sich von Selbstbestimmung und Menschenrechten sowie sehr bald der entscheidende und bleibende Unter- dem Frieden grundsätzlich nachgeordnet, als Ziel schied zwischen der (alten) Bundesrepublik Deutsch- hinwiederum der „Vergemeinschaftung" in Europa land und der DDR in den 40 Jahren ihres Bestehens. grundsätzlich gleichgeordnet. Wie keine andere euro- Die Westmächte gingen auch in ihrer Deutschlandpo- päische Nation dem Prinzip der Versöhnung ver- litik grundsätzlich von den Norm- und Wertvorstellun- pflichtet, konnte Deutschland seine f riedliche Zukunft gen ihrer eigenen Verfassungsordnungen aus: näm- nur in der Gemeinschaft mit den freien Völkern lich von dem Ziel, demokratische und marktwirt- Europas suchen. Mit ihrer Zeilsetzung eines fried lich schaftliche Strukturen zu fördern. Diese Grundsätze zu erreichenden, freiheitlich verfaßten Gesamt- machten auf die Dauer und in der tatsächlichen deutschland im Rahmen einer europäischen Integra- Entwicklung relativ schnell eine Interessenüberein- tion genoß die Deutschlandpolitik der Bundesrepu- stimmung zwischen den westlichen Siegermächten blik die Unterstützung ihrer westlichen Partner. und den Deutschen in ihren Besatzungszonen mög- Gleichwohl hatte sie sich in die Entwicklung der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

internationalen Beziehungen einzufügen; sie war in sches Interesse und europäisches Interesse bedürfen jeder Phase auch zu verstehen als Reaktion auf den eines abgestimmten Systems internationaler und Prozeß der Ost-West-Beziehungen. Die Verflechtung- nationaler Rechtsgarantien. Nach den Erfahrungen der Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen mit der Nachkriegsperiode ist festzuhalten: Bei a ller Not- den internationalen Rahmenbedingungen hatte bis wendigkeit, realpolitisch zu handeln, gilt es für die zum Abschluß der 2+4-Gespräche Bestand. deutsche Politik, die Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Ziel auswärtiger, zumal euro- Perestr oika und „Neues Denken" in der sowje tischen päischer, Politik zu begreifen und dementsprechend Außenpolitik waren der Versuch, aus der durch Ideo- zu handeln. logie, Dogma und Militarismus selbsterzeugten Ü ber- forderung des sowjetkommunistischen Systems aus- zubrechen. Zum „Neuen Denken" gehörte auch die „freie Wahl des Weges" für alle sozialistischen Staa- 8.5 Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der ten des Sowjetsystems. Diese Entwicklung erwies sich SPD und der Sachverständigen Faulenbach, für das SED-Regime als die Katastrophe schlechthin, Gutzeit, Weber denn ohne den „Schutz" Moskaus war es sich selbst überlassen, d. h. seinem grundlegenden Mangel als „Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands - die deut- bloßer „Systemstaat" ohne ausreichende na tionale sche Teilung, die Geschichte der beiden deutschen und staatliche Legitimation neben der überlegenen Staaten, die Vereinigung — ist ein außerordentlich Bundesrepublik Deutschland. Der Schlüssel zur komplexer Prozeß mit einer Vielzahl von Akteuren Deutschlandfrage, der lange in Moskau lag, geriet und Strategien, über deren Rolle im Gesamtprozeß infolge des nachlassenden sowjetischen Willens zu kein abschließendes Urteil möglich ist. Die zeithisto- unbedingter Macht über Osteuropa und die DDR nun rische Forschung wird noch längere Zeit benötigen, mehr und mehr in die Hände der Deutschen und um zahlreiche Fragen — z. B. zur Gewichtung der ermöglichte damit die Selbstbestimmung. einzelnen Faktoren oder zur sowje tischen Deutsch- landpolitik — zu klären. Im Einigungsprozeß wirkten auf staats- und völker- rechtlicher Ebene zwei Grundentscheidungen aus Im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft sind freilich den vier Jahrzehnten Deutschlandpolitik zusammen: einige Aspekte festzuhalten: Die deutsche Frage der die mit den Westmächten auf der Basis des Deutsch- Nachkriegsepoche, deren Herausbildung auf die NS landvertrages gemeinsame Verpflichtung auf das Ziel Politik und den Ost-West-Konflikt zurückzuführen ist, der „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" und war stets eng mit der internationalen Politik verwo- die nach dem Grundlagenvertrag verankerte deut- ben. Auch nach der Vereinigung, deren Vorausset- sche Zweistaatlichkeit. Dies ersparte einerseits zung die Zustimmung der europäischen Nachbarlän- Deutschland Friedensvertragsverhandlungen und si- der, der USA und der Sowjetunion war, bleibt die cherte ihm die Unterstützung der Westmächte für die Grundeinsicht: Die deutsche politische Existenz ist auf Ausübung seines Rechts auf innere und äußere Selbst- das engste mit der ihrer Nachbarn und der internatio- bestimmung; andererseits erlaubte es der Sowjet- nalen Politik verschränkt. Deutsche Politik hat im union eine würdewahrende Verabschiedung der DDR Verbund mit den europäischen Staaten zu handeln. und gewährte den Deutschen in der DDR bei Aus- Sie wird im Wissen um die Hypotheken der übung ihres Rechtes auf nationale Selbstbestimmung Geschichte den Ausbau der europäischen Integration in Verbindung mit Artikel 23 GG über den Einigungs- voranzutreiben haben, wobei na tionale und europäi- vertrag Schutz vor westdeutscher Majorisierung. sche Identität einander nicht nur nicht ausschließen, sondern sich geradezu gegenseitig bedingen. Nach den Erfahrungen der Nachkriegsperiode ist 8.4 Deutschland in Europa festzuhalten: Bei aller Notwendigkeit, realpolitisch zu handeln, gilt es für die deutsche Politik, die Durchset- Geographie und Potential machen Deutschland zu zung von Menschen- und Bürgerrechten als wich tiges einem europäischen Zentralraum mit übernationalen Ziel auswärtiger, zumal europäischer Politik zu Aufgaben und Pflichten in Europa. Wie es diesen begreifen. Im Hinblick auf die dabei anzuwendenden nachkommt, ob ausgleichend, verbindend, friedenssi- Mittel wird man flexibel sein müssen. Allgemeine chernd oder spaltend, beherrschend, Hegemonie Deklamationen reichen ebensowenig aus wie die anstrebend, dafür ist seine innere Verfassung und Lösung von einzelnen Problemfällen. Der KSZE Machtordnung von ausschlaggebender Bedeutung. Prozeß ist weiterzuführen, um zu internationalen Vereinbarungen zu kommen, die es ermöglichen, die Deutsche Politik hat im Verbund mit den europäi- Wahrung von Recht und Freiheit durchzusetzen. schen Staaten zu handeln. Sie wird im Wissen um die Sicherlich sind bilateral gute ökonomische und politi- Hypotheken der Geschichte den Ausbau der europäi- sche Beziehungen mit allen Staaten und Gesellschaf- schen Integration voranzutreiben haben, wobei natio- ten anzustreben. Sie dürfen aber nicht auf Kosten der nale und europäische Identität einander nicht nur Menschen- und Bürgerrechte gehen. Diese Problema- nicht ausschließen, sondern geradezu gegenseitig tik gilt es, im konkreten außenpolitischen H andeln zu bedingen. bedenken. Deutschland soll sich weder als das europäische Nach einer Epoche, in der der deutsche Nationalismus Machtzentrum verstehen noch als Machtvakuum Ein- zu millionenfachem Leid für die Menschen zahlrei- wirkungen von außen ausgesetzt sein. Sicherheit vor cher Nationen, nicht zuletzt auch der Deutschen Deutschland und Sicherheit für Deutschland, deut selbst, geführt hat, war die von den Deutschen in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Nachkriegsperiode vollzogene Ablehnung von allen nicht überwunden werden konnte, wirkt heute in nationalistischen und national verengten Ideen ein vielfältiger Weise nach. Gegenwärtig hat sich das Gebot der Vernunft. Daran gilt es festzuhalten. Heute- auf demokratischer Basis vereinigte Deutschland kommt es in Deutschland darauf an, auf der Basis als Solidargemeinschaft zu bewähren. Es gilt eine deutscher und eruopäischer Erfahrungen die Idee der zivile, solidarische Gesellschaft zu gestalten, die Nation in einen unlösbaren Zusammenhang mit der eng mit den Gesellschaften der anderen euro- Idee der auf Menschen-, Bürger- und Sozialrechten päischen Länder verbunden ist. Die enge politisch- gegründeten Demokratie zu bringen. kulturelle Verflechtung mit den westlichen Nationen ist dabei um vergleichbare, auf dem Boden gemeinsa- Die jahrzehntelange Trennung der beiden deutschen mer Wertorientierungen entwickelter Beziehungen Teile, die durch die Deutschlandpolitik der Bundes mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zu republik seit den sechziger Jahren gemildert, aber ergänzen." Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

- V. Themenfeld: Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur

Inhaltsverzeichnis a) Beratungsverlauf a) Beratungsverlauf In den parlamentarischen Debatten, in denen die Einsetzung der Enquete-Kommission und die Formu- 1.1 Öffentliche Anhörungen lierung ihrer Aufgabenstellung im Deutschen Bun- 1.2 Expertisen destag erörtert wurde, hat m an auch der Beschäfti- gung mit dem Themenfeld „Rolle und Selbstverständ- nis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der b) Bericht SED-Diktatur" von Anfang große Bedeutung zuge- messen. Dabei wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß die Kirchen die einzigen nicht gleichgeschalteten 1. Grundsätzliche Fragestellungen Institutionen in der DDR waren. Trotz aller Verdrän- 2. Die SED-Kirchenpolitik und die Entwicklungen gungsversuche seitens der SED blieben sie nicht nur innerhalb der evangelischen Landeskirchen an der Peripherie des gesellschaftlichen Lebens exi- 2.1 Die Anfänge und die innerkirchlichen Diskussio stent, sondern boten auch Orientierung und Schutz für nen einzelne Menschen und Gruppen. In Ost und West 2.2 Die Instrumente der SED-Kirchenpolitik hatten sie darüber hinaus einen erheblichen Anteil 2.3 Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der daran, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deut- SED-Kirchenpolitik schen wachzuhalten und zu stärken. Innerhalb der Kirchen und in ihrem Umfeld wurde die politische Ausgewählte Problem- und Konfliktfelder im Ver- 3. Wende im SED-Staat wesentlich mitvorbereitet. hältnis von SED-Staat und evangelischen Kir- chen 3.1 Der Kampf der SED gegen die Kirchen in den frühen fünfziger Jahren 1.1 Öffentliche Anhörungen 3.2 Die Spaltung der EKD und die Gründung des BEK Im Themenfeld V „Die Kirchen in den verschiedenen 3.3 „Kirche im Sozialismus" Phasen der SED-Diktatur" wurde der Arbeitsplan 3.4 Die SED-Kirchenpolitik in den siebziger und acht- durch zwölf Expertisen und vier Öffentliche Anhörun- ziger Jahren gen in fünf Sitzungen strukturiert. Er umfaßte fol- 3.5 Die Friedensarbeit der Kirchen unter besonderer gende grundlegenden Untersuchungsbereiche, die in Berücksichtigung des Konziliaren Prozesses den Öffentlichen Anhörungen thematisiert wurden: 3.6 Die Gruppen innerhalb und im Umfeld der Kir- — „Die Haltung der evangelischen Kirchen zum chen als kritisches Poten tial in der SED-Dikta- SED-Staat im geteilten Deutschl and" [-> Anhö- tur rung in Erfurt am 14. Dezember 1993, Protokoll 4. Die katholische Kirche in der DDR Nr. 56] 4.1 Die katholische Kirche in der Auseinanderset- — „Die Beziehungen zwischen den Kirchen im geteil- zung mit den weltanschaulichen Gegebenheiten ten Deutschland und die deutsche Frage" [-> An- in der DDR hörung in Bonn am 21. Januar 1994, Protokoll 4.2 Der Weg der katholischen Kirche in der DDR Nr. 59] 4.3 Die katholische Kirche und der SED-Staat — „Kirchen und Christen im Alltag der DDR" [-> An- 5. Die Freikirchen und anderen Religionsgemein- hörung in Dresden am 8./9. Februar 1994, Protokoll schaften in der DDR im Blickfeld der SED Nr. 61 und 62] Religionspolitik — „Die Kirche und die Gruppen" [-> Anhörung in 6. Die Beziehungen zwischen den Kirchen im geteil- Erfurt am 15. Dezember 1993, Protokoll Nr. 57] ten Deutschland und die deutsche Frage 6.1 Die Beziehungen der Kirchen untereinander, ihre Bedeutung für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen und ihre Haltung zur deutschen 1.2 Expertisen Frage 6.2 Die finanziellen Transfers der Kirchen unterein- Darüber hinaus wurden durch die Vergabe von ander und die Rolle der Kirchen bei der Lösung Expertisen spezielle Einzelthemen bearbeitet. Hier- humanitärer Probleme bei kam es in Teilbereichen zu thematischen Über- schneidungen mit dem Programm der Anhörungen, 7. Abschließende Bemerkungen die von der Enquete-Kommission aber bewußt orga- 8. Sondervotum der Mitglieder der SPD-Fraktion nisiert worden waren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Um einen Überblick zu gewinnen, beschäftigte sich Hierbei war unter geistig-ideologischen und prak- die Enquete-Kommission ausführlich mit den Phasen tisch-machtpolitischen Aspekten zu erörtern, inwie-

fern die Kirchen gesamtgesellschaftlich für die SED der Kirchenpolitik der SED und den sich darauf - beziehenden Grundlagenbeschlüssen der Partei- und ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres totalitären

Staatsführung [-> Expertise Martin G. Goerner/ Wahrheits- und Machtanspruchs darstellten. Dabei

Michael Kubina, -> Expertise Axel Noack]. Die ging die Enquete-Kommission von dem unaufhebba- Behandlung der Rolle des Ministeriums für Staatssi- ren ideologisch-weltanschaulichem Gegensatz zwi- cherheit bei der Durchsetzung der Kirchenpolitik der schen der SED und den Kirchen aus, wie er sich

SED schloß sich hieran thematisch unmittelbar an. Mit besonders im Gegenüber von christlichem Glauben besonderem Interesse wurden der Versuch einer und Atheismus sowie in den Differenzen im Men- eigenständigen Standortbestimmung der evangeli- schenbild ausdrückt. schen Kirchen in der DDR am Beispiel der „Kirche im Die kommunistische Einstellung gegenüber den Kir- Sozialismus" [-> Expertise Richard Schröder] und die chen und Religionsgemeinschaften wurde neben tak- politischen Stellungnahmen des Bundes Evangeli- tischen und tagespolitischen Überlegungen vor allem scher Kirchen in der DDR in der Friedensfrage unter vom „wissenschaftlichen Atheismus" und von der besonderer Berücksichtigung des Konziliaren Prozes- ideologischen Grundüberzeugung bestimmt, daß die ses [-> Expertise Christof Ziemer] studiert. Religion mit dem Aufbau des Sozialismus bzw. Kom-

Das Thema der katholischen Kirche in der DDR munismus zwangsläufig abstirbt. Die Kirchen sahen

[-> Expertisen von Hehl, Feiereis und Pilvousek] sowie sich in der Alltagspraxis vor allem zur Auseinander- der Freikirchen und Religionsgemeinschaften in setzung mit dem marxistisch-leninistischen Men- ihrem Verhältnis zum SED-Staat [-> Expertise Kirch- schenbild der SED genötigt. Die christliche Anthropo- ner] wurde in seinen Grundzügen aufgearbeitet. In logie, die konsequent vom Ersten Gebot her denkt, den Bereich der innerdeutschen Beziehungen ver- beharrt auf dem Primat der gottgegebenen Würde des weist die Erörterung der finanziellen Transfers und einzelnen im Gegenüber zu dem Anspruch des Kol- der humanitären Hilfe zwischen den Kirchen im lektivs. Sie betont das Gebot der Achtung vor der geteilten Deutschland [-> Expertise Binder]. Individualität und Selbstverantwortung sowie der

Fähigkeit und Verpflichtung zur Verantwortung des An der Erarbeitung der Expertisen und Berichte einzelnen für die Gemeinschaft. Sie geht von der waren insgesamt dreizehn Autoren beteiligt. Die Bereitschaft und Verpflichtung zur Anerkennung der Enquete-Kommission ließ sich bei der Vergabe der Verschiedenheit der Menschen aus, beharrt aber auf Expertisen von der Erkenntnis leiten, daß einige der der Gleichheit aller vor Gott und vor dem Gesetz als zu bearbeitenden Themen sachgerecht nur in einer Fundament der Politik. doppelten Betrachtungsweise, also unter gleichzeiti- ger Behandlung aus östlicher und westlicher Sicht, Über diese grundsätzlichen Unterschiede im Men- erörtert werden können. schenbild öffentlich zu diskutieren, wurde mehr und mehr unmöglich [-> Protokoll Nr. 59]. Einzig im Frei- In einer Vielzahl von Fällen berühren sich die Frage- raum der Kirchen konnten solche Gedanken in der stellungen des Themenfeldes „Ro lle und Selbstver- Verkündigung und im Gespräch — nicht aber im ständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der zensierten Schrifttum — vermittelt werden. Die SED-Diktatur" sachlich auch mit den Anhörungen Beschäftigung mit der christlichen Anthropologie und Expertisen anderer Themenfelder, ohne daß unter philosophischen Gesichtspunkten konnte auch dieses hier im einzelnen nachgewiesen wird. in den Theologischen Fakultäten/Sektionen an den

Universitäten der DDR nicht ausreichend erfolgen.

Anthropologische Probleme blieben jedoch immer in b) Bericht der Entfaltung des biblischen Menschenbildes im Rahmen der exegetischen Fächer und der Kirchenge-

1. Grundsätzliche Fragestellungen schichte präsent. Auch im Grundstudium des Marxis- mus-Leninismus für Theologiestudenten wurden in

diesem Zusammenhang oft heftige Diskussionen Im Themenfeld V „Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED geführt. Trotzdem blieb für den philosophisch-anthro- pologischen Diskurs vor allem nur der schmale Raum Diktatur" ließ sich die Enquete-Kommission bei der Abfassung ihres Berichtsteils von der Erkenntnis lei- der kirchlich-theologischen Ausbildungsstätten bei- der Kirchen, der Pastoralkollegs, der Evangelischen ten, daß bei einer politischen Bewertung der Rolle der Kirchen in der DDR und der Darstellung der SED- Akademien und der Studentengemeinden übrig, in Kirchenpolitik folgende Fragestellungen im Vorder- dem die Auseinandersetzung mit dem Marxismus- Leninismus allerdings auch „fastkonspirativ" organi- grund stehen müssen: siert werden mußte [-> Krötke, Protokoll Nr. 61; vgl. — Wie verhielt sich die SED-Diktatur zu den Kir- ähnlich auch — Expertise Schröder: -> Jüngel, Proto-

chen? koll Nr. 56; ->9 Wanke, Protokoll Nr. 59]. Weder die SED noch die Kirchen wollten diesen anthropologi- — Wie verhielten sich die Kirchen gegenüber den Zwangsmaßnahmen und Beeinflussungsversu- schen Grundkonflikt beseitigen. Trotzdem betonte die „führende Partei" fortwährend das „gemeinsame chen der SED-Diktatur? humanistische Anliegen" von Christen und Marxi-

— Welche politischen Auswirkungen hatte die Exi- sten. Sie forderte auf dieser Basis von den Kirchen die stenz unabhängiger Kirchen auf die SED-Dikta- Zusammenarbeit auf bestimmten Feldern (z. B. „Frie-

tur? denskampf", Akzeptanz des Klassenstandpunktes Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode zugunsten der Unterdrückten in der Dritten Welt und konkreten Situationen und Spannungsverhältnissen in den kapitalistischen Staaten). verdichteten. Deshalb ist immer wieder bewußt zu machen, daß neben der wissenschaftlichen Erörte- Weiterhin hatte die Enquete-Kommission herauszuar- rung des Themas „Kirchen" in diesem Bericht auch beiten, daß die Kirchen als einzige gesellschaftliche die Beachtung des Erfahrungshorizonts der Menschen Institutionen nicht in das totalitäre Gesellschaftsmo- innerhalb und außerhalb der Kirchen in der DDR dell der SED-Diktatur eingegliedert werden konnten. wichtig war. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis- mus hatten die Kriterien im Umgang mit dem totalitä- Angesichts der Pluralität der Kirchen in der DDR hat ren Staat entwickelt, die in den evangelischen Kirchen sich die Enquete-Kommission um Objektivität bemüht Bekenntnisrang erlangten. Die Kirchen waren von der und deshalb bei ihrer Urteilsbildung vor allem auf das SMAD im Rahmen ihrer Volksfrontpolitik als „antifa- in den Expertisen und den Anhörungen zur Verfü- schistische Kräfte " eingestuft worden. Das sicherte gung gestellte Mate rial zurückgegriffen. Dieses Ver- ihnen einen besonderen, quasi „öffentlich-rechtli- fahren erforderte aber auch, eine Auswahl zu treffen chen" Status, an dem auch die SED nichts Grundle- und Schwerpunkte zu setzen. gendes ändern konnte. Damit unterschied sich die Situation der Kirchen in der DDR von der in den Der Berichtsteil zum Themenfeld „Rolle und Selbst- Kirchen anderer sozialistischer Staaten. verständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur" behandelt zunächst im Überblick Zu den stabilisierenden Faktoren, auf die sich die die SED-Kirchenpolitik. Diese läßt sich allerdings nur Kirchen in ihren Auseinandersetzungen mit der SED- im Gegenüber und unter Berücksichtigung der Diktatur stützen konnten, gehörten auch ihre gesamt- gegenseitigen Reaktionen von SED und Kirchen ad- deutschen Strukturen, die auch über die von der SED äquat erfassen. Deshalb wurde hier eine integrie- erzwungenen Trennlinien hinweg fortwirkten. rende Form der Darstellung gewählt, in die auch um Gleichwohl waren bei den Kirchen, besonders beim des besseren Verstehens willen Skizzen der inner- Bund Evangelischer Kirchen in der DDR, pragmati- kirchlichen und theologischen Entwicklungen einge- sche Anpassungsversuche zu beobachten, die auf arbeitetet wurden. unterschiedliche Weise auch theologisch begründet wurden. Die SED versuchte — zum Teil mit Erfolg —, Mit den zwei politisch besonders hervortretenden solche Ansätze zum Auseinanderdividieren („Diffe- Konfliktfeldern im Verhältnis der SED zu den Kirchen, renzierung") von einzelnen Kirchen, Gruppen, Gre- nämlich der Friedensarbeit der Kirchen und den mien und Persönlichkeiten einzusetzen und damit das Gruppen innerhalb und am Rande der Kirchen, wer- gesellschaftliche Potential der Kirchen in ihrem den Entwicklungen nachgezeichnet, innerhalb derer Machtbereich zu instrumentalisieren und einzugren- sich kritische Potentiale formierten. zen. Die katholische Kirche in der DDR wird in einem „Bedacht muß werden, warum die SED-Gesellschaft eigenen Kapitel dargestellt, um ihre besondere Aus- die Kirche so lange beherrschen konnte und ihr die gangslage sowie ihre innerere Verfaßtheit und Stel- geistige Legitimation zu DDR-Zeiten nicht nachhaltig lung gegenüber dem SED-Staat angemessen zur Gel- entzogen wurde. Die Erforschung des Phänomens tung bringen zu können. Auf die Freikirchen und totalitärer Herrschaft am Beispiel der SED-Kirchen- anderen Religiongemeinschaften in ihrem Verhältnis politik und das Ringen um die Überwindung ihrer zum SED-Staat konnte hingegen nur knapp einge- langfristig nachwirkenden Folgen ist eingebettet in gangen werden, da dieses Thema in den Anhörungen die Auseinandersetzung zwischen totalitären und auf- nicht eigens thematisiert wurde. klärerischen Traditionen der europäischen und besonders der deutschen Kulturgeschichte." [-> Ex- Zum Schluß werden die Beziehungen zwischen den pertise Neubert] Weiterhin war zu beachten, daß die Kirchen im geteilten Deutschland und ihre Haltung Kirchen und die Christen direkt oder indirekt in allen zur deutschen Frage behandelt. Zumal sich daran Gesellschafts- und Lebensbereichen der DDR eine nochmals zeigen läßt, in welchem Ausmaß die Kirchen Rolle spielten und von diesen beeinflußt wurden. in die politischen Entwicklungen im geteilten Deutschland einbezogen waren. Außerdem war zu berücksichtigen, daß sich die Enquete-Kommission mit dem Themenfeld „Kirchen" Institutionen zuwandte, die — im Unterschied zu den untergegangenen DDR-Institutionen — weiterhin exi- stieren und die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit 2. Die SED-Kirchenpolitik und die Entwicklungen selbständig betreiben. Im übrigen entspricht es der innerhalb der evangelischen Landeskirchen Vielfältigkeit der kirchlichen Wirk lichkeit und der der DDR theologischen Konzeptionen in der DDR, wenn in Rechnung gestellt wird, daß es zu jeder in diesem Bericht berücksichtigten Aussage oder Posi tion eine 2.1 Die Anfänge und die innerkirchlichen differenzierende und oft sogar gegenläufige Betrach- Diskussionen tungsweise gab. Das gilt insbesondere auch für den Bereich der evangelischen Theologie. Bei der poli- In Anlehnung an die Volksfrontkonzeption des tisch akzentuierten Beurteilung der dort oft krass VII. Weltkongresses der Kommunistischen Interna tio- einander entgegenstehenden Konzeptionen muß im nale (1935) bezog sich die KPD/SED zunächst immer Auge behalten werden, daß sich in diesen Posi tionen wieder auf den „gemeinsamen antifaschistischen die Erfahrungen und Einsichten von Menschen in sehr Widerstand" von Christen und Marxisten gegen die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 nationalsozialistische Diktatur, wie er z. B. in den brennender geliebt haben. Nun soll in unserer Kirche Konzentrationslagern des „Dritten Reiches" und im ein neuer Anfang gemacht werden. " Die politische „Nationalkomitee ,Freies Deutschland' " verwirklicht und historische Unbes timmtheit der Aussagen dieser worden sei. Tatsächlich jedoch blieb auf der Grund- Erklärung wurde innerhalb der deutschen Kirchen lage einer strikten Trennung von Staat und Kirche die bald von konservativen Gruppierungen wie von radi- Schwächung des religiösen, kulturellen und gesell- kalen Kreisen des bruderrätlichen Flügels der „Be- schaftlichen Einflusses der Kirchen das langfristige kennenden Kirche" heftig kritisiert. Das veranlaßte strategische Ziel der KPD/SED. Das schloß nicht aus, einen Teil der bruderrätlichen Exponenten in der EKD daß den Kirchen in der SBZ nach Kriegsende zunächst dazu, im August 1947 das „Darmstädter Wo rt " zu nicht erwartete Freiräume offenstanden. Sie konnten verabschieden, an dessen Formulierung die Theolo- ihren Grund- und Immobilienbesitz behalten, ihre gen Karl Barth, Martin Niemöller und Hans-Joachim inneren Angelegenheiten und Strukturen eigenstän- Iwand maßgeblich beteiligt waren. Die politischen dig regeln sowie die Entnazifizierung ihrer Mitarbei- Aussagen dieses theologischen Textes — insbeson- ter selbständig organisieren. Diese Erfahrungen führ- dere der Hinweis darauf, „daß der ökonomische ten dazu, daß manche Kirchenvertreter zu den Offi- Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an zieren der SMAD konfliktfreiere Beziehungen unter- den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für hielten als zu den deutschen Kommunisten. Ob die das Leben und Zusammenleben der Menschen im Moskauer Führung direkten Einfluß auf die Kirchen- Diesseits hätte gemahnen müssen" — lösten erneut politik in der SBZ nahm, läßt sich bei der gegen- heftige Kontroversen auch unter denen aus, die aus wärtigen Quellenkenntnis noch nicht genau beur- der — in sich heterogenen — „Bekennenden Kirche" teilen. kamen.

Die hier nicht genauer nachzuzeichnenden theologi- Der Vorwurf, daß hier auf der Grundlage einer „Buße schen Entwicklungen der Nachkriegszeit innerhalb ohne Augenmaß" [-> Exper tise Schröder] die berech- der evangelischen Kirchen in der DDR wie überhaupt tigte Forderung nach einer gesellschaftspolitischen in ganz Deutschland lassen sich nur vor dem Hinter- Neuorientierung der Kirchen in eine unreflektierte grund der Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozia- und apolitische Sympathie für den Kommunismus lismus verständlich machen. Der Kampf der „Beken- bzw. einen „Vorschußbonus ,für den Sozialismus' " nenden Kirche" gegen die nationalsozialistisch ver- H Expertise Schröder] einmünde, kennzeichnet die formte Ideologie der „Deutschen Christen" fand sei- außerordentlich ambivalente Wirkungsgeschichte nen prägnanten Ausdruck in der „Theologischen dieses allerdings nur teilweise und spät rezipierten Erklärung" der Barmer Synode der „Bekennenden Dokuments. Dessen Argumentationslinien haben erst Kirche" von 1934, in der einerseits jede Privatisierung zum Ende der sechziger Jahre — in Verbindung mit des Glaubens abgelehnt und andererseits betont der Bildung des BEK — „in den Evangelischen wurde, daß der Christ sich in der Wahrnehmung Kirchen der DDR eine beachtliche Rolle, und keines- seiner Verantwortung in Gesellschaft und Staat nicht wegs nur eine gute, gespielt" [-> Expe rtise Schrö- christusfremden Gesetzlichkeiten unterwerfen darf. der]. Der Kirche ist es deshalb unmöglich, ihre Botschaft und Ordnung vom Wechsel der herrschenden weltan- In den Kontroversen um die „Stuttgarter Schulderklä- schaulichen und politischen Überzeugungen abhän- rung" und das „Darmstädter Wo rt " spiegelten sich auf gig zu machen. Dem Staat wies die Banner Theologi- je unterschiedliche Weise die theologischen Grund- sche Erklärung die Funktion eines Instruments zur richtungen des Luthertums (Zwei-Reiche-Lehre) und Bewahrung von Recht und Frieden zu. Über die der Barthianer (Königsherrschaft-Christi-Theologie) verfassungsmäßige Ausgestaltung des Staates wurde wider [-> Expertise Schröder]. Die Anhänger der in diesem Bekenntnis nichts ausgesagt, unmißver- Königsherrschaft-Christi-Theologie sahen Entspre- ständlich war jedoch die theologische Absage an chungen zwischen dem Reich Gottes und einem jeden totalitären Staat. Da die Barmer Theologische demokratischen (!) Sozialismus. Deshalb neigten sie Erklärung in allen ev angelischen Landeskirchen als dazu, sozialistischen Gesellschaftsmodellen den Vor- Bekenntnisschrift be trachtet und in vielen evangeli- zug zu geben, wie sich etwa in der Theologie von Josef schen Kirchen im Ordinationsgelübde zitiert wird, Hromádka (Prag) zeigte. Beide theologische Strömun- müssen sich die Kirchen auch nach den klaren Nor- gen, die ihre jeweiligen Vertreter zu sehr gegensätz- men fragen lassen, die hier aus den Erfahrungen mit lichen politischen Schlußfolgerungen und Verhal- der nationalsozialistischen Diktatur formuliert worden tensweisen anleiten konnten, wurden besonders seit waren. Weshalb diese Einsichten späterhin nur noch den sechziger Jahren zusätzlich durch eine erkennbar in Teilen der evangelischen Kirchen normativ wirk- interessengeleitete und deshalb stark selektive ten, muß weiter gefragt und noch umfassend aufge- Rezeption des aus lutherischer Tradi tion kommenden klärt werden. Theologen Dietrich Bonhoeffer („Kirche für andere") beeinflußt. Für den Neuaufbau der evangelischen Kirchen nach Kriegsende gewann neben der Barmer Theologischen Mit der Gründung der Evangelischen Kirche in Erklärung die „Stuttgarter Schulderklärung", die füh- Deutschland (EKD) im Jahr 1948 schufen sich die rende Persönlichkeiten der ev angelischen Kirchen bei evangelischen Landeskirchen wieder eine konföde- einem Treffen mit Vertretern der Ökumene im Okto- riert strukturierte Dachorganisation. Fortan stellte die ber 1945 vorlegten, grundlegende Bedeutung: „Wir gesamtdeutsche EKD eine wich tige Klammer für das klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht zunächst in vier Besatzungszonen und dann in zwei treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht Staaten geteilte Deutschland dar. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

2.2 Die Instrumente der SED-Kirchenpolitik Kirchen und in der kirchlichen Mitarbeiterschaft auf eine verhältnismäßig große Zahl Inoffizieller Mitar- Insgesamt gesehen basierte der Apparat der SED- beiter (IM). Kirchenpolitik auf mehreren „Linien" von unter- Fast unübersehbar war die Fülle der Mo tive, die die schiedlicher Kompetenz (Parteidienststellen, MfS, Menschen aus direkten oder indirekten materiellen Staatsapparat und Ost-CDU), die alle vom ZK der SED Interessen zur Mitarbeit beim MfS bewogen haben. direkt und straff angeleitet wurden. Diese Instrumente Hier spielten Karriereaussichten, Reisemöglichkeiten zur konzeptionellen Gestaltung und Durchsetzung in das „nichtsozialistische Ausland", die Bereitstel- ihrer Kirchenpolitik sind von der SED erst allmählich lung von Ausbildungsplätzen für die Kinder, Ordens- ausgebaut und dann fortlaufend den sich ändernden verleihungen sowie — vergleichsweise selten — Rahmenbedingungen angepaßt worden. Federfüh- direkte und regelmäßige finanzielle Zuwendungen rend blieben stets die jeweiligen für Kirchenfragen eine Rolle. Manche beugten sich auch dem erpresse- zuständigen Kommissionen und Arbeitsgruppen beim rischen Druck des MfS. ZK der SED. Ihre Rückbindung an sowjetische Dienst- stellen und ihre unmittelbare Anleitung durch die Die IM innerhalb der Kirchen — besonders auf kir- SED-Spitzenfunktionäre sind im einzelnen noch chenleitender Ebene, aber auch unter der Pfarrer- genauer zu erforschen. schaft — waren erstaunlich oft Gesinnungstäter, die angesichts der politischen Realitäten im geteilten Auf der Ebene der Staatsorgane wurde zunächst die Deutschland glaubten, „im Interesse der Kirche bzw. „Hauptabteilung Verbindung zu den Kirchen" gebil- des Staat-Kirche-Verhältnisses etwas bewirken zu det. Ab März 1957 trat die „Dienststelle des Staatsse- können" [-> Expertise Neubert]. kretärs für Kirchenfragen" als SED-geleitetes Staats- organ den Kirchen direkt gegenüber, während die Die IM wurden auf allen Ebenen in den Kirchen eigentliche Beschlußebene im ZK der SED für die eingesetzt. Besondere Bedeutung kam selbstver- Öffentlichkeit unsichtbar blieb. Das gilt in noch stär- ständlich solchen IM zu, die in Leitungsfunktionen kerer Weise für die Abteilung V/6 des MfS, die Zugriff auf interne Informationen hatten, die von der 1954/55 aus dem bisherigen Referat „Kirchen und SED bei ihrer differenzierenden Gesprächspolitik ver- Sekten" der Hauptabteilung V geschaffen wurde. wendet werden konnten. Diese wirkten sich auf Diese MIS-Dienststelle, 1964 zur Hauptabteilung kirchliche Entscheidungen und auch auf die Personal- XX/4 umstrukturiert, verzweigte sich bis auf die politik innerhalb der Kirchen maßgeblich aus. Kreisebene hinab. Mit Kirchenfragen waren weiterhin die Abteilungen Innere Angelegenheiten befaßt, Besonders interessant war deshalb für das MfS vor deren Organisationsstrukturen ebenfalls bis hinunter allem die Gruppe der leitenden Kirchenjuristen und auf die Kreis- und Stadtbezirksebene reichten. Auch der kirchlichen Verwaltungsbeamten, bei denen die Ost-CDU mit ihrer Abteilung Kirchenfragen beim inzwischen eine besonders starke geheimdienstliche Hauptvorstand betätigte sich bis zum Beginn der Durchdringung nachgewiesen worden ist. Seit Mitte siebziger Jahre auf kirchenpolitischem Gebiet, wobei der fünfziger Jahre ist eine ausgedehnte IM-Tätigkeit sie eine enge Kooperation mit der zuständigen Abtei- leitender Kirchenjuristen in fast allen Landeskirchen lung beim ZK der SED praktizierte. Danach behielt festzustellen. In der gegenwärtigen öffentlichen Dis- sich die SED die Ausarbeitung und Durchsetzung der kussion werden diese Zusammenhänge insbesondere kirchenpolitischen Richtlinien alleine vor und be- in Verbindung mit dem früheren Konsistorialpräsi- grenzte die Ost-CDU auf die ausschließliche Betreu- denten der Berlin-Brandenburgischen Kirche kontro- ung ihrer eigenen Mitglieder. vers erörtert.

Die SED mußte ihre Haltung gegenüber den Kirchen Das MfS organisierte gegen zahlreiche kirchliche und Religionsgemeinschaften mit der Führung der Amtsträger und Mitarbeiter Maßnahmen der „Diffe- KPdSU und mit den anderen „sozialistischen Bruder- renzierung" und „Zersetzung", der Manipula tion und ländern" abstimmen. Die von den Leitern der Staatli- der Instrumentalisierung. Diese reichten von Mordan- chen Kirchenämter in unregelmäßigen Abständen schlägen bis hin zu Verleumdungsaktionen, be trafen gehaltenen Konferenzen dienten dem Informations- das Familienleben und die Ehen, die Ausbildungs- austausch und der Vorbereitung gemeinsamer Aktio- und Berufschancen der Kinder, die psychische nen, vor allem im Bereich der ökumenischen Arbeit Gesundheit und den Freundeskreis der vom MfS oft der Kirchen. über Jahre hin „bearbeiteten" kirchlichen Mitarbei- ter. In vielen Fällen erfuhren die Betroffenen erst durch die Einsichtnahme in ihre Stasi-Akten, in wel- chem Ausmaß das MfS in ihr Leben eingegriffen 2.3 Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung hatte. der SED-Kirchenpolitik Zur Klärung der Haltung einzelner kirchlicher Füh- Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der SED- rungspersönlichkeiten gegenüber dem SED-Staat Kirchenpolitik und der Versuch, die Kirchen auf allen und zur fortlaufenden Kontrolle ließ das MfS sog. Ebenen mit geheimdienstlichen Mitteln zu durchdrin- Operative Personenkontrollen (OPK) durchführen. gen, läßt sich nur dann richtig verstehen, wenn Daran waren zumeist IM — oft ohne Kenntnis der berücksichtigt wird, daß das MfS auch auf diesem näheren Zusammenhänge — in großer Zahl beteiligt. Gebiet stets als „Schild und Schwert der Partei" Welches Ausmaß diese Aktionen erreichten, zeigt die handelte. Bei seiner Beeinflussungs- und Zerset- heute aktenmäßig zu belegende Tatsache, daß bis zungstätigkeit stützte sich das MfS auch im Raum der 1985 alle Bischöfe in der DDR — sofern sie nicht als IM Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 registriert waren — in OPK bzw. OV erfaßt worden vielfältige Organisationsformen und demokratisch- waren [-> Exper tise Besier]. synodale Verfassung: „Der Willens- und Meinungs- bildungsprozeß in den Kirchen konnte zwar beein- Inwieweit es dem MfS gelungen ist, über seine IM in- flußt, aber nicht vollständig gelenkt werden. In infor- Ost und West auch kirchenpolitische Entscheidungen mellen Gruppen, in Gemeinden, in den verschiede- der westdeutschen Kirchen zu beeinflussen, bedarf nen Werken und auch in den Synoden wurde oft noch der Aufarbeitung: „Als sicher muß gelten, daß allergisch reagiert, wenn staatliche Einflußnahme die Zurückhaltung Westdeutscher in öffentlichen allzu deutlich wurde" [-> Expertise Neubert]. Äußerungen über die wahren Verhältnisse in der DDR, aus Rücksichtnahme gegenüber Ostdeutschen, Die Mehrzahl der kirchlichen Mitarbeiter orientierte von IM verstärkt worden ist" [-> Exper tise Neubert]. sich an den klaren dienstrechtlichen Regelungen, die Die ersten Enthüllungen über das Ausmaß der der Bewahrung der kirchlichen Unabhängigkeit dien- geheimdienstlichen Maßnahmen, die das MfS in den ten. Für sie galt die bindende Verpflichtung zur Kirchen und gegen diese organiert hat, lösten inner- Verschwiegenheit und zur Wahrung des Beichtge- halb der Kirchen selbst und in der Öffentlichkeit tiefe heimnisses. Auch Laien in kirchlichen Funktionen Bestürzung aus. Hier ging es nicht nur um das haben ihre Integrität häufig eindrucksvoll unter Ansehen von Institutionen und Amtsträgern, die m an Beweis gestellt. Heute wird allerdings erkennbar, daß weithin als integer erlebt und betrachtet hatte, son- die Verpflichtung zur Verschwiegenheit in Einzelfäl- dern auch um die Beurteilung des Zustandekommens len gerade von einzelnen kirchenleitenden Persön- der politischen Wende 1989. lichkeiten nicht erfüllt wurde. Sie hielten einerseits ihre Untergebenen zur Verschwiegenheit an und Es ist dem MfS zumindest teilweise gelungen, über die führten andererseits mit dem MfS „vertrauensvolle von ihm gewonnenen IM seine Interessen in den Gespräche", über die sie die kollegialen Gremien, Kirchen von innen heraus zu verfolgen. Über die IM denen sie angehörten, nicht unterrichteten. war das MfS auch an wich tigen Sach- und vor allem Personalentscheidungen beteiligt. Welches Ausmaß Die Schwierigkeit, Erfolge und Grenzen des MfS in die „Beteiligung" des MfS dabei erreichen konnte, der Beeinflussung der Kirchen realis tisch einzuschät- belegen beispielsweise die MfS-Akten zur Wahl des zen, beruht darauf, „daß eine klare Grenzziehung Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Branden- zwischen Kollaboration und Verweigerung, zwischen burg von 1981. Das MfS konnte sich hier auf drei IM im Anpassung und Widerstand, zwischen Wahrung Bischofswahlkollegium und zwölf in der Synode, die kirchlicher Unabhängigkeit und der Bindung an den 110 Mitglieder hatte, stützen, ohne daß damit schon SED-Staat nur selten möglich ist". Vielmehr zeigt sich die Grenzen seiner Beeinflussungsmöglichkeiten bei der Analyse des individuellen Einzelfalls, „daß erreicht worden wären [-> Expertise Besier]. selbst manche IM, die sich schwerster Rechtsverlet- Immer wieder gelang es dem MfS auch, durch den zungen schuldig gemacht haben und die das Ver- Einfluß seiner IM kritische Potentiale innerhalb der trauen ihrer Umgebung gröblichst mißbraucht haben, Kirchen zu neutralisieren und diese damit zu entpoli- noch glaubten, im Interesse der Kirchen zu handeln, tisieren. Das geschah innerhalb der DDR auf dem und eine Art Doppelloyalität entwickelten" [-> Exper- Wege der „Differenzierung", durch die Organisa tion tise Neubert]. von Zersetzungsmaßnahmen gegen mißliebige Per- Die Aufarbeitung der MfS-Problematik setzte inner- sönlichkeiten sowie destruktive Einwirkungen auf halb der Kirchen Anfang 1991 ein. Erste publizistische kritische Gruppen, Kreise und Gemeinden. Außer- und wissenschaftliche Veröffentlichungen dazu lö- halb der DDR arrangierte das MfS Desinformations- sten eine bis heute anhaltende innerkirchliche und kampagnen, durch die in der westlichen Offentlich- öffentliche Diskussion aus: „Obwohl eine völlig wert- keit die Existenz einer kirchlichen und zunehmend freie Analyse nicht möglich ist, sind alle diese Veröf- auch politisch selbständigen Opposi tion in der DDR fentlichungen und Analysen [... ] kritisch zu befragen, heruntergespielt und darüber hinaus für die Belange ob sie nicht entweder fundamentalistisch die im der Kirchen als schädlich dargestellt wurde. Schriftgut dokumentierten SED-Interessen zum er- Den Erfolgen im Bereich der Kirchen müssen aber kenntnisleitenden Muster erheben, oder apologe tisch auch die Grenzen entgegengehalten werden, auf die die Umstände und Verhältnisse der Diktatur als Deter- das MfS stieß. Der konspirative Charakter seiner minanten individuellen und kirchlichen H andelns Tätigkeit wurde begrenzt durch die prinzipielle bestimmen" [-> Expertise Neubert]. Öffentlichkeit des kirchlichen Wirkens. Es gelang Aufgrund der Aktenvernichtungsaktion des MfS dem MfS auch nicht, das Vertrauensverhältnis inner- Mitte Dezember 1989 sind der volle Umfang und die halb der kirchlichen Mitarbeiterschaft und an der ganze Intensität der IM-Tätigkeit in den Kirchen nur Basis grundlegend zu zerstören. Trotz aller Spannun- noch schwer zu ermitteln. gen innerhalb der kirchlichen Mitarbeiterschaft, die durch die Einwirkungen des MfS erzeugt wurden, blieb der Zusammenhalt weithin gewahrt. Begrenzt wurde die Tätigkeit des MfS gegenüber den Kirchen 3. Ausgewählte Problem- und Konfliktfelder auch durch die Vielgestaltigkeit der kirchlichen im Verhältnis von SED-Staat Arbeitsformen. Schon Mitte der achtziger Jahre lassen und evangelischen Kirchen die MfS-Akten erkennen, daß die Kontrolle über die Aktivitäten im kirchlichen Raum zunehmend verlo- Die Enquete-Kommission konnte nur einige ausge renging. Entscheidend begrenzt wurde der Einfluß wählte Problem- und Konfliktfelder zwischen der SED des MfS innerhalb der Kirchen vor allem durch deren und den Kirchen genauer betrachten. Es versteht sich Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode von selbst, daß solche Bereiche des kirchlichen gesellschaftlich-kulturellen Organisationen einbe- Lebens wie die Jugendarbeit und die Diakonie mit zog, wurden rund 30 Pfarrer und kirchliche Mitarbei- ihren vielfältigen und weit in die DDR-Gesellschaft ter verhaftet; viele andere einzuschüchtern versucht. ausstrahlenden Arbeitsformen, die ökumenische Ar- Der kirchliche Religionsunterricht in den Schulräu- beit im eigenen Land und weltweit sowie die kultu- men wurde verboten. Außerdem sind ca. 3 000 kirch- rellen Aktivitäten der Kirchen zu einem wirklichkeits- lich gebundene Schüler von den Oberschulen rele- nahen Bild der Kirchen in der DDR gehören. giert und die Finanzleistungen des Staates an die Kirchen blockiert worden.

Im Zusammenhang mit der Politik des Neuen Kurses nach dem Tode Stalins verordnete die sowje tische 3.1 Der Kampf der SED gegen die Kirchen Führung der SED-Spitze bei einer Konferenz Anfang in den frühen fünfziger Jahren Juni 1953 auch eine neue Kirchenpolitik: Es müsse Schluß mit „dem nackten Administrieren in bezug auf Das erste Gebiet, auf dem sich ein grundlegender die Geistlichen" sein, außerdem sei „die schädliche Konflikt zwischen der SMAD und später der SED auf Praxis der groben Einmischung der Behörden in die der einen und den Kirchen auf der anderen Seite Angelegenheiten der Kirche" einzustellen. Anstelle ergab, war das der Schule einschließlich des kirchli- von Repressalien, die nur den „religiösen Fanatis- chen Unterrichts. Die im Gemeinsamen Aufruf von mus" stärkten, komme es darauf an, die Kirchen durch KPD und SPD vom 18. Oktober 1945 geforderte eine „tüchtig durchdachte Aufklärungs- und Kultur- Schulreform legte erstmals das Prinzip der „Trennung arbeit" zurückzudrängen [->Exper tise Goerner/ von Kirche und Schule" fest. Dagegen protestierten Kubina]. Diese von der sowjetischen Führung durch- namhafte kirchenleitende Persönlichkeiten wie der gesetzte neue Linie in der Kirchenpolitik war Teil Berliner Bischof Otto Dibelius oder Kardinal Konrad eines weitergefaßten deutschlandpolitischen Kon- v. Preysing mehrfach öffentlich. Zu nachhaltigem zepts, das die „Gesundung der politischen Lage in der Protest sahen sich die Kirchenleitungen insbesondere DDR" und die Stärkung der deutschlandpolitischen veranlaßt, als die Durchführung des Religionsunter- Position der Sowjetunion zur politischen Hauptauf- richts in den Schulräumen immer mehr behindert oder gabe hatte. In dem Spitzengespräch vom 10. Juni gar unmöglich gemacht wurde. Der Konflikt eska- 1953, an dem bezeichnenderweise auch der MfS-Chef lierte weiter, als die SED-Führung Mitte 1950 ihre Wilhelm Zaisser beteiligt war, gestanden die Staats- Entschlossenheit verkündete, den „dialektischen Ma- vertreter indirekt Verfassungsverletzungen zu und terialismus als die wissenschaftliche Weltanschauung nahmen alle Einschränkungen gegen die Kirchen der Arbeiterklasse" im gesamten schulischen Bereich zurück. durchzusetzen [-> Expertise Goerner/Kubina]. Die „Wiederherstellung des normalen Zustandes" Der taktisch bestimmte Integrationskurs der SMAD in zwischen Staat und Kirchen in der DDR war jedoch den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde ab dem nur von kurzer Dauer. Die durch den Volksaufstand Frühjahr 1948 vor dem Hintergrund des Kalten Krie- vom 17. Juni 1953 ausgelösten parteiinternen Ausein- ges zunehmend durch ein Konfrontationskonzept andersetzungen führten auch zu einer Verstärkung ersetzt. Mit ihm reagierte die SED-Führung auf die der apparativen und materiellen Voraussetzungen für Weigerung der Kirchenleitungen, die kirchliche Ein- eine intensivierte Differenzierungspolitik gegenüber heit durch stärkere politische Einbindungen in die den Kirchen. In dem Kirchenkampf des Jahres 1953 neuen Machtverhältnisse zu gefährden. Insbesondere konnten die Kirchen zunächst nur öffentliche und der Berliner Bischof Otto Dibelius, der in einem eindringliche Proteste erheben, da die DDR-Regie- Hirtenbrief zum Pfingstfest 1949 die Verhältnisse in rung jedes Gespräch und jede Verständigung der SBZ/DDR mit denen während der Zeit des Natio- ablehnte. Als im Frühsommer 1953 der Druck der nalsozialismus verglichen hatte, geriet zusammen mit SED-Administration immer stärker wurde, erkannte anderen Bischöfen, die in ihrer Absage an den totali- die Kirchliche Ostkonferenz als Zusammenschluß der tären Staat nicht zu erschüttern waren, in das Kreuz- evangelischen Kirchenleitungen in der DDR die feuer der SED-Propaganda. Gefahr, daß zumindest in den Randzonen der Gemeinden unwiederbringliche Verluste eintreten Die SED setzte ab 1950 neben einer verstärkten und die Kirchen völlig aus der Öffentlichkeit ver- atheistischen und antikirchlichen Propaganda immer drängt werden könnten. Sie appellierte deshalb an mehr auf eine als „Differenzierungspolitik" bezeich- Ministerpräsident Grotewohl: „Wir begrüßen jeden nete Strategie gegenüber Kirchenleitungen, kirchli- Schritt, der geeignet ist, die Spannungen zu vermin- chen Mitarbeitern und christlichen Bürgern. Am dern oder zu beseitigen." In dem Kommuniqué vom 27. Januar 1953 beschloß das SED-Politbüro einen 10. Juni 1953 mußten die Kirchen zusichern, „auf detaillierten Maßnahmeplan gegen die „Junge verfassungswidrige Eingriffe und Einwirkungen in Gemeinde" (wenn die SED von den „Jungen Gemein- das wirtschaftliche und politische Leben zu verzich- den" sprach, konnte immer auch die katholische ten". Jugendarbeit gemeint sein [-p Exper tise von Hehl]), über den Ulbricht die sowjetischen Genossen noch am Im November 1954 veröffentlichte der Zentrale Aus- gleichen Tage informierte. Danach sollte die „Junge schuß für Jugendweihe in der DDR einen Aufruf, nach Gemeinde" als eine von den „Imperialisten" gesteu- dem junge Menschen „ungeachtet ihrer Weltan- erte „Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und schauung" an der neu eingeführten Jugendweihe Spionage" entlarvt werden. Begleitet von einer mas- teilnehmen sollten. Die Kirchen konnten darin nur siven atheistischen Propagandawelle, in die m an alle eine Verschärfung der weltanschaulichen Auseinan- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

dersetzung und ein Bekenntnis zum Atheismus sehen. SED zu gewinnen waren. Als „reaktionäre" oder gar Sie beharrten deshalb auf der Unvereinbarkeit von „feindlich-reaktionäre Kräfte" hingegen galten alle Konfirmation und Jugendweihe. Ob sie dabei mögli-- diejenigen, die dem weltanschaulichen Totalitätsan- cherweise die Motive der SED-Führung für die Propa- spruch des SED-Regimes entgegentraten, an der gierung der Jugendweihe mißverstanden haben, Wiedervereinigung Deutschlands und der kirchlichen bleibt zu untersuchen. Manche Anzeichen sprechen Einheit festhielten sowie die sozialistische dafür, daß die SED mit der Jugendweihe in erster Linie Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage stell- ein Bekenntnis zum sozialistischen Staat erreichen ten. wollte, bei dem die atheistischen Komponenten eine Randerscheinung darstellten. Besondere Ansatzpunkte für die Strategie der „Diffe- renzierung" boten die Theologischen Fakultäten und Das Zurückweichen der Gemeinden vor den konzen- Sektionen an den Universitäten, auf deren Immatriku- trierten Repressionsmaßnahmen gegenüber jenen lations- und Berufungspolitik die SED direkt einwir- Jugendlichen, die eine Teilnahme an der Jugend- ken konnte. Aus den Akten wird erkennbar, daß die weihe verweigerten, veränderte das Selbstbewußt- SED und das MfS dabei mit langfristigen „Kaderent- sein in den evangelischen Kirchen nachhaltig und wicklungsplänen" operierten. Unerwünschte Theolo- half, „eine neue Selbsteinschätzung der Rolle der gen wurden aus der Universitätslaufbahn hinausge- Kirche in der sozialistischen Gesellschaft" vorzuberei- drängt. Regimetreue Fakultätsangehörige konnten ten [->Jüngel, Protokoll Nr. 56]. Die Kirchenleitungen hingegen Karriere machen, auch wenn ihnen die mußten erkennen, daß die Zahl der Gemeindeglieder, notwendige fachliche Qualifikation fehlte. Auch im die die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur Bereich der kircheneigenen Studien und Ausbil- wagten, sehr viel geringer war, als die kirchlichen dungseinrichtungen gelang zumindest in Einzelfällen Statistiken glauben machen konnten. Auch die kirch- ab den siebziger Jahren die Plazierung „progressiver" liche Jugendarbeit verlor im Streit um Jugendweihe oder doch zumindest „realistischer" Kräfte. Es bleibt und Konfirmation ihre Breitenwirkung unter der DDR- gerade wegen der „beklemmenden Erscheinungen Jugend. Innerhalb der Gemeinden vertiefte sich auf dort" aber erstaunlich, „wieviel saubere und redliche breiter Basis das Gefühl, den Repressionen des SED theologische Arbeit gleichwohl an den Theologischen Regimes schutzlos ausgeliefert zu sein. Fakultäten geleistet wurde" [-> Jüngel, Protokoll Mit der Einführung der Jugendweihe wurde das Ziel Nr. 56.]. der SED-Kirchenpolitik, die Kirchen immer mehr aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, ganz erheblich Am 27. November 1956 befürwortete das Politbüro der gefördert. Die weitgehende Entkirchlichung der SED die Bildung einer „evangelischen Pfarrervereini- DDR-Bevölkerung, die Marginalisierung der Kirchen gung", die „Voraussetzungen für eine politische im gesellschaftlichen Leben der DDR und ihre zuneh- Sammlung fortschrittlicher Geistlicher" schaffen mende Bereitschaft zur pragmatischen Anpassung an sollte. Der am 1. Juli 1958 in Leipzig gegründete die gegebenen Verhältnisse in der SED-Diktatur „Bund Evangelischer Pfarrer in der DDR" blieb jedoch haben hier eine ihrer wesentlichen Ursachen. 1946 immer eine Vereinigung von kirchlichen Außensei- waren noch rund 82 v. H. der Bevölkerung Glieder der tern, der wegen seiner Erfolglosigkeit im November evangelischen Kirchen gewesen. 1964, zum Zeitpunkt 1974 — „ebenso fremdbestimmt wie er gegründet der letzten Volkszählung in der DDR, bei der man die worden war" — wieder aufgelöst wurde [-> Exper tise Konfessionszugehörigkeit abgefragt hatte, war dieser Goerner/Kubina]. Der Beeinflussung weiterer christli- Anteil schon auf etwa 60 v. H. zurückgegangen. cher Bevölkerungsschichten diente auch die Grün- Seitdem blieben alle statistischen Angaben zur Kir- dung einer Reihe von Zeitschriften, die sich an evan- chenzugehörigkeit in der DDR Schätzwerte. Im Sep- gelische und katholische Bürger wandten, aber unter tember 1989 meldete die (Ost-)„ Berliner Zeitung”, direkter Anleitung der SED konzipiert wurden. Insbe- daß sich rund 30 v. H. der Bevölkerung der DDR zu sondere die „Weißenseer Blätter", die sich durch ihre „einer der religiösen Glaubensrichtungen" beken- unbedingte SED-Hörigkeit auszeichneten, müssen nen. Für den evangelischen Bereich rechnete man hier genannt werden. damals noch mit 4,4 Millionen Gliedern in etwa 6 200 Gemeinden gegenüber 1,1 Millionen Katholiken und Die Gründung der Prager Christlichen Friedenskonfe- 245 000 Menschen, die Freikirchen und anderen Reli- renz (CFK), einer internationalen Sammlungsbewe- gionsgemeinschaften zugehörten. Die überwiegende gung linksorientierter Theologen und Laien, am Mehrheit der DDR-Bevölkerung fühlte sich also nicht 1./4. Juni 1958 wirkte sich auch unter den Christen der mehr religiös gebunden. Das führte auch zu einem DDR „differenzierend" aus. Die dortigen Kirchen weitverbreiteten Schwinden des christlich geprägten haben als Institutionen ihre Teilnahme an der CFK als kulturellen Horizonts und der damit verbundenen einzige Kirchen im sowjetischen Machtbereich immer Bildungsgehalte. verweigert. Die CFK fand als sozialismusfreundliche Alternative zur eher westlich orientierten Genfer Seit 1955 setzte die SED unter Einbeziehung „pro- Ökumenischen Bewegung jedoch Zustimmung oder gressiver" Kirchenvertreter, zunächst vor allem aus doch zumindest Beachtung auch bei zahlreichen Thüringen, verstärkt auch auf die Bearbeitung und Theologen und führenden Kirchenvertretern in der „Differenzierung" der Kirchen „von innen". Als „pro- DDR und in der Bundesrepublik. Seit der Invasion der gressiv" galten Persönlichkeiten, die bereit waren, Warschauer Pakt-Staaten in der CSSR führte die CFK innerhalb der Kirchen aktiv im Sinne der SED zu nur noch ein Schattendasein, weil sie — in sich wirken. Als „realistische" Kräfte wurden diejenigen zerstritten — nicht mehr in der Lage war, ihre politi- eingestuft, die für pragmatische Arrangements mit der schen Einseitigkeiten aufzuarbeiten. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

3.2 Die Spaltung der EKD und die Gründung beträchtlich entgegen, wenn sie den Vorwurf des des BEK Verfassungsbruchs gegenüber dem SED-Regime aus- - drücklich zurücknahmen und darüber hinaus zusi- Mit der Verschärfung des „Kalten Krieges „ im Zusam- cherten, die „Entwicklung zum Sozialismus" zu „re- menhang mit dem Ungarn-Aufstand verhärtete sich spektieren „ und mit den „Friedensbestrebungen" der seit 1956 auch die Kirchenpolitik der SED erneut. DDR übereinzustimmen. Durch eine Rundverfügung im Februar 1956 verloren Die Härte der aktuellen Konfrontation zwischen den die Kirchensteuern ihren Charakter als öffentliche Kirchen und der SED wurde durch den grundlegen- Abgaben. Sie wurden damit Vereinsbeiträgen gleich- den Gegensatz der weltanschaulich-politischen Auf- gestellt, deren Einzug die Kirchen selber zu organisie- fassungen und die antikirchlichen Zwangsmaßnah- ren hatten. Das bedeutete das Ende der finanziellen men der SED immer neu verschärft. Schon 1949 hatte Selbstbestimmung der Kirchen in der DDR, die nun Bischof Otto Dibelius öffentlich erklärt: „Gegenwärtig auf Dauer von den Finanzhilfen der westlichen Kir- bedrückt uns mehr als alles andere die Sorge, daß das chen abhängig wurden. Staatsgebilde, das um uns her entsteht, so viel von den Als wichtigstes Ziel der SED-Kirchenpolitik galt von Zügen zeigt, denen in der nationalsozialistischen Zeit nun an, die Loyalität der Kirchen in der DDR gegen- unser Widerstand um Gottes wi llen gegolten hat. " Die über dem SED-Regime zu sichern und deren endgül- auch gesamtdeutsch geführte Diskussion über die tige Loslösung von der gesamtdeutschen EKD zu zutreffende theologische Beurteilung der SED-Staates erzwingen. In einem Grundsatzpapier, das vom Polit- im Lichte von Römerbrief 13 wurde jedoch zuneh- büro der SED im Februar 1957 beschlossen wurde, mend von den Kräften unter Führung Karl Barths sind diese Ziele eingehend beschrieben: Anerken- dominiert, die auch den totalitären SED-Staat als nung der Existenz zweier deutscher Staaten und der „Obrigkeit von Gott" zu verstehen suchten. Der DDR als souveränem Staat, Anerkennung und Unter- Einspruch von Bischof Dibelius, der hierin eine theo- stützung des Aufbaus des Sozialismus und der DDR- logische Überhöhung des Politischen kritisierte und Friedenspolitik, Achtung der Verfassung und der der DDR-Führung attestierte, daß sie nicht mehr unter Gesetze der DDR sowie das gesellschaftliche Engage- das Staatsverständnis von Röm. 13 falle, löste hef tige ment der Christen [-> Expertise Goerner/Kubina]. innerkirchliche und politische Auseinandersetzungen aus, in deren Verlauf der Berliner Bischof in seiner Der Abschluß des Militärseelsorgevertrages 1957 zwi- Kirche wachsende Gegnerschaft erfuhr. schen der Bundesregierung und der EKD diente der SED als willkommener Anlaß, diese längst beschlos- 1958 erschien die „Obrigkeitsschrift" von Bischof senen Ziele, insbesondere die Spaltung der EKD, auch Dibelius als Antwort auf Karl Barths „B rief an einen öffentlich und offensiv zu vertreten. Das Angebot der Pfarrer in der DDR", in dem dieser für Loyalität EKD an die DDR-Regierung, auch mit dieser einen gegenüber der DDR-Regierung eingetreten war. vergleichbaren Vertrag abzuschließen, wurde strikt Demgegenüber bestand Dibelius darauf, daß das zurückgewiesen. Deutlichen Ausdruck fand die Inten- Recht in der DDR zu einem Herrschaftsinstrument der sivierung der SED-Kirchenpolitik auch durch die SED verkommen sei und damit „in der Situa tion des Schaffung des Amtes eines Staatssekretärs für Kir- totalen Staates der den Christen verpflichtende Obrig- chenfragen, dem die Aufgabe übertragen wurde, „die keitsgehorsam supendiert ist" [-> Exper tise Schröder]. reaktionären Kräfte zu isolieren, die schwankenden Das trug dazu bei, die politische Diskussion in den zu uns herüberzuziehen und die positiven Kräfte evangelischen Kirchen polarisierend zu verschärfen. dahin zu bringen, daß sie aktiv in Erscheinung treten" Zunehmend wurde jetzt erkennbar, daß Dibelius sich [-> Expertise Goerner/Kubina]. gegen die barthianisch beeinflußten Theologen mit seiner Konzeption eines „Wächteramtes", das die Der EKD-Bevollmächtigte bei der DDR-Regierung, Kirchen dem Staat gegenüber wahrzunehmen hätten, Propst Heinrich Grüber, wurde seit dem 17. Mai 1957 nicht mehr behaupten konnte. Die grundsätzliche von der SED-Führung nicht mehr anerkannt. In meh- Frage nach der totalitären Obrigkeit und deren reren Begegnungen zwischen staatlichen und kirchli- Anwendbarkeit auf die SED-Diktatur wurde seitdem chen Vertretern allein aus der DDR wurde das Kom- in den evangelischen Kirchen in Ost und West nicht muniqué vom 21. Juli 1958 erarbeitet, in dem sich die mehr gestellt bzw. theologisch entschärft. An dieser DDR-Kirchen ihre Absage an den Militärseelsorge mit „Barmen" nicht zu vereinbarenden Entwicklung vertrag und die „Respektierung der Entwicklung zum hatten auch Theologen und Kirchenvertreter der Bun- Sozialismus" abringen ließen, während die SED- desrepublik einen wesentlichen Anteil; einige spra- Führung sich konkret lediglich auf die Überprüfung chen sogar von der „Sünde des Antikommunismus" . einiger Vorkommnisse im Volksbildungsbereich fest- Im übrigen standen von nun an Fragestellungen im legen ließ. Als Ergebnis einer „Kommuniqué-Politik", Vordergrund, die mehr auf die konkrete gesellschaft- wie sie damals federführend von Bischof Mitzenheim liche Situation ausgerichtet waren. und dem thüringischen Oberkirchenrat Gerhard Lotz (IM „Karl") betrieben wurde, löste die hier gefundene Die Forderungen der SED-Führung nach einer „reali- „Verständigung" innerkirchlich schwere Kontrover- stischeren" Einstellung der Kirchen zeitigten einen sen aus. Die Spitzengespräche des Sommer 1958 ersten sichtbaren Erfolg im Januar 1967 mit der Wahl zwischen DDR-Ministerpräsident Grotewohl und Kir- Albrecht Schönherrs zum Verweser des Bischofsamtes chenvertretern fanden bereits unter der Vorausset- im Ostteil der Evangelischen Kirche von Berlin-Bran- zung statt, daß an ihnen westliche Vertreter der EKD denburg. Die Einführung der neuen DDR-Verfassung nicht mehr beteiligt waren. In dem Kommuniqué vom im Jahr 1968 bedeutete eine wesentliche Verände- 21. Juli 1958 kamen die Kirchenvertreter der SED rung und prinzipielle Verschärfung des kirchenpoliti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 sehen Kurses der SED. Der Entwurf dieser Verfassung ten. Solche Einstellungen gewannen an politischer gestand nur noch dem einzelnen Bürger das Recht auf Aktualität, als im Zusammenhang mit der neuen das Bekenntnis eines religiösen Glaubens und auf die- DDR-Verfassung von 1968 die SED von Bischof Mit- Ausübung religiöser Handlungen zu. Er enthielt keine zenheim am 15. Februar die These verkünden ließ: Aussagen mehr zu den Rechten der Kirchen als „Die Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen öffentliche Institutionen. Damit sahen sich vor allem Republik bilden auch die Grenze für die kirchlichen die evangelischen Landeskirchen, obwohl es ihnen Organisationsmöglichkeiten. " noch gelang, die Positionen der Christen und Kirchen in der neuen Verfassung zu präzisieren, verstärkt in Mit der Trennung der DDR-Kirchen von der EKD war der Gefahr, daß die SED in Zukunft nur noch zu ein wichtiges Teilziel der SED-Kirchenpolitik erreicht. Einzelfallregelungen bereit sein könnte. Das hätte der Den Zusammenschluß der ev angelischen Landeskir- SED-Differenzierungspolitik gegenüber den Kirchen chen in der DDR zu einem Kirchenbund erkannte die und Christen neue Möglichkeiten eröffnet. Regierung der DDR allerdings erst im Februar 1971 offiziell an, da durch den Artikel 4 Absatz 4 der Angesichts dieser Gefahr und unter dem gleichzeiti- Grundordnung des BEK vom 10. Juni 1969 ausdrück- gen Eindruck, daß der Druck des SED-Regimes auf die lich an der „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Landeskirchen in der DDR als Teil der evangelischen Christenheit in Deutschland" festge- gesamtdeutschen EKD die kirchliche Arbeit immer halten wurde. Die „partnerschaftliche Freiheit" , in der schwieriger gestalten würde, begannen die Kirchen in die (nun nur noch westdeutsche) EKD und der DDR- der DDR 1968 — ohne Abstimmung mit den westli- Kirchenbund die „Aufgaben, die alle ev angelischen chen EKD-Kirchen [->Exper tise Lohse, anders Ex- Christen in der Deutschen Demokratischen Republik pertise Schröder] — an dem Entwurf einer Ordnung und in der Bundesrepublik Deutschl and gemeinsam des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR zu betreffen" , zu lösen beabsichtigten, konnte trotz zahl- arbeiten. Die SED sah darin einerseits die Ch ance, die reicher administrativer Behinderungen durch die Kirchen als „einzige, einigermaßen intakte Organisa- DDR-Behörden und mancher innerkirchlicher tion [...], die der impe rialistische Gegner für seine Schwierigkeiten allmählich ausgebaut werden. Die ideologische Diversion mißbrauchen kann und auch schweren Belastungsproben, denen diese gesamt- mißbraucht", zu lähmen [-> Exper tise Goerner/ deutsche Partnerschaft durch Auseinandersetzungen Kubina]. Andererseits befürchtete sie aber auch, daß über theologische, politische und kirchenpolitische der neue Kirchenbund ihre Differenzierungspolitik Sachfragen intern ausgesetzt wurde, blieben der gegenüber den einzelnen Landeskirchen behindern Öffentlichkeit weithin verborgen. könnte. Um diese selbst geförderte und nicht mehr zu verhindernde Entwicklung dennoch wirksam kontrol- lieren zu können, wurde durch die SED frühzeitig das Konzept einer umfassenden personalpolitischen Kon- 3.3 „Kirche im Sozialismus" trolle und Beeinflussung der neuen kirchlichen Bun- desorgane und kirchlichen Führungskräfte entwik- In der Verfassungsdiskussion von 1968 hatten die kelt. Dieses zielte darauf ab, die Kirchen genauso Bischöfe der DDR in ihrem B rief aus Lehnin erklärt: beherrschbar zu machen wie die Blockparteien und „Als Bürger eines sozialistischen Staates sehen wir Massenorganisationen. uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirkli- Die Frage, wie dennoch die Einheit der Kirchen in chen. Als Christen lassen wir uns daran erinnern, daß ganz Deutschland bewahrt werden könne, beschäf- wir es weithin unterlassen haben, die Sache der tigte die Kirchenleitungen in Ost und West. Ange- Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von sichts der immer radikaleren Versuche des SED Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit Regimes, die Einheit der Kirchen auf administrativem zu machen." Eine gültige Interpreta tion dieser Worte, Weg aufzulösen, hatte Bischof Friedrich-Wilhelm die vordergründig wohl vor allem darauf abzielten, Krummacher noch auf der EKD-Synode in Fürsten- die Kirche nicht als staatsfeindliche Ins titution walde im April 1967 erklärt: „Wir glauben, daß unser abstempeln zu lassen, hat es niemals gegeben [-> Ex- Festhalten an der Gemeinschaft der Evangelischen pertise Schröder]. Die Vieldeutigkeit der Formulie- Kirche in Deutschl and vom Evangelium her und aus rungen zeugt vom politischen Geschick der Verfasser, ökumenischer Verantwortung geboten ist. " Diese trug aber dazu bei, der bald üblichen Kurzformel Erklärung entsprach damals noch der Haltung der „Kirche im Sozialismus" den Weg zu ebnen. meisten kirchenleitenden Persönlichkeiten der EKD in beiden Teilen Deutschlands. Trotzdem wuchs die Unter ausdrücklicher Berufung auf das bis dahin Überzeugung, daß die praktische Verwirklichung der kaum rezipierte „Darmstädter Wort" von 1947 wurde kirchlichen Einheit sich zunehmend schwieriger mit der verschieden ausdeutbaren und zu Mißver- gestalten würde. ständnissen Anlaß gebenden Formulierung [-> Exper- tise Schröder] der Weg für das Selbstverständnis des Schon 1963 („Betheler Beschlüsse") hatten einzelne 1969 gegründeten Bundes Evangelischer Kirchen in kirchenleitende Persönlichkeiten in der DDR erstmals der DDR (BEK) „als einer Zeugnis- und Dienstgemein- die Überzeugung vorgetragen, die evangelischen schaft von Kirchen in der sozialistischen Gesellschaft Landeskirchen im östlichen Teilstaat könnten ihre der DDR" (BEK-Synode Potsdam 1970) bereitet. Die weitere Zugehörigkeit zur EKD wegen der faktischen BEK-Synode in Eisenach 1971 sprach dann bereits von Auseinanderentwicklung zwischen West und Ost, der „Kirche in der sozialistischen Gesellschaft, nicht aber auch angesichts des sich ständig steigernden neben ihr, nicht gegen sie". Damit hatte die Formel Drucks der SED-Führung nicht mehr länger durchhal einer „Kirche im Sozialismus" erste Konturen erlangt. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die inhaltliche Füllung dieser Kurzformel blieb jedoch überdehnen", wurde nun auch von kirchenleitenden stets umstritten. Persönlichkeiten allmählich aufgegeben. Im März 1989 empfahl der thüringische Landesbischof Werner Die Bereitschaft zur Annahme des gesellschaftlichen Leich, der noch kurz zuvor die Formel von der „Kirche Umfeldes, in dem die DDR-Kirchen ihren Dienst im Sozialismus" bekräftigt hatte, dann sogar öffent- auszurichten hatten, entlastete diese von dem Ver- lich, zutreffender spräche man von der „Evangeli- dacht, sie wollten nur so l ange überwintern und schen Kirche in der DDR". durchhalten, bis wieder andere und bessere Zeiten kämen. Das führte scheinbar zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen SED-Regime und Kirchen. Die Anerkennung der sozialistischen Gesellschafts- 3.4 Die SED-Kirchenpolitik in den siebziger und ordnung in der DDR als einer Gegebenheit, mit der achtziger Jahren sich die Kirchen auseinanderzusetzen haben, intensi- vierte darüber hinaus langfristig aber auch solche Die Selbstverbrennung des Rippichaer Pfarrers Oskar theologischen Bemühungen, die das gesellschaftliche Brüsewitz am 18. August 1976 in Zeitz löste neben Engagement von Christen in der DDR konkretisieren menschlicher Erschütterung eine Fülle von Langzeit- und eigenständige Stellungnahmen der Kirchen zur wirkungen aus, die noch im einzelnen aufzuarbeiten Entwicklung des „Realsozialismus" erarbeiten woll- sind. Den Kirchenleitungen ist durch diese Verzweif- ten. lungstat ihre Distanz zu den Erfahrungen und Einstel- Eine dauerhafte theologische Wirkung konnte die lungen in den Gemeinden schmerzlich bewußt Formel „Kirche im Sozialismus" schon wegen ihrer gemacht worden. Auch in den Gemeinden wurde inhaltlichen Unbestimmtheit nicht erzielen. Ob hier- dadurch die Schärfe des grundsätzlichen Konflikts mit lediglich eine „Ortsbestimmung" gemeint war, zwischen Ch ristentum und Marxismus, Freiheit und oder ob damit nicht auch Elemente einer „Theologie SED-Diktatur wieder deutlicher wahrnehmbar. Be- der Anpassung" oder sogar Zustimmung zum „realen sonders unter jüngeren Gemeindegliedern erwachte Sozialismus" der DDR zur Geltung gebracht wurden, ein antisozialistisches Bewußtsein, das seit dem Mau- ist nie geklärt worden. Insofern löste die Formel von erbau 1961 allmählich immer mehr in den Hinter- der „Kirche im Sozialismus" auch fortdauernde Irrita- grund getreten war. Besondere Bedeutung erlangte tionen nicht nur im Verhältnis von Kirchen und der Tod des Rippichaer Pfarrers unter Menschen SED-Führung, sondern auch im innerkirchlichen außerhalb der Kirchen, die dem „Realsozialismus" der Bereich aus. Die SED wollte die Formel von der DDR bereits kritisch gegenüberstanden. Sie wurden „Kirche im Sozialismus" als Akklamationsbeweis durch das Geschehen von Zeitz auf die Kirchen bewerten und befürchtete zugleich, daß sich mit dem aufmerksam und begannen — unabhängig von ihren dadurch geprägten kirchlichen Selbstverständnis weltanschaulichen Prägungen — zu erkunden, was auch reformistische Ideen in ihrem Machtbereich sie in die Kirchen einbringen und wie sie sich dort ausbreiten könnten. Die Kirchen ihrerseits mußten artikulieren könnten. Zeitzeugen zählen deshalb auch registrieren, daß diese Beschreibung ihrer Existenz in den Tod von Oskar Brüsewitz zu den Anstößen für das den Gemeinden kaum Akzeptanz fand und zumeist Entstehen einer alternativen politischen Kultur im ignoriert wurde. Auch auf ökumenischer Ebene fand Umfeld der Kirchen in der DDR. diese Formel nur geteilte Zustimmung. Die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz wirkte Spätestens in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesre- — im Zusammenhang mit der durch Gorbatschow im publik und darüber hinaus als Fanal. Im Gegensatz Ostblock eingeleiteten gesellschaftlichen Aufbruchs- dazu stehen die zahlreichen Einsprüche von kirchli- bewegung — nahm auch innerhalb der DDR die cher und publizistischer Seite gegen die Eröffnung des innerkirchliche und theologische Kritik an der „vor- „Brüsewitz-Zentrums" in Bad Oeynhausen im Juni läufigen Interpretation- und Kompromißmetapher" 1977, die besonders auch von westdeutscher Seite zu. Markante Stationen dieser Entwicklung waren die vorgetragen wurden. Sie offenbarten nochmals die Studie der Studienabteilung des BEK „Zum Gebrauch Tiefe des Bruchs, der durch den Tod des Rippichaer des Begriffes Kirche im Sozialismus", der Aufsatz Pfarrers innerhalb der Kirchen selbst und gegenüber Richard Schröders „Was kann ,Kirche im Sozialismus' der SED-Diktatur offengelegt worden war. Auch im sinnvoll heißen?" und der Begleitbrief, mit dem der Westen waren einflußreiche kirchliche Kreise bereit, Ost-Berliner Propst Hans-Otto Furian die BEK-Studie sich von der politischen Kritik an dem SED-Regime, an die Superintendenten versandte. Darin wurde in wie sie im „Brüsewitz-Zentrum" laut wurde, zu kritischer Zuspitzung auf eine Rede des „Reichsbi- distanzieren. Desgleichen wurde das Verhältnis von schofs" Ludwig Müller aus dem Februar 1934 verwie- DDR-Kirchen und SED durch die Selbstverbrennung sen, in der dieser für die Deutschen Christen erklärt in Zeitz trotz mannigfacher kirchlicher Beschwichti- hatte: „Wir stehen nicht neben oder gegen den Staat, gungsversuche seitens der SED erneut schweren sondern wir stehen mitten im Staat als seine treuesten Belastungen ausgesetzt. Das veranlaßte den Bund Helfer und seine festeste Stütze" [-> Expertise Schrö- Evangelischer Kirchen in der DDR im Herbst 1977 zu der]. Geheimverhandlungen mit dem Ziel, nach zwanzig- jähriger Pause ein erneutes Spitzengespräch von Staat Die „Harmoniekonstruktion" und „Integrationsfor- und Kirche zustandezubringen. mel" der „Kirche im Sozialismus", die die evangeli- schen DDR-Kirchen in einen spezifischen „Provinzia- Am 6. März 1978 empfing der Staatsratsvorsitzende lismus" geführt und zudem die Gefahr mit sich Honecker den Vorstand des BEK zu dem bis ins gebracht hatte, „die kirchliche Mitverantwortung zu einzelne vorbereiteten Grundsatzgespräch, bei dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 beide Seiten „mit Befriedigung" feststellten, „daß die konspirativer Mittel — für ihre Ziele zu instrumenta- Beziehungen der Kirchen zum Staat in den letzten lisieren versuchte. Die vertraulichen innerdeutschen Jahren zunehmend von Sachlichkeit, Vertrauen und Kontakte auf politischer Ebene, die von den Kirchen Freimütigkeit geprägt werden". Für die kirchlichen vermittelt wurden, und das politische Krisenmanage- Vertreter wurde ein Satz aus Albrecht Schönherrs ment, in das die Kirchen stellenweise eingebunden Ansprache bei diesem Empfang zum Maßstab des waren, sind in ihrem gesamtpolitischen Stellenwert Staat-Kirche-Verhältnisses: „Das Verhältnis von Staat noch genauer zu erforschen. und Kirche [in der DDR] ist so gut, wie es der einzelne In den achtziger Jahren verzichtete die SED unter dem christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situa- Eindruck, daß die großen Zukunftsperspektiven des tion vor Ort erfährt." Die SED-Führung betonte hin- Sozialismus in immer weitere Fernen vertagt werden gegen die prinzipielle Zustimmung der Leitung des mußten, weitgehend auf spektakuläre antikirchliche BEK zur SED-Politik. Unter dieser Voraussetzung Maßnahmen. Das schloß allerdings das Fortbestehen gestand die SED ausdrücklich die Respektierung der von Diskriminierungen einzelner Christen nicht aus. berechtigten Interessen der Kirchen und deren Eigen- Jedoch wurden mit der nun immer deutlicher werden- ständigkeit zu [-> Exper tise Noack]. Das Gespräch, den Krise der SED-Herrschaft auch die Kirchen — das von beiden Seiten häufig in aktuellen Konfliktsi- ganz gegen deren Willen — für die SED-Machthaber tuationen zitiert und fast in den Rang einer Verfas- wieder zu einem erheblichen Sicherheitsproblem. sungsurkunde gerückt wurde, blieb hef tig umstritten. Innerhalb der Kirchen gab es eine immer größere Zahl Manche kirchliche Kritiker sprachen sogar vom „Ver- von Menschen, die in der Verweigerung gegenüber rat an der Kirche" und sahen hier eine Konfliktver- den realsozialistischen Zumutungen der SED-Dikta- meidungsstrategie am Werk, die ein „System wech- tur „ein zeichenhaftes Handeln" sahen. Glaubten sie selseitiger Stabilisierung" installiert und einer zuneh- doch, dadurch „unauffällig doch etwas dazu beigetra- menden Affinität der Kirchen zur sozialistischen gen haben, diesen Staat immer wieder an seine Staatsmacht den Weg geebnet habe 1-> Jüngel, Pro- Grenzen zu erinnern" [-> Küttler, Protokoll Nr. 62]. tokoll Nr. 56;, vgl. auch das Steinlein, Protokoll Nr. 56]. Insbesondere die repräsentative Teilnahme Die Versuche, das Konzept einer „Kirche im Sozialis- führender Kirchenvertreter an Staats- und sonstigen mus" in Verantwortung für die von Krisen geschüt- Festakten der DDR-Führung, die im Geiste des telte sozialistische Gesellschaft mit Leben zu erfüllen, 6. März arrangiert wurde, stieß in den Gemeinden den Sozialismus also als „verbesserlich" zu behandeln stets auf Unverständnis. Die Verteidiger dieses Kurses sowie diese Erörterungen auch auf internationaler verwiesen demgegenüber auf gesichertere kirchliche und. ökumenischer Ebene, etwa durch die Einbindung Wirkungsmöglichkeiten und verwahrten sich gegen in den Konziliaren Prozeß, voranzutreiben, wurden die Einschätzung, hier sei ein „Burgfrieden", ja sogar von der SED jetzt durchweg als „feindlich-negative ein „Schmusekurs" zwischen SED-Regime und Kir- Aktivitäten" eingestuft. chen vereinbart worden. Das größte Sicherheitsproblem für die SED bildeten Die Kampagnen, die im Zusammenhang mit den allerdings die verschiedenen Gruppen im Umfeld der Friedensdiskussionen, der Nachrüstungsdebatte und Kirchen. Diese waren in ihrer Zusammensetzung, dem Bemühen um die Erhaltung des status quo in Zielstellung und Intensität der kirchlichen Einbin- Europa veranstaltetet wurden, vertieften in den sieb- dung kaum noch zu überblicken. Als besonders ziger Jahren die partiellen Gemeinsamkeiten zwi- gefährlich mußte die SED alle Denkansätze innerhalb schen den politischen Zielen der SED-Führung und derjenigen Gruppen bewerten, die nicht mehr von maßgeblichen kirchlichen Kreisen in Ost und West. einer Reformierbarkeit des „Realsozialismus" ausgin- Die „Kirche im Sozialismus" konnte dabei von der gen, sondern eine grundlegende Demokratisierung SED ebenso positiv bewertet werden wie die Voten der gesellschaftlichen Verhältnisse forde rten. Die Kir- leitender Persönlichkeiten des BEK und namhafter chenleitungen in der DDR standen — bei unterschied- Sprecher des westdeutschen Protestantismus für eine lichen Stellungnahmen in Einzelfällen — dieser Ent- klare Zustimmung zur deutschen Zweistaatlichkeit, wicklung zunächst eher abwartend bis ablehnend die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, die gegenüber. Indem die Kirchen aber prinzipiell am Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle der L andes- Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums festhielten justizverwaltungen in Salzgitter, die Streichung des und diesen z. B. im Konziliaren Prozeß zur Geltung Wiedervereinigungsgebotes im Grundgesetz der brachten, trugen auch sie auf ihre Weise zur Plurali- Bundesrepublik Deutschl and und gegen die Nachrü- sierung und Öffnung der geschlossenen DDR-Gesell- stung der NATO [-> Exper tise Lohse]. schaft bei. In der Kirchenpolitik der SED-Führung schlug sich in In der Phase des sich abzeichnenden Zusammen- dieser Phase aber auch die Einsicht nieder, in wel- bruchs der DDR und angesichts der bevorstehenden chem Ausmaß die Kirchen in der DDR — im Gegensatz deutschen Wiedervereinigung überwogen in den zu ihrem dramatischen Mitgliederschwund — außen- evangelischen Kirchenleitungen in Ost und West noch politische Bedeutung gewannen. Durch die enge eindeutig die Stimmen, die sich, z. B. in dem „Aufruf Verbindung des BEK zur EKD und zu den ökumeni- für unser Land", für eine Fortsetzung des sozialisti- schen Zentralen in Genf sowie durch die guten Kon- schen Modells in der DDR unter geänderten Rahmen- takte kirchenleitender Persönlichkeiten aus der DDR bedingungen und damit gegen eine rasche Wieder- zu führenden Politikern in der Bundesrepublik vereinigung aussprachen. Mit ähnlichen Vorbehalten gewann der BEK im innerdeutschen Verhältnis wurde auch die Wiedervereinigung der EKD beurteilt, ebenso wie auf der internationalen Bühne ein immer weil diese eine Verleugnung der „Lernerfahrung der größeres Gewicht, das die SED — auch unter Einsatz ,Kirche in der sozialistischen Gesellschaft' " bedeuten Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

würde („Berliner Erklärung von Christen aus beiden Gemeinden weitgehend selbstbestimmt arbeiteten, deutschen Staaten" vom 9. Februar 1990). eine wichtige Rolle. Die Einzelheiten dieser im Umfeld der Kirchen von der Jugend ge tragenen Emanzipationsbewegung gegenüber dem SED-Staat sind bisher noch keineswegs ausreichend dokumen- 3.5 Die Friedensarbeit der Kirchen tiert und analysiert worden. unter besonderer Berücksichtigung des Konziliaren Prozesses Mit dem Vorschlag des Stadtökumenekreises Dres- den vom Februar 1986, im Rahmen des Konziliaren Die Anfänge der Friedensarbeit der Kirchen gehen bis Prozesses eine Ökumenische Versammlung in der in die Mitte der fünfziger Jahre zurück. Schon 1955 DDR vorzubereiten, erreichte die Politisierung des empfahl die EKD der Bundesregierung und der Regie- kirchlichen Engagements für Gerechtigkeit, Frieden rung der DDR, Waffendienstverweigerung und Zivil- und Bewahrung der Schöpfung eine bis dahin nicht für dienst gesetzlich zu regeln. 1961 wurden erste kirch- möglich gehaltene Intensivierung. Bis zum Januar liche Stellungnahmen gegen eine aggressive Wer- 1988 gingen der Vorbereitungsgruppe für die Ökume- bung für den Eintritt in die Na tionale Volksarmee nische Versammlung, die vom Februar 1987 an durch (NVA) der DDR bekannt. Die Wehrdienstverweigerer, die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der für die die DDR-Regierung 1962 die Möglichkeit eines DDR getragen wurde, rund 10 000 Einzelvorschläge waffenlosen Dienstes in den Baueinheiten der NVA aus den Gemeinden zu. eröffnete, haben durch ihr persönliches Zeugnis eine Denkbewegung in Gang gesetzt, die sich unter dem Mit dem Konziliaren Prozeß für eine Ökumenische Gesichtspunkt konkret wahrgenommener Verant- Versammlung trat „ein neues Subjekt kirchlichen wortung bald nicht mehr auf die Probleme des Waf- Redens" in der DDR in Erscheinung [-> Exper tise fendienstes und des Einsatzes in den Baueinheiten Ziemer]. In ihm und bei den Ökumenischen Ver- begrenzen ließ (Friedensseminare ehemaliger Bau- sammlungen im Februar 1988 in Dresden, im Oktober soldaten ab 1972). Die Friedensbewegung, die es im 1988 in Magdeburg und im April 1989 in Dresden Herbst 1981 erreichte, daß sich die Synodaltagungen wirkten die kirchlichen Basisgruppen durch ihre des BEK mit der Forderung nach einem Sozialen Delegierten gleichberech tigt mit den Vertretern der Friedensdienst (SoFD) als Alte rnative zum Bausolda- Kirchenleitungen zusammen. Dabei wurde deutlich teneinsatz zu beschäftigen begannen. Die Synoden gemacht: „Auch der Sozialismus bedarf im Horizont und Kirchenleitungen haben diesen radikalkritischen der Überlebensfragen der Umgestaltung, und das Gegensatz zum „Realsozialismus" des SED-Regimes schließt eine Veränderung der DDR-Gesellschaft in zunächst jedoch verkannt oder auch abgeschwächt. Richtung auf mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Rechtlichkeit und eine neue Prioritätensetzung ein" Die weitere Entwicklung wurde gekennzeichnet H Expertise Ziemer]. durch das Nebeneinander und die gleichzei tige Abhängigkeit voneinander, die die Friedensarbeit in Die Ökumenischen Versammlungen sind ohne „den Synoden und auf kirchenleitender Ebene einerseits Kontext der Gorbatschowschen Reformpolitik [...] und in den Gemeinden und Gruppen andererseits nicht zu denken". Sie fanden in der letzten kritischen bestimmte. Die Basisgruppen haben die Synoden- Phase des SED-Regimes statt, bündelten die Kritik am worte, obwohl sie deren Posi tionen sachlich durchaus realen Sozialismus der DDR, ohne die sozialistische nahe waren, oft kaum zur Kenntnis genommen. Ihre Utopie grundlegend in Frage zu stellen, und gewan- friedensethischen Ansätze waren eher erfahrungs- nen die „Funktion einer geistigen Vorbereitung der orientiert, während die Synodalerklärungen sich Wende" [–> Expertise Ziemer]. zumeist darum bemühten, einen europäischen oder gar weltweiten Horizont zu reflektieren. Das Neben- Der Konziliare Prozeß und die Ökumenischen Ver- einander dieser friedensethischen Perspektiven sammlungen haben die Thema tik und die Orientie- wurde aber zur Abhängigkeit, wo Ereignisse wie der rungen der im Sommer und Herbst 1989 aus dem Aufruf der Dresdner Ini tiative „Sozialer Friedens- Schutzraum der Kirchen heraustretenden Bürgerbe- dienst" (SoFD) vom 9. Mai 1981, die Friedensdeka- wegungen und Parteien mitgeformt. Die „vorrangige den, der Streit um den Aufnäher „Schwerter zu Option für Gewaltfreiheit" prägte die Wende im Pflugscharen" (November 1981), die verschiedenen Herbst 1989. Die im Konziliaren Prozeß gemachten Friedensseminare und -werkstätten sowie die regio- Erfahrungen schlugen sich auch noch in der Tätigkeit nalen Kirchentage den Boden bereiteten, auf dem die kirchlicher Mitarbeiter an den im ganzen L and orga- Synoden weitergehen und ihre friedensethischen nisierten Runden Tischen nieder. Konzeptionen konkretisieren konnten. Die SED-Machthaber, die in der Integra tion der Basis- Mit der ersten Friedensdekade „Frieden schaffen gruppen und den konkret politischen Fragestellungen ohne Waffen" im November 1981 gelang es den des Konziliaren Prozesses, der sich immer stärker als Kirchen des BEK, auch weitere Kreise außerhalb der gesellschaftlicher Erneuerungsprozeß profilierte, die Gemeinden in die neue Denkbewegung einzubezie- Hauptgefahren erkannten, haben alle administrati- hen. Die Auseinandersetzungen um den Aufnäher ven und geheimdienstlichen Mittel eingesetzt, um auf „Schwerter zu Pflugscharen", in denen sich die Kir- den Verlauf und die Ergebnisse der Ökumenischen chenleitungen schließlich in einem gewissen Umfang Versammlungen einzuwirken. Auf die „Einladung bereit zeigten, den Pressionen der SED-Machthaber zum Dialog", die im Konziliaren Prozeß immer wieder nachzugeben, spielten bei der Formierung unabhän- vorgetragen wurde, konnten sie nicht mehr reagie- giger Gruppen, die in Verbindung zu den Kirchen und ren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Die Materialien des Konziliaren Prozesses und der lich zu begrenzen versucht: „Wir müssen unterhalb Ökumenischen Versammlungen, die bisher weder der Schwelle der Konfrontation bleiben." (Bischof publiziert noch hinreichend aufgearbeitet worden - Albrecht Schönherr) Die Entscheidung, ob hier von sind, stellen zusammen mit der darauf bezogenen einer „faktischen Spaltung der Kirche angesichts der Aktenüberlieferung bei den Kirchenleitungen, der Disparatheit der Gruppen" gesprochen werden sollte SED und dem MfS eine der wichtigen Quellen zur [—> Pahnke, Protokoll Nr. 57], wird vom jewei ligen jüngsten DDR-Geschichte dar. Ihre umfassende Edi- Erlebnishorizont des Urteilenden abhängig sein. Die tion und Auswertung sollte möglichst bald begonnen Akzeptanz bei den Kirchenleitungen, in zahlreichen werden. Gemeinden und sogar in den verschiedenen Gruppen ist — trotz zahlreicher und oft auch erfolgreicher Verständigungsversuche — bis zum Ende der DDR sehr unterschiedlich gewesen. Die Kommunikations- 3.6 Die Gruppen innerhalb und im Umfeld probleme, die dabei zwischen den eher hierarchi- der Kirchen als kritisches Potential schen Strukturen der verfaßten Kirchen und ihren in der SED-Diktatur Leitungsorganen einerseits sowie den basisdemokra- tischen Ansätzen und dem Pluralismus der Gruppen Die Entstehung einer alternativen politischen Kultur andererseits auftraten, wurden vielfach als Belastung ist nicht zuletzt mit den Erfahrungen des Einmarsches empfunden. Spannungen traten z. B. immer wieder in der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR im August der Frage auf, wer als „Reisekader" der Kirche 1968 verbunden. Vielfältige Bürgerproteste hatte z. B. internationale Kontakte wahrnehmen durfte, wie die schon die Sprengung der im Kriege völlig unversehrt Verbindungen zu den Medien des westlichen Aus- gebliebenen 750jährigen Universitätskirche in Leip- lands, die einzelne Gruppenvertreter bewußt pfleg- zig am 30. Mai 1968 ausgelöst. Das Gotteshaus, das ten, beurteilt werden sollten und von welchen Krite- seit 1543 der Leipziger Universität auch als Aula rien die innerkirchliche „Selbstzensur" zu bestimmen gedient hatte, wurde in einem „Akt beispielloser sei. politischer Willkür" auf Befehl der SED-Machthaber zerstört, die damit „eine der letzten argwöhnisch Waren die kritischen Fragen, die in den Gruppen beobachteten Inseln demokratischen Geistes und thematisiert und an Kirche und Gesellschaft herange- christlichen Glaubens an der zur sozialistischen tragen wurden, zunächst noch friedensethisch be- Kaderschmiede degradierten Universität" vernichten stimmt, so verbreiterte sich dieses Spektrum rasch in wollten (Cornelius Weiss, Rektor der Universität Leip- dem Maße, in dem christliche, gesellschaftliche und zig, 1993). politische Verantwortung konkretisiert wurde. Neben der Friedensproblematik (Friedenserziehung, Wehr- Der SED-Staat und der „Realsozialismus" wurden von dienstverweigerung, „Ärzte für den Frieden", kritischen Menschen in der DDR seit 1968 anders „Frauen für den Frieden") gewannen die Fragestel- wahrgenommen. Diese entdeckten Ende der siebzi- lungen der Umwelt- und Zweidrittelweltgruppen ger Jahre das kritische Poten tial und den Raum der zunehmende Bedeutung. Auch in der offenen Freiheit, die in den Kirchen vorhanden waren, und Jugendarbeit, in den Emanzipatorischen Gruppen suchten die Verbindung dazu. Die auch heute noch (z. B. Gruppen von Lesben und Schwulen), in der kaum übersehbare und nicht hinlänglich aufgearbeite „Kirche von unten", im Arbeitskreis „Solidarische Vielfalt der Anliegen, die hier formuliert wurden und Kirche", in den Menschenrechts- und zahlreichen ihre Gestalt in Gruppenbildungen von sehr unter- Selbsthilfegruppen wurden ständig die Frage durch- schiedlicher Zusammensetzung, kirchlicher Anbin- dacht, wie Verantwortung konkretisiert, eingefordert dung, Kompetenz und regionaler Reichweite fanden, und zu leben versucht werden kann. Ähnliches war erzeugte tiefreichende Unsicherheiten bei der Partei- auch das Ziel zahlreicher öffentlicher Veranstaltun- und Staatsführung der DDR, aber auch innerhalb der gen wie z. B. kirchliche Jugendtage, „Gottesdienste verfaßten Kirchen. Diese sahen sich durch die Grup- ganz anders", Blues-Messen oder Pilgerwege. Eine pen zur ständigen Durchbrechung selbstgesetzter eher innerkirchliche Bedeutung kam auch den sehr Tabus aufgefordert. lebendigen sog. charismatischen Gruppen zu, die den Kirchenleitungen in mancher Hinsicht zu schaffen Die DDR-Kirchen wurden dadurch in einen Differen- machten, von der Öffentlichkeit und den Sicherheits- zierungsprozeß hineingezogen, in dem die gewohn- organen aber kaum wahrgenommen wurden. ten Frontlinien aufgebrochen wurden. Die Konflikte, die nun — auch durch ideologische Grenzüberschrei- Innerhalb der Gruppen war unter dem Dach der tungen — entstanden, müssen auch vor dem Hinter- Kirche in der geschlossenen DDR-Gesellschaft in grund der Kontakte zwischen den Kirchenleitungen einem erheblichen Umfang Öffentlichkeit hergestellt und staatlichen Stellen, insbesondere auch zum MfS, worden: Hier wurden kritische Fragen erörtert, ohne gesehen werden. Die Versuche, eine bewußt christli- zu berücksichtigen, ob solche Grenzüberschreitungen che Lebenseinstellung in den Gruppen konkret zu und Tabuverletzungen erlaubt seien. Hier wurde praktizieren, verknüpften sich häufig mit einer DDR sozialer Wandel zeichenhaft verwirklicht, offene kritischen Haltung, die jedoch nicht die Existenz der Kommunikation eingeübt und Gewaltfreiheit trai- DDR bzw. des Sozialismus grundsätzlich zur Disposi- niert. Hier wurden Koalitionen über weltanschauliche tion stellte. Die Kirchenleitungen haben diese Ausein- und politische Grenzen hinweg erprobt. Als die Ver- andersetzungen, die einerseits eng mit der Konkreti- treter der verschiedenen Gruppen bei einer Konsulta- sierung der christlichen Botschaft verbunden waren, tion der Studienabteilung des BEK im Juni 1989 andererseits aber oft auch von außen her in den Raum deutlich machten, daß jetzt die Zeit sei, aus den der Kirche hineingetragen wurden, so weit wie mög Kirchen herauszugehen und sich politisch zu formie- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

ren, wurde ein Transformationsprozeß in G ang Die seit 1950 bestehende Ordinarienkonferenz aller gesetzt, der unmittelbar in die politische Wende des Jurisdiktionsträger in der DDR, die 1976 zur Berliner Herbst 1989 einmündete. - Bischofskonferenz als Teil der Deutschen Bischofs- konferenz erhoben wurde, festigte das Selbstbewußt- sein der Katholiken der DDR und vertiefte zugleich ihre Gewißheit, Glieder der katholischen Weltkirche 4. Die katholische Kirche in der DDR zu sein. Dieses hat das Verhältnis der DDR-Katholiken gegenüber dem SED-Staat bleibend und tiefgehend 4.1 Die katholische Kirche in Auseinandersetzung geprägt. Sie konnten sich zwar durchaus als „Kirche in mit den weltanschaulichen Gegebenheiten diesem Land" verstehen, blieben aber darauf in der DDR bedacht, den Verdacht abzuwehren, sie wollten sich dadurch auf irgendeine Weise mit dem SED-Regime Die im SED-Staat propagierte Verbindung von Sozia- identifizieren. Als die katholischen Bischöfe im Sep- tember 1986 das Pastoralschreiben an die Priester und lismus, Atheismus und Dialektischem Mate rialismus stieß von Anfang an auf den klaren Widerspruch der Diakone „Katholische Kirche im sozialistischen Staat" katholischen Kirche. Diese konnte sich auch zu keiner publizierten, betonten sie deshalb: „Das unbeugsame Zeit als „Kirche im Sozialismus" verstehen. Für katho- Festhalten an ihrer Eigenständigkeit darf die Kirche lische Christen in der DDR war es deshalb auch kaum auch unter sozialistischen Verhältnissen nicht zur Disposition stellen. " möglich, auf einen „Sozialismus mit menschlichem Angesicht" zu hoffen. Schon 1953 haben die katholi- Die Beziehungen der katholischen Kirche in der DDR schen Oberhirten die zwangsweise Erziehung in einer zum BEK vor dem Hintergrund der ohnehin bestehen- atheistischen Weltanschauung als Menschenrechts- den konfessionellen Unterschiede wurden einerseits verletzung angeprangert. Unüberwindbar blieben durch das Bewußtsein geprägt, es in dem SED-Regime auch die Differenzen zwischen der SED und der mit einem gemeinsamen Gegner zu tun zu haben, katholischen Kirche in bezug auf das Menschenbild. andererseits aber auch durch die — wenn auch nur Der „kommunistischen Persönlichkeit" stellten die verhalten geäußerte — theologische und kirchenpoli- Bischöfe in ihren Hirtenworten stets die „Person" tische Kritik an der BEK-Konzeption der „Kirche im gegenüber, die als von Gott geschaffenes Individuum Sozialismus". Nicht zuletzt deshalb waren die ökume- über vorgegebene Menschenrechte verfügt. nischen Beziehungen der Gemeinden und Ch risten „vor Ort" durchweg enger als die auf der kirchenlei- tenden Ebene. 4.2 Der Weg der katholischen Kirche in der DDR Ob die weltanschauliche Resistenz der Katholiken in der DDR gegenüber dem „realexistierenden Sozialis- Für das Verständnis der inneren und äußeren Ent- mus " insgesamt tatsächlich größer als die der evange- wicklung des Katholizismus in der DDR ist die Tatsa- lischen Bevölkerung war, wird noch genauer zu che ausschlaggebend, daß die Katholiken sich auf untersuchen sein. Die inneren Strukturen einer Kirche diesem Territorium seit der Reforma tion in einer in einer doppelten Minderheitensituation — zum Minderheitensituation befanden. Erst durch Flucht einen gegenüber dem SED-Regime und zum anderen und Vertreibung am Kriegsende stieg ihre Zahl dort gegenüber der protestantischen Mehrheit — legen es beträchtlich an . Die Integration der mehr als 1,5 Mil- nahe, eine größere innere Geschlossenheit des DDR lionen katholischer Flüchtlinge und Vertriebenen aus Katholizismus und damit auch Resistenz gegenüber den deutschen Ostgebieten in der SBZ/DDR gelang dem „Realsozialismus" der DDR anzunehmen. Die erst allmählich. Durch Flucht in die Bundesrepublik Hirtenworte und sonstigen bischöflichen Verlautba- Deutschland und Kirchenaustritte ging der Katholizis- rungen sprachen hier immer in einer völlig eindeuti- mus in der DDR im Laufe der Zeit jedoch zahlenmäßig gen Weise zu den Gläubigen. wieder etwa auf den Vorkriegsstand — also auf rund eine Million — zurück. Seit den fünfziger Jahren appellierten die Bischöfe auch deshalb immer wieder an die Gläubigen, an dem Ort zu bleiben, „wo Gott uns 4.3 Die katholische Kirche und der SED-Staat hingestellt hat". Wenn solche Aufrufe nur sehr zurückhaltend formuliert waren, dann zeigte das auch das Bestreben der katholischen Kirche, sich bei der Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und kirchen- Beurteilung der „Republikflucht" nicht auf die Seite politischen Spielräume wurden auch für die katholi- der SED-Machthaber zu stellen. sche Kirche in der DDR unmittelbar nach dem Kriegs- ende durch die SMAD vorgegeben. Die katholische Außerordentliche Probleme erwuchsen der katholi- Kirche berief sich ihrerseits auf die weiterwirkende schen Kirche durch die überkommenen Kirchengren- Geltung des Reichskonkordats von 1933 und die darin zen. Der deutsche Episkopat hat stets an der Einheit festgelegten Kirchengrenzen. Daran wurde auch Deutschlands festgehalten und diese Op tion auch gegen den Widerstand der Sowjetunion von den gegenüber zeitweilig gegenläufigen Tendenzen in Westalliierten festgehalten. Der Vatikan unterstrich der vatikanischen Ostpolitik mit Nachdruck betont. darüber hinaus dadurch, daß er seinen Nuntius nicht Erst durch verschiedene kirchenrechtliche Schritte abberief, seine Auffassung, daß auch nach der Kapi- konnten die komplizierten territorialen Verhältnisse tulation von der staatsrechtlichen Kontinuität der Jurisdiktionsgebiete neu geordnet und praktika- Deutschlands auszugehen sei. Diese Haltung be- bel gemacht werden. stimmte in der Folgezeit das prinzipielle Verhalten des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Vatikans in allen Fragen, die die Grenzen der kirch- tember 1956 auf dem Kölner Katholikentag erklärt: lichen Jurisdiktionsbezirke be trafen. „Wir leben in einem Haus, dessen Grundfesten wir - nicht gebaut haben, dessen tragende Fundamente wir Politische Bedeutung erlangte der durch Flucht und sogar für falsch halten. " Döpfner, der als strikter Vertreibung vorübergehend zahlenmäßig mindestens Antikommunist galt, verschärfte das Verbot seines verdoppelte katholische Bevölkerungsanteil in der Vorgängers von Preysing für Priester, sich zu politi- SBZ durch seine intensive Mitwirkung in der CDUD, schen Fragen zu äußern, durch ErlaB vom 26. Novem- in der etwa 40 v. H. der Mitglieder Katholiken waren, ber 1957, stellte öffentlich die Unvereinbarkeit von während sie in der Gesamtbevölkerung der SBZ nur Katholizismus und Sozialismus heraus und veröffent- eine Minderheit von rund 12 v. H. darstellten. Im lichte am 8. Februar 1959 den unmißverständlichen Gefolge der Auseinandersetzungen um Inhalt und Hirtenbrief „Kirche unter dem Kreuz ". Mit großer Bedeutung des Begriffs „christlicher Sozialismus", der Sorge verfolgte der katholische Berliner Oberhirte die vom Vatikan abgelehnt wurde [—> Expertise von Entwicklung innerhalb der ev angelischen Landeskir- Hehl], und der Ausschaltung Jakob Kaisers, der die chen, die durch die von Bischof Dibelius ausgelöste Mitwirkung im Volkskongreß verweigert hatte, durch Obrigkeitsdebatte und den „Thüringer Weg" Bischof die SMAD 1947 endete der katholische Einfluß in der Mitzenheims erschüttert wurden. Nach Rom berich- CDUD jedoch schon sehr frühzeitig. tete Döpfner, die Katholiken müßten nun, nachdem Angesichts zunehmender Pressionen der SED im der Widerstand der Protestanten zusammengebro- Bereich der Jugendarbeit und des Religionsunter- chen sei, dem ideologischen Druck des SED-Regimes richts einerseits und anderseits der Erfahrung, daß allein entgegentreten. sich evangelische Kirchenführer am Volkskongreß Mit der Neuorientierung der vatikanischen Politik 1947 beteiligt und damit die Solidarität zu der von der unter Papst Johannes XXIII. und der Ernennung SED hart attakierten CDUD aufgegeben hatten, erließ Döpfners zum Erzbischof von München und Freising der Berliner Kardinal von Preysing am 20. Dezember begann „eine Phase unverkennbarer Entfremdung" 1947 eine Verfügung, die dem Klerus jegliche politi- des DDR-Katholizismus gegenüber dem Vatikan sche Erklärung untersagte, da das allein Aufgabe der [—> Expertise v. Hehl]. Angesichts der veränderten Bischöfe sei. Diese später unter dem Namen „Döpf- Ostpolitik des Vatikans und vor dem Hintergrund der ner-Erlaß" geläufige und niemals aufgegebene Ver- durch den Mauerbau neu zu bestimmenden Rahmen- fügung verdeutlichte die Grundsatzentscheidung der bedingungen verließ der am 16. August 1961 ernannte katholischen Kirche, sich auf keine Weise von dem Alfred Bengsch den offenen Konfrontationskurs sei- SED-Regime vereinnahmen zu lassen. nes Vorgängers, um die Einheit des Berliner Bistums Mit der Gründung der DDR wurde auch der Hand- und des deutschen Katholizismus zu bewahren. Das ist lungsrahmen des DDR-Katholizismus spürbar einge- Kardinal Bengsch in den achtzehn Jahren seiner schränkt. Die Politik öffentlicher Proteste gegen das Amtszeit im Gegenüber zum SED-Regime, zum Vati- SED-Unrecht, die Kardinal von Preysing in einem kan und zu innerkirchlichen Widerständen auch weit- harten Konfrontationskurs — in Parallele zur Haltung hin gelungen. Der Preis für diesen Erfolg war ein des evangelischen Berliner Bischofs Otto Dibelius — weitgehender Verzicht des DDR-Katholizismus auf verfocht, führte im Sommer 1950 zu einem heftigen, ein politisches Hervortreten in der Öffentlichkeit und von der SED allerdings nicht wahrgenommenen eine Einschränkung des innerkirchlichen Pluralismus innerkirchlichen Konflikt. Der Vatikan stärkte darauf- [—> Expertise von Hehl]. hin die Position des Berliner Kardinals durch die Das komplizierte Wechselspiel zwischen dem Bestre- Gründung der Berliner Ordinarienkonferenz (BOK), ben des Berliner Kardinals, die Einheit seines Bistums in der von Preysing den Vorsitz übernahm. Mit seinem zu erhalten, den Aussöhnungsbemühungen gegen- Tod am 21. Dezember 1950 und der Wahl Bischof über dem polnischen Katholizismus, der Entspan- Wilhelm Weskamms zum Vorsitzenden der BOK nungspolitik Papst Pauls VI. gegenüber dem Ost- setzte sich eine neue kirchenpolitische Linie im DDR block, der auf inte rnationale Anerkennung ausgerich- Katholizismus durch. Offene Provoka tionen des SED teten SED-Politik und der gesamtdeutschen Posi tion Staates wurden nun nach Möglichkeit vermieden, der Bundesrepublik Deutschland ist in den Einzelhei- zugleich ist aber sorgsam darauf geachtet worden, die ten noch wenig erforscht. Die Errichtung der separa- Abgrenzung diesem gegenüber aufrechtzuerhalten. ten Berliner Bischofskonferenz (BBK) 1967 war wahr- Der Kirchenkampf, den die SED 1952/53 auslöste, traf scheinlich als ein erster Schritt der Abtrennung von — was bisher kaum bemerkt wurde — auch katholi- den Diözesen in der Bundesrepublik gemeint. Diesem sche Jugendliche in hohem Maße [-> Expertise von Ziel sind auch die kirchlichen Neuordnungen zuzu- Hehl]. An den Ergebnissen der von der sowje tischen rechnen, durch die die Jurisdiktion westdeutscher Führung den SED-Machthabern diktierten neuen kir- Ordinarien über Gebiete in der DDR beendet und chenpolitischen Linie — Beendigung der admistrati- Apostolische Administratoren eingesetzt wurden. ven Verfolgung der Kirchen bei gleichzeitiger Ver- Diese Entwicklung wurde jedoch durch den Tod stärkung des ideologischen Drucks — partizipierte Pauls VI. 1978 abgebrochen. Papst Johannes Paul II. auch die katholische Kirche in der DDR. „hatte weniger Illusionen über die Ziele kommunisti- scher Kirchenpolitik" [—> Epertise v. Hehl]. Kirchlicherseits bedeutete die Wahl von Ju lius Döpf- ner 1957 zum neuen Berliner Bischof und Vorsitzen- Mit dem Tod von Kardinal Bengsch, dessen politisch den der BOK erneut eine Verschärfung des Konfron- öffentliche Abstinenz vom SED-Regime dadurch tationskurses gegenüber dem SED-Regime. Der Mei- honoriert worden war, daß die Forderung nach einer ßener Bischof Otto Spülbeck hatte bereits am 1. Sep definitiven kirchenrechtlichen Trennung der Juris- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode diktionsbezirke in der DDR von den Bistümern in der telbaren Nachkriegszeit zunächst von Unsicherheiten Bundesrepublik nicht erzwungen wurde, begann eine und Unkenntnis der SMAD- bzw. der SED-Dienststel- Phase verhältnismäßiger kirchenpolitischer Ruhe. - len im Umgang mit kleineren Religionsgemeinschaf- SED und Kirche waren an einer Wahrung des status ten bestimmt. Nachdem es dadurch zu zahlreichen quo interessiert: „Die SED, weil führenden ihrer Fehlinformationen, Verwechslungen und Irritiationen Vertreter die schwindende innenpolitische Basis gekommen war, wurde zu Beginn der fünfziger Jahre bewußt wurde, die katholische Kirche, weil sie die eine generelle Neuregistrierung der Freikirchen und Folgen der dramatisch fortschreitenden Säkularisie- Religionsgemeinschaften in der DDR vorgenommen, rung zu spüren bekam: allein in Ost-Berlin ging die die auf der Auswertung umfassender Imformationen Anzahl der Katholiken von 178 000 im Jahr 1975 über die Geschichte der einzelnen Gemeinschaften, über 150 442 (1983) bis 1988 auf 131 919 zurück „ besonders ihr Verhalten im „Dritten Reich", ihren [-> Expertise v. Hehl]. gegenwärtigen Stand, ihre Organisationsstrukturen und die leitenden Persönlichkeiten basierte. Die Über den Umfang, in dem das MfS die katholische Beziehungen des SED-Staates zu den Freikirchen und Kirche durchsetzen konnte, besteht noch keine Klar- Religionsgemeinschaften wurde schließlich nicht heit. Die ständigen konspirativen Kontakte einzelner durch ein — zunächst geplantes — Gesetz, sondern Geistlicher mit dem MfS schufen eine Vertrautheit, auf dem Verwaltungsweg geregelt. Das schuf eine die auch zum Bruch der innerkirchlichen Vertraulich- erhebliche Rechtsunsicherheit. Die Entscheidungs- keit führte: „Fatal wurde diese Situa tion für die kompetenz lag formal beim Ministe rium des Innern Kirchen dadurch, daß die staatliche Seite ihre kirchli- der DDR. Vermittelnd und anleitend wurde aber chen Informanten überblicken und deren Arbeit koor- mmer wieder auch der Staatssekretär für Kirchenfra- dinieren konnte, während natürlich innerkirchlich gen tätig, während die Abteilung Kirchenfragen beim solche Indiskretionen geheim blieben" [—>Exper tise ZK der SED und das MfS im Hintergrund die Richtli- v. Hehl]. Die hierarchischen Strukturen bewirkten nien für diesen speziellen Sektor der SED-Kirchen- allerdings, daß das MfS zwar mancherlei Informatio- politik bestimmten. nen sammeln konnte, sein Einfluß auf die kirchlichen Entscheidungsprozesse aber begrenzt blieb. Die Freikirchen und Religionsgemeinschaften, die Das Dresdner Katholikentreffen im Juli 1987 mit regulär registriert worden waren, wurden nach dem seinen rund 100 000 Teilnehmern bewies die Mobili- Grundsatz der Gleichbehandlung von den DDR sierungsfähigkeit des DDR-Katholizismus, ließ aber Behörden in analoger Weise zu den größeren Kirchen mit seinem Verzicht auf die öffentliche Behandlung behandelt. Aufgrund ihrer geringeren Mitgliederzah- politischer Themen auch die Grenzen der kirchen- len und Verbreitung hatten die Freikirchen und Reli- politischen Linie der katholischen Kirche erkennen. gionsgemeinschaften jedoch auf örtlicher Ebene oft Gegen Ende der achtziger Jahre verstärkte sich mit sehr viel mehr Schwierigkeiten zu kämpfen als die jedoch die Bereitschaft zum gesellschaftlichen Enga- großen Kirchen. gement in spürbarer Weise. Kardinal Meisners Pro- Die Abhängigkeit einzelner dieser Freikirchen und testnote von 1987 gegen die Verhaftungen in der Religionsgemeinschaften von Zentren und Leitungs- Berliner Zionsgemeinde belegt diese Akzentverschie- persönlichkeiten im westlichen Ausland war häufig bung. der Anlaß zu intensiven Ermittlungen, da das SED Durch die Ernennung Kardinal Meisners zum Kölner Regime hier die Möglichkeit „feindlicher" Einflüsse Erzbischof im Frühjahr 1989 blieb der DDR-Katholi- fürchtete. Die grenzüberschreitenden Organisa tions- zismus ausgerechnet in der Zeit der politischen formen und hierarchischen Strukturen machten es Wende ohne eigentliches Oberhaupt, da Bischof Ster- diesen Gemeinschaften aber oft prinzipiell unmög- zinsky erst am 24. Juni 1989 als Nachfolger Meisners lich, der staatlichen Forderung, nach der Landesgren- ernannt worden war. Hauptsächlich wird m an aber zen auch Kirchengrenzen sein müßten, zu entspre- die selbstverordnete und über l ange Jahre eingeübte chen. Die sich hieraus ergebenden Spannungen führ- politische Abstinenz der DDR-Katholiken dafür in ten immer wieder zu Konflikten in Einzelfällen, die Anspruch nehmen müssen, daß die katholische Kirche seitens des SED-Regimes zumeist pragmatisch gelöst im Umbruch des Herbstes 1989 weniger in Erschei- wurden, weil es die Instrumentalisierungsmöglichkei- nung trat. ten solcher internationalen Kontakte erkannte. Prinzi- piell unterdrückt wurden die Zeugen Jehovas, die schon von den Nationalsozialisten erbarmungslos ver- folgt waren, der Gemeinschaftsverband der Deut- schen Pfingstbewegung, die Erste Kirche Christi, 5. Die Freikirchen und anderen Wissenschafter — Christliche Wissenschaft sowie die Religionsgemeinschaften in der DDR Heilsarmee. im Blickfeld der SED-Religionspolitik Die Beziehungen dieser Freikirchen und Religionsge- Die genaue Zahl der in der DDR wirkenden Freikir- meinschaften, die in ihren Mitgliederzahlen und Ver- chen und Religionsgemeinschaften läßt sich bisher breitungsgebieten außerordentlich stark diffe rieren, nicht sicher feststellen. Eine offiziöse Darstellung von untereinander und zu den Mehrheitskirchen wurden 1988 rechnete (ohne die ev angelischen Landeskir- wesentlich durch unterschiedlich starke Vorbehalte chen, die römisch-katholische Kirche und den Ver- gegen eine konkrete ökumenische Zusammenarbeit band der Jüdischen Gemeinden) mit insgesamt 31 „in bestimmt. Im Gegenüber zum SED-Regime konnte der DDR zugelassenen Kirchen und Religionsgemein- jedoch die stillschweigend anerkannte Praxis beob- schaften" . Deren rechtliche Lage wurde in der unmit achtet werden, alles zu vermeiden, was der SED als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Instrument gegen diese Kirchen und Gemeinschaften Ostdeutsche Bischofskonferenz, 1950 durch Papst hätte dienen können. Pius XII. eingesetzt, wurde deshalb nicht als die - Bischofskonferenz eines Landes, sondern lediglich als Die Haltung der Freikirchen und Religionsgemein- eine Regionalkonferenz behandelt. An dieser Auffas- schaften gegenüber dem SED-Staat ist im einzelnen sung ist von den deutschen Bischöfen auch dann bisher noch kaum erforscht. Das erklärt sich einmal festgehalten worden, als während des Pontifikats von aus der kaum auf einen Nenner zu bringenden sozia- Papst Paul VI. eine grundsätzliche Neuordnung der len, geographischen und vor allem religiösen Vielfalt kirchlichen Strukturen erwogen wurde: „Die katholi- dieser Gemeinschaften, zum anderen aber auch aus sche Kirche in Deutschl and [...] hat sich bei allen dem vergleichsweise geringen Interesse der Öffent- ihren Schritten davon bestimmen lassen, die Teilung lichkeit an diesen inneren Entwicklungen und aus den Deutschlands nicht hinzunehmen und ihren Beitrag sehr bescheidenen Publikationsmöglichkeiten, die zur kulturellen und politischen Einheit unseres Volkes diesen zur Verfügung standen. Einzelne Leitungsper- zu leisten [...] Sie hat die Teilung unseres L andes sönlichkeiten ließen sich durch das SED-Regime ver- immer verstanden und angeprangert als ein Unrecht einnahmen und setzten sich auch außerhalb der DDR und eine Mißachtung der Menschenrechte" [–> Ho — insbesondere bei ökumenischen Anlässen — für meyer, Protokoll Nr. 59]. den „Realsozialismus" der DDR ein. Die in den späten achtziger Jahren zu beobachtenden Der Wille der beiden Kirchen, ihre Einheit trotz der Versuche der SED-Führung, durch eine propagandis- politischen Grenzziehungen in Deutschl and zu tisch stark herausgestellte Förderung einzelner Reli- behaupten, drückte sich auch in vielen Einzelent- gionsgemeinschaften, z. B. der Mormonen, die inter- scheidungen bis auf die Ebene der Gemeinden hinun- nationale Reputation der DDR, vor allem in den USA, ter aus. Die finanzielle Unterstützung der westlichen zu verbessern, konnten sich nicht mehr kontrollierbar Christen für die in der DDR wurde nicht nur zwischen auswirken. den kirchenleitenden Institutionen und Kirchen bzw. Diözesen zur Selbstverständlichkeit; sie wurde auch in den Patenschaftsverhältnissen zwischen Gemein- 6. Die Beziehungen zwischen den Kirchen im den im Westen und Osten praktiziert. Das Bundesmi- geteilten Deutschland und die deutsche Frage nisterium für gesamtdeutsche Fragen (später: für innerdeutsche Beziehungen) hat diese Kontakte schon frühzeitig diskret unterstützt: „Die Kirchen 6.1 Die Beziehungen der Kirchen untereinander, haben dem Verständnis, dem Engagement der Mitar- ihre Bedeutung für das Zusammen- beiter dieses Ministe riums viel zu verdanken" [–> Ho gehörigkeitsgefühl der Deutschen und meyer, Protokoll Nr. 59]. Es sei auch daran erinnert, ihre Haltung zur deutschen Frage daß sich bis zum Mauerbau 1961 immer wieder evangelische und katholische Geistliche aus der Bun- Bereits auf der Kirchenführerversammlung im hessi- desrepublik Deutschland dazu bereitfanden, in die schen Treysa vom August 1945 gingen die beteiligten DDR überzusiedeln, um dort ihren kirchlichen Dienst evangelischen Landeskirchen von der Zusammenge- zu tun. hörigkeit und organisatorischen Einheit der Evangeli- schen Kirche in Deutschl and aus. Die Gründung der Bereits sehr früh waren einzelne Versuche der DDR gesamtdeutschen EKD 1948 in Eisenach wurde daher Führung zu beobachten, die Trennung der gesamt- als selbstverständlich empfunden. In der Folgezeit deutschen Kirchenstrukturen zu erzwingen. So for- haben die evangelischen Kirchen auf vielfältige Weise derte die DDR-Regierung schon Ende 1950 die Verle- ihr Festhalten an der Einheit Deutschlands in der gung des Sitzes der Berlin-Brandenburgischen Kir ihnen gemäßen Weise bezeugt. So stand der 2. Deut- chenleitung von Berlin nach Brandenburg. A llen Ver- sche Evangelische Kirchentag 1951 in Berlin bewußt suchen des SED-Regimes, die auf eine Trennung der unter der gesamtdeutschen Losung „Wir sind doch Kirchen in der DDR von der EKD abzielten, hielten die Brüder" . In vielen synodalen und bischöflichen Wor- Kirchen jedoch ihre Auffassung entgegen, daß an der ten wurde der ungebrochene Wille bekräftigt, an der „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangeli- Einheit der Kirche festzuhalten. Das zeigte sich auch schen Christenheit in Deutschl and" festgehalten wer- bei den großen kirchlichen Initiativen, wie z. B. der den müsse, weil diese Gemeinschaft „nicht als na tio- „Aktion Sühnezeichen" (1958), „Brot für die Welt" (ab nal, sondern als genuin kirchlich bestimmt" zu 1959), „Not in der Welt" [= Misereor] (ab 1959) oder betrachten sei [–> Exper tise Lohse]. Auf der EKD auch bei den Kirchen und Katholikentagen, die alle- Synode von 1967 in Fürstenwalde hat der Greifswal- samt gesamtdeutsch konzipiert waren. Diejenigen der Bischof Krummacher diese Auffassung letztmalig Stimmen in den evangelischen Kirchen, die das Fest- eindrucksvoll vorgetragen. Der Gegensatz der politi- halten an der Einheit Deutschlands kritisch beurteil- schen Systeme in Deutschland und die sich daraus ten, waren zunächst in der Minderheit, wurden jedoch ergebenden Rahmenbedingungen für das kirchliche allmählich so einflußreich, daß „im Laufe der Zeit Handeln haben auch die Entwicklung der innerkirch- immer weniger eine gemeinsame Überzeugung im lichen Positionen in der deutschen Teilungsge- Blick auf die politische Zukunft Deutschlands" formu- schichte bestimmt. Die Deutsche Bischofskonferenz liert werden konnte [-> Binder, Protokoll Nr. 59]. erinnerte wiederholt daran, daß „das traditionelle Auch im Bereich der katholischen Kirche wurde bei Gebet für Volk und Vaterland unbedingt durchzuhal- allen durch die Kriegsfolgen notwendigen regionalen ten" sei: „Schenke ihm Eintracht und Einheit, Freiheit Neuordnungen sorgfältig darauf geachtet, die Einheit und Frieden mit allen Völkern Europas und der des deutschen Katholizismus nicht anzutasten. Die ganzen Erde" [–> Homeyer, Protokoll Nr. 59]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Zustimmung zur deutschen Zweistaatlichkeit illegal war" und deshalb gelegentlich zu „spektaku-

innerhalb der evangelischen Kirchen bedeutete nicht lären Polizeiaktionen und Gerichtsverfahren" führte die Aufgabe der geistlichen und kirchlichen Gemein-- [-> Expertise Binder], wurden ab 1957 mit der DDR samkeiten von BEK und EKD. An diesen wurde um so Regierung Regelungen vereinbart, denen die dama-

energischer festgehalten, je mehr sich die politischen lige Bundesregierung nur „unter allergrößten Beden-

Grundüberzeugungen zwischen EKD und BEK aus- ken" zustimmte.

einanderentwickelten. Hier ist es inte rn auch zu Auseinandersetzungen „bis an die Grenze des gegen- Im Rahmen des Transferprogramms in Mark der DDR, bei dem westliche Warenlieferungen von der DDR seitigen Ertragens" gekommen [-> Rathke, Protokoll Nr. 59]. Trotzdem fanden BEK und EKD in den acht- den östlichen Kirchen im Verhältnis 1:1 gutgeschrie- ben wurden, sind von 1957 bis 1990 Rohstoffe im Wert ziger Jahren wieder stärker auch zu gemeinsamen von 1,4 Milliarden DM geliefert worden. Diese Mittel Verlautbarungen in politischen Fragen, die das ganze dienten vor allem der Subventionierung der L andes- deutsche Volk betrafen. Hier wurde der l ange Zeit kirchen, der Diakonie und anderer kirchlicher Orga- gültige Grundsatz „Keine öffentliche gegenseitige nisationen. In dem seit 1966 aufgelegten Valutamark- Einmischung" [-> Binder, Protokoll Nr. 59], der auf programm, bei dem die DDR — ebenfalls gegen eine begrenzte Offenheit hinauslief, insbesondere Warenlieferungen — Mate rialien und Dienstleistun- durch die Diskussionen auf den Synoden überwunden gen vor allem im Bausektor zur Verfügung stellte, von dem Willen, sich aus einer Verantwortungsge- wurden insgesamt etwa 0,7 Milliarden DM transfe- meinschaft heraus in Gemeinsamen Worten an die riert. Dieses „Sonderbauprogramm" wurde seitens Öffentlichkeit in ganz Deutschland zu wenden (z. B. der DDR mit der erpresserischen Bedingung ver- 1985 zum Ende des Krieges vor 40 Jahren und 1988 zur knüpft, daß der Berliner Dom, an dem die SED Erinnerung an die „Reichskristallnacht" vor 50 Jah- Führung aus städtebaulichen Gründen interessie rt ren). war, aus kirchlichen Mitteln wiederhergestellt wer-

Unabhängig von allen kirchlichen, politischen und den müßte. Die Kosten für dieses Projekt belaufen sich

theologischen Entwicklungen trugen die Partnerbe- bis heute auf mindestens 138 Millionen DM. ziehungen zwischen Kirchen und Gemeinden ent- Über die Firma GENEX GmbH lieferten die westli- scheidend dazu bei, das Zusammengehörigkeitsge- chen Kirchen den Mitarbeitern in der DDR hochwer- fühl im geteilten Deutschland zu stärken: „Es gibt tige Güter aus der DDR-Produktion, insbesondere keine anderen Organisationen in Deutschland, die in Kraftfahrzeuge, Treibstoff und Haushaltsgeräte. Im der Zeit der Trennung ein derartig umfangreiches Rahmen der Partnerschaftshilfe („Bruderhilfe"), Beziehungsgeflecht zwischen Ost und West aufge- durch die private Geschenksendungen an kirchliche baut und mit Leben erfüllt haben" [-> Rathke, Proto- Mitarbeiter in der DDR organisiert wurden, stellten koll Nr. 59; vgl. auch —> von Renesse und Schache, die westlichen Landeskirchen pro Jahr Zuschüsse in Protokoll Nr. 62]. Dankbar erinnern sich die Christen Höhe von rund 13 Millionen DM zur Verfügung. Eine in der DDR aber auch der zahlreichen Besuche aus wesentliche finanzielle Entlastung für die Kirchen in dem Ausland. Diese vermittelten ihnen das Gefühl, der DDR bedeutete auch die Möglichkeit, daß ihre nicht von der Welt abgeschnitten zu sein und an den pensionierten Mitarbeiter in die Bundesrepublik ökumenischen Entwicklungen teilhaben zu können. übersiedeln konnten und dort in die „Ostpfarrerver- Der Umfang der Partnerarbeit innerhalb der Kirchen, sorgung" der EKD einbezogen wurden. Ab 1980 deren Abstützung durch die Kirchenleitungen und die wurden die Pastoren außerdem in die staatliche Ren- verschiedenen Bundesregierungen, ihre Auswirkun- tenversicherung der DDR eingekauft. Die westlichen gen auf das innenpolitische Klima der DDR und ihre Kirchen bezahlten hierfür in zehn Jahresraten insge- Bedeutung für die Phase der Wiedervereinigung müs- samt 80 Millionen DM. sen noch genauer erfaßt und aufgearbeitet werden.

Der Gesamtumfang der finanziellen Tr ansfers von

West nach Ost im Bereich der evangelischen Kirchen

läßt sich nicht mehr feststellen, weil diese niemals 6.2 Die finanziellen Transfers der Kirchen systematisch erfaßt wurden. Alle Abkommen darüber untereinander und die Rolle der Kirchen mit den zuständigen DDR-Dienststellen mußten als bei der Lösung humanitärer Probleme strikt vertraulich behandelt werden. Auch die ver- schiedenen Bundesregierungen haben darauf bestan- Deutlichsten Ausdruck fand der „Geist der Verbun- den, daß nur sehr kleine Gremien und einige Vertrau- denheit" [-> Exper tise Binder], der die Kirchen geist- ensleute aus dem Bereich der Bundesregierung, dem lich und organisatorisch im geteilten Deutschl and Bundestag und der Kirchen über die Details informiert prägte, aber innerkirchlich zwischen Ost und West wurden. auch belastete [-k Hammer, Protokoll Nr. 59], in den umfangreichen finanziellen Tr ansfers von West nach Die katholische Kirche unterstützte ihre Diözesen,

Ost. So wurden innerhalb der EKD von 1945 bis 1960 Priester, Mitarbeiter und Gemeinden in der DDR in über das Hilfswerk bzw. das Diakonische Werk Geld- vergleichbarer Weise. Auch hier ist die „Gesamt- und Sachspenden in Höhe von über 520 Millionen summe aller Hilfen seit 1949 [...] nicht feststellbar"

RM/DM sowie 4,7 Millionen Care-Pakete im Wert von [-> Homeyer, Protokoll Nr. 59]. Mit den staatlichen

1,5 Millionen DM den Kirchen und Gemeinden in der 7 Stellen der DDR erreichte der finanzielle Tr ansfer

SBZ/DDR zur Verfügung gestellt. Nach einer Phase, in zwischen 1966 und 1989 eine Gesamtsumme von 630 der die Zuwendung der benötigten finanziellen Mittel Millionen DM: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird

„in Form eines Bartransfers über westliche Wechsel- man feststellen können, daß für die Jahre 1966 bis stuben organisiert worden war, der nach DDR-Recht 1990 ein mindestens gleich hoher Be trag an sonstigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Hilfen zur Verfügung gestellt wurde." An diesen eingegangen werden soll. Insgesamt zeigt sich aber, Transfers beteiligt waren die Deutsche Bischofskonfe- daß der Säkularisierungsprozeß im Gebiet der ehema- renz, das Bonifatiuswerk sowie die verschiedenen - ligen DDR als Folge der SED-Kirchenpolitik noch sehr Bundesregierungen [—> Homeyer, Protokoll Nr. 59]. viel weiter fortgeschritten ist, als bisher angenommen wurde. In den Großstädten erreicht der Anteil der Durch die großzügige Bereitstellung finanzieller Mit- christlich gebundenen Bürger oft nur noch einen tel wurde es den Kirchen in der DDR ermöglicht, ihre Anteil von etwa 10 v. H. Die Zugehörigkeit zu einer Arbeit für die eigenen Gemeinden, aber auch für die Kirche gilt nicht mehr als selbstverständlich. Gesellschaft insgesamt, insbesondere in den Berei- chen der Diakonie und der Caritas sowie bei der In dem Prozeß der Rückgewinnung ihres in den alten Erhaltung kulturell wertvoller Bauten, im wesentli- Bundesländern noch weithin selbstverständlichen chen ungeschmälert zu leisten. Die von der SED mit gesellschaftlichen Stellenwertes wird für die Kirchen der Abschaffung des staatlichen Kirchensteuerein- auch die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zugs 1956 eingeleitete finanzielle Strangulierung der eine wichtige Rolle spielen. Folgende Problemberei- Kirchen, durch die diese bis „an den Rand der che erscheinen dabei der Enquete-Kommission unter Zahlungsunfähigkeit" gebracht wurden [—>Exper tise politischen Gesichtspunkten besonders wichtig zu Binder], konnte abgewehrt werden. Damit erlangten sein: die Kirchen in der DDR einerseits eine „rela tive Unabhängigkeit vom kommunistischen Staat, die — — die Auseinandersetzung mit dem marxistisch-leni- außer in Polen — in keinem anderen Ostblockland stischen Atheismus und Menschenbild anzutreffen war" [—> Expertise Binder]. Andererseits — das Verhältnis von Kirche und Staat unter den wurde dadurch aber auch die Situa tion einer gewissen besonderen Aspekten der Kirchen in einer totalitä- Erpreßbarkeit geschaffen, wie das Beispiel der von ren Diktatur und in einem parlamentarisch-demo- der DDR erzwungenen Restaurierung des Berliner kratischen Gesellschaftssystem Doms zeigte. — die politische Relevanz theologischer Entwürfe Die Kirchen waren in ihren Strukturen und Arbeitsge- sowie die Wechselbeziehungen zwischen Theolo- bieten weitgehend von den Finanzhilfen abhängig, gie und Politik über deren Transfermöglichkeiten die DDR-Dienst- stellen allein entschieden. Kritische Fragen nach den — die Rolle der christlichen Gemeindeglieder in politischen Konsequenzen der kirchlichen Transfer- Kirchen und Gesellschaft geschäfte, z. B. die enge Zusammenarbeit mit dem die zwischenkirchliche Zusammenarbeit im Hin- Bereich Kommerzielle Koordinierung, etwa unter dem — Gesichtspunkt, ob dadurch nicht die SED-Diktatur blick auf politische Situationen und Entwicklun- stabilisiert würde, „wurden nach kurzer Güterabwä- gen. gung zur Seite gestellt", war man doch der Überzeu- Bei der Bearbeitung des Themenfeldes „Die Rolle und gung: „Die Nöte waren so groß, daß man für Skrupel das Selbstverständnis der Kirchen in den verschiede- keine Zeit hatte" [—> Exper tise Binder, —> Puschmann, nen Phasen der SED-Diktatur" hat die Enquete Protokoll Nr. 59]. Auch über die innerkirchlichen Kommission folgende Forschungsthemen registriert, Auswirkungen dieser Fremdfinanzierung wurde die bei den Kirchen und in der Zeitgeschichtsfor- kaum diskutiert, weil die Möglichkeiten, die diese schung verstärkt Beachtung finden sollten: eröffnete, um der Menschen und des Auftrags der Kirchen willen nicht problematisiert werden durf- — der Einfluß der SMAD auf die praktische Ausge- ten. staltung der „Bündnispolitik" in der SBZ Die kirchliche „stille Diplomatie" im geteilten — die internationale Zusammenarbeit der sozialisti- Deutschland [—p Exper tise Binder] bewährte sich schen Staaten auf dem Gebiet der Kirchenpolitik besonders auf dem Gebiet humanitärer Aktionen und — Rezeption und politische Instrumentalisierung des Häftlingsfreikaufs. Letzterer wurde 1962 durch grundlegender theologisch-kirch licher Verlautba- die Bundesregierung eingeleitet und ab 1963 über das rungen nach dem Krieg in der DDR Diakonische Werk der EKD im Auftrag der Bundesre- gierung abgewickelt. Das Diakonische Werk trat — die umfassende Edition und Analyse der SED- und dabei lediglich als Vermittler („Amtshilfe") auf. Insge- MfS-Akten zur Kirchenpolitik samt wurden etwa 3,4 Milliarden aus Bundesmitteln bis zum Ende der DDR auf diesem Weg transferiert. — die geheimdienstliche Durchdringung der ökume- Die EKD hatte auf die Zusammenstellung der Häft- nischen Arbeit und ihrer Zentren lingslisten „keinen unmittelbaren Einfluß, wie sie — die „Vorgeschichte" und ursprüngliche Zielset- daran auch nicht verdiente" [—> Exper tise Binder]. zung der Jugendweihe

— die Rolle „progressiver" Persönlichkeiten in den 7. Abschließende Bemerkungen Kirchen und kirchlichen Ausbildungsstätten — der Verlauf, die Beeinflussungen und die Konse- Die Kirchen haben sich das hohe gesellschaftliche quenzen der theologischen Auseinandersetzun- Ansehen, das sie in der Zeit der politischen Wende gen urn die „Obrigkeit" erworben hatten, nicht erhalten können. Die Gründe hierfür sind so komplexer Natur und im einzelnen — das Zustandekommen des BEK unter besonderer noch kaum erforscht, daß auf sie hier nicht näher Berücksichtigung der Stellung der EKD Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

— vertiefende Studien zur Wirkungsgeschichte der Als abgelehnt wurde, anhand eines Antrages darüber Formel „Kirche im Sozialismus" zu reden, ob es überhaupt für ein Parlament legitim sei, über die Bekenntnisgemäßheit kirchlichen Han- — Ansätze einer grundsätzlichen Kritik am „Real- delns zu urteilen, verließen die SPD-Mitglieder der sozialismus" in den Kirchen Kommission die Sitzung. Der Text wurde dann ohne — die Dokumente und die Geschichte des Konzilia- ihre Anwesenheit abgestimmt. ren Prozesses und der Ökumenischen Versamm- lungen — die Dokumente und die Entwicklung der verschie- B. Begründung für das Erstellen eines denen Gruppen innerhalb und im Umfeld der Sondervotums Kirchen Die verschiedenen Interpreta tionen, Gewichtungen — die Dokumente und die Geschichte der Freikir- und Wertungen der politischen Dimension der Kir- chen und anderen Religionsgemeinschaften in der chen in der DDR im Mehrheitsvotum werden der Rolle DDR und dem Selbstverständnis der Kirchen in der DDR teilweise nicht gerecht. Die SPD lehnt diesen Bericht — die deutschlandpolitischen Op tionen innerhalb nicht in allen Teilen ab, sondern setzt andere Schwer- der evangelischen Kirchen in Ost und West punkte. Einige wichtige Argumente seien im Folgen- — die katholische Kirche und die deutsche Frage den genannt: — die Bedeutung der Kirchen für das Zusammenge- 1. Der Text stellt zu wenig die Handlungsperspektive hörigkeitsgefühl der Deutschen auf den Ebenen der Handelnden selbst dar und versucht nicht, der Politik, der Kirchen, der Gemeinden und des diese verständlich zu machen. Die Interpreta tion einzelnen. kirchlichen Handelns wird im Mehrheitsbericht häufig wenig diskursiv dargestellt und vereinfacht zu sehr komplexe Handlungszusammenhänge. 8. Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der 2. Die Darstellungen der evangelischen und der SPD und der Sachverständigen Faulenbach, katholischen Kirche zeigen deutliche Unterschiede Weber in der Bewertung und ihren Maßstäben. Gewiß spielten für Kirchenpolitik und Staatssicherheit die A. Vorbemerkung evangelische Kirche eine größere Rolle als die katholische. Das vor allem deshalb, weil sich die B. Begründung für das Erstellen eines Sonder- evangelische Kirche insgesamt nicht aus dem votums gesellschaftspolitischen und öffentlichen Raum zurückzog, sondern ihn bewußt als eine wesentli- C. Ausgewählte zentrale Fragestellungen: che Dimension ihrer Verkündigung be trachtete. 1. Die politisch-gesellschaftliche Rolle der evan- Die katholische Kirche beschränkte sich neben gelischen Kirche in der DDR ihrer diakonischen Arbeit weitgehend auf indivi- duelle Seelsorge und die Messe. Gleichwohl hatte 2. Die evangelische Kirche in gesamtdeutscher die katholische Kirche ähnliche Probleme wie die Dimension evangelischen Kirchen. Beide waren der Unter- 3. Zur Kirchenpolitik der SED und ihre Einfluß- wanderung durch die Staatssicherheit ausgesetzt nahme auf die Kirche durch die Staatssicher- und hatten — ähnlich, wie man es heute von den heit evangelischen Kirchen weiß — wie diese zum Teil bis heute unaufgeklärte Gesprächskontakte mit der Staatssicherheit. Auch sie organisierte sich unter dem Druck der politischen Verhältnisse um. A. Vorbemerkung Erst mit dem Katholikentag 1987 in Dresden und durch ihre Beteiligung an der Ökumenischen Ver- „Die SPD hat durch ihre Berichterstatter auch an dem sammlung in der DDR 1988/89 begann auch sie Berichtsteil mitgewirkt, der nun als Mehrheitsvotum sich stärker gesellschaftspolitischen Fragestellun- erscheint. Die Notwendigkeit, ein Sondervotum zu gen zu öffnen. erstellen entstand erst kurz vor der erzwungenen Beschlußfassung in der Gesamtkommission, weil die 3. Der Mehrheitstext macht sich eine Auslegung der Mehrheit sich weigerte, weiter an dem Text zu arbei- Theologischen Erklärung von Barmen, die für viele ten, obwohl die SPD-Arbeitsgruppe vielfachen Ge- Bekenntnischarakter hat, zueigen, die selbst inner- sprächsbedarf angemeldet hatte. In der Sitzung am halb der Kirche und Theologie strittig ist. Er 19. Mai wurde unser Antrag, den Text nicht abzu- behauptet darüber hinaus, daß nur noch Teile der schließen, sondern weiter zu bearbeiten, abgelehnt. Kirche dieses Bekenntnis gelten ließen. Damit Wir wurden genötigt, Änderungen nur noch als for- überschreitet er die in einem Rechtsstaat für eine mulierte Anträge einzubringen. Auch darauf ließ die Parlaments-Kommission gesetzten Grenzen. SPD sich noch ein. Schließlich wurde auch die Diskus- Gleichwohl muß sich die Kirche an den von ihr sion zu unseren Anträgen verhindert, indem sofort gesetzten Kriterien selber messen lassen. Dazu nach Antragstellung ein Geschäftsordnungsantrag gehört auch die Erörterung des Zusammenhangs auf „Schluß der Debatte" gestellt und durchgesetzt zwischen eigenen theologischen Posi tionen und wurde. ihrem öffentlichen Wirken. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

4. Durch den Mehrheitstext wird durch mehrfach C. Ausgewählte zentrale Fragestellungen wiederkehrende Formulierungen der Eindruck erweckt, als ginge es bei der Wendung von der - Es war nicht möglich und beabsichtigt, in der Kürze „Kirche im Sozialismus" um eine eindeutige Kon- der Zeit einen vollständigen und parallel laufenden zeption. Tatsächlich verstand eine große Mehrheit Text zum vorliegenden Kapitel der Mehrheit zu erstel- unter dieser Formel eine Ortsbezeichnung: Hier in len. So beschränken sich die folgenden Darstellungen dieser Gesellschaft, wie sie ist, haben wir das im wesentlichen auf die protestantischen Kirchen, da Evangelium zu verkünden. sie für die gesellschaftspolitischen Fragestellungen, welche die Enquete-Kommission interessieren, wich- Eine kleine Minderheit, die vor allem in der CFK tiger sind. und in der CDU angesiedelt waren, sah in der Formel ein Bekenntnis zum „Arbeiter- und Bauern- staat"; eine andere Minderheit schloß aus der 1. Zur politisch-gesellschaftlichen Rolle der Formel, daß es dann auch Sache der Kirche sein evangelischen Kirche der DDR müsse, darüber mitzureden, was Sozialismus sei und was nicht. Für sie war es eine Offensivformel in Die Kirche ist keine politische Ins titution, doch spielt Richtung gesellschaftspolitischer Verkündigung. sie gleichwohl — zumal in Diktaturen — eine beson- Die Mehrheitsmeinung wurde von der SED gedul- dere gesellschaftspolitische Rolle. Für die Enquête det, die erste Minderheitsmeinung begrüßt und Kommission war dementsprechend die politisch unterstützt, die zweite befürchtet und bekämpft. gesellschaftliche Rolle der Kirche in der SBZ und DDR Ende der 80er Jahre wuchs in der Kirche die Kritik zu untersuchen, was insofern auf Schwierigkeiten an der Formel, weil sie so unterschiedliche Deutun- stieß, als sie bislang nur unzureichend aufgearbeitet gen erlaubte und dabei die Selbstdefinition der ist und diese Aufarbeitung in der kurzen zur Verfü- SED für die DDR-Gesellschaft kritiklos über- gung stehenden Zeit auch nicht zu leisten war. Einige nahm. Aspekte der politisch-gesellschaftlichen Rolle der evangelischen Kirche seien hier gleichwohl benannt, 5. Die Weigerung, weiter am Text zu arbeiten, hat da sie im Mehrheitsvotum der Enquête-Kommission eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehlern zur nicht oder nur unzureichend angesprochen werden. Folge, die hätten vermieden werden können. 1. Die Kirchen büßten in der DDR ihre Stellung als Als Beispiele seien genannt: öffentlich-rechtliche Einrichtungen ein; sie lebten ohne Rechtssicherheit und mußten stets bestrebt sein, in Gesprächen ihren Raum zu sichern. In einer — (Abschn.2.1) Die Barmer Theologische Erklärung ganzen Reihe von Bereichen (etwa beim Bau von von 1934 wurde von den lutherischen Kirchen in Kirchen) waren sie darauf angewiesen, zu Verein- der DDR nicht als Bekenntnis verstanden. barungen mit dem Staat zu kommen. Dennoch gelang es ihnen, eine einzigartige Stellung unter — (Abschn.3.5) Der Text erweckt den Eindruck, als der SED-Diktatur, die von eminenter politisch habe es bei der Ökumenischen Versammlung gesellschaftlicher Bedeutung war, zu bewahren: Delegierte von kirchlichen Basisgruppen neben — Im Gegensatz zu anderen Institutionen, Organi- Vertretern von Kirchenleitungen gegeben. Doch sationen und Gruppen verfügte sie über eigene wurden alle Delegierten von den Kirchenleitungen Räume und war in dieser Hinsicht nicht von den berufen, wobei manche auch solche benannten, staatlichen Behörden und ihren Genehmi- die vorher von Gruppen vorgeschlagen worden gungsverfahren abhängig. waren. — Sie besaß eigene Ausbildungsstätten, die der Dies entspricht einem durchgehenden Duktus des Ausbildung von Theologen, Diakonen und Textes, welcher den weit verbreiteten Eindruck Schwestern dienten. In diesen Ausbildungsstel- bestätigt, als wären die Hauptkonflikte in den len wurde ein — auch politisch — vom SED Kirchen solche zwischen angepaßten Kirchenlei- System unabhängiges Denken gepflegt. Anders tungen und aufmüpfiger Basis gewesen. Richtig ist als die theologischen Fakultäten der Universitä- dagegen, daß gerade auch die politischen Kon- ten, deren Beziehung zur SED im einzelnen flikte quer durch alle Ebenen gingen. noch aufzuarbeiten ist, waren die kirchlichen Hochschulen dem unmittelbaren Einfluß der Partei und der staatlichen Dienststellen entzo- — Abschn. 2.3. Auch da, wo Einzelheiten richtig sind, gen. führt der Text gelegentlich in die Irre. So wird etwa von den massiven Versuchen der Einflußnahme — Trotz aller — zeitweilig mit scharf repressiven der Stasi auf die Bischofswahl in der Berlin Maßnahmen durchgeführten — Versuche von Brandenburger Landeskirche aus dem Jahr 1981 Partei und Staat, kirchliche Jugendarbeit zu berichtet. Verschwiegen wird jedoch, daß diese unterbinden bzw. einzuschränken, gelang es Bemühungen nichts ausrichten konnten, daß viel- der Kirche bis zum Ende der DDR nicht nur, ihr mehr der Kandidat gewählt wurde, welchen die Recht auf Jugendarbeit zu verteidigen, sondern Staatssicherheit am wenigsten wollte: Gottf ried diese auch in vielfältigen Formen zu praktizie- Forck. ren. Allerdings erreichte sie auf diese Weise nur Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

einen Teil der Jugend. Die Möglichkeit, in klären sein, insbesondere auch durch eine selbst- jugendgemäßer Form werbend an die Offent- kritische Diskussion in den Kirchen selbst. Mögen lichkeit zu gehen, waren äußerst beschränkt. - Konfliktscheu und ängstliches Zurückweichen dem diakonischen Ansatz der evangelischen Kir- — Eine beachtliche Rolle spielte die Kirche in der chen oft Grenzen gesetzt haben, so blieb er gleich- Diakonie. Zwar wurde zunächst versucht, auch wohl stets erfahrbar. Mit der gesellschaftspoliti- hier die Kirche zurückzudrängen, doch war schen Dimension ihrer Arbeit fanden die evangeli- später das kirchliche Engagement in Kranken- schen Kirchen in ihrem oft atheistisch geprägten, häusern und in der Behindertenarbeit — nicht dem System kritisch gegenüberstehenden Umfeld dagegen in den Kindergärten — in gewissem Maße erwünscht. vielfach Anerkennung. Immer wieder ließen sich Menschen taufen, die durch solche Aktivitäten Insgesamt gesehen wird man sagen können, daß Kontakt mit der Kirche bekamen. die evangelischen Kirchen in der DDR — abgese- hen von der katholischen Kirche in Polen — vom 4. Auf den Synoden und in den Gemeindekirchenrä- kommunistischen System institutionell unabhängi- ten der Kirchen waren demokratische Wahl- und ger waren als die Kirchen in allen osteuropäischen Willensbildungsverfahren selbstverständliche Pra- Ländern. Das lag nicht zuletzt an ihrer Möglichkeit, xis. So war es kein Zufall, daß in zahlreichen Orten finanzielle Hilfen von der EKD zu erhalten. Doch Pfarrer, kirchliche Mitarbeiter oder andere aktive spielte dabei auch die Geschichte der Bekennen- Gemeindemitglieder zu Moderatoren der runden den Kirche eine Rolle, die von der SMAD als Tische gewählt wurden und in der Umbruchphase antifaschistischer Widerstand anerkannt worden 1989/90 eine herausragende Rolle spielten. In den war, sowie die unmittelbare Nachbarschaft zum Kirchen entwickelte sich im Spannungsfeld zwi- Westen. schen paternalistischen und emanzipatorischen Traditionen eine politische Kompetenz, die plurali- 2. Die evangelische Kirche in der DDR war die einzige stisch und von eigenständiger Auseinandersetzung vom System unabhängige große Organisa tion, in mit gesellschaftlilchen Fragen geprägt war. der eine stetige Kommunikation über eine Vielzahl von gesellschaftlichen und kulturellen Themen 5. Innerhalb der evangelischen Kirche waren die jenseits der Vorgaben von Partei und Gesellschaft Einschätzungen nicht einheitlich, inwieweit die stattfand. Sie besaß ihre eigene, wenn auch Kirche sich zu politischen und gesellschaftlichen begrenzte Öffentlichkeit, die potentiell und immer Fragen äußern und inwieweit m an politischen wieder auch tatsächlich zur Gegenöffentlichkeit Gruppen Raum geben solle. Die Einschätzungen zum SED-System wurde, das eine unabhängige veränderten sich im Laufe der Zeit, sie waren Öffentlichkeit nicht zuließ. abhängig von der Auffassung von Kirche, von theologischen wie politischen Posi tionen. Dabei 3. Die frühen Konflikte, z. B. zur Schulfrage und zum waren die Unterschiede keineswegs durchgängig Religionsunterricht, später zur Jugendweihe auf unterschiedliche Posi tionen von Kirchenleitun- brachten die Kirche in Opposition zum SED gen einerseits und Gemeinden und Basis-Gruppen System, das zeitweilig — insbesondere in den 50er andererseits zurückzuführen. In manchen Gemein- Jahren — militant gegen die Kirche vorging. Doch den lehnte man es ab, daß sich die Kirche in auch in späteren Phasen war die evangelische politisch-gesellschaftlichen Fragen engagierte Kirche, auch wenn ihre Leitungen und viele der bzw. politisch-gesellschaftlichem Engagement Gemeindemitglieder Konfrontationen zu vermei- allzu weit öffnete. Darin wurde nämlich die Gefahr den suchten, stets im Gegensatz zum SED-System, des Abgehens vom eigentlichen Anliegen der Kir- wenngleich sie sich selbst nie als Opposi tion ver- che (von Verkündigung, Bibel-Exegese, Seelsorge standen hat. So entfaltete sich unabhängiges Den- usw.) gesehen, eine Einschätzung, die auch in ken in der Kirche immer wieder neu. In den manchen Gemeinden der alten Bundesrepublik Gemeinden selbst bildeten sich oppositionelle ihre Anhänger hatte und hat. Andere akzentuier- Gruppen, deren protestantisches Selbstverständnis ten demgegenüber die besondere Verantwortung sie zu politischer Aktivität drängte. Nicht nur sie der Christen und der Kirche für die Gesellschaft. nutzten die — wenn auch begrenzte — Öffentlich- Beide Positionen konnten sich mit politischen keit, die ihnen die Kirche bot, sondern auch Nicht mischen, mußten aber keineswegs primär politisch Chri sten fanden dort ein Betätigungsfeld, das es motiviert sein. Die Kirchenleitungen versuchten außerhalb der Kirche für sie sonst so nicht gab. nach der Niederlage der Kirche in der Frage der Gemeinden, Pfarrer und Kirchenleitungen, die Jugendweihe, bei der nur ein geringer Teil der auch den nicht-gemeindlichen Gruppen Raum, Mitglieder den Kirchenleitungen folgte, Konfron- Schutz und Unterstützung gaben, sahen sich dazu tationen zu vermeiden. Dennoch erhob die Kirche aus ihrem Verständnis des gesellschaftlich-diako- in wichtigen Fragen — etwa zu den wachsenden nischen Auftrags genölig. „Kirche für andere" zu Militarisierungstendenzen in der DDR-Gesell- sein, bedeutete für sie auch, die der Kirche zur schaft — ihre Stimme und gab auch den unabhän- Verfügung stehenden Strukturen, ihre Räumlich- gigen Gruppen in den 80er Jahren Raum. keiten, Arbeitsmittel und ihre relativ unabhängige Stellung in den Dienst auch der nicht aus ihr Eine wichtige Bedeutung hatte in allen Phasen die hervorgegangenen Gruppen zu stellen. Ob die Friedensfrage, in der sich die Kirchen zu Posi tionen Kirchen die ihnen gegebenen Möglichkeiten aus- bekannte, die erhebliche Kritik an der staatlichen geschöpft haben, deren Vorhandensein sie in der Politik enthielten. In einer „Handreichung für Gesellschaft der DDR privilegierte, wird weiter zu Wehrpflichtige" aus dem Jahre 1962 sowie in einer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Erklärung „Bekennen in der Friedensfrage" 3. Finanziell wurden die Kirchen in der DDR ganz bekannten sie sich zur Wehrdienstverweigerung wesentlich durch Mittel unterstützt, die aus dem als dem „deutlicheren Zeichen" für den Frieden.- Westen kamen. Ohne diese Hilfe hätten sie ihre Während der Arbeit in der Ökumenischen Ver- Strukturen und ihre Arbeit so nicht aufrechterhal- sammlung in der DDR 1988/89 kamen die prote- ten können. Die EKD erhielt — wie die katholische stantischen mit der katholischen Kirche gemein- Kirche — einen nicht geringen Teil der Mittel von sam zu gesellschaftspolitischen Aussagen, welche der Bundesregierung zurück — was auf Seiten der die Politik der SED grundlegend infragestellte. DDR-Kirchen wiederum nur ganz wenigen be- kannt war. Hervorzuheben ist, daß die Gewährung Von heute her mag man fragen, ob Gemeinden dieser Mittel nie an irgendwelche Vorgaben und oder Kirchenleitungen ihre politische Spielräume Bedingungen geknüpft waren. Sie wurden von den immer voll ausgeschöpft haben. Es ist jedoch dar- Kirchen in der DDR in freier Verantwortung ver- auf zu achten, daß die Bedingungen, unter denen wendet. Über die Wege und Hintergründe der jeweils gehandelt wurde, gewürdigt werden und Geldzuflüsse konnte es selbst in den Kirchenleitun- kirchliches Handelns nicht ausschließlich nach gen keine Debatte geben, da sie — um den Tr ansfer politischen Maßstäben gewertet wird, was dem nicht zu gefährden — nur in einem kleinen Kreis Wesen der Kirche nicht angemessen ist. verhandelt wurden.

In den 80er Jahren gab es in der ev. Kirche jedoch 2. Die evangelische Kirche in gesamtdeutscher zunehmend Stimmen, welche die Abhängigkeit Dimension von den westlichen Kirchen problematisierten. Alternativen wurden jedoch trotz langsam wach- 1. Die Kirchen waren in den Jahrzehnten der deut- sender Spenden auch bei geringer werdenden schen Teilung der gesellschaftliche Bereich, in Mitgliedszahlen nicht gefunden. welchem eine gesamtdeutsche Zusammengehö- 4. Seit 1969 — der Beginn der sozialliberalen Koali- rigkeit sowohl hinsichtlich der zwischenmenschli- tion mit ihrer neuen Ost- und Deutschlandpolitik chen Beziehungen als auch der institutionellen und die Gründung des Bundes der Evangelischen Bezüge am stärksten Wirklichkeit war. Natürlich Kirchen fielen in dieses Jahr — gewannen die brachten die politischen Rahmenbedingungen im Kirchen auch eine zunehmende Bedeutung für die Laufe der Zeit deutliche Veränderungen, doch gab innerdeutschen Beziehungen. Die DDR-Regierung es keinen Bereich in der Gesellschaft der DDR, in wurde stärker als bis dahin zum Verhandlungspart- dem diese Zusammengehörigkeit so vielfältig und ner. So wurden die kirchlichen Repräsentanten bis bewußt gelebt wurde. 1989 von allen Bundesregierungen als unabhän- Jede Kirchgemeinde hatte eine, oft mehrere Part- gige Gesprächspartner geschätzt, deren Interpre- nergemeinden in der Bundesrepublik, ähnliche tation und Beurteilung der Lage in der DDR großes Partnerbeziehungen gab es auf der Ebene der Gewicht beigemessen wurde. Seit Beginn der 60er Kirchenleitungen, in der Jugend- und Studente- Jahre waren die Kirchen Mittler beim Häftlingsfrei narbeit sowie zwischen den verschiedenen kirchli- kauf. chen Werken. Die Themen der geistigen Auseinan- Die Zusammengehörigkeit der ev angelischen Kir- dersetzung waren in vielem gleich. Das gilt auch 5. chen in ganz Deutschland ist nie wirklich infrage für die Theologie. Hier war die Kommunikation gestellt worden, auch dann nicht, wenn man — in besser als die zwischen den Natur- und Geisteswis- unterschiedlichem Maße — in Ost wie West später senschaften. Es gab keine DDR-Theologie. Da die mehr und mehr von einer lange währenden (oder Redewendung von der „Kirche im Sozialismus" gar dauerhaften) Zweistaatlichkeit Deutschlands nicht Ausdruck einer Konzeption war, gab es auch ausging. Die Einheit der Deutschen wurde nicht keine „Theologie einer Kirche im Sozialismus". zuerst als staatliche Einheit verstanden — wenn- 2. Die evangelische Kirche hielt l ange an ihrer orga- gleich man diese insbesondere in den ersten Nach- nisatorischen Einheit für ganz Deutschl and fest. Als kriegsjahrzehnten noch ganz selbstverständlich 1969 dann der Bund der Evangelischen Kirchen anstrebte und erhoffte. Das Stuttgarter Schuldbe- gegründet wurde und die östlichen Landeskirchen kenntnis von 1945 hatte die Deutschen als eine ihre Mitarbeit in den Organen der Evangelischen Schuld- und damit als eine Haftungs- und Verant- Kirche in Deutschland (EKD) niederlegten, wurde wortungsgemeinschaft verstanden. So wurde im die „besondere Gemeinschaft (mit) der ganzen Verständnis der Kirchen die für alle Deutschen aus evangelischen Christenheit in Deutschland" in der der eigenen Geschichte erwachsende Verantwor- eigenen Ordnung festgeschrieben. Die „Evangeli- tung zu einem festen Bindeglied für die Zusam- sche Kirche der Union" (EKU) — Nachfolgerin der mengehörigkeit der Na tion. Bei aller Unterschied- 1817 gegründeten „Altpreußischen Union", in der lichkeit der politischen Haltungen wurde dieses sich lutherische und calvinistische Kirchen verei- Bewußtsein von den Anfängen bis zum Ende der nigt hatten und der fünf der acht ev angelischen deutschen Teilung durchgehalten. Es fand insbe- Landeskirchen in der DDR angehörten — trennte sondere in der häufigen Betonung der gemeinsa- sich formal nicht. Sie gliederte sich organisatorisch men Friedensverantwortung ihren Ausdruck. Ein in zwei völlig selbständige Regionen auf der Basis wichtiges Beispiel für diesen Ansatz ist die Ost- einer gemeinsamen Kirchenverfassung. Ähnliches denkschrift der EKD von 1965. Zwar konnten — geschah in der Berlin-Brandenburgischen Landes- wenige Jahre nach dem Mauerbau und trotz orga- kirche. nisatorischer Einheit — die Kirchen in der DDR an Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

dieser Denkschrift nicht mitarbeiten und kommen gesamtdeutsche, d. h. alle vier Besatzungszonen ihre spezifischen Probleme in ihr nicht vor, doch umfassende Organisation nach dem Krieg, die im wurde sie von einer breiten Mehrheit der Christen Bewußtsein vieler in gewisser Hinsicht auch Stell- in der DDR begrüßt und mitgetragen. vertreterfunktionen für die fehlenden gemeinsa- men staatlichen Institutionen übernahm. Als ein- In den evangelischen Kirchen der DDR wurden die zige deutsche Ins titution unterhielt sie nach Grün- Fragen des Friedens zu einem zentralen gesell- dung der beiden deutschen Staaten Bevollmäch- schaftspolitischen und sozialethischen Thema, mit tigte bei beiden Regierungen. Damit zog sie auch dem man sich kontinuierlich beschäftigte. Es ist politische Hoffnung auf sich. auch kein Zufall, daß die seit 1979 erarbeiteten gemeinsamen Erklärungen des Bundes der Evan Im Rückblick fällt auch auf, daß mit der gesamt- -gelischen Kirchen und der EKD insbesondere an deutschen Neuorganisation der evangelischen Kir- Jahrestagen deutscher Unrechtsgeschichte statt- chen die erste und einzige na tionale Institution fanden und die gemeinsame Verantwortung für geschaffen wurde, welche sich auf das Gebiet der den Frieden betonen (1979 zum 50. Jahrestag des vier Besatzungszonen, einschließlich des franzö- Beginns des Zweiten Weltkrieges; 1988 zum sisch besetzten Saarlandes erstreckte. Indem auf 40. Jahrestag des Progroms an den Juden in die lebendige Zusammengehörigkeit der Men- Deutschland; doch auch 1985 zum 40. Jahrestag schen und ihren Willen, ihre Lebensverhältnisse der Befreiung vom Nationalsozialismus). gemeinsam zu gestalten, gesehen wurde, gelang hier in dieser Frage ein Vorgriff auf die heutige Die Diskussion darüber, warum die Fragen von Situation. Freiheit und Diktatur, wenn überhaupt, dann nur am Rande thematisiert wurden, hat in den Kirchen Die Deutschen Evangelischen Kirchentage in den erst begonnen. Sie wird die schwierige Gesprächs- fünfziger Jahren bis 1961 machten die Zusammen- lage der Kirchen in Ost und West mitberücksichti- gehörigkeit der Na tion zu einer praktischen Erfah- gen müssen, bei der deutlich war, daß die Folgen rung. Diese Funktion wurde von den Kirchen öffentlicher kritischer Äußerungen nur die Kirchen bewußt wahrgenommen. und Christen in der DDR hätten tragen müssen. Auch als 1961 die Mauer gebaut wurde und man Wieweit es überhaupt die Absicht bzw. die Bereit- nicht mehr zueinander kommen konnte, maß man schaft gab, z. B. Probleme, die sich aus der Demo- kirchlich wie politisch der gesamtdeutschen Kir- kratiedenkschrift der EKD von 1985, im gemeinsa- cheneinheit einen hohen Wert zu. Die Kirche war men Gespräch oder gar in Erklärungen zum Thema zu einer letzten Klammer für die Menschen im zu machen, wird künftig zu erforschen sein. geteilten Land geworden, die man nicht aufgeben 6. Die konkreten Möglichkeiten gemeinsamen Han- wollte. deln der Kirchen in Deutschl and änderten sich mit II. den politischen Rahmenbedingungen grundle- gend. Hierdurch wurden die Kirchen zu Antworten Anfang der 50er Jahre führte die SED einen bruta- herausgefordert, die nie unumstritten waren, len Kampf gegen die Kirche als freien Bereich der jedoch von dem Bemühen getragen wurden, die gesellschaftlichen Öffentlichkeit, doch anerkannte Möglichkeiten zur Verkündigung zu erhalten, sie noch in der Mitte dieses Jahrzehnts die gesamt- handlungsfähig zu bleiben und die Zusammenge- deutsche Organisation der evangelischen Kirchen. hörigkeit nicht aufzugeben. Das änderte sich dann mit der veränderten sowje- tischen Deutschlandpolitik, die seit 1955 erklärter- Im folgenden sollen diese Entwicklungen in drei maßen von der Zwei-Staaten-Theo rie ausging, und Stationen umrissen werden: I. für die Nachkriegs- insbesondere nach dem Militärseelsorgevertrag, zeit bis zum Mauerbau; als II. wird die Gründung den die EKD 1957 mit der Bundesrepublik des Bundes der Ev. Kirchen auf dem Hintergrund abschloß. Die SED zielte nun auf eine Trennung der unterschiedlichen Interessen dargestellt; zu- von der EKD, sie wollte eine Loyalitätserklärung letzt, III., wird kurz darauf verwiesen, wie die der Kirchen gegenüber der Souveränität der DDR „ besondere Gemeinschaft" der Kirchen in Ost und und versuchte, sie zur Anerkennung der gesell- West insbesondere in den 80er Jahren mit Leben schaftlichen und staatlichen Strukturen in der DDR gefüllt wurde. zu drängen. 1958 erzielte sie damit beim Besuch einer Delegation der EKD, bei der jedoch nur I. DDR-Bürger teilnehmen durften, einen ersten Nach dem Zweiten Weltkriege wurde — wie von Erfolg. der gesamten deutschen Bevölkerung — von den Der Mauerbau 1961 stellte die EKD im Vollzug Kirchen die Einheit Deutschlands fraglos erwartet ihrer gesamtdeutschen Struktur vor große Pro- und angestrebt. Während die Wiederherstellung bleme. Die Betheler Synode 1963 lehnte eine der deutschen Einheit auf sich warten ließ und die Regionalisierung der Strukturen ab; die Stühle der Besatzungszonen sich z. T. auseinanderentwickel- Ostdeutschen blieben leer, die Synode war auch ten, formierten sich die ev angelischen Kirchen ohne sie beschlußfähig. schon sehr bald und schufen mit der EKD schließ- lich zum ersten Mal nach der Reforma tion eine Es stellte sich die Frage, wie m an künftig eine verbindliche und effektive Gemeinschaftsorgani- Organisationsform finden könnte, welche einer- sation der Landeskirchen. Damit wurden sie die seits erlaubte, die Zusammengehörigkeit zu erhal- erste funktionsfähige und politisch anerkannte ten, andererseits den Kirchen in der DDR gegen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

über ihrer besonderen gesellschaftlichen und poli- Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen tischen Situation neue Handlungsfähigkeit gab. in der DDR. Sie wurde möglich, weil viele aus recht - unterschiedlichen Interessen heraus dies für den Schon vorher hatte sich die öffentliche Vertretung besten Schritt hielten. Die acht Landeskirchen der DDR-Kirchen in der Auseinandersetzung mit traten nicht formell aus der EKD aus, sondern der Regierung auf die sogenannte Ostkirchenkon- stornierten gleichsam ihre Mitgliedschaft, indem ferenz verlagert, einer mehr informellen Arbeitsge- sie ihre Mitarbeit in ihren Organen einstellten und meinschaft der acht östlichen Kirchenleitungen. die Mandate niederlegten. Diese rechtliche Kon- Auch entstand zunehmend das Problem, daß die struktion erleichterte nach der Vereinigung 1991 Aktivitäten der Thüringischen Landeskirche und dann auch wieder die Herstellung der organisato- ihres Bischofs Mitzenheim sowie die aktiv betrie- rischen Einheit. So hatte die SED — wenn m an so bene Differenzierungspolitik der SED zu einem will — die Loslösung von der EKD erreicht, doch mit Sonderverhältnis dieser Kirche zur DDR-Regie- der Gründung des Bundes war etwas entstanden, rung führen konnte, was die Kirchen in diesem das sie so nicht wollte. Statt sich von den Kirchen in Gegenüber sehr geschwächt hätte. Dagegen der Bundesrepublik abzugrenzen, bekannte er sich bestand in den Kirchen der feste Wille, sich nicht in seiner Grundordnung zur besonderen Gemein- auseinander bringen zu lassen und das Verhältnis schaft mit ihnen. Damit war den Beziehungen zu zum Staat gemeinsam zu regeln. ihnen eine andere Qualität zugesprochen als den Gleichzeitig führte das Festhalten an der rechtlich ökumenischen Kontakten zu Kirchen in anderen organisatorischen Kircheneinheit zwischen Ost Ländern. Diesen Unterschied hat der Kirchenbund und West angesichts des zunehmenden Drucks des immer festgehalten. Staates zu immer größerer Unbeweglichkeit. Außerdem hatte die SED nicht erreichen können, Schon physisch zueinander zu kommen, um sich zu daß die Kirchen eine grundsätzliche Zustimmung beraten, war weitgehend unmöglich. Dazu kam, zu den gesellschaftlichen und staatlichen Verhält- daß es für die Kirchen im Westen immer weniger nissen und Strukturen der DDR aussprach. Gleich- ratsam schien, zur Situa tion im Osten klare Worte wohl war die Gründung des Kirchenbundes auch zu finden, weil die Einschätzung nur von außen das bewußte sich Einlassen auf die DDR als den Ort, kommen, als westliche Einmischung diskreditiert an dem man die christliche Verkündigung ausrich- werden und die Christen in der DDR nachteiligen ten wollte. Das wurde später in der mißverständli- Folgen aussetzen konnte. So kam es — obwohl die chen, von unterschiedlichen Interessen ge tragenen organisatorische Einheit noch bestand — schon in und deshalb vieldeutigen Formel von der „Kirche den 60er Jahren zu keiner Erklärung der EKD zu im Sozialismus" ausgesprochen. Kirchlicherseits gesellschaftspolitischen Fragen in der DDR. Die war dabei der protestantische Anspruch mitformu- einheitliche Kirche war in Bezug auf die DDR liert, die DDR als eigenen Ort auch insofern ernst handlungsunfähig geworden. Sie zog sich in den zunehmen, als man sich nicht in eine p rivate die DDR betreffenden Fragen angesichts der offe- religiöse Ecke abdrängen lassen würde noch allein nen Angriffe der SED immer mehr ins Unpoli tische eine Kultgemeinschaft sein könne. Die Öffentlich- zurück. Selbst die wichtige Ostdenkschrift von keit der Gesellschaft müsse auch der Raum der 1965 blendete diese Dimension und damit den Teil christlichen Verkündigung sein. So definierte sich Deutschlands aus, der an der ausführlich themati- der Bund als „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft" sierten deutsch-polnischen Grenze liegt. in der Gesellschaft, als „Kirche für andere" (Bon- Die zunehmende Handlungsunfähigkeit führte in hoeffer). der noch gesamtdeutschen EKD auch gewisserma- Erst im Februar 1971 entschloß sich die SED , den ßen zu einem „Reformstau" , was nicht nur gesell- Kirchenbund anzuerkennen und seine Organe als schaftspolitische Fragen, sondern eben auch inner- legitime Vertreter der Landeskirchen zu akzeptie- kirchliche betraf, so die Bemühungen um mehr ren. Damit endete die 13 Jahre bet riebene Kirchen- kirchliche, die konfessionellen Grenzen überwin- politik mit von der SED willkürlich ausgewählten, dende Gemeinschaft und Fragen von Ter ritorial- nicht legitimierten kirchlichen Partnern. So hatte und Strukturreform. Dazu kamen ein massiver z. B. Walter Ulbricht versucht, den anpassungsbe- Druck der SED, welcher sich auch in der neuen reiten Thüringer Landesbischof Mo ritz Mitzen- DDR-Verfassung äußerte. In dieser verloren die heim als „dienstältesten Bischof" zu seinem Kirchen den bis dahin wenigstens verbal noch Ansprechpartner zu wählen. zugestandenen rechtlich gesicherten Ort in der Gesellschaft. Ihre konkreten Handlungsmöglich- III. keiten und ihr jeweiliger Status sollten künftig „durch Vereinbarungen geregelt" werden können. Mit der Gründung des Kirchenbundes war die Ebenso sollten die Staatsgrenzen auch die Grenzen „besondere Gemeinschaft" mit den Christen in der ihrer Organisation sein. Bundesrepublik festgeschrieben worden. Es sollte nun darauf ankommen, ob und inwiefern sie mit So gab es im Laufe der Jahre immer mehr, zum Teil Leben erfüllt wurde. Rückblickend läßt sich sagen, auch sich entgegenstehende, Gründe dafür, nach daß dies in einem Ausmaß möglich wurde, wie es einer Neuorganisation der Kirchen in der DDR zu sich selbst Optimisten nicht hatten träumen las- suchen. Ergebnis war dann 1969 die — für einen sen. Außenstehenden nach der die organisatorische Einheit der Kirchen beschwörenden Erklärung der Zunächst jedoch waren beide Seiten äußerst vor Fürstenwalder Synode von 1967 erstaunliche — sichtig. Langsam erst wurden die Möglichkeiten Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

dafür ertastet bzw. dem Staat abgehandelt. Gleich an dem Ziel große Aufmerksamkeit, auch diese letzte 1969 wurde auf Kirchenleitungsebene eine ge- eigenständige gesellschaftliche Bastion zu schleifen. samtdeutsch zusammengesetzte, sog. „Berater- gruppe" berufen, die über die Gestaltung dieser Während die Zielstellung der SED-Kirchenpolitik „besonderen Gemeinschaft" beraten sollte. Seit über die Jahrzehnte hinweg gleichblieb, gab es in den 1973 gab es gegenseitige Synodenbesuche, m an konkreten Vorgehensweisen manche Wandlungen. an der Revision der Lutherbi- arbeitete gemeinsam Sie ordneten sich in die jeweilige gesellschaftspoliti- bel und einem neuen Kirchengesangbuch. Die sche Gesamtstrategie ein. Kontakte der verschiedensten Partnerschaften lie- fen auf allen Ebenen weiter. Die Verantwortlichen Auf eine Darstellung der Grundzüge dieser Politik für die Kirchentage in Ost und West trafen sich insbesondere für die beiden letzten Jahrzehnte soll jedes Jahr für mehrere Tage und vereinbarten eine sich dieser Text im Wesentlichen beschränken. möglichst breite gegenseitige Teilnahme. In gesell- schaftspolitischen Fragen kam es jedoch erst 1979 Ziel der SED Kirchenpolitik war es, der Kirche — wenn zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns zu einer man schon mit ihr über einen längeren Zeitraum gemeinsamen Erklärung. Um auch auf diesem Feld würde leben müssen — ihre gesellschaftspolitische wieder mehr zu tun, wurde 1980 vom Kirchenbund Dimension zu nehmen, den Öffentlichkeitsanspruch und der EKD eine sog. „Konsultatiionsgruppe" der christlichen Verkündigung und seine Realität gebildet. So gab es in der Folge mehrere solcher auszuschalten, sie ins Abseits zu drängen, aus der Erklärungen. Zu den seit 1980 jährlich im Novem- Politik herauszuhalten und sie auf die Ebene von ber stattfinden Friedensdekaden wurden gemein- unpolitischen Kultgemeinden und individueller Seel- same Materialien für einen „Bittgottesdienst für sorge zurückzudrängen. Gleichzeitig wurde jedoch den Frieden" erarbeitet. auch eine gesellschaftspolitische Ausrichtung begrüßt — doch eben nur, wenn sie in die Gesamtstrategie der Die materielle Unterstützung durch die EKD hat in SED hineinpaßte. der Zeit der Bundes insbesondere auch durch die Finanzierung des Sonderbauprogramms, durch welches auch in Neubaugebieten Kirchen und Um diese Ziele zu erreichen, entwickelte die SED — Gemeindezentren entstehen konnten, erheblich nachdem sich die Totalkonfronation des Beginns der zugenommen. 50er Jahre nicht weiterführen ließ — ein diffenziertes Instrumentarium. 1957 wurde das Staatssekretariat Die Zweistaatlichkeit Deutschlands wurde in den für Kirchenfragen für alle offiziellen staatlichen Kon- Kirchen in Ost und West zunehmend als eine takte zur Kirche zuständig. Damit wurden den Kirchen Realität anerkannt, deren Überwindung in abseh- die Möglichkeit genommen, mit den einzelnen Mini- barer Zeit nicht für möglich gehalten wurde. So galt sterien direkt zu sprechen. Die Kirchenpolitik ein- es, die Beziehungen zueinander so zu gestalten, schließlich der Aktivitäten der Staatssicherheit wurde daß die Zusammengehörigkeit und besondere im ZK der SED in einer eigenen Arbeitsgruppe kon- Gemeinschaft der Christen in Deutschland gleich- zeptionell entwickelt und koordiniert, im Politbüro wohl mit Leben erfüllt wurde. Bei aller Notwendig- gab es immer einen speziell für diese Fragen Verant- keit, sich auch konkret auf das eigene gesellschaft- wortlichen. Wenn es auch im Einzelfalle bisweilen liche Umfeld zu beziehen, ist diese Gemeinschaft in geschah, daß die unterschiedlichen staatlichen Insti- den Kirchen eine erfahrbare Realität geblieben. tutionen sich gegenseitig nicht voll informierten — was bei der Staatsicherheit immer wieder der Fall war Zunehmend sah man sich in den Kirchen von —, so handelten diese insgesamt jedoch nach einem gemeinsamen, ja weltweiten Herausforderungen integrierten Konzept: Auf sehr verschiedenen Wegen betroffen und suchte nach gemeinsamen Antwor- und mit äußerst unterschiedlichen, sich bei offenem ten. Ein Beispiel dafür, wie das dann jeweils Handeln sogar ausschließenden Mitteln wurde ver- konkret für den eigenen gesellschaftlichen Raum, sucht, die Grundlagen kirchlichen Handelns auszu- aber in sehr engem Kontakt miteinander versucht höhlen. So konnten auf der einen Seite vertrauens- wurde, sind die Ökumenischen Versammlungen in volle Gespräche geführt werden, bei denen die staat- der DDR und in der Bundesrepublik 1988/89. liche Seite vielleicht sogar kleine Zugeständnisse machte, und gleichzeitig versuchte sie mit geheim- dienstlichen Mitteln, von innen heraus die Eigenstän- 3. Zur Kirchenpolitik der SED, ihre Einflußnahme digkeit der Kirche zu untergraben und sie in die auf die Kirche durch die Staatssicherheit und die gewünschte Richtung zu lenken. Strategien der evangelischen Kirche Während ihr anfangs mit Otto Nuschke auch noch Die Kirchen waren in der DDR die einzigen gesell- eine gewisse konzeptionelle Kompetenz für die Kir- schaftlichen Institutionen, auf welche die SED nicht chenpolitik gelassen wurde, übernahm die Ost-CDU unmittelbar durch Handlungsanweisungen einwir- später verstärkt die Aufgabe, in der Kirche solche ken konnten. Als einzige gesamtdeutsche Organisa- Personen zusammenzuführen, die bereit waren, sich tion während der ersten zwei Jahrzehnte stand sie im Sinne der staatlichen Positionen zu engagieren und außerdem in dem Verdacht, ständiges Einfallstor so bei der Beeinflussung der Kirche von innen her westlicher Einflüsse zu sein. Dazu kommt, daß für die mitzuwirken. Ähnlichen Zwecken sollte auch der herrschende Ideologie eine „religiöse Weltanschau- extra zu diesem Zweck gegründete Pfarrerbund die- ung" Überbleibsel überholter „bürgerlicher" Denk- nen. Über die Erfolge dieser Aktivitäten wird weiter zu vorstellungen war. So widmete die SED von Anfang forschen sein. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Das Staatssekretariat war in unterschiedlichem Maße IM-Tätigkeit, da die betroffenen Personen auf diese auch an der Konzeptionsbildung der Kirchenpolitik Weise zu Wohlverhalten veranlaßt werden sollten. beteiligt. Seine wich tigste Aufgabe waren der Kontakt Vielfach wurde IM-Tätigkeit jedoch auch mit mate- und die Verhandlungen mit den kirchlichen Vertre- riellen und anderen Vergünstigungen vergolten. Das tern. Dabei versuchten sie, die staatlichen Erwar- ging von der Zulassung zu Ausbildungsplätzen für die tungshaltungen nachdrücklich zur Geltung zu brin- Kinder über Reisemöglichkeiten bis hin zu schwer zu gen. erlangenden Gütern wie einer Wohnung oder einem Telefonanschluß. Eine zunehmend wichtige Rolle spielte die Staatssi- cherheit. Sie sammelte nicht nur Informationen, was Immer wieder arbeiteten auch kirchliche Personen bis in die höchsten Leitungsgremien nicht nur der aller Ebenen mit dem MfS zusammen, weil sie sich in evangelischen Kirchen hinein gelang. Sie versuchte der für unabänderlich gehaltenen Realität der DDR auch massiv, auf innerkirchliche Entscheidungen Ein- einrichteten, einer Realität, zu der eben auch die fluß zu nehmen und den Weg der Kirchen in der DDR Staatssicherheit gehörte. Sie glaubten, durch solche mitzubestimmen. Das betraf die ganze Breite kirchli- Kontakte etwas für die Kirche und einzelne Menschen cher Arbeit, von der Ausbildung zu den kirchlichen bewirken zu können. Wieweit sie sich darüber Veröffentlichungen, von der Jugendarbeit zu den Rechenschaft abgaben, daß sie sich so gleichzei tig Synoden. Besonders beim Versuch, auf Personalent- zum Instrument der Staatssicherheit machten, wird scheidungen Einfluß zu gewinnen, wurde großer noch zu klären sein. Aufwand getrieben, der stellenweise erfolgreich war, was im Einzelnen noch genauer Untersuchung Gewiß hat es auch solche gegeben, die aus voller bedarf. Überzeugung diese Zusammenarbeit pflegten. Doch auch die Frage der Motivationen wird erst nach Um die Gemeinschaft der Kirchen nach dem Motto genauerer Untersuchung besser beantwortet werden „divide et impera" auseinanderzubringen, unter- können. schieden die staatlichen Stellen die Mitarbeiter der Kirchen auf allen Ebenen in drei Kategorien: als Ein besonderes Interesse hatte die SED am Einfluß in „positiv" galten solche, die bereit waren, aktiv Posi- den Dienststellen der Kirchenleitungen, hier fielen die tionen des Staates in der Kirche zu unterstützen, für ihnen wichtigen Entscheidungen. Oft wurde langfri- „realistisch" wurden diejenigen gehalten, die sich stig versucht, hier Personen einzuschleusen oder zur pragmatisch auf die Verhältnisse einließen und ver- Zusammenarbeit zu gewinnen. Wie heute schon suchten, in den Konfliktfeldern gewisse Grenzen nicht bekannt ist, ist das in allen Konsistorien und vergleich- zu überschreiten, während solche, die sich an mißlie- baren Dienststellen (auch der katholischen Kirche) bigen gesellschaftspolitischen Aktivitäten beteiligten immer wieder gelungen. Ein besonders bezeichnen- und die grundsätzlichen Differenzen zum Staat immer der Fall von Einschleusung ist der des letzten Konsi- wieder zum Ausdruck brachten, zu den „feindlich- storialpräsidenten in Magdeburg, Dr. Hammer, der negativen" Kräften gezählt wurden. seit seiner Studentenzeit für die Staatsssicherheit arbeitete und zuletzt Offizier im besonderen Einsatz Durch ein unterschiedliches Vorgehen gegenüber (OibE) war. diesen Gruppen (wobei die Zuordnungen hier immer wieder schwanken!) wurde versucht, eine innere Im Verhalten der SED zu den Kirchen ist auf eine Differenzierung zu erreichen, Spannungen innerhalb bezeichnende Differenz hinzuweisen: Wahrte die der Kirche zu erzeugen und wenn möglich, die „feind- SED gegenüber der verfaßten Kirche und ihren Reprä- lich-negativen" Personen zu isolieren. Damit sollte sentanten wenigstens äußerlich meist die Form, deren innerkirchlicher Einfluß minimiert und ausge- tauschte sogar Freundlichkeiten aus und warb um schaltet werden. Bischöfe, so bekamen einzelne Pfarrer und noch mehr einzelne Laien, die sich als Christen bekannten, die Von besonderer Bedeutung für die Beeinflussungs- ganze Härte und Infamie des Systems zu spüren. Die und Zersetzungsstrategie der SED gegenüber den Funktionäre vor Ort konnten verstehen, daß auch eine Kirchen waren die „Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) der Kirche Funktionäre haben mußte. Aber sie wollten Staatsicherheit. Wie auch sonst in allen Bereichen der nicht akzeptieren, daß ein Arbeiter, ein Lehrer, Arzt Gesellschaft fanden sich auch in der Kirche bis in den oder Ingenieur sich zur Kirche hielt. Leitungsbereich hinein Menschen bereit, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Dies gilt auch Wichtiges Ziel der SED war, in der Kirche alle Aktivi- für die oppositionellen Gruppen in der DDR, was in täten zu unterdrücken, zu isolieren und „zu zerset- dem vorliegenden Bericht völlig vernachlässigt wird, zen" , die gesellschaftspolitisch auf Veränderungen obwohl die geheimdienstliche Durchdringung dort gerichtet waren. Man arbeitete mit Einschüchterung noch erheblich höher war als in der Kirche und es ihre und öffentlicher Diskreditierung. Vielfach wurde auch politische Arbeit vermutlich in weit größerem Maße versucht, eine innerkirchliche Disziplinierung und belastet und beeinflußt hat. Ausgrenzung politisch engagierter Pastoren zu errei- chen, nicht selten auch mit Erfolg. Die Motive für solche informelle Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit waren sehr unterschiedlich und Oft setzten staatliche Stellen eher auf die Kräfte in der gemischt. Es gab IM's, die erpreßt und unter Druck Kirche, die — etwa als konservative Lutheraner, doch gesetzt wurden, weil die Staatssicherheit Informatio- auch mit anderer theologischer Ausrichtung — bereit nen besaß, deren Veröffentlichung die Betreffenden waren, dem Staat, auch diesem Staat, zu geben, was kompromittiert hätte. Die Erlangung solcher Informa- des Staates ist und sich, bei aller Abneigung gegen tionen war gleichzei tig auch ein wesentliches Ziel von den Kommunismus, aus der Politik heraushalten woll- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

ten. Wer politische Fragen in der Kirche thematisierte, verhandeln. Diese Verhandlungen erforderten die mußte vielfach mit zwei Widerständen kämpfen — mit Bereitschaft zu einer grundsätzlichen Loyalität. Sie den Pressionen der SED und zum anderen mit den wurde aufgebracht, weil man hoffte und die Erfahrung Einwänden und Behinderungen konservativer Kir- machte, daß man dafür auch etwas erhielt. chenführer wie Gemeindeglieder, die darauf bestan- den, daß die Kirche bei ihrem „Eigentlichen" So wurde ein Burgfriede geschlossen, der später im bleibt. Gespräch vom 6.März 1978 sein symbolhaftes Datum erhielt. Eine Gesamtdarstellung und -bewertung der Kirchen- politik der SED, ihrer S trategien, Erfolge und Mißer- Die Machtfrage galt auch für die Kirchen geklärt, die folge, kann hier nicht geleistet werden. Für eine Frage nach der Legi timation dieses Systems wurde abschließende Beurteilung ist es auch noch zu früh. öffentlich nicht mehr, aber auch intern immer weniger Zwar weiß man inzwischen durch die Akten der SED gestellt. Man nahm es in Kauf, intendierte es gar, daß und der Staatssicherheit viel mehr über die Absichten dies in gewisser Weise zur Stabilisierung des Systems und Methoden der Kirchenpolitik der SED und der führte und hoffte darauf, daß die Herrschenden bei Staatssicherheit, doch bleiben die effektiven Wirkun- mehr Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit die Frei- gen und Einflüsse in die innerkirchlichen Entschei- heit fänden, mehr gesellschaftliche Öffnung zu riskie- dungsprozesse insgesamt — trotz einzelner heute ren. schon bekannter Beispiele von Erfolg und Mißerfolg — heute noch weitgehend offen. Hier herrscht For- Die Kirchen sahen weitgehend nur noch eine Chance, schungsbedarf. Dabei ist es wich tig, die kirchlichen ihren Auftrag zu erfüllen, wenn sie vom Staat nicht als Akten ebenso wie die Darstellung von Zeitzeugen in Feind behandelt werden konnte. Nur so erschien es die Untersuchungen einzubeziehen. Die Zugänglich- möglich, Bau- und Druckgenehmigungen zu erhalten, keit dieser Akten ist deshalb von großer Wichtig- die lebensnotwendige finanzielle Unterstützung aus keit. dem Westen zu transferieren, Bewilligungen für grö- ßere Veranstaltungen, Kirchentage etc. zu erhalten und ebenso, etwas für in politische Bedrängnis - tene Menschen und auch für Ausreisewillige zu tun. Wie reagierten die Kirchen auf diese massive Form Um das zu erreichen, wollte m an sich als vertrauens- der Herrschaftsausübung der SED? würdig erweisen, was man dann auch versuchte.

Für das Verständnis kirchlichen Verhaltens nach dem Bestimmte Resultate schienen dieser Gesprächspoli- Mauerbau ist es wichtig, sich den Horinzont der tik rechtzugeben, wenn dies auch nicht den weiteren Handelnden klarzumachen. Wie man auch im Westen Prozeß der Ausdünnung der Gemeinden aufzuhalten zunehmend glaubte, mit der DDR leben zu müssen vermochte. Die Kirchen konnten erstmals Gemeinde- und versuchte, von einem friedensgefährdenden zentren und Kirchenbauten in Neubauzentren errich- Gegeneinander zu einem friedensdienlichen Mitein- ten, Gottesdienste und (wohl kontrollierte) kirchliche ander zu kommen, so wuchs auch in den Kirchen der Sendungen konnten in den Medien ausgestrahlt wer- DDR die Überzeugung, daß man mit dieser kommu- den und es wurden mehr Druckgenehmigungen nistisch geführten DDR würde leben müssen. Viele erteilt. Der Staat verbesserte dadurch sein Ansehen waren von den Erfahrungen insbesondere des Jahres außerhalb der DDR und versuchte zugleich, die Chri- 1953 geprägt. Eine grundsätzliche Infragestellung des sten für den Aufbau des Sozialismus zu gewinnen. Systems und eine Totalkonfrontation mit ihm erschien Dieser Lockerung war aber von verstärkten Versu- vielen nicht lebbar. Dazu kam die Erfahrung der chen begleitet, geheimdienstliche Kontrolle und Ein- eigenen Schwäche. Immer größere Teile der Bevölke- flußnahme auszuüben. rung in der DDR begannen sich einzurichten und zu arrangieren. Die große Mehrheit der Gemeinden war Trotz zunehmend kritischer Anfragen war man sich den Kirchenleitungen und Pfarrern in ihrem Kampf damals in den Kirchen über den umfassenden, die gegen die Jugendweihe nicht gefolgt. Durch Abwan- Staatssicherheit breit einbeziehenden Ansatz der Kir- derung war die Kirche empfindlich getroffen worden, chenpolitik der SED nicht bewußt. Gleichwohl hat gingen doch oft gerade kirchennahe Personen in den man immer wieder auch mit Versuchen der Einfluß- Westen. Während es in den 50er Jahren auch für den nahme und Einschüchterung gerechnet, die auf dieser einzelnen noch viele wahrnehmbare Beispiele von Ebene lagen. So war z. B. bekannt, daß vor wich tigen Zivilcourage gab, achtete m an nun mehr darauf, sich Synodalentscheiungen viele Synodalen Besuch beka- seine Zukunftschancen nicht zu verbauen und hielt men, um ihnen die staatliche Erwartungshaltung Abstand zu Kirche. Kirchenaustritte nahmen zu. Die deutlich zu machen. Kirche verlor immer stärker ihre breite Basis in der Bevölkerung. Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß in den Kirchen Kontakte zur Staatssicherheit grundsätzlich abge- Auf diesem Hintergrund wurde es immer mehr das lehnt wurden, Gesprächspartner sollten die offiziellen Ziel kirchenleitenden H andelns, die Kirchen nicht dafür zuständigen staatlichen Stellen sein. In einigen auseinandertreiben zu lassen (s.o. — Gründung des Kirchen mußten die Mitarbeiter durch Unterschrift Bundes der Ev. Kirchen), Lebensräume für die erklären, kirchliche Interna nicht an Außenstehende Gemeinden zu erhalten und sich mehr und mehr weiterzugeben. Es wurde empfohlen, bei Kontaktver- Rechte zu erringen als gesellschaftlicher Faktor — was suchen der Staatssicherheit seinen Superintendenten nach der vorherrschenden Meinung nur ging, wenn oder Bischof in Kenntnis zu setzen. Bei Versuchen von die Kirchen bereit waren, mit den Machthabern zu Konspiration riefen die Kirchen zur Öffentlichkeit auf, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 ohne daß sich alle ihre Repräsentanten daran hiel- lichkeit zu mindern. Kirchliche Vertreter neigten — ten. einem verbreiteten Paternalismus folgend — vielfach dazu, angesichts guter Verhandlungserfahrung als Eine Ausnahme sind vereinzelte Fälle, wo Gesprächs- Kirche selbst Anwalt für benachteiligte Personen und kontakte im Auftrag des Vorgesetzten stattfanden, allgemeine Interessen sein zu wollen und für sie zu wenngleich auch bei solcher — insbesondere in der handeln. Von diesen ist das dann oft als Entmündi- katholischen Kirche geübten — Praxis es von den gung verstanden worden und man bestand demge- Kirchen zu prüfen sein wird, ob sich diese tatsächlich genüber auf dem eigenen H andeln. So versuchten die im Rahmen des Auftrag bewegten. Kirchen eine Moderatorenrolle zwischen dem Staat Zwischen den führenden Leuten der evangelischen und den emanzipatorischen Gruppen zu spielen, was Landeskirchen hat es eine Absprache oder gar ver- sie bei beiden immer wieder in Mißkredit brachte. Sie bindliche Regelung zu Kontakten mit der Staatssi- selbst wollten die gesellschaftlichen Verhältnisse cherheit auf Kirchenleitungsebene nicht gegeben. nicht in ihrem systemgebundenen Charakter verän- Erst nachträglich wurde eine unterschiedliche Pra xis dern, sondern unter den bestehenden Verhältnissen in dieser Frage bekannt und entsprechend kritisiert. In die Lage der Menschen verbessern. mehreren Landeskirchen sowie auf der Ebene des Die Staatssicherheit versuchte immer wieder mit gro- Bundes hat es einen ausdrücklichen kirchlichen Auf- ßem Aufwand, diesen Grundkonflikt für die eigenen trag für Gespräche mit der Staatssicherheit nicht Interessen der Machterhaltung zu nutzen. gegeben. Anders als in der sächsischen Landeskirche, wo es dann auch einen entsprechenden Informa tions- Trotz dieser spannungs- und konfliktgeladenen rücklauf zum Vorgesetzten hin gab. Auf der Ebene des Beziehung spielten die Kirchen für die sich bildenden Kirchenbundes blieb vieles im Vagen. Die auf einem politischen Gruppen eine unverzichtbare Rolle. Das grundsätzlichen Mandat zum Gespräch mit staatli- zeigte sich z. B.daran, daß gerade die nichtkirchlichen chen Stellen geführten Kontakte auch zur Staatssi- Gruppen in engstem Kontakt zu den Kirchenleitungen cherheit wurden in den kirchlichen Leitungsgremien standen. Auch für die Kirchen brachten die Gruppen nicht besprochen. Als sie nach 1989 bekannt wurden, viel in Bewegung, so daß sich ihre Handlungsspiel- hat es nachträglich in den Kirchen zu einer intensiven räume ständig erweiterten. kritischen Debatte geführt. In dieser wird den Kir- Im Mehrheitsvotum ist von einer großen Zahl IM,s die chenleitungen vorgeworfen, daß sie in unverantwort- Rede. Um einen Eindruck zu erhalten, seien einige licher Weise hochbrisante Verhandlungsaufgaben Zahlen genannt: Für die sächsische Landeskirche einzelnen Personen überließen, ohne für einen ein- - nannte Bischof Hempel 1992 gut zwanzig von 1050 deutigen Auftrag und für innerkirchliche Rechen- Pfarrern, von denen bekannt ist, daß sie als IM schaftslegung zu sorgen. arbeiteten, unter diesen seien fünf schwerwiegende Doch schon vor dem Ende der SED-Diktatur wurde Fälle. Die Gauck-Behörde teilte 1993 mit, daß von der oben beschriebene, auf allen Ebenen mehrheitlich 5200 von den Kirchen gestellten Anträgen auf Über- praktizierte Kurs der Kirche heftig kritisiert. Das war prüfung 113 kirchliche Mitarbeiter als belastet einge- besonders dann der Fall, wenn der Eindruck von stuft worden seien. Das macht deutlich, daß das heute Geheimdiplomatie entstand, durch welche die sonst vielfach verbreitete Bild einer stasi-unterwanderten angestrebte Öffentlichkeit gerade verhindert wurde. Kirche nicht aufrechtzuhalten ist. Diese Diskussionen und die daraus entstehenden Bei allen Schwächen und Irrtümern, allem Versagen Konflikte verstärkten sich, als sich insbesondere in und mancher Ängstlichkeit kann den Kirchen nicht den 70er und 80er vermehrt politisch alternative abgesprochen werden, daß sie ein wesentliches Ver- Gruppen bildeten, welche den auf Loyalität gegrün- dienst daran haben, daß unabhängiges und freiheitli- deten modus vivendi so nicht akzeptieren wollten und ches Denken und Verhalten durch die Jahrzehnte in wichtigen Politikfeldern (und am Ende gar in Bezug totalitärer Herrschaft hindurch in der DDR eine leben- auf das ganze System) auf Veränderung drängten. dige Wirklichkeit waren, die dann auch dazu beige- Diese Gruppen suchten mit Aktionen die Offentlich- tragen hat, daß die Diktatur endete und der Umbruch keit, sie versuchten, die begrenzte kirchliche Gegen- friedlich verlief. öffentlichkeit in der DDR-Gesellschaft zu nutzen, um Die Kirchen in der DDR haben einen wichtigen sich selbst als Subjekt politischer Verantwortung ins Beitrag dazu geleistet, daß wenigstens in ihren Räu- Spiel zu bringen. Vielfach setzten sie deshalb auf den men gesellschaftspolitische Themen frei und dialogfä- gezielten Konflikt mit den staatlichen Stellen. Viele hig diskutiert werden konnten. Vieles spricht dafür, Gemeinden waren in mehr oder weniger begrenzter daß sie dadurch auch für die politische Kultur im jetzt Weise bereit, Räume und Infrastruktur (Papier, Tele- geeinten Deutschland Wichtiges beigetragen ha- fon, Vervielfältigung) für die Aktivitäten solcher ben. " Gruppen zur Verfügung zu stellen, doch gab es auch immer wieder Konflikte.

Auch wenn diese Haltung bis in die kirchliche Lei- Stellungnahme der Mitglieder der Fraktionen der tungsebene hinein umstritten war, setzten viele füh- CDU/CSU und F.D.P. zu dem vorstehenden rende Repräsentanten der Kirchen (wie die meisten Sondervotum: Politiker aller Parteien in der Bundesrepublik) dage- gen auf langsame Veränderung und Öffnung durch „Das überaus ausführliche Sondervotum, das vieles Gespräche, welche Einsicht bei den Herrschenden bereits im Mehrheitsbericht Gesagte wiederholt, wird schaffen sollten. Sie versuchten, Konflikte nach Mög von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode zurückgewiesen. Neben zahlreichen Fehlern, sachli- Die SPD ist sich bei ihrem Entlastungsangriff nicht zu chen Unschärfen und politisch motivierten Tatsachen- schade, den oppositionellen Gruppen in der DDR zu verdrehungen enthält der vorgelegte Text viele Aus- unterstellen, ihre geheimdienstliche Durchdringung sagen, die zeigen, wozu dieses Sondervotum dienen sei „noch erheblich höher als in der Kirche" gewe- soll: Es geht darum, die Rolle des MfS bei der sen. konspirativen Durchdringung der Kirchen herunter- zuspielen. Der Zweck dieser Übung ist offensichtlich! Man vergleiche dazu die Ausführungen im Mehr- Damit muß zwangsläufig der Eindruck entstehen, daß heitsbericht über Rolle und Funktion leitender Kir- die Aufarbeitung der Vergangenheit eines führenden chenjuristen in der ständigen Zusammenarbeit mit SPD-Mitglieds aus dem Bereich der DDR-Kirchen mit dem MfS. diesem Sondervotum verhindert werden soll." Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

VI. Themenfeld: Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Handelns und oppositionellen Verhaltens, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur

Inhalt a) Beratungsverlauf a) Beratungsverlauf Im Themenfeld VI „Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution b) Bericht im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen 1. Zur Begriffsbestimmung oppositionellen und widerständigen Verhaltens in der SBZ/DDR der Diktatur" waren Opposi tion und Widerstand in der SBZ/DDR von 1945 bis 1989, der Sturz des 2. Oppositionelles und widerständiges Verhalten SED-Regimes durch die friedliche Revolution im in der SBZ/DDR der Ulbricht-Ära Herbst 1989 sowie die sich daraus entwickelnde Wiedervereinigung Deutschlands zu behandeln. Die 2.1 Die Situation der Stunde Null Enquete-Kommission veranstaltete in diesem The- 2.2 Sozialdemokraten im Widerstand menfeld zwei Öffentliche Anhörungen und eine nicht- öffentliche Anhörungssitzung; sie vergab außerdem 2.3 Opposition und Widerstand von CDUD und 23 Expertisen (Kleßmann II, Grunenberg, Bickhardt, LDP Jander, Kukutz, Jesse, Neuke, Kowalczuk, Hertwig, 2.4 Oppositionelles und widerständiges Verhalten Templin, Ebert, We rner, Wielgohs, Eckert II, Dietrich, im akademischen Bereich Thaysen, Dalos, Mehlhorn, Otto, Klein, Buchstab, Suckut, Hertle — siehe Anhang). Für die Arbeit der 2.5 Das Ringen um freie Wahlen Enquete-Kommission wurden auch die von der 2.6 Die „Abstimmung mit den Füßen" Gruppe Bündnis 90/Die Grünen in Auftrag gegebe- nen Gutachten von Knabe und Weißhuhn herangezo- 2.7 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 gen. 2.8 Machtkampf und Opposi tion in der Führung der In der Öffentlichen Anhörung in Jena am 15. und SED 16. März 1994 zum Thema „Motivationen, Möglich- 2.9 Die revisionis tische Opposition keiten und Grenzen widerständigen und oppositio- nellen Verhaltens" [-> Protokolle Nr. 67, 68] berichte- 2.10 Fluchthilfe als Widerstand ten zunächst Karl Wilhelm Fricke über „Widerstand 2.11 Solidarität mit dem „Prager Frühling" und Opposition von 1945 bis Ende der fünfziger Jahre" und Hubertus Knabe über „Widerstand und 3. Oppositionelles und widerständiges Verhalten Opposition in den sechziger und siebziger Jahren". in der DDR der Honecker-Ära Speziell „Widerstand und Opposi tion in Jena" behan- 3.1 Die „Abtimmung mit dem Ausreiseantrag" delte Thomas Ammer. Über „Widerständiges Verhal- ten des einzelnen", insbesondere den Aspekt von 3.2 Der Exodus kritischer Schriftsteller und Künst- Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem MfS, ler sprach Andreas Schmidt. „Widerstand und Opposi- 3.3 Innerkommunistische Dissidenz und Opposi- tion in den achtziger Jahren: Von der Formierung der tion Opposition bis zum Sturz der SED-Diktatur" war Gegenstand des Vortrages von Mar tin Gutzeit. Zu 3.4 Voraussetzungen für die Entwicklung wider- allen Themen wurden Zeitzeugen (insgesamt 32) ständigen und oppositionellen Verhaltens in den gehört, zum letzten Thema unter Beteiligung von achtziger Jahren Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den neuen Bundesländern in zwei Podiumsgesprächen. 3.5 Wehrdienstverweigerung, Friedensarbeit im Von den am Schluß des Berichts aufgeführten Exper- Raum der Kirche, Bildung unabhängiger Frie- tisen behandeln fast alle ganz oder teilweise die dens- und Umweltgruppen Thematik dieser Anhörung. 3.6 Ostmitteleuropäische Einflüsse, Vernetzung der Eine weitere Öffentliche Anhörung in Berlin-Lichten- oppositionellen Gruppen berg am 11. April 1994 galt dem Thema „Die Flucht- 3.7 Vorboten des Untergangs des SED-Regimes und Ausreisebewegung in verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte" [—> Protokoll Nr. 69]. In seinen 4. Die friedliche Revolution 1989/90 Begrüßungsworten informierte Hans Jörg Geiger, 5. Oppositionelles und widerständiges Verhalten Direktor beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen im Alltag des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

über Methoden des MfS zur Bekämpfung von Flucht Schon ihre Definition ist problematisch, wie nicht und Ausreise aus der DDR. Im ersten Teil der Anhö- zuletzt die Anhörung der Enquete-Kommission über rung ging es um die wissenschaftliche Bewertung von „Motivationen, Möglichkeiten und Grenzen wider- Flucht und Ausreise. Rolf Hilmer untersuchte die ständigen und oppositionellen Verhaltens" in Jena „Motive und Hintergründe von Flucht und Ausreise bestätigt hat [-> Protokoll Nr. 67]. Aus der Geschichte aus der DDR". Volker Ronge behandelte „Situa tion des Widerstands unter der NS-Diktatur bietet sich der und Integration der Flüchtlinge und Ausgereisten aus von Martin Broszat geprägte Begriff der Resistenz an, der DDR in der Bundesrepublik Deutschland" . Im der allgemein die wirksame Abwehr, Begrenzung und zweiten Teil der Anhörung wurde die Thematik aus Eindämmung der bestehenden Herrschaft oder ihres der Sicht von in den achtziger Jahren in der DDR Machtanspruchs umschreibt. Er läßt sich auch auf die lebenden Referenten erörtert. Werner Hilse, damals in Herrschaft der SED anwenden. Wie Broszat gebrau- der DDR als Pfarrer tätig, berichtete über „Flucht- und chen auch andere Historiker die Beg riffe „Opposi- Ausreiseproblematik als innenpolitischer Konfliktstoff tion" und „Widerstand" synonym für politische Geg- in der DDR und innerhalb der DDR-Opposition". nerschaft [—>Expertisen EckertII, Kowalczuk]. Chri- Günter Jeschonnek, der im Zusammenhang mit sei- stoph Kleßmann unterscheidet ferner „Dissidenz", die nem eigenen Ausreiseantrag eine Selbsthilfegruppe er als bewußte, wenn auch par tielle Verweigerung von Ausreiseantragstellern gebildet hatte, schilderte und Abweichung von vorgegebenen Normen versteht „Die Selbstorganisation von Ausreiseantragstellern in [—> Expertise Kleßmann II], wozu allerdings anzumer- der DDR". Zu beiden Themenbereichen wurden ins- ken wäre, daß die Dissidenten in den einstmals gesamt zehn Zeitzeugen gehört. Zur Flucht- und kommunistischen Staaten Ostmittel- und Südosteuro- Ausreiseproblematik vergab die Enquete-Kommis- pas ihre Verweigerungshaltung keineswegs nur par- sion eine Expertise im Rahmen des Themenfel- tiell verstanden haben. Als für die Begriffsbildung des IV (Karl F. Schumann: „Flucht und Ausreise aus hilfreich erscheint ferner die von Hans-Adolf Jacob- der DDR insbesondere im Jahrzehnt ihres Unter- sen getroffene Unterscheidung zwischen „passivem gangs"). Widerstand" — gemeint sind Selbstbehauptung von Gruppen und Institutionen, weltanschaulicher Dis- In einer nichtöffentlichen Anhörungssitzung am 29. sens, innere Emigration, Verweigerung — und April 1994 in Bonn befaßte sich die Enquete-Kommis- bewußter, regimeschädigender humanitärer Hilfe sion mit dem Thema „Fortwirkende Maßnahmen der sowie „aktivem Widerstand", der als unbedingte Regierungen Modrow und de Maizière". Über die Zeit Gegnerschaft das System auf alle erdenkliche Weise der Regierung Modrow sprachen Uwe Thaysen und offensiv, konspirativ oder indirekt bekämpft, um qua- Peter Siebenmorgen; die Phase der Regierung de - litative Änderungen und schließlich den Sturz der Maizière bis zur Wiedervereinigung behandelten Unrechtsherrschaft zu erwirken. Hartmut Jäckel und Peter Jochen Winters. In seiner historischen Vielfalt reichte oppositionelles und widerständiges Verhalten in der SBZ/DDR von der Verweigerung bis zum individuellen Protest, vom b) Bericht bewußten, demons trativen Aufbegehren bis zu sozial- demokratischem, christlich-demokratischem und li- beralem Widerstand, der sich in Gruppen organisierte 1. Zur Begriffsbestimmung oppositionellen und [-> Weber, Fischer, Protokoll Nr. 18], von kommunisti- widerständigen Verhaltens in der SBZ/DDR scher Dissidenz bis zu innerparteilicher Opposi tion, von politischen Streiks bis zur spontanen Massenak- Die Thematisierung von Opposition und Widerstand tion und zu Unruhen, von der Bildung offen agieren- in der SBZ/DDR hat von der Erkenntnis auszugehen, der Gruppen und Bürgerinitiativen bis zum Wider- daß sie als politische Verhaltensweisen in allen Pha- stand, der sich konspirativ gesammelt und aktiv sen der Entwicklung existiert haben, solange die gehandelt hat [—>Eppelmann, Protokoll Nr. 67, Exper- Diktatur der SED bestand. Ihre Motivationen und tisen Ecke rt II, Kowalczuk]. Letztlich sind Opposition Erscheinungsformen, ihr Ausmaß und ihre Intensität, und Widerstand in der SBZ/DDR im wesentlichen aus ihre Möglichkeiten und Grenzen haben allerdings ihrer Wechselbeziehung zur Politik der SED und aus erheblichen Wandlungen unterlegen. Oppositionelles ihrem deutschlandpolitischen Umfeld zu verstehen und widerständiges Verhalten sind daher im jeweili- [-> Expertise Jesse]. Statt einer Geschichts- oder gen Zeitkontext zur politischen, wi rtschaftlichen, Widerstandstheorie sollte daher „eine möglichst far- sozialen und kulturellen Entwicklung in der SBZ/DDR bige, inhaltlich und historisch differenzierte Gesamt- zu begreifen [—> Expertisen Buchstab, Ecke rt II, Kleß- geschichte des Widerstands" erarbeitet werden, wie mann II, Kowalczuk]. Ihre Darstellung wird zudem Peter Steinbach mit Blick auf den Widerstand unter erweisen, daß mit den Beg riffen „Opposition" und dem NS-Regime postuliert hat, wie aber auch im „Widerstand" die Komplexität und Vielfalt regime Hinblick auf die Geschichte von Opposi tion und kritischer, widerständiger und regimefeindlicher Ver- Widerstand unter der Diktatur der SED zu fordern ist. haltensweisen nicht hinreichend zu erfassen sind. Ihre Erarbeitung bleibt den Historikern als Aufgabe Gesellschaftliche Verweigerung, Dissidenz, Opposi- vorbehalten, die mit dem Zusammenbruch der SED- tion, Resistenz, Auflehnung sowie passiver und akti- Diktatur die historisch einmalige Chance erhielten, ver Widerstand — alle diese Protesthaltungen Zugriff auf die in Partei- und Staatsarchiven der umschreiben von den politisch-ideologischen Nor- ehemaligen DDR verwahrten Akten und Zeitdoku- men der SED-Diktatur abweichende Verhaltenswei- mente zu haben. Aus der Erfahrung der Widerstands- sen, die historisch konkret zu bestimmen sind. forschung über den Nationalsozialismus ist be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 kannt, daß in Diktaturen schon nonkonformes Ver- 2. Oppositionelles und widerständiges Verhalten halten als regimefeindlich angesehen wurde. Dem in der SBZ/DDR der Ulbricht-Ära haben quellenkritische Forschungen Rechnung zu tragen. 2.1 Die Situation der Stunde Null Die Herrschenden im Staat der SED haben das gegen sie gerichtete oppositionelle und widerständige Ver- Für die historische Situa tion unmittelbar nach dem halten als solches immer zu leugnen und aus dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und der deutschen öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen versucht. Ent- Kapitulation im Mai 1945 war charakteristisch, daß in sprechend ihrem politisch-ideologischen Absolut- dieser Stunde Null der Nachkriegsgeschichte auch im heitsanspruch haben sie Opposition und Widerstand sowjetischen Besatzungsgebiet Deutschlands Opposi- als prinzipiell systemwidrig charakterisiert. „In sozia- tion und Widerstand ohne politische oder gesellschaft- tion gegen listischen Staaten existiert für eine Opposi liche Basis gewesen ist. Zwar empfand nur eine die herrschenden gesellschaftlichen und staatlichen Minderheit der Bevölkerung die Zerschlagung des Verhältnisse keine objektive politische und soziale Hitler-Regimes unmittelbar als Befreiung, aber Oppo- Grundlage", hieß es in dem „Kleinen Politischen sition und Widerstand gegen die Politik der sowjeti- Wörterbuch", einem offiziösen Nachschlagewerk der schen Besatzungsmacht traten zunächst nicht in SED [-> Expertisen Eckert II, Jesse, Kowalczuk]. Erscheinung. Die „Werwolf"-Organisa tion blieb eine es oppositionelle und wider- Gleichzeitig wurde a ll propagandistische Fiktion. Das Sinnen und Trachten ständige Verhalten tabuisiert und kriminalisiert, seine der Menschen war im Sommer 1945 vom tagtäglichen Kausalität ignoriert. Statt innerer Konflikte wurden Kampf um die bloße Existenz bestimmt. Zu berück- äußere Einwirkungen als Ursache von Opposition und sichtigen ist ferner, daß auch zu dieser Zeit schon viele Widerstand unterstellt: „politisch-ideologische Diver- Menschen in der SBZ ihre Alternative in der Flucht sion" durch westliche Massenmedien und „geheim- nach Westen sahen. dienstlich gesteuerte Untergrundtätigkeit". Als kraft Besatzungsgewalt in der SBZ die ersten Selbstverständlich kann und soll die Einwirkung von Maßnahmen zur Entnazifizierung von Verwaltung außen auf die innere Entwicklung der SBZ/DDR — und Gesellschaft eingeleitet wurden, fehlte oppositio- zumal im psychologischen Kampf des Kalten Krieges nellem oder widerständigem Verhalten jede Voraus- — nicht geleugnet werden. Wie konnte es anders sein setzung. Mit den von der Entnazifizierung Be troffenen in einem geteilten Land? Speziell von West-Berlin aus wollte sich auch kaum jemand solidarisieren — zu tief haben die Ostbüros der demokratischen Parteien, der war der Schock über das Desaster, das die Na tional- Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, die sozialisten über das deutsche Volk heraufbeschworen Kampfgruppe gegen Unmensch lichkeit und andere hatten [–> Fricke, Protokoll Nr. 67]. Organisationen oppositionelles und widerständiges Verhalten in der SBZ/DDR politisch und moralisch Selbst als im Sommer 1945 in der SBZ massenweise sowie materiell, sofern möglich, unterstützt. Es wäre Verhaftungen einsetzten, als sich die frühzeitig errich- eine Verkennung der Realität, wollte m an ihnen die teten Speziallager des NKWD/MWD nicht nur mit Wirksamkeit zuschreiben, die ihnen die SED in ihrer internierten Aktivisten und Mitläufern der NSDAP, Agitation und Propaganda attestiert hat [—>Finn, sondern auch mit Beamten, Lehrern, Kaufleuten und Graul, Protokoll Nr. 67]. Bankiers, mit Juristen, Industriellen, Großbauern und Gutsbesitzern füllten, nicht selten unabhängig von Unter den gegebenen Voraussetzungen war es von ihrer politischen Einstellung, regte sich kein Wider- systemimmanenter Zwangsläufigkeit, wenn Anders- stand [—Expertise Finn], obwohl frühzeitig erkennbar denkende — Oppositionelle, Dissidenten, Regime- war, daß mit der Internierung dieser Menschen gegner und Widerständler — in der SBZ/DDR von den zugleich bürgerliche Sozialstrukturen zerstört werden Herrschenden mit dem Odium des Unrechts überzo- sollten. Die lähmende Furcht vor der sowje tischen gen, vielfach diskriminiert oder als „Agenten" Geheimpolizei, die alsbald die Bevölkerung in der gebrandmarkt und durch Strafgerichte verfolgt wur- SBZ mit ihren Überwachungs- und Verfolgungsmaß- den (s.o.). Die jahrzehntelang immer wieder laut nahmen zu überziehen begann, reicht gleichwohl als gewordene Forderung nach einer Legalisierung der Erklärung dafür nicht aus. Es war auch die Hoffnung Opposition auch im „real existierenden Sozialismus" auf eine neue, bessere Ordnung in Staat und Gesell- wurde bis zur Endzeit des SED-Regimes als „konter- schaft, die damals die Menschen nach der Lethargie revolutionär" verunglimpft [–> Exper tise Eckert II]. des Zusammenbruchs beseelte.

Dessenungeachtet ist die Geschichte der Diktatur der Zu wandeln begann sich die Bewußtseinslage, als auf SED zugleich eine Geschichte von Opposition und Befehl der sowje tischen Besatzungsmacht oder Widerstand. Bei aller Vielfalt ihrer Erscheinungsfor- zumindest unter ihrem Schutz im Spätsommer und men und Zielsetzungen war sie durch ein gleichblei- Herbst 1945 die ersten radikalen Eingriffe in die bendes Merkmal gekennzeichnet: Sowohl in der Ära Wirtschafts- und Sozialstruktur der SBZ vorgenom- Ulbricht als auch in der Ära Honecker wurden oppo- men wurden. Als offenkundig wurde, daß in der SBZ sitionelle und widerständige Verhaltensweisen mit unter dem Vorwand einer Bestrafung von Schuldigen Sanktionen belegt; ihre Konsequenzen konnten des NS-Regimes das politische Terrain für eine „Re- gesellschaftliche Ächtung und Diskriminierung, Be- volution von oben" aufbereitet werden sollte, regte rufsverbote, Ausbürgerung und strafrechtliche Ver- sich erstes oppositionelles und widerständiges Ver- folgung sein. halten H Bericht Fischer/Rißmann II]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Im Herbst 1945 und im Frühjahr 1946 kam es in der Schon unmittelbar nach der Einschmelzung der SPD SBZ zu ersten Protesten, zu erster Opposi tion, als die in die KPD kam es zu ersten Verhaftungen unter Landenteignung im Zuge der „demokratischen Sozialdemokraten; ihre Verfolgung in der SBZ/DDR Bodenreform" entschädigungslos durchgesetzt erstreckte sich danach bis in die fünfziger Jahre wurde. Nachdem bereits Ende November 1945 der [-> Expertise Mü ller III; Weber, Protokoll Nr. 18; Gründungsvorsitzende der Liberal-Demokra tischen Fricke, Protokoll Nr. 67]. Schon 1947/48 sahen sich Partei, Waldemar Koch, wegen seines Widerstandes frühere Sozialdemokraten in der SED wegen ihrer gegen die Bodenreform auf Druck der SMAD durch Verbindungen zum Ostbüro der SPD in West-Berlin Wilhelm Külz ersetzt worden war, wurden nur wenige und Hannover, später Bonn, als „Schumacher-Agen- Wochen später Andreas Hermes und Walther Schrei- ten" diffamiert und verfolgt. Vor allem in Sachsen, ber, die Vorsitzenden der Christlich-Demokrakti- Sachsen-Anhalt und Thüringen wurden 1948/49 zahl- schen Union in der SBZ, von der Besatzungsmacht aus reiche illegale SPD-Gruppen zerschlagen, ihre Mit- ihren Wahlämtern entfernt, nachdem sie öffentlich glieder vor sowje tischen Militärtribunalen angeklagt gegen die Verfahrensweise bei der Bodenreform und verurteilt. Nicht selten trafen die Strafen, die sich sowie den Zwang zur Blockpolitik Front gemacht in der Regel auf 25 Jahre Zwangsarbeit beliefen, hatten H Expertisen Richter II, Buchstab]. bereits unter dem NS-Regime verfolgte Sozialdemo- kraten. Auch die Enteignungen in der Indust rie provozierten frühzeitig punktuell Protest und oppositionelles Ver- Sozialdemokratischer und bürgerlicher Widerstand halten. In einzelnen Betrieben wehrte sich die Beleg- sollten auch geahndet werden, als Ende April 1950 der schaft gegen eine Enteignung. Als am 30. Juni 1946 erste große politische Strafprozeß vor dem Obersten ein „Volksentscheid" zur Enteignungsfrage im Lande Gericht der DDR durchgeführt wurde. Ein im Des- Sachsen durchgeführt wurde, blieb er auf dieses L and sauer Landestheater „inszenierter" politischer Schau- beschränkt. In den übrigen Ländern der Sowjetischen prozeß richtete sich gegen Prof. Wi lli Brundert (SPD), Besatzungszone verzichtete die SED darauf, um einer ehemals Ministerialdirektor im Ministerium für Wirt- offenen Auseinandersetzung mit den beiden bürgerli- schaft und Verkehr von Sachsen-Anhalt, und Dr. Leo chen Parteien CDUD und LDP aus dem Wege zu Herwegen (CDUD), ehemals Minister für Arbeit und gehen H Fricke, Protokoll Nr. 67]. Sozialfürsorge in Sachsen-Anhalt, sowie gegen ehe- malige Direktoren der Deutschen Continental-Gas- Gesellschaft (DCGG). Ihnen wurde Sabotage an der Enteignung der DCGG vorgeworfen. Die Höchststra- 2.2 Sozialdemokraten im Widerstand fen lauteten auf fünfzehn Jahre Zuchthaus für die beiden Hauptangeklagten. Wie aus heute zugängli- Die unerwartet frühzeitige Zulassung politischer Par- chen Archivalien hervorgeht, waren der Prozeß und teien in der SBZ schien die Erwartung zu rechtferti- das Urteil schon Ende Januar 1950 in allen Einzelhei- gen, daß auch unter sowje tischer Besatzungsgewalt ten vom Politbüro der SED geplant und präjudiziert eine parlamentarisch-demokratische Ordnung errich- [-> Weber, Protokoll Nr. 18]. tet werden würde. Selbst die Bildung des „Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien" als Vor- Etwa 5 000 frühere Mitglieder der SPD sind in der aussetzung der Parteigründungen wurde zunächst als SBZ/DDR bis 1956 durch sowjetische Zwangsarbeits- ein Gebot der Stunde widerspruchslos hingenommen. lager oder durch mitteldeutsche Gefängnisse gegan- Kaum ein deutscher demokratischer Politiker konnte gen, weil sie im antistalinistischen Widerstand gewe- im Sommer 1945 voraussehen, daß die Einbindung sen waren [—>Expertise Otto]. aller Parteien in eine sog. antifaschistische Einheits- front letztlich auf die Unterbindung jeder parlamenta- rischen Opposition hinauslaufen würde. 2.3 Opposition und Widerstand von CDUD und LDP Die politische Desillusionierung setzte ein, als die Führung der KPD im Verein mit der sowje tischen Mit der Schaffung der SED und ihrer eindeutigen Besatzungsmacht im Herbst 1945 dazu überging, den Bevormundung durch die Kommunisten in der „ge- Zusammenschluß von KPD und SPD zur Sozialisti- einten" Partei war die SPD in der SBZ in Wahlen als schen Einheitspartei Deutschlands einzuleiten. Im die am meisten gefürchtete Konkurrenz der KPD Gegensatz zu jenen Sozialdemokraten, die Ja zur ausgeschaltet. CDUD und LDP glaubten die Kommu- Fusion gesagt haben, sei es aus Überzeugung, sei es nisten im sog. antifaschistisch-demokratischen Block aus Opportunismus, gab es auch viele, die sich ver- unter hinreichender Kontrolle zu haben. Als die bei- weigert haben. Sie lehnten unter dem Einfluß von Kurt den bürgerlichen Parteien jedoch bei den ersten Schumacher die Vereinigung mit den Kommunisten Nachkriegswahlen in der SBZ — den Gemeindewah- ab und waren nicht gewillt, politische „Blutspender" len im September und den Landtagswahlen im Okto- für die KPD zu sein [-> Expertise Müller III]. Die ber 1946 — unerwartet gute Ergebnisse erzielen Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im konnten, waren die deutschen Kommunisten ebenso April 1946 konnten die oppositionellen Sozialdemo- konsterniert wie die sowje tische Besatzungsmacht. kraten indes nicht verhindern. Sozialdemokratischer Um ihre Opposition in den neugebildeten Landtagen Widerstand war vor und nach der Fusion aktuell; er zu unterlaufen, bestand die SED auf einer Beteiligung wurde jedoch durch die Besatzungsmacht im Verein aller Parteien an den zu bildenden Landesregierun- mit den deutschen Kommunisten durch politische gen. So blieb der Schein einer antifaschistischen Intrigen und bewußte Täuschung, durch brutale Nöti- Einheitsfront gewahrt, obwohl kommunistische Kader gung und geheimpolizeilichen Terror dezimiert. die politischen Schlüsselstellungen innehatten, und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 parlamentarische Opposi tion wurde in den Landtagen betreiben wolle. Nach seiner Verhaftung Ende 1952 nur selten manifest. Sie blieb ohne Einfluß auf die und der Übernahme der LDP-Führung durch H ans „Revolution von oben", die der SBZ aufgezwungen Loch, der sich der SED uneingeschränkt unterordnete, wurde [-> Prusko, Wolfram, Fricke, Protokoll häuften sich Proteste und Austritte unter den Partei- Nr. 67]. mitgliedern. Im Hinblick auf die Parteiführung war damals die Gleichschaltung der LDP erreicht. Dies Wie wenig auch sonst Opposi tion unter der sich galt bis weit in die fünfziger Jahre jedoch nicht für die etablierenden Diktatur der SED tole riert worden ist, Gesamtpartei und die Masse der einfachen Mitglieder erwies sich erneut, als Ende 1947 die Vorsitzenden der [-> Expertise Suckut]. CDUD, Jakob Kaiser und E rnst Lemmer, rigoros aus ihren Ämtern entfernt wurden, nachdem sie sich der Um das potentielle Wählerreservoir von CDUD und kommunistisch manipulierten „Volkskongreßbewe- LDP zu zernieren und ihren parlamentarischen Ein- gung für Einheit und gerechten Frieden" in Kenntnis fluß weiter zurückzudrängen, manipulierte die Polit- ihrer fadenscheinigen Absichten verweigert hatten bürokratie der SED im Verein mit der SMAD im [-3 Expertise Buchstab]. Ihr politisches Schicksal Frühjahr 1948 die Gründung der National-Demokra- signalisierte, daß alles oppositionelle und widerstän- tischen Partei Deutschlands (NDPD) und der Demo- dige Verhalten an der Basis von CDUD und LDP ihre kratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD), zweier Gleichschaltung in den Folgejahren nicht zu verhin- Satelliten-Parteien, deren Funktion andernorts näher dern vermochte [-> Expertisen Buchstab, Richter II, beschrieben ist (s.o.). Infolge ihrer Durchdringung mit Papke]. kommunistischen Kadern war oppositionelles oder widerständiges Verhalten von NDPD und DBD nicht Aus heute zugänglichen Archivalien ist dokumentiert, zu erwarten, obwohl die Verhältnisse an der Basis daß allein in der CDUD der Nachkriegszeit und der beider Parteien da und dort anders zu beurteilen fünfziger Jahre rund 1 500 Funktionsträger und Mit- waren. glieder verhaftet und verurteilt wurden. Selbst ein politischer Mord kann nicht ausgeschlossen werden, In der SED veranlaßten die 1948 gebildete Zentrale wie die nie aufgeklärten Umstände vermuten lassen, Parteikontrollkommission (ZPKK) und die ihr unter- unter denen der brandenburgische CDUD-Vorsit- stellten Parteikontrollkommissionen in den Ländern zende Wilhelm Wolf 1948 zu Tode kam. 1953 fanden bzw. Bezirken und Kreisen von 1948 bis etwa 1954 Schauprozesse gegen oppositionelle Mitglieder der Hunderttausende von Parteiverfahren, Parteiaus- CDUD in Erfurt und Gera statt. Im Januar 1953 schlüssen und anderen Repressalien gegen angebli- wurden DDR-Außenminister Georg Dertinger, Gene- che „Parteifeinde", „feindliche Agenten" usw. Von ralsekretär der CDUD von 1946 bis 1949, und mehrere Januar bis November 1951 wurden über 150 000 Mitarbeiter der Parteiführung wegen „staatsfeindli- SED-Mitglieder, vor allem ehemalige Sozialdemokra- cher Verschwörung" verhaftet, die Parteizentrale von ten, aus der Partei ausgeschlossen oder gestrichen; MfS-Angehörigen durchsucht. Weitere Verhaftungen von 1952 bis 1954 mußten erneut über 75 000 Mitglie- sowie eine Fluchtwelle von Funktionären der CDUD der und Kandidaten die SED verlassen. Bei den folgten H Expertise Buchstab]. Säuberungskampagnen der damaligen Zeit in der In der LDP vollzog sich die politische Gleichschaltung SED ging es freilich vor allem um die Prävention ähnlich konfliktreich, zumal die Partei nach dem Tode etwaiger, aber noch keinesfalls zutage ge tretener ihres Vorsitzenden Wilhelm Külz im Ap ril 1948 in Oppositionstendenzen und um die Disziplinierung der offene Opposition zur SED gegangen war: Nach der Gesamtmitgliedschaft durch Abschreckung. Vielfach gemeinsam mit der CDUD im Februar erfolgten Auf- waren SED-Mitglieder von Repressalien be troffen, die kündigung der Zusammenarbeit im zentralen „Block" sich selbst in keiner Weise als oppositionell verstan- versuchte die LPD unter der Führung ihres geschäfts- den. Die Säuberungen Ende der vierziger/Anfang der führenden Vorsitzenden Arthur Lieutenant mit allen fünfziger Jahre richteten sich gegen angebliche ihr zu Gebote stehenden Mitteln, die Durchsetzung Anhänger des „Sozialdemokratismus" oder des des von den Kommunisten reklamierten Führungs- „Trotzkismus", gegen Parteimitglieder, die in westli- und Totalitätsanspruchs zu verhindern. Erst die Dro- cher bzw. jugoslawischer Kriegsgefangenschaft oder hung der sowjetischen Besatzungsmacht mit der Auf- bis Kriegsende in westlichen Ländern im Exil gewesen lösung der Partei und eine Verhaftungswelle brachen waren, sowie gegen Mitglieder, die in den zwanziger den Widerstand [-p Expertisen Papke, Richter II]. und dreißiger Jahren linken Splittergruppen angehört Exemplarisch machte dies das Schicksal des Vorsit- hatten [-> Expertisen Otto, Klein]. Die herrschende zenden der LDP-Fraktion im Thüringischen Landtag, Politbürokratie vermutete in ihnen ein kritisches Hermann Becker, deutlich, der 1948 als lästiger Geg- Potential, das zum Ke rn einer innerparteilichen Oppo- ner ungeachtet seiner parlamentarischen Immunität sition hätte werden können. verhaftet wurde und rund acht Jahre sowje tischen Gewahrsams durchlitt. Ab Mitte 1948 verstärkte die LPD zunächst ihre Kritik 2.4 Oppositionelles und widerständiges Verhalten am Führungsanspruch der SED, erhob in der Vor- im akademischen Bereich phase der DDR-Gründung mit Nachdruck personelle Forderungen gegenüber SED wie SMAD und verzö- Im engen Zusammenhang mit der bürgerlichen Oppo- gerte ihre Zustimmung zur Einheitslistenwahl. Noch sition der ersten Nachkriegsjahre in der SBZ ist deren im Dezember 1949 definie rte Karl Hamann, damals Einfluß auf die Studentenschaft zu sehen. Vor allem an Mitvorsitzender der Liberaldemokraten, die LDP als den Universitäten in Ost-Berlin, Halle, Jena, Leipzig Partei, die in der Volkskammer „loyale Opposi tion" und Rostock traten Hochschulgruppen von CDUD und Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

LDP aktiv für parlamentarische Demokratie, für Frei- rischen Volkskammer entfielen nur je 45 auf die heit in Forschung und Lehre auf [—p Marx, Ammer, Fraktionen der beiden bürgerlichen Blockparteien. Protokoll Nr. 67]. Sie fanden in der Studentenschaft Opposition in der Volkskammer war damit von politisch erheblichen Rückhalt, weil sie zu den Hoch- Anfang an zur Aussichtslosigkeit verurteilt. Es hat nur schulgruppen der FDJ eine demokratische Alte rna- einmal unter der Diktatur der SED Nein-Stimmen und tive darstellten, z. B. bei den Wahlen zu den Studen- Stimmenthaltungen in der Volkskammer gegeben: tenräten, die bis spätestens zum Sommersemester am 9. März 1972 bei der Verabschiedung eines 1949 in der SBZ weitgehend unabhängig waren. Gesetzes zur legalen Unterbrechung der Schwanger- - schaft. Viele Namen aufrechter Studentinnen und Studenten sind für immer mit der Geschichte von Opposi tion und Schon im ersten Jahr der DDR wurde deutlich, wie Widerstand unter der SED-Diktatur verbunden. In definitiv die SED entschlossen war, der Bevölkerung chronologischer Reihenfolge sind zu nennen Ewald ihre Diktatur aufzuzwingen. Die Bildung eines Mi- Ernst, Manfred Klein und Georg Wrazidlo, CDUD- nisteriums für Staatssicherheit durch Gesetz vom Hochschulgruppe an der Humboldt-Universität in 8. Februar 1950 und der erste politische Schauprozeß Ost-Berlin, die 1947 zusammen mit etwa zwanzig vor dem Obersten Gericht der DDR, der am 29. April anderen Studenten von der sowje tischen Geheimpo- 1950 mit drakonischen Zuchthausstrafen endete lizei, aber mit Wissen speziell des damaligen FDJ (s. o.), sowie die nicht zuletzt auf Einschüchterung Vorsitzenden Erich Honecker verhaftet und bis 1954 jedweder Opposi tion, jedweden Widerstands berech- in sächsischen Gefängnissen festgehalten wurden neten „Waldheimer Prozesse" [—> Exper tise Werken [—> Expertise Buchstab]. Weiter ist zu nennen Arno tin] im Frühjahr 1950 waren für die innere Repression Esch, Vorsitzender der Liberalen Hochschulgruppe an im sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat charak- der Universität Rostock, der 1949 mit anderen Kom- teristische Indizien. Um die Opposi tion von CDUD militonen und Mitgliedern der LDP von einem sowje- und LDP in der Volkskammer auch politisch zu tischen Militärtribunal wegen „konterrevolutionärer lähmen, griff die SED auf ein probates Mittel zurück: Verbrechen" zum Tode verurteilt und zwei Jahre Wie seinerzeit in den Landesregierungen bestand sie später in Moskau erschossen wurde, mit ihm seine auf einer Beteiligung beider bürgerlicher Blockpar- Parteifreunde Gerhard Blankenburg, Heinrich Puch- teien an der neuen Regierung der DDR unter Mini- stein, Reinhold Posnansky und Kurt Kiekbusch. sterpräsident Otto Grotewohl [—> F ricke, Protokoll Genannt werden muß Wolfgang Natonek, legendärer Nr. 67]. Vorsitzender des Studentenrates an der Universität Leipzig, auch er Mitglied der LDP; 1949 von einem Nach dem Coup, mit dem sich unter Vermeidung sowjetischen Militärtribunal verurteilt, brachte er acht freier Wahlen der Volksrat als Volkskammer konstitu- Jahre Haft in Zuchthäusern der SBZ/DDR zu. iert hatte, wurden zwar allgemeine Wahlen zur Volks- kammer (sowie zu den Landtagen und Kommunalver- In den Nachkriegsjahren bis 1950 wurden rund 1200 tretungen) zum 15. Oktober 1950 anberaumt; sie namentlich registrierte Studenten verhaftet und in wurden jedoch entgegen der zwingenden Bestim- den Archipel GULag oder in Gefängnisse zwischen mung in Artikel 50 der DDR-Verfassung nicht „nach Bützow und Waldheim verbracht. „Von manchen fehlt den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts" durch- bis heute jede Nachricht". [—> F ricke, Ammer, Proto- geführt, sondern als Einheitslistenwahlen, deren koll Nr. 67 ] Ergebnis auf die Zusammensetzung der Volkskam- mer (wie der Landtage und Kommunalvertretungen) keinen Einfluß hatte: Die Abgeordneten-Mandate 2.5 Das Ringen um freie Wahlen waren schon vorher auf die einzelnen Parteien aufge- schlüsselt worden. Eine der Forderungen, die oppositionelles und wider- Im Ringen um freie Wahlen äußerte sich zwar opposi- ständiges Verhalten jahrzehntelang geprägt haben, tionelles und widerständiges Verhalten in der DDR; war die Forderung nach freien Wahlen. Sie aktuali- unter der SED-Diktatur blieb aber jeder Erfolg ver- sierte sich unter der Diktatur der SED so lange, wie der sagt. Der Widerstand gegen die Einheitsliste, der in Bevölkerung ein demokratisches Votum verweigert den bürgerlichen Parteien bis in deren Führungen wurde — bis 1989. hineinreichte, die für den Wunsch der Mehrheit der Noch vor Gründung der beiden Staaten in Deutsch- Parteimitglieder nach freien Wahlen standen, ist land wurde den Wählerinnen und Wählern zwischen durch Terror gebrochen worden. Aus der CDUD- Kap Arkona und Fichtelberg bereits ein Urnengang Volkskammerfraktion wurde Dr. Dr. Helmut Br andt, mit einheitlicher Kandidatenliste und vorher aufge- damals Staatssekretär im Ministe rium der Jusitz, aus schlüsselter Verteilung der M andate zugemutet: bei der LDP-Fraktion der damalige Generalsekretär der den Wahlen zum III. Deutschen Volkskongreß am LDP, Günter Stempel, verhaftet und später zu hohen 15./16. Mai 1949. Der von diesem Volkskongreß Freiheitsstrafen verurteilt. Sie waren in der Auseinan- gewählte Deutsche Volksrat konstituierte sich am dersetzung um das Wahlgesetz für Wahlen gemäß den 7. Oktober 1949 als Provisorische Volkskammer und Bestimmungen der Verfassung eingetreten [—> F ricke, setzte die Verfassung der Deutschen Demokratischen Protokoll Nr. 67]. Ähnliche Schicksale erlitten andere Republik in Kraft. Die Möglichkeiten zu parlamenta- bürgerliche Oppositionelle — Landesminister und rischer Opposition waren der CDUD und LDP schon Landtagsabgeordnete, die ihrer Ämter und Mandate im ersten Parlament der DDR bis zur Wirkungslosig-- enthoben wurden, meistens flüchten mußten, in zahl- keit beschnitten — falls sie dazu wi llens gewesen reichen Fällen aber auch verhaftet wurden, weil sie wären. Von insgesamt 330 Mandaten in der Proviso sich der Blockdisziplin nicht beugen wollten. Im Laufe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 des Jahres 1950 wurde zudem fast der gesamte sehen, die sich in einer fortwährenden Flucht- und mittlere Funktionärsapparat von CDUD und LDP Abwanderungsbewegung aus dem ungeliebten Staat durch Verhaftungen und Absetzungen zerschlagen äußerte und damit zu einer permanenten Destabilisie- H Expertise Richter II]. Tausende von Mitgliedern rung der SED-Diktatur beitrug. Da der Anteil wissen- resignierten bzw. flohen in den Westen. Auch zahlrei- schaftlicher und technischer Intelligenz unverhältnis- che ehemalige Sozialdemokraten, die SED-Mitglie- mäßig hoch war, hatte sie auch zur Folge, daß die von der geworden waren, mußten damals die DDR verlas- ihr vertretenen christlichen, sozialdemokratischen sen. und liberalen Wertvorstellungen in der DDR geschwächt wurden. Die Zahl der amtlich registrier- Mit besonderer Brutalität ging die Justiz gegen alle ten Flüchtlinge und Übersiedler belief sich in den vor, die in „illegalen" Widerstandsaktionen die For- Jahren von 1949 bis zur totalen Abgrenzung der DDR derung nach freien Wahlen propagiert hatten, indem am 13. August 1961 auf rund 2,7 Millionen Menschen. sie einschlägige Parolen an Mauern und Hauswände Das Politikum dieser „Migration", das die Enquete malten, oppositionelle Flugblätter verteilten oder Kommission in ihrer Anhörung zur „Flucht- und Wahlplakate der SED beschädigten. Bezeichnend Ausreisebewegung in den verschiedenen Phasen der dafür war das Aufbegehren des Oberschülers Her- DDR-Geschichte" ausführlich erörtert hat [—> Proto- mann Josef Flade aus Olbernhau im Erzgebirge. Er koll Nr. 69], ist in der DDR frühzeitig als „Abstimmung war am 16. Oktober 1950 von der Volkspolizei festge- mit den Füßen" empfunden worden. Insoweit war nommen worden — genau einen Tag nach den ersten darin durchaus eine Erscheinungsform oppositionel- Wahlen zur Volkskammer, nachdem er Flugblätter len Verhaltens zu erblicken, auch wenn das Motiv zur gegen die Einheitslistenwahlen verteilt hatte. Da er Flucht nicht immer ein im engeren Sinne politisches sich seiner Festnahme zunächst hatte widersetzen gewesen ist. können, indem er sich mit einem Messer zur Wehr setzte, konstruierte das Landgericht Dresden daraus Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Flucht- und einen Mordversuch und verurteilte den Achtzehnjäh- Abwanderungsbewegung aus der DDR in den Jahren rigen am 10. Januar 1951 zum Tode [—>Fricke, 1952/53 im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Protokoll Nr. 67]. Nach landesweiten Protesten wurde sich dramatisch zuspitzenden Entwicklung, die durch das Urteil durch Revision in fünfzehn Jahre Zuchthaus die radikalen Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der umgewandelt. SED vom Juli 1952 ausgelöst wurde. Die seither Der Fall Flade wurde zum Fanal für Hunderte von offiziell auf den „Aufbau des Sozialismus" in der DDR Oberschülern in zahlreichen Städten der DDR, die gerichtete politische Generallinie der SED lief im gegen die herrschenden Verhältnisse und speziell wesentlichen auf eine weitere Zentralisierung der gegen das Terrorurteil protestierten. Das Beispiel jener Staatsmacht hinaus, dazu auf die mit verschiedenen neunzehn Oberschüler aus Werdau, die das Landge- Enteignungsaktionen und politischer Verfolgung ver- richt Zwickau am 3. Oktober 1951 zu insgesamt 130 bundene „Verschärfung des Klassenkampfes", auf Jahren Zuchthaus verurteilte, war besonders eklatant, den weiteren Ausbau der Schwerindustrie zu Lasten aber keineswegs singulär [-> Beyer, Protokoll Nr. 41]. der Konsumgüter- und Leichtindustrie, auf den for- Allein in Sachsen sind 1950 nach regierungsamtlicher cierten Übergang zur Kollektivierung der Landwirt- Statistik 499 politische Strafsachen anhängig gewesen: schaft und auf den verstärkten Aufbau DDR-eigener „Bis zur Volkswahl am 15. Oktober 1950 überwogen die Streitkräfte in Gestalt der Kasernierten Volkspolizei Delikte, welche die Agitation zum Zwecke der Beein- [—> Expertise Lapp]. flussung der politischen Meinung zum Gegenstand Je nachteiliger sich die Folgen dieser Politik auf die hatten". [—> Fricke, Protokoll Nr. 67] politische und soziale Situa tion der Menschen in der Die Proteste gegen die Verweigerung freier Wahlen DDR auswirkten, desto näher lag der Entschluß zur haben Opposition und Widerstand unter der SED- Flucht und Übersiedlung nach West-Berlin oder in die Diktatur bis zu ihrem Zusammenbruch stimuliert. In Bundesrepublik. 1952 verließen rund 182 000 Men- keinem programmatischen Papier politisch Anders- schen die DDR — 1953 waren es 331 000 [—> Fricke, denkender fehlte die Forderung nach freien Wahlen. Protokoll Nr. 67]. Die fatale Konsequenz dieser „Ab- Es konnte nicht anders sein, da die SED alle neun stimmung mit den Füßen" bestand da rin, daß mit unter ihrer Diktatur durchgeführten Wahlen zur jedem Menschen, der der DDR aus politischen Grün- Volkskammer (wie alle anderen Wahlen zu Vertre- den den Rücken kehrte, zugleich das soziale Poten tial tungskörperschaften auch) nach dem Einheitslisten- abgebaut wurde, aus dem sich Opposi tion und Wider- wahlmodus durchführen ließ. Als letztmalig am 7. Mai stand rekrutieren konnten. 1989 Kommunalwahlen unter Kuratel der SED durch- geführt wurden, wies das offizielle Wahlergebnis Gleichwohl trat in dieser Zeit auch anderes widerstän- erstmals in der Geschichte der DDR „nur" 98,85 vH diges und oppositionelles Verhalten auf. In den Dör- Ja-Stimmen statt der bis dahin üblichen Ergebnisse fern der Republik wehrten sich die Bauern gegen die von über 99 vH aus, aber es war, wie Proteste alsbald Enteignung ihrer Höfe, in der jungen Genera tion öffentlich machten, nur anders gefälscht [-> Exper tise regten sich vielfältige Formen von Resistenz und Wielgohs]. Protest, um sich dem Zugriff des Regimes und seiner Jugendorganisation FDJ zu entziehen. Als Alterna tive bot die Junge Gemeinde der ev angelischen Kirche schließlich so viel Attraktivität, daß sie am 27. Ap ril 2.6 Die „Abstimmung mit den Füßen" - 1953 in einer regierungsamtlichen Stellungnahme zur Vor dem Hintergrund der inneren Zustände in der „illegalen Organisation" erklärt und beschuldigt DDR ist eine Protest- und Verweigerungshaltung zu wurde, „unter dem Deckmantel der religiösen Betäti- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

gung systematisch Spionage in der Deutschen Demo- tane Aufforderung zum Generalstreik auf. Erst in dieser kratischen Republik" zu be treiben (s. o.). Situation beschloß das Politbüro der SED die Rücknah- me der Normenerhöhung. Zwar wurde der Beschluß am Die Zuspitzung der inneren Situa tion ließ sich im Nachmittag und am frühen Abend des 16. Juni über den Spätherbst 1952 auch an zunehmender Unruhe in den (Ost-)Berliner Rundfunk immér wieder verlesen, er Betrieben erkennen. Es kam punktuell zu Arbeitsnie- erreichte die Arbeiter aber nicht, die sich zudem nicht derlegungen und Arbeite-langsam-Aktionen, die sich mehr beschwichtigen ließen. Die Losung des General- im Frühjahr 1953 fortsetzten. Die Gefängnisse des streiks für den kommenden Tag verbreitete sich wie ein Regimes füllten sich mit politischen Häftlingen. 1952 Lauffeuer. Das Drama des 17. Juni 1953 nahm seinen wurden die ersten Todesurteile der DDR-Justiz nach Lauf [--3 Protokoll Nr. 42]. Artikel 6 Absatz 2 der Verfassung ausgesprochen und vollstreckt: Der „Klassenfeind" sollte abgeschreckt Die Führung der SED wurde von den Ereignissen total werden. Auch nach dem Tode Josef Stalins am 5. März überrascht. In völliger Fehleinschätzung der revolu- 1953 beharrte die Führung der SED auf ihrer stalini- tionären Krise glaubte sie den Konflikt mit ihrer stischen Politik, obwohl sich selbst innerhalb der Kurskorrektur bewäl tigt. Stattdessen mußte sie erle- Partei oppositionelle Indizien mehrten, die auf eine ben, wie am 17. Juni Streikstimmung die Arbeiter Kurskorrektur wiesen. Erst durch eine Inte rvention nicht nur in zahlreichen Betrieben in Ost-Berlin, aus Moskau sahen sich das Politbüro der SED am sondern auch in allen wichtigen Industriezentren der 9. Juni, der Ministerrat der DDR am 11. Juni 1953 zu DDR ergriff. Und wie in Ost-Berlin folgte dem Streik einer Politik des „Neuen Kurses" genötigt. Den auch in der Provinz die politische Demons tration. Die Aufstand der Massen konnte sie nicht mehr ver- Forderungen der aufständischen Massen waren nicht hindern. mehr nur sozialer und wirtschaftlicher („Nieder mit den Normen! "), sondern zunehmend politischer Natur („Rücktritt der Regierung! ", „Freiheit für politische 2.7 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 Gefangene!", „Freie Wahlen! ").

Der politische Mißerfolg des „Neuen Kurses" war Auch Unruhen und Aufruhr blieben punktuell nicht vorprogrammiert. Denn während die SED mit ihren aus, obwohl sich, aufs Ganze gesehen, die streikenden Beschlüssen Bauern, Kleinunternehmern, Gewerbe- und demonstrierenden Massen gewalttätiger Aktio- treibenden und Handwerkern taktische Zugeständ- nen weithin enthielten. In Magdeburg, Halle, Jena, nisse gemacht hatte, sah sich gerade die Arbeiter- Leipzig, Bitterfeld, Niesky und Görlitz besetzten schaft, die von der Partei umworbene „herrschende Demonstranten öffentliche Gebäude, Parteibüros und Klasse", in ihren Erwartungen bitter enttäuscht. Aus- Dienststellen der Staatssicherheit, auch Gefängnisse gerechnet die generelle Erhöhung der Arbeitsnormen wurden vereinzelt gestürmt und über 1 300 Gefan- um zehn vH, die vom Zentralkomitee der SED und gene befreit. Nachdem im Laufe des 17. Juni, teilweise vom Ministerrat der DDR im Mai 1953 beschlossen auch erst am 18. Juni, die sowje tische Besatzungs- worden war und sogleich offenen Widerspruch und macht den Ausnahmezustand über Ost-Berlin und Proteststreiks provoziert hatte, wurde im Zuge des dreizehn Bezirks- sowie 51 Kreisstädte und eine „Neuen Kurses" zunächst nicht zurückgenommen. Reihe von Landkreisen in der DDR verhängt hatte, Als die DDR-Gewerkschaftszeitung „Tribüne" die brach der spontan ausgebrochene Aufstand zusam- Normenerhöhung in ihrem Leitartikel vom 16. Juni men. 1953 sogar ausdrücklich als „in vollem Umfang rich- tig" zu rechtfertigen versuchte, war der kritische An den Streiks und Demons trationen haben sich auch Punkt erreicht: Unter den Bauarbeitern von der Stalin- Mitglieder und Funktionäre der SED und des FDGB, allee in Ost-Berlin, die das Blatt bei Arbeitsbeginn zu in einigen Fällen sogar als Streikführer, beteiligt. In Gesicht bekamen, brach Empörung aus. Auf der Berichten an die Parteiführung vor und nach dem Baustelle zu Block 40 wurde der Streik zuerst 17. Juni 1953 ist von kritischen und oppositionellen beschlossen und entschieden, eine gemeinsam ver- Diskussionen in vielen Parteiorganisationen (bis hin faßte Resolution zum Gewerkschaftshaus in der Wall- zu Forderungen nach Meinungsfreiheit, Zulassung straße in Berlin-Mitte zu bringen. Auf dem Marsch der SPD oder einer Fraktion der SPD in der SED, auch dorthin schwoll der Protestzug der Bauarbeiter zu von Debatten über einen „demokratischen Weg zum einer vielhundertköpfigen Demons tration an, da sich Sozialismus") die Rede. Fast 1 300 Mitglieder und Maurer und Zimmerleute anderer Baustellen mit Kandidaten traten im Juni und Juli 1953 aus Protest ihren streikenden Kollegen solidarisierten. Als die gegen die Politik der SED-Führung aus der Partei aufgebrachten Arbeiter die Zentrale des Gewerk- aus [-> Expertisen Otto, Klein]. Auch von Mitglie- schaftsbundes verriegelt fanden, zogen sie weiter vor dern der Blockparteien wurden im Sommer 1953 häu- das „Haus der Ministerien" in der Leipziger Straße. fig Forderungen nach demokratischen Reformen Ein Aufstand hatte begonnen. Die Enquete-Kommis- erhoben und Kritik an der SED-Politik geäußert, sion hat sich in ihrer Öffentlichen Sitzung am 16. Juni was Säuberungs- und Gleichschaltungsmaßnahmen 1993 ausführlich mit der Genesis des Volksaufstands der SED-hörigen Führungen zur Folge hatte; von vierzig Jahre zuvor, mit seinem Verlauf und seinem einer zunehmenden Zahl von Parteiaustritten in Ende befaßt [—>Protokoll Nr. 42]. dieser Zeit wird berichtet [-> Expertisen Buchstab, Suckut] . Während der Demonstration vor dem „Haus der Mini - sterien", die vorerst noch von der Losung „Nieder Nach „Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung" mit den Normen!" bestimmt war, kam bereits die spon setzte die Verfolgung der Aufständischen ein. Minde- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 stens achtzehn starben unter den Kugeln sowjetischer 2.9 Die revisionistische Opposition Standgerichte. 24 Menschen kamen durch den Waf- feneinsatz der Sowjetarmee zu Tode, acht durch Der Aufstand vom 17. Juni 1953 hatte das Fiasko der Waffengebrauch der Volkspolizei. Auch sowjetische Politik der SED vor Augen geführt. Drei Jahre später, Soldaten, die sich geweigert hatten, auf Streikende im Februar 1956, leitete die Kommunistische Partei und Demonstranten zu schießen, wurden exekutiert. der Sowjetunion auf ihrem XX. Parteitag eine Ent- Weitere Forschungen müssen erweisen, wie sich die wicklung ein, die nach einem Roman von Ilja Ehren- sehr viel höheren Zahlen der Zentralen Ermittlungs- burg als „politisches Tauwetter" im gesamten Ost- stelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität block Diskussionen auslöste — zumal wegen der (ZERV) in Berlin erklären. Danach kamen am 17. Juni radikalen Kritik Nikita Chruschtschows am Personen- 1953 mindestens 125 Menschen ums Leben. Etwa kult Stalins und seinen verbrecherischen Folgen. 1 600 Teilnehmer des 17. Juni wurden von DDR Auch die SED schien mit ihrer 3. Parteikonferenz im Gerichten zu teilweise hohen Freiheitsstrafen verur- März 1956 auf die Linie der Entstalinisierung einzu- teilt, über zwei die Todesstrafe verhängt und auch schwenken. So entstand in der DDR ein geistig vollstreckt. Unter dem Fallbeil starb z. B. der Gärtner politisches Klima, in dem Wissenschaftler und Schrift- Ernst Jennrich aus Magdeburg, weil er bei der Befrei- steller, Intellektuelle und Studenten, auch einzelne ung von Gefangenen einen Posten erschossen haben Parteifunktionäre, ernsthaft an ein „politisches Tau- sollte. wetter" glaubten, in dem sie ungestraft oppositionelle Konzeptionen vertreten könnten, auch sozialistische Alternativen zur Generallinie der SED, die nicht auf einen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus, sondern 2.8 Machtkampf und Opposition in der Führung auf seine Erlösung aus den Fesseln des Stalinismus der SED hinausliefen. Die in diesem Sinne „revisionistisch" orientierten Die personellen Konsequenzen, die der 17. Juni 1953 Intellektuellen, die vorwiegend an gesellschaftswis- für die SED zeitigte, führten zur Entmachtung Wil- senschaftlichen und philosophischen Instituten der helm Zaissers, dem als Minister für Staatssicherheit Akademie der Wissenschaften, der Universitäten die Verantwortung für den Ausbruch des Aufstands sowie in Verlagen und Redaktionen tätig waren, zugeschoben wurde, sowie zur Entfernung Rudolf hielten unter Berufung auf Ernst Bloch und Georg Herrnstadts aus der Chefredaktion des SED Lukács, Rosa Luxemburg und Leo Trotzki eine Demo- Zentralorgans „Neues Deutschland", dem „Sozialde- kratisierung und Humanisierung des Sozialismus mokratismus" vorgeworfen wurde. Beide hatten als bzw. Kommunismus grundsätzlich für möglich. Für Mitglied bzw. als Kandidat des Politbüros innerpartei- die DDR erstrebten sie demokratische Reformen in lich den Versuch unternommen, Ulb richt als General- Herrschaft und Gesellschaft, die Garan tie von Infor- sekretär der Partei abzulösen. Beide haben zweifellos mations- und Meinungsfreiheit, die Liquidierung des mit Rückendeckung aus Moskau eine Erneuerung der Staatssicherheitsdienstes, die Auflösung unprodukti- SED angestrebt, weil sie ein Desaster auf diese ver Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaf- zukommen sahen, jedoch die Politik der SED nicht ten. Auch ein Austausch führender Kader, besonders prinzipiell ändern wollten. Sie suchten neue Wege die Ablösung Ulbrichts durch Schirdewan oder Paul zum alten Ziel. Insofern bleibt es eine Frage der Merker, durch Politiker also, die nicht als stalinistisch Definition, ob ihr Verhalten als innerparteiliche Oppo- kompromittiert galten, gehörte zu ihren Zielsetzun- sition oder aber als persönlicher Machtkampf zu gen. qualifizieren ist. Schon alte rnative Auffassungen in der Führung der Staatspartei können sich in einem Ihre konkreteste Ausformung fand die revisionis tische zentralistischen Herrschaftssystem wie oppositionelle Opposition in einer schriftlich formulierten „Plattform Bestrebungen auswirken [-> Exper tise Klein]. für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialis- mus", deren Entwurf in einem intellektuellen Kreis Dieselbe Frage stellt sich bei der Wertung eines um Wolfgang Harich und Walter Janka diskutiert anderen Konflikts, der 1957/58 in der Führung der worden war. Weitere Namen, die mit der Geschichte SED aufbrach. Unter maßgeblicher Beteiligung Karl dieser Opposition verbunden sind: Fritz Behrens, Arne Schirdewans, damals Mitglied des Politbüros und für Benary, Bernhard Steinberger, Kurt Vieweg, Günther die Kaderpolitik der SED zuständiger Sekretär des Zehm, Gerhard Hasse, Ralf Schröder, E rich Loest, Zentralkomitees, hatten sich mehrere Funktionäre, Ronald Lötzsch und Harry Lucht [-> Expertisen Hert- unter ihnen der für Wirtschaft zuständige Sekretär des wig, Klein]. Die Führung der SED hat den Einfluß der Zentralkomitees Gerhart Ziller und der Minister für revisionistischen Oppositon gewiß überschätzt, auf Staatssicherheit Ernst Wollweber, auf eine Alterna tive jeden Fall aber sah sie sich vor die Notwendigkeit zur Politik und Person Ulbrichts verständigt. Sie schei- gestellt, sie mit Hilfe von Staatssicherheit und Strafju- terten ebenso wie zuvor Zaisser und Herrnstadt stiz zu zerschlagen [-> F ricke, Protokoll Nr. 67]. Die [-> Schirdewan, Protokoll Nr. 25; Expertisen Jesse, von der SED-Führung als Reaktion auf die Haltung Klein]. Auch im Falle der „opportunistischen Gruppe" eines Teils der Parteimitgliedschaft zu den Vorgängen Schirdewan, die versucht habe, „die politische Linie im Jahre 1956 ausgelösten Parteisäuberungen und der Partei zu andern" — so Ulbrichts Vorwurf —, Disziplinierungsmaßnahmen zogen sich bis ins Jahr erscheint die Zurechnung zum oppositionellen Spek- 1958 hin. In dieser Zeit wurde etwa ein Drittel der trum fragwürdig. Es trifft den Kern der Sache eher,- hauptamtlichen Parteifunktionäre in den Bezirkslei- auch hier von einem innerparteilichen Machtkampf tungen der SED ausgewechselt. Noch 1960 machte die zu sprechen. ZPKK Jagd auf Abweichler, Anhänger des „Sozialde- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode mokratismus" und auf SED-Mitglieder, die sich an 2.10 Fluchthilfe als Widerstand Streiks im Jahre 1960 beteiligt hatten [—> Expertisen Klein, Otto]. Als die Führung der SED einsehen mußte, daß sie die Flucht- und Abwanderungsbewegung aus der DDR on Im Unterschied zur revisionis tischen Oppositi mit politischen Mitteln nicht einzudämmen oder gar schlossen sich in der zweiten Hälfte der fünfziger zu unterbinden vermochte, entschied sie sich Jahre an einer Reihe von Universitäten und Hoch- bekanntlich für eine gewaltsame Problemlösung. Mit schulen, so z. B. in Ost-Berlin, Greifswald, Jena, Ha lle dem 13. August 1961 als Stichtag für den Bau der und Dresden, auch Studenten zu oppositionellen Berliner Mauer — der als „antifaschistischer Schutz- Gruppen zusammen, die schon nicht mehr im Sozia- wall" verklärten Grenzanlage mitten durch Berlin — lismus, sondern in einer parlamentarischen Demokra- nahmen auch Opposition und Widerstand in der DDR ti e mit der partiellen Bewahrung gewisser „sozialisti- eine neue Qualität an. Die bis dahin wirksame Min- scher Errungenschaften" der DDR ihre Zukunft derung des resistenten Potentials durch den Weggang erkannten, zudem für die Reprivatisierung zumindest unzufriedener und aufsässiger Bürger war beendet. kleinerer „volkseigener" Betriebe und die Auflösung Fortan begann sich der Unmut in der DDR aufzu- der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaf- stauen. ten eintraten. Das Regime machte nicht den gering- sten Versuch, sich mit dieser Opposi tion politisch Unverzüglich gingen aus der neuen Situa tion auch auseinanderzusetzen. Die Auseinandersetzung fand neue Formen widerständigen Verhaltens hervor — im Gerichtssaal statt: Thomas Ammer, Hans Frömel, vor allem zahlreiche Varianten von Fluchthilfe [-> Bie- Peter Herrmann und andere Mitglieder des „Eisen- nert, Protokoll Nr. 69]. Hunderte junger Menschen in berger Kreises" an der Universität Jena, Heinrich Ost und West des geteilten Berlin fanden sich mit viel Blobner und Arno Seifert von der Universität Halle, Mut und Idealismus zu gemeinsamen Fluchthilfeak- Gerhard Bauer, Armin Schreiter, Hans Lutz Dalpke tionen zusammen, urn dazu entschlossenen DDR und Christian Ramatschi an der Technischen Hoch- Bürgern, häufig Angehörigen der eigenen Familie, schule Dresden wurden mit Zuchthausstrafen bis zu den Weg nach Westen zu öffnen. Die Fluchthilfe fünfzehn Jahren belegt [—> Ammer, Fricke, Protokoll reichte von der Beschaffung ausländischer Reise- Nr. 67]. pässe, die DDR-Flüchtlingen ein ungehindertes Pas- sieren der Grenzkontrollpunkte erlaubten, bis hin zur Wie immer in der Geschichte der DDR entwickelten Ausschleusung von Flüchtlingen in umgebauten sich auch Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Kraftfahrzeugen oder durch Fluchttunnel unter der Jahre neue Formen oppositionellen und widerständi- Mauer in Berlin. gen Verhaltens im Kontext zur Politik der SED. Als die Staatspartei der DDR die „Vollkollektivierung" der Die Herrschenden reagierten nervös und ließen Landwirtschaft erzwang, stieg nicht nur die Flucht- Fluchthilfe durch ungewöhnlich harte Strafurteile und Abwanderungsbewegung sprunghaft an —1959 ahnden. Der Fluchthelfer Harry Seidel z. B., der 1962 verließen rund 144 000 Menschen die DDR, 1960 fast nach dem Ausstieg aus einem nach Osten vorgetrie- 200 000 -, auch Protest und Widerstand waren speziell benen unterirdischen Stollen in eine Falle geraten war auf dem Lande erneut auszumachen. Gemeinsam und so von Stasi-Offizieren festgenommen werden traten Bauern aus den eben erst gebildeten Landwirt- konnte, wurde am 29. Dezember 1962 vom Obersten schaftlichen Produktionsgenossenschaften aus, ver- Gericht der DDR wegen „staatsgefährdender Gewalt- einzelt waren auch Sabotageakte zu verzeichnen: akte" und „friedensgefährdender Aggression" zu Scheunen gingen in Flammen auf. Zwei wegen einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt [—>Sei- Brandstiftung auf dem L ande ausgesprochene und zur del, Protokoll Nr. 21]. Abschreckung auch vollstreckte Todesurteile ließen Strafrechtlich trug das Regime der neuen Form von erkennen, für wie ernst die SED solche Erscheinungen Widerstand dadurch Rechnung, daß sie den Straftat- hielt. bestand der Fluchthilfe als „staatsfeindlichen Men- Auch aus Ost-CDU und LDPD wird für Mitte der schenhandel" (§ 105 StGB/DDR) in das Strafrecht der fünfziger Jahre und erneut im Zusammenhang mit DDR einführte, eine Norm, die zunächst zehn Jahre dem Mauerbau 1961 von verstärkter Kritik an der Freiheitsentzug als Höchststrafe, ab 1977 „im schwe- SED-Politik berichtet. Von Mitte der fünfziger Jahre ren Fall " eine lebenslängliche Freiheitsstrafe vorsah. bis 1961 flüchteten jährlich ca. 2 000 Mitglieder der Mit dieser Bestimmung sollte vor allem kommerzielle Ost-CDU aus der DDR. In der LDPD wurden 1956 vor Fluchthilfe, die sich in den siebziger Jahren ausbrei- allem der Führungsanspruch der SED, die Vorbild- tete, ausgeschaltet werden. rolle der Sowjetunion, die Planwirtschaft und die Deutschlandpolitik der SED in Frage gestellt. Aus der Sicht der SED-Führung schien sich die LDP Anfang 1958 nahezu in Auflösung zu befinden. Sogar der 2.11 Solidarität mit dem „Prager Frühling" Parteivorsitzende Manfred Gerlach, an dessen politi- scher Zuverlässigkeit die SED-Führung grundsätzlich Eine Zeitlang schienen die sechziger Jahre in der DDR nicht zweifelte, verlangte 1956 Reformen und kriti- eine innere Konsolidierung der SED-Diktatur zu sierte 1961 u. a. die gewaltsame Entfernung von ermöglichen. Die „Sperrmaßnahmen" vom 13. Au- Antennen zum Empfang des Westfernsehens und den gust 1961 riefen trotz ihrer Unmenschlichkeit auch die Einsatz massiver Druckmittel bei der Werbung von- Illusion hervor, es könnte DDR-intern zu einer Auflok- Jugendlichen für die Nationale Volksarmee [—>Exper- kerung stalinistischer Strukturen kommen. Die zu tisen Buchstab, Suckut]. weiterer „Entstalinisierung" gefaßten Beschlüsse des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

XXII. Parteitages der KPdSU von 1961 schienen solche pertisen Otto, Klein]. Berichte an die Führungen der Erwartungen auch in der DDR zu begründen. Die 1963 Ost-CDU und der LDPD bzw. von diesen an die mit dem Rechtspflege-Erlaß des Staatsrates eingelei- SED-Führung informierten über eine Fülle kritischer tete „zweite Justizreform" ließ auf eine Festigung der Äußerungen zur Inte rvention in der CSSR und auch „sozialistischen Gesetzlichkeit" hoffen; in der Wi rt über damit begründete Parteiaustritte [-> Expertisen -schaft versprach des „Neue Ökonomische System der Buchstab, Suckut]. Planung und Leitung" mehr Flexibilität im Verhältnis von Planung und Eigenverantwortung; und selbst in der Militärpolitik gab sich das Regime — nachdem am 24. Januar 1962 die allgemeine Wehrpflicht einge- führt worden war — konzessionsbereit: Auf langwie- 3. Oppositionelles und widerständiges Verhalten in riges Drängen der evangelischen Kirche wurde Wehr- der DDR der Honecker-Ära dienstverweigerern ein waffenloser Wehrersatzdienst in besonderen Baueinheiten der Nationalen Volksar- mee zugestanden. Eine entsprechende Anordnung Der Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker des Nationalen Verteidigungsrates erging am 7. Sep- als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, tember 1964 [-> Expertise Lapp]. formell am 3. Mai 1971 auf einem Plenum des ZK vollzogen, ließ in der Bevölkerung der DDR Hoffnun- Indes wurde der Trend zu innerer Konsolidierung in gen auf bessere Zeiten aufkeimen. Der sechs Wochen der DDR von einer Seite konterkariert, von der sie die danach abgehaltene VIII. Parteitag der SED verriet poststalinistische Politbürokratie der SED am wenig- das Bestreben des neuen Mannes, einerseits der sten erwartet hätte: Namentlich jüngere Genossinnen Arbeiterschaft mit dem Konzept von der Einheit von und Genossen der SED, Intellektuelle zumal, zeigten Wirtschafts- und Sozialpolitik bescheidene soziale sich von der kommunistischen Reformbewegung in Zugeständnisse zu machen, andererseits jedoch die der benachbarten Tschechoslowakei zunehmend fas- Repression nach innen zu verschärfen. ziniert. Der „Prager Frühling" mit seiner Idee von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" rief in Das wurde erkennbar, als Honecker mit einer blitzar- der DDR zusehends Sympathie und Solidarität hervor. tig durchgeführten Sozialisierungsaktion ein halbes Freundeskreise fanden sich, in denen die Politik Jahr nach seinem Machtantritt alle bis dahin in der Alexander Dubceks diskutiert und Folgerungen dar- DDR noch bestehenden halbstaatlichen und p rivaten aus für die DDR gezogen wurden. Wolf Biermanns Unternehmen liquidieren ließ. Zeitzeugen haben der Lied „In Prag ist Pariser Kommune" wurde in kleinen Enquete-Kommission darüber berichtet [—>Protokoll Zirkeln eines der meistverbreiteten „Hetzlieder". Nr. 27]. Binnen weniger Monate kamen auf diese Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben Walter Weise 99,4 vH der industriellen Bruttoproduktion aus Ulbricht und Erich Honecker die militärische Inter- der „volkseigenen" Industrie. Erstaunlicherweise vention der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tsche- geschah dieser Umbruch ohne nennenswerte Opposi- choslowakei nicht nur uneingeschränkt befürwortet, tion und ohne größere Widerstände. sie haben aus Furcht vor Auswirkungen auf die DDR förmlich darauf gedrungen. Oppositionelles und widerständiges Verhalten zeigte Die Enquete-Kommission hat sich in ihrer Anhörung sich erst wieder, als die Führung der SED auch die rivaten Handwerks durchpeit- zum Thema „Internationale Rahmenbedingungen der Sozialisierung des p schen wollte und alsbald zur Kenntnis nehmen mußte, Deutschlandpolitik 1949-1989" am 12. und 13. Okto- welche nachteiligen Folgen ihr daraus für die Versor- ber 1993 auch und gerade mit den Folgen des „Prager gung der Bevölkerung entstanden. Unter diesen Vor- Frühlings" auseinandergesetzt [—> Protokoll Nr. 47]. aussetzungen war die Hoffnung auf bessere Zeiten In der DDR gehörte dazu der Protest gegen die bald nach dem Führungswechsel verweht. Allerdings „brüderliche Hilfe": Wie in den fünfziger Jahren hat das Inkrafttreten des zwischen beiden Staaten in wurden selbstgefertigte Flugzettel verbreitet, Losun- Deutschland geschlossenen Grundlagenvertrages am gen gemalt und demons trativ Solidaritätsaktionen 21. Juni 1973 in der Bevölkerung der DDR optimisti- durchgeführt. Allein in Ost-Berlin wurden nach sche Erwartungen geweckt. Eröffnete er nicht Per- MfS-Ermittlungen Flugblätter an 389 Stellen sowie Losungen an 212 Stellen festgestellt. Und wie spektiven, die das Leben der Menschen in der DDR in den fünfziger Jahren gingen junge Menschen erträglicher machen konnten? dafür in die Gefängnisse des Regimes: Zeugen be- Die Erwartungen, der Abschluß des Grundlagenver- wußter Opposi tion [-> Expertisen Jesse, Kowalczuk, trages werde die SED-Führung zu einer Auflockerung Otto]. ihrer Diktatur bewegen, wurden enttäuscht. Statt Auch unter Mitgliedern der SED, der Ost-CDU und dessen verschärften die Herrschenden gerade zu der LDPD wurde 1968 Kritik an den offiziellen Posi- diesem Zeitpunkt ihre Abgrenzungspolitik gegen- tionen gegenüber der Demokratisierung in der CSSR über der Bundesrepublik. Wie aus Dokumenten der und an der Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten LDPD und auch der Ost-CDU zu entnehmen ist, lösten in diesem Lande geäußert. In der SED folgte in den sie damit in Teilen der DDR-Bevölkerung kritische Jahren von 1968 bis 1970 eine „Antirevisionismus"- Diskussionen aus. Ihr Ausmaß und Inhalt sind jedoch Kampagne, zu der auch Mitgliederüberprüfungen erst nach weiterer Erschließung der Akten der Block- und damit der Ausschluß bzw. die Streichung von parteien (insbesondere der Orts- und regionalen über 10 000 Parteimitgliedern — bei ca. 1,9 Millionen Organisationen) sowie von SED-Akten zu ermitteln jedoch nur eine kleine Minderheit — gehörten [-> Ex- [-> Expertisen Suckut, Buchstab]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

3.1 Die „Abstimmung mit dem Ausreiseantrag" dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben", versicherte er auf einer Tagung des Zentral- Das Verlangen nach Reise- und Ausreisefreiheit, das komitees am 17. Dezember 1971. Wie schnell er sich schon mit dem Wirksamwerden des Grundlagenver- selber Lügen strafte, bekamen kritische Schriftsteller trages stärker geworden war, steigerte sich im Kontext alsbald zu spüren. Die entscheidende Zäsur war die zum KSZE-Prozeß. Nach Veröffentlichung der am Ausbürgerung des oppositionellen Liedermachers 1. August 1975 auch von Honecker in Helsinki unter- Wolf Biermann, dem während eines Gastspiels in Köln zeichneten Schlußakte der „Konferenz über Sicher- am 16. November 1976 die DDR-Staatsbürgerschaft heit und Zusammenarbeit in Europa" forderten in „aberkannt" und das Recht zum Aufenthalt in der zunehmendem Maße Bürger der DDR jene Grund- DDR „entzogen" wurde. rechte ein, zu denen sich ihre Regierung verpflichtet hatte. Unter Berufung auf die Helsinki-Schlußakte Der Willkürakt löste eine Welle solidarischer Empö- reklamierten sie vor allem das Recht auf Freizügig- rung aus. Schon einen Tag danach unterzeichneten keit. zwölf DDR-Schriftsteller eine Erklärung, in der sie die Verantwortlichen ersuchten, „die beschlossenen Die Zahl der Antragsteller, die sich um eine legale Maßnahmen zu überdenken." Das Protestpapier trug Ausreise aus dem Staat der SED bemühten, nahm in die Unterschriften von Sarah Kirsch, Christa Wolf, dieser Phase der Entwicklung der DDR sprunghaft zu. Volker Braun, Franz Fühmann, Steph an Hermlin, In der Regel beantragten die Menschen formell ihre Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Mü ller, Rolf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und die Schneider, Gerhard Wolf, Jurek Becker und E rich Ausreisegenehmigung, wobei sie sich zunehmend der Arendt. Mehr als einhundert weitere Schriftsteller Unterstützung durch westdeutsche Menschenrechts- schlossen sich in den folgenden Tagen der Erklärung organisationen, das Bundesministerium für inner- an. Nie zuvor war oppositionelles Verhalten von deutsche Beziehungen oder die Ständige Vertretung Schriftstellern in dieser Eindeutigkeit und in diesem der Bundesrepublik Deutschl and bei der Regierung Ausmaß vorgekommen — für die SED und das MfS der DDR zu vergewissern suchten. Der Ausreiseantrag eine ungewohnte Erfahrung. wurde zum Stimmzettel gegen den DDR-Sozialismus, so daß es unerläßlich ist, in den massenhaften Ausrei- Nicht von ungefähr ist in einem Dossier des MfS vom sebemühungen auch eine neue Form oppositionellen 8. Januar 1977 von „feindlich-negativen Kräften" die Verhaltens zu sehen. Das Regime tat das auf seine Rede, „insbesondere unter Kulturschaffenden, deren Weise, indem es die strafrechtlichen Sanktionen ver- politische und ideologische Vorstellungen und Aktivi- schärfte, die gegen Antragsteller angewandt werden täten in wesentlichen Teilen den vom Gegner verfolg- konnten. ten Zielen und Absichten zur Unterwanderung der DDR und zu ihrer Zersetzung von innen heraus, zur Ein besonderes Alarmzeichen muß es für die Herr- Schaffung und Aktivierung einer sogenannten Oppo- schenden gewesen sein, als sich in Riesa Bürgerinnen sition bzw. zur Forcierung der politischen Unter- und Bürger unter Leitung des Arztes Dr. Karl Heinz grundtätigkeit entsprachen bzw. damit überein- Nitschke im Sommer 1976 zu einer Bürgerinitiative stimmten". [—>Expertise Kleßmann II] Die Reaktion zusammenschlossen und gemeinsam eine „Pe tition des Regimes hieß Repression. Die Folge war ein zur vollen Erlangung der Menschenrechte" an den Exodus oppositioneller, zumindest nonkonformisti- Staatsrat der DDR richteten, um auf diese Weise ihre scher Schriftsteller und Künstler, die in die Bundesre- Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und ihre Aus- publik wechselten: Sarah Kirsch, Jurek Becker, Hans reise aus der DDR zu ertrotzen [-> Exper tise Kleßmann Joachim Schädlich, Klaus Schlesinger, Günter Kunert, II]. Ohne sie zu überschätzen, setzte die Riesaer Erich Loest und Reiner Kunze, um nur einige Namen Initiative den Anfang einer neuen Form von Opposi- zu nennen. Für die Literatur der DDR bedeutete ihr tion, die auf Jahre hinaus beispielgebend für an Weggang einen unersetzlichen Verlust. -dere Gruppen ausreisewilliger DDR-Bürger blieb und in den achtziger Jahren dazu führte, daß Ausrei- sewillige sich in Selbsthilfegruppen organisierten [-> Jeschonnek u. a., Protokoll Nr. 69; Expertise Jesse]. 3.3 Innerkommunistische Dissidenz und Opposition

Im Gegensatz zu ungezählten DDR-Bürgern, die resi- gniert und enttäuscht den „Arbeiter-und-Bauern- 3.2 Der Exodus kritischer Schriftsteller und Staat" verließen, artikulierte sich in den siebziger Künstler Jahren auch wiederholt öffentliche Kritik an den poststalinistischen Herrschaftsstrukturen der DDR, Zu jenen, denen ein Verbleiben in der DDR immer die sozialistisch bzw. kommunistisch motiviert war. unerträglicher gemacht wurde, zählten schon in den Der intellektuelle Kopf dieser Opposi tion war unum- sechziger Jahren die regimekritischen Schriftsteller. stritten Robert Havemann. Nachdem der Naturwis- Die frühen siebziger Jahre schienen hingegen auf senschaftler schon in den sechziger Jahren mit seinen eine Kurskorrektur hinzudeuten. Hatte Honecker Vorlesungen die Politbürokratie ideologisch heraus- nicht gerade den Schriftstellern mehr Freiraum zuge- - gefordert hatte und dafür mit Berufsverbot sowie sichert? „Wenn man von den festen Positionen des Parteiausschluß gemaßregelt worden war, wurde er in Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf den siebziger Jahren zur Schlüsselfigur der innerkom- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 munistischen Opposition. Ungebrochen und unbeein- 3.4 Voraussetzungen für die Entwicklung druckt von Schikanen und Verfolgung, hat er bis zu widerständigen und oppositionellen Verhaltens seinem Tode 1982 seine Stimme erhoben, mahnend in den achtziger Jahren und anklagend, so daß er für eine Genera tion junger Intellektueller, Studenten und Schriftsteller zu einer Die Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes in den unumstrittenen politischen Autorität wurde [-> Exper- sechziger Jahren und die darin eingebettete Gestal- tisen Eckert II, Kowalczuk]. tung des innerdeutschen Verhältnisses war eng ver- bunden mit Konsequenzen, die sich aus der Abschot- In seiner Tradition stand auch ein Kritiker des Regi- tung der DDR gegenüber dem Westen durch den mes, der von den Verhältnissen in der DDR geprägt Mauerbau am 13. August 1961 ergaben. Seitdem war: Rudolf Bahro, der 1977 mit seinem in der Bun- veränderte sich auch das Verhalten der DDR-Bevöl- desrepublik „illegal" veröffentlichten Buch „Die kerung gegenüber der Politbürokratie der SED. Viele Alternative" eine Fundamentalkritik am „real existie- Menschen begannen, sich mit den Verhältnissen zu renden Sozialismus " formuliert hatte. Seine Forderun- arrangieren. Zugleich strebte die SED politisch und gen nach Entmachtung der Politbürokratie, Beseiti- wirtschaftlich eine „innere Konsolidierung" an, die gung der Herrschaft des Parteiapparates sowie Neu- sich gegenüber den Kritikern des Regimes mit einem regelung der Verhältnisse in Staat und Gesellschaft immer rigoroseren Vorgehen verband. verdichteten sich zu einer kritischen Analyse, wie sie bis dahin so umfangreich und wissenschaftlich Wegen der hermetischen Abriegelung der DDR konn- begründet in der DDR nicht formuliert worden war. ten im Westen das repressive Vorgehen des Machtap- Eine öffentliche oder parteioffizielle Auseinanderset- parates der SED und die allgemeine Lage in der DDR zung mit seinen Thesen fand im Staat der SED nicht nur noch eingeschränkt wahrgenommen werden. Das statt. Vielmehr wurde der unliebsame Kritiker am 30. wirkte sich auch auf das Verhalten des gegenüber Juni 1978 — nach zehn Monaten Untersuchungshaft dem Regime kritisch eingestellten Teils der DDR- — zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Juristisch Bevölkerung aus. Die Tatsache, daß die westlichen wertete die Strafjustiz Bahros Buch als „antisozialisti- Alliierten den Bau der Mauer hinnahmen, zerstörte sche und subversive Tätigkeit" — ein Skandal, der die Hoffnung der Bevölkerung auf ein baldiges Ende sich politisch gegen das Regime selbst kehrte, denn des SED-Regimes und schwächte die widerständigen auch im Fall Bahro bildeten sich vereinzelt p rivate und oppositionellen Kräfte im Osten Deutschlands. Zirkel in der DDR, in denen das im Westen beschaffte Zudem zeigte sich in den Reaktionen vieler westlicher Buch gelesen, seine Thesen diskutiert wurden. Über Politiker und in den Medien eine zunehmende Akzep- das Aufsehen, das Bahros Buch auch im Westen tanz des Status quo und somit der deutschen Tei- gefunden hatte — in West-Berlin bildete sich ein lung. Bahro-Solidaritätskommitee —, wurden die Men- schen in der DDR durch die westlichen Medien In der DDR wuchs eine neue Genera tion heran, deren informiert. In mehreren Fällen kam es in diesem politische Erfahrungen vom „Aufbau des Sozialis- Zusammenhang zu Verhaftungen [-> Expertisen Bick- mus" in einem Teil Deutschlands bestimmt waren. Für hardt, Kleßmann II]. sie stellte die Existenz zweier deutscher Staaten eher eine Selbstverständlichkeit dar. Während vor dem Teilweise unter dem Einfluß nichtkommunistischer 13. August 1961 die wenigstens partiell noch offene linksradikaler und anarchistischer Strömungen bzw. deutsche Grenze auch die offene deutsche Frage entsprechender Literatur aus der Bundesrepublik ent- symbolisierte, war die Zeit danach durch eine immer standen ab Mitte der siebziger Jahre in der DDR stärkere Einbindung der DDR in das „sozialistische Diskussionszirkel von SED-Mitgliedern, in denen sich Weltsystem" gekennzeichnet. Angesichts der innen- überwiegend jüngere Wirtschafts- und Gesellschafts- und außenpolitischen Gegebenheiten konzentrierten wissenschaftler auf marxistischer Grundlage mit sich Kritiker der SED-Diktatur in den sechziger und Reformen in der SED und in der DDR befaßten. siebziger Jahren immer weniger auf die Systemüber- Einzelheiten von Zielen und Ausmaß dieser weitge- windung und immer stärker auf Veränderungen hend konspirativ tätigen Gruppen sind zur Zeit noch innerhalb des „real existierenden Sozialismus". Die ein Desiderat der Forschung [—> Expertisen Jesse, prägnantesten Beispiele für solche Versuche zur Klein, Otto]. Reformierung des Sozialismus waren die Vorlesungen Robert Havemanns in den sechziger Jahren („Dialek- Auf innerkommunistische Opposi tion deutete auch tik ohne Dogma") wie auch seine späteren Veröffent- ein Programm hin, mit dem sich seine Verfasser 1978 lichungen, Wolf Biermanns Lieder und Gedichte als „Bund Demokratischer Kommunisten" zu Wort sowie Rudolf Bahros 1977 veröffentlichtes Buch „Die meldeten. In scharfer Polemik gegen die SED setzten Alternative". All diese Texte und Lieder wurden nur sie sich mit Fragen von Krieg und Frieden auseinan- im Westen veröffentlicht, gelangten aber auf verschie- der, entwarfen Gedanken zum Reformkommunismus denen Wegen auch in die DDR zurück, wo sie in sowie zur inneren Situa tion der DDR, thematisierten erheblichem Maße oppositionelles Denken und zudem die Deutschlandpolitik und die nationale Ein- widerständiges Handeln beeinflußten — auch solcher heit. Das selbstverständlich anonym veröffentlichte Menschen, die sozialistischen Ideen eher fernstanden. Programm war für die Politbürokratie deshalb so Die „neue Generation" wurde aber auch durch die störend, weil es auf Insiderinformationen beruhte und kulturellen Wandlungen und die Studentenunruhen durch seine Veröffentlichung über westliche Medien im Westen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre für Irritationen in der SED selbst sorgte [-> Exper tise sowie durch die Prager Ereignisse im Jahre 1968 Jesse]. geprägt. 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Zweifellos stellten die Jahre 1976/77 für die Entwick- Laufe der achtziger Jahre ehemalige SED-Mitglieder, lung widerständigen und oppositionellen Verhaltens die entweder aus der Partei ausgeschlossen wurden einen besonderen Einschnitt dar. Die Ausbürgerung oder austraten, den neuen Friedens-, Umwelt- und Biermanns, der gegen Havemann verhängte Hausar- Menschenrechtsgruppen anschlossen. Auch dieser rest, die Verhaftungen und späteren Abschiebungen Problemkreis bedarf weiterer Untersuchungen. von Bahro, Jürgen Fuchs und anderen [—>Protokolle Nr. 67, 68] verdeutlichten unübersehbar, daß die SED- In den siebziger Jahren wurde innerhalb der opposi- Führung nicht gewillt war, Kritik an ihrer Politik tionellen Kreise zunehmend erkannt, daß die SED zu zuzulassen — unabhängig davon, ob sie das System Reformen nicht in der Lage war. Trotzdem konzen- als solches in Frage stellte oder systemimmanent trierte sich die Kritik zunächst weiter auf den „real blieb. Erhebliche Folgen hatte die Biermann-Ausbür- existierenden Sozialismus". Aber schon Mitte der gerung. Dabei ging es nicht nur um den spektakulären siebziger Jahre traten, wie wir heute wissen, immer Protest zahlreicher bekannter DDR-Schriftsteller und stärker Probleme in den Vordergrund, die nur durch -Künstler, von denen in den Folgemonaten viele die eine Systemüberwindung zu bewältigen waren. DDR verließen. Diejenigen, die trotz der Niederschla- Seit 1975 die KSZE-Schlußakte in Helsinki unter- gung des „Prager Frühlings" im Jahre 1968 noch an zeichnet und kurz darauf auch von der DDR ratifiziert die Reformfähigkeit des Systems geglaubt hatten, worden war, nahm die Zahl der Menschen in der DDR wurden desillusioniert. Zugleich schwächten die Ver- zu, die unter Berufung auf die Universalität der haftungen und die erste große Ausreisewelle nach Menschenrechte ihre individuellen Rechte einklagten dem Bau der Mauer das kritische Poten tial; jedoch — wenngleich das bei weitem nicht in dem Umfang begann sich auch eine Gegenkultur mit neuen kriti- geschah wie in anderen Ostblockstaaten. Eine deutli- schen Strömungen zu entwickeln. che Sensibilisierung war auch hinsichtlich der Dritte- Die Ereignisse in den Jahren 1976/77 wurden zum Welt-Problematik und vor allem der Umweltzerstö- Ausgangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung rung erkennbar, obwohl die Berichte des „Club of in verschiedenen Zirkeln kritischer Intellektueller. Im Rome" oder der vom US-Präsidenten Carter in Auf- Mittelpunkt stand die Frage, ob systemimmanente trag gegebene Bericht „Global 2000" in der DDR nie Reformen überhaupt noch denkbar wären bzw. wer veröffentlicht wurden. die Träger von Veränderungen in der DDR sein könnten. Vereinzelt wurden Gedanken entwickelt, Insbesondere aber wurde nach der Einführung des für die erst in den achtziger Jahren Formen der Wehrunterrichts, der Stationierung von SS-20-Rake- Umsetzung gefunden wurden: Wenn die SED und ihre ten und dem daraufhin erfolgten NATO-Doppelbe- Massenorganisationen sowie die Blockparteien keine schluß von 1979 die Friedensproblematik zum zentra- Basis für Reformen boten, konnte die Lösung nur darin len Thema der verschiedenen oppositionellen Kreise. liegen, „Opposition" außerhalb der bestehenden Entscheidende Impulse dazu kamen aus dem Raum Institutionen anzusiedeln sowie „Parallelstrukturen" der Evangelischen Kirche, in der dieses Thema schon und eine „zweite Öffentlichkeit" zu entwickeln. Für vorher — u. a. in ökumenischen Diskussionen — eine viele, die sich später in den oppositionellen Gruppen Rolle gespielt hatte. der achtziger Jahre wiedertrafen, war die Frage Ende Damit begann ein neues Kapitel des widerständigen der siebziger Jahre entschieden: zuungunsten der und oppositionellen Verhaltens in der DDR. In den SED sowie der von ihr gesteuerten Parteien und kritischen Kreisen wurden Themen diskutiert, die von Massenorganisationen. Eine detaillierte Erforschung der SED mit Tabus belegt waren. Eine eigenständige dieser Zusammenhänge steht noch aus. Oppositionskultur begann sich zu entwickeln, die In den für die Enquete-Kommission erarbeiteten verschiedene Wurzeln hatte. Expertisen wird die Frage, ob es innerhalb der SED Kräfte gegeben habe, die Reformen anstrebten, unter- schiedlich beantwortet. Einige Autoren weisen darauf hin, daß es Bestrebungen zur Veränderung des „real 3.5 Wehrdienstverweigerung, Friedensarbeit im existierenden Sozialismus" in der SED-Mitgliedschaft Raum der Kirche und die Bildung unabhängiger während der siebziger Jahre durchaus gab [-> Exper- Friedens- und Umweltgruppen tisen Kleßmann II, Otto]. Aus heutiger Sicht ist deut- lich, daß systemimmanente Kritik aufgrund der seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre kam den fünfziger Jahren im Sinne des „demokratischen es aus Kreisen der evangelischen Kirche zunehmend Zentralismus" verfestigten Parteistrukturen aus- zu kritischen Reaktionen auf verschiedene Maßnah- sichtslos gewesen ist [-> Exper tise Klein]. Eine Mas- men der SED-Führung, wobei besonders die Ausein- senbasis konnte innerkommunistische Dissidenz in andersetzung mit der sich verstärkenden Militarisie- der DDR nie erlangen [-> Expertise Kleßmann II]. Es rung im Bereich von Bildung und Erziehung eine muß festgestellt werden, daß zu keiner Zeit von einer große Rolle spielte [-3 Expertise Kukutz].Im Septem- organisierten Opposition innerhalb der SED mit dem ber 1978, kurz nachdem es zu Gesprächen führender Ziel tiefgreifender Reformen in Partei und Gesell- Vertreter der evangelischen Kirche mit Honecker schaft gesprochen werden kann. Es gab immer nur gekommen war, die zu einer Entspannung des Ver- vereinzelte Dissidenten oder isolierte Gruppen, die hältnisses von Staat und Kirche beitragen sollten, war sich gegen bürokratische oder repressive Maßnah- in der DDR der Wehrunterricht eingeführt worden. men wehrten und für begrenzte gesellschaftliche Seitdem hatten sich in vielen Kirchgemeinden Frie- Bereiche Veränderungen anstrebten [-> Expertise denskreise gebildet, in denen die staatlichen Maßnah- Otto]. Hervorzuheben ist aber, daß sich gerade im men diskutiert und kritisiert wurden. Diese Kreise Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 fanden auch wachsenden Zulauf von Menschen, die matisierte er „die deutsche Frage und die Überwin- vorher keine Beziehung zu den Kirchen hatten. dung der deutschen Teilung, die als Schlüssel zur Abwendung der atomaren Gefahr in Mitteleuropa Von besonderer Bedeutung war die offene und sozial- angesehen wurde" [-> Exper tise Bickhardt]. diakonische Jugendarbeit. Zu ihren Themenschwer- punkten gehörten die wachsende Militarisierung aller Umstritten war ein im „Offenen B rief" angedeutetes Bereiche der DDR-Gesellschaft. Das in christlichen alternatives Gesellschaftsmodell des demokratischen Basisgruppen ausgeprägt vorhandene pazifistische Sozialismus für Gesamtdeutschland, aber vor allem Gedankengut stand im Widerspruch zum staatlich die im „Offenen B rief" und im „Berliner Appell" verordneten Denken in Feindbildern und entlarvte die geforderte Herauslösung der beiden deutschen Staa- Erziehung zum Haß als gefährliche Absurdität. Seit ten aus den jeweiligen Machtblöcken. Es gab auch den sechziger Jahren hatten viele junge Männer — Stimmen, die sich gegen einen solchen Weg ausspra- überwiegend Christen — die Möglichkeit wahrge- chen, da er nicht zur Überwindung der Blockkonfron- nommen, als Bausoldat dem Wehrdienst mit der Waffe tation und zur Lösung der deutschen Frage führen auszuweichen, wenn sie nicht auch diesen Ersatz- würde [—> Gutzeit, Protokoll Nr. 68]. Allerdings war dienst ablehnten, der im militärischen Bereich gelei- der deutschlandpolitische Aspekt für die weiteren stet wurde und deshalb keine hinreichende Alterna- Diskussionen innerhalb der Friedensbewegung in der tive bot. In den achtziger Jahren entwickelte sich die DDR nicht bestimmend. Wehrdienstverweigerung zu einer stärker politisch motivierten Ausdrucksform widerständigen Verhal- Die neuen Friedensgruppen entstanden in der gesam- tens. ten DDR und nicht nur im Raum der Kirche. Als Beispiele können Leipziger und Dresdener Initiativen Im Mai 1981 stellten junge Christen, die sich zu einer genannt werden [-> Expertisen Dietrich, Jander), vor ve „Sozialer Friedensdienst" (SoFD) zusam- Initiati allem aber die „Friedensgemeinschaft Jena", die mengeschlossen hatten, die Forderung nach Einfüh- 1982/83 durch phantasievolle Aktionen auf öffentli- rung eines zivilen Ersatzdienstes anstelle des Bausol- chen Plätzen auffiel, bis sich die meisten ihrer Mitglie- datendienstes auf. Die Ini tiative organisierte eine der der, deren Unterstützung verschiedene kirchenlei- umfangreichsten Unterschriftensammlungen in der tende Vertreter der Thüringischen Landeskirche ent- DDR. Das geschah nicht ohne Risiko, galten solche schieden ablehnten, nach Inhaftierungen und Ab- Sammlungen, wenn sie nicht von der SED angeordnet schiebungen im Westen wiederfanden [—> Jahn, waren, doch als staatsfeindlich. Aufgrund der ableh- Reiprich, Protokoll Nr. 67]. nenden Reaktion des Staates nahm die Zahl der „Totalverweigerer", die auch den Bausoldatendienst 1982 gründeten Bärbel Bohley, Ul rike Poppe und ablehnten, ständig zu. Trotz zahlreicher Inhaftierun- Katja Havemann die Gruppe „Frauen für den Frie- gen und anderer Schikanen organisierten sie sich als den" . Unmittelbarer Anlaß war das neue Wehrdienst- eigenständige oppositionelle Gruppen. gesetz von 1982, wonach im Falle von Mobilmachung In den frühen achtziger Jahren wurde vor allem das für und „Verteidigungszustand" auch Frauen zur Natio- die Friedensdekaden der evangelischen Kirche ent- nalen Volksarmee eingezogen werden konnten. Der worfene Symbol „Schwerter zu Pflugscharen" zum SED-Machtapparat reagierte mit Festnahmen, Ver- Ausdruck einer breiten Protestbewegung gegen die haftungen und Hausdurchsuchungen auf die öffentli- Aufrüstung, das System der nuklearen Abschreckung chen Aktionen der Frauengruppe, die sich nicht als und die wachsende Militarisierung der Gesellschaft. eine kirchliche verstand, wohl aber Veranstaltungen Die Staatsmacht reagierte auf das Tragen dieses unter dem Dach der Kirche organisierte. „Die Kirche Symbols ausgesprochen aggressiv, ohne sich letztlich wurde von den Frauen von Anfang an als potentielle durchsetzen zu können. In der Bundesrepublik und im Verbündete angesehen, jedoch weniger die Kirche als Ausland wurde „Schwerter zu Pflugscharen" zum Institution als ihre friedensbewegten Kreise und ein- Synonym für die sich in der DDR herausbildende zelne engagierte Pastorinnen und auch kirchenlei- unabhängige Friedensbewegung. Für viele Men- tende Mitarbeiter" . [- > Expertise Kukutz] schen in der DDR offenbarte sich in der unnachgiebi- Für die genannten Gruppierungen gilt wie für viele gen Haltung des Staates die Widersprüchlichkeit der andere, daß sie konventionelle und atomare Aufrü- von der SED immer wieder propagierten Friedenspo- stung im sowje tischen Machtbereich ebenso kritisier- litik. ten wie in Westeuropa und in den USA. Dabei wurden Besondere Aufmerksamkeit fand der „Berliner Ap- sie von der westlichen Friedensbewegung inspiriert, pell", den Rainer Eppelmann und Robert Havemann ohne jedoch die Einäugigkeit weiter Teile der west- im Januar 1982 gemeinsam formuliert hatten. Wenige deutschen Friedensbewegung zu übernehmen. Die Wochen vorher hatte Havemann in einem „Offenen Friedensgruppen in der DDR hatten neben der Forde- Brief " an Breshnew, der — ein Novum — von Deut- rung nach Abrüstung immer auch den Anspruch, die schen aus West und Ost unterzeichnet worden war, politische Situation in der DDR zu verändern. Nach das Tabuthema der deutschen Teilung angesprochen. vollzogener Nachrüstung in West und Ost verfielen sie Für den „Berliner Appell" wurden innerhalb weniger nicht in Resignation, sondern wandten sich verstärkt Monate Tausende von Unterschriften gesammelt. Er anderen Themenschwerpunkten wie der Umweltpro- ist auch in der Bundesrepublik verbreitet worden, u. a. blematik und den Menschenrechten zu. Die in dieser von den Bundestagsabgeordneten Pe tra Kelly und Zeit zahlreich entstandenen Umweltgruppen, z. B. die Gert Weißkirchen. B risant wurde der Appell vor allem Umweltbibliothek in Berlin, haben sich ihrerseits wegen seiner politischen Zuspitzung: Im Unterschied immer bemüht, ihr besonderes Anliegen in den poli- zu anderen Erklärungen der Friedensbewegung the- tischen Gesamtzusammenhang zu stellen. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die meisten Friedens- und Umweltgruppen haben die vanten Teils der Grünen bleibt „ein unverzichtbarer Zusammenarbeit über die Blockgrenzen hinaus Bestandteil der Geschichte der Opposi tion in der gesucht, wobei sich die Kontakte meist auf kleine DDR". [-> Gutachten Weißhuhn für Bündnis 90/ Personenkreise oder Einzelpersonen beschränkten. Grüne] Außerdem blieben die Besuche oft auf Ost-Berlin begrenzt, so daß manche Gruppen erheblich besser mit Informationen versehen wurden, was gelegentlich 3.6 Ostmitteleuropäische Einflüsse und die zu Unstimmigkeiten führte [-> Meckel, Protokoll Vernetzung der oppositionellen Gruppen Nr. 68]. Eine Kontinuität solcher politischen Kontakte konnte wegen der meist auf Betreiben des MfS Mit den reformsozialistischen Bestrebungen 1967/68 verhängten Einreiseverbote für westliche Besucher in der damaligen CSSR setzten intensive Diskussio- nur in seltenen Fällen erreicht werden. Zudem blieb nen über einen möglichen gesellschaftlichen Umbau die Zahl der Begegnungen mit westdeutschen Politi- der diktatorisch-zentralistischen Strukturen der Ost- kern, die dem Einreiseverbot nur in Ausnahmefällen blockstaaten ein. Die Vorstellung von der Demokrati- unterlagen, unter den Erwartungen der oppositionel- sierung ohne grundlegende Veränderung der Besitz- len Kreise. Solche Verbindungen werden heute auch verhältnisse — allenfalls wurde über bescheidene von den daran Beteiligten im Rückblick als „recht marktwirtschaftliche Elemente als Ergänzung der bescheiden" eingestuft [-> Gutachten Knabe für sozialistischen Planwirtschaft nachgedacht — prägte Bündnis 90/Grüne]. Das lag an den spezifischen das Denken vieler Intellektueller in Ost und West. innerdeutschen Verhältnissen, insbesondere daran, Anhänger solcher Auffassungen östlich des Eisernen daß die etablierten Parteien in der Bundesrepublik die Vorhangs sahen sich durch die zur gleichen Zeit im Bedeutung der Opposition in der DDR unterschätzten. Westen stattfindenden Studentenrevolten bestärkt. Es gab Vorbehalte gegenüber den Oppositionellen, Um so ernüchternder war für sie der Einmarsch der die „aus emanzipatorischen und antikapitalistischen Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR im Wurzeln" kamen und eher eine Reform des „real August 1968. existierenden Sozialismus" als ein marktwirtschaftli- ches System anstrebten, aber auch gegenüber sol- Dennoch hat der gescheiterte „Prager Frühling" nicht chen, die Fundamentalkritik am SED-Regime übten nur zum Verlust bzw. zur Relativierung reformsoziali- [-> Gutachten Weißhuhn für Bündnis 90/Grüne]. Ein- stischer Vorstellungen geführt. Darüber hinaus war zelne Politiker aus allen bundesdeutschen Parteien der Protest gegen die Interven tion für viele Menschen, bemühten sich in den siebziger und achtziger Jahren die sich ihm anschlossen, auch ein Ausgangspunkt für um Kontakte zu oppositionellen Kreisen und beson- späteres oppositionelles Handeln, in der DDR ebenso ders zu leitenden Vertretern der Evangelischen Kir- wie in den ostmitteleuropäischen Staaten [—>Protokoll che in der DDR, die für sie als die kompetenten Nr. 47]: „Der Prager Reformversuch lehrt zweierlei — Ansprechpartner galten [-> Gutachten Knabe für erstens, daß die Sowjetunion ihre Hegemonie in Bündnis 90/Grüne]. Mittel- und Osteuropa nach wie vor mit Gewalt durchzusetzen bereit ist (mit stillschweigender Zu- Die intensivsten Kontakte zu den Oppositionsgruppen stimmung des Westens, der die politische Spaltung entwickelten „Die Grünen". Zwischen ihnen bestan- Europas hingenommen hat), wenn sie ideologisch und den inhaltliche Übereinstimmungen in der Friedens- politisch ihre Führungsrolle bedroht sieht; und zwei- und Umweltthematik. Dennoch war das Verhältnis tens, daß das politische Subjekt von Veränderungen der Gruppen zu den Grünen wegen ihrer wider- künftig nicht mehr die Partei sein kann, diese vielmehr sprüchlichen Konzeptionen im Umgang mit der SED von einer sich selbst organisierenden Gesellschaft ambivalent. Eine Minderheit in der Partei, zu der Petra getragen werden müssen" [—P Exper tise Mehlhorn]. Kelly gehörte, hatte die Bedeutung der Menschen- Zu untersuchen bleibt, warum die späteren DDR- rechtsfrage für die DDR-Opposi tion erkannt und enge Bürgerrechtler diese ohne weiteres einleuchtende Beziehungen zu den Gruppen geknüpft. Dieser Teil Lektion erst so lange Zeit nach ihren potentiellen der Grünen förderte und unterstützte durch seine Verbündeten in Warschau, Prag und Budapest gelernt Aktivitäten die Konsolidierung der oppositionellen haben. Gruppen in der DDR und ihre blockübergreifenden Dort hatte sich — getragen von verschiedenen Grup- Initiativen [-> Exper tise Kukutz]. Erhebliche Auf- pen und Einzelpersönlichkeiten — schon in den frü- merksamkeit erregte bereits im Mai 1983 eine Aktion hen siebziger Jahren eine „antitotalitäre Strategie", von Abgeordneten der Grünen auf dem Berliner verbunden mit „ethischen Imperativen" und unter Alexanderplatz. Wenige Tage nach dem Treffen einer Verzicht auf eine vordergründige politische Program- Delegation der Grünen mit E rich Honecker sollte am matik, entwickelt. Nicht zu lügen, öffentlich zu han- 4. November 1983 eine gemeinsame öffentliche deln und miteinander solidarisch zu sein, waren Aktion von Grünen und unabhängigen DDR-Frie- einige der selbstgestellten Aufgaben dieser Kreise. densgruppen in Ost-Berlin stattfinden, die vom MfS Davon konnten sich kirchliche Gruppen, beispiels- mit großem Aufwand verhindert wurde. Solche Ver- weise von der „Aktion Sühnezeichen", bei ihren suche wurden von großen Teilen der Grünen heftig Begegnungen mit entsprechenden polnischen Grup- kritisiert, weil sie dadurch ihr Verhältnis zur SED pen überzeugen. In Polen gab es schon zu dieser Zeit belastet sahen. Trotz derar tiger Widersprüche unter- enge Verbindungen zwischen einer aktiven Opposi- schieden sich die Grünen, was die Intensität ihrer tion und der katholischen Kirche. Beziehungen zur DDR-Opposi tion wie auch deren- Auswirkungen betraf, wesentlich von den anderen Die grundlegenden Impulse der ostmitteleuropäi westdeutschen Parteien. Das Engagement eines rele schen Oppositionsbewegungen für die spätere Ent- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 wicklung kritischen und oppositionellen Handelns in und tschechischen Ideen zur Beendigung der deut- der DDR lassen sich schon zu Beginn der Entspan- schen Teilung als Grundvoraussetzung für das Ende nungspolitik Ende der sechziger und Anfang der der Teilung Europas sein. siebziger Jahre nachweisen. Insbesondere nach der Die Frage, ab wann in der DDR von einer Bürger- Ratifizierung der Helsinki-Schlußakte eröffneten sich rechtsbewegung oder von einer aktiven Opposi tion im Ostblock mehr Möglichkeiten, die bestehenden gesprochen werden kann, wurde sowohl in den dies- Zustände öffentlich zu kritisieren. Unter Berufung bezüglichen Anhörungen der Enquete-Kommission insbesondere auf Korb 3 der KSZE-Vereinbarungen, als auch in den vorgelegten Expertisen kontrovers der die Unterzeichnerstaaten zur Umsetzung elemen- beantwortet. Einerseits wird darauf verwiesen, daß tarer Menschenrechte verpflichtete, bildeten sich bereits die blockübergreifenden Aktivitäten der Frie- zunächst in Ostmitteleuropa Bürgerrechtsgruppen. dens- und Ökologiegruppen der frühen achtziger Von besonderer Bedeutung war die Gründung der Jahre nicht mehr nur auf eine Reform des Sozialismus „Charta 77" in der CSSR und des „Komitees zur abzielten, sondern bereits in grundlegende systemkri- Verteidigung der Arbeiter" (KOR) in Polen. Ahnliche tische Ansätze mündeten. Insbesondere ist in diesem Zusammenschlüsse entstanden auch in Ungarn und in Zusammenhang auf den „Berliner Appell", die „Frie- der Sowjetunion. Damit wurde die „Menschenrechts- densgemeinschaft Jena", die „Frauen für den Frie- etappe" eingeleitet, „die sich in den siebziger und den" zu verweisen [-> Expertisen Bickhardt, Kukutz]. achtziger Jahren para llel zur Entfaltung des Helsinki Andererseits wird davon ausgegangen, daß sich die Prozesses entwickelte. Einerseits brachen die opposi- Friedensgruppen allenfalls „politisierten" [-> Exper- tionellen Gruppen mit der Ideologie des Systems, tise Jander], daß aber bis zum Herbst 1989 von einer andererseits konzentrierten sie ihre Tätigkeit auf die Opposition in der DDR nicht die Rede sein kann, weil Kritik der Verletzung menschlicher Würde und bür- die Gruppen und Initiativen lediglich eine mehr oder gerlicher Rechte durch die jeweilige Diktatur" . [-> Ex- weniger radikale, immer aber systemimmanente Kri- pertise Dalos] tik am „real existierenden Sozialismus" geübt hätten Allerdings führte die Entspannungspolitik auch zu [-> Expertise Jesse]. einer gegenläufigen Tendenz, von der oppositionelle Offen bleiben auch Fragen zum komplizierten Ver- troffen waren als in Strömungen in der DDR stärker be hältnis zwischen den sich zunehmend kritischer zum Ostmitteleuropa. Die Verträge zwischen der Bundes- Staat verhaltenden Gruppen und der Kirche als Ins ti republik und der Sowjetunion sowie der DDR hatten tion. Bereits mit den Auftritten der „Frauen für den-tu neben den positiven Wirkungen eine stärkere Akzep- Frieden" entwickelten sich Spannungen zwischen der tanz des Status quo und für das SED-Regime eine Kirche und den Gruppen, die in der zweiten Hälfte der gewisse Herrschaftslegitimierung zur Folge (s.o.). Die achtziger Jahre eher zu- als abnahmen. Die Spannun- Mehrheit innerhalb der politischen Parteien in der gen resultierten u. a. aus dem Bemühen von Teilen der Bundesrepublik gelangte verstärkt zu der Auffassung, Kirchenleitungen wie auch etlicher Pfarrer und daß eine ernstzunehmende Opposition gegen den Gemeindekirchenräte, Konflikte mit der SED sowie Kurs der SED-Führung in erster Linie aus der SED mit der Staatsführung zu vermeiden [-> Exper tise selbst kommen müsse. Die Folge davon war, daß in Templin/Werner/Ebert]. Es bedarf deshalb noch den siebziger und frühen achtziger Jahren im Westen gründlicherer Untersuchungen, inwieweit die evan- die Entstehung kritischer Gruppen außerhalb der SED gelische Kirche Schutzraum für die sich in den acht- weitgehend unbeachtet blieb [-p Exper tise Bick- ziger Jahren in der DDR entwickelnde Opposi tion hardt]. Immer geringere Beachtung fand dadurch war, aber auch inwieweit deren Bestrebungen seitens auch der „alltägliche Widerstand, die alltägliche kirchenleitender Personen oder kirchlicher Mitarbei- on vieler unbekannter Menschen". [-> Exper- Oppositi ter mit welchen Mitteln und in wessen Auftrag unter- tise Kowalczuk] laufen wurden. Auch der Frage, ob die SED gezielt Eine Katalysatorfunktion hatten zweifellos die Ereig- Freiräume unter dem Dach der Kirche zugelassen hat, nisse in Polen am Ende der siebziger Jahre und vor um dadurch oppositionelle Bestrebungen wirksamer allem die Gründung der Gewerkschaft „Solidarnosc" kontrollieren und öffentliche Aktionen im Ansatz im Jahre 1980. Ihr Entstehen stärkte das Selbstver- verhindern zu können, muß noch nachgegangen wer- trauen oppositioneller Kräfte im gesamten Ostblock den [-> Expertise Templin/Werner/Ebert]. se Mehlhorn]. Verstärkt kam es nun auch H Experti Inwieweit der innerkirchliche Diskussionsprozeß, der zu engeren Verbindungen einzelner Oppositioneller an Heftigkeit in den siebziger und achtziger Jahren der DDR mit ostmitteleuropäischen Dissidenten, zunahm, widerständiges und oppositionelles Verhal- wobei Kontakte wegen der rigiden Reiseverbotspraxis ten förderte, ist ein weiteres, durch die Forschung zu der SED bzw. des MfS oftmals nur indirekt (über klärendes Problem. Dritte) möglich waren. Von den praktischen Erfahrun- gen sowie den ethisch-poli tischen Ansprüchen ostmit- Zweifellos bedeutete die Ende 1985/Anfang 1986 teleuropäischer Dissidenz konnten die Gruppen in der erfolgte Gründung der „Initiative Frieden und Men- DDR nur profitieren. Dabei ging es kaum noch um schenrechte " (IFM) einen wich tigen Einschnitt in der Reformmöglichkeiten des Sozialismus, dafür sehr viel Geschichte der DDR-Opposition, zumal sie erstmalig häufiger um „Debatten über deutschland- und euro- in aller Offenheit die von Ostmitteleuropa ausgehen- papolitische Fragen" (vgl. beispielsweise die Debatte den Impulse aufnahm, sich beispielsweise in ihren zum „Prager Appell" 1985), die zu einem „Feld des ersten Erklärungen bewußt an die Verlautbarungen gegenseitigen Lernens und des Erfahrungsaustau-- der „Charta 77" anlehnte. Die Gruppe konstituierte sches" wurden [-> Expertise Mehlhorn]. Sehr anre- sich bewußt außerhalb der Kirche. Sie ging in mehre- gend und aufschlußreich konnten u. a. die polnischen ren Erklärungen weit über systemimmanente Forde- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode rangen hinaus. Im Grunde diente der Übergang zur Besuchs 1987 in Bonn rein taktischer Natur war. Das institutionalisierten Menschenrechtsarbeit der For- hatte zur Folge, daß in programmatischen Erklärun- mierung einer offenen Opposi tion [-> Expertisen Bick- gen verschiedener Gruppen immer häufiger von hardt, Eckert II, Kowalczuk). In diesem Zusammen- Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlich- hang muß auch die Herausgabe i llegaler Zeitschriften keit die Rede war. Inzwischen begannen Antragsteller nach dem Vorbild des ost- und ostmitteleuropäischen auf Ausreise aus der DDR, sich in Selbsthilfegruppen „Samisdat" genannt werden. Z. B. wurden der wie der „Arbeitsgruppe für Staatsbürgerschaftsrecht" „Grenzfall" (von der IFM herausgegeben) und die zu organisieren und Kontakte zu oppositionellen „Umweltblätter" (von der Berliner Umweltbibliothek Gruppierungen zu suchen [-> Expertise Eckert II; herausgegeben) ab 1986 in der ganzen DDR in Aufla- Protokoll Nr. 69]. Der Macht- und Disziplinierungsap- genhöhen von jeweils monatlich ca. 1 000 Exempla- parat der SED reagierte auf diese Entwicklung verun- ren verbreitet. sichert.

Immer intensiver wurden seit Anfang der achtziger Während eines in unmittelbarer Nähe der Berliner Jahre die Versuche DDR-weiter Vernetzung, von Mauer im Westteil Berlins im Juni 1987 stattfindenden denen nur einige exemplarisch genannt werden sol- Konzerts kam es auf der Ostseite zu heftigen Ausein- len: das Netzwerk „Frieden konkret", die „Solidari- andersetzungen zwischen Jugendlichen sowie der sche Kirche", die mobilen Friedensseminare in Vippe- Polizei und der Staatssicherheit. Dies war „ein nicht zu row und andernorts, die überregional wirksamen übersehender Ausdruck für die sich verändernde Umweltbibliotheken in Berlin, Dresden, Leipzig, Stimmungslage" in Teilen der Bevölkerung. Im Zwickau, das ökologische Netzwerk „Arche", die November 1987 spitzte sich die Auseinandersetzung „Kirche von unten", der überregionale Zusammen- zwischen der Staatsmacht und der sich formierenden schluß der Wehrdienstverweigerer [-> Expertisen Opposition zum ersten Mal deutlich zu, als das MfS die Bickhardt, Eckert II, Jander]. Räume der Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde Eine Gemeinsamkeit vieler Aktivitäten oppositionel- in Ost-Berlin durchsuchte und mehrere ihrer Mitar- ler Gruppierungen in der zweiten Hälfte der achtziger beiter verhaftete [—>Exper tise Dietrich]. Das führte zu Jahre lag darin, daß sie über den kirchlichen wie den einer DDR-weiten Solidarisierung mit den Verhafte- lokalen bzw. regionalen Rahmen, mitunter auch über ten und machte die Existenz oppositioneller Bestre- die Landesgrenzen hinausreichten. Das im letzten bungen, insbesondere über die westlichen Medien, Jahrzehnt der DDR entstandene Netz oppositioneller allgemein publik [-> Expertise Jander]. Besonders Gruppierungen war eine der entscheidenden Voraus- bemerkenswert waren die tagelang stattfindenden setzungen für ihre bis zum Herbst 1989 zunehmende Mahnwachen vor der Zionskirche. Damit wurde die Handlungsfähigkeit. Opposition auch für die Berliner Bevölkerung, die sich teilweise spontan solidarisierte, sichtbar. Nach eini- gen Tagen erfolgte die Freilassung der Inhaftierten.

3.7 Vorboten des Untergangs des SED-Regimes Schon wenige Wochen später holte der Machtapparat der SED zum nächsten Schlag gegen die Opposi tion Die SED-Führung geriet durch den unter den Schlag- aus, indem er am 17. Januar 1988 als Reaktion auf die worten „Glasnost" und „Perestroika" zusammenge- Beteiligung von mehr als 100 Ausreisewilligen und faßten reformerischen Trend in der Sowjetunion unter einigen Mitgliedern von Oppositionsgruppen mit massiven Druck. Selbst innerhalb der herrschenden eigenen Transparenten an der offiziellen „Kampfde- Partei wuchs die Unzufriedenheit mit der Führung, monstration" für Rosa Luxemburg und Karl Lieb- deren Reaktionen nur noch aus „panischen Abgren- knecht die Ausreisewilligen und Oppositionellen ver- zungsmanövern" von den Maßnahmen der sowjeti- haftete [-> Expertise Jesse]. Acht Tage später wurden schen Führung bestanden [—>Expertise Klein]. Durch mehrere Mitglieder der „Ini tiative Frieden und Men- den „frischen Wind" aus dem Osten ermutigt, agier- schenrechte" in einer Nacht- und Nebelaktion des ten die oppositionellen Gruppierungen mit einem MfS verhaftet und nach tagelanger „Bearbeitung" deutlich gewachsenen Selbstbewußtsein. Sie themati- durch das MfS zur zeitweiligen bzw. ständigen Aus- sierten vor allem die „defizitären Freiheits- und Men- reise genötigt. Während ihrer Inhaftierung kam es fast schenrechte" . Im Raum und im Umfeld der Kirchen täglich zu Fürbittgottesdiensten von mitunter mehre- nahmen politische Aktivitäten kirchlicher und nicht- ren tausend Menschen in verschiedenen Ber liner kirchlicher Gruppen zu. Die Netzwerke der Gruppen Kirchen und darüber hinaus zu Solidaritätsaktionen in wurden ausgebaut, mittels der immer zahlreicher mehr als 25 Städten der DDR sowie in der Bundesre- werdenden selbstverlegten Zeitschriften ist zudem publik und im Ausland. nach und nach eine Gegenöffentlichkeit organisiert worden [-> Expertisen Bickhardt, Eckert II]. Die Unter dem Dach der Kirche fanden sich immer mehr „Kommunikation zwischen den Gruppen in der gan- Menschen zusammen, die bis zu diesem Zeitpunkt zen DDR wurde eigenständiger und engmaschiger". weder Kirchen aufgesucht noch sich politisch enga- [-> Expertise Dietrich] Auch die öffentliche Resonanz giert hatten [-> Expertise Eckert II]. Die Protestbewe- auf die Forderungen wuchs, so daß das Vorhaben, gung führte auch zu verstärkten Aktivitäten eines eine „Gegenmacht gegenüber der SED" zu struktu- großen Teils der Ausreisewilligen [—>Exper tise rieren, nicht mehr völlig illusionär erschien [—>Exper- Hertle]. Durch die Abschiebung der verhafteten Re- tise Bickhardt]. gimekritiker kam es zu einer kritischen Situa tion für die oppositionellen Kreise, die bei einigen Resigna- Immer offenkundiger wurde, daß die spärlich ange- tion bewirkte, andere aber veranlaßte, neue Formen deutete „Liberalisierung" im Vorfeld des Honecker- von Aktivitäten zu entwickeln. Die Brüchigkeit des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Herrschaftssystems der SED war für viele Menschen Die „Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) unübersehbar geworden. beschloß im März 1989 eine Ausweitung ihrer bislang auf Berlin beschränkten Aktivitäten, um damit zur Die SED-Führung setzte aus Furcht vor weiteren DDR-weiten Vernetzung der Gruppen sowie zur Ver- Reaktionen in der DDR und im Ausland nun mehr auf besserung des Information- und Kommunikationsge- die „soziale Repression und die Isolierung von Oppo- füges beizutragen. Von der IFM und einigen anderen sitionskernen" als auf großangelegte Verhaftungsak- Gruppen wurden insbesondere die Demokratisierung tionen [—>Expertise Templin/Werner/Ebert]. In Leip- und die Umgestaltung der Gesellschaft sowie die zig sollte diese Methode dazu dienen, die Ausreisean- Herstellung von Öffentlichkeit gefordert. Im gleichen tragsteller von den oppositionellen Gruppierungen zu Zeitraum erregten Leipziger Gruppen durch ihre trennen, um ihre engere Vernetzung zu verhindern Aktivitäten, die trotz etlicher Verhaftungen nicht [-> Expertiserich]. Diet Hinter solcher Vorgehens- einzudämmen waren, erhebliches Aufsehen [-> Ex- weise stand die Absicht, die Netzwerke und unabhän- pertise Dietrich]. gigen Gruppen zu schwächen sowie die Bildung einer geschlossen agierenden Opposition zu verhindern Landesweite Aufmerksamkeit und wachsende Aner- [-> Expertise Bickhardt]. Als schließlich auch in Leip- kennung in der Bevölkerung verschafften den Oppo- zig mehrere Oppositionelle verhaftet wurden, setzte sitionsgruppen die Ereignisse im Zusammenhang mit erneut eine DDR-weite Solidarisierungswelle ein. Die den Kommunal-„Wahlen" vom 7. Mai 1989. In meh- verstärkte Solidarisierung mit Verhafteten und Aus- reren Städten der DDR hatten die Gruppen dazu gewiesenen kann als Indikator für ein gestärktes aufgerufen, die Auszählung der Stimmen in den oppositionelles und widerständiges Verhalten be- örtlichen Wahllokalen zu beobachten und die eigene zeichnet werden [-p Expertise Jander]. Zählung mit den offiziellen Ergebnissen zu verglei- chen. Es wurde eine der „wenigen erfolgreichen Trotz ihres weit ausgebauten Sicherheitsapparates oppositionellen Aktionen". [-> Expe rtise Bickhardt] war die SED-Führung nicht mehr in der Lage, die Erstmals konnte der Vorwurf der Wahlfälschung nicht öffentlichen Aktionen zu verhindern und zu kontrol- nur behauptet, sondern auch konkret nachgewiesen lieren. Das zeigte sich erneut, als es im Herbst 1988 werden. Dadurch wurde deutlich, daß ein nicht uner- wegen der Zwangsrelegierung von Schillern der Ber- heblicher Teil der DDR-Einwohner nicht mehr bereit liner „ Carl-von-Ossietzky " -Schule, die sich kritisch war, sich dem von der SED geforderten Zustimmungs- zur Situation in Polen und in der DDR geäußert hatten, ritual zu unterwerfen. zu heftigen Protesten kam [-> Exper tise Fischer; Protokoll Nr. 31]. Um in der Öffentlichkeit stärker wirksam werden zu können, mußten die oppositionellen Gruppierungen zu demonstrativen Aktionen außerhalb der kirchli- chen Schutzräume übergehen. Das geschah nunmehr 4. Die friedliche Revolution 1989/90 am 7. eines jeden Monats mit Aufrufen zu Demonstra- tionen als Zeichen des Protestes gegen die Wahlma- Die friedliche Revolution 1989/90 in der DDR führte nipulationen. Obwohl die Teilnehmerzahlen zunächst zum Sturz der SED-Diktatur und schuf damit die noch gering waren, zeigten die Aktionen das wach- Möglichkeit, in freier Selbstbestimmung die deutsche sende Selbstbewußtsein oppositioneller Kräfte. Einheit zu verwirklichen. Voraussetzungen dieser Umwälzung waren die grundlegenden Veränderun- Die SED-Führung befürchtete, daß der Funke der gen der internationalen Rahmenbedingungen in Auflehnung auf die Bevölkerung überspringen Europa, die eine Durchsetzung des demokratischen könnte. Indem die Einheitspartei ihre unverhohlene Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen in der DDR Sympathie für das Massaker an chinesischen Studen- ermöglichten, sowie eine kontinuierliche Politik der ten, Arbeitern und Intellektuellen auf dem Tianan- Bundesrepublik, mit der die deutsche Frage, die seit men-Platz in Peking — vor allem durch die Erklärung dem Herbst 1989 wieder auf der Tagesordnung der der Volkskammer vom 8. Juni und die demons trative internationalen Politik st and, offengehalten wurde Krenz-Reise zur chinesischen Führung Anfang Okto- [-> Expertise Jäger]. Die einzelnen Faktoren und ber — zum Ausdruck brachte, ließ sie keinen Zweifel Umstände dieser Entwicklung lassen sich bisher nur daran, Opposition und Widerstand in der DDR auch vorläufig beschreiben. Viele Ereignisse sind in ihren weiterhin bedingungslos unterdrücken zu wollen. Die Wirkungen und Wechselwirkungen noch nicht ein- offizielle Reaktion der SED auf die Vorgänge in China deutig zu bewerten. Es besteht noch ein erheblicher war eine gezielte Warnung an die eigene Bevölkerung Forschungsbedarf. und wurde von dieser auch als solche aufgefaßt. Die Proteste oppositioneller Gruppierungen gegen das Innerhalb der Opposition hatte sich Anfang 1989 die Massaker zeigten allerdings, daß diese sich durch die Erkenntnis durchgesetzt, daß die bestehenden Grup- Drohgebärden des SED-Regimes nicht beeindrucken pen zu verbindlicheren Strukturen gelangen müßten, ließen. um in der Auseinandersetzung mit dem Staat beste- hen zu können [-> Expertise Eckert II]. Unterschiedli- Am Rande eines Kolloquiums, das am 21./22. Juni che Überlegungen hinsichtlich neuer Organisa tions- 1989 in Berlin stattfand und an dem Vertreter von formen wurden angestellt. Die stärkere Vernetzung Gruppen aus der ganzen DDR teilnahmen, kam es zu der bestehenden Gruppierungen ist gefordert, über Gesprächen zwischen den späteren Initiatoren des die Gründung von Vereinigungen und Parteien disku- „Neuen Forum" und des „Demokratischen Auf- tiert worden—im Februar 1989 erstmals auch über die bruch", in denen es um verschiedene für den August Neugründung einer sozialdemokratischen Partei. und September geplante Aktivitäten, aber auch um Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode die Möglichkeit einer gemeinsamen Initiative ging. Nunmehr wurde endgültig klar, daß die SED-Führung Die Opposition war in ihre konkrete Formierungs- „nicht mehr in der Lage war, das Ausreiseproblem im phase eingetreten. Am 24. Juli 1989 entstand der Sinne ihrer Abgrenzungsdoktrin zu beherrschen". Aufruf zur Bildung einer „Initiativgruppe zur Grün- [—> Expertise Fischbeck] Die „Abfolge von Botschafts- dung einer Sozialdemokratischen Partei". In diesem besetzungen in Budapest, Prag und Warschau mit Aufruf wurde die Besei tigung des Führungs- und anschließender Entlassung der Flüchtlinge in den Machtanspruchs der SED zur Voraussetzung für eine Westen und gleichzei tiger Schließung der Grenzen zu Demokratisierung erklärt. Als politische Zielvorstel- den sozialistischen Bruderländern durch Einführung lungen wurden Rechtsstaat, Gewaltenteilung, parla- der Visumspflicht" offenbarte die Konfusion und mentarische Demokratie, eine föderale Struktur durch Handlungsunfähigkeit der DDR-Führung. Sie „be- Wiedererrichtung der Länder sowie eine soziale stimmte den Zeitplan mit, der für das Ende der DDR Marktwirtschaft mit ökologischer Orientierung ange- galt" . [-> Expertise Schumann] Die „Abstimmung mit geben. den Füßen" wurde vor a ller Welt zum deutlichen Signal für das tatsächliche Ausmaß der Staatskrise in Aufgrund der immer offenkundiger zutage tretenden der DDR, zugleich wurde sie mehr als je zuvor als eine Unfähigkeit der SED-Führung, mit den wachsenden Ausdrucksform widerständigen Verhaltens verstan- gesellschaftlichen Problemen in der DDR fertigzuwer- den [---p Expertise Jesse]. den, und der damit verbundenen Perspektivlosigkeit hatte die Zahl der Antragsteller auf Entlassung aus der In den internationalen Verhandlungen zur Lösung der DDR-Staatsbürgerschaft im Jahre 1989 drastisch Flüchtlingsprobleme in Polen, Ungarn und der Tsche- zugenommen. Die Zahl derjenigen, die ihren Ausrei- choslowakei akzeptierte die Sowjetunion, daß die seantrag wiederholten, war bereits seit der Verord- Bundesregierung treuhänderisch für die Deutschen nung über die Ausreise von DDR-Bürgern vom 30. No- aus der DDR aktiv wurde, die sich mit ihrer Flucht um vember 1988, wonach im Falle der Ablehnung binnen ihren Schutz bemühten. Die SED-Führung mußte zur sechs Monaten erneut ein Ausreiseantrag gestellt Kenntnis nehmen, daß nicht mit der DDR, sondern werden konnte, angestiegen. Inzwischen wurde auch über sie verhandelt wurde [–> Expertise Hertle]. die nachgewiesene Manipula tion der Kommunal- „Wahlen" häufig zur Antragsbegründung herangezo- Parallel zur Flucht- und Ausreisebewegung setzte sich gen. Sie trug damit zur Forcierung der Ausreisewelle der Formierungsprozeß der oppositionellen Gruppen bei, die vom Staat schließlich nicht mehr aufzuhalten verstärkt fort, die im Gegensatz zu den Initiativgrup- war [-> Expertise Schumann]. Die totale Verkennung pen der Ausreisewilligen darauf bestanden, in der der außen- und innenpolitischen Situation der DDR DDR zu bleiben, um die bestehenden Verhältnisse vor seitens der SED-Führung wurde in ihrem Umgang mit Ort zu verändern. Im August und September 1989 der Ausreiseproblematik offenkundig. So ist die Rei- traten vier neue Gruppierungen erstmals in die severordnung von 1988 nur halbherzig in die Praxis Öffentlichkeit: umgesetzt worden. Die inneren Spannungen in der DDR nahmen zu, ohne daß die SED angemessen zu — Ende August wurde die „Ini tiative zur Gründung reagieren vermochte. Die Unsicherheit über die wei- einer Sozialdemokratischen Partei" (SDP) öffent- tere Entwicklung entlud sich im August 1989 in einer lich bekannt. Fluchtwelle, die die Ständige Vertretung der Bundes- — Das „Neue Forum" (NF) veröffentlichte nach sei- republik bei der DDR sowie die westdeutschen Bot- ner Gründungsversammlung am 9. September schaften in Budapest, Prag und Warschau zum Ziel- einen Aufruf, mit dem ein demokratischer Dialog punkt hatte und zur partiellen Umfunktionierung der in Gang gebracht werden sollte. Diesen Aufruf diplomatischen Vertretungen in Flüchtlingslager unterschrieben etwa zweihunderttausend Bürge- führte. Die Einschränkung des M andats des DDR- rinnen und Bürger, was sowohl die tiefe gesell- Unterhändlers und Rechtsanwalts Vogel, der nur noch schaftliche Krise offenbarte, in der sich die DDR Straffreiheit für rückkehrwillige Flüchtlinge zusichern befand, als auch den zunehmenden Widerstand durfte, vermochte die Fluchtbewegung ebensowenig gegen das SED-Regime [-p Exper tise Wielgohs]. aufzuhalten wie das zunächst deutliche Interesse der Bundesregierung an einer Beruhigung der Situa tion — Der Aufruf von „Demokratie Jetzt" (DJ) vom [-> Expertise Hertle]. 12. September knüpfte an die Proteste gegen die Wahlfälschungen an und nannte als zentrales Ziel Zur Ermöglichung der Ausreise von Tausenden von eine Reform des Wahlrechts; diese sollte Wahlfrei- Flüchtlingen in die Bundesrepublik hat das Verhalten heit und Wahlgeheimnis gewährleisten und es den der ungarischen Regierung wesentlich beigetragen: Wählern ermöglichen, sich zwischen verschiede- Nach Gesprächen mit der Bundesregierung am nen politischen Programmen und deren Vertretern 25. August 1989 in Bonn setzte Budapest das Reiseab- zu entscheiden. kommen mit der DDR samt Geheimprotokoll außer Kraft. Im Gegenzug hatte die Bundesregierung — Die Initiatoren des „Demokratischen Aufbruch" Ungarn politische Hilfestellung beim angestrebten (DA), der am 1. Oktober gegründet wurde, stellten EG-Beitritt zugesagt. Die Öffnung der ungarisch- sich am 14. September in einem Flugblatt als Teil österreichischen Grenze am 11. September 1989 der politischen Opposition vor. manifestierte praktisch den Verfall der sowje tischen Hegemonie über die Staaten Südost- und Ostmitteleu- In dieser Phase gab es Bemühungen, die auf eine ropas; sie war das Ergebnis der innenpolitischen Zusammenarbeit der verschiedenen Initiativen hin- Veränderungen, die sich in Ungarn bereits vollzogen zielten. Für die Öffentlichkeit war die Existenz einer hatten [–> Expertise Hertle]. Opposition in der DDR erkennbar geworden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Nach außen hin wurde oppositionelles Verhalten in mentation der Wahlfälschungen, stellte dies doch den dieser Phase am deutlichsten durch die Leipziger repressiven Charakter des Systems bloß, der in so Montagsdemonstrationen sichtbar. Diese fanden je- deutlichem Kontrast zu den durchweg gewaltfreien weils im Anschluß an die durch den Kreis um Pfarrer Demons trationen stand, die überall in der DDR statt- Christoph Wonneberger in der Nikolaikirche vorbe- fanden und auf denen der Ruf laut wurde: „Wir sind reiteten Friedensgebete statt. Bereits seit dem Herbst das Volk!" Daß in diesen Tagen die befürchtete 1988, zunächst nur sporadisch und mit geringer Teil- „chinesische Lösung" ausblieb, ist weniger der Ein- nehmerzahl, lieferten sie ein anschauliches Bild von sicht des Repressionsapparates geschuldet als der der Entwicklung der Opposition in der DDR, das völlig konsternierten Reaktion der SED-Führung, aufgrund der engagierten Berichterstattung durch die deren Machtverfall immer offensichtlicher wurde. in der DDR akkreditierten westlichen Journalisten Selbst innerhalb der SED wurde die Kritik an der auch in der Bundesrepublik wahrgenommen werden SED-Spitze zunehmend lauter. konnte [-> Expertise Dietrich]. Trotz der berechtigten Wie handlungsunfähig die SED war, zeigte der späte Furcht vor einem gewaltsamen Vorgehen der DDR Zeitpunkt, zu dem das Politbüro die Ablösung von Sicherheitskräfte gegen die Demonstr anten gemäß Erich Honecker und die Wahl von Egon Krenz bet rieb. dem chinesischen Vorbild beteiligten sich Hundert- „Das kritische Potential in der SED formierte sich aber tausende von Menschen im Herbst 1989 an den bis Oktober 1989 weder organisatorisch noch reforme- Montagsdemonstrationen und signalisierten damit risch".[-> Expertise Otto] Einige kritische Köpfe aus den sich in der DDR anbahnenden Wandel. der SED verließen die Partei und schlossen sich den Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Oppositionel- neuen Gruppierungen und Parteien an. Viele andere, len, die das Machtmonopol der SED direkt und wenn sie nicht auf den altbekannten orthodoxen öffentlich in Frage stellten, noch nicht sehr groß. Viele Positionen beharrten, verfielen im Zuge der „Wende" hofften noch auf die Möglichkeit einer Reform des in eine tiefe Sinnkrise [—> Expertise Wielgohs]. Systems. „Trotz aller Kritik an SED und DDR war in den Gruppen ... bis in den Herbst 1989 hinein über- In den Blockparteien regte sich zunehmend Wider- wiegend noch eine Grundloyalität vorhanden". spruch gegen die Parteiführungen und die sie dirigie- [—>Expertise Eckert II] Andererseits hatte sich schon rende SED. In der LDPD waren kritische Töne bis hin seit Mitte der achtziger Jahre zwischen den oppositio- zur Parteispitze zu hören. Dennoch blieb ihre Politik nellen Gruppen ein Konsens in den Forderungen nach widersprüchlich. Die anfängliche Vorreiterrolle der Demokratisierung, Einhaltung der Menschenrechte LDPD verwandelte sich zusehends wieder in einen und Rechtsstaatlichkeit, z. B. der Einrichtung von Rückstand, und die Hoffnungen der Parteibasis wur- Verwaltungsgerichten, herausgebildet. Zudem muß den enttäuscht [—> Expertise Papke]. An der Parteiba- berücksichtigt werden, daß sich die Ereignisse vom sis der Ost-CDU wurde in vorher „kaum für möglich 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 immer gehaltener Zahl ... größere Eigenständigkeit der Par- schneller entwickelten und in der Zeit der „f riedlichen tei, Reformbereitschaft und offene Diskussion gefor- Oktoberrevolution" in ihrem konkreten Verlauf wie in dert". H Expertise Buchstab] ihrer Dynamik nicht vorhersehbar waren. Zur Vorbereitung der vom Verband der Theaterschaf- Die in den Reaktionen des SED-Regimes immer deut- fenden organisierten Demons tration am 4. November licher werdende Reformunfähigkeit ließ von Tag zu 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz formulierte die Tag die Stimmen derer zahlreicher werden, die den Kontaktgruppe der Opposi tion ihre politischen Forde- Machtanspruch der SED direkt und ungeschützt rungen, die von den Hunderttausenden von Demon- öffentlich in Frage stellten. Es bleibt weiteren Unter- stranten aufgenommen wurden: die Streichung der suchungen vorbehalten, welche programmatischen Führungsrolle der SED aus der Verfassung, freie und Forderungen der Oppositionellen den Vorstellungen geheime Wahlen, Versammlungs- und Vereinigungs- des sogenannten „dritten Weges" folgten und welche freiheit, Presse- und Medienfreiheit. Es wurde offen- eher taktischer Natur waren, um nicht ein Verfahren kundig, daß das Volk dem SED-Regime die erzwun- wegen „staatsfeindlicher Gruppenbildung" auf sich gene Loyalität aufgekündigt hatte. zu ziehen [—>Expertise Jesse]. Der SED-Führung unter Krenz wurde durch die Bun- Am 4. Oktober 1989 trafen sich Vertreter von DJ, DA, desregierung klargemacht, daß sie die wirtschaftliche IFM, der „Initiativgruppe SDP", des „Neuen Forum", Unterstützung der Bundesrepublik zur Abwendung der späteren „Vereinigten Linken" sowie von Berliner des ökonomischen Offenbarungseids nur um den Friedenskreisen erstmals als Kontaktgruppe der Preis politischer Zugeständnisse erhalten könne. Da Opposition und formulierten ihre Forderung nach seit der Großdemonstration vom 4. November „die Neuwahlen unter UNO-Kon trolle, die sie vor fast Initiative des politischen Handelns endgültig von der 1 000 Menschen am 6. Oktober in einer Berliner Volksbewegung auf der Straße" ausging, forderte die Kirche vortrugen. Am 7. Oktober, ausgerechnet am Bundesregierung ihrerseits nun die Zusage der DDR 40. Jahrestag der DDR, wurde die Sozialdemokrati- Regierung, freie Wahlen zu gewährleisten, sowie sche Partei (SDP) gegründet, deren Statut totalitäres einen Verzicht der SED auf ihr Machtmonopol und Denken und H andeln in jeder Form ausschloß. somit die Zulassung von unabhängigen Parteien [—> Expertise Hertle]. In den darauffolgenden Tagen wurden von oppositio- nellen Gruppen die Übergriffe von Staatssicherheit Auch die Sowjetunion konnte keine Aktivitäten mehr und Polizei gegen Demons tranten präzise dokumen-- entwickeln, um den Zerfallsprozeß der DDR politisch tiert und veröffentlicht, was für die Bevölkerung von oder militärisch aufzuhalten. Versuche der SED-Füh- ähnlicher Bedeutung war wie Monate zuvor die Doku rung, mit sowjetischer Hilfe den Staatsbankrott der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

DDR abzuwehren und Zugeständnisse in der Frage LDPD, NDPD) einerseits und der in der Kontakt- der Grenze zur Bundesrepublik zu erreichen, um so gruppe der Opposition vertretenen Gruppierungen die Situation in der DDR unter Kontrolle bringen zu und Parteien (DJ, DA, Die Grünen, IFM, NF, SDP, VL) können, verliefen ergebnislos. Unumkehrbar wurde andererseits. Das Gleichgewicht zwischen den staats- der Prozeß am 9. November 1989, als in Berlin nach 28 tragenden Parteien der DDR und der Opposition hielt Jahren die Mauer fiel. Die offene Grenze zwischen der Dynamik der weiteren Entwicklung nicht lange beiden deutschen Staaten ließ auch das gewohnte stand. Außer den Vertretern der genannten oppositio- System gelenkter und kontrollierter Kommunika- nellen Gruppen und Parteien nahmen die in einer tionsstrukturen zwischen den Deutschen aus Ost und zweiten Gründungswelle entstandene „Grüne Liga" West zusammenbrechen. Der in der Öffnung der und der „Unabhängige Frauenverband" (UFV) an den Mauer zum Ausdruck kommende Machtverfall der Sitzungen teil. Andere gegen Jahresende gegründete SED hatte systemsprengende Folgen. Während der Parteien wurden am Runden Tisch nur noch als Demonstrationen im November veränderten sich Beobachter zugelassen. Dazu gehörten die „Deutsche die Forderungen. Neben dem Ruf „Wir sind das Soziale Union" (DSU) und die F.D.P., deren Entste- Volk! " erscholl immer stärker der Ruf „Wir sind ein hung darauf hinwiesen, daß sich nicht alle zur SED/ Volk!" PDS in Opposition stehenden politischen Kräfte mit den Zielen der bisherigen Oppositonsgruppen in der Mit der Installierung der Regierung Modrow gelang DDR identifizieren wollten. Dies gilt auch für die von es der SED, ihre politisch-gesellschaftlich bereits Mitgliedern des Neuen Forum gegründete „Deutsche zerrüttete Macht auf der Ebene des zentralen Staats- Forum Partei" (DFP), die am Runden Tisch Beobach- apparates noch einmal zu behaupten. Nur wenige terstatus und Rederecht, nicht aber Stimmrecht Tage nach ihrer Bildung traten Politbüro und Zentral- erhielt. komitee der SED zurück, so daß die Regierung Mo- drow das letzte funktionierende Machtzentrum der Als ein revolutionäres Projekt kann der Runde Tisch SED blieb. Mit dem Argument, es gehe um die nicht bezeichnet werden [—>Expertise Thaysen]. Die- Sicherung der Existenz der DDR, betrieb ein „Arbeits- sen Anspruch hat er allerdings auch nie erhoben. ausschuß" die „Umwandlung" der SED in die „Partei Seine Hauptaufgabe bestand nach dem Verständnis des Demokratischen Sozialismus" (SED/PDS). Die seiner Initiatoren darin, den Weg zu freien Wahlen zu deklaratorische Änderung der Parteikonzeption im ebnen und die Regierung so gut wie möglich zu Dezember 1989 war die Voraussetzung für die Wei- kontrollieren. Das ist im wesentlichen gelungen. Vor terexistenz der Partei. Die materiellen Voraussetzun- allem sind die Erarbeitung des Wahlgesetzes, des gen schuf die Regierung Modrow mit einer Reihe von Parteiengesetzes und des Verfassungsentwurfs her- Gesetzen und Verordnungen, die der Kader-, Immo- vorzuheben. Wegen des Mangels an demokratischer bilien- und Finanzsicherung galten. Legitimation sollte die Aufgabe des Runden Tisches nicht die Machtausübung sein, sondern darin beste- Am 10. November 1989 forderte die Kontaktgruppe hen, sich in einem möglichst breiten Konsens der der Opposition die SED und die Blockparteien zu unterschiedlichen politischen Kräfte zu einem Instru- Verhandlungen am Runden Tisch auf, um die Voraus- ment der Kriseneindämmung zu entwickeln. setzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen zu schaffen. Dabei ging sie noch davon aus, Die Staatspartei hatte mittlerweile politisch-gesell- daß das Machtzentrum in der DDR nicht bei der schaftlich in einem solchen Ausmaß abgewirtschaftet, Regierung, sondern bei der SED lag. Als sich die SED daß die oppositionellen Gruppen nur mehr „eine im weiteren Verlauf des November gezwungen sah, bereits von innen geschleifte Festung" zu erstürmen auf diese Forderung einzugehen, vollends aber, nach- brauchten. „Dazu hatten auch die alten Kräfte im dem sie am 1. Dezember ihren Führungsanspruch aus Innern dieser Zwingburg beigetragen. Jetzt ging es im der Verfassung streichen mußte, änderte sich die wesentlichen um die Kapitulations- und Übergabebe- Situation in der DDR grundlegend. Das Entschei- dingungen" . [—> Expertise Thaysen] In diesen Zusam- dungszentrum verlagerte sich von der Partei auf die menhang gehört zweifellos eine der wich Regierung. tigsten Lei- stungen des Zentralen Runden Tisches: die Durchset- Im Unterschied zum polnischen Runden Tisch saßen zung der Auflösung des MfS und seiner von Modrow sich in der DDR nicht die Regierung und die Opposi- bereits eingesetzten Nachfolgeorganisation „Amt für tion gegenüber, sondern die Opposition war konfron- Nationale Sicherheit" (AfNS) zwischen November tiert mit der SED und den Blockparteien. Dabei 1989 und Januar 1990. wurden von den Blockparteien fast durchgängig Ver- treter benannt, die schon in den Jahren zuvor als Die Tätigkeit des Zentralen Runden Tisches läßt sich hauptamtliche Funktionäre dem Parteiapparat ange- grob in drei Phasen unterteilen: Zunächst versuchte hört hatten und nur zögerlich ihre Posi tionen aufzuge- die Modrow-Regierung, den Runden Tisch und seine ben bereit waren. Beschlüsse zu ignorieren. Erst als Modrow sich der ultimativen Aufforderung beugen mußte, am Runden Die Diskussionen zwischen Oppositionsparteien und Tisch zu erscheinen, gelang es diesem, einen wesent- -bewegungen sowie SED und Blockparteien am Zen- lichen Teil seiner Beschlüsse durchzusetzen. Umstrit- tralen Runden Tisch bestimmten in der Öffentlichkeit ten ist, welche Rolle dabei der Regierungseintritt der das Geschehen. Die Ausgangsüberlegung für die „Minister ohne Geschäftsbereich" des Runden Zusammensetzung des Zentralen Runden Tisches war Tisches spielte: die einer überflüssigen Legitimierung die Parität von SED/PDS mit ihren zu Koalitionspart- der Regierung oder die einer verbesserten Kontroll- nern gewendeten Blockparteien (Ost-CDU, DBD, möglichkeit durch den Runden Tisch. In der letzten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Phase des Runden Tisches wurde deutlich, daß inner- 5. Oppositionelles und widerständiges Verhalten halb der Opposition nicht mehr jener politische im Alltag Zusammenhalt gegeben war, wie er zur Zeit seiner Gründung bestand. Vor allem Sozialdemokraten, Der Herrschaftsanspruch der SED in der DDR erfaßte Demokratischer Aufbruch, Christdemokraten und alle Bereiche der Gesellschaft und provozierte somit Liberale richteten ihre Arbeit verstärkt an der Verän- überall mehr oder weniger widerständiges Verhalten. derung der politischen Grundstrukturen aus und Entscheidende Elemente des Herrschaftssystems in orientierten sich auf eine zukünftige Regierungs- und der DDR — insbesondere die Verweigerung freier Parlamentstätigkeit. Demgegenüber arbeiteten viele Wahlen, die Absperrung der Grenzen gegen die der zahlreichen auf regionaler und lokaler Ebene eigene Bevölkerung und das Ausmaß des Repres- entstandenen Runden Tische noch wochenlang wei- sionsapparats — lassen den Schluß zu, daß die SED ter, zum Teil weit über den Termin der Volkskammer- Führung stets gegen eine Mehrheit der Bevölkerung wahlen am 18. März 1990 hinaus. regierte und dies auch wußte. Widerständiges Verhal- ten war weit verbreitet, aber oft auch mit loyalem Während die oppositionellen Gruppierungen mit Verhalten gegenüber dem Regime bis hin zur Unter- ihren Aktionen und Erklärungen im Herbst 1989 die tanenmentalität verknüpft. Die Menschen in der DDR Befindlichkeiten der DDR-Bevölkerung trafen und können in ihrer Gesamtheit weder als Volk von von dieser auch als Symbol der Hoffnung auf Verän- Widerständlern noch als Masse von Mitläufern cha- derungen im Lande angesehen wurden, wandelte sich rakterisiert werden. Neben den Minderheiten der die für die Bürgerbewegungen günstige Grundstim- aktiven Regimebefürworter und der aktiven Regime- mung seit Ende 1989. Zu untersuchen wäre, inwieweit gegner zeigte die Masse der Bevölkerung widerstän- auch das unerwartet schlechte Wahlergebnis der SPD diges Verhalten in unterschiedlichsten Formen und im März 1990 mit diesem Stimmungsumschwung in mit wechselnder Intensität, aber zugleich auch mehr Zusammenhang steht und inwiefern andere Um- oder weniger Anpassung und Mitwirkung im Sinne stände mitwirkten. des Regimes. Zu letzterer Gruppe gehörten in der Regel diejenigen, die widerständiges Verhalten im CDU und LDP begannen, sich personell und program- Alltag an den Tag legten, die in Zeiten der Stabilität matisch von ihrer Vergangenheit als Blockparteien zu des Regimes stille Gegner waren und erst in Krisensi- lösen, indem sie ihre kompromittierten Führungen tuationen offen hervortraten. durch neue Vorstände ersetzten und die innerpartei- lichen Strukturen demokratisierten. Dies hinderte sie Im Unterschied zur offenen Opposition bekannter nicht daran, weiterhin als Koalitionspartner in der Regimegegner und zum organisierten Widerstand in Regierung Modrow mitzuwirken. Bereits vor Grün- der DDR ist der alltägliche Widerstand einer großen dung des Runden Tisches hatten sie allerdings ihre Anzahl von Bürgern in der westlichen DDR-For- Zusammenarbeit mit der SED im „Demokratischen schung bisher kaum dargestellt und analysiert worden Block" für beendet erklärt. Mit den politischen Ver- — nicht zuletzt wegen der fehlenden Forschungsmög- änderungen im Winter 1989/90 wurde außerdem lichkeiten in der DDR selbst. Heute zugängliche schnell deutlich, daß es den 1948 „von oben" gegrün- Quellen über oppositionelles und widerständiges Ver- deten Parteien NDPD und DBD (s.o.) nicht gelingen halten im Alltag finden sich vor allem in den Archiven würde, eine eigene politische Identität zu entwik- der SED und des MfS, wobei zu beachten ist, daß diese keln. Quellen — entsprechend dem jeweiligen Feindbild — Opposition und Widerstand aus der Sicht der Herr- In Anknüpfung an Traditionen der unmittelbaren schenden in der DDR widerspiegeln [-> Exper tise Nachkriegszeit waren nun auch CDU und F.D.P. in der Kowalczuk]. Bundesrepublik zu einer Zusammenarbeit mit ihren Insbesondere für widerständiges Verhalten im Alltag Schwesterparteien bereit, die unter anderem in eine in der DDR ist ein weitgefaßter Widerstandsbegriff abgestimmte Neuformulierung politischer Posi tionen anzuwenden, wie er von der Forschung über den mündete. Vor allen anderen Parteien war mit der Widerstand im Nationalsozialismus seit den siebziger Gründung der SDP/SPD am 7. Oktober 1989 eine Jahren entwickelt wurde. Dies erscheint auch bei sozialdemokratische Partnerpartei in der DDR ent- Berücksichtigung der Tatsache zulässig, daß eine standen, für deren Aufnahme in die Sozialistische Gleichsetzung von NS- und SED-Regime nicht statt- Internationale sich die SPD bereits im Herbst 1989 haft ist, obwohl insbesondere die Grundstrukturen, einsetzte. der allumfassende Machtanspruch der Führung und die Propagandamethoden beider Regime Ähnlichkei- Die oppositionellen Gruppierungen entfernten sich ten aufweisen. Zwecks Darstellung und Bewe rtung schon aufgrund ihrer Zersplitterung, ihres nicht auf der vielfältigen Formen von Widerstand und Opposi- Parteienbildung angelegten politischen Selbstver- tion in der DDR erscheint es ratsam, eine grob sche- ständnisses, sicher auch wegen des ambivalenten matische Einordnung in vier Grundtypen, die aller- Verhältnisses zur Macht von der Erwartungshaltung dings ineinander übergehen, vorzunehmen: breiter Bevölkerungsteile. Ungeklärt war außerdem ihr Verhältnis zu den sozialistischen Gesellschaftsmo- — gesellschaftliche Verweigerung; dellen und zur deutschen Einheit. So verloren sie mehr und mehr an Akzeptanz in der ostdeutschen Bevölke- — sozialer Protest; - rung. Daraus resultierte auch ihr negatives Abschnei- — politischer Dissens; den bei den Volkskammerwahlen im März 1990 [-> Expertisen Bickhardt, Jander]. — Massenprotest [->. Expertise Kowalczuk]. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die gesellschaftliche Verweigerung war in der DDR untersucht worden. Zu dieser Protestform gehörten die am weitesten verbreitete A rt von widerständigem die zahlreichen Eingaben von Bürgern an Behörden, Verhalten. Sie hatte etwa seit Mitte der sechziger an Volksvertretungen oder unmittelbar an die Partei- Jahre in der Regel keine schweren Repressalien, wohl und Staatsführung mit sozialem Hintergrund. Da in aber nicht selten verschiedenartige Nachteile zur der DDR eine Klage vor Verwaltungsgerichten nicht Folge. Es gab zahllose Formen gesellschaftlicher Ver- möglich war, dienten Eingaben hierfür als ein notdürf- weigerung, von denen nur die wich tigsten erwähnt tiger Ersatz; insoweit war nicht jede Eingabe, die ein werden sollen: Man verweigerte den Beitritt zu Par- soziales Anliegen des Bürgers zum Gegenstand hatte, teien und Massenorganisationen, der für den Zugang ein sozialer Protest. Die Zahl der Eingaben, die Fragen zu höheren Bildungseinrichtungen und den berufli- der Versorgung, Wohnungsprobleme, Renten, Löhne, chen Aufstieg erforderlich war, und nahm dafür die Arbeitsschutz und zahllose andere soziale Themen, entsprechenden Benachteiligungen in Kauf. Solche aber z. B. auch Westreisegenehmigungen zum Ge- Verweigerungen richteten sich vor allem gegen die genstand hatten, soll in die Millionen gegangen sein SED, die FDJ, die Propagandaorganisation „Gesell- [-> Expertise Kowalczuk]. Die Eingaben waren für das schaft für deutsch-sowjetische Freundschaft" und die Regime Stimmungsbarometer und sehr begrenzt auch vormilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik", Ventil für in der Bevölkerung aufgestauten Mißmut; aber auch gegen andere Organisationen [—> Protokoll sie hatten für den Bürger in der Regel keine unmittel- Nr. 68]. Gegenüber der Beitrittsverweigerung war der bar wirkenden Nachteile (Ausnahme: Eingaben zur Austritt aus solchen Organisationen eine Steigerung Durchsetzung der Ausreise). Soweit es bei Eingaben der gesellschaftlichen Verweigerung, da dieser als um soziale Anliegen ging, zeitigten sie gelegentlich eindeutige Mißfallensbekundung oft Konflikte mit auch Erfolge; sogar die Parteiführung, z. B. im Zusam- Dienstvorgesetzten und Funktionären zur Folge hatte. menhang mit dem IX. Parteitag der SED 1976 oder in Häufig erfolgte daher die Distanzierung auch in der den letzten Jahren der DDR-Geschichte auf Plenarta- weniger konfliktträchtigen Form der Passivität, der gungen des ZK, reagierte darauf. Einstellung jeder Betätigung in der jeweiligen Orga- nisation und nicht zuletzt der Beitragszahlung, was, In den fünfziger und sechziger Jahren war die Ableh- vor allem bei der SED, zum gewünschten Effekt der nung der Kollektivierung in der Landwirtschaft und Streichung aus den Mitgliederlisten führte. im Handwerk eine verbreitete Form des sozialen Protestes, die damals für viele Bürger Repressa lien Andere häufig anzutreffende Formen gesellschaftli- nach sich zog. In den Betrieben richtete sich sozialer cher Verweigerung waren die Ablehnung der vom Protest in den fünfziger Jahren häufig gegen die Regime geforderten sprachlichen Terminologie (m an sogenannten Betriebskollektivverträge, die auch Fra- sagte z. B. „Mauer" anstatt „antifaschistischer gen der Entlohnung regelten. Streiks als schärfste Schutzwall"), der bewußte Empfang westlicher elek- Form des sozialen Protestes hatten, abgesehen von tronischer Medien und die Verbreitung der durch sie denen im Juni/Juli 1953, in der Regel nicht unmittel- erhaltenen Informationen, das Lesen und Weiterge- bar ein politisches Motiv, wenngleich Streiks vom ben verbotener oder offiziell unerwünschter Literatur, Regime immer als politischer Protest verstanden wur- die offene oder verdeckte Verweigerung der vormili- den. Sie dauerten meist nur wenige Stunden und tärischen Ausbildung einschließlich der Ausbildung wurden durch Lohn- oder Arbeitsstreitigkeiten ausge- zum Reserveoffizier, die Nichtteilnahme an offiziellen löst. Streiks und oft auch nur Streikdrohungen zur Kundgebungen oder Versammlungen, der Abbruch Durchsetzung sozialer Forderungen, wovon ab Mitte bestimmter Ausbildungsgänge oder die Leistungsver- der sechziger Jahre in der DDR immer weniger zu weigerung in politischen Pflichtfächern (Staatsbür- erfahren war, sind ebenso wie andere Formen des gerkunde, marxistisch-leninistisches Grundlagenstu- Protestes in der Arbeiterschaft, wiederum von den dium an den Hoch- und Fachschulen) sowie die nicht fünfziger Jahren abgesehen, bisher von der DDR- nur religiös motivierte Teilnahme an kirchlichen Ver- Forschung kaum erfaßt und analysiert worden [—> Ex- anstaltungen und die Mitarbeit in kirchlichen Organi- pertise Kowalczuk]. sationen (ohne daß dies bereits Opposition unter dem Politischer Dissens als Opposition und Widerstand im „Schutzdach" der Kirche bedeutete) [—> Exper tise Alltag überschneiden sich besonders häufig mit orga- Kowalczuk]. nisierter und/oder mit konkreten Zielvorstellungen Als eine dem SED-Regime besonders unangenehme betriebener Opposition (s.o.); er wird daher an dieser Form gesellschaftlicher Verweigerung erwiesen sich Stelle nur am Rande behandelt. In diesen Bereich Flucht und Ausreise aus der DDR aus den unterschied- fallen reformsozialistische und bürgerliche Opponen- lichsten Motiven sowie das Durchsetzen der Ausreise ten, die sich als Einzelpersonen kritisch über das durch ständig wiederholte Antragstellung, Behörden- Regime oder einzelne Teile des „realen Sozialismus" vorsprachen, Eingaben oder sogar Demonstra tionen. äußerten, insbesondere Schriftsteller und andere Fast alle Motive in der Flucht- und Ausreisebewe- Künstler, die mit ihren Werken und öffentlichen gung, die gegen Ende der achtziger Jahre erheblich Äußerungen von der offiziellen Kulturpolitik abwi- zum Untergang des SED-Regimes beitrug, lassen sich chen, oder Wissenschaftler, die sich nicht an ideologi- auf den gemeinsamen Nenner einer Ablehnung des sche Vorgaben hielten [—> Protokoll Nr. 67]. Politi- „ realen Sozialismus" in der DDR bringen [—>Exper tise scher Dissens als allgemeines Motiv bildete den Schumann; Protokoll Nr. 69]. Hintergrund vieler Austritte aus der SED, vor allem in den achtziger Jahren, sowie von Ausreiseanträgen Opposition und Widerstand in Form des sozialen besonders dann, wenn Antragsteller ihre Hoffnungen Protestes sind bisher von der DDR-Forschung, wenn auf politische Veränderungen in der DDR, für die sie man von den Streiks im Juni/Juli 1953 absieht, wenig sich zunächst persönlich eingesetzt hatten, aufgaben Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

[—> Protokoll Nr. 69]. Zur Opposition im Alltag unter sebewegung im Jahre 1989 als eine Form des Massen- dem Stichwort „politischer Dissens" sind schließlich protestes gelten kann, ist strittig [-> Protokoll Nr. 68]. viele Einzelpersonen zu rechnen, die ihre Kritik durch Für die Bewertung als Massenprotest sprechen die Anbringen von Wandparolen, Handzettel, Flugblät- Wirkungen dieser Bewegung im Sommer und Herbst ter, Plakate und Samisdat-Texte zum Ausdruck brach- 1989 sowie die in den meisten Fällen festzustellende ten. Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR durch die Flüchtlinge und Ausgereisten. Die in den siebziger und achtziger Jahren entstandene kulturelle und alterna tive Szene, die „Gegenkultur" Im Ergebnis ist festzuhalten, daß sich bei einer großen in der DDR, gehört ebenfa lls zu Opposition und Anzahl von Menschen in der DDR widerständiges Widerstand im Alltag auf dem Hintergrund eines Verhalten im Alltag einerseits sowie Anpassung und allgemeinen politischen Dissenses, wobei der Ober- wenigstens partielle Mitwirkung im SED-Regime gang zu organisierter und an bestimmten Konzeptio- andererseits mehrfach abwechselten. Unter den nen orierentierter Opposi tion zeitlich und personell Bedingungen von Krisensituationen überwog der fließend ist [—> Expertise Faktor]. Wehrdienstverwei- Aspekt des widerständigen Verhaltens, so daß 1953, gerung, Wahlverweigerung bzw. die Abgabe von 1956 und schließlich 1989 auch Teile des Machtappa- Gegen- oder ungültigen Stimmen waren Wider- rates durch Passivität, Kritik an Mißständen oder auch standshaltungen im Alltag, bei denen sich gesell- am politischen System insgesamt sowie schließlich schaftliche Verweigerung und politischer Dissens durch Distanzierung von der Führung ein mehr oder überschneiden. weniger ausgeprägtes widerständiges Verhalten an Massenproteste als Formen widerständigen Verhal- den Tag legten. Das Umschwenken von Teilen des tens gab es in der DDR relativ selten; die bekanntesten Machtapparates in Krisensituationen rechtfertigt es Fälle sind die Demonstra tionen im Sommer 1953 und nicht, diesen Personenkreis generell den Widerständ- im Herbst 1989 (s.o.). Aber auch Proteste in Krisensi- lern zuzuordnen, aber es ist unverkennbar, daß der tuationen des Regimes, zu denen sich nur regional, in Zusammenbruch des SED-Regimes durch die be- einigen Städten oder Institutionen eine Vielzahl von schriebenen Wandlungen im Verhalten vieler Re- Menschen versammelten, können als Massenproteste gimeträger beschleunigt worden ist. gewertet werden, z. B. die Protestversammlungen von Studenten im Herbst 1956, die vor allem eine Abschaf- Künftige Forschungen werden Opposi tion und Wider- fung des gesellschaftswissenschaftlichen Pflichtstudi- stand im Alltag weit mehr als bisher zum Gegenstand ums und des obligatorischen Russisch-Unterrichts haben müssen, um deren Ausmaß, Mo tive und Wir- zum Ziel hatten und an denen sich viele Hochschul- kungen zu verdeutlichen sowie nachzuweisen, daß angehörige beteiligten, die sich unter „normalen" der durchaus beträchtlichen Anzahl von Regimeträ- Verhältnissen in der DDR anpaßten [-> Ammer, Pro- gern und treuen Mitläufern des SED-Regimes auch tokoll Nr. 67]. Massenproteste waren ebenfalls die eine große Masse von Bürgern gegenüberstand, die Menschenansammlungen und Zusammenstöße mit sich nicht korrumpieren ließen, bewußt materielle und der Polizei auf dem Alexanderplatz in Berlin am berufliche Nachteile in Kauf nahmen und in Phasen 7. Oktober 1977 und in der Nähe des Brandenburger der Schwäche des Regimes sofort bereit waren, ihre Tors im Juni 1987, hinter denen vordergründig unpo- oppositionelle Haltung auch öffentlich zu bekun- litische Anlässe standen. Ob die Flucht- und Ausrei den. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

C. Besondere Probleme

L Seilschaften, Altkader, Regierungs- und Vereinigungskriminalität

In der heutigen Bundesrepublik — besonders in den hältnis unzumutbar erscheint. Die Regelung ist so neuen Bundesländern — gibt es Vorfälle und Erschei- ausgestaltet, daß stets eine Einzelfallprüfung nungen, deren Urheber als sogenannte „Seilschaften" erfolgen muß. Im Rahmen dieser Prüfung muß bezeichnet werden. Funktionsträger und Machtaus- nach Abwägung des Grades der Belastung, der übende der früheren DDR (Altkader) befinden sich Stellung und Dauer der Tätigkeit für den Staats- noch immer oder schon wieder in gesellschaftlichen sicherheitsdienst sowie der jetzigen Funktion ent- Positionen, in denen über Wohl und Wehe von Bür- schieden werden, ob ein Festhalten am Arbeits- gern maßgeblich entschieden wird. Solche „Seilschaf- verhältnis zumutbar erscheint oder nicht. Darüber ten" sind charakterisiert durch Zusammenhalt und hinaus enthält der Einigungsvertrag eine befri- Zusammenarbeit von Altkadern, die durch ihre Mit- stete Regelung zur ordent lichen Kündigung wirkung am SED-Regime juristisch oder zumindest wegen fehlender persönlicher Eignung (Abs. 4 moralisch mitschuldig geworden sind. Ihre Aktivitä- a. a. O.). Diese fehlt nicht nur, wenn der Arbeit- ten zur gegenseitigen Abschirmung und Förderung nehmer nicht die Gewähr der Verfassungstreue wirken heute zum Nachteil anderer bzw. der Offent- bietet, sondern auch dann, wenn er sich mit dem lichkeit. In diesen „Seilschaften" sind vielfach auch DDR-Unrechtsregime in einer Weise identifiziert Bürger aus den alten Bundesländern tätig. hat, daß er für eine rechtsstaatliche Verwaltung wegen fehlenden Vertrauens der Bevölkerung Die Existenz von „Seilschaften" und die Besetzung nicht tragbar ist. Hiernach konnten ebenfalls nach von wichtigen, verantwortlichen Posi tionen in Politik Einzelfallprüfung hauptamtliche Mitarbeiter und und Wirtschaft durch Altkader als deren Nährboden herausgehobene Funktionäre der SED, der ande- sind das äußere Zeichen für die bisher unbewältigte ren Parteien sowie Funktionsträger von Massen- Aufgabe des Austausches von Funktionsträgern im organisationen oder herausgehobene Funktio- Rahmen der politischen Erneuerung. Ein Kernpunkt näre staatlicher Organe aus dem öffentlichen im Forderungskatalog der friedlichen Revolution ist Dienst entfernt werden. damit bis heute nur teilweise erfüllt. Die Integra tion von Altkadern in Machtpositionen des neuen Beide Instrumente sind in höchst unterschiedli- Gemeinwesens gehörte offensichtlich zu den wichtig- cher Intensität zur Entlassung von Altkadern aus sten Aufgaben der letzten SED-geführten DDR- dem öffentlichen Dienst genutzt worden. Das Regierung [–> Bericht Jeske]. Die staatlich sanktio- Instrument der ordentlichen Kündigung wurde in nierte Bereinigung der Personalakten, der Versuch einigen Teilbereichen der öffentlichen Verwal- des Aufbaus einer Stasi-Nachfolgeorganisation sowie tung kaum angewandt. Diese Regelung ist zum Darlehen aus der Parteikasse an verdiente SED 31. Dezember 1993 ausgelaufen. Eine Fristverlän- Mitglieder zur Existenzgründung sind hierfür nur gerung ist am Widerstand des Bundesrates Beispiele. Aber auch die demokratisch legitimierte gescheitert. Volkskammer und Regierung der DDR beließen in der Vor allem seit der Eröffnung der Informa tions- Justiz und in der Arbeitsverwaltung Altkader im Amt; möglichkeiten durch das Stasi-Unterlagengesetz die Regierung verfuhr ähnlich beim neugegründeten kam es in den neuen Bundesländern zu einer Grenzschutz der DDR. Wegen der vielen offengeblie- umfangreichen Überprüfung des Personalbestan- benen Probleme mußten das vereinigte Deutschland des im öffentlichen Dienst. In zahlreichen Fällen und die neuen Bundesländer diese politische Erblast führte das Instrument der außerordentlichen Kün- übernehmen. digung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. 1. Das wichtigste Instrument zur Offenlegung von In der Bundesverwaltung gab es bis April 1994 „Seilschaften" sowie zur Erkennung von Altka- 3 798 außerordentliche Kündigungen. Nach An- dern in Machtpositionen ist das Stasi-Unterlagen- gaben des Bundesministeriums des Innern vom gesetz aus dem Jahre 1992. Vor allem auf der 16. Juni und 24. August 1993 stellen sich die Grundlage der hierdurch gewonnenen Erkennt- Zahlen im einzelnen wie folgt dar (Stichtag nisse können Arbeitnehmer im öffentlichen 1. April 1993): In der Bundesverwaltung ein- Dienst nach den besonderen Kündigungsregelun- schließlich Bahn und Post waren insgesamt noch gen im Einigungsvertrag (Anlage I Kapitel XIX 2 597 ehemalige MfS-Mitarbeiter tätig, von denen Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5) insbeson- 1 335 hauptamtliche Mitarbeiter und 1 262 Inoffi dere dann außerordentlich gekündigt werden, zielle Mitarbeiter des MfS waren. Von diesen wenn sie gegen Grundsätze der Menschlichkeit Personen waren 45 in den Ministerien beschäftigt, oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben oder - 2 552 arbeiteten im nachgeordneten Bereich. Im für den Staatssicherheitsdienst tätig geworden nachgeordneten Bereich wiederum waren bei den sind und deshalb ein Festhalten am Arbeitsver Betriebsverwaltungen von Bahn und Post mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 insgesamt 1 631 Beschäftigten die meisten frühe- munal- und Landesparlamente nahezu vollstän- ren MfS-Mitarbeiter tätig. Es handelte sich fast dig einer freiwilligen Überprüfung auf Stasi ausnahmslos um Beschäftigte in untergeordneten Mitarbeit unterzogen, waren hierzu die Bundes- Funktionen. Insgesamt nur 59 Personen gehörten tagsabgeordneten nur zur Hälfte und westdeut- dem höheren bzw. gehobenen Dienst an, 2 538 sche Landes- und Kommunalparlamentarier nur Beschäftigte waren dem mittleren bzw. dem ein- in Einzelfällen bereit. Immer noch wird die Stasi- fachen Dienst zuzurechnen. 454 ehemalige Mitar- Hinterlassenschaft fälschlicherweise als ein spezi- beiter des MfS in der Bundesverwaltung (ca. fisch ostdeutsches Problem interpre tiert, was die 18 vH) waren inzwischen verbeamtet, die restli- personelle Erneuerung sowie die Offenlegung chen 2 143 Personen Angestellte bzw. Arbeiter. von „Seilschaften" erschwert. Eine Verbeamtung war noch in insgesamt 189 Die Privatwirtschaft bemühte sich fast überhaupt Fällen vorgesehen. Insgesamt mußten zum S tich- nicht um die personelle Erneuerung in ihren tag 1. April 1993 noch 40 014 Beschäftigte durch Unternehmen. Auch im Bereich der Treuhandan- den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des stalt blieb trotz begrüßenswerter Initiativen das Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bemühen letztlich ohne den gewünschten Erfolg überprüft werden. Hiervon waren 19 377 beim [->Protokoll Nr. 45]. Die erste freigewählte Volks- Bundesministerium der Verteidigung beschäftigt. kammer verabschiedete kurz vor Ende der DDR Bis zum Stichtag sind aus der Bundesverwaltung ein Gesetz, welches den Personalaustausch in den insgesamt 7 007 Personen wegen einer erkannten Leitungen der Treuhandbetriebe wesentlich be- Tätigkeit für das frühere MfS durch Kündigung fördern sollte. Das Gesetz ist nicht Bestandteil des oder auf anderem Wege ausgeschieden (Auflö- Einigungsvertrages geworden. Auch die später sungsvertrag, Entlassung auf eigenen Antrag), ernannten Vertrauensbevollmächtigten der Treu- wobei der Hauptanteil auf die Betriebsverwaltun- handanstalt standen den bereits verfestigten gen von Bahn (2 416 Personen) und Post Strukturen vielfach hilflos gegenüber [-p Proto- (1919 Personen) sowie auf den Bundesgrenz- koll Nr. 45]. schutz (950 Personen) entfiel. Wegen solcher Maßnahmen waren insgesamt noch 460 gerichtli- Die Enquete-Kommission beriet im Frühjahr 1994 che Verfahren anhängig, davon 355 beim Bundes- die Problematik von „Seilschaften" und Altka- grenzschutz. Aktuellere Zahlen standen der dern sowie der Regierungs- und Vereinigungskri- Enquete-Kommission zum Zeitpunkt der Bericht- minalität. Seit der f riedlichen Revolution in der erstattung nicht zur Verfügung. DDR beschäftigen diese Themen die Öffentlich- keit und auch die politischen Gremien. Der Deut- Dabei bildeten sich sowohl auf der kommunalen sche Bundestag hat sich vor allem im Innen- und Ebene als auch zwischen den Länderebenen im Rechtsausschuß, im Unterausschuß zur Bewäl- höchst unterschiedliche Vorgehensweisen her- tigung der Stasi-Vergangenheit und im 1. Unter- aus. Das Spektrum reicht von verantwortlichem suchungsausschuß intensiv mit wesentlichen Be- und sensiblem Abwägen der einzelnen Gegeben- reichen des Berichtsthemas auseinandergesetzt. heiten bis hin zu rechtsstaatswidriger Pauschali- Die Enquete-Kommission führte am 27. Septem- sierung und völligem Fehlen der Einzelfallprü- ber 1993 in Berlin eine Anhörung zum Thema fung. Eine politische Belastung wurde zuweilen „Seilschaften in den neuen Bundesländern" weitgehend auf das Tätigsein für den ehemaligen durch [—> Protokoll Nr. 45]. Staatssicherheitsdienst verengt und damit gele- gentlich bewußt die eigene politische Verantwor- Zahlreiche gesetzliche und adminis trative Rege- tung verdeckt. Mehrere Versuche, hier zu einer lungen, wie z. B. das Stasi-Unterlagengesetz, das Vereinheitlichung der Vollzugspraxis auf rechts- Geldwäschegesetz, die Bildung der Zentralen staatlicher Grundlage (Bundesgesetz) zu gelan- Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungs- gen, blieben ohne Erfolg. Dies hätte allerdings kriminalität, die Controlling-Abteilung und die eine Einschränkung der im Einigungsvertrag vor- Vertrauensbevollmächtigten der Treuhandan- geschriebenen Einzelfallprüfung vorausgesetzt. stalt sowie die Erlasse zur Überprüfungspraxis im öffentlichen Dienst, sind in der Zwischenzeit in Im nachgeordneten Bereich der Bundesverwal- die Praxis umgesetzt worden. Der Zeitverzug und tung sind weiterhin zahlreiche MfS-Mitarbeiter die unterschiedliche Art und Weise der Umset- tätig, insbesondere in den Betriebsverwaltungen zung sowie die politische Diskussion über die von Bahn und Post (s. o.). Es ist dafür Sorge zu Verstrickung von heutigen politischen Verant- tragen, daß durch die Ausgliederung von Bahn wortungsträgern mit MfS- und DDR-Organen und Post aus dem öffentlichen Dienst hier die sind nicht ohne Einfluß auf die Betrachtungsweise weitere Überprüfung der Beschäftigten hinsicht- des Jahres 1994 geblieben [—> Bericht Jeske]. lich einer MfS-Verstrickung nicht beeinträchtigt wird. Hinzuweisen ist schließlich auf die noch Nicht verkannt und nicht bestritten werden soll, ausstehenden Überprüfungen durch den Bundes- daß es in diesem Bereich auch persönliche oder beauftragten für die Unterlagen des Staatssicher- politisch nicht begründbare Verdächtigungen heitsdienstes der ehemaligen DDR. gibt, die einer objektiven Beurteilung des Werde- gangs und des beruflichen Könnens einer Person Auch die Parlamente machten von der Überprü- nicht standhalten, welche ihre jetzt erlangte fungsmöglichkeit des Stasi-Unterlagengesetzes - berufliche oder gesellschaftliche Posi tion keiner in höchst unterschiedlicher Art und Weise „Seilschaftenverbindung" verdankt. Diese nur im Gebrauch. Während sich die ostdeutschen Kom- lokalen Bereich aufzuklärende Erscheinung wird Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

allerdings allgemeinpolitisch und gesellschaftlich gen sind in Einrichtungen der Kultur festzustellen, relevant, wenn die verdeckte Seilschaftsarbeit wie z. B. in der Verwaltung von Gedenkstätten, systematisch und organisatorisch zum Aufbau ebenso in Institutionen von Lehre und For- neuer Machtstrukturen im demokratischen Staat schung. — womöglich auf überregionaler Ebene — führt oder sich sogar krimineller Mittel bedient, um mit 1.3 Das Wirken von „Seilschaften" und der Verbleib Ressourcen aus der DDR-Zeit wi rtschaftliche von Altkadern des SED-Regimes in Führungsstel- Absicherungen für Gesinnungsgenossen, wenn len wirken sich offensichtlich auch nachteilig nicht gar Abwartepositionen für spätere politische auf die Verfolgung der Regierungs- und ver- Aktivitäten, zu schaffen [-> Protokoll Nr. 45]. einigungsbedingten Wirtschaftskriminalität aus. Nach Angaben von Fachleuten der Zentralen 1.1 Festgestellt werden muß, daß Altkader noch Ermittlungsstelle Regierangs- und Vereinigungs- immer oder wieder in Verwaltung und Wirtschaft kriminalität (ZERV) werden die Ermittlungen in in einflußreichen Positionen tätig sind. Diese Fällen der Wirtschaftskriminalität offenbar durch Funktionäre waren häufig nicht Mitarbeiter oder Obstruktion ehemaliger DDR-Funktionäre in zur Verpflichtete des Staatssicherheitsdienstes, weil Amtshilfe verpflichteten Behörden der neuen sie dem MfS schon qua Amt oder Funktion zuar- Bundesländer erheblich behindert. Die vereini- beiteten oder sogar Aufträge erteilten. Das Ver- gungsbedingte Wirtschaftskriminalität wirkt mit bleiben dieser früheren Funktionäre in einflußrei- Hilfe von „Seilschaften" fort, deren Verbindun- chen Positionen des öffentlichen Dienstes beein- gen auch in die alten Bundesländer reichen trächtigt das Vertrauen der Bürger in die Verwal- [-> Protokoll Nr. 45]. tung von heute. Wer mit der Tatsache konfrontiert wird, daß Machtträger des früheren SED-Regimes Zahlreiche ehemalige Partei- und Staatsfunktio- heute über Kündigungen und Einstellungen, näre der DDR, insbesondere auch frühere Ange- Beförderungen und Herabstufungen, die Vermitt- hörige des MfS, konnten sich in der 1990/91 lung von Arbeitsplätzen und ABM-Stellen, die entstandenen Privatwirtschaft Einfluß und Ver- Gewährung sozialer Leistungen usw. entschei- mögen sichern. Viele von ihnen beschafften sich den, wird oft die Schlußfolgerung ziehen, daß die die nötigen Mittel durch kriminelle Machenschaf- friedliche Revolution in der DDR 1989/90 und die ten wie Unterschlagung von DDR-Staatseigen- Wiedervereinigung Deutschlands seine Lage tum, Transferrubel-Betrug, Betrug in Verbindung nicht wesentlich verbessert haben; er hat zudem mit der Privatisierung von Treuhandbetrieben selten den Mut, offen und öffentlich Änderungen usw. Die dadurch entstandenen Schäden liegen zu verlangen. In Betrieben, Verwaltungen usw. nach Angaben der ZERV im Milliardenbereich entsteht dadurch häufig eine Atmosphäre von [-> Protokoll Nr. 45]. Bedrückung und Angst, in der Kritik an Macht- mißbrauch und ähnlichen Mißständen kaum noch Zu den Auswirkungen auf das Rechtsbewußtsein laut werden kann [-> Protokoll Nr. 45]. erklärte Landespolizeidirektor Manfred Kittlaus, Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle Regie Probleme gibt es nach den Erkenntnissen der rungs- und Vereinigungskriminalität beim Poli- Enquete-Kommission vor allem in der Arbeitsver- zeipräsidenten in Berlin, in der Anhörung der waltung, in den Personalabteilungen von Behör- Enquete-Kommission „Seilschaften in den neuen den, in Polizeidienststellen, bei Post und Bahn Bundesländern" am 27. September 1993 in Berlin: sowie in den Ämtern zur Regelung offener Ver- „Es wird auch verkannt, daß der Eindruck, der in mögensfragen. Dies gilt unabhängig davon, daß der Bevölkerung entsteht, daß hier eine staatlich in der Verwaltung der neuen Bundesländer in bedingte Kriminalität, ein staatlich bedingter Ver- großem Ausmaß Personalveränderungen stattge- brecherkreis möglicherweise unter den Teppich funden haben. gekehrt wird, massive Folgen haben wird für das 1.2 Auch in den Personalabteilungen von Wirt- Rechtsbewußtsein in der gesamten Bundesrepu- schaftsunternehmen der Treuhandanstalt, in den blik. Die organisierten Strukturen wirken natür- inzwischen privatisierten ehemaligen Treuhand- lich nicht regional und begrenzt auf den Bereich Erfurt, Dresden oder Berlin, sie wirken sich bun- betrieben, in zahlreichen Privatbetrieben sowie in vielen Wach- und Sicherheitsdiensten, besonders desweit aus. Organisierte Wirtschaftkriminalität ist immer überregional und interna der neuen Bundesländer, sind belastete Altkader tional. Glei- chermaßen wird das Rechtsbewußtsein natürlich tätig. Durch die Beziehungen zwischen Altkadern in Unternehmen und insbesondere in Kommunal- nicht nur in den fünf neuen Ländern, jenseits der verwaltungen entstanden „Seilschaften" , die zu Elbe, und auch in Berlin berührt, sondern auch bundesweit. Man neuen Machtstrukturen ehemaliger Funktionsträ- sollte auch, das möchte ich immer wieder anregen, untersuchen, welche ger des SED-Regimes führen können. Rückwirkungen das Gefühl von Versäumnissen Ähnliche Strukturen von eng in den Machtmiß- bei der Bewältigung der DDR-Vergangenheit auf brauch des SED/DDR-Regimes verwickelten Per- die akute Entwicklung der Gewaltkriminalität in sonen sind in der Bundesrepublik auch im Bereich Ost wie in West hat. Wenn wir hier eine rapide des Sports anzutreffen. Diese Personen nutzen steigende rechtsradikale Gefahr haben, dann hat nicht selten ihre früheren Westkontakte zu Sport- das sicherlich vielschichtige Ursachen. Eine Ursa- verbänden in den alten Bundesländern, um ihr - che ist nach unserer Auffassung mit Sicherheit in Verbleiben in wichtigen Positionen durchzuset- dem Gefühl einer nicht bewäl tigten DDR-Krimi- zen [-> Protokoll Nr. 45]. Dieselben Erscheinun nalität zu sehen ..." [-> Protokoll Nr. 45] Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

2. Die Enquete-Kommission versteht ihre Vor- 2.2 Die Enquete-Kommission bedauert, daß es im schläge als Appell, sich mit dem bisherigen Stand Laufe der vergangenen Jahre nicht gelungen ist, der politischen Erneuerung nicht zufriedenzuge- eine „Bund-Länder-Zentralstelle" nach dem ben, sondern sie unter Beachtung der realen „Ludwigsburger Modell " einzurichten. Ange- Möglichkeiten in den Kommunen, in den Ländern sichts der schwierigen Bedingungen für die justi- und im Bund fortzusetzen. Dabei ist der Enquete tielle Aufarbeitung der Regierungs- und Vereini- Kommission bewußt, daß die Erwartungen der gungskriminalität hätte die Enquete-Kommission Menschen, die in der Wendezeit bestanden die Einrichtung einer solchen Zentralstelle der haben, unter den Bedingungen der heutigen heutigen Zuständigkeitsregelung vorgezogen. tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten nur noch eingeschränkt erfüllbar sind. Angesichts des immensen Aufklärungsbedarfs ist es unverständlich und inakzeptabel, daß die Mög- Zur Eindämmung des Wirkens von „Seilschaf- lichkeiten zur Ermittlung und Verfolgung von ten", zur Beseitigung oder zumindest Verminde- Regierungs- und Vereinigungskriminalität (z. B. rung noch vorhandener Machtpositionen von frü- durch Streichung von Zulagen) gemindert und heren DDR-Funktionärsgruppen und für eine ver- geradezu gefährdet werden. Daher empfiehlt die stärkte Bekämpfung der Regierungs- und Ver- Enquete-Kommission ausdrücklich, auch nach einigungskriminalität erwartet die Enquete-Kom- Auswertung eigener Anhörungsergebnisse, die mission: Stärkung der Zentralen Ermittlungsstelle Regie 2.1 Der Verbleib von ehemaligen verantwortlichen rungs- und Vereinigungskriminalität beim Poli- DDR-Funktionsträgern in solchen Posi tionen des zeipräsidenten in Berlin (ZERV). Die Staatsan- öffentlichen Dienstes der Kommunen, der L ander waltschaften zur Verfolgung der Regierungs- und und des Bundes, in denen sie z. B. über Personal- Vereinigungskriminalität in Berlin sowie die angelegenheiten, dienstliche Beurteilungen, die ZERV müssen endlich das zur Erfüllung ihrer Vermittlung von Arbeitsplätzen, berufliche Fort- Aufgaben dringend benötigte Personal zur Verfü- bildungs-, Beschäftigungs- oder Qualifikations- gung gestellt bekommen. Dabei müssen die alten maßnahmen zu entscheiden haben, ist im Rahmen Bundesländer ihre verbindlichen Zusagen über der gesetzlichen Regelungen zu überprüfen. Personalabordnungen einhalten. Das Fachperso- Hierzu gehören die Träger des Repressionsappa- nal muß in diesen Dienststellen generell langfri- rates der SED/DDR-Regimes, Mitarbeiter des MfS stig tätig sein können. Nachteile durch die Strei- und auch solche früheren Funktionsträger, die chung bisher gewährter Zulagen und bei Beförde- durch herausgehobene Ämter kompromittiert rungen sind zu vermeiden bzw. rückgängig zu sind (z. B. verantwortliche Mitarbeiter von Ka- machen. Die mit entsprechenden Aufgaben derabteilungen und von Abteilungen Innere betrauten Dienststellen auf Länderebene müssen Angelegenheiten der Räte der Bezirke, Kreise durch unbelastetes Fachpersonal verstärkt wer- und Städte, verantwortliche und hauptamtliche den. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die hierfür Parteifunktionäre). Dabei ist dem Bereich der benötigten Gelder durch erfolgreiche Ermittlun- Bildung, Lehre und Forschung besondere Auf- gen im Bereich der vereinigungsbedingten Wirt- merksamkeit zu widmen. schaftskriminalität mehrfach zurückgewonnen werden können. Die vom Bundesinnenministerium bereits 1991 in Absprache mit den neuen Bundesländern entwik- 2.3 „Seilschaften" in der öffentlichen Verwaltung kelten Kriterien zur Weiterbeschäftigung im sollten durch Entlassung oder Versetzung von öffentlichen Dienst sind in allen Bundes-, Landes- Bediensteten, die sich in solchen „Seilschaften" und Kommunalbehörden, sowohl in den alten als betätigen bzw. ehemalige DDR-Funktionäre be- auch in den neuen Bundesländern, anzuwenden günstigen, aufgelöst werden. Die Öffentlichkeit und umzusetzen. Eine Einzelfallprüfung anhand ist für das Wirken von verdeckten Funktionärs- dieser Maßstäbe ist nach dem Einigungsvertrag verbindungen zu sensibilisieren und die parla- unumgänglich, bei der der Be troffene Gelegen- mentarische Kontrolle der Verwaltung zu ver- heit zur Stellungnahme erhält. Dabei kann auch stärken. von einer Versetzung in eine untergeordnete oder Unternehmensleitungen und Betriebsräte sollten veränderte Tätigkeit oder von einer Amtsabsti- in geeigneter Form auf die Problematik der „Seil- nenz auf Zeit Gebrauch gemacht werden. schaften" aufmerksam gemacht werden, nicht Um frei werdende Positionen im öffentlichen zuletzt wegen der latenten Erpreßbarkeit ehema- Dienst verstärkt durch unbelastete Bewerber, liger verantwortlicher Funktionsträger des SED- zum Beispiel durch beruflich Rehabilitierte, beset- Regimes. Die Personalvertretungen in der öffent- zen zu können, ist die Ausbildung von Bewerbern lichen Verwaltung sollten das Wirken ehemaliger aus den neuen Bundesländern durch besondere verantwortlicher DDR-Funktionäre im öffentli- Förderungsmaßnahmen zu intensivieren. Abwei- chen Dienst besonders beachten. Die Innenmini- chungen von den geltenden Laufbahnvorschrif- ster der neuen Bundesländer sollten belastete ten sind zugunsten fähiger, zuverlässiger und Angehörige der früheren Sicherheitsorgane der unbelasteter Bewerber verstärkt zu ermöglichen. DDR von leitenden Posi tionen in der Polizei fern Keinesfalls darf es zu einer Benachteiligung von -halten, insbesondere auch von solchen Tätigkeits- Bediensteten kommen, die erst nach der Wende- bereichen, von denen aus Ermittlungen in Fä llen im Herbst 1989 in der DDR in den öffentlichen der Regierungs- oder Vereinigungskriminalität Dienst eingetreten sind. behindert werden können. Im Justizvollzugs- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

dienst sind belastete Angehörige des Strafvoll- menhängenden Wirtschafts- bzw. Bereicherungs- zugsdienstes der DDR nicht tragbar. kriminalität zu erfassen. Die Standesorganisationen der Rechtsanwälte Zu prüfen ist, ob die Entscheidung der freigewähl- und Notare sollten von den Überprüfungsmög- ten Volkskammer, den Tatbestand der Untreue lichkeiten durch die Behörde des Bundesbeauf- im DDR-Strafgesetzbuch zu ändern, durch heu- tragten für die Unterlagen des Staatssicherheits- tige Gesetzesänderungen aufgefangen werden dienstes der ehemaligen DDR konsequent Ge- kann. brauch machen, um den Rechtsfrieden in den 2.6 Bei Leistungsgesetzen des Bundes müssen Hand- neuen Ländern zu sichern. lungen von Leistungsbewerbern, die im Sinne des 2.4 Die Enquete-Kommission bleibt davon überzeugt, Einigungsvertrages gegen Menschenrechte und daß mit Inkraftsetzen des Stasi-Unterlagengeset- Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, zu einem zes eine wesentliche Grundlage zur Aufarbeitung Leistungsausschluß oder einer Leistungsminde- von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in rung führen. Kriterien zur Verwendung von Deutschland geschaffen worden ist. Das Offen- öffentlichen Mitteln sind darauf zu überprüfen, ob halten der Akten wird auch in den kommenden damit belastete Einzelpersonen und „Seilschaf- Jahren notwendig sein. Die Enquete-Kommission ten" begünstigt und die Gelder zweckentfremdet begrüßt die Änderung des Stasi-Unterlagengeset- verwandt werden. zes, derzufolge Informationen aus dem Zentralen 2.7 Die Möglichkeiten der Pe titi Einwohnerregister der ehemaligen DDR (ZER) für onsausschüsse des die Arbeit der Behörde des Bundesbeauftragten Bundestages und der Landtage der neuen Bun- desländer, Beschwerden der Bürger über das für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Wirken von SED-Seilschaften, Machtmißbrauch der ehemaligen DDR sowie für Gerichte und ehemaliger SED-Kader und ähnliche Mißstände Strafverfolgungsbehörden genutzt werden kön- nen. nachzugehen, sollten in den neuen Bundeslän- dern weit mehr als bisher bekanntgemacht wer- Die inzwischen bei der Auswertung der Akten des den. Der Petitionsausschuß des Bundestages ehemaligen MfS festgestellten zahlreichen Straf- befaßte sich bereits mit zahlreichen Beschwerden tatbestände und die Notwendigkeit der Verfol- u. a. über „Seilschaften" ehemaliger DDR-Funk- gung solcher Vorgänge erfordern eine erneute tionäre in der Arbeitsverwaltung, bei Post, Bahn Aktion zur Groberschließung der ungeordneten und Zoll sowie bei Landes- und Kommunalbehör- Aktenbestände in der Behörde des Bundesbeauf- den. tragten, wie sie bereits 1991 mit Hilfe von Ange- hörigen des Bundesgrenzschutzes und anderer Um den Bürgern die Zuständigkeiten und die nachgeordneter Behörden des BMI durchgeführt Möglichkeiten der Petitionsausschüsse des Bun- wurde. destages und der Landtage deutlich vor Augen zu führen, bittet die Enquete-Kommission den Vor- Die Enquete-Kommission empfiehlt eine inten- sitzenden des Petitionsausschusses des Bundesta- sive Auswertung der Stasi-Akten auf Straftatbe- ges, mit den Vorsitzenden der Petitionsaus- stände. Um nicht erneut eine Verjährungsdebatte schüsse der Landtage der neuen Bundesländer führen zu müssen, ist eine weitere Abordnung von eine Bestandsaufnahme der bisherigen Befassung Staatsanwälten und Ermittlungsfachleuten in die der Petitionsausschüsse mit Bürgerbeschwerden Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterla- über SED-Seilschaften durchzuführen und die gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Bürger mit Hilfe der Medien darauf aufmerksam DDR notwendig. zu machen, daß sie ihre Beschwerden diesen Ausschüssen vorlegen können. Die Enquete- Die vollständige Erschließung der Stasi-Akten ist Kommission hält es außerdem für sinnvoll, im ein vordringliches Ziel zur Aufarbeitung der DDR- Bericht des Petitionsausschusses an den Bundes- Vergangenheit. tag gesondert über das Problem der „Seilschaf- 2.5 Das von der Koalition erarbeitete Verbrechensbe- ten" betreffenden Bürgerbeschwerden aus den kämpfungsgesetz 1994 nimmt in den Straftatbe- neuen Bundesländern zu berichten. Um „Seil- stand der Geldwäsche (§ 261 StGB) zusätzlich die schaften" im öffentlichen Dienst erkennen zu Delikte der Geldfälschung, der Unterschlagung, können und gleichzeitig das Vertrauen der Bevöl- des Betrugs, des Subventionsbetrugs, der Untreue kerung in die Verwaltung zu stärken, empfiehlt und der Urkundenfälschung auf. Damit wird es die Enquete-Kommission eine Erweiterung der auch möglich, die Delikte vor allem aus dem Kontrollkompetenzen der Landesbeauftragten für Bereich der mit der Wiedervereinigung zusam Stasi-Unterlagen.

- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

IL Ministerium für Staatssicherheit

Inhalt chen Institutionen besonders hinwies, schilderte Tho- mas Rudolph insbesondere die „Bearbeitung" von a) Beratungsverlauf Kirchen, Kultur und Opposition durch die Dienstein- heiten der Einsatzleitung XX des MfS. b) Bericht Dem Vortrag folgten Berichte der Zeitzeugen und Experten Klaus Schwalm, Prof. Hans-Joachim 1. Einleitung Memmler, Walter Schilling, Franz Pfitzenreuter, Lo- thar Tautz, Irena Kukutz und Heinz Busch zum Thema 2. Zielstellung, Aufgaben, Strukturen und Arbeits- „Die Arbeit des MfS mit Inoffiziellen Mitarbeitern" weise des MfS unter der Gesprächsleitung von Martin Gutzeit, sach- verständiges Mitglied der Enquete-Kommission. Zur 3. Die Tätigkeit ausgewählter Diensteinheiten des „Bearbeitung" von Bürgern in Operativen Personen- MfS kontrollen und Opera tiven Vorgängen informierten die Zeitzeugen und Experten Reinhard Schult, Katrin 3.1 Die Arbeit der Hauptabteilung XVIII Eigenfeld, Vinzenz und Benno Gerlach sowie Bern- 3.2 Die Hauptabteilung XX und die Arbeit mit Inoffi- hardt Simon unter der Gesprächsleitung des Abg. ziellen Mitarbeitern Gerd Poppe (Bündnis 90/Die Grünen). 3.3 Die Hauptverwaltung A 3.4 Die Zentrale Auswertungs- und Informa tions- gruppe — das „Nervenzentrum" des MfS 2. Expertisen und Berichte

4. Die Zusammenarbeit des MfS mit dem KGB und Die Arbeitsgruppe „Staatssicherheit" hat vier Exper- anderen Geheimdiensten der Warschauer-Pakt- tisen (Irene Chaker, Roger Engelmann, Helmut Mül- Staaten ler-Enbergs, Arnold Seul), einen Bericht (Bernhard Marquardt) sowie eine Kommentierte Dokumenten- 5. Zur Qualität und Aussagefähigkeit von Unterla- sammlung beim Bundesbeauftragten für die Unterla- gen des MfS gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in Auftrag 6. Forschungsdesiderata und Empfehlungen gegeben — vgl. Anlage.

Arbeitsgruppe „Staatssicherheit" b) Bericht

1. Einleitung a) Beratungsverlauf Innerhalb der Machtstrukturen des SED-Regimes war 1. Öffentliche Anhörung das nach dem Vorbild der sowje tischen Polizei- und Sicherheitsorgane entstandene Ministerium für Staatssicherheit zweifellos das Kernstück des Macht- Unter Federführung der Arbeitsgruppe „Staatssicher- und Disziplinierungsapparates, d. h. konstitutives heit" wurde am 15. Januar 1993 in Bonn eine Öffent- Herrschaftsinstrument der SED. Als solches diente es liche Anhörung zum Thema „Das ehemalige Ministe- dazu, vor allem das Sicherheitsbedürfnis der Partei- rium für Staatssicherheit" [—> Protokoll Nr. 23] veran- führung zu befriedigen. Das MfS war nicht, wie staltet. vielfach behauptet, „Staat im Staate", auch wenn es Im Mittelpunkt stand das ehemalige Ministe rium für gegenüber anderen staatlichen oder gesellschaftli- Staatssicherheit (MfS) als Herrschaftsinstrument der chen Institutionen eine unvergleichlich große Macht- SED und insbesondere die Arbeit mit Inoffiziellen fülle besaß: „Das MfS hat das Recht, zu allen Proble- Mitarbeitern sowie die „Bearbeitung" von Bürgern in men der staatlichen Leitung, durch die Fragen der Operativen Personenkontrollen (OPK) und Operati- staatlichen Sicherheit berührt werden, Stellung zu ven Vorgängen (OV). „Das MfS als Herrschaftsinstru- nehmen und Vorschläge zu machen. Im Rahmen der ment der SED — Kontinuität und ,Wandel' " behan- allgemeinverbindlichen Rechtsvorschriften und Be- delte Karl Wilhelm Fricke, sachverständiges Mitglied schlüsse ist es befugt, Forderungen gegenüber den der Enquete-Kommission, in seinem Einleitungsvor- zuständigen Stellen zu erheben" (Statut des MfS von trag. Während er sich in seinem Vortrag mit Funktion, 1969). Der „Staat im Staate" ist vielmehr — um im Aufbau, Personal und Hauptaufgaben des MfS aus- Bilde zu bleiben — die SED-Führung gewesen, die zu einandersetzte und dabei auf das strukturelle Bezie- jeder Zeit das MfS unter Kontrolle hatte und ihren hungsgeflecht zur führenden Partei und den staatli- Führungsanspruch durchsetzte. Das MfS war der Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Partei gegenüber und nicht der Volkskammer oder und kooperativ die ihnen gestellten Hauptaufgaben dem Ministerrat verantwortlich. „Ohne die Herrschaft auf eine gemeinsame Zielstellung hin lösten [-> Pro- der SED wäre das MfS nicht geschaffen worden .. ., tokoll Nr. 23 und Expertise Chaker]. aber ohne das MfS wäre die Herrschaft der SED auch Als Hauptaufgaben werden im Statut des MfS von nicht zu realisieren gewesen" [-> sachverständiges 1969 u. a. die Zerschlagung und Zersetzung „feind- Mitglied der Enquete-Kommission Fricke, Protokoll licher Agenturen", die Aufdeckung „geheimer sub- Nr. 23]. versiver Pläne und Absichten" sowie das Aufdecken Mit Hilfe des MfS durchdrang die SED neben den eher und Vorbeugen von Straftaten gegen die DDR ange-

öffentlich wirkenden Organisationen und Institutio- geben. Des weiteren gehörte dazu die Verhinderung nen die Gesellschaft auf konspirative Weise. Das MfS „feindlicher" militärischer Überraschungshandlun- war ein militärisch organisierter Apparat, dessen Auf- gen, die Vorbereitung und Durchsetzung von Maß-

gabe u. a. darin bestand, die Widersprüche in der nahmen für den Verteidigungszustand, der auch für

Gesellschaft sowie Widerstand und Opposi tion gegen den Fall der Möglichkeit interner Konflikte galt

das SED-Regime nicht in der Öffentlichkeit sichtbar [-3 Rudolph, Protokoll Nr. 23], sowie der Schutz der werden zu lassen. Die Analyse seiner Tätigkeit Staatsgrenze und des grenzüberschreitenden Ver- gewährte daher nicht nur einen Einblick in die Herr- kehrs im Zusammenwirken mit dem Ministerium für schaftsmechanismen des SED-Regimes, sondern auch Nationale Verteidigung, dem Ministerium des Innern

in die verschiedensten Formen von Verweigerung und den Zollbehörden. Dem MfS war auch die

und Widerstand gegen das System. Gewährleistung der staatlichen Sicherheit in den „bewaffneten Organen" übertragen. Weitere wich- Zur Sicherung der SED-Herrschaft übernahm das MfS tige Hauptaufgaben waren die Informa tion der Partei- eine Reihe von Funktionen, die in einer offenen und Staatsorgane über „feindliche" Pläne der inneren Gesellschaft und in einem demokratischen Staat, öffentlich und demokratisch kontrolliert, von ver- Opposition und „feindliche" Absichten von außen. schiedenen zivilen Institutionen wahrgenommen wer- Dabei lag die besondere Gefährlichkeit des MfS in der Bündelung seiner Kompetenzen, die weder admi- den. Gerade daran zeigte sich der tiefe Zwiespalt nistrativ noch parlamentarisch kontrolliert wurden zwischen SED-Führung und DDR-Gesellschaft, der sich durch den hypertrophen Ausbau des Sicherheits- [-> sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommis- sion Fricke, Protokoll Nr. 23]. apparates verschärfte, bis er schließlich mit der f ried- lichen Revolution im Herbst 1989 aufbrach und das Die strukturelle Gliederung sowie der personelle Ende des SED-Regimes besiegelte. Bestand des MfS haben sich im Laufe seiner Geschichte gewandelt; überdies wurden sie den poli-

tischen Erfordernissen angepaßt. Zuständigkeiten

2. Zielstellung, Aufgaben, Struktur und und Personalbestand uferten immer mehr aus. An der

Arbeitsweise des MfS Entwicklung des MfS läßt sich die Geschichte der

SED-Diktatur anschaulich machen. So wurde der

Wie umfassend und vielfältig die gesetzlich nicht Personalbestand des MfS, der 1950 noch 1 000 haupt- näher definierten Aufgaben des MfS innerhalb des amtliche Mitarbeiter betrug, nach dem 17. Juni 1953

SED-Regimes tatsächlich waren, wird eine noch zu erheblich aufgestockt, so daß er im Jahr 1954 auf leistende genaue Auswertung der riesigen Aktenbe- 11 700 anwuchs. Nach der Zunahme von Ausreise- stände dieses zentralen Unterdrückungsapparates begehren infolge der Unterzeichnung der KSZE- zeigen. Seine Aufgaben und Zuständigkeiten lassen Schlußakte wurde eine Zentrale Koordinierungs- sich aber schon jetzt sehr gut den Statuten, Richtlinien, gruppe (ZKG) mit nachgeordneten Bezirkskoordinie- Befehlen, Dienstanweisungen und Jahresplänen ent- rungsgruppen geschaffen, die die anwachsende Aus- nehmen, die als interne Bestimmungen strengster reisebewegung bekämpfen sollte. Den Bereich Kom-

Geheimhaltung unterlagen. Die generelle und umfas- merzielle Koordinierung (KoKo) schuf sich das MfS zur sende Zielstellung ergibt sich aus einer Formulierung Abschirmung der Geschäfte von Alexander Schalck- des oben genannten MfS-Statuts: „Die Tätigkeit des Golodkowski, als sich die Devisenbeschaffung zu

MfS konzentriert sich auf die Aufklärung und Abwehr einer Überlebensfrage der DDR-Wirtschaft entwik- zur Entlarvung und Verhinderung feindlicher Pläne kelte [-> sachverständiges Mitglied der Enquete- und Absichten der aggressiven impe rialistischen Kommission Fricke, Protokoll Nr. 23]. Aufgrund der

Kräfte und ihrer Helfer." Seine Tätigkeit verstand das zeitlichen Möglichkeiten und angesichts des Standes

MfS demnach als Teil des „weltgeschichtlichen der Erschließung der Unterlagen konnte sich die Kampfes gegen den Imperialismus", dessen angebli- Enquete-Kommission nur einen ersten Überblick ver- che politisch-ideologische Diversion (PID) als Ursache schaffen und mußte wichtige Bereiche wie z. B. Profil abweichenden, widerständigen und oppositionellen und Rolle der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS

Verhaltens in der DDR angesehen wurde. Aus diesem oder die Arbeit in den „bewaffneten Organen" außer ideologischen Selbstverständnis und dem damit ver- acht lassen. Eine genaue Erforschung und Dokumen- bundenen Feindbild ergab sich ein enges Zusammen- tation der Entwicklung der Strukturen des MfS und wirken von Aufklärung und Abwehr, die arbeitsteilig seiner Tätigkeit steht noch aus. Deutscher Bundestag — 12 . Wahlperiode Drucksache 12/7820 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Arbeitsweise des MfS war dadurch bestimmt, daß B-Beauftragter im Rahmen des Nationalen Verteidi- es sich um einen streng konspirativ arbeitenden und gungsrates und der Einsatzleitungen genutzt werden militärisch organisierten Apparat handelte. Seine [-> Rudolph, Protokoll Nr. 23]. Tätigkeit beruhte auf militärischen Befehlsstrukturen und war durch militärische Disziplin sowie ideologi- sche Erziehung „zu unverbrüchlicher Treue zur Partei 3. Die Tätigkeit ausgewählter Diensteinheiten der Arbeiterklasse" (Statut des MfS) geprägt. Die des MfS strikte Konspiration bedingte, daß jeder Mitarbeiter des MfS nur das wissen durfte, was er in Kenntnis der Bedingt durch die Sicherheitsdoktrin der SED, wurde grundlegenden Zielstellungen zur Erfüllung seiner dem MfS zunehmend die Lösung von politischen Aufgaben wissen mußte. Konflikten und ökonomischen Problemen zugewie- Die Arbeitsweise des MfS, die sich von eher brutalem sen, für die die Entscheidungsebenen entweder der Vorgehen in der Frühzeit zu subtileren Methoden in Politbürokratie der SED oder des Regierungs- und späteren Jahren entwickelte, lassen sich grob in Verwaltungsapparates der DDR zuständig gewesen technische Mittel, in opera tiv-taktische Maßnahmen wären. In dieser Überforderung des MfS lag einerseits und in Methoden der Informationsgewinnung unter- seine personelle und institutionelle Hypertrophie teilen [-> Rudolph, Protokoll Nr. 23]. Die technischen rung, seine kaderpolitische Expansion und seine Mittel reichten von erkennungsdienstlichen Maßnah- absurde Bürokratisierung begründet; andererseits men, über Funküberwachung und Briefkontrolle bis bedingte sie auch sein Scheitern. Als Institution war hin zur Telefonüberwachung sowie dem Einsatz von das MfS untauglich, politische Konflikte oder ökono- elektronischen Abhöranlagen. Die Konsequenz war mische Probleme zu lösen. eine ständige Verletzung der Menschen- und Bürger- rechte. Zu den operativ-taktischen Maßnahmen und Methoden gehörte u. a. a ll das, was das MfS aktiv zur 3.1 Die Arbeit der Hauptabteilung XVIII „vorbeugenden Verhinderung feindlich-negativer Tätigkeit", d. h. oppositionellen und widerständigen Dem aufgezeigten Dilemma des MfS war auch die Verhaltens, vor allem im Inneren bei der „Bearbei- Hauptabteilung XVIII ausgeliefert, die zum Verant- tung" Operativer Vorgänge einsetzte. Dazu gehörten wortungsbereich des Ministerstellvertreters Rudi Mit- „Zersetzungsmaßnahmen" gegen Andersdenkende, tig gehörte und von Generalleutnant Alfred Kleine z. B. die Verbreitung von Gerüchten zur Diskreditie- geleitet wurde [— Expertise Seul]. Sie war im wesent- rung, die Organisierung beruflicher Mißerfolge oder lichen für die Abschirmung und Überwachung zentra- die Verunsicherung mit Hilfe von Inoffiziellen Mitar- ler Objekte und Einrichtungen der DDR-Volkswirt- beitern oder durch aktive, wahrnehmbare Beschat- schaft einschließlich entsprechender Leitungs- und tung. Die aktiven Maßnahmen zielten z. B. darauf ab, Planungsinstitutionen im Staatsapparat (Ministe rien, Entscheidungen von kirchlichen Gremien oder Grup- Plankommissionen) zuständig, kontrollierte die Au- pen zu beeinflussen. Bei den Methoden der Informa- ßenhandelsbeziehungen — soweit diese nicht dem tionsgewinnung des MfS ist die Tatsache zu beachten, Bereich Kommerzielle Koordinierung vorbehalten daß es in der DDR für den Bürger keinen Schutz blieben, aber sie war gleichzei tig in die Beschaffung personenbezogener Daten gab. „Das MfS, die Org ane von Spionageinformationen aus der bundesdeutschen des Nationalen Verteidigungsrates, die SED und Wi rt Wirtschaft sowie in die Beschaffung von Embargowa- -schaftsboa Mittag hatten ... zu jeder Person eine ren eingebunden. Schließlich fielen auch die Aufklä- riesige rechnergestützte Akte angelegt, auf die das rung und die Verhinderung von Bränden und Hava- MfS jederzeit Zugriff hatte" [–> Rudolph, Protokoll rien in ihre Zuständigkeit, wo immer das MfS als Nr. 23]. Ursache Sabotage („Feindeinwirkung") vermutete. Neben diesen „normal" anfallenden Informationen 1989 zählte die Hauptabteilung XVIII, die aus der konnte sich das MfS auf ein ausgeklügeltes System Leitung, einer Auswertungs- und Kontrollgruppe der Informationsbeschaffung und des Informa tions- sowie vierzehn Fachabteilungen bestand, 672 haupt- austausches stützen. Neben einem flächendeckenden amtliche Mitarbeiter. Vertikal stützte sie sich auf System von Inoffiziellen Mitarbeitern und hauptamt- Abteilungen und Referate in den Bezirksverwaltun- lich konspirativ tätigen Mitarbeitern (Offiziere im gen und Kreisdienststellen des MfS [--p Exper tise besonderen Einsatz, hauptamtliche Inoffizielle Mitar- Seul]. beiter) besaß das MfS eine Reihe weiterer Informa- tionsquellen. Wichtig waren die sog. Partner des Für die opera tive Arbeit unterhielt die Hauptabtei- Operativen Zusammenwirkens (POZW) im Staatsap- lung XVIII ein eigenes Netz von über 2 100 Inoffiziel- parat, in der Volkswirtschaft sowie in den Parteien und len Mitarbeitern. Ihrem spezifischen Auftrag entspre- Massenorganisationen, die dem MfS direkt berichte- chend waren sie in Leitungs- und Entscheidungs- ten. Ferner sind die inoffiziellen Informationen der strukturen von Industriebetrieben und Banken sowie Nomenklaturkader an die SED über die Ersten Sekre- in der Wirtschaft und im Außenhandel der DDR täre, die Abteilung Sicherheitsfragen oder die Einsatz- placiert. Dieses auf die Bel ange der Ökonomie spezia- leitungen beschaffbar gewesen. Auch auf die Infor- lisierte Netz Inoffizieller Mitarbeiter, dem analoge mationen der Inoffiziellen kriminalpolizeilichen Mit- IM-Arbeit auf Bezirks- und Kreisebene entsprach, arbeiter wie auf Inoffizielle Mitarbeiter der Verwal- wurde bereits Mitte der fünfziger Jahre geknüpft. tung Aufklärung des Ministeriums für Na tionale Ver-- 1955 begründete Ernst Wollweber als damaliger teidigung konnte das MfS selbstverständlich zurück- Staatssicherheitschef der DDR die Verbesserung der greifen. Außerdem konnten die Berichterstattung sog. „operativen Arbeit" in den Objekten der Wi rtschaft Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 mit „dem Fehlen einer umfangreichen Agentur quail- der „Linie XVIII" und anderer opera tiver Hauptabtei- fizierter Spezialisten der Volkswirtschaft". 1982, fast lungen. Die Inoffiziellen Mitarbeiter der Hauptabtei- drei Jahrzehnte später, hat sein Amtsnachfolger E rich lung XX wurden nach denselben normativen Grund- Mielke abermals die Notwendigkeit einer „politisch- lagen tätig, die auch die IM-Arbeit anderer Hauptab- operativen Sicherung der Volkswirtschaft" durch Er- teilungen bestimmten [-> Expertise Müller-Enbergs]. laß einer entsprechenden Dienstanweisung hervor- Ihre Analyse belegt ein mit pseudowissenschaftlicher gehoben [-> Exper tise Seul]. Auch in den 80er Jahren Akribie ausgeklügeltes Überwachungs- und Siche- hatten die Verantwortlichen nicht beg riffen, daß sich rungssystem in Staat und Gesellschaft, in dem Be- volkswirtschaftliche Effizienz nicht durch Manipula- griffsbestimmung, Anforderungsprofil und Aufgaben- tion und Überwachung durch die Geheimpolizei errei- stellung bis in letzte Details hinein geregelt waren. chen läßt. Als entscheidendes „Qualitätskriterium" für die „ge- samte Arbeit mit IM" hat Staatssicherheitsminister Wie wenig realistisch diese Problematik im MfS gese- Erich Mielke 1975 „die zielstrebige Erarbeitung ope- hen wurde, beweist die verdeckte Arbeit mit Offizie- rativ bedeutsamer Informationen durch die Inoffiziel- ren im besonderen Einsatz (OibE) in Schlüsselpositio- len Mitarbeiter entsprechend ihren Einsatzrichtun- nen der Wirtschaftsleitung und -planung. Gerade gen" bezeichnet. Dabei ging es darum, „die ganze diese Aktivitäten der Hauptabteilung XVIII, die noch Republik, unser gesamtes Territorium so unter Kon- einer näheren Untersuchung — auch unter dem trolle zu halten, einen solchen Überblick zu gewähr- Gesichtspunkt fortwirkender „Seilschaften" — bedür- leisten, daß nichts passieren kann" [-> Expertise rt fen, machen anschaulich, daß dem MfS in der Wi Müller-Enbergs]. -schaft Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse zuge- wachsen waren, die der Sache nach gemeinhin nicht Es war dieser Drang nach immer mehr Informationen, in die Zuständigkeit einer Geheimpolizei fallen. die politisch gar nicht mehr meßbar waren, der letzt- lich die Staatssicherheit zur Ineffizienz verdammen Dieselbe Schlußfolgerung ergibt sich auch aus einer sollte. Welche besondere Rolle die Einsatzrichtung Analyse der unter der Bezeichnung „Kommerzielle der Hauptabteilung XX dabei gespielt hat, machen Koordinierung" zusammengefaßten Außenhandels- einige Zahlen deutlich. Zum Beispiel entfielen in der unternehmen, die seit 1966 durch OibE geleitet wur- Bezirksverwaltung Leipzig zuletzt von 3 015 Inoffi- den, allerdings nicht in der Zuständigkeit der Haupt- ziellen Mitarbeitern 786 auf IM der „Linie XX". In der abteilung XVIII, sondern des Bereichs KoKo im Bezirksverwaltung Rostock kamen von 3 972 IM 752 MfS. auf dieselbe Einsatzrichtung. Im Regelfall waren die IM-Netze der Hauptabteilung XX diejenigen, die besonders weitverzweigt und dicht geknüpft waren 3.2 Die Hauptabteilung XX und die Arbeit mit [-> Rudolph, Protokoll Nr. 23]. Nur in der Abschir- Inoffiziellen Mitarbeitern mung und Überwachung der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR durch die Hauptab- Die ebenfalls Mittigs Verantwortungsbereich unter- teilung I waren die IM-Netze noch engmaschiger und stellte Hauptabteilung XX, die zuletzt von General- personalaufwendiger [-> sachverständiges Mitglied leutnant Paul Kienberg geleitet wurde, ist zu Recht als der Enquete-Kommission F ricke, Protokoll Nr. 23]. „das eigentliche Zentrum der Staatssicherheit" cha- Die beiden wichtigsten der insgesamt neun Abteilun- rakterisiert worden. Bei ihr waren alle Aktivitäten gen der Hauptabteilung XX waren die Abteilungen konzentriert, die auf die Bekämpfung „politisch- 4 und 9 — die eine zuständig für die „operative ideologischer Diversion" und „politischer Unter- Bearbeitung" der Kirchen in der DDR einschließlich grundtätigkeit" gerichtet waren. Mit anderen Worten: der Durchdringung kirchlicher Leitungen mit Inoffi- Die Hauptabteilung XX war in der Hauptsache für die ziellen Mitarbeitern zur Beeinflussung von Politik und Überwachung und Unterdrückung politisch Anders- speziell Personalpoli tik der Kirchen, die andere für die denkender, für jedwedes widerständiges und opposi- „operative Bearbeitung" der Opposi tion, der Träger tionelles Verhalten zuständig [-> Rudolph, Protokoll „politischer Untergrundarbeit" und „politisch-ideolo- Nr. 23]. Ihre Aufgabenstellung umfaßte konkret die gischer Diversion" [-> Rudolph, Protokoll Nr. 23; Abschirmung und Überwachung des staatlichen und Expertise Besier/Neuberg]. Auch die Hauptapteilung gesellschaftlichen Überbaus einschließlich der Kon- XX verfügte über eine Anzahl Offiziere im besonde- trolle sog. Reisekader, die Überwachung von Füh- ren Einsatz, von denen mehrere gezielt im kirchlichen rungsstrukturen der Blockparteien und Massenorga- Raum placiert waren. nisationen, nicht hingegen der SED, sowie der Sport- Die Bedeutung der Hauptabteilung XX war auch vereinigungen, die „operative Bearbeitung" von Kir- daran erkennbar, daß sie durch die Dienstanweisung chen und Religionsgemeinschaften, die Überwa- Mielkes Nr. 2/85 „zur vorbeugenden Verhinderung, chung der Massenmedien sowie zentraler Einrichtun- Aufdeckung und Bekämpfung politischer Unter- gen von Kultur und Literatur, des Bildungswesens und grundtätigkeit" ermächtigt wurde, gegenüber ande- der Wissenschaft sowie nicht zuletzt die zielgerichtete ren operativen Diensteinheiten — speziell gegenüber Bekämpfung der Opposition. der Hauptverwaltung A sowie den Hauptabteilun- In der Hauptabteilung XX waren knapp 400 haupt- gen I, II, III einschließlich der Abteilungen M und 26, amtliche Mitarbeiter und weit über eintausend Inoffi- ferner den Hauptabteilungen VI, VII, VIII und IX — zielle Mitarbeiter tätig. Vertikal stützte sie sich auf „die Federführung bei der Bekämpfung politischer Abteilungen und Referate in den Dienststellen des Untergrundtätigkeit wahrzunehmen" [-> Rudolph, MfS auf Bezirks- und Kreisebene. Die Strukturen der Protokoll Nr. 23]. Zudem ist anzumerken, daß sich die „Linie XX" waren demnach genauso angelegt wie die Tätigkeit der Diensteinheiten der Einsatzrichtung XX Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode keineswegs in der Beschaffung von Informationen sen hervorgeht, sondern auch die Anhörung der erschöpfte, sondern Einflußnahme auf die Genehmi- Enquete-Kommission zum MfS vielfach ergeben hat gung oder Verweigerung von Reisen oder auf den [-> Rudolph, Busch, Protokoll Nr. 23]. Tatsächlich beruflichen Werdegang eines Menschen bedeuten waren die Diensteinheiten der „Aufklärung" und der konnte, ferner die Einleitung einer Opera tiven Perso- „Abwehr" in wechselseitiger Zusammenarbeit mit- nenkontrolle oder das Anlegen eines Opera tiven einander verbunden, auch wenn die Hauptverwal- Vorgangs bis hin zu „Maßnahmen der Zersetzung". tung A innerhalb des MfS eine relative Eigenständig- keit besaß. Qualita tive Unterschiede zwischen „Auf- Ein weiteres Indiz für die herausgehobene Bedeutung klärung" und „Abwehr", zumal wenn sie mit morali- der Hauptabteilung XX ist darin zu erblicken, daß sie schen und politischen Wertungen verbunden sind, zu jenen Hauptabteilungen zählte, die bilateral mit lassen sich insoweit nicht begründen, als ihre Aktivi- den Direktoraten (Verwaltungen) in der Zentrale des täten ein- und demselben Ziel zu dienen hatten. Komitees für Staatssicherheit (KGB) in Moskau zusammenarbeiteten; diese sind in der Sowjetunion In der anderweitig bereits erwähnten Dienstanwei- für jeweils analoge Aufgaben zuständig gewesen. sung Nr. 2/85 des Ministers für Staatssicherheit ist Generell war die Zusammenarbeit zwischen dem MfS dieses Zusammenwirken speziell mit den Dienstein- und dem KGB vertraglich geregelt — zuletzt durch heiten der Einsatzrichtung XX ausdrücklich verfügt eine Vereinbarung vom 28. November/6. Dezember worden. Es stand auch nicht nur auf dem Papier: In 1973 und, soweit bekannt, durch das Protokoll über einer „Auswertung der Jahresergebnisse der Haupt- die Regelung des Zusammenwirkens zwischen dem verwaltung A für 1985", die Generaloberst Markus MfS der DDR und der Vertretung des KfS (= KGB) Wolf als damaliger Chef der Hauptverwaltung A dem beim Ministerrat der UdSSR beim Ministerium für Minister für Staatssicherheit am 6. Januar 1986 vor- Staatssicherheit der DDR vom 29. März 1978 [-> Be- legte, ist dem „Beitrag der Hauptverwaltung A zur richt Marquardt III]. Darin war ausdrücklich gegensei- Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR" tige Unterstützung „bei der Bearbeitung, Zersetzung eigens ein besonderer Abschnitt vorbehalten gewe- und Beeinflussung ausgewählter Gruppierungen und sen. Im einzelnen listete Wolf unter den in diesem Einzelpersonen" vereinbart worden. Neben Aktivitä- Zusammenhang erbrachten Leistungen die „Zer- ten im Bereich „religiöser Einrichtungen und Organi- schlagung" von „Menschenhändlerbanden" auf, d. h. sationen" sah der Plan ein abgestimmtes Zusammen- die Mitwirkung der Hauptverwaltung A bei der Ver- wirken „auf dem Gebiet gegnerischer Angriffe im folgung von Fluchthelferorganisationen in beiden kulturellen Bereich" vor. Die bilaterale Zusammenar- deutschen Staaten, sodann „die Abstimmung und beit zwischen der Hauptabteilung XX des MfS und der Durchführung von Maßnahmen bei der Bekämpfung V. Verwaltung des KGB dauerte bis in die Endzeit der der politisch-ideologischen Diversion und der Unter- DDR, wie ein „Plan für die Zusammenarbeit" von 1986 grundtätigkeit" in der DDR, die „Erarbeitung von bis 1990 belegt. Einen seiner Schwerpunkte bildete Informationen zur Gewährleistung des zuverlässigen die „Bekämpfung der unter religiösem Deckmantel Schutzes und der Sicherung der Staatsgrenze gegen subversiv gegen sozialistische Staaten wirkenden Angriffe aus dem Innern der DDR und aus dem gegnerischen Organisationen, Einrichtungen und Operationsgebiet" [—> Exper tise Chaker]. Kräfte", einen anderen die „Bekämpfung innerer 1989 umfaßte der Kaderbestand der Hauptverwal- feindlicher Kräfte " [-p Bericht Marquardt III]. tung A insgesamt 4 651 hauptamtliche Mitarbeiter [-> Expertise Müller-Enbergs]. Ihr letzter Leiter, Generaloberst Werner Großmann, war wie sein Vor- 3.3 Die Hauptverwaltung A gänger Markus Wolf Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit und als solcher zugleich Mitglied des Das eigentliche Aktionsfeld der unter der Bezeich- Kollegiums des MIS, so daß er auch für die in diesem nung „Hauptverwaltung A" zusammengefaßten wichtigen Beratungs- und Entscheidungsgremium Diensteinheiten der „Aufklärung" im MfS lag zweifel- gefaßten Grundsatzbeschlüsse politische und mora- los in der Beschaffung geheimer Informationen politi- lische Mitverantwortung trägt. schen, wirtschaftlichen, technologischen und militäri- Vertikal stützte sich die Hauptverwaltung A auf ent- schen Charakters aus dem „Operationsgebiet", womit sprechende Abteilungen in den Bezirksverwaltungen in der Hauptsache die frühere Bundesrepublik ein- des MfS, die aus Gründen ihrer Entstehungsge- schließlich West-Berlins gemeint war. Es wäre jedoch schichte als „Abteilungen XV" bezeichnet wurden: unzutreffend, die Aufgaben der „Aufklärung" auf Als der Außenpolitische Nachrichtendienst der DDR solche eines Auslandsnachrichtendienstes des MfS zu 1953 dem Apparat der Staatssicherheit eingefügt begrenzen. Einerseits oblag der Hauptverwaltung A wurde, trug er zunächst die Bezeichnung „Hauptab- auch die Beschaffung sogenannter Embargowaren teilung XV "; bei seiner Umwandlung in Hauptverwal- aus dem Operationsgebiet — wobei sie sich die Arbeit tung A blieb auf Bezirksebene die alte Bezeichnung mit der HA XVIII teilte —, außerdem die Durchfüh- erhalten. rung „aktiver Maßnahmen", worunter geheimdienst- liche Operationen zur Desinformation der öffentlichen Sowohl im Operationsgebiet als auch in der DDR Meinung im Operationsgebiet sowie zur Diskreditie- unterhielt die Hauptverwaltung A eigene IM — rung und „Zersetzung" politischer Gegner zu verste- Spione, Agenten, Kuriere, Instrukteure, i llegale und hen waren [—> Expertisen Chaker, Seul]. Andererseits legale Residenten —, deren Zahl Wolf selber einmal war die Hauptverwaltung A auch in die Überwachung- mit „etwas weniger als 2 000" angegeben hat, darun und Unterdrückung durch das MfS nach innen einge- ter Spitzenagenten in der Größenordnung „eher bei bunden, wie nicht nur aus den angegebenen Experti- 50 als bei 90" [—> Expertise Müller-Enbergs]. Ihre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Erforschung ist über Anfänge noch nicht hinausge- lungen und den Bezirksverwaltungen zur Gewährlei- kommen. Sie bedarf ebenso weiterer Untersuchungen stung der Aufbereitung und Erfassung von Informa- wie die Erforschung der Beziehungen zwischen der tionen im System der vereinigten Erfassung von Hauptverwaltung A und dem KGB. Informationen über den Gegner sowie zur Nutzung von im System gespeicherten Daten" — so die amtli- che Bezeichnung. 3.4 Die Zentrale Auswertungs- und Demnach und entsprechend den später ergangenen Informationsgruppe — das „Nervenzentrum" Ministerweisungen Nr. 1/81 und 1/86 liefen alle in des MfS den Speicher des SOUD einzugebenden oder aus ihm abzurufenden Informationen der opera tiven Dienst- In dem vielfältigen, komplexen Beziehungsgeflecht einheiten sowohl der "Aufklärung" als auch der des MfS als Überwachungs- und Unterdrückungsap- „Abwehr" des MfS unter „strengster Konspiration parat DDR-intern und als Geheimdienst DDR-extern und Geheimhaltung" über die Zentrale Auswertungs kam der Zentralen Auswertungs- und Informa tions- und Informationsgruppe, was ihre Bedeutung als gruppe die Funktion eines „Nervenzentrums" der informatives Zentrum des MfS, eben als „Nervenzen-- Staatssicherheit zu. Die Zentrale Auswertungs- und trum", anschaulich macht. Insgesamt sind bislang Informationsgruppe, die ihrer Bedeutung wegen zum rund 66 500 Erfassungsbelege bekannt geworden, die unmittelbaren Verantwortungsbereich E rich Mielkes das MfS im SOUD speichern ließ [->- Bericht Mar- gehörte, umfaßte rund 400 hauptamtliche Mitarbeiter quardt III]. [—> sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommis- Analog zur Zentralen Auswertungs- und Informa- cke, Protokoll Nr. 23]. Ihre Leitung hatte sion Fri tionsgruppe existierten auf Bezirksebene eigene Aus- zuletzt Generalleutnant Werner Irmler inne. Da sie wertungs- und Kontrollgruppen der Bezirksverwal- ven Diensteinheiten zählte, unter- nicht zu den operati tungen des MfS, die dem jeweiligen Leiter unterstan- tions- hielt sie auch kein eigenes inoffizielles Informa den, aber von der zentralen Gruppe fachlich angelei- netz. tet wurden. Besonderen Nutzen aus ihren Arbeitser- Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe gebnissen zogen die Ersten Sekretäre der Bezirkslei- war, wie ihre Bezeichnung auch aussagt, im wesent- tungen der SED, insofern sie regelmäßig mittels der lichen für die Erfassung, Auswertung und Analyse von sogenannten Partei-Information über wich tige Er- Informationen zuständig. Sie stellte Lageberichte und kenntnisse der Auswertungs- und Kontrollgruppe Entwicklungsanalysen zusammen, die nach einem (AKG) durch die jeweiligen Leiter der Bezirksverwal- vom Minister für Staatssicherheit festgelegten Vertei- tungen unterrichtet wurden. Im übrigen existierten lerschlüssel wichtigen Mitgliedern des Politbüros der Auswertungs- und Kontrollgruppen auch in den ope- SED zugeleitet wurden, gelegentlich auch Mitglie- rativen Hauptabteilungen des MfS, die sowohl den dern des Ministerrates. Darüber hinaus leistete sie Leitungen ihrer „Struktureinheit" als auch der Zen- Zuarbeit zur Vorbereitung von Dienstkonferenzen tralen Auswertungs- und Informationsgruppe zuar- und Kollegiumssitzungen, entwarf Ministerreden und beiteten [-4 Rudolph, Protokoll Nr. 23; Expertise erarbeitete Entwürfe zu Grundsatzdokumenten und Seul]. gsten Kompeten- Dienstbestimmungen. Zu den wichti Die Überfülle der in der Zentralen Auswertungs- und tions- zen der Zentralen Auswertungs- und Informa Informationsguppe erarbeiteten Berichte und Analy- gruppe zählte zudem ihre Verantwortung für die sen entsprach der Überfülle an Informationen aus Programmierung und Nutzung elektronischer Daten- einer „flächendeckenden Überwachung" der DDR- speichersysteme. In dieser Funktion hatte sie speziell Bevölkerung durch das MfS. Je mehr Informationen die Aufgaben des MfS gegenüber dem „System der aber „erarbeitet" wurden, desto politisch wirkungslo- vereinigten Erfassung von Informationen über den ser blieben sie: Die führenden Vertreter der Politbü- Gegner" — russisch abgekürzt SOUD — wahrzuneh- rokratie haben sie in der Endzeit der DDR kaum mehr men. zur Kenntnis genommen oder nehmen können. Im SOUD, einem elektronischen Datenverbund der Geheimdienste Bulgariens, Ungarns, Kubas, der Mon- golei, der Tschechoslowakei und Polens sowie der 4. Die Zusammenarbeit des MfS mit dem KGB DDR und der UdSSR, wurden personenbezogene und anderen Geheimdiensten der Warschauer Daten von Angehörigen westlicher Nachrichtendien- Pakt-Staaten ste, von Mitarbeitern „ideologischer Diversionszen- tren" und sonstiger „Feindorganisationen" gespei- Die bisher unerschlossenen Quellen zwangen zur chert. Der Zentralrechner war beim KGB in Moskau Beschränkung auf die wesentlichen Charakteristika eingerichtet [-> Bericht Marquardt III, Exper tise Cha- der Verflechtungen zwischen dem MfS, dem sowjeti- ker]. Die Verantwortung für die Zusammenarbeit des schen KGB und anderen Geheimdiensten der War- MfS mit dem Arbeitsapparat des SOUD wurde durch schauer-Pakt-Staaten. Auf drei Probleme muß in die- Befehl Nr. 11/79 des Ministers für Staatssicherheit sem Zusammenhang vorab hingewiesen werden: einer neu gebildeten Arbeitsgruppe 5 der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe übertragen. Erstens handelt es sich nur um einen Teilaspekt der Näheres regelte die spezielle „Ordnung über die Politik der DDR gegenüber der Sowjetunion sowie Zusammenarbeit der Zentralen Auswertungs- und - anderen ost- und ostmitteleuropäischen Staaten. Informationsgruppe mit der Hauptverwaltung A, den Weitgehend unberücksich tigt bleibt die Rolle der operativen Hauptabteilungen/selbständigen Abtei SED-Führung und anderer staatlicher Institutionen Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode wie des Nationalen Verteidigungsrates und des wehr, über oppositionelle Gruppen in der DDR und Außenministeriums. So kann es sich nur darum han- ihre internationalen Verbindungen. Die Zusammen- deln, zu einer noch ausstehenden Gesamtanalyse arbeit, die vom Austausch von Spionagematerial bis Teilbeiträge zu leisten. Zweitens sind Geheimdienste zur Überstellung von MfS-Agenten an den sowjeti- der Warschauer-Pakt-Staaten noch wenig erforscht. schen Geheimdienst reichte, dauerte bis zur Auflö- Das MfS ist das einzige Glied aus jener zerfallenen sung der DDR-Staatssicherheit an. Auch nach der Kette der Geheimdienste der Warschauer-Pakt-Staa- Auflösung dürften dem KGB sowohl personenbezo- ten, dessen Hinterlassenschaft der zeitgeschichtli- gene Daten und Dossiers ausgeliefert als auch MfS chen Forschung offensteht. Drittens konnten auch die Agenten zu weiterer Verwendung überstellt worden Archivalien des MfS nicht vollständig her angezogen sein [— sachverständiges Mitglied der Enquete-Kom- werden. Zum einen weist die Hinterlassenschaft der mission Fricke, Protokoll Nr. 23; Bericht Mar- Hauptverwaltung A außerordentlich große Lücken quardt III]. auf — dennoch konnten Spuren der Hauptverwal- Eine entscheidende Form der Zusammenarbeit des tung A gefunden werden. Zum anderen sind auch die MfS mit dem KGB und entsprechenden „Bruderorga- vorhandenen Bestände derzeitig nicht vollständig nen" anderer sozialistischer Staaten bestand seit dem- erschlossen. So sind die Archivalien der Abteilung X, 1. Oktober 1979 in der Eingabe bestimmter Personen- die für die Koordination der Zusammenarbeit mit den daten in das elektronische Informationssystem SOUD. Geheimdiensten anderer sozialistischer Staaten ver- Insgesamt wurden bis Ende 1989 zehntausende antwortlich war, noch nicht zugänglich. Datensätze durch das MfS an den zentralen Speicher in Moskau übersandt. Auch nach dem Ende des MfS Die vorgelegten Berichte [—>Tantzscher, Mar- verfügte das KGB damit über die wichtigsten Erkennt- quardt III] stützen sich überwiegend auf Bestände der nisse und Informationen des MfS sowie anderer östli- Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des cher Geheimdienste, darunter Zugang zu „Spitzen- MfS, des Sekretariats des Ministers (SdM) und der quellen" in den alten und neuen Bundesländern, zu Dokumentenstelle des Zentralarchivs des MfS. Damit interessanten Zielpersonen in Politik, Wirtschaft, wird vornehmlich die adminis trative Ebene des MfS, Kirchen sowie im Militär- und Sicherheitsapparat des KGB und anderer Geheimdienste der War- [—> Bericht Marquardt III]. schauer-Pakt-Staaten erfaßt. Die praktische Umset- zung der Befehle, Richtlinien und konkreten operati- Die in den siebziger Jahren zu verzeichnende zuneh- ven Maßnahmen kann erst umfassend nachgewiesen mende Präsenz und die Ausweitung der Aktivitäten werden, wenn die Dokumente aus den entsprechen- des MfS in den anderen Ostblockländern ist in ursäch- den operativen MfS- und KGB-Abteilungen zugäng- lichem Zusammenhang mit dem Integrationsprozeß lich sind. So stehen die Einblicke in die Strukturen und innerhalb des „sozialistischen Lagers " und der all- Verflechtungen zwischen dem MfS, dem KGB und mählichen Öffnung nach dem Westen zu sehen. Im den anderen Geheimdiensten der Warschauer-Pakt Januar 1972 wurde z. B. der paß- und visafreie Reise- Staaten unter dem Vorbehalt einer äußerst begrenz- verkehr von und nach Polen sowie der CSSR einge- ten Quellenlage. führt. Damit sind für das MfS in Kooperation mit den Ministerien des Innern der Volksrepublik Polen und Das Verhältnis von MfS und KGB war durch eine so der CSSR, denen die dortigen Sicherheitsorgane an- enge Zusammenarbeit bestimmt, wie sie zu keinem gegliedert waren, umfängliche Aufgaben der „poli- anderen Sicherheits- und Spionagedienst der frühe- tisch-operativen Sicherung" des Grenzverkehrs wie ren Warschauer-Pakt-Staaten bestanden hat. Dabei auch des Aufenthalts der Bürger in den jewei ligen ist zu berücksichtigen, daß Entstehung und Tätigkeit Ländern verbunden gewesen. Das be traf vor allem die des MfS nur im Kontext zur Geschichte des KGB bzw. Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen westlicher seiner Vorläuferorganisation, des MGB, zu begreifen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutsch- sind. Das MfS entstand nach dem Vorbild der sowje- land, und zu westlichen Auslandsvertretungen, aber tischen Geheimpolizei- und Sicherheitsorgane; es auch zu oppositionellen Kreisen in anderen Ostblock- wurde mit deren tätiger Unterstützung aufgebaut und ländern H Berichte BStU (Tantzscher)]. übernahm bis in Details hinein die Strukturen sowie die Arbeitsmethodik der sowje tischen Tschekisten. Zu einem weiteren Arbeitsschwerpunkt des MfS ent- Lange Zeit wurde das MfS durch sowje tische Instruk- wickelte sich die Verhinderung von „Republikflucht" teure bzw. Berater gesteuert und kontrolliert. Das über die Westgrenzen Ungarns, der CSSR sowie änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als im Bulgariens, die zur Gründung einer Zentralen Koordi- Verhältnis des MfS zum KGB aus Subordina tion nierungsgruppe (ZKG) im MfS und entsprechender Kooperation wurde [—> sachverständiges Mitglied der Bezirkskoordinierungsgruppen führte. Mit der Unter- Enquete-Kommission Fricke, Protokoll Nr. 23; Bericht zeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki 1975 Marquardt III]. schließlich verpflichteten sich auch die Ostblockstaa- ten zur Beachtung der grundlegenden Menschen- Gleichwohl hat das historisch begründete enge rechte, auf die sich nun eine ständig wachsende Zusammenwirken von MfS und KGB bis zum Herbst Oppositionsbewegung in diesen Ländern berufen 1989 gedauert, bis zur friedlichen Revolution in der konnte. Um den Herausforderungen gewachsen zu DDR. Es basierte auf einer vertraglichen Grundsatz- sein, wurde die Zusammenarbeit der östlichen vereinbarung, die durch Protokolle und Arbeitspläne Geheimdienste zielstrebig verstärkt. Zwischen 1973 regelmäßig aktualisiert und ergänzt wurde. Auf diese und 1976 wurden bilaterale Verträge über die Zusam- Weise erhielt das KGB der UdSSR wesentliche menarbeit des MfS mit den Staatssicherheitsdiensten Erkenntnisse des MfS vor allem aus den Bereichen der der Sowjetunion, Polens, der CSSR, Ungarns und Spionageabwehr, der Aufklärung und der Terrorab Bulgariens abgeschlossen. Ergänzt wurden sie durch- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Vereinbarungen auf „Linienebene', d. h. zwischen Die wissenschaftliche Auswertung der archivalischen gleichgerichteten Fachabteilungen [-> Berichte Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes steht

Tantzscher, Marquardt III]. im Vergleich zur Erforschung der NS-Diktatur noch

ganz am Anfang. Dennoch zeichnet sich schon heute Polen wurde 1980/81 für das MfS — wie auch für die ab, daß der Quellenwert der MfS-Akten für die anderen östlichen Geheimdienste — zum „Operati- Erforschung des SED-Regimes und der Gesellschaft onsgebiet". Mit diesem Begriff bezeichnete der DDR der DDR beachtlich ist. Die Informationssammlung Geheimdienst im allgemeinen die Bundesrepublik und die Auswertungstätigkeit der Staatssicherheit Deutschland und das übrige westliche Ausland als dienten einem klar definierten Zweck, der dem MfS Zielobjekte der opera tiven Auslandsaufklärung und von der SED zugewiesen worden war: dem „zuverläs- der politischen Einmischung in die inneren Angele- sigen Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung" und genheiten dieser Staaten. Auf dem Territorium Polens der „allseitigen Gewährleistung der staatlichen wurden ab September 1980 zusätzliche Diensteinhei- Sicherheit". Die Unterlagen des MfS bilden daher ten des MfS eingesetzt. Ihre Aufgabe bestand darin, Wirklichkeit in einer spezifischen Weise ab, die sich ausgehend von offiziellen Arbeitskontakten zu den aus seiner Zweckbestimmung ergibt [-p Bericht polnischen Sicherheitsorganen und zu Vertretern - Engelmann]. anderer Institutionen in wichtige staatliche und gesellschaftliche Bereiche vorzudringen sowie gleich- Es wäre verfehlt anzunehmen, daß das MfS seine zeitig die polnische Oppositionsbewegung mit „Soli- Informationsgewinnung grobschlächtig oder naiv vor- darność " an der Spitze „aufzuklären' und zu zerset- genommen hat. Es ist vielmehr bemüht gewesen, zen. Ähnlich wie 1968/69 bei der Niederschlagung verfälschende Faktoren möglichst auszuschalten, weil des „Prager Frühlings' wurden alle Diensteinheiten diese die Effizienz der eigenen Tätigkeit gefährdeten. des MfS einschließlich seiner Niederlassungen in den Das MfS führte eine permanente Bewertung, Kon-

Bezirken in die politisch-operative Tätigkeit in und trolle und Überprüfung seiner eigenen Informa tions- nach Polen einbezogen. Die Konsequenzen, die die erhebung durch, betrieb also selbst eine Art „Quellen- SED-Führung aus den Vorgängen in Polen zog, schlu- kritik" . Hierzu bestanden Festlegungen in den dienst- gen sich in verstärkter innenpolitischer Repression lichen Bestimmungen zur opera tiven Arbeit sowie zur nieder, an der das MfS maßgeblich beteiligt war Informations- und Auswertungstätigkeit, die in den

[-> Berichte BStU (Tantzscher), Marquardt III]. entsprechenden, zur Schulung der hauptamtlichen

Mitarbeiter verwendeten Mate rialien erläutert und

bekräftigt wurden. Neben dem Grad der opera tiven Bedeutung galten als Qualitätsmerkmale einer Infor- 5. Zur Qualität und Aussagefähigkeit von mation „Aktualität und Neuigkeitswert" sowie Unterlagen des MfS „Wahrheit", „Vollständigkeit' und „Überprüfbar-

keit". Qualität und Aussagefähigkeit von Unterlagen des

MfS sind selbstverständlich umstritten und prominen- Selbstverständlich sind die im MfS geltenden Normen tes Thema in den Medien: „Private und öffentliche nicht mit der Praxis gleichzusetzen. Wie in allen

Kontroversen waren vorhersehbar und sind tatsäch- Apparaten gab es auch hier Abweichungen und lich eingetreten", heißt es im Tätigkeitsbericht 1993 vereinzelt regelrechte Verstöße gegen die geltenden des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des dienstlichen Bestimmungen. In verschiedenen über-

Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen lieferten sog. Kontrollberichten sind solche Fälle

Demokratischen Republik, „gelegentlich mit Ein- dokumentiert. Soweit derzeit erkennbar, haben sich schüben von Hyste rie einerseits und Wahrnehmungs- ausgesprochene Regelverletzungen aber in ver- verweigerung andererseits „ . gleichsweise engen Grenzen gehalten [-> Bericht Engelmann]. Es darf bei der Beurteilung der Unterla- Grundsätzlich muß dazu festgestellt werden, daß die gen des MfS außerdem nicht vergessen werden, daß pauschale Bestimmung des Quellenwertes und des der Staatssicherheitsdienst eine straffe militärische Wahrheitsgehaltes ganzer Aktenbestände ein proble- Struktur besaß, in der die jewei ligen Leiter einen matisches Unterfangen ist. Auf dieser Ebene sind nur überschaubaren Kreis von direkt Unterstellten anlei- Tendenzaussagen möglich, denn quellenkritische teten und kontrollierten. Daneben bestanden auf der Analyse zielt in der Regel auf Einzelfälle, also auf zentralen Ebene, auf der Ebene der Hauptabteilungen ein Dokument oder gar nur auf einzelne Aussagen und selbständigen Abteilungen des Ministe riums in einem Dokument sowie den be treffenden Kontext sowie auf der Ebene der Bezirksverwaltungen sog. [-> Bericht Engelmann]. Verallgemeinerungsfähige Kontrollgruppen, die über die Einhaltung von dienst- quellenkritische Befunde beziehen sich zumeist auf lichen Bestimmungen und anderer Vorgaben wach- bestimmte Quellengattungen, nicht auf heterogene ten. Überlieferungen. Um solche handelt es sich aber im

Falle der MfS-Unterlagen. Es liegen hier unterschied- MfS-Unterlagen weisen dort, wo sie über die liche Quellenarten vor, bei denen jeweils ein sehr Beschreibung konkreter Handlungen und Sachver- unterschiedlich geartetes Verhältnis zwischen Quelle halte hinausgehen, zuweilen einen beträchtlichen und korrespondierender Wirklichkeit besteht. Jede Grad an Ideologisierung auf. Natürlich hat auch

Quellengattung bildet historische Realität auf eine dieses „Ideologiesyndrom" in den MfS-Akten seine spezifische, qualitativ unterschiedliche Weise ab. Ihr Spuren hinterlassen. Soweit m an dies zum gegenwär- Aussagewert muß daher mit einem jeweils spezifi- tigen Zeitpunkt beurteilen kann, bildete die Bericht- schen interpretatorischen Instrumentarium bestimmt erstattung des MfS ein Gegengewicht zur allgemei- werden [-> Bericht Engelmann]. nen, ideologisch geprägten und schönfärberischen Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Tendenz der Berichterstattung von SED, Blockpar- Reihe grundsätzlicher Fragen ergeben. So stehen teien und Massenorganisationen. Schließlich hatte die z. B. Datenschutzbelange oft im Konflikt mit For- Staatssicherheit die Aufgabe, politisch gefährliche schungsinteressen. Bei einer Novellierung des Stimmungen in der Bevölkerung und sicherheitsrele- StUG sollte diesen Erfahrungen unter Hinzuzie- vante Disfunktionen aller Art „aufzuklären" . Es wird hung archiv- und geschichtswissenschaftlichen ständige Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse von Sachverstandes Rechnung ge tragen werden. MfS-Akten sein, zwischen ideologischen Aussagen und „operativer" Substanz zu unterscheiden sowie — Nachdem der Bundesbeauftragte für die Unterla- das Verhältnis dieser beiden Elemente zueinander zu gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen bestimmen [-> Bericht Engelmann]. Deutschen Demokratischen Republik (BStU) einen Empirische Befunde, die aufgrund von persönlichen Großteil der Überprüfungen im öffentlichen Dienst Akteneinsichten Betroffener, der Auskunftstätigkeit bewältigt hat, sollten für die Forschung die großen des BStU, der Tätigkeit von Ehrenkommissionen und Bestände an Sachakten des MfS verstärkt erschlos- der Forschung mit MfS-Akten bislang vorliegen, sen und bereitgestellt werden. sowie die Würdigung der Unterlagen in verschiede- nen Gerichtsverfahren untermauern — bei aller Vor- — Zum Problemfeld der personellen Aufarbeitung sicht — die Feststellung, daß es sich hierbei um des MfS-Erbes -> Kapitel „Seilschaften". aufschlußreiche Quellen handelt. Diese allgemeine Feststellung entbindet den Nutzer der Stasi-Unterla- gen selbstverständlich nicht von der Pflicht, diese — Eine genaue, differenzierte Erforschung der Ver- unter Anwendung der üblichen quellenkritischen antwortung hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS Verfahren zu interpretieren sowie ihren Informa tions- steht noch aus. gehalt unter Hinzuziehung etwaiger Gegenüberliefe- rungen anderer Provenienz und auch in Abgleichung — Zur Klärung der offiziellen Kontakte zum MfS ist mit Aussagen von Zeitzeugen und westlichem Schrift- eine Erforschung des politisch-operativen Zusam- tum kritisch zu überprüfen. menwirkens (POZW) dringend erforderlich. Abschließend ist festzustellen, daß größere Themen- bereiche der DDR-Forschung ohne Auswertung von — Eine Novellierung des StUG sollte hauptamtliche MfS-Unterlagen kaum adäquat behandelt werden Mitarbeiter der K 1 den Inoffiziellen Mitarbeitern können. Darüber hinaus könnte den Akten eine der K 1 gleichstellen. zentrale Bedeutung für die Erforschung kommunisti- scher Herrschaftssysteme und moderner Diktaturen zukommen [-> Bericht Engelmann]. — Weitere Forschungsdesiderata sind:

Die Durchdringung des militärischen Bereichs 6. Forschungsdesiderata und Empfehlungen durch das MfS und die Zusammenarbeit mit der Verwaltung Aufklärung der NVA; die Arbeit der — Über zwei Jahre konnten bisher Erfahrungen mit HA II sowie die Zusammenarbeit der Abteilung X dem Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) gesammelt mit dem KGB und den anderen Geheimdiensten werden. Für die Forschung haben sich dabei eine der Warschauer-Pakt-Staaten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

III. Opfer des SED-Regimes

Inhalt 1. Kategorien der Opfer

1. Kategorien der Opfer Systematisch können folgende Schadensgruppen unterschieden werden: Gesetzgeberische Maßnahmen 2. Schäden an den Rechtsgütern

3. Handlungsbedarf für Staat und Gesellschaft — Leben - — Körper und Gesundheit Ein Ziel der Arbeit der Enquete-Kommission war es, — Freiheit und Menschenwürde den Blick auf die Folgen von 40 Jahren SED-Diktatur — Eigentum, Vermögen, Einkommen zu richten. Hierzu gehört die Verpflichtung, die Schicksale der Opfer des Systems zu würdigen und — berufliches Fortkommen deren Leiden vor dem Vergessen zu bewahren, zumal da die Erinnerung an die Schrecken der überwunde- Exemplarisch für die Verletzung der o. g. Rechtsgüter nen Diktatur weithin einer undifferenzierten „DDR seien im einzelnen genannt: Nostalgie" weicht. Viele Opfer des SED-Regimes Verletzung des Rechtsgutes Leben durch fühlen sich auch heute noch benachteiligt. Sie können nur schwer verstehen, daß die strafrechtliche und die — Todesurteile, die insbesondere unter Berufung auf politische Aufarbeitung des SED-Unrechts bisher Artikel 6 Abs. 2 der ersten DDR-Verfassung gefällt nicht zu den von ihnen erwarteten Konsequenzen für wurden* ) die Täter geführt hat. Mit Recht wird kritisiert, daß die — Tötung an der Mauer und an der innerdeutschen Schilderung von Opferschicksalen in der Berichter- Grenze stattung vieler Medien offenbar nur einen geringen Stellenwert besitzt. Be troffene reagieren häufig mit — Todesfälle in Haftanstalten Wut oder Resignation, wenn sie beobachten müssen, — staatliche Auftragsmorde im In- und Ausland daß Verantwortliche des SED-Systems gern gesehene Gäste in Talk-Shows oder ähnlichen Veranstaltungen — Auslieferung an fremde Mächte (z. B. an die sind und diese Podien oftmals als Foren für ihre Sowjetunion) Rechtfertigung mißbrauchen. — Todesfälle bei der NVA, der Kasernierten Volks- polizei und den Kampfgruppen Zur Gruppe der Opfer zählt, wer diktatorischer Will- kür ausgesetzt war. Im Rahmen dieses Kapitels sind — Tötung unter aktiver ärztlicher Mitwirkung jene Einschränkungen und Schädigungen nicht — willkürliche Verweigerung ärztlicher Hilfe berücksichtigt, die jeder Bewohner der DDR zu tragen hatte und die alltagsspezifischer Natur waren (z. B. Verletzung der Rechtsgüter Körper und Gesundheit allgemeine Umweltbelastungen, Beeinträchtigungen durch des Lebens im Alltag durch Einschränkung der Infor- bewußte Verweigerung von ärztlicher bzw. medi- mations- und Reisefreiheit, Versorgungsengpässe bei — vielen Verbrauchsgütern). Darüber hinaus fühlte und kamentöser Betreuung, insbesondere in den Berei- fühlt sich nicht jeder Gegner des Systems, der von der chen Psychiatrie und Orthopädie Staatsmacht verfolgt worden ist, als Opfer. Je stärker — Umweltschädigung der einzelne sich zu seinem oppositionellen Handeln bekannte, um so eher war er dazu bereit, die daraus — radioaktive, gesundheitsgefährdende Strahlung in entstehenden persönlichen Nachteile und Repressio- Nuklearbetrieben und im Uranbergbau nen in Kauf zu nehmen und sie in sein aktives H andeln, — verordnete Nichtbeachtung von Sicherheitsvor- einzubeziehen [–> Protokolle Nr. 67, 68]. schriften und Arbeitsschutzbestimmungen (in be- sonders krasser Weise im Strafvollzug) Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß letztlich die Gesamtbevölkerung der DDR durch das — gezielt eingesetzte psychische Schädigungen, ins- im Mauerbau gipfelnde Grenzregime Opfer einer besondere durch „operative Maßnahmen" großangelegten Freiheitsberaubung wurde. Dieses — Doping griff in alle Bereiche der freien Entfaltung der Persön- lichkeit ein und verwandelte die Freiheitsrechte in *) Anmerkung: Davon zu unterscheiden sind in diesem Zusam- eine Manipulationsmasse der Staatspartei. Nicht sel- menhang Todesurteile, die im Gefolge der Nürnberger ten war die Nötigung zur Mitarbeit beim Staatssicher- Rechtsprechung der Alliierten wegen tatsächlicher und kon- heitsdienst das Ziel. kret zurechenbarer NS-Verbrechen gefällt worden sind. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Verletzung der Rechtsgüter Freiheit und Menschen- — Festlegen von Geldern auf Sperrkonten würde durch — DDR-spezifische Währungsmanipulationen — auf politischen Straftatbeständen gründende Frei- heitsstrafen, häufig unter menschenunwürdigen — Zwangsmaßnahmen gegen Ausreisewillige Bedingungen beim Strafvollzug

— Unterbindung der Reisefreiheit — Manipulationen mit Hilfe von Devisenverrech- nungskonten — Aufenthaltsbeschränkungen innerhalb der DDR (z. B. Berlin-Verbot, PM 12-Ersatzausweis) Verletzung des Rechtsgutes berufliches Fortkommen durch — Aufhebung der Gewissens- und Meinungsfrei- heit — Studien- Berufs- und Arbeitsverbote — Einschränkung der Presse-, Informa tion- und — Einweisung in Arbeitslager politischen Wahlfreiheit - — strikte Beschränkung der Versammlungsfreiheit — politisch motivierte Eingriffe in die berufliche Kar- auf die zugelassenen staatlichen und gesellschaft- riere lichen Vereinigungen — Zwangsvermittlung von Arbeitsplätzen — Zensurmaßnahmen — Einschränkung der Schul-, Berufs- und Studien- — Eingriffe in Bildung und Ausbildung wahl Darüber hinaus sind auch diejenigen einzubeziehen, — administrative Behinderung von Eheschließungen die zeitlich vor Gründung der DDR Schädigungen mit ausländischen Partnern erlitten haben, die jedoch in der DDR systembedingt — politisch motivierte Berufsverbote nur unzureichend bzw. überhaupt nicht entschädigt worden sind. Zu dieser Opferkategorie zählen u. a. — Zwangsadoptionen und Verhinderung von Adop folgende Personenkreise: tionen infolge „politischer Unzuverlässigkeit" — Heimatvertriebene — politisch motivierte Verweigerung des elterlichen Erziehungsrechts für die eigenen Kinder — Verschleppte — schwerwiegende Verunsicherung der Kinder ver- hafteter Ausreisewilliger, indem man sie über den — Kriegerwitwen Verbleib ihrer Eltern bewußt im unklaren ließ — Kriegs- und Kriegsfolgengeschädigte — planmäßige psychische Pressionen auf politische Gegner und Andersdenkende — Diskriminierung bestimmter Minderheiten, z. B. ausländischer Arbeitnehmer und Homosexueller 2. Gesetzgeberische Maßnahmen

Verletzung der Rechtsgüter Eigentum und Vermögen Im Bereich der SED-Unrechtsbereinigung sind die durch nachfolgend genannten gesetzgeberischen Maßnah- men zur Rehabilitierung, Wiedergutmachung und — Enteignung und Zwangskollektivierung in der Linderung der individuellen Schicksale von Opfern Landwirtschaft verabschiedet bzw. geplant: — Enteignung von Betrieben, insb. der sog. „72er Betriebe" Opfergruppe Gesetz — Enteignung der Immobilien von Stiftungen, von Opfer einer rechtsstaats- Strafrechtliches Rehabili- SBZ/DDR-Flüchtlingen sowie von Bewohne rn des widrigen strafrechtlichen tierungsgesetz: Mauer- und Grenzgebietes Verurteilung durch ein - Anspruch auf Aufhe- staatliches deutsches Ge- bung einer rechts — ökonomische Zwangsmaßnahmen gegen Selb- richt im Beitrittsgebiet in staatswidrigen Ent- ständige und Freiberufler der Zeit vom 8. Mai 1945 scheidung bis zum 2. Oktober 1990 — Folgeansprüche nach — Enteignung von Sachwerten infolge politisch moti- Maßgabe des Geset- vierter Prozesse oder aufgrund angeblicher Steu- zes erhinterziehung Opfer einer rechtsstaats- Strafrechtliches Rehabili- — Enteignung von künstlerischen bzw. historischen widrigen Einweisung in tierungsgesetz: Sachwerten im Falle der Ausreise eine psychiatrische An- — Ansprüche wie bei ei- stalt zum Zwecke der po- — Zwangsenteignung zugunsten KoKo ner rechtsstaatswidri- litischen Verfolgung oder gen Inhaftierung — fiskalische Zwangsmaßnahmen, politisch moti- zu anderen sachfremden vierte Geldstrafen u. a. Zwecken Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Hinterbliebene eines ehe- Strafrechtliches Rehabili- — Völlig unangemessener maligen politischen Häft- tierungsgesetz: Schußwaffengebrauch lings — Kapitalentschädigung, wenn ehem. politischer Häftling einen Antrag Personen, die durch Ein- 2. SED-Unrechtsbereini- auf Rehabilitierung griffe von Verwaltungsor- gungsgesetz: ganen oder Dienststellen bzw. Entschädigung — Verwaltungsrechtli- oder auf Leistungen „bewaffneter Organe" in ches Rehabilitierungs- nach dem Häftlingshil- ihrem beruflichen Fort gesetz: -kommen geschädigt wur- fegesetz gestellt und — Aufhebung der rechts den, z. B. den 18. September 1990 staatswidrigen Maß- überlebt hat (§ 17 — Zwangsexmatrikula- name Abs. 3). tion eines Studenten — Berufliches Rehabilitie- — Unterstützungsleistun- wegen politischer Äu- rungsgesetz: Aus- gen bei Bedürftigkeit ßerungen gleichsleistung - (§ 18 Abs. 3) — Entlassung aus der — Hinterbliebenenversor- NVA wegen SED-kriti- gung (§ 22 Strafrechtli- scher Äußerungen ches Rehabilitierungs- — Entziehung der Gewer- gesetz in Verbindung bekonzession wegen mit dem Bundesversor- Westkontakten führt zu gungsgesetz) Nachteilen bei der Al- — Eingliederungshilfen tersversorgung nach dem Häftlingshil- fegesetz, die auf Ehe- gatten und Kinder ver- Rechtsstaatswidrige Ent- 2. SED-Unrechtsbereini- erblich sind ziehung oder Beeinträchti- gungsgesetz: Opfer der innerdeutschen Verordnung nach § 3 Häft- gung von Vermögenswer- Aufhebung der Maß- Grenze (Fluchtopfer und lingshilfegesetz: ten (soweit nicht bereits nahme nach dem Verwal- vom Vermögensgesetz er- tungsrechtlichen Rehabili- deren Hinterbliebene) — Versorgungsleistungen für Betroffene in ent- faßt) tierungsgesetz und Aus- sprechender Anwen- — Beschlagnahme eines gleich nach dem Vermö- dung des Bundesver- LKWs bei Grenzüber- gensgesetz; bei Kontami- sorgungsgesetzes tritt wegen eines ge- nierung Wahlmöglichkeit, — Versorgungsleistungen ringfügigen Zollversto- ob Eigentum aufge- für Hinterbliebene in ßes geben und eine Entschädi- gung nach dem Entschä- entsprechender An- — Enteignung aufgrund digungsgesetz gefordert wendung des Bundes- rechtsstaatswidriger wird versorgungsgesetzes Rechtsgrundlage — Unterstützungsleistun- — Kontaminierung eines gen bei Bedürftigkeit Grundstücks gemäß § 18 Häftlings- hilfegesetz Opfer von Vermögensver- Vermögensgesetz: Personen, die einer rechts Artikel 3, 2. SED-Un- lusten, die als Teil politi- — Restitution staatswidrigen außerstraf- rechtsbereinigungsgesetz: scher Verfolgung bzw. als — Aufhebung staatlicher rechtlichen Freiheitsent- Aufhebung der Maß- politische Strafmaßnah- Zwangsverwaltungen ziehung unterworfen wa- nahme durch das Rehabili- men einzustufen sind oder — Entschädigung nach ren tierungsgericht und Lei- in anderer Art einen dis dem in Vorbereitung — Arrestierung durch die stungen nach dem Straf- kriminierenden Charakter befindlichen Entschädi- Staatssicherheit wegen rechtlichen Rehabilitie- aufweisen gungsgesetz systemkritischer Äuße- rungsgesetz (Kapitalent- rungen und mehrwö- schädigung, Bundesver- Zwangsausgesiedelte Aufhebung der Aussied- chige Inhaftierung ohne sorgungsgesetz etc.) lungsentscheidung und Strafverfahren Rückgabe der Grund- — Einweisung in ein Ar- stücke respektive Ent- beitslager zur politi- schädigung schen Disziplinierung Personen mit Gesund- 2. SED-Unrechtsbereini- aufgrund der Verord- heitsschäden: Jahrelange gungsgesetz: nung über Aufenthalts- Bespitzelung durch die — Aufhebung der rechts beschränkung Staatssicherheit führt zu staatswidrigen Maß- — Wegen systemkriti psychischen Dauerschä- nahme scher Äußerungen Ver- den. — Anspruch auf Leistun- pflichtung zur Zwangs- — Folterungen während gen nach dem Bundes- arbeit unter haftähnli- eines Verhörs versorgungsgesetz chen Bedingungen Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Opfer politisch motivierter 2. SED-Unrechtsbereini- - Entschädigungsgesetz Eingriffe gungsgesetz: (in Vorbereitung):

- in den Beruf, Ausgleichsleistungen Einmalzahlung von — in ein berufsbezogenes nach dem Beruflichen Re- 4 000 DM Ausbildungsverhältnis habilitierungsgesetz soll Opfer von Enteignungen Ausgleichsleistungsrege- (z. B. Studium) erhalten, wer im Beitritts- auf besatzungsrechtlicher lungen gebiet durch der politi- bzw. besatzungshoheitli- schen Verfolgung die- cher Grundlage nende Eingriffe in den Beruf oder ein berufsbezo- genes Ausbildungsver- 3. Handlungsbedarf für Staat und Gesellschaft hältnis in erheblichem Maße benachteiligt wor- Die Enquete-Kommission muß zunächst feststellen, den ist. daß für eine Vielzahl der oben genannten Unrechts- Personen, die aus politi- Strafrechtliches Rehabili- tatbestände eine materielle Wiedergutmachung von schen und nach freiheit- tierungsgesetz: seiten des Staates schwerlich möglich ist. Das Haupt- lich-demokratischer Auf- — Kapitalentschädigung anliegen der Kommission war es, mit Hilfe der Doku- fassung nicht zu vertreten- — Unterstützungsleistun- mentation des von den Opfern erlittenen Unrechts das den Gründen im Zusam- gen Geschehene vor dem Vergessen zu bewahren und die menhang mit der Errich- — Versorgungsleistungen Betroffenen moralisch zu unterstützen. Dem sollen tung oder Aufrechterhal- — Berücksichtigung der auch die nachfolgend genannten Handlungsempfeh- tung der kommunistischen G ewahrsamszeiten in lungen dienen. Sie richten sich an den Gesetzgeber Gewaltherrschaft im Be- der gesetzlichen Ren- sowie an alle Verantwortlichen in Staat und Gesell- trittsgebiet dort ohne Ver- tenversicherung schaft, die sich mit der Aufarbeitung von Folgen der urteilung durch ein deut- SED-Diktatur befassen. Die Enquete-Kommission ist sches Gericht oder ohne von ihrer Zielsetzung, ihrem Auftrag und den verfas- eine dem StrRehaG unter- sungsrechtlichen Vorgaben her kein Gremium mit liegende strafrechtliche Gesetzgebungsbefugnissen. Die Kommission kann Maßnahme in Gewahrsam nur im Vorfeld initiativ werden bzw. den Gesetzge- genommen oder in Ge- bungsprozess kritisch begleiten. Dies vorausge- wahrsam gehalten wurden schickt, sieht die Enquete-Kommission Handlungsbe- (SMT-Verurteilte, Inter- darf auf folgenden Ebenen: nierte, Verschleppte) — Im Bereich der bereits vorliegenden Unrechtsbe- reinigungsgesetzgebung sollte gewährleistet sein, Personen, die nach der Bei Verschleppung oder daß die Betroffenen möglichst rasch rehabilitiert Besetzung durch sowjeti- Gewahrsam aus politi- und materiell entschädigt werden. Derzeit werden sche Truppen aus Gebie- schen Gründen Häftlings- viele Antragsteller darauf vertröstet, daß die Bear- ten östlich der Oder in die hilfegesetz in der Fassung beitung ihres Antrages frühestens in drei bis vier Sowjetunion verschleppt des Kriegsfolgenbereini- Jahren erfolgen könne. Mit dem Inkrafttreten des wurden und nach der Ent- gungsgesetzes: Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes wird lassung ihren Wohnsitz in — Versorgungsleistungen sich der Kreis der Anspruchsberechtigten noch- der DDR genommen ha- in entsprechender An- mals vergrößern, so daß die Betroffenen mit noch ben wendung des Bundes- längeren Wartezeiten zu rechnen haben werden. versorgungsgesetzes Es ist daher eine deutliche — zeitlich bef ristete — — Unterstützungsleistun- personelle Verstärkung der zuständigen Rehabili- gen von der Stiftung für tierungsbehörden erforderlich, um die derzeit vor- ehemalige politische liegenden bzw. neu eingehenden Anträge schnell Häftlinge und effektiv bearbeiten zu können. Bei Verschleppung oder — Der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge Gewahrsam aus kriegsbe- sollten aus den nachfolgend genannten Gründen dingten Gründen (Inter- zusätzliche finanzielle Mittel zur Erfüllung ihrer nierung): Arbeit zur Verfügung gestellt werden: — Versorgungsleistungen nach dem Bundesver- Analog § 17 des Strafrechtlichen Rehabilitierungs- sorgungsgesetz gesetzes ist die Stiftung u. a. auch für die Kapital- — Unterstützungsleistun- entschädigung derjenigen politischen Häftlinge gen der Heimkehrer- zuständig, die von der sowje tischen Besatzungs- stiftung macht verfolgt wurden und auf ihre Veranlassung zwischen 1945 und etwa 1956 inhaftiert waren. Die Flüchtlinge und Vertrie- Bundesversorgungsge- hierfür erforderlichen Mittel belaufen sich auf ca. bene, die nach der Vertrei- setz, geplantes Entschädi- 61 Millionen DM. Wegen des hohen Alters der bung in der DDR Wohnsitz gungsgesetz: Antragsteller (niemand ist jünger als 60 Jahre, das genommen haben — Versorgungsleistungen Höchstalter liegt bei über 90 Jahren) sollten die gemäß § 5 Abs. 1 d Bun- derzeit vorliegenden Anträge (rund 32 000) zügig desversorgungsgesetz behandelt werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— Zur Deckung dieser Kosten und zur Finanzierung — Die Enquete-Kommission würdigt in besonderer der zusätzlich benötigten bef risteten Arbeitsstel- Weise die Arbeit der Verbände, die sich der len bei den Rehabilitierungsbehörden zur schnel- Unterstützung von Opfern des SED-Regimes ange- leren Bearbeitung der Anträge schlägt die nommen haben. Sie spricht sich dafür aus, diesen Enquete-Kommission vor, Teile des Vermögens Verbänden gezielt finanzielle Fördermittel zukom- der Parteien und Massenorganisationen der DDR men zu lassen. einzusetzen. — Dem Leiden der Opfer der SED-Diktatur, die ihren — Die Aufhebung ungerechtfertigter Urteile sowjeti- Widerstand und ihre Opposi tion mit dem Leben scher Militärtribunale durch russische Stellen ist oder mit langjährigen Freiheitsstrafen bezahlen bisher völlig unzureichend. Die Enquete-Kommis- mußten, ist durch äußere Zeichen — Erinnerungs- sion unterstützt die Aktivitäten der Bundesregie- oder Gedenktafeln, Gedenksteine — Genugtuung rung und fordert eine Intensivierung der laufenden zu verschaffen. Das System der politischen Verfol- Verhandlungen mit der russischen Regierung. gung in der SBZ/DDR muß an dafür geeigneten — Die Schwierigkeiten vieler Betroffener, hinrei- zentralen Orten dokumentiert und darüber hinaus chend genaue Nachweise für das ihnen gesche- der Öffentlichkeit vermittelt werden. Die Tatsache, hene Unrecht zu erbringen, sollten mit entspre- daß es Tatorte nationalsozialistischen und kommu- chenden — gesetzlich fixierten — Beweiserleichte- nistischen Terrors gibt (z. B. Sachsenhausen, rungen ausgeräumt werden. Buchenwald, Bautzen, Brandenburg, Gedenk- stätte Münchner Platz in Dresden) sollte keine — Ehegatte und Kinder eines Inhaftierten, der hinge- „Aufrechnung" oder Gleichsetzung auslösen. Es richtet wurde, in der Haft Selbstmord beging oder muß daran erinnert werden, daß unter den Opfern auf andere Weise in der Haft verstorben ist, waren des kommunistischen Terrors auch Verfolgte des ebenfalls Opfer des Systems. Aus diesem Grunde Nationalsozialismus waren. sollte auch dieser Personenkreis zum Kreis der Anspruchsberechtigten für eine Kapitalentschädi- — Zu einer Stätte des Gedenkens an die Opfer gung nach § 17 des Strafrechtlichen Rehabilitie- politischer Verfolgung von 1945 bis 1989, die von rungsgesetzes (StrRehaG) gehören. herausgehobener Bedeutung ist, sollte die frühere Zentrale Untersuchungshaftanstalt der sowjeti- Die Justizminister der Länder werden gebeten zu — schen und der DDR-Geheimpolizei in Berlin- prüfen, ob eine Form der Rehabili tierung gefunden Hohenschönhausen genutzt werden. werden kann, welche die Bel ange der Opfer berücksichtigt. Die Enquete-Kommission geht — Die Enquete-Kommission empfiehlt, Gedenkstät- davon aus, daß die Mitglieder der Rehabilitie- ten von gesamtstaatlicher Bedeutung durch Bund rungssenate über. genügend Einblick und Ver- und Länder zu fördern. ständnis für das Schicksal der betroffenen Opfer verfügen. Soweit dies noch nicht gewährleistet ist, — Die politische Bildungsarbeit ist in allen Teilen der fordert die Enquete-Kommission die Justizminister Bundesrepublik zu intensivieren, u. a. auch durch

der Länder auf, entsprechende Fortbildungsmaß- „ erlebte Geschichte vor Ort" und deshalb durch nahmen zu organisieren. Besuche der Mahn- und Gedenkstätten in den neuen Ländern und in Berlin zu ergänzen. — Personen, die aus politischen Gründen besondere berufliche Nachteile hinzunehmen hatten, sollten — Audiovisuelle Medien sollten sich verstärkt dem mit Hilfe von Förderprogrammen bei ihrer Aus- Bereich der jüngsten deutschen Geschichte wid- und Weiterbildung unterstützt werden. men. Denkbar wäre z. B. die Realisierung von — Arbeitgeber, auch in der p rivaten Wirtschaft, soll- Filmprojekten, die Fälle von SED-Unrecht popu- ten den Gedanken der Rehabilitierung Betroffener lärwissenschaftlich darstellen. In diesem Zusam- bei der Einstellung und Förderung von Mitarbei- menhang ist zu prüfen, ob die derzeit geltenden tern besonders berücksichtigen. Filmförderrichtlinien ergänzt werden müßten. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Iv. Archive zur Erforschung der DDR-Geschichte

1. Aufgaben der Arbeitsgruppe „Archive" keit eine spezielle Arbeitsgruppe „Archive" ein. Ihr wurde aufgegeben, 2. Schwerpunkte der Tätigkeit — Kontakt mit den Verwaltungen der relevanten 2.1. Sicherung, Neuordnung und Öffnung ehema- Archive — insbesondere für die zentrale Ebene der liger DDR-Archive DDR-Staatsverwaltung, der SED, der sog. Block- 2.1.1. Zentrale staatliche Überlieferungen parteien und der Massenorganisationen — aufzu- nehmen, - 2.1.2. Zentrale Überlieferungen der Parteien und Massenorganisationen — Sachstandsberichte über die Übergabe der Be- Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der stände nach dem November 1989 an die betreffen- SPD, des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die den Archivverwaltungen sowie die Erkenntnisse Grünen sowie der Sachverständigen Faulen über Unterlagen- und Aktenvernichtung 1989/90 bach, Gutzeit, Mitter und Weber einzuholen und 2.1.3. Regionale Überlieferungen — den Zustand dieser Archive — insbesondere hin- 2.1.4. Lokale Überlieferungen sichtlich der überlieferten Aktenstruktur, der Aktenart und des Grades der archivfachlichen 2.1.5. Einzelprobleme Bearbeitung der Akten — zu ermitteln. 2.2. Aufarbeiten von Unterlagen- und Aktenver- nichtung 2.2.1. Unterlagenvernichtung im zentralen Parteiap- 2. Schwerpunkte der Tätigkeit parat der SED 2.2.2. Unterlagen- und Aktenvernichtung im MfS/ Bei der Bewäl tigung dieser Aufgaben konzentrierte AfNS sich die Arbeitsgruppe auf drei, im folgenden näher beschriebene Tätigkeitsschwerpunkte. Sie konnte 2.2.3. Unterlagen- und Aktenvernichtung in ande- sich dabei auf eine enge Zusammenarbeit mit dem ren zentralen staatlichen Behörden Bundesarchiv und mit der Behörde des Bundesbeauf- Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der tragten für die Unterlagen des Staatssicherheits- SPD und der Sachverständigen Faulenbach, dienstes der ehemaligen DDR stützen. Vertreter bei- Gutzeit, Weber der Institutionen waren wiederholt zum Informa tions- dazu Stellungnahme austausch zu den Sitzungen der Enquete-Kommission eingeladen und haben zu bestimmten Problemen 2.3. Der Zugang zu den russischen Archiven Stellung genommen bzw. Auskunft erteilt. 2.3.1. Die Bedeutung der russischen Archive 2.3.2. Ergebnisse einer Informationsreise nach Mos- kau 2.1. Sicherung, Neuordnung und Öffnung ehemaliger DDR-Archive *) 3. Bedeutung und Wert der DDR-Quellen Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der Das Sichern und Sichten des Archivguts der gesamten SPD, des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die früheren DDR stellt sowohl für die politische Aufarbei- Grünen sowie der Sachverständigen Faulen tung als auch für die wissenschaftliche Erforschung bach, Gutzeit, Mitter und Weber der DDR-Vergangenheit eine unerläßliche Vorausset- zung dar. Angesichts der politischen Umwälzungen in 4. Handlungsempfehlungen Osteuropa und in der DDR haben deshalb Archivare Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der und Wissenschaftler schon frühzeitig darauf hinge- SPD, des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die wiesen, daß mit der Auflösung und Umstrukturierung Grünen sowie der Sachverständigen Faulen von staatlichen Behörden, politischen Parteien, wis- bach, Gutzeit, Mitter und Weber senschaftlichen Instituten, Betrieben und anderen Einrichtungen auch die Überlieferung ihres Archiv- und Schriftgutes gefährdet ist. Weil in der DDR, wie

1. Aufgaben der Arbeitsgruppe „Archive" 1 Über die Situation der früheren DDR-Archive informierte Hermann Weber regelmäßig im „Deutschlandarchiv" (Heft Gemäß ihrem Auftrag, die Voraussetzungen der wis- 5/1991, Heft 6/1992) und in „Der Archivar" (Heft 1/1993). senschaftlichen Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergan- Über „Die aktuelle Situation in den Archiven für die Erfor- schung der DDR-Geschichte" berichtet er in Heft 7/1994 des genheit zu verbessern sowie zu Erhalt, Sicherung und „Deutschlandarchivs". — Adressen und grobe Bestands- Öffnung der einschlägigen Archive beizutragen, übersichten wichtiger deutscher Archive können dem setzte die Enquete-Kommission zu Beginn ihrer Tätig Anhang entnommen werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 auch in den anderen von der Sowjetunion dominierten dienstes, die noch längst nicht alle ihr Recht auf Staaten, die Geschichtsschreibung über Jahrzehnte Einsicht in und Auskunft über die sie be treffenden hinweg eine Legitimationswissenschaft gewesen ist, Akten des MfS wahrnehmen konnten, aber auch im die überlieferte Quellen nicht frei und kritisch auswer- Interesse einer gesellschaftlich notwendigen histori- ten konnte, sondern in erster Linie die Herrschaft der schen Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen des kommunistischen Partei rechtfertigte, waren die Ver- SED-Regimes spricht sich die Enquete-Kommission hältnisse in den Archiven 1989/90 selbst für Fachleute gegen eine Abkehr von dem bewährten Stasi-Unter- unklar und nur schwer überschaubar. Mit der deut- lagen-Gesetz aus. schen Vereinigung wurden im Oktober 1990 wich tige Voraussetzungen für eine rechtsstaatliche Neuord- Es sollte jedoch immer wieder betont werden, daß es nung der früheren DDR-Archive und die Vereinheit- bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht lichung des nunmehr gesamtdeutschen Archivwesens nur um die Akten des Staatssicherheitsdienstes gehen geschaffen, doch standen zunächst noch zahlreiche kann. Die Enquete-Kommission hat sich deshalb mit Probleme der ungehinderten Nutzung der Archiva- Nachdruck dafür eingesetzt, daß auch die Akten lien für Forschung und Aufarbeitung entgegen. Die anderer zentraler DDR-Behörden für die wissen-- Enquete-Kommission sah eine ihrer wichtigsten Auf- schaftliche Nutzung möglichst weitgehend zugäng- gaben darin, an der Behebung dieser Probleme mit- lich gemacht wurden. Da es die rechtlichen Grundla- zuwirken. gen dem Bundesarchiv erlauben, auf die Anwendung der 30-Jahre-Sperrfrist zu verzichten, sind auch in diesem Bereich heute in der Regel gute Voraussetzun- gen für Aufarbeitung und Forschung gegeben. Von 2.1.1. Zentrale staatliche Überlieferungen Nachteil ist es, daß die Überlieferung des Ministeri- ums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der Mit dem Einigungsvertrag vom 23. September 1990 DDR, die mit der deutschen Vereinigung in die wurde der Geltungsbereich des Bundesarchivgeset- Zuständigkeit des Politischen Archivs im Auswärtigen zes vom 6. Januar 1988 ausdrücklich auf alle Unterla- Amt überging, bisher nicht zugänglich gemacht wer- gen ausgedehnt, die „bei Stellen der Deutschen den konnte. Mit Schreiben vom 19. Mai 1994 teilte der Demokratischen Republik erwachsen oder in deren Bundesminister des Auswärtigen jedoch mit, die Eigentum übergegangen oder diesen zur Nutzung Akten des MfAA seien nach umfangreichen archiva- überlassen worden sind" (vgl. § 2 Abs. 8). Damit lischen Vorarbeiten zugänglich geworden. Das Aus- wurde nicht nur die rechtliche Grundlage für die wärtige Amt bemühe sich um die rasche Abhilfe noch Erfassung, Sicherung und Übernahme a ller zentralen bestehender organisatorischer Probleme. Damit sei staatlichen Überlieferungen der DDR durch das Bun- die Benutzung der Akten — unter Beachtung der desarchiv geschaffen, sondern zugleich auch — ent- Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes einschließ- sprechend dem föderativen Grundgedanken des Bun- lich der 30-Jahre-Sperrfrist — jedermann möglich. desarchivgesetzes — die Mitverantwortung der fünf neu entstehenden Länder für die Sicherung und Ein generelles Problem für die Nutzung der überlie- Erhaltung des staatlichen Schriftgutes der regionalen ferten Unterlagen- und Aktenbestände, die teilweise und lokalen Ebene festgeschrieben. Nur in Zusam- in völlig ungeordnetem Zustand übernommen wur- menarbeit der Staatsarchive der Länder mit dem den, liegt nach wie vor in ihrer ungenügenden archiv- Bundesarchiv konnten die zahlreichen organisatori- fachlichen Erschließung. So sind z. B. die in der schen Probleme, die sich aus der staatlichen Einigung Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen für das Archivwesen ergaben, bis heute zu einem des Staatssicherheitsdienstes lagernden Sachakten beachtlichen Teil gelöst werden. — zu denken ist hier an Lageberichte, Strukturpläne und anderes mehr — noch weitgehend unerschlossen Von der Zuständigkeit des Bundesarchivs ausdrück- und können demzufolge kaum für Forschungszwecke lich ausgenommen wurde in der Schlußphase der genutzt werden. Auch für das Bundesarchiv brin- Verhandlungen zum Einigungsvertrag die schriftliche gen die notwendigen, außerordentlich zeit- und per- Hinterlassenschaft des Ministe riums für Staatssicher- sonalaufwendigen Erschließungsarbeiten zahlreiche heit. Sie obliegt heute — entsprechend einer von der Schwierigkeiten mit sich. Diese können letztlich nur Bürgerbewegung und der freigewählten Volkskam- durch die Bereitstellung ausreichender Haushaltsmit- mer getragenen Forderung — dem Bundesbeauftrag- tel überwunden werden. ten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Die Enquete-Kommission hat es sehr begrüßt, daß mit dem am 20. Dezember 1991 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten „Gesetz über 2.1.2. Zentrale Überlieferungen der Parteien die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe- und Massenorganisationen maligen DDR" (StUG) die Einsichtnahme der Betrof- fenen in die Akten des Ministeriums für Staatssicher- Die zentralen Überlieferungen der SED, der sog. heit der DDR sowie deren wissenschaftliche Nutzung Blockparteien und der gesellschaftlichen Massenor- ermöglicht wurde. Die bisherigen Erfahrungen mit ganisationen sind inzwischen zum größten Teil von dem StUG haben — bei allen teilweise unerfreulichen der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorgani- Begleiterscheinungen in der öffentlichen Diskussion sationen der DDR im Bundesarchiv" in Berlin über- um die „Inoffiziellen Mitarbeiter" — gezeigt, daß es nommen worden. Die mit der Novellierung des Bun- notwendig und richtig war, die Unterlagen des MfS desarchivgesetzes vom 13. März 1992 ermöglichte zur Einsichtnahme freizugeben. Vor allem im Inter- Gründung dieser unselbständigen Stiftung des öffent- esse der zahlreichen Opfer des Staatssicherheits lichen Rechts, für deren Archivalien die 30-Jahre- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Sperrfrist generell aufgehoben wurde, stellt aus der des früheren ZPA war leider nicht bereit, der Veröf- Sicht der Enquete-Kommission einen Kompromiß zwi- fentlichung des Gesprächsprotokolls vom 28. August schen der ursprünglich erhobenen Forderung nach 1992, das unter dem Titel „Wie war das mit den „Verstaatlichung" der be treffenden Unterlagen ei- SED-Archiven vor 1989?" schriftlich vorliegt, zuzu- nerseits und der Forderung nach ihrer Zuordnung zu stimmen. einem neu zu gründenden unabhängigen For- schungsinstitut andererseits dar. Den Aufbau der Bei diesem Gespräch wurde deutlich, daß zu DDR- Stiftung haben insbesondere sachverständige Mit- Zeiten neben dem Zentralen Parteiarchiv — einer glieder der Enquete-Kommission, die teilweise Abteilung des Instituts für Marxismus-Leninismus — zugleich auch Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung ein „internes Archiv" der Parteiführung existierte und sind, seit der Gründung mit begleitet. Wiederholt hat außerdem zahlreiche wich tige Unterlagen über Jahre sich die Enquete-Kommission auch als Vermittlerin in in den einzelnen Büros der Politbüromitglieder, der den teilweise recht schwierigen Verhandlungen um Sekretäre und der Abteilungsleiter des Zentralkomi- die Einbringungsverträge mit den Eigentümern des tees verblieben, obwohl es für die Ablieferung der Archivgutes betätigt. Unterlagen aus dem laufenden Geschäftsgang des Parteiapparates an die Altregistratur des Zentralkomi- Die erste Konsolidierungsphase der Stiftung kann tees seit 1963 detaillierte, durch einen Politbürobe- heute als abgeschlossen angesehen werden. Die schluß verbindlich vorgeschriebene „Arbeitsrichtli- Überlieferungen der Liberal-Demokra tischen Partei nien für die Parteiarchive der SED" gab. Diese fanden Deutschlands (LDPD), der Christlich-Demokratischen jedoch in vielen Fällen keine Anwendung. Politisch Union (Ost-CDU) und der Demokratischen Bauern- besonders wich tige Unterlagen, insbesondere die des partei Deutschlands (DBD) werden allerdings nicht Politbüros, wurden an das „interne Archiv" der Par- von der Stiftung, sondern im Rahmen der gesetzlichen teiführung abgegeben, andere Unterlagen blieben oft Regelungen vom Archiv des Deutschen Liberalismus jahrelang in der Verfügungsgewalt einzelner Funktio- der Friedrich-Naumann-Stiftung in Gummersbach näre, gelangten aber nicht über die Altregistratur auf bzw. vom Archiv für Christlich-Demokratische Politik dem offiziell vorgesehenen Weg in das Zentrale der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin ver- Parteiarchiv. Dessen SED-Bestände, aufgebaut nach waltet. Genau wie für die Bestände der Stiftung wurde einem verbindlichen „Einheitsaktenplan", weisen jedoch für diese Überlieferungen ebenfalls die 30- deshalb heute nicht nur infolge gezielter Unterlagen- Jahre-Sperrfrist aufgehoben. Unbeschadet einer im vernichtung aus den Jahren 1989/90, sondern auch Interesse aller Seiten wünschenswerten Klärung noch infolge unvollständiger Abgabe aus dem laufenden bestehender gegensätzlicher Auffassungen spricht Geschäftsgang erhebliche Lücken auf. — gerade auch auf Grund nunmehr dreijähriger Erfahrungen — nichts gegen eine Beibehaltung vor allem der bestehenden räumlichen Zuordnung dieser Bestände. Das Bundesarchiv ist aufgefordert, die in 2.1.3. Regionale Überlieferungen seiner Obhut in Potsdam befindlichen Überlieferun- gen der National-Demokratischen Partei Deutsch- Auch auf Länderebene ist die Neuordnung der frühe- lands (NDPD) aufzuarbeiten und der Forschung zur ren DDR-Archive ein gutes Stück vorangekommen. In Verfügung zu stellen. Thüringen und Sachsen sind inzwischen Landesar- chivgesetze verabschiedet worden, die in Anlehnung an das geänderte Bundesarchivgesetz und die gelten- den Nutzungsregelungen für die „Stiftung Archiv der Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD, Parteien und Massenorganisationen der DDR" in der des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen Regel auf die Anwendung der 30-Jahre-Sperrfrist sowie der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, verzichten. Schon vor geraumer Zeit sind — parallel Mitter und Weber zu vorstehendem Absatz: zur Überführung der zentralen staatlichen Akten in das Bundesarchiv — die regionalen staatlichen Akten „Die erste Konsolidierungsphase der Stiftung kann durch die jeweils zuständigen Archive der neuen heute als abgeschlossen angesehen werden, auch Bundesländer übernommen worden. Auch die Über- wenn die Überlieferungen der LDPD, der Ost-CDU lieferungen der SED aus den Jahren 1945 bis zur und der DBD bisher noch nicht in die Stiftung über- Auflösung der Länder 1952 sind in die Landeshaupt- führt wurden, wo ihr Platz sein muß. Genau wie für die bzw. Hauptstaatsarchive in Dresden, Weimar, Mag- Bestände der Stiftung Archiv wurde jedoch für diese deburg, Potsdam und Schwerin eingegangen. Überlieferungen ebenfalls die 30-Jahre-Sperrfrist weitgehend aufgehoben." Langwieriger und komplizierter als die Übernahme der staatlichen Akten waren die Verhandlungen zwi- schen der PDS und den Ländern über den Verbleib der Für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist die einzelnen SED-Bezirksparteiarchive. Im Laufe der Überlieferung der SED innerhalb der Stiftung von Jahre 1992 und 1993 konnten jedoch in Sachsen herausragender Bedeutung. Schon im August 1992, (17. 12. 1992), Sachsen-Anhalt (28. 12. 1992), Meck- kurze Zeit nachdem die Enquete-Kommission ihre lenburg-Vorpommern (11. 5. 1993) und Thüringen Arbeit aufgenommen hatte, führte die Arbeitsgruppe (8. 6. 1993) entsprechende Einbringungsverträge deshalb mit der Leitung des damals noch von der PDS unterzeichnet werden, denen zufolge die früheren verwalteten Zentralen Parteiarchivs (ZPA) der SED, SED-Bezirksparteiarchive in die Landesarchive über- Frau Dr. Inge Pardon und Herrn Lothar Hornbogen, führt wurden. Lediglich über den Verbleib des Ber li ein ausführliches Informationsgespräch. Die Leitung -ner SED-Bezirksparteiarchivs konnte bisher noch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 keine Einigung erzielt werden. Die Enquete-Kommis- ist auf der lokalen Ebene auch der Grad der Erschlie- sion, die berechtigte Eigentumsansprüche des Landes ßung und Bearbeitung der Akten. Viele Kreise, Städte Berlin an diesem Archiv in keiner Weise in Frage und Gemeinden stehen vor so enormen finanziellen stellen will, hat sich wiederholt dafür ausgesprochen, Schwierigkeiten, daß sie die Aufbereitung der oft es wegen seiner zentralen Bedeutung für die jahrzehntelang vernachlässigten örtlichen Archive Geschichte der gesamten DDR auch weiterhin — zu- notgedrungen zurückstellen müssen. Nur in Ausnah- mindest für eine Übergangszeit — an seinem jetzigen mefällen konnten inzwischen neue Stadtarchive ein- Standort, der Stiftung Archiv zu belassen. Nur hier gerichtet und mit entsprechendem Personal ausge- können seine Bestände in direktem Vergleich mit der stattet werden. zentralen Überlieferung der SED erforscht und ausge- Ein besonderes Problem auf der lokalen Ebene stellen wertet werden. Leider konnten die von den Ländern riebe und übernommenen Bezirksparteiarchive der SED nicht die Archive früherer „volkseigener" Bet Kombinate dar. Während diese Betriebe zu DDR- — wie von der Enquete-Kommission im Interesse Zeiten ihre Unterlagen regelmäßig an die zuständigen einer erleichterten wissenschaftlichen Nutzung befür- Staatsarchive abliefern mußten, gilt das für die heute wortet — jeweils an einem zentralen Ort des betref- fenden Bundeslandes zusammengeführt werden, son- privatisierten Unternehmen nicht mehr. Die zum Zeit- punkt der Privatisierung noch im Geschäftsgang dern wurden — ebenso wie die staatlichen Bezirksak- befindlichen — ebenso wie die entgegen den Bestim- ten — auf verschiedene Standorte aufgeteilt. mungen nicht abgelieferten — Unterlagen der ehe- Zum großen Teil sind die Bestände der früheren mals staatlichen Betriebe sind infolgedessen heute in SED-Bezirksparteiarchive, die neben den Überliefe- privater Hand und damit nicht nur von gewachsenen rungen der SED-Bezirksleitungen (seit 1952) teilweise Überlieferungen in den staatlichen Archiven ge- auch die der Kreis- und Stadtparteileitungen (seit trennt, sondern generell der öffentlich-rechtlichen 1946) sowie die der Gebiets-, Hochschul- und Be- Archivgesetzgebung entzogen — ein Zustand, der triebsparteileitungen (oft erst seit Mitte der fünfziger sich auf die Forschung außerordentlich nega tiv aus- Jahre) umfassen, schon vor 1989/90 verhältnismäßig wirken könnte. Die Unterlagen der zahlreichen liqui- gut erschlossen worden; sie sind deshalb heute in der dierten Unternehmen wurden in speziellen von der Regel benutzbar. Ausnahmen hiervon bestehen Treuhandanstalt verwalteten Aktendepots gesam- jedoch in Einzelfällen, wie z. B. in Mecklenburg- melt und damit zunächst notdürftig gesichert. Ange- Vorpommern, wo etwa ein Drittel der Bestände in sichts der bevorstehenden Auflösung der Treuhand- schlecht oder gar nicht erschlossenem Zustand über- anstalt sollten diese Unterlagen an die jeweils zustän- nommen wurden, außerdem bei dem zur Zeit im digen öffentlichen Archive übergeben werden. Umzug befindlichen Staatsarchiv Chemnitz und bei den in völlig desolatem Zustand übernommen Archi- Vor allem die Länder sind aufgefordert, die Situa tion valien der Universitätsparteileitung Jena. Ein gene- der lokalen Archive insgesamt zu verbessern. Sollen relles Problem stellen für die Archive und ihre Benut- drohende Archivschließungen verhindert werden, gilt zer die noch weitgehend unerschlossenen, aus dem es, notwendige Umstrukturierungs- und Reorganisa- laufenden Geschäftsgang übernommenen Unterla- tionsarbeiten zügig voranzutreiben sowie Raum- und gen der späten achtziger Jahre und das oft vernach- Personalprobleme zu lösen. lässigte Sammlungsgut dar.

2.1.5. Einzelprobleme 2.1.4. Lokale Überlieferungen Über die Mitwirkung an der grundsätzlichen Neuord- Insgesamt sehr unübersichtlich ist zur Zeit noch die nung der früheren DDR-Archive hinaus ist die Lage der lokalen Archive, die für Untersuchungen Enquete-Kommission auch sonst in Archivangelegen- zum politischen und gesellschaftlichen Leben auf heiten tätig geworden. Durch zahlreiche Zuschriften Kreis- und Ortsebene von großer Bedeutung sind. und in Gesprächen ist sie immer wieder auf konkrete Gerade die sozialgeschichtliche Erforschung der Mißstände aufmerksam gemacht worden. Sie hat in DDR, die in weiten Bereichen noch in den Anfängen diesen Fällen — etwa wenn es darum ging, Schrift- steckt, ist in besonderem Maße auf die lokalen gut vor drohender Vernichtung zu bewahren oder Archive angewiesen. Um so mißlicher ist deshalb, daß historisch gewachsene Bestände zusammenzuhalten oft selbst der Verbleib lokaler SED-Parteiakten bisher — ihre Aufgabe darin gesehen, das Bundesarchiv, das nicht geklärt werden konnte. Teils sind z. B. die Bundesministerium des Innern, die Treuhandanstalt Unterlagen der SED-Kreisleitungen und -Grundorga- oder andere zuständige Adressaten zu informieren nisationen — wie bereits erwähnt — in den Beständen und auf die bestehenden Probleme hinzuweisen. Auf der früheren SED-Bezirksparteiarchive zu finden, teils diese Weise gelang es z. B. in einem Fall, die Treu- lagern sie in Kreis-, Stadt- oder Gemeindearchiven. Es handanstalt zu einer Änderung ihrer „Arbeitsanwei- fehlt zur Zeit auch noch der Überblick darüber, welche sung zur Archivierung von Schriftgut liquidierter Überlieferungen tatsächlich in den Kreis- und Stadt- Unternehmens' zu veranlassen, so daß Unterlagen archiven vorhanden sind. In den meisten Fällen exi- über die Betriebsparteiorganisationen der SED sowie stieren zwar die Sitzungsprotokolle der Räte von über betriebliche Aktivitäten des FDGB und anderer Kreisen und Städten, andere Unterlagen, etwa die der Massenorganisationen zunächst weiterhin aufbe- gesellschaftlichen Organisationen, sind jedoch in den wahrt und nicht — wie ursprünglich vorgesehen — einzelnen Archiven in höchst unterschiedlicher Quan- vernichtet werden dürfen. In einem anderen Fall tität und Qualität zu finden. Genauso unterschiedlich wurde das Bundesministerium des Innern auf die Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Bedeutung des „Archivs Bürgerbewegung" in Leipzig schungsvorhaben — sind die Archivverwaltungen aufmerksam gemacht, das seit 1991 nicht nur Mate- und ihre Fachkräfte zumeist dera rt in Anspruch rialien der DDR-Opposition und der Bürgerbewegung genommen, daß die weitere Erschließung der über- sammelt, erschließt und archiviert, sondern auch ein nommenen DDR-Bestände oft nicht in wünschenswer- öffentliches, von der Ini tiative einzelner Bürger getra- tem Maße vorangetrieben werden kann. genes Forum für die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit darstellt. Es bleibt zu hoffen, daß Grundsätzlich muß bei der Frage nach Unterlagen- dem „Archiv Bürgerbewegung", welches zeitweise und Aktenvernichtung zwischen der „ordnungsge- vor großen finanziellen und personellen Schwierig- mäßen" Kassation von Schriftgut, die in aller Regel keiten stand, in dem geplanten „Ausstellungs-, Infor- auch in den DDR-Archiven protokollarisch festgehal- mation- und Dokumentationszentrum zur deutschen ten wurde, und der „unbefugten" bzw. unkontrollier- Einheit" in Leipzig langfristig ein institutionell abge- ten Vernichtung von Unterlagen und Akten unter- sicherter Kooperationspartner erwächst. schieden werden. Sowohl im Bereich des Zentralko- mitees der SED als auch im Bereich des Staatssicher- heitsdienstes — um nur zwei besonders wich tige Beispiele zu nennen — wurden nach Ablauf bestimm-- 2.2. Aufarbeiten von Unterlagen- ter Aufbewahrungsfristen turnusmäßig entsprechend und Aktenvernichtung den innerparteilichen bzw. innerdienstlichen Bestim- mungen Unterlagen, die an die zuständigen Registra- Ein weiterer Tätigkeitsschwerpunkt der Arbeits- turen abgegeben worden waren, kassiert. Dabei gruppe bestand darin, sich einen Überblick über die waren jedoch nicht — wie im Rechtsstaat üblich — Vernichtung von Unterlagen (nicht archiviertes allein archivalisch-fachliche Gesichtspunkte aus- Schriftgut) und Akten (archiviertes Schriftgut) im schlaggebend. Vielmehr entschieden die zuständigen Zuge der friedlichen Revolution von 1989/90 zu ver- „Kassationskommissionen", in denen Archivare nur schaffen. Bereits im Juni 1992 hat die Enquete eine nachgeordnete Funktion innehatten, unter Kommission auf dieses wichtige Thema öffentlich Umständen auch nach politisch opportunen Kriterien aufmerksam gemacht und die Staatsanwaltschaften über Aufbewahrung oder Vernichtung von Unterla- dazu aufgefordert, unbefugte Unterlagen- und Akten- gen. vernichtung als schwerwiegende Behinderung der Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur nach- drücklich zu verfolgen und zur Anklage zu bringen. 2.2.1. Unterlagenvernichtung im zentralen Die von der Kommission zum Thema Unterlagen- und Parteiapparat der SED Aktenvernichtung erbetenen Sachstandsberichte des Bundesarchivs und der Behörde des Bundesbeauf- Über die Kassation des ordnungsgemäß an die Regi- tragten für die Unterlagen des Staatssicherheits- straturen des zentralen Parteiapparates der SED dienstes der ehemaligen DDR sowie das von der abgelieferten Schriftgutes entschied — entsprechend Arbeitsgruppe mit der Leitung des früheren Zentralen den „Arbeitsrichtlinien für die Parteiarchive der Parteiarchivs der SED geführte Informationsgespräch SED" — die aus dem Leiter des Büros des Politbüros, machen deutlich, daß das tatsächliche Ausmaß dieser dem jeweils zuständigen Abteilungsleiter und dem Vernichtungsvorgänge sehr wahrscheinlich erst im Leiter des Zentralen Parteiarchivs zusammengesetzte Zuge der endarchivalischen Erschließung und inten- Kassationskommission. Offensichtlich gehen jedoch siven Bearbeitung der DDR-Bestände zu Tage treten die heute bereits festzustellenden, wirk lich gravieren- wird. Abgesehen von dem Problem, Überlieferungs- den Überlieferungslücken für die zentrale SED-Ebene lücken überhaupt defini tiv feststellen zu können, wird nicht in erster Linie auf die Tätigkeit der Kassations- eine besondere Schwierigkeit darin liegen, im Einzel- kommissionen zurück, sondern resultieren aus der fall zu unterscheiden, ob offenkundige Bestandslük- nicht ordnungsgemäßen Ablieferung der Unterlagen ken auf nicht ordnungsgemäße Ablieferung aus dem an die zuständigen Registraturen. So ist beispiels- laufenden Geschäftsgang zurückgehen, ob die heute weise das Schriftgut der Abteilung „ Grundstoffindu- fehlenden Unterlagen im Zuge der politischen strie " in den achtziger Jahren, als die verheerenden Umwälzungen 1989/90 unbeabsich tigt verloren gin- ökonomischen und ökologischen Konsequenzen der gen oder von den zuständigen Verantwortungsträ- politischen Entscheidung zur Erdölablösung durch gern gezielt vernichtet wurden oder ob sie — etwa heimische Braunkohle erkennbar wurden, nur noch in infolge unzulässiger „Privatisierung" — als „vaga- sehr geringem Umfang an das Zentrale Parteiarchiv bundierend" gelten müssen, prinzipiell also noch abgegeben worden. gesichert werden könnten. Ausschlaggebend dafür, daß viele Funktionäre Akten Nur in Einzelfällen liegen heute bereits genaue und Dokumente möglichst lange in ihrer eigenen Kenntnisse über den defini tiven Verlust bestimmter Verfügungsgewalt behielten, dürften das weitver- Überlieferungen vor, denn die Bearbeitung und breitete Mißtrauen innerhalb der herrschenden Partei Erschließung der umfangreichen schriftlichen Hinter- und ihre übersteigerten Geheimhaltungspraktiken lassenschaft der DDR liegt in vielen Archiven noch in gewesen sein. Dieses Verhalten bot einzelnen SED den Anfängen. Durch die intensive persönliche, wis- Funktionären letztlich auch die Möglichkeit, während senschaftliche und amtliche Benutzung der Akten des politischen Umbruchs 1989/90 kompromittie- — etwa für Rehabilitierungsanträge, für Eigentums- rende Unterlagen zu „privatisieren" oder zu beseiti- nachweise, für Strafverfolgungszwecke, für parla- gen. Dies ist z. B. ganz offensichtlich im Bereich des mentarische Untersuchungsausschüsse oder für For Politbüromitglieds und ZK-Sekretärs für Wi rtschaft, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Günter Mittag, geschehen. Zu vermuten ist dies aber komitee der SED, wo es im November und Dezember auch für die heute vollständig fehlende Überlieferung 1989 offensichtlich zu völlig unkon trollierten Vernich- der Abteilung „Verkehr" (innerhalb des Zentralkomi- tungen kam, wurden vom Staassicherheitsdienst zu tees u. a. verantwortlich für die „Westarbeit", für diesem Zeitpunkt teilweise noch „ordnungsgemäße" Waffenhandelsgeschäfte und für den Aufbau von Kassationsprotokolle angelegt. Soweit bekannt Geheimdiensten in anderen Ländern) sowie für die wurde, gibt es für das Jahr 1989 mindestens 108 Ver- offenkundigen Lücken in den Beständen der Zentra- nichtungsprotokolle; 66 von ihnen konnten bisher len Parteikontrollkommission. ermittelt werden. Sie dokumentieren insgesamt 50 vollzogene Schriftgutvernichtungen mit ca. Ein systematisches Vorgehen bei der Vernichtung von 15 000 Einzelvorgängen. Die in den rest lichen Akten aus dem Bereich des Zentralkomitees läßt sich sechzehn Protokollen erfaßten Unterlagen konnten allerdings aus den bisher bekannten Bestandslücken offensichtlich nicht mehr — wie vorgesehen — ver- nicht erkennen. Es wurde bis heute auch noch keine nichtet werden. Welche Unterlagen im einzelnen entsprechende schriftliche „Vernichtungsanwei- von der Vernichtung nach der Dienstanweisung sung" gefunden. Nr. 2/81 betroffen waren, steht zur Zeit noch nicht Die Archivare des Zentralen Parteiarchivs selbst sind fest; eine entsprechende systema tische Auflistung- im Herbst 1989 tätig geworden, als sie von dem ist jedoch bei der Behörde des Bundesbeauftragten in drohenden Verlust wertvollen Schriftguts erfuhren. Arbeit. Über die Leitung des früheren Instituts für Marxismus Aus den inzwischen erschlossenen Teilen der MfS Leninismus gelang es ihnen aber erst im November Überlieferung wird deutlich, daß auch Schriftgut kas- 1989, den Bürochef des Politbüros dazu zu veranlas- siert worden ist, das nicht zur Archivierung in den sen, alle Abteilungen des ZK und die Büros der Abteilungen XII vorgesehen war, sondern in anderen Politbüromitglieder zur Einhaltung der „Registratur- Diensteinheiten verblieb. Vornehmlich handelt es ordnung des ZK" aufzufordern und auf die Zuständig- sich hierbei um Schriftgut mit Geheimhaltungsgra- keit des Zentralen Parteiarchivs für alle Unterlagen den, um Unterlagen zur Aus- und Weiterbildung der des Parteiapparats hinzuweisen. Ausdrücklich wurde Mitarbeiter sowie um andere nicht personenbezogene darauf aufmerksam gemacht, daß zu Akten- und Unterlagen. Im Teilbestand „Sekretariat des Mini- Schriftgutvernichtungen, die zu diesem Zeitpunkt sters" wurden so z. B. Vernichtungsprotokolle für offensichtlich in größerem Umfang in den einzelnen Verschlußsachen aus den Jahren von 1955 bis 1984 Büros vorgenommen wurden und erst mit der Versie- gefunden, im Teilbestand „Arbeitsgruppe des Mini- gelung der Büros der Politbüromitglieder durch den sters" Vernichtungsprotokolle über Vertrauliche und neuen SED/PDS-Chef Gregor Gysi seit dem 3. De- Geheime Verschlußsachen aus den Jahren von 1959 zember 1989 zumindest eingedämmt werden konn- bis 1989. ten, allein die Kassationskommissionen berechtigt seien. Von besonderer Bedeutung für umfangreiche gezielte Unterlagenvernichtung im Bereich des früheren Mini- steriums für Staatssicherheit, über die in der Regel 2.2.2. Unterlagen- und Aktenvernichtung keinerlei Protokolle mehr angefertigt wurden, ist ein im MfS/AfNS Schreiben des Leiters des Amtes für Na tionale Sicher- heit, Wolfgang Schwanitz, vom 22. November 1989. Der Leiter der MIS-Nachfolgeorganisation gab damit Auch im Bereich des Ministe riums für Staatssicherheit war die Kassation archivierter Unterlagen grundsätz- den nachgeordneten Diensteinheiten detaillierte Hin- weise zur „Reduzierung des Bestandes registrierter lich durch innerdienstliche Bestimmungen geregelt. Vorgänge und Akten sowie weiterer operativer Mate- Von zentraler Bedeutung in diesem Zusammenhang rialien und Informationen". Eine Aussage darüber, sind die vom Minister für Staatssicherheit, E rich welche Unterlagen gemäß diesem Schreiben, dem im Mielke, erlassene Dienstanweisung Nr. 2/81 vom Dezember weitere Vernichtungsanweisungen des 1. Juli 1981 „zur einheitlichen Erfassung und Über- AfNS-Chefs folgten, tatsächlich vernichtet wurden, prüfung von Personen und Objekten, der Registrie- läßt sich allerdings nicht treffen. In der Behörde des rung von Vorgängen und Akten sowie der Archivie- Bundesbeauftragten wurden zwischen März und Sep- rung politisch-operativen Schriftgutes in den Abtei- tember 1991 über 17 000 Säcke mit ca. 25 000 laufen- lungen XII" (GVS-MfS-0008-8/81) und die inhaltlich den Metern (lfm) vorvernichtetem Mate ri auf diese Dienstanweisung aufbauenden, von der al gesichtet und bewertet. Ein relativ leicht rekonstruierbarer Teil Abteilung XII (Zentrale Auskunft/Speicher) heraus- davon (ca. 1 200 lfm) konnte nach der jeweiligen gegebenen „Arbeitsorganisatorischen Festlegungen Provenienz strukturiert und durch Listen nachweisbar zur Archivordnung XII" aus dem Jahre 1989. Während gemacht werden, so daß heute Rückschlüsse auf die nach Inkrafttreten der Dienstanweisung Nr. 2/81 Vernichtungsschwerpunkte möglich sind. Sie lagen zunächst nur ersatzverfilmte Unterlagen von der „ge- u. a. in den Bereichen „Spionageabwehr" (HA II), regelten" Kassationen be troffen waren, wurde seit „Beobachtung/Ermittlung" (HA VIII), „Volkswirt- Anfang 1989 von einer ständigen Kassationskommis- schaft" (HA XVIII), „Verkehr, Post und Nachrichten- sion Schriftgut im großen Stil auch ersatzlos kas- wesen" (HA XIX), in der Hauptabteilung „Kader und siert. Schulung" sowie im Bereich „Staatsapparat, Kunst, Nachzuweisen sind die Kassationen — zumindest Kultur, Untergrund" (HA XX). Zur Vernichtung vor- teilweise — über „Vernichtungsprotokolle für Archiv- gesehen war außerdem sachbezogenes Schriftgut zu material" und über die entsprechenden Eintragungen bestimmten wich tigen historischen Ereignissen der in den Archivregistrierbüchern. Anders als im Zentral DDR-Geschichte, z. B. zum 17. Juni 1953, zur Teil- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode nahme der DDR an der Intervention der Warschauer- Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes machte Vertrags-Staaten in der Tschechoslowakei 1968, zu z. B. darauf aufmerksam, daß im übernommenen den Kommunalwahlen und zur Bekämpfung der Schriftgut des Ministe riums für Auswärtige Angele- Opposition im Jahr 1989. genheiten (MfAA) der DDR die Überlieferungen der Abteilungen I (MfS im MfAA), die Bestände der Fast vollständig vernichtet wurden während der Auf- Abteilung „Journalistische Beziehungen" sowie der lösung des Ministeriums für Staatsicherheit bzw. des größte Teil der Verschlußsachen und der zwischen Amtes für Nationale Sicherheit im ersten Halbjahr November 1989 und Oktober 1990 noch in den DDR 1990 die Akten der „Hauptverwaltung Aufklärung" Auslandsvertretungen befind lichen Unterlagen feh- (HV A) des MfS. Lediglich in der Bezirksverwaltung len. Die Nachweise über die Unterlagenvernichtun- Leipzig konnten die Spionageakten, aus denen zwei- gen sind auch hier nicht vollständig. felsfrei hervorgeht, daß der „Auslandsnachrichten- dienst" der DDR auch in die Bekämpfung der inneren Nach Erkenntnissen des Bundesarchivs fehlen im Opposition eingebunden war, vor der Vernichtung übernommenen Schriftgut des Ministe riums des bewahrt werden. Das Bürgerkomitee zur Auflösung Innern der DDR u. a. die Unterlagen der für MfS der Staatssicherheit, das über diesen Zusammenhang Kontakte zuständigen Abteilung I (K I) sowie die- von den zuständigen HV A-Offizieren offensichtlich komplette Überlieferung des sog. Ministerarchivs. gezielt desinformiert wurde — stimmte der Vernich- Der Verbleib dieses vermutlich sehr bedeutsamen lung der HV A-Akten schließlich selbst zu [—p Exper- Archivs, das neben dem Verwaltungsarchiv des Mini- tise Chaker]. steriums existierte, zur Aufbewahrung der Unterlagen der Minister sowie ihrer Büros diente und höchst- Der Zentrale Runde Tisch, der immer wieder im wahrscheinlich auch nach der friedlichen Revolu- Zusammenhang mit dem Thema Aktenvernichtung tion von 1989/90 noch vorhanden war, ist bislang un- genannt wird, hat de facto keine Resolu tion verab- geklärt. schiedet, die die Vernichtung von Akten — gleich Ein weiterer Bereich, in dem es zu umfangreichen welcher Provenienz — rechtfertigen könnte. Ganz im Akten- und Unterlagenvernichtungen kam, ist das Gegenteil bemühte er sich, die Vernichtung von Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) der Akten und Unterlagen möglichst zu unterbinden. Um DDR, dessen Schriftgut vom Bundesarchiv-Militärar- einem unbefugten und unkon trollierbar schnellen chiv übernommen wurde. Da die entsprechenden Zugriff auf die MfS-Unterlagen zu verhindern, Vorgänge vom Bundesarchiv inzwischen vergleichs- stimmte er allerdings der Vernichtung magneti- weise gut aufgehellt werden konnten, sollen sie hier scher Datenträger des MfS zu — eine Entscheidung, ausführlicher dargestellt werden. die sich im nachhinein als sehr nachteilig für die Erschließung der Unterlagen erweist [—> Exper tise Das früher offiziell für die Unterlagen zuständige Thaysen]. Militärarchiv der DDR in Potsdam wurde bereits im November 1988 — offensichtlich auf Be treiben der Aussagen darüber, wieviele Unterlagen der Staatssi- NVA-Spitze und unter Protesten der Archivare — cherheit zur Zeit außerhalb der zuständigen Behörde durch den Erlaß der sog. Archivordnung 1988 von der noch „vagabundieren", lassen sich verbindlich nicht archivalischen Bewertung und Verzeichnung des zu treffen. Daß Unterlagen in nicht unbedeutendem übernehmenden Schriftgutes völlig entbunden. Diese Ausmaß von früheren hauptamtlichen Mitarbeitern Aufgabe, die auch die Entscheidung über die Kassa- „privatisiert" wurden und sich heute ohne Zweifel tion von Schriftgut einschloß, lag seit 1988 bei den zum Teil auch im Besitz anderer Privatpersonen einzelnen militärischen Verwaltungsarchiven selbst. befinden, geht jedoch aus den immer wieder medien- Als es nach dem Herbst 1989 in den Verwaltungsar- wirksam in Szene gesetzten „Enthüllungen" über chiven, die der „Verwaltung Militärwissenschaft" im angebliche oder tatsächliche Stasi-Mitarbeit hervor. Ministerium für Nationale Verteidigung in Strausberg Auch ist anzunehmen, daß sich Unterlagen des Staats- unterstanden, zu zahlreichen autorisierten, aber auch sicherheitsdienstes in Moskauer KGB-Archiven be- unautorisierten Schriftgutkassationen kam, bemühte fanden oder noch befinden. Inwiefe rn es sich hierbei sich das Militärarchiv in Potsdam — oft vergeblich — um verbrachte Originaldokumente oder um „Parallel- um Abhilfe. überlieferungen" aus der früheren Kooperation der Ein Schwerpunkt der „autorisierten" Akten- und Geheimdienste handelt, muß zur Zeit dahingestellt Unterlagenvernichtung im Bereich des früheren Ver- bleiben [–> Bericht Marquardt III]. teidigungsministeriums der DDR lag auf dem hinter- lassenen Schriftgut der Militärspionage. Am 16. März 1990, wenige Tage vor den ersten demokratischen Volkskammerwahlen, hatte der letzte von der SED 2.2.3. Unterlagen- und Aktenvernichtung in anderen gestellte Verteidigungsminister, Admiral Theodor zentralen staatlichen Behörden Hoffmann, mit Befehl 1206/90 die „Einstellung der illegalen Arbeit der militärischen Aufklärung" verfügt Zu Akten- und Unterlagenvernichtungen kam es sowie die Vernichtung a ller Unterlagen und perso- nicht nur im Bereich der SED und des Ministe riums für nenbezogenen Akten des „Militärischen Abschirm- Staatssicherheit, sondern auch in den Überlieferun- dienstes" (MAD) der NVA bis zum 31. Juli 1990 gen anderer staatlicher Behörden. Hier sind Erkennt- angeordnet. Der Minister für Abrüstung und Verteidi- nisse über die genauen Vorgänge und das Ausmaß der gung (MfAV) der DDR, Rainer Eppelmann, der im Vernichtungen ebenfalls nur vorläufig und punktuell April 1990 die Amtsnachfolge von Admiral Hoffmann vorhanden: antrat und in Archivangelegenheiten von der zustän- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

digen „Verwaltung Militärwissenschaft" im MfAV stellte sich das Problem, daß dem MfAV nicht alle offensichtlich wiederholt falsch informiert und bera- Akten zur Verfügung standen, da ein Großteil von ten wurde, unterschrieb am 15. August 1990 eine ihnen, wie von anderen Ministe rien auch, beim MfS in Vollmacht, auf grund derer die Akten der „Verwal- der Normannenstraße lagerte. tung/Bereich Aufklärung" vom Militärarchiv in Pots- dam zur „Sichtung" an einen Beauftragten des Chefs Am 16. Mai 1990 erließ der Ministerrat einen des aus der früheren „Verwaltung Aufklärung" her- Beschluß, nach dessen Ziffer 14 die Archivalien der vorgegangenen „Informationszentrums" im MfAV jeweiligen Ministerien, die das MfS ausgelagert hatte, herausgegeben werden mußten. Etwa ein Drittel der wieder zurückgeführt und bei den jeweiligen Ministe- zur Sichtung eingeforderten Akten, vornehmlich per- rien gelagert werden sollten. sonengebundene Unterlagen über die Auslandstätig- Im Archiv des ehemaligen Ministeriums für Staatssi- keit von Mitarbeitern der Verwaltung Aufklärung, cherheit waren ebenfalls Akten der Militäraufklärung sind infolge dieser Vollmacht bis zum September 1990 eingelagert. Sie wurden auf der Grundlage des vernichtet worden. Auch die im Archiv des ehemali- genannten Ministerratsbeschlusses abtransportiert. gen Ministeriums für Staatssicherheit eingelagerten Nach einem vergeblichen Versuch Ende Mai 1990- Akten der Militäraufklärung wurden — unter Beru- wurden die Unterlagen entsprechend einer Vollmacht fung auf einen entsprechenden Beschluß des Mini- durch Generalleutnant Krause vom 8. August 1990 am sterrats der DDR vom 16. Mai 1990 — Ende August 10. August 1990 übergeben. Das Übergabeprotokoll 1990 herausgegeben und gesichtet. weist 360 lfm Akten einschließlich der zugehörigen Rainer Eppelmann, der den Vollzug der Vernichtung 13 Registrierbücher auf. Auch aus diesen Beständen zuließ, erklärte dazu im September 1992, daß er wurden dann alle personengebundenen Unterlagen bedauere, damals den historisch-wissenschaftlichen vernichtet. Von der Vernichtung der Akten war in Wert der vernichteten Unterlagen nicht erkannt zu dem Ministerratsbeschluß jedoch nicht die Rede. haben. Es erscheine ihm aber aus ethisch-moralischen Gründen noch immer unvorstellbar, daß ein Dresdner Am 15. August 1990 erteilte Rainer Eppelmann eine Bürger, der im Auftrag der DDR Militärspionage Vollmacht zum Abtransport des gesamten Archivbe- gegen die damalige Bundesrepublik bet rieben habe, standes der ehemaligen Verwaltung/ Bereich Aufklä- oder ein Heidelberger Bürger, der im Auftrag der rung, deren Herausgabe sein Staatssekretär Ablaß früheren Bundesrepublik Militärspionage gegen die mehrfach verhindert hatte, aus dem Militärarchiv DDR betrieben habe, dafür vor Gericht gestellt wer- Potsdam. Es handelte sich um ca. 1,3 t Mate rial — bei den solle. der Rückgabe fehlten 83 Aktenbündel, darunter alle personengebundenen Unterlagen.

Rainer Eppelmann hat nie bestritten, den Befehl zur Vernichtung der Akten gegeben zu haben. Eine Sondervotum zu den beiden letzten Absätzen der strafrechtliche Verfolgung der Mitarbeiter der ehema- Mitglieder der Fraktion der SPD und der ligen Militäraufklärung sei — soweit sie DDR-Bürger Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, Weber: waren — nach seiner wiederholt geäußerten Auffas- sung nur durch rückwirkende Anwendung von bun- „Ein Schwerpunkt der Akten- und Unterlagenver- desdeutschen Gesetzen und durch Ungleichbehand- nichtung im Bereich des früheren Verteidigungsmini- lung im Vergleich zu westdeutschen Geheimdiensten steriums der DDR lag bei den hinterlassenen Unterla- möglich. Dies widerspreche seiner Rechtsauffassung. gen der Militäraufklärung. Durch die vollständige Diese Auffassung ist zwar politisch legitim, wider- Vernichtung aller personengebundenen Unterlagen spricht jedoch geltendem Recht und kann auch, unab- in diesem wichtigen Bereich wurde die Aufarbeitung hängig von dieser Haltung, die Vernichtung der der Strukturen, Arbeitsweise und Mechanismen der relevanten Akten in keiner Weise begründen. Militäraufklärung der DDR deutlich erschwert. Ferner Aufgrund der bisherigen Aktenlage, vorhandener wurde dadurch weitgehend verhindert, daß die Dokumente und den Aussagen des ehemaligen MfAV betreffenden Personen, deren Unterlagen vernichtet Eppelmann ergeben sich einige wichtige Fragestel- wurden, zur Verantwortung gezogen werden können. lungen und Widersprüche. Aus diesem Grund hat die Dies betri fft nicht nur DDR-Bürger, sondern auch Arbeitsgruppe der SPD in der Enquête-Kommission Bürger der alten Bundesrepublik, die für die DDR Rainer Eppelmann einen Fragenkatalog vorgelegt, Militärspionage gearbeitet haben. Auch sie können der einige der offenen Fragen klären helfen sollte. nach den umfangreichen Aktenvernichtungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr strafrechtlich Die Fragen und die entsprechenden Antworten von Rainer verfolgt werden. Eppelmann lauteten:

Noch am 16. März 1990, zwei Tage vor den ersten 1. Welche Rechtsgrundlage hatte die Aktenvernichtung? demokratischen Volkskammerwahlen, hatte der „Nach Auskunft meines Stabes die Archivordnung der letzte SED-Verteidigungsminister, Admiral Theodor DDR." Hoffmann, mit Befehl 1206/90 die Vernichtung aller personengebundenen Akten der Militäraufklärung 2. Wußten Sie, als Sie den Befehl zur Aktenvernichtung bis zum 31. Juli 1990 angeordnet. Dieser Befehl wurde gaben, auch von seinem Nachfolger, dem Minister für Abrü- a) daß damit nicht nur die DDR-Bevölkerung, sondern auch stung und Verteidigung (MfAV) Rainer Eppelmann die Bundesbürger geschützt wurden, welche für die DDR nicht aufgehoben. Für den Vollzug dieser Anweisung Spionage trieben? Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

b) daß Ihr Staatssekretär gegen die Vernichtung war und sie — derzeit umfangreiche Aktenbestände der NVA unkontrol- im Juli unterbunden hatte? liert vernichtet werden (die Masse des Schriftgutes der ehemaligen Politischen Hauptverwaltung der NVA) und „a) Nein; ich hatte sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, — in konzeptionellen Überlegungen des Militärhistorischen daß ich solche Vernichtung nur für DDR-Bürger, die im Museums Dresden die Ausgabe unersetzbarer Ausstellungs- Auftrag der DDR gegen die Bundesrepublik Deutsch- stücke an Dritte vorgesehen ist. land Militärspionage betrieben hätten, gestatten würde. Im Interesse einer objektiven historischen Aufarbeitung der Ich bin außerdem davon ausgegangen, daß dem betref- deutschen Militärgeschichte von 1945 bis 1990 und der fenden Personenkreis keine anderen Vorwürfe (Erpres- Vermeidung von Irritationen zwischen der Bundeswehr und sung, Bestechung, Diebstähle) zur Last gelegt werden der NVA bitte ich Sie, um können. — die Prüfung der mitgeteilten Tatbestände und Absich- ten, b) Die Haltung von Staatssekretär Ablaß im Juli war mir im — die Einleitung wirksamer Maßnahmen zur Gewährleistung Mai 1990 unbekannt." einer generellen Archivierung militärischen Schriftgutes und Sicherstellung museumswürdigen Wehrmaterials bzw. der 3. Trifft es zu, daß Generaloberst Krause bei ihnen versucht hat, den Widerstand von Staatssekretär Ablaß gegen die Akten- Materialien und Bestände des Bibliothekswesens der NVA... i.V. Werner E. Ablaß" herausgabe und -vernichtung zu überwinden? - „Da mir der Widerstand von Herrn Ablaß nicht bekannt ist, Mit diesem Schreiben wird deutlich, daß die Ableh- kann ich mich leider auch an die angefragten Aktivitäten nung der Aktenvernichtung durch Staatssekretär von Generaloberst Krause nicht erinnern. Aus eben diesem Ablaß bekannt war. Es bedarf der Klärung, warum Grunde kann ich sie aber auch nicht ausschließen." Minister Eppelmann zwei Wochen nach diesem Schreiben davon nichts gewußt haben soll. Seine 4. Trifft es zu, daß der Bundesinnenminister von der Aktenver- nichtung unterrichtet war und sie befürwortete? Antwort jedenfalls schließt nur aus, daß er es im Mai 1990 wußte — zur Frage steht der August 1990. „Nein; ich teilte dem Bundesinnenminister anläßlich eines Essens meine Meinung zu dem Problem mit. Nach meiner 2. Warum erfolgte einen Tag nach der Vollzugsmel- Erinnerung teilte Bundesminister Schäuble meine An- dung über die Aktenvernichtung der Befehl über sicht." die Einstellung der Vernichtungsmaßnahmen? 5. Trifft das (s. 4.) auch für den Bundesminister der Verteidi- Mit seinem Befehl Nr. 45/90 vom 14. September 1990 gung zu? ordnete Minister Eppelmann mit sofortiger Wirkung „Bundesminister Stoltenberg brachte sein Verständnis zu die Einstellung der Vernichtung von Akten und ande- meiner Sicht der Dinge zum Ausdruck." ren Nachweismaterialien an. Dieser Befehl erscheint deshalb seltsam, weil der Minister nach einer von ihm 6. Wann wurde Ministerpräsident de Maizière davon unterrich- selbst abgezeichneten Meldung durch Generalleut- tet? nant Krause vom 13. September 1990 darüber infor- „Nach meiner schwachen Erinnerung unmittelbar nach dem miert war, daß die Vernichtung personengebundener ersten Gespräch mit Generaloberst Krause über das Pro Akten des Informationszentrums bereits abgeschlos- blem; also in der 1. Hälfte des Mai'es 1990." sen war. Auch nach der Beantwortung der Fragen bleiben Widerspprüche zu verzeichnen und einige Fragen „Meldung über die Vernichtung personengebundener offen. Die wichtigsten sollen im folgenden kurz ski- Akten: Herr Minister! zziert werden. Gestatten Sie, Ihnen zu melden: Die Vernichtung personengebundener Akten des Informa- 1. War es bekannt, daß Staatssekretär Ablaß gegen 1. tionszentrums erfolgte entsprechend dem Befehl Nr. 1206/90 die Aktenvernichtung war? Trifft es zu, daß Gene- des Ministers für Nationale Verteidigung vom 16.03.1990, ralleutnant Krause versucht hat, den Widerstand Ziffer 4., wonach alle personellen, materiellen und finanziel- von Staatssekretär Ablaß gegen die Aktenheraus- len Nachweise, Karteien, Akten oder sonstige Unterlagen, die gabe und -vernichtung zu überwinden? zur Aufdeckung von Personendaten führen können, bis zum 31.07.1990 zu vernichten waren. Diese Aufgabe wurde mit Die ausweichenden Antworten Rainer Eppelmanns größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit erfüllt. Es wurden machen seinen damaligen Kenntnisstand in keiner ausschließlich Materialien obengenannten Charakters ver- Weise deutlich. nichtet. 2. Auf der Grundlage meines Befehls Nr. 05/90 vom Staatssekretär Ablaß brachte z. B. in einem Schreiben 24.07.1990 wurde die Bearbeitung des in den Archiven vom 31. Juli 1990 an den Chef der NVA, Admiral Strausberg und Potsdam eingelagerten Archivgutes des Infor- mationszentrums organisiert und durchgeführt. Hoffmann, zum Ausdruck, daß er gegen die Vernich- Das Archivgut wurde durch eine Kommission gesichtet und tung der Akten war. geprüft. Im Ergebnis dessen wurde vernichtet: — Material mit Rückschlußmöglichkeiten auf Personen, „Strausberg, 31.07.1990 Objekte und Vorgänge, Chef der NVA — Austauschmaterialien mit Armeen des Warschauer Vertra- Bezug nehmend auf ihre Aktennotiz vom 20.07.1990 (Tgb.- ges. Nr.: ANV 2/90) zur Sicherung authentischer Quellen für Die Sicherheit bei der Vernichtung wurde durch eine Ver- rechtliche und militärische Zwecke durch die Archivierung nichtungskommission gewährleistet. Das verbliebene Archiv- von Dokumenten und Akten der NVA sehe ich mich veran- gut wurde neu protokolliert und zurückgeführt. laßt, Sie über Bedenken und Sorgen des Bundesministeriums 3. Mit der Vernichtung wird gewährleistet, der Verteidigung zur gegenwärtigen Praxis der NVA bei der — daß die Quellen und die anderen Mitarbeiter der militäri- Behandlung von militärischem Schriftgut und museumswür- schen Aufklärung für ihre Tätigkeit im Interesse der DDR, die digem Wehrmaterial zu informieren. So teilen der Leiter des sie in der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschl and Bundesarchivs — Militärarchiv und der Beauftragte für das ausgeübt haben, keine Nachteile erfahren und der Daten- Museumswesen der Bundeswehr mit, daß schutz gesichert bleibt; Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— daß keine Reaktivierung oder weitere Arbeit der ehemali- MfS abtransportiert. Neun Tage nach dieser Meldung gen Mitarbeiter organisiert und durchgeführt werden kann; erteilte der Minister die Vollmacht bezüglich der — daß keine Übernahme ehemaliger Mitarbeiter durch Akten im Militärarchiv Postdam. Hier bleibt ein ekla- andere Geheimdienste bzw. Arbeit für sie erfolgen kann. tanter Widerspruch zu den heutigen Aussagen Rainer Krause, Generalleutnant Mitzeichnung: Eppelmann. Weiß, Oberst, Vorsitzender der Kommission zur Bearbeitung des Archivgutes 4. Trifft es zu, daß die Bundesminister Schäuble und Breitkopf, Oberst, Vorsitzender der Vernichtungskommis- Stoltenberg von der Aktenvernichtung unterrichtet sion" waren und diese befürworteten?

3. War es bekannt, daß durch die Aktenvernichtung Nach den Antworten Rainer Eppelmanns hatten der nicht nur DDR-Bürger, sondern auch Bundesbür- damalige Bundesinnenminister Schäuble und der ger, die für die DDR-Militäraufklärung arbeiteten, damalige Bundesverteidigungsminister Stoltenberg geschützt wurden? Kenntnis von der Vernichtung der Akten. In einem Brief an die Justizministerin vom 8. September 1992 Rainer Eppelmann erklärt, dies nicht nur nicht gewußt bezieht Rainer Eppelmann die beiden Minister in - zu haben, sondern daß er sogar ausdrücklich darauf seine Bewertung über die „Absurdität" der Überant- hingewiesen habe, daß er die Vernichtung der Akten wortung ehemaliger Mitarbeiter der DDR-Militärauf- dieser Personengruppe nicht gestatten würde. klärung an eine „ehemals als feindlich eingestufte Es stellt sich allerdings die Frage, ob ihm nicht bewußt Justiz" ein. gewesen sein muß, daß zu den für die Militäraufklä- rung arbeitenden Personen auch Bundesbürger „Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Frau Leutheusser gehört haben, versucht doch jeder Geheimdienst, Schnarrenberger, Bürger des interessierenden Landes zur Mitarbeit zu ...In Absprache mit dem Bundesinnenminister Herrn Dr. Schäuble und mit dem Verteidigungsminister Herrn gewinnen. In seinen Befehlen gibt es jedoch zu keiner Dr. Stoltenberg ist seinerzeit die Militäraufklärung und das Zeit eine Ausgrenzung dieses Personenkreises. Informationszentrum der ehemaligen DDR, der Nationalen Volksarmee, aufgelöst worden. Die Akten sind auf meinen Die entscheidenden Fragen aber wirft die Meldung an Befehl hin vernichtet worden, um einer strafrechtlichen Minister Eppelmann über den Stand der Auflösung Verfolgung der Mitarbeiter dieser Behörden entgegenzuwir- des Geheimdienstes vom 6. August 1990 auf. Gene- ken. ralleutnant Krause weist darin ausdrücklich darauf Es erschien uns seinerzeit absurd, daß diejenigen, die in der hin, daß nicht zugelassen werden sollte, „daß den Militärabwehr und zum Schutz der Geheimnisse einer Armee BRD-Behörden Karteien und Akten der militärischen arbeiteten, wie es in jeder Armee der Welt üblich ist, der Aufklärung, die BRD-Bürger betreffen, in die Hände Strafverfolgung einer ehemals als feindlich eingestuften Justiz überantwortet werden könnten. Dies erscheint mir auch en." Er bittet den Minister anzuweisen, daß die fall im nachhinein aus meiner heutigen Sicht durchaus noch ein Unterlagen aus dem Militärarchiv in Potsdam zur richtiger Standpunkt zu sein. Ich meine, daß gerade auf die „Sichtung" bereitgestellt werden. betroffene Gruppe, falls gegen sie wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit ermittelt wird, nur unter rückwirkender „Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Anwendung von bundesdeutschen Gesetzen strafrechtlich Ministerium für Abrüstung und Verteidigung verfolgt werden kann. Dies widerspräche aber meiner Rechts- Chef des Informationszentrums auffassung und wie immer wieder betont wurde, wohl auch Berlin, den 06.08.1990 der der Bundesregierung . . . Rainer Eppelmann" Meldung an den Minister für Abrüstung und Verteidigung ... 4. Die Übergabe des Schrift- und Archivgutes aus dem In dem bereits angeführten Schreiben von Staatsse- Archiv des ehemaligen MfS wurde noch nicht vollzogen. (...) kretär Ablaß vom 31. Juli 1990 wird hingegen zum Im Zusammenhang damit gestatte ich mir den Hinweis, daß Ausdruck gebracht, daß das Bundesministerium der die Karteien der Hauptverwaltung Aufklärung des ehemali- gen MfS bereits gezogen und vernichtet sind. Es sollte nicht Verteidigung Bedenken und Sorgen angesichts der zugelassen werden, daß den BRD-Behörden Karteien und Aktenvernichtung hatte. Akten der militärischen Aufklärung, die BRD-Bürger betref- fen, in die Hände fallen... Der damalige Staatssekretär im Bundesinnenministe- 5. Im gleichen Zusammenhang wurden alle Archivdoku- rium, Hans Neusel, merkt in einem Leserbrief an die mente, die sich in den Armeearchiven befanden, zur Sichtung FAZ vom 3. Mai 1994 an, daß Bundesinnenminister vorgesehen und für solche, die auf Personaldaten schließen Schäuble nicht mit der Vernichtung der Akten einver- lassen, die Vernichtung eingeleitet. Die Unterlagen aus dem eigenen und die aus dem Archiv standen war — in diese Stellungnahme bezieht er Strausberg sind gegenwärtig in Bearbeitung. auch den Bundesverteidigungsminister ein. Die Unterlagen im Militärarchiv Potsdam wurden mir, entge- gen der Archivordnung, widerrechtlich verweigert. „... Zutreffend ist, daß die Auflösung dieser Organisation Ich bitte Sie anzuweisen, daß diese Unterlagen mit zur [gemeint ist hier die Verwaltung Aufklärung der Nationalen Sichtung bereitgestellt, ausgelagert und danach alle verblei- Volksarmee (NVA), also die Militärspionage; die Verfasser], benden wieder zurückgeführt werden... die sich zuletzt ,Informationszentrum' nannte, erwünscht war. Krause Unzutreffend ist jedoch, daß der Bundesinnenminister — das Generalleutnant" gleiche dürfte für den Bundesverteidigungsminister gelten — Nach dieser Meldung hat der Minister also wissen mit der Vernichtung der Akten einverstanden war. Die bundesdeutschen Stellen hatten vielmehr ein dringendes müssen, daß auch die personengebundenen Unterla- Interesse daran, Einblick in diese Akten zu bekommen, um gen von Bundesdeutschen, die für die Militäraufklä- die zahlreichen Agenten der DDR-Militärspionage in West- rung der DDR arbeiteten, vernichtet wurden. Vier deutschland zu enttarnen und damit künftigen Schaden Tage später wurden die Akten aus dem ehemaligen abzuwenden. " Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Durch die offensichtlichen Widersprüche in den ver- chen: Zilvilverteidigung, Gesellschaft für Sport und schiedenen Aussagen zu diesem Fragenkomplex blei- Technik und andere Massenorganisationen, Militär- ben auch hier Fragen offen. akademie „Friedrich Engels", Militärpolitische Hoch- schule, politische Militärverwaltung, Org ane des MfS Die Einzelfragen können an dieser Stelle nicht in der NVA und Kommando der Grenztruppen. abschließend beurteilt werden. Die dargestellten Gerade im militärischen Bereich, der von der westli- Widersprüche bedürfen unbedingt einer genaueren chen DDR-Forschung bis 1989/90 kaum erforscht Klärung. Die Aussage, Minister Eppelmann sei offen- werden konnte, gingen zahlreiche wich tige histori- sichtlich falsch oder ungenügend informiert und bera- sche Quellen durch Akten- und Unterlagenvernich- ten worden, wird durch die vorliegenden Dokumente tungen verloren. Erhebliche Probleme bei der Aus- infrage gestellt. Zu klären bleibt auch, inwieweit und wertung der vorhandenen Quellen entstehen da- seit wann die Bundesminister Stoltenberg und durch, daß wichtige Schlüsseldokumente fehlen, die Schäuble von der Aktenvernichtung Kenntnis hatten für die Erforschung von Entscheidungsprozessen und ob sie diese billigten." besonders wichtig wären. - Stellungnahme der Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu dem vorstehenden 2.3. Der Zugang zu den russischen Archiven Sondervotum: 2.3.1. Die Bedeutung der russischen Archive „Die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. weisen das Sondervotum zurück. Es stützt sich auf Papiere, Unerläßlich für eine fundierte Aufarbeitung der DDR die die SPD erst am 15. Juni 1994 überreicht, bisher Vergangenheit ist die Berücksichtigung sowjetischer aber der Arbeit der Enquete-Kommission vorenthal- Quellen, denn ohne die Analyse des spezifischen ten hat. Der Wahrheitsgehalt dieser Dokumente kann sowjetischen Einflusses auf die deutsche und gesamt- weder auf Herkunft noch auf Vollständigkeit über- europäische Nachkriegsentwicklung ist auch die prüft werden. Art und Zeitpunkt der Vorlage dieses Erforschung der SED-Diktatur in Deutschl and nicht zu Sondervotums begründen Zweifel daran, daß hier ein leisten. Da das sowjetische Archivwesen bis in die Ära zutreffendes Bild über den behaupteten Vorgang und Gorbatschow hinein von Geheimhaltungsprinzipien die betroffene Person vermittelt werden soll. bestimmt war, Aktenmaterial weder von ausländi- schen noch von sowjetischen Wissenschaftlern für Das SPD-Sondervotum greift in parlamentarisch nicht Forschungszwecke frei genutzt werden konnte, son- vertretbarer Weise ein Mitglied der Enquete-Kommis- dern allenfalls ausgewählten Parteihistorikern zu- sion persönlich an. Darüber hinaus verletzt die SPD gänglich gemacht wurde, gab es nach dem politischen den zu Beginn der Arbeit der Enquete-Kommission Umbruch zunächst keine offiziellen, frei benutzbaren vereinbarten Grundsatz, sich nicht im einzelnen zur Findhilfsmittel, die Auskunft über einschlägige Rolle und Funktion bestimmter Personen zu äußern. Bestände in sowje tischen bzw. russischen Archiven Die SPD wäre gut beraten gewesen, wenn sie sich hier hätten geben können. Die Enquete-Kommission hat der gleichen Zurückhaltung befleißigt hätte, die der sich deshalb — in enger Zusammenarbeit mit dem Mehrheitsbericht von CDU/CSU, F.D.P. und Bünd- Bundesarchiv, das auch vor 1991 bereits über funktio- nis 90/Die Grünen beispielsweise im Zusammenhang nierende Arbeitskontakte zu sowjetischen Archivaren mit Rolle und Funktion des früheren Berlin-Branden- verfügte — darum bemüht, einen ersten groben Über- burgischen Konsistorialpräsidenten und heutigen blick über die für die Erforschung der DDR- Brandenburger Ministerpräsidenten geübt hat." Geschichte relevanten russischen Archive zu gewin- nen und die Möglichkeiten des Zugangs zu ihnen zu Zu weiteren umfangreichen, durch eine Weisung des klären. Angesichts der schwierigen politischen und Ministers für Abrüstung und Verteidigung autorisier- gesellschaftlichen Verhältnisse in der Russischen ten Aktenvernichtungen kam es im September 1990 Föderation ist es jedoch auch gegenwärtig noch im Verwaltungsarchiv des Kommandos der Volksma- außerordentlich schwer, gesicherte Informationen zur rine. Etwa 290 Akten, die in erster Linie gemeinsame Lage der dortigen Archive zu erhalten. Hinsichtlich Übungen der Flotten des Warschauer Paktes zum ihrer Zugänglichkeit kommt für deutsche Forscher Inhalt hatten, wurden hier bis zum 28. September noch erschwerend hinzu, daß durch einen Erlaß Prä- 1990 kontrolliert kassiert. Diese Maßnahme resul- sident Jelzins Dokumente über die sowjetische Besat- tierte offensichtlich aus einer Vereinbarung zwischen zungspolitik in Deutschland generell bis zum Abzug dem Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der GUS-Truppen aus Deutschland gesperrt wurden. und dem Oberkommandierenden der Armeen des Offiziell sind damit sämtliche, die sowjetische Warschauer Vertrages, derzufolge die in der DDR Deutschlandpolitik nach 1945 be treffenden Unterla- befindlichen Geheimdokumente der Sowjetarmee an gen zur Zeit noch unzugänglich. diese zurückgegeben bzw. vernichtet werden soll- ten. Wichtige russische Archive für die Erforschung der DDR-Geschichte sind das Staatsarchiv der Russischen Überwiegend gehen die heute erkennbaren Überlie- Föderation (früher: „Archiv der Oktoberrevolution"), ferungslücken der Bestände der NVA, der Grenztrup- das Russische Zentrum zur Aufbewahrung und Erfor- pen und der Zivilverteidigung der DDR jedoch auf schung von Dokumenten der neuesten Geschichte unautorisierte Schriftgutkassationen ohne Befehls- (früher: Zentrales Parteiarchiv der KPdSU [bis Okto- grundlage zurück. Es fehlen z. B. Teilbestände — ins- ber 1952] incl. Komintern-Archiv), das Zentrum zur besondere Verschlußsachen — aus folgenden Berei Aufbewahrung von zeitgenössischen Dokumenten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

(früher: Archiv des Zentralkomitees der KPdSU [von vom 5. bis 7. Juli 1993 in Moskau mit russischen Oktober 1952 bis Dezember 19911) und auch das Archivdirektoren, Wissenschaftlern, Parlamentsmit- Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentari- gliedern und Regierungsvertretem eine Reihe von scher Sammlungen (früher: „Sonderarchiv"). Das bis Informationsgesprächen. Ein wich tiges Ziel der Februar 1990 geheimgehaltene „Sonderarchiv" Gespräche war es außerdem, die Einrichtung einer wurde 1945 mit den von sowjetischen Truppen u. a. in gemeinsamen zwischenstaatlichen Kommission zur Schlesien und im Potsdamer Reichsarchiv erbeuteten Erforschung der jüngeren deutsch-russischen Ge- deutschen Akten gebildet. Die Unterlagen dienten schichte anzuregen. dem sowjetischen Innenministerium und dem sowje- Ein Hauptproblem für die Öffnung und Nutzung der tischen Staatssicherheitsdienst bis Mitte der fünfziger russischen Archive lag nach übereinstimmender Aus- Jahre u. a. dazu, Kollaborateure mit der deutschen kunft aller russischen Gesprächspartner der Enquete- Besatzungsmacht, aber auch sowje tische Kriegsge- Kommission in den lange Zeit fehlenden rechtlichen fangene, Lagerinsassen und Zwangsarbeiter in Regelungen. Am 7. Juli 1993 konnte vom Parlament, Deutschland, die pauschal der Kollaboration verdäch- dem Obersten Sowjet, eine lange diskutierte gesetzli- tigt wurden, politisch zu verfolgen. Da dieses Archiv che Grundlage für die russischen Archive verabschie- nicht von dem Erlaß des Präsidenten betroffen ist, det werden. In sieben Abschnitten mit insgesamt konnten gerade seine — früher völlig geheimgehalte- 25 Artikeln behandelt dieses Archivgesetz zunächst nen — Bestände inzwischen recht genau ermittelt grundsätzliche rechtliche und beg riffliche Fragen, werden. definiert den „Archivfonds" der Russischen Födera- Neben den genannten Archiven, die dem Staatlichen tion, legt den Status von staatlichen und p rivaten Archivdienst der Russischen Föderation direkt unter- Archiven in der Russischen Föderation fest, beschreibt stehen, sind für die Erforschung der DDR-Geschichte die Aufgaben des Staatlichen Archivdienstes und eine Reihe weiterer Archive von Bedeutung: das genehmigt den russischen Archiven ausdrücklich, an Zentrale Archiv des Innenministeriums der Russi- internationalen Kooperationen teilzunehmen. Die schen Föderation, das Zentrale Archiv des Ministeri- generelle Intention des Gesetzes ist es, ein rechtlich ums für Staatssicherheit Rußlands (früher: Zentrales und organisatorisch einheitliches staatliches Archiv- KGB-Archiv), die Historisch-Dokumentarische Ver- wesen der Russischen Föderation aufzubauen. Nach waltung des Außenministeriums, der u. a. das Archiv den Bestimmungen des Archivgesetzes stehen die der Außenpolitik der Russischen Föderation unter- Dokumente der staatlichen Archive grundsätzlich steht, das Archiv der Streitkräfte Rußlands sowie das allen Personen zur Benutzung offen. Enthalten sie 1990 von Gorbatschow gegründete „Präsidentenar- jedoch Staats- oder andere Geheimnisse, sind sie chiv", in dem sich besonders wichtige, aus dem frühestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung zugäng- früheren „Kreml-Archiv" des Politbüros der KPdSU lich. Nur durch ein Gesetz kann diese Sperrfrist im und anderen Archiven entnommene Einzeldoku- Einzelfall verkürzt werden. Nach Ablauf der Sperrfrist mente und Teilbestände befinden. Auch für diese entscheidet der Staatliche Archivdienst zusammen Archive ist prinzipiell der Staatliche Archivdienst mit den abgebenden Regierungsbehörden über den zuständig, jedoch sind die Kompetenzen im einzelnen möglichen „Verlust der Schutzwürdigkeit" und damit nicht klar geregelt. (Adressen und Ansprechpartner über die künftige Nutzung. Dokumente, die perso- der wichtigsten russischen Archive sowie eine grobe nenbezogene Daten enthalten, dürfen generell erst Übersicht ihrer jeweiligen Bestände können dem 75 Jahre nach ihrer Entstehung frei zugänglich Anhang entnommen werden.) gemacht werden, wenn nicht durch ein Gesetz eine andere Regelung getroffen wird. Legen inte rnationale Die ursprünglich von der Enquete-Kommission Abkommen, an denen die Russische Föderation betei- gehegte Hoffnung, man könne vor Ort russische ligt ist, andere, von den Regelungen des Archivgeset- Historiker für die Bearbeitung besonders wich tiger zes abweichende Bestimmungen fest, wird ihnen Themen gewinnen und die Ergebnisse ihrer Studien generell der Vorrang eingeräumt. Obwohl die Deklas- direkt in die Behandlung der entsprechenden The- sifizierung der als „geheim" eingestuften Archivma- menfelder der Kommission einfließen lassen, ließ sich terialien zur Zeit noch sehr restriktiv gehandhabt leider nicht realisieren. Eine Informationsreise der wird, seit dem Frühjahr 1993 teilweise sogar bereits Enquete-Kommission nach Moskau im Sommer 1993, deklassifizierte Akten erneut gesperrt wurden, bietet bei der Gespräche über die russische Archivsituation das Archivgesetz die Grundlage dafür, daß hoffentlich und die Möglichkeiten einer deutsch-russischen 1995 — nach dem vollständigen Abzug der GUS- Kooperation bei der Aufarbeitung der neuesten Truppen aus Deutschland — auch die Quellen zur Geschichte beider Staaten geführt wurden, ließ Erforschung der DDR-Geschichte bis Mitte der sech- erkennen, daß langfristigere Überlegungen angestellt ziger Jahre allgemein zugänglich sein werden. werden müssen. Der Vorschlag der Delega tionsmitglieder, eine gemeinsame zwischenstaatliche Kommission zur Er- forschung der jüngeren deutsch-russischen Ge- 2.3.2. Ergebnisse einer Informationsreise schichte zu bilden, deren Aufgabe u. a. auch darin nach Moskau bestehen soll, Archivfragen zu klären, wurde von Um sich vor Ort ein Bild vom Stand der Öffnung russischer Seite einhellig begrüßt. Deutscherseits, so russischer Archive zu verschaffen und die Möglichkeit betonten die russischen Gesprächspartner wiederholt, ihrer Nutzung für die Arbeit der Enquete-Kommission sei bislang vergleichsweise wenig Interesse an einer sowie die deutsche Forschung insgesamt zu erkun- Zusammenarbeit mit russischen Archiven gezeigt den, führte eine Delega tion der Enquete-Kommission worden, während es mit Polen, mit Ungarn, mit den Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei und auch mit Berichte, die der sowje tische Botschafter Semjonow den USA bereits seit einiger Zeit verschiedene Koope- über seine Teilnahme an Politbürositzungen der SED rationsprojekte gebe. Sowohl der Vorsitzende der angefertigt habe, befänden sich im „Präsidentenar- Parlamentskommission für die russischen Archive, chiv". Sein Archiv verfüge nur über Kurzfassungen Prof. Dimitrij Wolkogonow, als auch der Vorsitzende von Protokollen der SED-Politbürositzungen. Perso- des Staatlichen Archivdienstes der Russischen Föde- nalakten und persönliche Dossiers von Komintern ration, Prof. Rudolf G. Pichoja, erklärten sich zu einer Funktionären seien immer im ZK der KPdSU verblie- Mitarbeit in einer solchen Kommission bereit. Die ben und nie seinem Archiv zugeführt worden. Die Enquete-Kommission wurde jedoch darauf hingewie- KPD-Akten aus dem Komintern-Archiv seien in den sen, daß es entscheidend sei, die politische Unterstüt- sechziger Jahren teilweise an das Zentrale Parteiar- zung des Präsidenten der Russischen Föderation für chiv der SED übergeben worden, teilweise aber auch das Vorhaben zu gewinnen. in Moskau verblieben. Im Verlaufe ihres Besuches informierte sich die Dele- Der Leiter des „Präsidentenarchivs", Alexander gation der Enquete-Kommission in Gesprächen mit Korotkow, erklärte, daß sich in diesem von Gorba- den jeweils zuständigen Archivdirektoren bzw. tschow gegründeten Spezialarchiv sehr wich tige- Archivmitarbeitern über die Bestände einzelner, für Dokumente befänden. Es existiere jetzt eine kleine die Erforschung der DDR-Geschichte besonders wich- Kommission, die den Bestand geprüft habe, und es sei tiger Archive: der Beschluß gefaßt worden, die historischen Doku- mente an die Archive zurückzugeben, aus denen sie Die stellvertretende Direktorin des Staatsarchivs der entnommen wurden. Das „Präsidentenarchiv" solle Russischen Föderation, Alija Barkowetz, führte aus, künftig ein reines „Arbeitsarchiv" für den Präsidenten daß sich in ihrem Archiv nicht nur umfangreiche der Russischen Föderation sein. Die in- und ausländi- Bestände des früheren St. Petersburger Hauptstaats- sche Öffentlichkeit werde keinen Zugang zu diesem archivs des Zarenreichs befänden, sondern ebenfalls Archiv erhalten, jedoch bestehe für die Forschung die Dokumente zur Geschichte der UdSSR sowie die Möglichkeit, über den Russischen Archivdienst an das Überlieferungen der sowje tischen Ministerien. Das „Präsidentenarchiv" Gesuche zur Einsichtnahme in russische Staatsarchiv sei auch ein Aufbewahrungsort die dort lagernden Dokumente zu richten. für wichtige Archivalien aus der Zeit nach 1945: Hier befänden sich Dokumente aus der Gründungszeit der Der Leiter der Historisch-Dokumentarischen Verwal- DDR, speziell auch Dokumente der SMAD und Unter- tung im russischen Außenministerium, Igor Lebedew, lagen zu den NKWD-Lagern in den Jahren von 1945 erklärte grundsätzlich die Bereitschaft, bilaterale For- bis 1950 in der SBZ/DDR, die allesamt in einem sehr schungsprojekte kooperativ zu unterstützen. In guten Zustand seien. Benutzbar sind die Überlieferun- begründeten Einzelfällen sei das Archiv des russi- gen bis zum Jahr 1917, die Akten des Obersten Sowjet schen Außenministeriums auch bereit, Materialien hingegen sind gesperrt. Bis Ende 1994 gilt dies — aus aus der jüngsten Vergangenheit, z. B. aus den achtzi- den genannten Gründen — auch für die SMAD- ger Jahren, Historikern zur Verfügung zu stellen. Akten. Findhilfsmittel zu den gesperrten Akten kön- Der Leiter der Archivverwaltung des Ministeriums für nen nicht zur Verfügung gestellt werden. Staatssicherheit Rußlands, Generalmajor Anatolij Vom stellvertretenden Direktor des Zentrums zur Krajuschkin, erläuterte den Delegationsmitgliedern, Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Samm- daß nach einem Erlaß des Präsidenten vom August lungen, Wladimir Korotajew, wurde die Enquete- 1991 die Akten des KGB — wie die der KPdSU — in Kommission darauf hingewiesen, daß dieses Archiv staatliche Verwaltung zu überführen seien. Während insgesamt etwa 5 Millionen Akteneinheiten umfasse, Akten über Spionage und Spionageabwehr weiterhin darunter auch die „Beuteobjekte" aus dem Zweiten separat aufbewahrt würden, sollen Unterlagen von Weltkrieg. Bei letzteren h andele es sich u. a. um historischem Belang grundsätzlich deklassifiziert Materialien zu den nationalsozialistischen Konzentra- werden. Für diese Aufgabe gebe es eine Kommission, tionslagern, um Unterlagen verschiedener NS- die bereits einiges erreicht habe, speziell hinsichtlich Reichsministerien, z. B. aus dem Propagandaministe- der Akten zur Rehabilitierung von Opfern der stalini- rium Goebbels', um Dokumente zu Wirtschaftsange- stischen Diktatur. Allein im Jahre 1992 seien legenheiten, um NS-Gerichtsurteile, um zahlreiche 600 000 Akten mit 64 Millionen Blatt bearbeitet wor- Nachlässe, z. B. die von Rathenau und Wirth, sowie den. Es werde jetzt ein öffentlicher Lesesaal einge- um Dokumente zu Freimaurerlogen und um Zeitungs- richtet, in dem man sich mit Listen des deklassifizier- archive. In der Regel seien die Bestände des Archivs ten Materials bekannt machen könne. Grundsätzlich heute zugänglich. werde jede Benutzeranfrage sorgfältig bearbeitet, und wenn entsprechende Akten vorhanden seien, Der Leiter des Russischen Zentrums zur Aufbewah- würden diese auch zur Verfügung gestellt. Akten, die rung und Erforschung von Dokumenten der neuesten dem Personenschutz unterlägen oder Geheimdienst- Geschichte, Prof. Kyrill Anderson, führte aus, daß sich informationen enthielten, könnten allerdings nicht in seinem Archiv u. a. die selbständigen Abteilungen freigegeben werden. Unterlagen zur Geschichte der „Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts", Komintern gebe es in den Beständen des früheren „Geschichte der KPdSU", „Komintern-Archiv" sowie KGB-Archivs nur in wenigen Ausnahmefällen, z. B. eine selbständige Abteilung mit Beständen aus dem bei Strafsachen. ehemaligen Marx-Engels-Museum und umfangrei- che Sammlungen politischer Karikaturen und Plakate Im Archiv des Generalstabes der Streitkräfte der aus Deutschland und Frankreich befinden. Über Pro- Russischen Föderation in Podolsk, in dem die Überlie tokolle von Tagungen der SED verfüge man nicht. Die ferungen der sowjetischen bzw. russischen Armee von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

1941 bis zur Gegenwart aufbewahrt werden, konnte über die „Sowjetische Deutschlandplanung während die Enquete-Kommission in Erfahrung bringen, daß des Zweiten Weltkrieges (1944/1945) und die sich hier auch Akten der Politischen Hauptverwaltung Anfänge der Besatzungsherrschaft in der SBZ (1945)" der Roten Armee befinden. Da es sich jedoch hierbei aus den Akten des Staatsarchivs kam infolge dieser durchweg um Verschlußsachen handelt, entscheidet Schwierigkeiten leider nicht zustande. Für das zweite der Generalstab in Moskau im Einzelfall über eine Vorhaben, eine Dokumentation der „Rechenschafts- eventuelle Freigabe. Generell sind Benutzeranträge berichte über die Tätigkeit der Vertretungen des ausländischer Forscher für das Militärarchiv in Hohen Kommissars der UdSSR in Deutschl and für den Podolsk immer an den Generalstab in Moskau zu Zeitraum August bis Dezember 1953" aus den Akten richten. Die Anträge sollen—wie in anderen Archiven des Archivs für Außenpolitik der Russischen Födera- auch — das Thema, das Ziel der Arbeit, die Termin- tion von Jan Foitzik, mußte der Untersuchungszeit- vorstellungen usw. enthalten. raum nachträglich verändert werden. Insgesamt wurde es jedoch erfolgreich abgeschlossen — nicht Wie die Kommission bei ihren Gesprächen mit Wis- zuletzt dank der kooperativen Haltung des Archivs für senschaftlern und Archivaren in Moskau erfuhr, fehlt Außenpolitik der Russischen Föderation [-> Exper tise es auf russischer Seite zumeist nicht an Bereitschaft zu Foitzik]. einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit über die früheren Systemgrenzen hinweg. Die Ursachen für Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen und in die schwierigen Arbeitsbedingungen ausländischer Kenntnis der gegenwärtig schwierigen Lage vieler Archivbenutzer liegen vielmehr oft in den schlechten russischer Archive begrüßt die Enquete-Kommission, materiellen und personellen Voraussetzungen der daß inzwischen von der Bundesregierung erste russischen Archive begründet. So konnten beispiels- Schritte für die — von der Kommission während ihrer weise die durch den 1991 einsetzenden „Benutzeran- Moskau-Reise angeregte — Gründung einer „Ge- sturm" ausgelösten räumlichen Probleme noch nicht meinsamen Kommission zur Erforschung der jünge- gelöst werden; zudem fehlt es an Mitteln für die ren deutsch-russischen Geschichte" unternommen konservatorische und archivalische Aufarbeitung der wurden. Nur durch eine langfristige, möglichst hoch- Bestände. In vielen Fällen mangelt es auch an drin- rangig angesiedelte und institutionell abgesicherte gend notwendigen technischen Geräten, z. B. an deutsch-russische Zusammenarbeit können die ge- Computern für die EDV-gestützte Katalogisierung der genwärtigen Probleme bei der wissenschaftlichen Bestände oder an Lesegeräten für mikroverfilmte Nutzung der ehemals sowje tischen Archive überwun- Unterlagen. Besonders gravierend stellt sich jedoch den werden. die Personalsituation der meisten Archive dar. Die derzeitige Inflation belastet nicht nur in extremer Weise die Haushalte der staatlichen Archive, sondern führt auch zu einer immer stärkeren Abwanderung des — verhältnismäßig schlecht bezahlten — wissen- 3. Bedeutung und Wert der DDR-Quellen schaftlichen und technischen Archivpersonals, so daß dringend notwendige Erschließungsarbeiten nur sehr In den Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung langsam vorangetrieben werden können und außer- der DDR-Geschichte spielt die Diskussion über den dem die „Kommerzialisierung" von Archivdienstlei- Umgang mit der schriftlichen Hinterlassenschaft aus stungen und Publikationsrechten immer weitere 40 Jahren SED-Diktatur eine außerordentlich wich- Kreise zieht. Angesichts dieser schwierigen Situa tion tige Rolle. Das öffentliche Interesse konzentriert sich wäre es wünschenswert, daß sich westliche Archivbe- dabei vor allem auf die Akten des ehemaligen Mini- nutzer nicht allein auf die schnelle Realisierung ein- steriums für Staatssicherheit bzw. dessen Nachfol- zelner Forschungsvorhaben konzentrieren, sondern geeinrichtung, das Amt für Na tionale Sicherheit der zusammen mit russischen Archivaren auf eine gene- DDR. Auch bei den öffentlichen Anhörungen der relle — auf das neue Archivgesetz gestützte — Libe- Enquete-Kommission kam diese Problematik immer ralisierung und Demokratisierung des russischen wieder zur Sprache. Sie ist außerdem Gegenstand Archivwesens dringen. einer Expertise, die im Auftrag der Kommission von Zwei Forschungsaufträge der Enquete-Kommission der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterla- an deutsche Historiker, die bereits seit längerem in gen des Ministeriums für Staatssicherheit erarbeitet Moskauer Archiven gearbeitet haben, mit den dorti- wurde [–> Expertise Engelmann]. Die Materialien des gen Arbeitsbedingungen also vertraut waren und sich Staatssicherheitsdienstes dürfen jedoch nicht isoliert zudem auf die während der Gespräche seitens russi- betrachtet, sondern müssen in Zusammenhang mit scher Regierungs- und Parlamentsvertreter gegebe- anderem Schriftgut, z. B. von Parteien, staatlichen nen Unterstützungszusagen für die Enquete-Kommis- Behörden und gesellschaftlichen Organisationen, sion berufen konnten, ließen sich im Anschluß an die ausgewertet werden. Wie die Anhörungen der Informationsreise leider nicht in der Form realisieren, Enquete-Kommission immer wieder gezeigt haben, in der sie ursprünglich konzipiert waren. Teilweise sind zweiffellos auch Zeitzeugenbefragungen von konnten bereits avisierte Einsichtnahmen in be- hohem Wert für das Verständnis der SED-Diktatur. stimmte Bestände doch nicht vorgenommen werden; Doch bleibt festzuhalten, daß sie die Auswertung die in Auftrag gegebenen Kopien von vorgelegten schriftlicher Quellen — wenn auch in vielen Aspek- Dokumenten wurden nicht immer auch tatsächlich ten — nur ergänzen können. Die wichtigste Grund- angefertigt, oder sie trafen nur mit großer Verzöge- lage für die Erforschung und Aufarbeitung der SBZ/ rung zur Auswertung und Bearbeitung beim Beste ller DDR-Geschichte bleibt die Auswertung sämtlicher ein. Die geplante Dokumentation von J an Lipinsky Archive. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Von zentraler Bedeutung für die Erforschung des Auswärtige Amt bemüht ist. Die Benutzung der Akten Herrschaftssystems in der SBZ/DDR sind die Akten wird durch die Bestimmungen des Gesetzes über die der SED. Der hohe Stellenwert dieser Mate rialien Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes ergibt sich aus der völligen Durchdringung von Staat (Bundesarchivgesetz — BArchG) vom 6. 1. 1988, und Gesellschaft durch die „Partei der Arbeiter- BGB1. I, S. 62, geregelt. Danach ist jedermann auf klasse". Entscheidend für die Beurteilung des Aussa- Antrag die Benutzung von Archivgut des Bundes nach gewertes der SED-Akten sind die in der Wissenschaft Ablauf von 30 Jahren möglich. Der Zugang zu solchen üblichen quellenkritischen Gesichtspunkte. Die Akten, die der Sperrfrist unterliegen, wird der Frage, ob die Akten lügen oder nicht, erledigt sich Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte damit von selbst. Zweifellos ist aber die Perspektive und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" gemäß der Herrschenden eine andere als die der Beherrsch- den Bestimmungen des § 80 GGO I gewährt, da ihr ten. Was ihren Quellenwert angeht, so lassen sich die Forschungsvorhaben einen wich tigen Beitrag zur Akten der SED durch keine andere schriftliche Hin- Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit Deutsch- terlassenschaft der DDR ersetzen. lands leistet." Aus der Perspektive des Herrschaftssystems, insbe- Eine umfassende Aufarbeitung des innerdeutschen sondere der Stellung der SED, muß auch die Tätigkeit Verhältnisses und der Deutschlandpolitik beider des MfS/AfNS beurteilt werden. Der Staatssicher- deutscher Staaten wird im übrigen nur in dem Maße heitsdienst war „Schild und Schwert" der Partei. Die möglich sein, in dem zu den be treffenden DDR-Akten Tätigkeit des MfS/AfNS diente der Erhaltung und entsprechende Gegenüberlieferungen aus den Akten Festigung ihrer Macht. Der kaum vorstellbare Umfang des Bundes und — darüber hinaus — aus den Akten der schriftlichen Hinterlassenschaft des MfS von der auswärtigen Politik der vier alliierten Mächte in 180 laufenden Kilometern Schriftgut spiegelt in erster die Forschungen einbezogen werden können. Die Linie das tiefe Mißtrauen der herrschenden Partei grundsätzliche Bedeutung der SED-Überlieferung für gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung der DDR die historische Erforschung der SED-Ditatur bleibt wider. Es führte zu einem extensiven, von zunehmen- von dieser Feststellung unberührt. der Formalisierung und Bürokratisierung begleiteten Ausbau des Staatssicherheitsdienstes. Der Umfang der Hinterlassenschaft schmälert allerdings den Aus- Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD, sagewert der Unterlagen nicht a p riori. Vielmehr geht des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen es darum, die Mate rialien aus dieser Perspektive sowie der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, quellenkritisch zu bewe rten. Prinzipiell lassen sich die Mitter und Weber zu den beiden vorstehenden Akten des Ministeriums für Staatssicherheit in zwei Abschnitten: unterschiedliche Kategorien einteilen, wobei in eini- gen Bereichen die Übergänge fließend sind: Einer- „Die außenpolitischen Gegenheiten und die inner- seits gibt es „Personenakten", in denen sich auch die deutschen Beziehungen sind ein weiterer wich tiger heftig umstrittenen Berichte der „Inoffiziellen Mitar- Bereich bei der Erforschung der SBZ/DDR- beiter" befinden; den weitaus größeren Teil allerdings Geschichte. Die derzeit heftigen, häufig parteipoli- bilden „Sachakten", zu denen beispielsweise die tisch geprägten Diskussionen über die Beziehungen Informationsberichte an die Mitglieder des Politbüros zwischen ost- und westdeutschen Politikern werden gehören. Unbestritten sind die Sachakten die wichti- heute in der Regel allein auf der Grundlage von geren Quellen für die Erforschung der SED-Diktatur. Materialien aus den Beständen des SED-Archivs Aber auch die Auswertung von Personenakten muß geführt. Genau wie die vom Bundesarchiv verwalte- — unter Beachtung der dafür geltenden gesetzlichen ten Akten der anderen zentralen staatlichen Behörden Bestimmungen — für die Forschung möglich sein. Nur der DDR, auf die in der Regel die 30-Jahre-Sperrfrist durch eine intensive, sachkundige Erforschung nicht angewandt wird, müssen deshalb auch die heute des Problemkomplexes „Staatssicherheitsdienst" vom Auswärtigen Amt verwalteten Akten des ehema- kann einer politischen Instrumentalisierung, von ligen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten welcher Seite auch immer, entgegengewirkt wer- (MfAA) der DDR der Forschung zur Verfügung den. gestellt werden. Unter dem Gesichtspunkt einer sachgerechten Erf or- Eine wirklich sachliche, quellenkritische Aufarbei- schung der außenpolitischen und innerdeutschen tung des innerdeutschen Verhältnisses wird aber erst Beziehungen der DDR ist es erforderlich, auch die dann möglich sein, wenn für die relevanten Bestände Akten des DDR-Außenministeriums, die sich im Poli- von staatlichen Institutionen, Parteien und Organisa- tischen Archiv des Auswärtigen Amtes befinden und tionen in den alten Bundesländern die gleichen bisher für die wissenschaftliche Nutzung nicht zur Bestimmungen gelten wie für die DDR-Akten. Nur so Verfügung standen, zugänglich zu machen. Die wird eine kritische Überprüfung der DDR-Überliefe- Enquete-Kommission begrüßt daher die Mitteilung rung an der westlichen Gegenüberlieferung möglich des Bundesministers des Auswärtigen vom 19. Mai sein." 1994, in der es heißt: „Das mit Herstellung der deutschen Einheit vom Auswärtigen Amt übernom- mene Archiv des ehemaligen Ministeriums für Aus- Die außenpolitischen Gegebenheiten der DDR waren wärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) in Berlin vor allem durch ihre feste Einbindung in das Sowjet- ist nach umfangreichen archivischen Vorarbeiten imperium geprägt. Das Verhältnis und der Abhängig- zugänglich geworden. Gleichwohl bestehen noch keitsgrad zwischen Moskau und Ost-Berlin lassen sich organisatorische Probleme, um deren Abhilfe das nur mit Hilfe sowje tischer Akten klären. Die ver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 stärkte Heranziehung von sowjetischen Archivalien geprüft werden, ob auch für die Bestände westlicher ist daher für eine wissenschaftlichen Kriterien ent- Archive eine vorzeitige Aufhebung der 30-Jahre- sprechende Diskussion über die Geschichte der SBZ/ Sperrfrist möglich ist. Schon jetzt droht sich eine DDR unbedingt erforderlich. bedenkliche „Asymmetrie" der Forschung zu verfesti- gen. " Nur durch die Auswertung möglichst vieler Quellen unterschiedlicher Provenienz wird sich letztlich ein klares Bild der SED-Diktatur ergeben. Im Interesse — Die zügige Erschließung der Archivalien muß einer wissenschaftlich fundie rten, politisch-moralisch durch die finanzielle und personelle Absicherung dringend gebotenen Aufarbeitung von Geschichte und der Archive gewährleistet werden. Folgen dieser Diktatur muß deshalb die Öff- nung sämtlicher relevanter Archive gefordert wer- — Die Suche nach „vagabundierenden Akten" sollte den. intensiv fortgesetzt werden.

— Die schriftlichen Überlieferungen von Bet rieben 4. Handlungsempfehlungen: - und Kombinaten der DDR sollten an die jeweils zuständigen öffentlichen Archive übergeben wer- - Die noch ausstehenden Landesarchivgesetze soll den. ten sobald als möglich verabschiedet werden. — Geltende rechtliche Regelungen sollten auch dort, — Die gegenwärtigen, teils noch erheblichen räumli- wo dies bisher nicht der Fall ist, durchgängig zur chen, finanziellen, personellen und technischen Anwendung gebracht werden (z. B. durch den Probleme früherer DDR-Archive, vor allem auf Erlaß von Rechtsverordnungen zur Nutzung der lokaler Ebene, müssen behoben werden. Hierzu Archive). zählen insbesondere auch die aus der Bürgerbe- wegung hervorgegangenen und heute oftmals — Die Akten des ehemaligen Ministe riums für Aus- allein vom ehrenamtlichen Engagement der Betei- wärtige Angelegenheiten der DDR sollten für die ligten getragenen Archive. Forschung zugänglich sein.

— Im Interesse einer fundierten Aufarbeitung der — Die Zusammenarbeit der Bundesrepublik SED-Diktatur sollte do rt, wo die Aktenlage es Deutschland mit der Russischen Föderation und erfordert, von Fall zu Fa ll geprüft werden, ob auch den anderen Nachfolgestaaten der früheren für die Bestände westlicher Archive eine vorzeitige Sowjetunion sowie insbesondere auch mit den Aufhebung der 30-Jahre-Sperrfrist möglich ist. ostmittel- und südosteuropäischen Staaten bei der Schon jetzt droht sich eine bedenkliche „Asym- Aufarbeitung der kommunistischen Vergangen- metrie" der Forschung zu verfestigen. heit sollte intensiv gefördert werden.

Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD, — Außer dem Verbleib sollte auch die Möglichkeit des Mitglieds der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen des Zugangs zu den Akten internationaler Organi- sowie der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, sationen, in denen die DDR Mitglied war, speziell Mitter und Weber zu vorstehender des Rates für gegenseitige Wi rtschaftshilfe und des Handlungsempfehlung: Warschauer Paktes, sowie generell zu Akten, die die internationale Koordination der Politik der „Im Interesse einer fundierten Aufarbeitung der SED kommunistischen Staaten und Parteien betreffen, Diktatur sollte dort, wo die Aktenlage es erfordert, geklärt werden. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

D. Sondervotum des Mitglieds Gruppe PDS/LL Abg. Dr. Dietmar Keller zu dem vorliegenden Bericht

„Zum ersten Mal seit 1969, dem Jahr, als mit der Auseinandersetzung und gegen vereinfachende „Kleinen Parlamentsreform" die Enquete-Kommis- Schwarz-Weiß-Malerei. sion in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundes- Mit dem Sondervotum ist nicht beabsichtigt, der tages eingeführt wurde, beschäftigte sich eine solche mit einem politisch-historischen und ideologiege- Beurteilung der Arbeit der Kommission durch die schichtlichen Thema. Ihre Konstituierung war de facto Öffentlichkeit vorzugreifen. Der Votierende ist sich auch des Für und Wider des eigenen Mitwirkens in der ein Experiment. Auftrag der Enquete-Kommission - Kommission bewußt. Er sieht in Teilen des Berichtes war es, die „Geschichte und die Folgen der SED Diktatur in Deutschland politisch aufzuarbeiten", ernstzunehmende Diskussionsbeiträge und Arbeits- ergebnisse und möchte davon ausgehend Defizite „verletztem Rechtsempfinden durch Offenlegung des benennen: Unrechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Genüge zu tun" und „einen Beitrag zur Versöhnung in 1. Der Widerspruch zwischen politischer Willensbil- der Gesellschaft zu leisten" (Deutscher Bundestag, dung, die durch die Enquete-Kommission im Prin- Drucksache 12/2597). „Die Auswirkungen der SED zip zum Abschluß gebracht werden sollte, und der Diktatur sollten an zentralen Fakten und Beispielen Suche nach der Wahrheit, die nach Aussagen vieler veranschaulicht werden" (Beschluß der Enquete Wissenschaftler in Ost und West eigentlich gerade Kommission vom 30. Juni 1992). In das öffentliche erst begonnen hat, war nicht lösbar. Vorurteile über Bewußtsein sollte gehoben werden, wie „das totali- die Geschichte der DDR finden sich im Abschluß- täre System der DDR, die zentral verwaltete Mangel- bericht wieder, sind aber wissenschaftlich nicht wirtschaft, zum Beispiel ebenso wie die weltanschau- belegt. liche Erziehungsdiktatur, das Leben eines jeden ein- zelnen prägte, seine Freiheit und Lebenschancen 2. Das nach der zweijährigen Tätigkeit der Enquete einengte". Die Arbeit der Enquete-Kommission sollte Kommission vorliegende Resultat ist geprägt vom auch darauf gerichtet sein, „verborgene inte rne Widerstreit zwischen den wissenschaftlichen Erfor- Machtstrukturen und -s tränge sowie die psychologi- dernissen, den politischen Zielstellungen und den schen Hintergründe bei der massenhaften Pervertie- sachlich-zeitlichen Möglichkeiten ihrer Realisie- rung des Rechts aufzuspüren'. rung, aber auch von den unterschiedlichen politi- schen Standorten und individuellen Erfahrungs Demgegenüber ging die PDS/Linke in ihrem ab- und Erlebnishorizonten, die die Arbeiten beein- gelehnten Antrag zur Einsetzung einer Enquete flußt haben, nicht zuletzt aber auch von der Unein- Kommission „Politische Aufarbeitung der DDR heitlichkeit des wissenschaftlichen Erkenntnisvor- Geschichte" (Deutscher Bundestag, Drucksache laufes sowie seiner Deutungen. Der Abschlußbe- 12/2226) von der Notwendigkeit aus, „einen Beitrag richt insgesamt kann deshalb auch aus der Sicht im Rahmen einer breit angelegten öffentlichen Erör- des Votierenden weder als abgerundete noch als terung über Staat und Gesellschaft in der Deutschen definitive Aussage zum Gesamtanliegen verstan- Demokratischen Repzublik zu leisten". Die Enquete - den werden Für die Neubewertung der Geschichte Kommission sollte sich in ihrer Arbeit daher insbeson- der DDR wäre u. a. die Öffnung der Archive der dere von folgenden Prinzipien leiten lassen: Alt-Bundesrepublik Deutschland genauso notwen- dig gewesen wie die Kenntnis der wichtigsten — der „Notwendigkeit einer sachlichen und differen- Quellen in den Archiven der Alliierten. Dieser zierten Aufarbeitung der DDR-Geschichte" Zugriff wird nach wie vor verweigert. Ergebnis ist — einer „wissenschaftlichen Kritik" der These vom ein Zerrbild, bei dem viele Entscheidungen in der „Unrechtsregime Deutsche Demokratische Repu- DDR unverständlich erscheinen müssen, solange blik" und der Ergründung der „Ursachen des die diesbezüglichen Planungen, Maßnahmen und Scheiterns des (Sozialismus)Versuches" in der Entscheidungen in der Bundesrepublik Deutsch- DDR. Gefordert wurde, die „Aufarbeitung als ein land und durch die Alliierten unbekannt bleiben. gesamtdeutsches Unternehmen zu vollziehen" , 3. Eine objektive Bewertung der DDR-Geschichte von den „Wechselbeziehungen der Nachkriegsge- schichte zwischen beiden deutschen Staaten und schließt auch ein, sie weniger an den Maßstäben deren Einbindung in internationale Kräftekonstel- der Alt-Bundesrepublik Deutschland zu messen, lationen und spezifische Bündnisse aus(zu)gehen" sondern die Tatsache in Rechnung zu stellen, daß und „die Aufarbeitung der Geschichte dieses Jahr- die DDR eine Gesellschaft mit eigenen Regeln, Werten und Konfliktregulierungsmechanismen hunderts in ihrer Gesamtheit" anzugehen. war. Sie auf den Aspekt ihrer diktatorischen Ent- Die Enquete-Kommission hat zweifelsohne eine scheidungsstrukturen zu reduzieren bedeutet, sie umfangreiche Arbeit geleistet. Anerkannt wird das als Repressionsstaat zu simplifizieren und zu ver- Bemühen von einigen Mitgliedern der Kommission kürzen. Die DDR war als Staat und Gesellschaft und von Sachverständigen um eine differenzie rte auch sozialer Vorsorgestaat und zum Teil Soli- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

dargesellschaft mit einem spezifischen „Wir reden. Der Autor ist sich der Meinungsvielfalt und Gefühl". unterschiedlichen Standpunkte von Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern zu vielen der aufgewor- 4. Der Bericht enthält eine Reihe Aussagen, die durch fenen Fragen bewußt. Er plädiert deshalb für die die Arbeitsergebnisse von Expertinnen und Exper- konsequente Weiterführung der historisch-analyti- ten und Anhörungen keinesfalls ausreichend abge- schen Untersuchungen der Entwicklung in der DDR deckt und bewiesen, zum Teil sogar falsch und und in der BRD. Im Kontext zum Abschlußbericht widerlegt sind. Das betrifft insbesondere folgende werden zu folgenden Schwerpunkten Angebote für Positionen: die Diskussion zur weiteren wissenschaftlichen Wahr- — daß im Osten Deutschlands ein nahtloser Über- heitsfindung als Voraussetzung einer ausgewogenen gang von einer Diktatur zur anderen stattgefun- politischen Willensbildung unterbreitet: den habe I. Zu den beiden Wegen deutscher Nachkriegsent- — daß demzufolge das politische System und die wicklung gesellschaftliche Praxis in der DDR vom Wesen her Ausdruck von Unrecht waren - II. Der Kalte Krieg und die beiden deutschen Staa- — daß die gesamte gesellschaftliche Entwicklung ten in der SBZ/DDR ab 1945 nichts weiter als die praktische Umsetzung einer wirklichkeitsfrem- III. Die SED und Ursachen des Scheiterns ihres Sozia- den marxistischen Theorie gewesen sei lismusversuches — und daß die Bevölkerung der DDR durchgängig den proklamierten Zielstellungen und daraus IV. Zum Diktaturenvergleich von NS-Regime und abgeleiteten politischen Schritten überwiegend SED-Staat ablehnend gegenübergestanden hätten. V. Die DDR, ihre Bürgerinnen und Bürger und ihre 5. Die Geschichte der DDR ist auch die Geschichte Leistungen von Opfern und Tätern, von Fehlleistungen, Versa- gen und Verbrechen, vor allem aber ist sie Alltags- Nach vielen Diskussionen konzentriert sich der Votie- geschichte von Millionen von Menschen, deren rende dabei auf ausgewählte Probleme und stützt sich persönliches Glück und Leid, Geborgensein und vor allem auf die Expertisen in den bisher vorliegen- Wohlbefinden, deren Konflikte und Proteste, den Bänden „ANSICHTEN zur Geschichte der DDR" öffentliches Wagen und Zurückziehen in die „Ni- und weiteren Ausarbeitungen von Wissenschaftlerin- sche" sich durch keine Quellen in den Archiven nen und Wissenschaftlern, die sich selbst der belegen läßt. Finden diese Menschen ihre Begrenztheit und Unterschiedlichkeit ihres Erkennt- Geschichte und ihre Geschichten, die Normalität, nisstandes sowie von Differenzen und Meinungsver- aber auch Größe und Tragik ihrer Biographien schiedenheiten zwischen ihren Aussagen bewußt nicht in der Geschichtsschreibung und in den sind. politischen Werturteilen der herrschenden politi- schen Klasse wieder, hat letztere versagt. Die Geschichte geht weiter, ihre Bewertung wird mit Das Sondervotum möchte jedoch keineswegs einem jeder neuen Arbeit neue und andere Akzente erfah- schematisch umgekehrten Gesamturteil das Wo rt ren.

I. Zu den beiden Wegen deutscher Nachkriegsentwicklung

1. In der Tätigkeit der Enquete-Kommission blieb Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg er- eine zentrale Frage außerhalb der Betrachtung, gaben, und daß das Scheitern der DDR und des die lange Zeit die Geschichtsdebatte beherrschte, „Realsozialismus" als Epochenerscheinung etwas weil mit ihr die für das Selbstverständnis der mit weltgeschichtlicher Tragik zu tun hat. Die Bundesrepublik und für die historische und natio- Ostdeutschen konnten es sich nicht aussuchen, ob nale Identität ihrer Bürgerinnen und Bürger wich- sie im sowjetischen Herrschaftsbereich und auf tigsten Belange zur Sprache kamen: die Frage der wirtschaftlichen Schattenseite oder unter nach dem „deutschen Sonderweg". Stattdessen westlicher Vorherrschaft und auf der wirtschaftli- kehrte teilweise " die westliche Vorstellung von chen Sonnenseite deutscher Nachkriegsentwick- der DDR" in „schrecklicher Vereinfachung" lung lebten. „zum Bild der fünfziger Jahre" zurück (Peter Bender). Dabei ist offenbar jedes Gespür dafür 2. Die DDR ist zureichend nur in ihrem historischen verlorengegangen, daß der Entstehung und Ent- Wandel zu erfassen, einschließlich der deutlichen wicklung der DDR in einem hohen Grade histori- Unterschiede hinsichtlich ihres historischen sche Zwangsläufigkeiten innewohnen, die sich Platzes und ihrer Zukunftsperspektive bei einem aus Epochenkonstellationen der deutschen, euro- Vergleich etwa zwischen Mitte der fünfziger und päischen und Weltgeschichte, nicht zuletzt aus Mitte der achtziger Jahre. „Realsozialismus" und Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

DDR schienen in den fünfziger und sechziger sozialen und politischen Standortes verbanden Jahren, insbesondere 1956 und 1968, aber auch die anvisierte historische Alternative mit Zielstel- noch danach Entwicklungschancen und Zu- lungen, denen bei aller Verschiedenheit gemein- kunftsperspektiven zu besitzen. Allerdings weni- sam war, daß sie über den Kapitalismus hinaus- ger im Sinne des eigenen „marxistisch-leninisti- wiesen. schen" Selbstverständnisses als Verkörperung 5. Die sich am Beginn deutscher Nachkriegsent- des Weltfortschritts auf dem Wege in eine kom- wicklung als Möglichkeit abzeichnende Abkehr munistische Zukunft der Menschheit, sondern vom „deutschen Sonderweg" durch die Gestal- mehr als spezifische Va riante industriegesell- tung einer nachkapitalistischen modernen Zivil- schaftlicher Entwicklung und auch Modernisie- gesellschaft auf deutschem Boden — in Wechsel- rung anderen ordnungspolitischen und sozialen wirkung mit analogen Bestrebungen in anderen Typs. Ländern — verkörperte die echte Chance einer 3. DDR-Geschichte ist zweifellos eng mit dem Epo- Epochenalternative: eine alte rnative, zukunfts- chenphänomen des „Realsozialismus" verknüpft, weisende, Europa einende Nachkriegsentwick- - aber sie geht keineswegs in der Geschichte des lung. Doch eigenes Versagen der zu neuen Ufern „Realsozialismus" auf. Es geht nicht an, die aufbrechenden antifaschistisch- demokratischen „realsozialistischen" Gesellschaften nur mit der Bewegungen Europas auf der einen Seite, tra- Elle der hochentwickelten Industriegesellschaf- ditionelle imperialistisch-kapitalistische Macht- ten kapitalistischen Typus und der mit ihnen und Interessenpolitik wie stalinistische Hegemo- verbundenen gesellschaftlichen Modernisierun- nialpolitik und Praktiken auf der anderen Seite, gen — die allerdings immer auch Zerstörungen drängten neues Denken und H andeln wieder und drohende Zerstörungen einschließen — zu zurück und vereitelten die Realisierung einer messen und von daher rein negativ zu bewerten. solchen Epochenalternative. Es gelang auf deut- Denn mit ihrem sozialistischen Anspruch und im schem Boden nicht, eine zonenübergreifende, Bereich ihrer normativen Realität waren die unterschiedliche Kräfte miteinander verbindende „realsozialistischen" Gesellschaften— obwohl sie Abkehr vom „deutschen Sonderweg" zu voll- in mancher Hinsicht der Entwicklungslogik kapi- ziehen. talistischer Industriegesellschaften verhaftet blie- 6. Es kann niemand beweisen, daß die Spaltung ben und auch Anleihen bei diesen machten — Deutschlands hätte verhindert werden können, tatsächlich alternativ zu Kapitalismus und bürger- aber es läßt sich auch nicht beweisen, daß sie lich-pluralistischen Gesellschaften. Sie bildeten zwangsläufig war. Und es bleibt dabei, daß die eigene gesellschaftliche Merkmale und Qualitä- Entscheidung für den Weststaat, also für die ten, spezifische Verhaltensweisen und ein eigen- Abschreibung der Ostzone und für die Teilung ständiges Wertesystem aus. Die DDR ist sowohl an Deutschlands, eine westalliierte bzw. westdeut- an übergreifenden weltgeschichtlichen Kriterien, sche war, die spätestens 1947 getroffen wurde. an ihren allgemein menschlichen Werten als auch Die Angebote der UdSSR und die Initiativen der eigenen Maßstäben zu messen. Verglichen mit SED, der Volkskongreßbewegung und später der den in der überwiegenden Mehrheit der Staaten DDR sind niemals ernsthaft getestet, sondern dieser Welt bestehenden politischen, sozialen und regelmäßig abgeblockt worden. Für Stalin hatte kulturellen Zuständen schneidet die DDR in jeder eine gesamtdeutsche Regelung der deutschen Hinsicht — auch bezüglich der allgemeinen Men- Frage zeitweise oberste Priorität. Dies ist inzwi- schenrechte — gut ab. Mehr noch, sie hat auf schen mit beweiskräf tigen neuen Quellen unter- wesentlichen Feldern der nationalen und interna- mauert worden. In der Bundesrepublik Deutsch- tionalen Politik einen eigenständigen Beitrag zu land hingegen wurden Anfang der fünfziger Frieden und Menschheitsfortschritt geleistet. Jahre zum Teil sogar Bemühungen um die deut- Der „Realsozialismus" fungierte in erheblichem sche Einheit und Proteste gegen die Remilitarisie- Grade als geschichtswirksames Korrektiv gegen- rung strafrechtlich verfolgt. über denjenigen negativen Konstanten der Epo- che, die mit ihren imperialistischen Virulenzen 7. Jeder der deutschen Staaten verkörperte in seiner zusammenhängen. Staats- und Gesellschaftsordnung eine andersge- artete, aber jeweils nur halbgelungene und damit 4. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte nach überein- auch halbverfehlte Abkehr vom „deutschen Son- stimmender alliierter Absicht eine historische derweg" . Der Weg der Bundesrepublik Deutsch- Alternative zum bisherigen Deutschl and durch- land wurde geprägt von einer durch das „Wirt- gesetzt werden, was betont — ob berechtigt oder schaftswunder " lebenskräftig gemachten Demo- nicht sei dahingestellt — mit der Abkehr von kratie mit offenkundig konservativ-autoritären einem „deutschen Sonderweg" in Verbindung Zügen, durch ihre Westeinbindung, durch einen gebracht wurde. Als „Sonderweg" wurde vor Modernisierungsschub sowie einen zu Zeiten der allem die Ausprägung des von anderen europäi- Prosperität vergleichsweise gut funktionierenden schen Entwicklungen abweichenden preußisch Konsens für einen Sozialstaat. Eine grundlegende deutschen, imperialistisch-militaristischen Rei- gesellschaftliche Neuordnung jedoch war verhin- ches verstanden, das im Dritten Reich des Natio- dert worden, die Kontinuität gesellschaftlicher nalsozialismus und seinen Verbrechen kulmi- Grundlagen und Eliten war offensichtlich. nierte. Die deutsche Arbeiterbewegung in all ihren Strömungen, aber auch andere antifaschi- Demgegenüber waren sowje tische Besatzungs stisch-demokratische Kräfte unterschiedlichen macht, SED und ihre Partner erfolgreich gewesen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

bei der — zweifelsfrei von den alliierten Beschlüs- des Zweiten Weltkrieges und dessen Eskalation sen weitgehend abgedeckten und auch in hohem zum Vernichtungskrieg, verbunden mit einer Grade mehrheits- und konsensfähigen — Beseiti- bewußt betriebenen Genozidpolitik gegenüber gung dessen, was als gesellschaftliche Grundla- Juden und anderen Völkern, außerhalb der Welt- gen des „deutschen Sonderweges" angesehen gemeinschaft gestellt. Diese vom Hitlerregime, wurde, sowie bei der Eliminierung des Einflusses seinen Förderern, Nutznießern und Helfern in der der traditionellen Eliten, wenngleich es dabei Wirtschaft, der Generalität und der Staatsbüro- auch zu Einseitigkeiten und radikalen Überzie- kratie verübten Verbrechen gegen den Frieden, hungen gekommen ist. Dennoch verkörperte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die auch die DDR eine nur halbgelungene Abkehr Menschlichkeit stellen unauslöschliche, histo- vom „deutschen Sonderweg". Sowjetische Besat- risch einmalige Verbrechen an der Menschheit zungsherrschaft, zu stark „von oben" installierte und am eigenen Volk dar. Dafür trägt das deut- Reformen, die wie auch immer bedingten und sche Volk, das in seiner Mehrheit das Hitler- begründeten Einschränkungen an Freiheit und regime und dessen Kriegführung geduldet und Demokratie, die Orientierung auf das sowjetische, sogar unterstützt hatte, Mitschuld und Mitverant- „vormoderne" Gesellschaftsmodell und die Re- wortung, was aber nicht einer Kollektivschuld zeption stalinistischer Methoden und Praktiken gleichkommt. Dem hatten und haben sich die bewirkten ein — allerdings uneingestandenes Deutschen im Westen wie im Osten des L andes zu und unreflektiertes — Fortwirken solcher „Son- stellen. derweg" -Traditionen wie Obrigkeitsstaatlichkeit 11. Die eigenen historischen Erfahrungen geboten und Untertanengeist, Autoritätsgläubigkeit und deshalb den Deutschen, und die Siegermächte mangelnde Zivilcourage. verpflichteten sie dazu, einen Bruch mit ihrer 8. Die komplexe gesellschaftliche Realität der DDR Vergangenheit zu vollziehen, ihre Gesellschaft und der anderen ehemals staatssozialistischen und Politik auf friedlichen, demokratischen und Länder kann mit reduziert- „realsozialistischen", antifaschistischen Grundlagen neu zu gestalten. totalitarismustheoretischen oder anderweitig vor- Das schloß Anerkennung der Deutschland aufer- belasteten Interpretationsmustern nicht adäquat legten Sanktionen, Gebietsabtretungen und der erfaßt werden. Es gab in der DDR nicht nur Pflicht zur Wiedergutmachung ein, wie dies im „Täter" und „Opfer" und sogenannte Mitläufer, Potsdamer Abkommen und anderen völkerrecht- sondern es gab Millionen Bürgerinnen und Bür- lichen Dokumenten festgelegt ist. Die im Verlauf ger, die — obwohl gegenüber Systemdefiziten und im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges von den und auch Unrecht nicht blind — sich dennoch Alliierten vereinbarten völkerrechtlichen Doku- grundsätzlich, überwiegend oder teilweise mit mente enthielten einen Grundkonsens in der dem Staat, mehr noch aber mit der Gesellschaft sogenannten deutschen Frage. Im Ke rn ging es der DDR oder mit Dimensionen ihrer Lebenswirk- um die Ausschaltung aller Überreste von Faschis- lichkeit identifizierten bzw. diese zumindest mus und Militarismus und um die Errichtung respektierten oder tole rierten. eines demokratischen deutschen Staatswesens, von dem nie wieder Krieg ausgehen kann. Das 9. Die Gesellschaft der DDR verkörperte in Kontinui- erforderte zwingend gravierende strukturelle und tät und Wandel, in Heterogenität und wider- personelle Eingriffe in die deutsche Nachkriegs- sprüchlicher Komplexität, im Spannungsfeld zwi- gesellschaft, nicht zuletzt auch in die Eigentums- schen Wollen und Sein, Objektivität und Erlebnis- verhältnisse, weshalb deren Berechtigung und welt gegenüber der Gesellschaft der Bundesrepu- Fortbestand in den 2 +4-Verhandlungen bestätigt blik Deutschland und deren Entwicklungsweg worden ist. trotz fortbestehender nationaler Gemeinsamkei- ten eine mehr oder weniger alte rnative, auf jeden 12. Die Parteien in allen Besatzungszonen hatten Fall aber eigenständige Qualität mit eigenem zunächst in wichtigen Fragen angenäherte bzw. Wertesystem und spezifischen Wertmaßstäben. vereinbarte antifaschistische Standpunkte ver- Nur wenn dies vom Forschungs- und Bewertungs- kündet, wobei alle auf den Zusammenhang zwi- ansatz her definiert und respektiert wird, ist eine schen kapitalistischer Monopolherrschaft und wissenschaftlich begründete und historisch ge- Faschismus verwiesen und — mehr oder weniger rechte Aussage möglich. Schonjetzt gibt es Anzei- konsequent — Schlußfolgerungen nicht nur für chen dafür, daß Ostdeutschland auf unbestimm- politische Umgestaltungen, sondern auch für eine bare Zeit als eine relativ eigenständige sozialkul- über den Kapitalismus hinausgreifende Wirt- turelle Makroregion in diesem neuen Deutsch- schafts- und Sozialordnung zogen. Eine bloße land fortexistieren wird. Darum sollten vor- Rückkehr zur Weimarer Republik und ihrer Ver- schnelle „endgültige" Bewertungen und Ver- fassung wurde allgemein abgelehnt, denn ihrem dikte der DDR-Geschichte vermieden werden. Schoße war der Faschismus entsprungen. Die frühen programmatischen Aussagen der von den 10. Nicht die heutigen neuen Bundesländer, sondern Alliierten zugelassenen Parteien belegen dies Deutschland als Ganzes hatte sich durch eigenes zweifelsfrei. Allparteien-Regierungen waren bis Verschulden in die Lage eines ausgebluteten, 1947/48 in den neugebildeten Ländern a ller zerstörten, besiegten, besetzten und interna tional Besatzungszonen die Regel. In den Parlamenten geächteten Landes mit all seinen bis in die Gegen- der Länder votierten bei Gesetzesvorlagen, die wart hineinreichenden Folgen gebracht. Das auf antifaschistisch-demokratische Veränderun- Deutsche Reich hatte sich mit der Entfesselung gen abzielten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Christdemokraten und Liberale oft gemeinsam mokratie und im dritten Weg, die Kommunisten in oder auch in wechselnden Verbindungen. der marxistisch-leninistischen Gesellschafts- und Revolutionstheorie. Für alle Parteien wurden Insgesamt erfolgte jedoch in den beiden ersten Anpassungen an die jewei ligen Siegermächte, Nachkriegsjahren ein rascher Abbau konsensfä- konfrontative Profilierungen und Machtstreben higer Standpunkte und ein deutlicher Übergang wichtiger als die gemeinsame Vertretung von zu konfrontativen Haltungen und Handlungen. Grundinteressen der deutschen Bevölkerungs- mehrheit, vor allem ihres völkerrechtlich verbrief- 13. Das Dilemma bestand darin, daß alle Parteien die ten Anspruchs auf einen einheitlichen, friedlie- Auflagen der Alliierten grundsätzlich akzeptier- benden, antifaschistischen deutschen Staat im ten und daraus auch in vielem konsensfähige Einklang mit den Festlegungen des Potsdamer politische Zielvorstellungen ableiteten, sich je- doch als unfähig erwiesen, über Zonengrenzen Abkommens und somit die gemeinsame Abkehr und politische Differenzen hinweg gemeinsam für von der als „deutscher Sonderweg" verstandenen Entwicklung. die Errichtung einer neuen antifaschistischen, demokratischen, friedliebenden deutschen Re- 15. Dennoch vollzogen sich in allen Teilen Deutsch-- publik einzutreten und von den Alliierten den lands einschneidende, noch auf unsere Gegen- Abschluß eines Friedensvertrages, den Abzug der wart einwirkende Erneuerungen. Ihr wesentli- Besatzungstruppen und die Anerkennung einer cher Bestandteil waren die unter den Losungen neuen einheitlichen deutschen Republik einzu- Entmilitarisierung und Entnazifizierung durchge- fordern. Wenn heute versucht wird, die Verant- führten strukturellen und personellen Verände- wortung hierfür einer einzigen Partei oder Bewe- rungen. Diese wurden mit unterschiedlicher Kon- gung anzulasten bzw. den Kommunistinnen und sequenz durchgeführt und wiesen im deutschen Kommunisten einen bereits im Juni 1945 in Mos- Westen erhebliche Defizite auf, in denen kritische kau empfangenen Separierungs- und Sowjetisie- Beobachter einen nie behobenen Geburtsfehler rungsauftrag für Ostdeutschland zu unterstellen, der Bundesrepublik Deutschland erkennen. so halten derartige Konstruktionen einer Über- Wenn daraus der Schluß gezogen wird, daß dieser prüfung an den Tatsachen und Quellen nicht Fehler bei der Abrechnung mit Verantwortungs- stand. trägern der DDR nicht wiederholt werden dürfte, so ist dies nicht nur eine die historischen und 14. Das Versagen aller Parteien ist auf objektive und völkerrechtlichen Tatsachen negierende Betrach- subjektive Ursachen zurückzuführen, die sich in drei miteinander verbundenen Komplexen zu- tungsweise, sondern darüber hinaus auch sammenfassen lassen: falsch.

Der erste Komplex erwuchs aus dem Zerfall der Falsch ist die Aussage deshalb, weil es im Grunde Anti-Hitler-Koalition, aus dem Übergang der genommen das gleiche Motiv ist, das nach 1945 Großmächte zur Politik des Kalten Krieges, was nicht zur Aufarbeitung und Abrechnung führte. mit der Eingliederung der jeweiligen Besatzungs- Es handelt sich um das Motiv des Antikommunis- zonen in die sich herausbildenden Militärblöcke mus und des Antisozialismus. Im Kampf gegen verbunden war. kommunistische und sozialistische Ideen meinte man nach 1945 in der BRD, auf Menschen mit Der zweite Komplex resultierte aus der zuneh- brauner Vergangenheit nicht verzichten zu kön- menden Unterschiedlichkeit der sozialen, politi- nen, während man eben heute davon ausgeht, im schenund kulturellen Entwicklung in der Ostzone Kampf gegen die gleichen Ziele Menschen im einerseits und den Westzonen andererseits, verur- öffentlichen Dienst nicht dulden zu können, die sacht durch die Gegensätze zwischen den Sieger- eine sozialistische bzw. kommunistische Vergan- mächten, durch das innenpolitische Kräftever- genheit haben. hältnis in den einzelnen Besatzungszonen und durch die hierauf fußenden Umsetzungen der von Und hinsichtlich der die historischen und völker- deutschen Parteien verfochtenen gesellschafts- rechtlichen Tatsachen völlig negierenden Be- politischen Konzepte. Deren Rea lisierung brachte trachtungsweise sei daran erinnert, daß die im gegensätzliche ökonomische, politische, soziale Zeichen der Entmilitarisierung und Entnazifizie- und kulturelle Verhältnisse im Westen einerseits rung vorgenommenen bzw. vorzunehmenden und im Osten andererseits hervor. Maßnahmen keine nach dem Sieg über die faschi- stischen Aggressoren ausgehandelten oder im- Der dritte Komplex ergab sich aus der in vielem provisierten Vorgehensweisen der Besatzungs- rückwärtsgewandten Politik deutscher Parteien. mächte und ihrer deutschen Beauftragtenwaren. Unfähig, die heraufziehenden Probleme der zwei- Es handelte sich vielmehr um offen verkündete ten Hälfte dieses Jahrhunderts — des Zeitalters Kriegsziele der Alliierten. Es ist hingegen nicht der Atombombe, der ökologischen Überforde- bekannt, daß die Völkergemeinschaft in UNO- rung des Erdballs, des Endes der Kolonialzeit und Beschlüssen, in der Helsinki-Akte oder anderswo der Infragestellung des Patriarchats — zu erken- den Amtsträgern oder „Mitläufern" kommuni- nen, suchten alle ihre Leitbilder in der Vorstel- stisch regierter Staaten angedroht hätte, daß sie lungswelt der Jahre zwischen beiden Weltkrie- nach Beendigung des Kalten Krieges politisch, gen: die Liberaldemokraten im Neoliberalismus, strafrechtlich oder sozial zur Verantwortung gezo- die Christdemokraten in der christlichen Sozial- gen werden. Auch in deutsch-deutschen Verträ- lehre, die Sozialdemokraten in der Wirtschaftsde gen und Abkommen finden sich derartige Rechts- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

positionen nicht. Die Abrechnung mit dem Unterstützung ihrer Besatzungsmächte einen Faschismus hingegen ist klar angekündigt, durch Kurs einschlugen, der in dem Slogan „Lieber das die Kommission der Vereinten Nationen zur halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutsch- Untersuchung der Kriegsverbrechen vorbereitet land halb" treffend charakterisiert ist, und die und mit dem in der internationalen Rechtsge- SPD sich dieser Politik anpaßte, gerieten die schichte einmaligen Nürnberger Prozeß sowie in bürgerlich-demokratischen Blockparteien der dessen Nachfolgeprozessen praktiziert worden. Ostzone in eine Sinnkrise. Trotz Abspaltungen und trotz der Abkehr von Mitgliedern und Funk- Aus all diesen Gründen verbietet es sich, heute in tionären suchten CDU und LDPD den Ausweg aus Ostdeutschland praktizierte soziale Ausgrenzun- dieser Krise schließlich und endlich in der Be- gen, politische Säuberungen und juristische Straf- jahung des in Ostdeutschland eingeschlagenen verfolgungen mit Erfordernissen oder Erfahrun- Entwicklungsweges, zumal dieser l ange Zeit mit gen der Abrechnung mit dem Faschismus oder der dem erklärten Ziel der demokratischen Wieder- Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg in vereinigung Deutschland zu einem militärisch Verbindung zu bringen. neutralen Staat verbunden war. - 16. Da sich alle Parteien grundsätzlich auf den Boden 18. Es kann nicht akzeptiert werden, wenn aus- der völkerrechtlichen Vereinbarungen über schließlich dem parlamentarischen Weg in die Deutschland gestellt hatten, ihre Programme dazu Bundesrepublik Deutschland, bei dem überdies zumindest keine offen widersprechenden Aussa- die weichenstellenden Entscheidungen nicht gen enthielten, erwuchsen Voraussetzungen und souverän von der Bevölkerung getroffen werden Grundlagen für ihr Zusammenwirken. Dieses konnten, Legitimität zugesprochen wird. brauchte nicht befohlen zu werden, niemand mußte dazu gezwungen oder überredet werden, Beide deutsche Staaten entstanden als Fernwir- denn die Bereitschaft zur Zusammenarbeit war kung des deutschen Faschismus und des von ihm zumindest in allen Gründungsdokumenten der entfesselten Krieges, im Gefolge des in Deutsch- in Berlin konstituierten Parteien expressis verbis land von den Alliierten installierten Besatzungs- enthalten. Unter den konkreten Bedingungen der regimes und im Zeichen des Kalten Krieges — im sowjetischen Besatzungszone nahm diese Zusam- September 1949 die Bundesrepublik Deutschl and menarbeit die Gestalt der Einheitsfront der antifa- und einen Monat darauf die DDR. Weder im schistisch-demokratischen Parteien — später De- Westen noch im Osten sind die Bürgerinnen und mokratischer Block — an. Aufgaben, Organisati- Bürger ausdrücklich befragt worden, ob sie in onsform und Arbeitsweise belegen, daß der Block einem separaten deutschen Staat leben wollen, nicht als bloßes Instrument zur Gleichschaltung doch hatten sich hier wie da die kursbestimmen- der Parteien entstand, sondern zunächst ein den Parteien in vorausgegangenen Landtagswah- Bündnis zur antifaschistischen und demokrati- len solide Mehrheiten für ihre Politik beschafft. schen Umgestaltung, insbesondere im Osten Die Gründung der Bundesrepublik Deutschl and Deutschlands, war. Der Block war angelegt als ein war von Parlamentswahlen begleitet, die Griün im Konsens handelndes Mehrparteiensystem, in dung der DDR von einer öffentlich geführten dem die in Aktionseinheit verbundenen und dann Verfassungsdiskussion und der ihrem Charakter in der SED zusammengeschlossenen Arbeiterpar- nach außerparlamentarischen Volkskongreßbe- teien einen seinerzeit nicht unbegründeten und wegung für Einheit und gerechten Frieden, die von Politikern bürgerlich-demokratischer Par- von der überwiegenden Mehrheit der organisier- teien auch öffentlich akzeptierten Hegemonie- ten politischen und gesellschaftlichen Kräfte anspruch anmeldeten. Obwohl die Blockpolitik agen war. Beide Staatsgründungen waren durch Machtansprüche der SED einerseits und getr durch neugeschaffene gesellschaftliche Realitä- restaurative Sperrversuche christdemokratischer ten vorbereitet: wie liberaler Politiker andererseits belastet wurde, erbrachte die Etappe von 1945 bis 1948/49 and wesentliche Ergebnisse einer antifaschistisch Die Gründung der Bundesrepublik Deutschl demokratischen Erneuerung. Diese wurden von durch die Rückkehr zu bürgerlich-parlamentari- schen Strukturen, durch die Einbeziehung in den allen an der Gründung der DDR beteiligten Parteien grundsätzlich getragen und später in Marshall-Plan und durch eine Währungsreform, parteioffiziellen Geschichtswerken der CDU, der die nicht nur Deutschland ökonomisch spaltete, LDPD, der NDPD und der DBD als traditionsbe- sondern auch allen über den Kapitalismus hinaus- gründende Leistungen gefeiert. weisenden wirtschaftspoli tischen Vorstellungen den Boden entzog; die Gründung der DDR durch 17. Die Schwierigkeiten, in die Teile der Sozialdemo- tiefgreifende strukturelle Veränderungen, wie sie kraten, Christdemokraten und Liberaldemokra- vor allem im Ergebnis der Bodenreform und in ten der Sowjetischen Besatzungszone gerieten, Auswirkung des sächsischen Volksentscheides waren doppelter Natur: Sie erwuchsen aus dem über die Enteignung der Betriebe der Nazi- und Spannungsverhältnis zu einer mit Unterstützung Kriegsverbrecher entstanden waren, durch Über- der sowjetischen Besatzungsmacht nach der gang zur Wirtschaftsplanung, durch die Gewin- Macht strebenden KPD und dann SED, aber auch nung beträchtlicher Teile der Bevölkerung für aus den Differenzen mit und aus den Brüskierun- eine Politik der Nationalen Front und durch die gen durch die westdeutschen Schwesterparteien. Bereitschaft aller Parteien zur Beteiligung an der Vor allem als CDU und F.D.P im Westen mit Regierung. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

19. Historisch wie völkerrechtlich, moralisch wie poli- keinen Grundlagenvertrag und keinen Vertrag tisch waren beide deutsche Entwicklungswege über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und die aus ihnen hervorgegangenen Staaten und Sozialunion und keinen Vertrag über die legitim. Entsprechend war in den letzten Jahr- Herstellung der Einheit Deutschlands rechtswirk- zehnten das Verhältnis der Staaten der Welt und sam abschließen können. Deshalb verbietet es ihrer repräsentativsten Organisa tion, der UNO, zu sich, im Nachhinein den westdeutschen Entwick- diesen beiden deutschen Staaten. Anders hätte lungsweg sakrosankt zu sprechen, den ostdeut- die Bundesrepublik Deutschland mit der DDR schen hingegen zu kriminalisieren.

II. Der Kalte Krieg und die beiden deutschen Staaten

- 1. Der vierzigjährige Kalte Krieg übte nicht nur auf gedrängt und abgelöst durch Phasen relativer das Geschehen und die Beziehungen zwischen Entspannung, der Annäherung, der friedli- den beiden deutschen Staaten einen großen Ein- chen Koexistenz und einer beginnenden fluß aus. Er war letztlich Ergebnis, Ausdruck und Koalition der Vernunft. Dies nicht anzuerken- Auseinandersetzungsform des globalen Gegen- nen, unterschlägt das komplizierte Geflecht satzes zwischen dem westlich-kapitalistischen wechselseitiger Fehler, aber auch wechselsei- und dem östlich-staatssozialistischen System. tiger Anstrengungen zur Besserung der Bezie- hungen und zu friedlichen Regelungen, an Die Enquete-Kommission hat in ihrer Tätigkeit denen viele Länder, auch beide deutsche Staa- diesen Stellenwert des Kalten Krieges in den ten, aktiv beteiligt waren. internationalen Beziehungen, insbesondere hin- sichtlich der Einbindung der beiden deutschen 3. Schon lange wird von westlicher Seite versucht, Staaten in die entgegengesetzten Interessen der die wirklichen Ursachen für den Kalten Krieg in jeweiligen politischen und militärischen Bündnis- den Hintergrund zu drängen und die Schuld blöcke, nicht ausreichend problematisiert. einseitig der Sowjetunion, der kommunistischen 2. Vor drei Gefahren im Zusammenhang mit der Bewegung zuzuweisen. Da die Antihitlerkoalition Behandlung dieses Themas ist zu warnen: kaum durch ein gemeinsames politisches Fe rn -ziel, sondern überwiegend durch den gemeinsa- — Den Kalten Krieg von seiner Vorgeschichte, men militärischen Gegner verbunden, also ein seinen Ursachen und Wurzeln zu trennen, d. h. durch Hitlers Aggression zusammengeschweißtes die Geschichte nicht mehr als einen kontinu- Zweckbündnis war, führten die antagonistischen ierlichen Prozeß, sondern von ihrem jetzigen gesellschaftspolitischen Widersprüche zum Ergebnis her zu beurteilen, läuft darauf hin- Bruch. Dabei ging die Initiative wesentlich von aus, die Diktatur des Nationalsozialismus und der Truman-Regierung aus. Zu untersuchen sind die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges zu die Hauptgründe dafür, die Prinzipien der Roose- verharmlosen und einseitig die linke, soziali- velt-Politik aufzugeben: das „One-World-Pro- stische Bewegung zu verurteilen. gram" amerikanischen Zuschnitts, das man ange- — Ebenso ist die Einengung des Kalten Krieges, sichts der verheerenden Kriegsschäden und Ver- ausschließlich oder auch nur vorrangig, auf luste der Sowjetunion und angesichts des damali- Deutschland, auf die Beziehungen zwischen gen Atomwaffenmonopols rasch durchzusetzen den beiden deutschen Staaten irreführend: Die hoffte. Eine große Rolle spielten dabei die histori- deutsche Frage war niemals nur eine Frage der schen Erfahrungen beider Seiten: ein „Appease- Deutschen, sondern immer, spätestens aber ment-Trauma" der USA, die einer Diktatur kei- seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, eine nerlei Zugeständnis mehr machen wollte — ein europäische Frage — in diesem Jahrhundert, „Einkreisungs-Trauma" der Sowjetunion, die in in dem von Deutschl and zwei Weltkriege aus- den Schritten der Truman-Regierung nicht nur gingen, einbrennendes Weltproblem. Deshalb unfreundliche Akte, sondern Schritte einer neuen waren alle Nachbarn an stabilen, zuverlässig Bedrohung der Sowjetunion sah. Eine große Rolle geschützten Grenzen zu Deutschl and, an bin- spielte die ungenügende Informa tion und die denden Auflagen für Deutschland und deren verzerrte Wahrnehmung der jeweils anderen straffe Kontrolle in hohem Maße interessie rt, Seite. so daß sie — als ein Fortbestand der Antihitler- koalition nicht möglich war — die Spaltung 4. Die politischen Kräfte in Deutschland waren nicht Deutschlands und Europas als eine zwar eigentlich die Verursacher, sondern vorrangig schlechtere, aber doch wirksame Va riante der Objekte und später Juniorpartner in dem sich Friedenserhaltung akzeptierten. verschärfenden internationalen Konflikt. Die nach dem Kriegsende entstandene Demarka- — Der Begriff „Kalter Krieg" bezeichnet vor tionslinie zwischen West- und Ostdeutschland, allem die am meisten zugespitzten, gefährlich- damals noch offen, entsprach den Festlegungen sten, hoch explosiven Phasen des Ost-West des „Londoner Protokolls" vom September 1944, Konfliktes. Sie wurden immer wieder zurück aus einer Zeit also, in der an die konkreten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Bedingungen der Nachkriegszeit und an die bei- b) die Konsequenzen aus der Tatsache, daß sich den deutschen Staaten noch nicht zu denken war. im Kalten Krieg auf beiden Seiten stets nicht Ein entscheidender Schritt zur Teilung Deutsch- Einzelstaaten, sondern Staatenbünde gegen- lands und zur Verwandlung jener Trennlinie in überstanden. Man kann nicht den einen deut- eine abgesperrte innerdeutsche Grenze war die schen Staat für seine Treue zu den Verbünde- Haltung der Westmächte zu den Reparationsfor- ten feiern, den anderen aber für den gleichen derungen der Sowjetunion. Tatbestand verurteilen und schmähen.

5. Es ist notwendig, sich über die Faktoren Klarheit c) die Konsequenzen aus der Tatsache, daß der zu verschaffen, die den Kalten Krieg prägten: Kalte Krieg vorrangig ein Propagandakrieg, ein Weltanschauungskrieg, ein psychologi- a) die schroffe, nicht verheimlichte, sondern scher Krieg von beiden Seiten war. deutlich und provokativ hervorgehobene Ge- gensätzlichkeit der politischen, sozialen und 8. Die Existenz von zwei deutschen Staaten war das moralischen Wertvorstellungen, der Gesell- Ergebnis der Nachkriegspolitik der Siegermächte schafts- und Wirtschaftsordnungen auf beiden im Zweiten Weltkrieg und des Kalten Krieges. Die Seiten, Bipolarität Europas fand auf deutschem Boden b) der auf beiden Seiten in gleichem Maße erho- ihre Entsprechung. Beide deutsche Staaten sind bene Anspruch auf Allgemeingültigkeit der zwar legitim, aber nicht selbstbestimmt gegrün- eigenen Position und der entschlossene Wi lle, det worden. Ihre Außen- und Deutschlandpolitik den Anspruch auch durchzusetzen, stand unter mehr oder weniger großem Einfluß der jeweiligen Besatzungsmächte und späteren c) die Existenz einer eigens geschaffenen und Verbündeten. Die politische und wirtschaftliche ständig weiter ausgebauten ökonomischen Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion war und militärischen Machtbasis in Gestalt von jedoch ungleich größer als die der Bundesrepu- Militärblöcken, blik von den USA. Dennoch vermochten beide deutsche Staaten vor allem in den siebziger und d) das extrem ausgeprägte Mißtrauen gegenüber achtziger Jahren gewisse Freiräume für ihre der anderen Seite, jeweilige Deutschlandpolitik zu entwickeln. e) eine nicht abreißende Kette von Aktivitäten 9. Die Deutschlandpolitik der DDR gestaltete sich in zur Durchsetzung des eigenen Anspruchs, die einem Dreiecksverhältnis, das einerseits von den zu einer ständigen Eskalation der gegenseiti- politischen Vorgaben aus Moskau geprägt war gen Bedrohung führte. und andererseits auf die politische und wirtschaft- 6. Zu den Hauptformen, in denen von beiden Seiten liche Entwicklung in der Bundesrepublik rea- der Kalte Krieg geführt wurde, gehörten der gierte. In diesem Spannungsfeld entwickelte die Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen, ununter- SED-Führung im Rahmen des Möglichen eigene Interessenfelder und kreierte im Einvernehmen brochene Hochrüstung und Schaffung stets mit den Verhandlungspartnern in der Bundesre- gefährlicherer Massenvernichtungswaffen, um publik Deutschland schrittweise ein entsprechen- immer ein Gleichgewicht des Schreckens auf stets des Instrumentarium. höherem Niveau aufrechtzuerhalten, eine unge- heure Aufblähung des Propagandaapparates und 10. Ein in einundvierzigjähriger Existenz der deut- der rücksichtslose Einsatz der grenzüberschrei- schen Zweistaatlichkeit erhalten gebliebenes tenden Massenmedien, der Informa tion und Feld deutsch-deutscher Sonderbeziehungen war Desinformation, dazu Sabotage, Spionage, Infil- der seit Oktober 1949 bzw. September 1951 in tration bis hin zum Bandenkampf, was auf beiden vertraglichem Rahmen betriebene innerdeutsche Seiten zur Verschärfung des politischen Straf- Handel. Im Laufe der Zeit wurde die Bundesrepu- rechts führte. Es war ein Krieg an der Grenze zum blik zum zweitgrößten H andelspartner der DDR Heißen Krieg, wobei die Kontrahenten bestrebt nach der Sowjetunion. Dieser Handel vollzog sich waren, diese Grenze nicht zu überschreiten. Es in einem Sonderstatus vor dem Hintergrund der gehört zur Tragik der Geschichte, daß mit dem jeweiligen wirtschaftlichen Integra tion in die Ende des Kalten Krieges Heiße Kriege wieder EWG bzw. den RGW. Für die DDR dominierten an häufiger erfolgen. diesem zoll- und abgabenfreien Warenaustausch ökonomische Interessen, während für die Bundes- 7. Umstände, die sich im Kalten Krieg auf deutschem republik Deutschland in stärkerem Maße politi- Boden besonders auswirkten, deren Ursachen sche Motive und darauf beruhende Embargo- aber ebenfalls nicht selbstgemacht waren, leite- bestimmungen ausschlaggebend waren. ten sich aus historischen und geographischen Bedingungen der Zeit ab. Dazu gehören: So konnte die Bundesrepublik Deutschland den Warenaustausch mit der DDR stets politisch ein- a) die Konsequenzen, die aus der Tatsache setzen, das heißt nach eigenen Vorstellungen erwuchsen, daß das Territorium der DDR von drosseln oder erweitern, ohne dadurch nennens- jeher der ökonomisch schwächere Teil in werten ökonomischen Schaden zu nehmen. Sie Deutschland war, die Hauptlast der Reparatio- konnte aber die volkswirtschaftliche Entwicklung nen für ganz Deutschl and zu leisten hatte und in der DDR erheblich stören. Bei wirtschaft lichen im Wettstreit mit der wohlhabenderen Bun- Einschränkungen bzw. Maßnahmen gegen die desrepublik Deutschland nicht standhalten DDR war es den Verantwortlichen in der Bundes- konnte, republik Deutschland offensichtlich gleichgültig, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

welche Auswirkungen dies auf den konkreten einbarungen ebneten den europäischen Weg Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger der nach Helsinki und schufen die Voraussetzungen DDR hatte. Sie haben bewußt in Kauf genommen, für die Schlußakte der europäischen Konferenz daß die DDR praktisch gezwungen war, weit über Sicherheit und Zusammenarbeit. unterhalb ihrer Kosten Waren in die Bundesrepu- blik Deutschland zu verkaufen. Dabei war klar, 13. Von der KSZE-Schlußakte hätte auch eine Politik daß die Differenz letztlich durch die Bürgerinnen der Öffnung der DDR ausgehen müssen. Stattdes- und Bürger der DDR zu tragen war. Mit den sen entschied das SED-Politbüro, daß insbeson- Embargomaßnahmen gegen die DDR wurde dere der Korb 3 „im Rahmen der bestehenden bewußt auch die Einschränkung des Lebensni- Gesetze der DDR" umgesetzt wird. Es hätte veaus von deren Bürgerinnen und Bürgern ein- jedoch einer Änderung dieser Gesetze bedurft, kalkuliert. Aufgrund dieser Umstände gab es in die ungenügend und zögerlich erfolgte, um der der DDR in der 60er Jahren die Bewegung „Stör- Forderung nach Austausch von Personen und frei machen". Später entstand jedoch wieder eine Informationen adäquat zu entsprechen. Dies hätte zunehmende ökonomische Abhängigkeit der in letzter Konsequenz auch eine Veränderung des DDR von der BRD, weil sie den H andel brauchte, Grenzregimes der DDR erfordert, das von der- urn den technologischen Anschluß nicht zu verlie- Bevölkerung der DDR zunehmend weniger ren. Im Minderheitenvotum von Andrea Lederer, akzeptiert wurde und zu einer ständigen Be- PDS/Linke Liste, zum Bericht des Untersuchungs- lastung der Beziehungen zur Bundesrepublik ausschusses Kommerzielle Koordinierung" sind geworden war. Da auch die übrigen Ostblockstaa- dazu grundsätzliche Ausführungen, worauf hier ten kaum zu einer Korrektur ihrer inneren Ver- verwiesen werden soll. hältnisse bereit waren und außerdem die Carter Administration in der zweiten Hälfte der siebziger 11. Zu Beginn der siebziger Jahre vollzog sich ein Jahre erneut auf Konfrontationskurs ging, wurde nachhaltiger Wandel in den Beziehungen zwi- die Entspannungspolitik wenige Jahre nach Hel- schen der DDR und der BRD. Die sozialliberale sinki in Frage gestellt. Das wirkte sich auch auf Koalition bezog in ihre „neue Ostpolitik" nun das Verhältnis zwischen den beiden deutschen auch die DDR ein und begann, ihr Konzept einer Staaten negativ aus. aktiven Deutschlandpolitik auch in Vertragsver- handlungen umzusetzen. Die Maximalforderun- 14. Die Struktur der deutsch-deutschen Beziehungen gen beider Seiten erwiesen sich als nicht durch- in den achtziger Jahren war im Vergleich zu den setzbar und wurden zum Hindernis aktiver Poli- Jahren davor Änderungen unterworfen. Im Mit- tik. In Bonn nahm die Brandt/Scheel-Regierung telpunkt standen die offiziellen Besuche von Hel- vom Alleinvertretungsanspruch der Hallstein mut Schmidt Ende 1981 und von E rich Honecker Doktrin Abschied, ohne das „Wiedervereini- im September 1987. Sie wurden durch Gespräche gungsgebot", welches im Grunde genommen als weiterer Politiker beider Staaten sowie den Aus- bloßer Anschluß der DDR begriffen wurde, aus bau des deutsch-deutschen Vertragssystems er- der Präambel des Grundgesetzes aufzugeben. gänzt. In Übereinstimmung damit führten DDR Honecker modifizierte die von seinem Vorgänger Unterhändler (Schalck, Vogel) zahlreiche infor- Ulbricht vertretene Position, die die volle völker- melle Gespräche mit offiziellen bundesdeutschen rechtliche Anerkennung der DDR als Vorausset- Politikern (Strauß, Schäuble), die zu für die DDR zung für deutsch-deutsche Verhandlungen mar- wichtigen kommerziellen Vereinbarungen führ- kiert hatte. Das wichtigste Ergebnis dieser von ten. Die deutschlandpolitischen Aktivitäten der beiden Seiten eingeschlagenen Politik war der SED wurden durch den Ausbau ihrer Parteibezie- Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik hungen, insbesondere zur oppositionellen SPD, Deutschland und der DDR vom 21. Dezember ergänzt. Bei den Kontakten zur Bundesrepublik 1972, der die Kondidationen für weitere vertrag- Deutschland auf den verschiedensten Ebenen liche Vereinbarungen fixierte und dessen Wirk- geriet die DDR jedoch seit 1987 immer mehr in die samkeit den völkerrechtlichen Status der DDR politische Defensive, die ihrerseits die sich seit voraussetzte, ohne diesen in vollem Umfange Anfang der achtziger Jahre entwickelnde ökono- anzuerkennen (Staatsbürgerschaftsfrage, gegen- mische Abhängigkeit weiter verschärfte. seitiger Vertretungsstatus). Die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO war auch eine Folge 15. Trotz aller Widersprüche und Probleme gingen der deutsch-deutschen Vertragspolitik. beide deutsche Staaten auch noch Ende der achtziger Jahre von einem längeren Zeitraum 12. Grundlagenvertrag und andere deutsch-deutsche deutscher Zweistaatlichkeit aus. Für mancherorts Vereinbarungen waren Bestandteil einer europäi- behauptete offizielle Geheimverhandlungen zu schen Entspannungspolitik, die mit dem Mos- einer deutschen Konföderation hinter dem Rük- kauer Vertrag zwischen der UdSSR und der Bun- ken der jeweiligen Verbündeten fehlt bisher jeder desrepublik Deutschland im August 1970 einge- Beleg. Sowohl Bundesregierung als auch Oppo- leitet worden war. Der deutsch-polnische Vertrag sition setzten auf deutsch-deutsche politische vom Dezember 1970 und das Vier-Mächte- Gespräche und auf Fortschritte in kleinen Schrit- Abkommen vom 3. September 1971 waren die ten. Sie sahen zur Politik des Dialogs mit der nächsten Schritte auf dem Wege zu einer europäi- DDR-Führung keine sinnvolle Alte rnative und schen Sicherheitskonferenz, zu der auch der betrachteten deshalb die Kontaktaufnahme zur Grundlagenvertrag und das Abkommen zwi- oppositionellen Bürgerbewegung und auch zu schen der Bundesrepublik Deutschl and und der reformbereiten Politikern in Verantwortung als CSSR vom Dezember 1973 gehörten. Diese Ver hinderlich. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

111. Die SED und Ursachen des Scheiterns ihres Sozialismusversuches

A. Die SED als Kern 4. Die Schaffung einer Partei neuen Typs sowie die des politischen Systems Durchsetzung deren Führungsrolle in allen gesellschaftlichen Bereichen bildete im „marxi- stisch-leninistischen" Politikverständnis die ent- 1. Wenn die Entwicklung und die Resultate von scheidende Voraussetzung für den erfolgreichen 41 Jahren DDR ambivalent und differenziert zu Aufbau des Sozialismus, also die zentralistische sehen sind, wie sich das auch in den Anhörungen Steuerung von Staat und Wirtschaft. So ernannte der Enquete-Kommission widerspiegelte, so muß sich die SED seit ihrer Gründung selbst zum dies auch Konsequenzen für die Beurteilung jener Hegemon für die schrittweise Umformung des Partei haben, welche die Hauptverantwortung für politisch-gesellschaftlichen Systems, das sich in die politische, soziale und kulturelle Ausprägung Aufbau und Struktur am sowje tischen Gesell- der DDR, für ihren Aufstieg und Untergang schaftsmodell orientierte, wenngleich durchaus trägt. Da dieser Partei rund ein Fünftel der voll- nicht alle für die Sowjetgesellschaft typischen jährigen DDR-Bevölkerung angehörte, war sie Strukturen und Vorgehensweisen auf die DDR nicht nur durch Führungs- und Leitungsstruk- übertragen wurden. turen allgegenwärtig, sondern auch über ihre Mitglieder in allen Bereichen des gesellschaft- 5. Der seit ihrer Gründung proklamierte Führungs- lichen Lebens präsent. Sie existierte also nicht anspruch der SED schien zunächst vor dem Hin- nur oberhalb, sondern auch innerhalb der Gesell- tergrund der nationalsozialistischen Schreckens- schaft. herrschaft und der Opfer von Kommunistinnen, Kommunisten und Sozialdemokratinnen und So- 2. In der SED wirkte nahezu in der gesamten Zeit zialdemokraten im Kampf gegen die Naziherr- ihres Bestehens der Widerspruch, daß sie einer- schaft moralisch und nach den ersten Nachkriegs- seits eine Massenpartei war, andererseits als wahlen in der sowjetischen Zone im Herbst 1946 Kaderpartei neuen Typs, orientiert am Parteimo- auch parlamentarisch sowie als mitgliederstärk- dell der KPdSU (B), agierte. Dies verlieh dieser ste Partei legitimiert. Doch wurde dieser Füh- Partei eine Art Doppelcharakter. Sie war Instru- rungsanspruch gegenüber allen anderen Parteien ment der Führung und Disziplinierung der Gesell- und gesellschaftlichen Organisationen und auch schaft, das wichtigste Element im politischen gegenüber dem Staat zunehmend autoritärer System der DDR, mit dem die Weisungen der erhoben und in der Folgezeit mit institutionellen Parteiführung durchgesetzt wurden. Sie war aber Mitteln abgesichert, weil er auf Dauer auf demo- zugleich immer eine über ihre Mitglieder und kratisch-parlamentarische Weise nicht durchsetz- Funktionäre in der Bevölkerung wirkende politi- bar erschien. Von der Erringung parlamentari- sche Kraft. Hätte die Mehrheit der Mitgliedschaft scher Mehrheiten war seit 1947/48 nicht mehr die der SED die Grundanliegen der DDR-Bevölke- Rede. rung am Ende nicht geteilt, wäre ein f riedlicher In der weiteren Entwicklung wurde der Führungs- Verlauf der Wende des Jahres 1989/90 ausge- anspruch zu einer pseudowissenschaftlichen schlossen gewesen. Rechtfertigung des Machtanspruchs einer klei- nen, von der Masse der Arbeiterklasse, der Be- 3. Die SED — so wie sie 1946 durch die „Vereini- völkerungsmehrheit und auch von der Partei- gung" von KPD und SPD der sowjetischen Besat- mitgliedschaft abgehobenen, selbstherrlichen, zungszone entstand — trug zunächst Züge einer der KPdSU-Führung treu ergebenen Führungs- linken sozialistischen Partei, in der mit ein starker schicht. Einfluß kommunistischer Kräfte in der Führung zu erkennen war. Indem die SED bedeutende Mit- 6. Durch den im Ergebnis des allseitigen Hegemo- gliederpotentiale traditioneller deutscher Arbei- nieanspruchs der SED aufgeblähten Parteiappa- terparteien zusammenführte, konnte sie struktu- rat wurden auf der Grundlage der Beschlüsse des rell keine kommunistische Kaderpartei im tradi- Politbüros bzw. des Sekretariats des ZK fast alle tionellen Sinne sein. Sie war ebenso keine sozial- politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ent- demokratische Partei, wie sie vor 1933 oder vor scheidungen, die auf Kreis- und Ortsebene mitun- 1914 bestanden hatte. Das erklärte Selbstver- ter auch Banalitäten einschlossen, vorbereitet und ständnis als sozialistische Massenpartei sowie ihre Durchführung kontrolliert. Staatliche Ein- sozialdemokratische Traditionen wirkten zu- richtungen in Industrie, Wissenschaft und Kultur nächst als Korrektiv gegenüber stalinistischen hatten diese Beschlüsse umzusetzen. Dem steht Einflüssen und Praktiken. Dennoch hafteten der gegenüber, daß die von derar tigen Beschlüssen SED von Anbeginn stalinistische Charakterzüge betroffenen staatlichen, wi rtschaftlichen und kul- an, die 1946 in Ansätzen existierten und sich mit turellen Institutionen und Organisationen in der der Wandlung zur Partei neuen Typus zu allge- Regel an deren Vorbereitung beteiligt waren, daß meinen Wesenszügen verfestigten. nicht selten von ihnen die Ini tiative ausging, Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

wobei am Ende Initiative und Beschlußlage fast ben — auch für Machtkämpfe innerhalb der nie übereinstimmten. Führung instrumentalisierbare — Säuberungen und Vertreibungen von Mitgliedern, die teilweise 7. In der SED entwickelte sich eine s treng hierarchi- auch in Strafverfolgungen und Verurteilungen sche Struktur. Der Leninismus bzw. dessen Stalin- einmündeten, im wesentlichen auf die Hoch-Zeit sche Interpretation als der Marxismus der Gegen- des Kalten Krieges der 50er und 60er Jahre wart wurde als in sich geschlossenes, über ein beschränkt. straffes Schulungssystem vermitteltes Gedanken- gebäude zur Richtschnur politischen Handelns 10. Es sollte zu denken geben, daß die hier beschrie- der Mitglieder. Die Kommunikation zwischen den benen Negativa der SED den Mitgliederzustrom verschiedenen Ebenen der Partei wurde zuneh- zu dieser Partei nie abreißen ließen. Fast zu allen mend eingeschränkt. Der engere Führungskreis, Zeiten überstieg die Zahl der Bewerberinnen und dem nur wenige Personen angehörten, verfügte Bewerber die Zahl der tatsächlichen Aufnahmen. über das Entscheidungs- und Informationsmono- Da mögen Karrieremuster eine Rolle gespielt pol. Die Abhebung des hauptamtlichen, durch haben, eine hinreichende Erklärung liefern sie - kaderpolitische Maßnahmen gesteuerten Funk- nicht. Vielmehr hatten viele zur aktiven Teil- tionärskörpers von der Mitgliedschaft war eine nahme am gesellschaftlichen Leben bereite Men- Folge des zum verbindlichen Organisationsprin- schen die Überzeugung verinnerlicht, daß sie zip erklärten „demokratischen Zentralismus „ . Verantwortung für die versuchte Alterna tive zum Die Mitglieder hatten der „kollektiven Weisheit" Kapitalismus nur mit und in der SED wirkungsvoll der Führungsspitze zu vertrauen und das zu wahrnehmen konnten. Darin sahen sie sich in legitimieren und umzusetzen, was in der engeren vielen Resultaten der historischen Entwicklung Führung beschlossen wurde. Parteitage hatten unseres Jahrhunderts bestätigt. Erst die offen lediglich zu bestätigen, was in Politbüro und zutage tretenden Krisenerscheinungen des „so- Sekretariat festgelegt, allerdings nicht allein von zialistischen Weltsystems" im allgemeinen und ihnen ausgearbeitet worden war. Damit ist jedoch der DDR im besonderen ließen in der Mitglied- noch nichts über die Berechtigung oder Zweck- schaft in breiterem Umfange die Zweifel an der mäßigkeit derart zustande gekommener Be- Erfolgsträchtigkeit dieser Art von Sozialismus und schlüsse gesagt, die nur in konkreter Analyse an der Partei selbst wachsen. von Fall zu Fall ausgewogen bewe rtet werden 11. Spätestens seit 1986 hatten innerhalb der SED können. Den Organisationen der Parteibasis Mitgliedschaft die Unzuf riedenheit, die Kritik und blieben nur im Rahmen dieser generellen Me- schließlich sogar die Ablehnung des Politbüros chanismen Spielräume für Eigeninitiative und und seiner konzeptionslosen Politik zugenom- für die Wahrnehmung von Interessen der Werk- men. Das in der SED zu Widerspruch und Verän- tätigen ihrer Betriebe und Institutionen bzw. der derungen fähige Potential hat trotz dieser für Bürgerinnen und Bürger ihrer Territorien, was sie einen Bruch mit der herrschenden Politik nun- allerdings häufig zum allgemeinen Nutzen und mehr günstigeren Bedingungen versagt. Es ist mit hohem Einsatz für das Gemeininteresse getan den Herrschenden in der DDR gelungen, dieses haben. ständig wachsende innerparteiliche Potential unterhalb der Schwelle wirksamer, politisch ein- 8. Die Einheit und Geschlossenheit der Partei wurde greifender Proteste oder organisierter innerpar- zum quasi-religiösen Prinzip kultiviert, an dem teilicher Opposition zu binden oder auszugren- das Handeln jedes Mitglieds gemessen wurde. zen. Insofern waren bis zum Herbst 1989 die Diesem obersten Grundsatz folgend wurde jegli- bewährten Methoden der Disziplinierung und cher Ansatz einer innerparteilichen Opposi tion Eindämmung erfolgreich, ohne daß zu dieser Zeit bekämpft und ausgeschaltet. Fraktionsbildung noch eine innerparteiliche Befriedung erreicht galt als schweres Vergehen gegen die Parteidis- wurde. ziplin und wurde in der Regel mit Ausschluß bestraft, was die Profilierung und organisatori- 12. Die Tatsache, daß die Mehrheit der Mitglieder sche Vernetzung politischer und personeller zwar noch zu disziplinieren, aber bei einer offe- Alternativen verhinderte. nen Krise nicht mehr für die Verteidigung der alten Politik und erstarrter Strukturen mobilisier 9. Es charakterisiert die SED, daß es ab 1948 keinen bar war, schränkte die Manövrierfähigkeit der offenen Zugang zu dieser Partei, generell nur Parteiführung erheblich ein und beeinflußte die einen gesteuerten Wachstumsprozeß und zeitwei- Auseinandersetzungen des Jahres 1989 und lig nicht einmal freien Austritt gab. Vielmehr deren Formen nachhaltig. Der Zusammenbruch wurde die Zusammensetzung der Partei durch der SED-Herrschaft war jedoch weder die Folge Anforderung von Bürgschaften, durch eine Kan- einer Palastrevolution im Politbüro, noch war didatenzeit, durch zeitweise Aufnahmesperren er primär durch das Handeln der Parteibasis für bestimmte soziale Gruppen und durch kader- bestimmt, obwohl deren Aktivitäten besonders ab politische Maßnahmen gesteuert. Eine Partei- November 1989 spürbar zunahmen, was für den überprüfung und später die Kampagnen zum Transformationsprozeß hin zur PDS nachhaltige Umtausch der Mitgliedsbücher ermöglichten die Bedeutung erlangen sollte. Der Zusammenbruch Aussonderung unbequemer Mitglieder, die der der DDR war — soweit er auf subjektives Versa- Generallinie der Führung im Wege standen bzw. gen zurückzuführen ist — der krasse Ausdruck die Disziplinierung der Mitgliedschaft. Doch blie einer über jede Grenze hinausgetriebenen Behar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

rung auf alten Politikmustern und der Unfähig- waren andererseits aber auch Faktoren zur Durch- keit, Symptome und Ursachen einer gesellschafts- setzung der führenden Rolle der SED im demokra- politischen Krise sowie veränderte außen- und tischen Block, seiner schrittweisen Umgestaltung innenpolitische Handlungsspielräume richtig ein- in ein Vollzugsorgan der SED. Das war ein Ent- zuschätzen und neue Wege der Konfliktaustra- wicklungsprozeß, der mit einer den Führungsan- gung und Konsensfindung mit der noch immer die spruch der SED anerkennenden Positionierung der DDR grundsätzlich bejahenden Bevölkerungs- DBD und der NDPD einsetzte, mit den Entschlie- mehrheit zu beschreiten. Der alten Führung stand ßungen des 3. FDGB-Kongresses seine Fortsetzung weder die Möglichkeit einer Beschwichtigung fand und in den Beschlüssen der Führungsgremien noch die einer gewaltsamen militärischen Lösung von CDUD und LDPD 1952/53 zur Anerkennung der Krise, die auch von niemandem nachweisbar der führenden Rolle der SED und dem Bekenntnis angestrebt wurde, zur Verfügung. zum Aufbau des Sozialismus in der DDR kulmi- nierte. Diese Blockparteien vermochten ihre Iden- 13. Für kurze Zeit ging das Gesetz des Handelns tität nur noch in peripheren Fragen zu artikulieren. teilweise an oppositionelle Kräfte außerhalb der Anfängliche Möglichkeiten und Chancen wurden SED über. An erster Stelle sind die nunmehr vertan, ein über das Staats- und Parteienmodell massiv außerhalb der SED zunehmenden Prote- der UdSSR hinausgreifendes, neuartiges demo- ste, an denen auch zahlreiche innerhalb ihrer kratisches, den sozialökonomischen Verhältnissen Partei blockierte SED-Mitglieder teilnahmen, zu der DDR entsprechendes Mehrparteiensystem zu nennen. In ihrer historischen Wirkung rangieren schaffen. sie noch weit vor den Massenausreisen. Der basisdemokratische Impuls dieser Bewegung, der 2. In den folgenden Jahrzehnten war die Haltung der beträchtliche Hoffnungen erweckte, wurde in mit der SED zusammenwirkenden nichtkommuni- dem Moment chancenlos, als sich die Bonner stischen „befreundeten" Parteien, ihre Ro lle in den Regierung und auch alle übrigen Bundestagspar- Staatsorganen der DDR sowie in den leitenden teien, Forderungen der „Straße" instrumentalisie- Gremien der Nationalen Front wesentlich durch rend, in die inneren Verhältnisse der DDR offen die bewußte Unterstützung der Politik der SED einzumischen begannen und die Weichen in Rich- — mit dem Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit der tung Anschluß nach Artikel 23 Grundgesetz stell- DDR, zum sozialistischen Aufbau und zur Siche- ten. Es zeigte sich sehr rasch, daß nicht nur rung des Friedens — bestimmt gewesen. Sie wurde innerhalb, sondern auch außerhalb der SED Kon- mitgetragen von zahlreichen Mitgliedern und zepte und Organisationsstrukturen fehlten, um Funktionären dieser Parteien, auch von solchen, eine souveräne DDR aus der Krise herauszufüh- die heute als Mitglieder der im Bund oder in den ren und einen demokratischen Sozialismus zu Ländern regierenden Parteien die Funktionen von verwirklichen. Abgeordneten oder Amtsträgern der Exekutive ausüben. Ungezählte Mitglieder dieser Parteien 14. Die PDS hat ein kritisches Verhältnis zur SED, zu haben nicht nur die Möglichkeiten und Chancen deren Rolle, Struktur, Theo rie und Praxis, zu ihren genutzt, um für sich eine neue Existenz und einen Leistungen und zu ihrem Versagen. So wenig die gesicherten Lebensstandard in LPG, in PGH, in PDS ihre Ursprünge verleugnet, so sehr hat sie privaten Betrieben mit staatlicher Beteiligung und sich in Programm und Statut von stalinistischen im Kommissionshandel zu gewährleisten, sie Verbrechen und Strukturen distanziert und haben engagiert auch andere Bürger bewogen, begangenes Unrecht, das von der SED zu verant- ihrem Beispiel zu folgen. worten ist, verurteilt. Sie hat sich auf Parteitagen und Geschichtskonferenzen, in Publikationen Ihre enge Bindung an die Politik der SED und der und zahllosen Versammlungen ihrer Mitglieder Regierung der DDR machte sie in den Augen vieler damit auseinandergesetzt. Bürger letztlich zu bloßen Befehlsempfänge rn. Das brachte sie in Zwiespalt zu ihren Mitgliedern und führte zu zahlreichen Auseinandersetzungen. Ge- gen Ende der achtziger Jahre gerieten die Block- parteien immer mehr in ein Spannungsverhältnis B. Führungsanspruch der SED zwischen ihrer Rolle im politischen System der gegenüber anderen Parteien und DDR und den Interessen und Erwartungen ihrer Organisationen Mitglieder.

1. Die Entwicklung der SED zu einer am Parteiver- 3. Aus diesem wachsenden Spannungsverhältnis ständnis und der politisch-organisatorischen Pra xis heraus und vor dem Hintergrund der tiefgehenden der KPdSU(B) orientierten „Partei neuen Typus" Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Kultur schloß einen Anspruch auf Vorherrschaft über der DDR 1989/90 erfolgte schließlich eine völlige andere Parteien und Organisationen ein. Die Bil- Umgestaltung des Parteiensystems in der DDR und dung der DBD und der NDPD 1948, die Einbezie- die Auflösung des Demokratischen Blocks. Durch hung des FDGB in den Demokratischen Block, die Veränderungen der Verfassung und Rechtsord- Beteiligung aller Parteien und Organisationen an nung der DDR, durch ein in neuen Programmen der Regierung und dem Parlament der DDR sowie und Statuten verankertes grundlegend gewandel- das Entstehen der Nationalen Front dienten einer- tes Selbstverständnis aller Parteien — einschließ- seits der Verbreiterung der politischen Grundlagen lich der SED —, durch personelle Umbesetzung des Staates und des Parteiensystems der DDR. Sie aller zentralen politischen Gremien der DDR — vor Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

allem im Gefolge des Rücktritts E rich Honeckers, Das schloß einerseits soziale Zugeständnisse dann des Politbüros und des ZK der SED — löste selbst dann ein, wenn sie die volkswirtschaftli- sich das Parteiensystem der DDR auf, beendete der chen Möglichkeiten überforderten, und veran- Block seine Tätigkeit. Dies war jedoch zunächst kerte andererseits die Furcht vor einem Nach- keine Verabschiedung der traditionellen Parteien lassen der ideologischen, administrativen und der DDR von der sozialistischen Orientierung und repressiven Kontrolle des Volkes dauerhaft. der Vorstellung, im Rahmen eines eigenen Staates 3. Die Stabilisierung der DDR um den Preis des einen selbstbestimmten Weg in eine demokrati- Mauerbaus eröffnete Spielräume, in deren Rah- sche und sozial gerechte Gesellschaft zu gehen. men 1962 und besonders 1963 ein in der Ökono- 4. An der ersten Beratung des „Runden Tisches" in mie begonnener Reformversuch einsetzte, der Berlin im Dezember 1989 beteiligten sich zwölf zeitweise weitreichende Erwartungen auslöste Parteien und Gruppierungen. Dies war die — bald und eine DDR-Identität begüns tigte. Allerdings durch einige Fusionen modifizierte — Ausgangs- steckte Osteuropa trotz außenpolitischer und wis lage, als die Bundestagsparteien, den Wunsch des senschaftlicher Erfolge zu Beginn der sechziger „Runden Tisches" nach Nichteinmischung in die Jahre in einer wirtschaftlichen Krise, und der- Märzwahlen des Jahres 1990 mißachtend, in der RGW vermochte sich nicht auf die Herausforde- DDR selbst zu wirken begannen. Es begann eine rungen der neuen wissenschaftlich-technischen Eingliederung neuprofilierter früherer Blockpar- Revolution einzustellen. Die SED-Führung fand teien und der meisten in der Wendezeit entstande- halbherzigen Mut, Ursachen in der eigenen über- nen Gruppierungen in das Parteiensystem der zogenen zentralistischen und starren Kommando- BRD, wodurch der basisdemokratische Impuls der struktur festzumachen. M an besann sich auf den DDR-Gesellschaft des Jahres 1989/90 und die Vorrang der ökonomischen Aufgaben. Orientierung auf eine Alte rnative zum Kapitalis- 4. „Was für die Gesellschaft nutzbringend ist, muß mus paralysiert werden sollte und auch weitge- auch jedem Betrieb nützlich sein, und umgekehrt, hend paralysiert wurde. was nicht vorteilhaft für die Gesellschaft ist, muß äußerst unvorteilhaft für die Belegschaft eines Betriebes sein." Diese Formel des sowje tischen Ökonomen Liberman erwies sich als Initialzünder C. Zu Möglichkeiten und Grenzen. von für die Reformen in Osteuropa. In der DDR wur- Reformversuchen und zu Ursachen den sie 1962/63 ausgearbeitet, mit Experten sowie des Scheiterns des Sozialismus teilweise mit der Bevölkerung diskutiert und an- satzweise verwirklicht. Allein in der DDR, der CSSR und in der VR Ungarn wurde dieser dama- 1. Einem parallel zu anderen Ländern des späteren lige Reformansatz vorangetrieben, während an- Realsozialismus zunächst propagierten „beson- dere Versuche, einschließlich der sowje tischen, deren deutschen Weg zum Sozialismus" wurde rasch versandeten. Zunehmend wurde begriffen, bereits mit den schroffen Polarisationen des Kal- daß es sich nicht nur um die Überwindung einiger ten Krieges und der damit verbundenen Gleich- Fehler eines sonst richtigen Modells h andelte, schaltung Osteuropas auf das sowjetische Sozia- sondern daß generell eine neue Situa tion der lismusmodell der Boden entzogen. Erst der Produktivkräfte die Wirtschaften in Ost wie West XX. KPdSU-Parteitag 1956 eröffnete die Chance herausforderte — die wissenschaftlich-technische für eine Korrektur des „Realsozialismus", eine Revolution. Hierin lagen Anforderungen und Möglichkeit, das von Stalin geprägte repressive, potentielle Chance dieses Reformversuches. administrativ-zentralistische Sozialismusmodell zu überwinden und den Sozialismus demokra- 5. Die DDR-Reformversuche blieben letztendlich tisch zu erneuern. Praktische Folge der sowjeti- auf die Wirtschaft beschränkt. Es war eine Locke- schen Entstalinisierung war aber zunächst nur die rung der ideologischen Bevormundung sowie das Aufhebung von Repressionen und die teilweise, Entstehen neuer politischer Verhaltensweisen zu schamhafte Rehabilitierung von Opfern, auch in beobachten, und man wollte zumindest in der der DDR. Das Jahr 1956 brachte zwar Lockerun- ersten Phase der Reform eine Stärkung demokra- gen in der politischen Atmosphäre, es kam zu tischer Mechanismen. Im Dezember 1965 mar- Auseinandersetzungen in der Parteiführung, zu kierte jedoch die 11. Tagung des ZK einen ver- Unruhen unter der Intelligenz und zu Reform- hängnisvollen Einschnitt in den Reformkurs und ideen, aber die SED-Führung zeigte — nicht die Wiederherstellung der ideologischen wie poli- zuletzt unter dem Eindruck der Ungarn-Ereig- tischen Disziplinierung durch die SED-Führung. nisse — fast ausnahmslos keine Bereitschaft Damit war vorentschieden, daß die „DDR- zu einer durchgreifenden Entstalinisierung und Reform" nicht grundsätzlich mit dem sowjeti- Reform. schen Modell brechen wollte. Die SED blieb bei einer autoritären „Demokratie", das Zentrum des 2. Das Handeln der SED-Führung war bis zu ihrem politischen Systems wurde nicht angetastet — die Sturz durch die Erfahrung des 17. Juni 1953 administrativ durchgesetzte führende Rolle der geprägt. Diese Ereignisse wirkten auf sie als Partei, die Allmacht des Politbüros und des jewei- „Lernschock", alles zu tun, um künftige, aus ligen Generalsekretärs. sozialen Spannungen und Konflikten erwach- sende Massenbewegungen gegen ihre Politik zu 6. Im Kern zielte das Neue Ökonomische System verhindern. (NOS) auf das Verbinden von Plan, ökonomischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Hebeln und Markt ab. Auf der Ebene der Betriebe vielmehr unumgänglich, die komplexe Wirkung sollten Gewinn und Rentabilität entscheidende einer Vielzahl von objektiven und subjektiven, Kriterien werden, ein realis tisches Industriepreis- inneren und äußeren, internationalen und natio- system sollte Leistungen vergleichbar machen, nalen, ökonomischen, politischen und geistig leistungsbezogene Entlohnung und Prämierung kulturellen, historischen und aktuellen Faktoren sollte die Werktätigen zu neuen Arbeitstaten zu analysieren und zu berücksichtigen. Das beflügeln. Im Unterschied zu den Prager Refor- schließt nicht aus, wesentliche, bestimmende, men von 1968 sollte der Markt zwar keine zentrale allgemeine, übergreifende Ursachen oder Bedin- Bedeutung erhalten, wohl aber die staatliche gungen bestimmter Erscheinungen herauszuhe- Planung wesentlich ergänzen. Insgesamt blieb sie ben. Jede derartige Isolierung muß sich allerdings aber eine Reform „von oben", die bei allen ihres spezifischen Gesichtspunktes und damit zeitweiligen theoretischen Verstößen dem sowje- ihrer Relativität bewußt sein. tischen Grundmodell verhaftet blieb. Es erwies 10. Als wesentliche, viele andere Faktoren bedin- sich als verhängnisvoll, daß in der Verantwortung gende, objektive und gesellschaftliche Ursache ist von Erich Honecker und Günter Mittag diese das Unvermögen der bisher existierenden soziali-- Reformversuche in der Wirtschaft eingestellt wur- stischen Systeme anzusehen, in der zur Verfü- den. gung stehenden Zeit und trotz einer von der 7. Die Reformversuche waren in den internationalen kapitalistischen Umwelt bewußt betriebenen öko- Kontext eingebettet. Die Furcht vor der Bundes- nomischen Isolierung die eigene wi rtschaftliche republik Deutschland war trotz der „neuen Ost- Basis so zu gestalten, daß die den sozialistischen politik" nicht gewichen. Die politische Führung Idealen entsprechenden Ziele der sozialen und wie auch Teile der Bevölkerung verstanden die kulturellen Entwicklung verwirklicht und eine DDR als Gegenmodell, sahen sich vom Westen Lebensweise ausgebildet wird, die den in entwik- isoliert und bedroht. Mit ihren Fortschritten kelten kapitalistischen Industrieländern für die konnte die DDR erstmals im Westen ein Staunen Mehrheit der Werktätigen erreichte Lebensquali- über das „Wirtschaftswunder DDR" auslösen. Die tät einschließt. Es ist nicht gelungen, im volkswirt- eigene Hegemonialmacht Sowjetunion stand schaftlichen Maßstab eine auf sozialistischen nach dem Sturz Chruschtschows Reformen Triebkräften beruhende, mit der Natur verträgli- distanziert gegenüber und wachte über ihre Vor- che höhere Arbeitsproduktivität als im Kapitalis- herrschaft, die in der DDR durch den Anspruch, mus zu erreichen. Der Mangel an Effektivität galt etwas Eigenes zu schaffen, in Zweifel gezogen praktisch für alle gesellschaftlichen Verhält- schien. Dazu kam die Haßliebe gegenüber der nisse. Sozialdemokratie, die zwar als Bündnispartner 11. Eine entscheidende Ursache für diesen Mangel ist umworben war, die aber ob ihrer historischen darin zu sehen, daß der historische Weg dieses Verwandtschaft und eines anderen Blicks auf Sozialismus Bewegungsformen, Mechanismen sozialistische Ideale vor allem als Gefahr begriffen und Strukturen der gesellschaftlichen Praxis bzw. wurde. Denk- und Verhaltensweisen hervorgebracht hat, 8.rvention Mit in der der CSSR militärischen Inte die die Entwicklung dieser Gesellschaften in war wohl die letzte große Möglichkeit der Ref or- zunehmendem Maße behindert und schließlich mierbarkeit des „Realsozialismus" sowje tischer ihre Fortexistenz unmöglich gemacht haben. Die Prägung besiegelt. Die Führung konnte aus ihrem unter den gegebenen historischen Bedingungen eingeschränkten Weltbild nicht ausbrechen und praktizierten Mittel, Formen und Methoden begriff nicht die Lebensnotwendigkeit der Demo- gesellschaftlicher Entwicklung gerieten mit den kratisierung einer Gesellschaft, die für den Men- aus der eigenen historischen Tradi tion und Iden- schen da sein wollte und durch ihn gestaltet tität erwachsenden Zielen sowie den aus der werden mußte. Es gab danach nie wieder eine internationalen Situation abgeleiteten Erforder- solche Chance. Weil der überfällige Modellwech- nissen der Existenzsicherung und Selbstbehaup- sel ausblieb, kam es zum Wechsel des Systems. tung in einen letztlich nicht zu lösenden Konflikt. Gleichwohl werden die im Nega tiven wie im Dies führte zu erheblichen Defiziten an Demokra- Positiven gewonnenen Erfahrungen in der DDR tie und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung immer wieder mit zu Rate gezogen werden müs- der Individuen. sen, wenn über Alternativen zum real existieren- 12. Eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammen- den Kapitalismus nachgedacht wird. bruch dieser sozialistischen Gesellschaften ist 9. Eine begründete Antwort auf die Frage nach den weder zu finden, wenn der Blick ausschließlich Ursachen des Scheiterns der wesentlich am auf die inneren Entwicklungsprobleme des Sozia- Modell der Oktoberrevolution orientierten sozia- lismus gelenkt wird, noch wenn er auf die Ro lle listischen Gesellschaften läßt sich unmöglich fin- der sozialökonomischen oder ideologischen Ge- den, wenn diese nur im Bereich des Subjektiven, gensätze zwischen Kapitalismus und Sozialismus in der Politik der DDR und der SED gesucht beschränkt bleibt. Erforderlich ist darüber hinaus werden, wie dies — soweit es überhaupt ernst- die Berücksichtigung globaler bzw. allgemein- hafte Versuche in dieser Richtung gegeben hat — zivilisatorischer Prozesse und Zusammenhänge in der Enquete-Kommission geschehen ist. Es ist dieses Jahrhunderts. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

IV. Zum Diktaturenvergleich von NS-Regime und SED-Staat

1. Die Enquete-Kommission hat dem auf das NS- erkennen läßt. Erst recht gilt das für Diktaturen Regime und die DDR begrenzten Diktaturvergleich staatssozialistischer Prägung. Auch diese waren breiten Raum gewidmet, historische Linien, die von untereinander wieder sehr verschieden. Es wäre der NS-Zeit in die Bundesrepublik führen, aber einfach ahistorisch, würden zum Beispiel die bewußt ausgeklammert. Für den Vergleich NS Unterschiede der staatssozialistischen Diktatur in Regime und DDR spricht scheinbar die Tatsache, Ungarn in den sechziger, siebziger und achtziger daß zwei Diktaturen innerhalb der historisch relativ Jahren zu denen in Albanien und Nordkorea nicht kurzen Frist von sechs Jahrzehnten in Deutschland gesehen. Und auch die staatssozialistische Diktatur- entstanden und der Umstand, daß alle Diktaturen in der DDR unterschied sich erheblich von jenen in in gewisser Hinsicht Ähnlichkeit aufweisen. Natür- Nordkorea und Albanien, aber selbst von jener in lich ist bekannt, daß Vergleichen nicht Gleichset- der UdSSR. Das lag unter anderem daran, daß zen bedeutet. Es ist aber offenkundig, daß ein demokratische Traditionen der europäischen Ar- solcher, von manchen absichtsvoll aufgestellter beiterbewegung fortwirkten, daß an parlamenta- Vergleich in erster Linie auf eine völlig ungerecht- rische Gepflogenheiten Deutschlands vor 1933 fertigte Diskreditierung und Verunglimpfung des angeknüpft wurde und die geographische Lage der Systems und des Lebens in der DDR zielt. Aller- DDR sowie der ständige Wettbewerb mit der Bun- dings ist das nicht einmal das Hauptmotiv für die desrepublik Deutschland zu anderen Konsequen- Zurückweisung dieser Herangehensweise. Ent- zen zwangen. scheidend ist, daß eine solche A rt vergleichender Betrachtung darauf hinausläuft, die Verbrechen 4. Beim Diktaturvergleich zwischen dem NS-Regime des NS-Regimes zu bagatellisieren. Die Erfahrun- und der DDR spielt die sogenannte Totalitarismus- gen mit der DDR sind aktuell und tief im Denken Auffassung eine vordergründige Rolle. Danach und Fühlen der Menschen — nicht nur in den werden jene politischen Systeme des 20. Jahrhun- neuen Bundesländern — verankert, während das derts als totalitär und hinsichtlich ihrer diktatori- NS-Regime ein halbes Jahrhundert und länger schen Herrschaftsstrukturen und -praktiken als zurückliegt. Der immer wieder mit dem Ziel der wesensverwandt bezeichnet, die auf straffem Zen- zumindest partiellen Gleichsetzung vollzogene tralismus, auf Ausschaltung und Verfolgung jeder Vergleich zwischen der DDR und dem NS-Regime Opposition beruhen und mit Repressionen aller Art muß daher im Bewußtsein vieler Menschen in sowie Indoktrination die Bevölkerung gefügig zu Deutschland zu dem Eindruck führen, daß das machen versuchen. Abgesehen davon, daß diese NS-Regime auch nicht wesentlich „schlimmer" Aussagen keineswegs vollständig sind und die gewesen sein kann als die DDR. Um eine solche Realitäten in der DDR unzutreffend charakterisie- Geschichtsfälschung und Trübung des Bewußt- ren, gilt hier das oben Gesagte entsprechend. Trotz seins nicht zuzulassen, ist es ein dringendes Gebot, nicht zu bestreitender Ähnlichkeiten, waren die sich stets energisch gegen diesen mit den genann- Unterschiede zwischen dem NS-Regime und der ten Zielstellungen durchgeführten Vergleich zu DDR so gewaltig, daß es keine gemeinsame Auf- wenden. Historisch kann alles miteinander vergli- fassung und keinen theore tischen Ansatz geben chen werden, die Frage ist nur: zu welchem Zweck kann, um die jeweiligen gesellschaftlichen Struk- und mit welchem Ziel erfolgt ein solcher Ver- turen unter einem Begriff zu fassen. Das hinde rt uns gleich? keinesfalls daran, selbst zu untersuchen, welche gemeinsamen Merkmale alle Diktaturen haben. 2. Aus den gleichen Gründen wäre der Terminus der „Diktaturkontinuität" abzulehnen. Eine Kontinui- 5. Die Befürworter eines zu favorisierenden Ver- tät bedeutet zeitlich lückenlose Zusammenhänge gleichs zwischen dem NS-Regime und der DDR und historisch ununterbrochene Entwicklungen, stützen sich auf folgende Ähnlichkeiten, die hier was weder auf die tiefen Umbrüche nach dem nicht bestritten werden sollen. Kriegsende, noch auf die Phase nach 1945 bis a) der Mechanismus der politischen Machtaus- Anfang der 50er Jahre und eben schon gar nicht auf übung auf der Grundlage des Führungsan- die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen dem spruchs und des Machtmonopols einer Partei, NS-Regime und der DDR zutrifft. einer Parteiführung oder eines Diktators;

3. Mit der Kennzeichnung eines Herrschaftssystems b) das Verhältnis von Staat und Partei, der Staat als Diktatur ist für die konkrete Geschichtsaufar- wird zum Hilfsinstrument der Parteiführung; beitung noch nicht viel getan. Auch Diktaturen sind in ihren Erscheinungsformen und Handlungs- c) die Verneinung der Gewaltenteilung und die weisen sehr verschieden. Das trifft schon auf faschi- Verhinderung fast jeglicher Machtkontrolle; stische Diktaturen zu, wie ein Vergleich zwischen dem Italien Mussolinis, dem Spanien Francos, dem d) das Beanspruchen des weltanschaulichen Chile Pinochets und eben dem Deutschl and Hitlers Wahrheitmonopols durch die Funktionsträger Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

der herrschenden Partei, die Leugnung des c) Die Ausformung der politischen Systeme unter- Pluralismus in Staat und Gesellschaft; schied sich erheblich. Während in der DDR und den anderen staatssozialistischen Ländern zu- e) das Bestreben der politischen Machtorgane und nehmend partiell demokratische Wirkungs- Organisationen, in die p rivaten Lebensbereiche räume existierten, wurden diese während des der Menschen einzudringen. NS-Regimes in steigendem Maße und letzlich vollständig beseitigt. Der Nazismus negierte Dieselben Befürworter vergessen oder bagatelli- Demokratie absolut, er setzte das Führerprinzip sieren aber in der Regel die gravierenden Unter- dagegen. Der Staatssozialismus versuchte, schiede zwischen Diktaturen faschistischer und wenngleich zumeist in fragwürdiger Weise, den staatssozialistischer Prägung, die den Votierenden Demokratiegedanken in das Konzept der „so- wegen des falschen Ansatzes dazu veranlassen, zialistischen Demokratie" zu integ rieren. Das diesen Vergleich, der immer und irgendwie eine hatte in Teilbereichen, namentlich auf betriebli- Gleichsetzung anstrebt, abzulehnen: cher und örtlicher Ebene, durchaus posi tive Wirkungen; die gesamtgesellschaftliche Aus- a) Besonders gravierend sind die völlig andersge- - weitung wurde jedoch wesentlich durch das arteten welthistorischen Wirkungen und Ergeb- Postulat des „demokratischen Zentralismus", nisse des Faschismus einerseits und des Staats- der in Wirklichkeit überwiegend ein diktatori- sozialismus andererseits — hauptsächlich in scher Zentralismus war, behindert. bezug auf die Lebensrechte der Völker sowie auf die Krieg-Frieden-Problematik. Es ist offen- d) Grundverschieden sind die Herkunft und die sichtlich ein Phänomen der Staatsgeschichte, Hauptinhalte der jeweiligen Ideologien. Wäh- daß diametral entgegengesetzte Staatszwecke rend die faschistische Ideologie von Mystizis- — wie demokratische Revolu tion und Erobe- mus und Irrationalismus, vor allem von der rungskriege — ähnlich zentralistisch-diktatori- antihumanen Rassenlehre ge tragen wird, ist die sche Staatsstrukturen hervorbringen können. Ideologie des „Marxismus/Leninismus" mit Auch berechtigte Kritik solcher Strukturen darf dem Rationalismus und Humanismus der Auf- nicht die zugrundeliegenden Staatszwecke ver- klärung verbunden und wendet sich entschie- decken. Der vom deutschen Faschismus ausge- den gegen Völker- und Rassenhaß. löste Zweite Weltkrieg hat die Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht; die NS e) Grundlegend verschieden sind auch die ökono- Macht erhob den Völkermord, der im Holocaust mischen Strukturen. Im Faschismus bleibt es bei gipfelte, zur Staatspolitik. der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer Profitwirtschaft, während der Staatssozialismus Ungeachtet der gesellschaftlichen Gegensätze eine nichtkapitalistische Wirtschaftsform orga- oder politischen Meinungsverschiedenheiten nisierte, in der neben dem dominierenden staat- mit den westlichen Großmächten wurde die lichen Eigentum, auch genossenschaftliches UdSSR Mitglied der Anti-Hitler-Koalition und Eigentum und Privateigentum existierte. leistete einen erheblichen Beitrag zur Abwehr der faschistischen Barbarei. Dabei erbrachte sie f) Völlig verschieden sind Faschismus und Staats- von allen Ländern die größten Opfer. sozialismus auch in sozialer Hinsicht. Entgegen seiner vehement betriebenen sozialen Demago- Für die DDR war typisch, daß sie eine Friedens- gie verfolgte das NS-Rregime eine systemati- politik betrieb und Abrüstungsvorschläge un- sche Entrechtung im Sozial- und Arbeitsbereich. terbreitete. Die Staaten des Warschauer Vertra- Bei aller Kritik an der DDR kann niemand ges griffen den Vorschlag der paktfreien Länder übersehen, daß sehr viel für die Verbesserung für eine friedliche Koexistenz auf und unter- der sozialen Lage der arbeitenden Menschen stützten ihn wesentlich. Sie hatten deshalb auch getan wurde. So konnten zum Beispiel eine einen bedeutenden Anteil an der Eindämmung weitgehende soziale Chancengleichheit in Bil- des Kalten Krieges sowie an ernsthaften Abrü- dung, Beruf und Kultur, eine soziale Grundsi- stungsverhandlungen. Auch die DDR leistete cherung, das Recht auf Arbeit, die Besei tigung diesbezüglich vor allem in den 80er Jahren von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit ver- Erhebliches, als ihr internationales Gewicht wirklicht werden. In anderen wichtigen Lebens- gewachsen war. Im Gegensatz zum NS-Regime, bereichen wie in der Wohnraumbereitstellung, dessen Repräsentanten und staatstragende Or- der Gleichstellung der Geschlechter, im Fami- ganisationen und Verbände von internationalen lien- und Arbeitsrecht, im Gesundheitswesen, Gremien gebrandmarkt und gerichtlich zur Ver- bei Kinderkrippen, Kindergärten und Kinder- antwortung gezogen wurden, gehörte die DDR horten sowie in der Kinderferiengestaltung und seit 1973 der UNO an, genoß interna tionales auf vielen anderen Gebieten wurden Ergeb- Ansehen und wurde zu keiner Zeit und von nisse erzielt, die nicht einmal einen Vergleich keinem internationalen Gremium völkerrecht- mit den hoch entwickelten kapitalistischen lich angeklagt oder verurteilt. Industriestaaten zu scheuen brauchen. Im Gegenteil, dort findet inzwischen durch Wegfall b) Während das NS-Regime antikommunistisch der Systemkonkurrenz ein erheblicher Sozial- war, war die DDR antifaschistisch. Ein wohl in abbau beim gleichzeitigen Anwachsen von seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Massenarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit Unterschied. statt. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

6. Im Selbstverständnis der SED war der Ke rn des Verhängnis bestand darin, daß das ursprünglich politischen Systems die „Diktatur des Proletariats". von Marx mit dem Begriff „Diktatur des Proleta- In offiziellen Dokumenten (beispielsweise in den riats" unterlegte demokratische Grundprinzip der Verfassungen von 1968 und 1974) wurde allgemei- mehrheitlichen Willensentscheidung und politi- ner formuliert, daß die DDR r ein sozialistischer schen Interessenvertretung der übergroßen Mehr- Staat" sei, in dem „die Arbeiterklasse und ihre heit des arbeitenden Volkes mit dem Entstehen des marxistisch/leninistische Partei" die Macht inne- Staatssozialismus in Sowjetrußland und später habe. In Wirklichkeit waren weder die Arbeiter- auch in der DDR als Herrschaft von Minderheiten, klasse (was immer soziologisch darunter zu verste- die sich jeder wirksamen demokratischen Kon- hen war), noch die SED als Gesamtpartei, verkör- trolle entzogen, praktiziert wurde. pert durch ihre Mitglieder, die tatsächlichen politi- schen Herrschaftssubjekte, sondern vielmehr die Entgegen der Marx'schen Inten tion blieben Sozia- Führungsspitze der SED, nament lich in Gestalt des lismus, Demokratie und wirkliche Emanzipation Politbüros. getrennt. Präziser wäre demnach, von einer stalinistischen - 8. Entstehung und Werdegang der DDR sind nur aus Einflüssen unterliegenden „Diktatur der SED-Füh- dem breiten Fluß der Geschichte des deutschen rung" zu sprechen, die im zeitlichen Ablauf sowohl Volkes, vor allem aus den politischen und sozialen autoritäre und diktatorische, aber auch demokrati- Auseinandersetzungen seit dem Ersten Weltkrieg sche Komponenten, vor allem im gesellschaftlichen zu begreifen. Bei den neuen Weichenstellungen Mittelbau sowie auf betrieblicher und örtlicher 1945 und der Entstehung der beiden deutschen Ebene, aufwies. Staaten — die sich beide als Alterna tive zum 7. Die Realität der DDR war durch ein eigenartiges NS-Regime verstanden — spielten sowohl die kontradiktatorisches, gesellschaftspolitisches Be- Erfahrungen und Lehren der Weimarer Republik ziehungsgeflecht gekennzeichnet: von prokla- und der faschistischen Barbarei (obwohl unter- mierten, tatsächlichen oder zumindest so verstan- schiedlich interpretiert) als auch die internationale denen sozialistischen Zielsetzungen und in diese Konstellation der Nachkriegsjahre und nicht Richtung gehenden Maßnahmen und Regelungen zuletzt die Anwesenheit der Besatzungsmächte beispielsweise auf sozialem, rechtlichem, kulturel- eine grundlegende Rolle. Bei der Aufarbeitung lem, gleichstellungs-, bildungs- und gesundheits- dieser Geschichte könnten auch Diktaturenver- politischem Gebiet; von produktiven Arbeitslei- gleiche einen Denk- und Forschungsansatz unter stungen und anderen sinnvollen gesellschaftlichen anderen bilden. Es wäre jedoch völlig verfehlt und Aktivitäten großer Teil der Bevölkerung, die jenes verhängnisvoll, die nach 1945 in Westdeutschland Vorgehen billigen und tole rierten; aber auch von bei der Auseinandersetzung mit dem Nazismus stalinistischen bzw. vom Stalinismus beeinflußten zugelassenen Versäumnisse jetzt durch eine um so Strukturen, Institutionen sowie Herrschaftsprakti- größere Rigorosität bei der Aufarbeitung der DDR ken der politischen Führungskräfte der SED. Das Geschichte zu kompensieren.

V. Die DDR, ihre Bürgerinnen und Bürger und ihre Leistungen

Die im Bericht der Enquete-Kommission dominie- menhanges und der wechselseitigen Beeinflussung rende Negativbewertung der DDR verabsolutiert die der unterschiedlich zu we rtenden Wesenszüge, Ent- verurteilenswürdigen Züge des SED-Regimes und die wicklungen und Erscheinungen in der DDR und ohne sich im Herbst 1989 offenbarende Abwendung großer Berücksichtigung ihres unterschiedlichen Gewichts in Kreise der Bevölkerung von diesem System. Das führt den einzelnen Abschnitten ihrer Geschichte, ist es zur Legendenbildung um die Geschichte des zweiten nicht möglich, die rund fünfundvierzigjährige relativ deutschen Staates. Sie verdrängt die Tatsache, daß es stabile Existenz dieses politischen Systems, seine sich hier um den Versuch einer positiven Alterna tive Krisen und Erholungsphasen sowie seine schließliche zur bisherigen deutschen Geschichte und zur Ten- Beseitigung zu verstehen und zu beurteilen. denz ihrer Bewahrung in der Bundesrepublik Deutschland handelte, in dem — mehr oder minder Wenn hier auch Beachtens- und Bewahrenswertes aus verwoben mit abzulehnenden Erscheinungen und der Erbmasse der DDR hervorgehoben wird, so zielt Praktiken — viele Ansätze zu neuen und zukunfts- das nicht auf DDR-Nostalgie, sondern auf eine diffe- trächtigen Lösungen herausgebildet wurden. renzierte Bewe rtung der Geschichte und der Leistun- gen der Bürgerinnen und Bürger der DDR. Der Ansatz Diese Bewertung verstellt die unbef angene Sicht auch von Sozialismus in der DDR hat zwar seinem Wesen darauf, daß diese Ansätze ihrerseits ganz oder teil- nach letztlich weder Effektivität noch Attraktivität weise, durchgängig oder zeitweilig, hinnehmende, erreichen können, hatte aber dennoch hoffnungset- billigende oder unterstützende Akzeptanz großer zende Neuanfänge. Es geht um die Fähigkeit, aus Teile der Bevölkerung, aber auch auf internationaler Negativem und Positivem in der Geschichte zu ler- Ebene, erlangt haben. Ohne Beachtung des Zusam nen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

A. Zur Akzeptanz der DDR seitens ihrer der Intelligenz, waren nicht mehr bereit, sich für Bevölkerung den Machterhalt der herrschenden Führungskaste zu engagieren. Das hat mit dazu beigetragen, den 1. Es ist nicht zutreffend, daß sich die Bürgerinnen Systemwechsel gewaltlos zu vollziehen. und Bürger in der Gesamtzeit der Existenz der DDR 3. Wenn von mehrheitlicher Akzeptanz der DDR durchgängig und ausschließlich ablehnend zu die- gesprochen wird, muß berücksichtigt werden, daß sem Staat und der von ihm vertretenen Ordnung diese sich sowohl allein auf die Respektierung der verhallen hätten. Die überwiegende Mehrzahl der staatlichen Existenz beziehen konnte, als auf die in der ehemaligen DDR lebenden Menschen war Billigung der gesellschaftlichen Ordnung oder weder militanter Systemgegner bzw. sich perma- auch auf die Zustimmung zur Politik der Führung nent gequält fühlendes Opfer noch gar ein blind- bis zur Anerkennung der Machtausübung durch wütiges Werkzeug eines Unrechtssystems. Die die SED und ihre Repräsentanten. Sie konnte sich meisten Menschen wollten (verständlicherweise) jedoch auch auf eine oder einzelne Bezugsebenen einfach bloß leben, möglichst besser und nicht begrenzen und Distanz, Ablehnung bzw. Kritik schlechter als bisher. Und das maßen sie an den gegenüber anderen einschließen. Dahinter stand ihnen wichtigen Kriterien in den sozialen, mora- in nicht unerheblichem Maße die Billigung des lisch-ideellen, politischen, kulturellen und ähnli- sozialistischen Anspruchs der DDR und die Zustim- chen, für ihre persönliche Identität bedeutsamen mung zu wesentlichen Grundprinzipien ihrer Poli- Bereichen. tik (Antifaschismus, Friedenserhaltung, soziale Bezüglich der offiziellen Positionen und Anliegen Sicherheit, Gleichberechtigung der Frau, allgemei- der DDR gab es folglich, wechselnd in den ver- ner Zugang zu Bildung und Kultur und zu kosten- schiedenen Zeitabschnitten, durchaus Akzeptanz loser Gesundheitsvor- und -fürsorge). Sicherlich und Identifikation in der Bevölkerung. Diese war auch eine gehörige Portion Anpassung und Akzeptanz war unterschiedlich motiviert und diffe- Unterwerfung unter gesellschaftliche Konventio- renziert ausgeprägt (oft mit der Ablehnung nen und Zwänge dabei, wie das für alle Gesell- bestimmter Seiten der DDR-Wirklichkeit verbun- schaften gilt. Aber auf keinen Fall ist diese Akzep- den). Sie spielte zeitweilig, zuletzt gar nicht mehr, tanz nur auf Repression und Überwachung oder auf eine Rolle als Gegengewicht zur mehr oder minder die Anwesenheit sowje tischer Truppen zurückzu- verbreiteten Ablehnung dieses Regimes. führen.

2. In den ersten Nachkriegsjahren überwog die Billi- gung der Politik des Friedens, des Antifaschismus und des Wiederaufbaues, des geistig-kulturellen B. Zur außenpolitischen Akzeptanz der DDR Neubeginns, auch des Eintreten für die na tionale Einheit und einen Friedensvertrag. Die sich neu 1. Die DDR verkörperte in ihrer Außen- und Friedens- eröffnenden Perspektiven zur Lebensgestaltung politik den radikalen Bruch mit der internationalen für Arbeiterinnen und Arbeiter, Bäuerinnen und Politik des imperialistischen Deutschlands. Im anti Bauern und Umsiedlerinnen und Umsiedler, für die -faschistischen und antiimperialistischen Charakter Jugend und für die Frauen, für die Menschen des ihrer Außenpolitik findet die historische Legi timität einfachen Volkes überhaupt, soweit sie nicht ideell der DDR eine ihrer Grundlagen. Allerdings wurde und politisch dem Dritten Reich verhaftet geblie- der Antifaschismus in gewissem Sinne einseitig ben waren, wurden akzeptiert. In der Folgezeit ausgelegt, im Verlaufe der Zeit auch nach politi- haben Enttäuschung, Unrechtserfahrungen und scher Zweckmäßigkeit gehandhabt und somit Mißtrauen gegenüber der offiziellen Politik Ober- instrumentalisiert, was eine umfassende Verarbei- hand erhalten. Den 17. Juni 1953 wird m an als tung der geschichtlichen Lehren für die nachfol- Höhepunkt der verbreiteten Ablehnung der DDR, genden Genera tionen beeinträchtigte. der in ihr herrschenden Verhältnisse und der SED, feststellen müssen. 2. Die DDR sah sich als eine Alternative zur Existenz und internationalen Politik der BRD, die sich ihrer- Dagegen dürfte — wie repräsentative Untersu- seits in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches chungsergebnisse belegen — kaum Zweifel daran sah. Dafür, daß dieser andere deutsche Staat eben bestehen, daß ab Ende der fünfziger Jahre bis zu auch in dessen geistiger, politischer und personel- Beginn der achtziger Jahre eine variabel große, ler Kontinuität stand, gab es damals viele Anzei- aber deutliche Mehrheit der Bevölkerung die DDR chen. In dieser Beziehung wirkte die DDR als ein angenommen hat und sich in ihr einrichtete. Gegenfaktor zur BRD, sowohl hinsichtlich deren Zugleich muß man von einer wei treichenden Ent- außenpolitischer Ambitionen wie auch der inneren fremdung der Bürgerinnen und Bürger von ihrem Restauration, was zugleich Interessen westlicher Staat, insbesondere aber einem Vertrauens- Staaten entsprach und international Beachtung schwund gegenüber der SED und ihrer Führung, fand. spätestens ab den achtziger Jahren ausgehen. Die Tiefe der Krise und die Breite der Abwendung wird Für kritisch denkende SED-Mitglieder und andere daraus ersichtlich, daß sie zuletzt auch die „staats- Bürgerinnen und Bürger der DDR bestand darin ein tragenden" Teile der Bevölkerung erfaßte. Große großes Problem, denn es hatte gerade in den Teile der Mitgliedschaft und des unteren Funktio- fünfziger und sechziger Jahren den Anschein, daß närskörpers der SED, der Blockparteien, der Mas- diejenigen, die sich gegen Ulb richt, die SED oder senorganisationen und des Staatsapparates, auch die DDR stellten, befürchten mußten, der Bundes- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

republik Deutschland mit den Globkes und Filbin- militärischen Bereich. Allerdings war diese Hilfe gers zu nutzen. selektiv, indem sie vor allem jenen Staaten der Dritten Welt bzw. nationalen Befreiungsbewegun- 3. Die Anerkennung der Deutschland be treffenden gen gewährt wurde, die sich als antiimperialistisch und von der Bundesrepublik Deutschland jahr- und sozialistisch orientiert verstanden. Damit trug zehntelang vehement angefochtenen territorialen die DDR — wie die meisten anderen Staaten — zu Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, vor einer Instrumentalisierung von Entwicklungslän- allem der Oder-Neiße-Grenze, war ein wesentli- dern im Ost-West-Konflikt bei. Durch die Ergeb- cher Beitrag der DDR zur Stabilität in Europa und nisse der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses zur Aussöhnung mit den Nachbarländern unter „Kommerzielle Koordinierung" sind auch andere den Bedingungen des Kalten Krieges. Vornehm- Beispiele für Waffenexporte bekannt geworden, lich gegenüber den Völkern Osteuropas hat die die zu verurteilen sind, aber an der dargelegten DDR maßgeblich dazu beigetragen, das Bild über Gesamttendenz nichts ändern. Deutschland und die Deutschen neu zu bestimmen. Diese internationalen Wirkungen der DDR haben 6. Die DDR hat nach dem Zweiten Weltkrieg im zugleich zur Herstellung jener internationalen Ausland wesentlich dazu beigetragen, der demo- Rah-menbedingungen beigetragen, die es der kratischen, humanistischen und antifaschistischen Bundesrepublik erleichterten, ein neues Verhältnis deutschen Kultur wieder Ansehen zu verschaffen. zu diesen Völkern zu finden. Der Kulturaustausch, der vorrangig auf den Gebie- ten von Wissenschaft, Bildung und Sport erfolgte, 4. In ihrer Außenpolitik war die DDR darauf bedacht, nahm in der internationalen Politik der DDR einen daß in Deutschland und Europa Frieden und wichigen Platz ein, zumal er geeignet war, die von Sicherheit gewährleistet werden und vor allem, der Bundesrepublik Deutschland betriebene Isolie- daß von Deutschland kein Krieg und kein Anlaß für rungspolitik zu durchbrechen. Er war jedoch star- militärische Konflikte ausgehen. Dem lag anfäng- ken ideologisch begründeten Einschränkungen lich das Bestreben zugrunde, der dem Westen unterworfen, so daß die DDR sich einerseits selber angerechneten Spaltung und Remilitarisierung bedeutsamen Einflüssen, darunter eindeutig pro- durch die Orientierung auf ein einheitliches, ent- gressiven, verschloß und sie andererseits oftmals militarisiertes und neutrales Deutschland entge- eine nur unzureichend den jeweils gegebenen genzutreten. Nachdem sich dies als nicht realisier- konkreten Umständen angemessene Beratungs- bar erwies, verfolgte die DDR das Ziel, die Existenz hilfe leisten konnte. zweier deutscher Staaten und ihre gegenseitigen Beziehungen zum Faktor europäischer Stabilität 7. Die in den siebziger Jahren erreichte weltweite und friedlicher Koexistenz zu machen. Dazu waren Anerkennung der DDR, der Entspannungs- und die Überwindung der Hallstein-Doktrin erforder- vor allem der KSZE-Prozeß, den die DDR aktiv lich und die internationale Anerkennung der DDR mitbefördert hatte, stellten die DDR vor neue nötig. außen- und innenpolitische Herausforderungen. Die DDR-Führung versuchte, die neuen internatio- Demgemäß wirkte die DDR für die Anerkennung nalen Möglichkeiten selektiv zu nutzen, war der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, für das jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht fähig, die Zustandekommen der KSZE und der Schlußakte damit verbundenen Konsequenzen zu bewäl tigen. von Helsinki, für die Eindämmung und Überwin- Das gilt speziell für folgende Aspekte: dung der Krise um die Mittelstreckenraketen in Europa sowie für normale Beziehungen und Ele- a) Zwingend wurde die Notwendigkeit, auch nach mente einer Sicherheitspartnerschaft mit der BRD. innen Dialog, Zusammenarbeit unterschied- Das war Ausdruck des im Rahmen der Blocklogik licher Kräfte, Wahrnahme individueller Men- des Ost-West-Verhältnisses erfolgenden Engage- schenrechte und Informationsfreiheit zu gewäh- ments der DDR für Entspannung, Friedenssiche- ren. Das wurde kaum verwirklicht, weil man rung, Abrüstung und gleichberechtigte internatio- darin Elemente der Destabilisierung sah. In nale Beziehungen. Ebenso ist ihr Wirken in der Wirklichkeit führte gerade die Verweigerung UNO und ihre vielfältige Mitwirkung an der Kodi- dessen zur Destabilisierung. fizierung demokratischen Völkerrechts zu sehen. b) Mit dem Entspannungsprozeß nahm zeitweilig 5. Die DDR setzte sich für die Überwindung des der von außen wirkende Druck auf das Land ab. Kolonialismus, für eine gleichberech tigte Einbe- Dieser hatte der DDR-Führung in der Regel zur ziehung der Entwicklungsländer in die internatio- Rechtfertigung der inneren Repression gegen nalen Beziehungen und für eine neue Weltwirt- oppositionelle Kräfte und der Abschottung nach schaftsordnung ein. Sie übte auch praktisch spür- außen gedient. Es erfolgte im Zuge der Entspan- bare Solidarität mit den Ländern der Dritten Welt. nung jedoch kein Abbau dessen. All dies brachte der DDR Sympathien und hohe Anerkennung ein, die ihre Existenz überdauern. c) Die Entspannung förderte die unterschiedlichen Interessen der einzelnen sozialistischen Länder Die reale Entwicklungshilfe der DDR hatte ihre und minderte ihre Solidarität. Zugleich ver- Schwerpunkte im Bereich von Bildung, Gesund- suchte die DDR, eine eigene Rolle zu spielen. heitswesen und der fachlich-sachlichen ökonomi- Die sich so ausprägenden Gegensätze mußten schen Unterstützung (obwohl die ökonomischen sich auf die DDR, die mehr als andere Staaten Engagements der DDR oft hinter dem Nötigen und auf die Block-Solidarität angewiesen war, ihr auch Möglichen zurückblieben) — sowie im nachteilig auswirken. Die DDR-Führung besaß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

kein Konzept für die Bewältigung solcher Kon- existierten. Dieser hatte seine Grundlage in der seit sequenzen des Helsinki-Prozesses. Beginn des Kalten Krieges von den Regierenden in Bonn verfochtenen Politik der „Befreiung" der d) Zwischen dem Bestreben nach Frieden, Sicher- DDR, die die Legitimität der DDR als Staat leug- heit und Kooperation einerseits und dem als nete. unumgänglich erachteten Primat machtpoliti- scher Existenzsicherung andererseits, bestand Demokratisierung war unter diesen Bedingungen ein krasser Widerspruch der DDR-Politik. Die sicherlich in besonderem Maße schwierig. Friedens- und Abrüstungspolitik der DDR blieb Dennoch verlangten die veränderten inneren inkonsequent, weil sie — im Zuge ihrer festen Bedingungen — unabhängig von den in diesem Einbindung in den Warschauer Vertrag — an Zusammenhang subjektiv angenommenen bzw. der Überbetonung der militärischen Kompo- objektiv vorhandenen Risiken für die politische nente der Sicherheitspolitik festhielt (und nach Stabilität der DDR und damit auch der UdSSR — innen die Rolle der Sicherheitsorgane noch spätestens seit den sechziger Jahren eine radikale verstärkte). Demokratisierung. Ihre Blockierung seitens der - B. Auch aus der Sicht der Außenpolitik der DDR und SED-Führung war eine in jeder Hinsicht zutiefst ihrer internationalen Stellung widerspricht es den verfehlte Reaktion gegen ein Konzept, das die historischen Realitäten, den Staat DDR zum Grundlage politischer Stabilität einer sozialisti- Unrechtsstaat zu erklären, der sich im Widerspruch schen Gesellschaft in der Selbstbestimmung des zur einzig legitimen deutschen Nachkriegsent- Volkes sah. Ausgehend von dieser Entscheidung wicklung in Gestalt der Bundesrepublik Deutsch- wurde Demokratie auf „Mitwirkung" reduziert. land befunden hätte. Dem widersprechen die Demgegenüber erfordert der Ausbau der Demo- belegbaren Auffassungen der internationalen kratie die Teilhabe an der Informa tion, an der Staatengemeinschaft. Von keinem Staat, der mit Entscheidung, an der Leitung bzw. Lenkung und der DDR diplomatische Beziehungen unterhielt, vor allem an der Kontrolle. Volkssouveränität auch nicht von der UNO, wurde in der Vergangen wurde — in Artikel 47 der DDR-Verfassung von heit oder wird heute die These von einem Unrechts- 1968 — dem „demokratischen Zentralismus" staat DDR geteilt. untergeordnet. Parteien, Volksvertretungen, Wahlen und andere demokratische Institutionen des politischen Systems trugen weitgehend schein- C. Politisches System, Staat und Recht demokratische Züge. 3. Prägend für das politische System der DDR waren 1. Eine Analyse von Herrschaftsstrukturen (bzw. der diktatorische, autoritäre und bürokratisch admini- Staatsform) hat die politischen und sozialen Kon- strative Formen und Methoden. Zugleich gab es stellationen und die gesellschaftlichen Widersprü- jedoch auch Momente einer realen demokrati- che zu beachten, aus denen politische Institutionen schen Mitwirkung in den Be trieben und, allerdings erwachsen. Der Staat und das politische System der schwächer, auch in den Wohngebieten und DDR entstanden als Fortsetzung des politischen Gemeinden. Darüber hinaus hatte sich in der DDR Systems der antifaschistisch-demokratischen Um- ein System der Konfliktregulierung zwischen dem wälzungen, wie es sich nach 1945 herausgebildet Einzelnen und dem jeweiligen Kollektiv sowie hatte. Auf die Gestaltung dieses politischen zwischen Bürger und Staat entwickelt, das über- Systems hatten sehr unterschiedliche politische wiegend angenommen wurde. Kräfte und Faktoren eingewirkt: die sowje tische Besatzungsmacht, die politische Bewegung für Einerseits waren mit dem gesellschaftlichen Eigen- antifaschistisch-demokratische Umgestaltungen, tum und einem höheren Maß an sozialer Gleichheit die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens, der Voraussetzungen für eine neue Qualität an Demo- beginnende Kalte Krieg und die politisch-program- kratie geschaffen und demokratische Bedürfnisse matischen Konzepte der Parteien, vor allem der geweckt worden. Andererseits wurde demokrati- KPD-Führung. Bereits zum Zeitpunkt der Konstitu- sche Mitwirkung gehemmt und demokratische ierung der DDR waren mit der Umwandlung der Selbstbestimmung weitgehend verhindert. Bei der SED zur „Partei neuen Typus" zahlreiche posi tive Schaffung stabiler demokratischer Institutionen Ansätze für eine neue Demokratiequalität im Sinne versagte die DDR weitgehend. Die Entwicklung einer Entwicklung zur individuellen und kollekti- des Staates trug deutliche Züge einer Wandlung ven Selbstbestimmung des Volkes beseitigt wor- vom Diener zum Herrn der Gesellschaft. den. Das politische Leben war bestimmt von einer Art 2. Eine Analyse und Bewertung der Herrschaftsstruk- Erziehungsdiktatur, die durch soziale Grundrechte turen in der sowjetischen Besatzungszone und in untersetzt war. Allen Menschen sollten höhere der DDR hat zu beachten, daß die in Ostdeutsch- Bildung und der Reichtum der Kultur vermittelt land betriebene tiefgreifende Umgestaltung der werden. Die Politik sollte Nützliches fördern, Neu- Eigentumsverhältnisse wohl kaum ohne eine vor- trales dulden und Schädliches verhindern. Die übergehende „revolu tionäre Diktatur " (Marx) politische Entwicklung wurde von der SED-Füh- möglich war. Sie hat außerdem in Rechnung zu rung bestimmt. Weder fand ein ernsthafter, öffent- stellen, daß die sowje tische Besatzungszone und licher Dialog in den Massenmedien, noch ein die DDR über 45 Jahre hinweg unter Bedingungen politischer Dialog zwischen den Regierenden und eines tatsächlich gegebenen Ausnahmezustandes den Regierten statt. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Typisch für die DDR war, daß diktatorische Herr- gung von Menschen gab, trifft zu. Die Anwendung schaftsstrukturen mit demokratischen Mitwir- des Begriffs „Unrechtsstaat" impliziert jedoch, die kungsformen sowie die Verweigerung eines demo- Legitimität der Existenz eines Staates zu bestrei- kratischen Entscheidungsprozesses mit einer ten. durchaus die sozialen Interessen beachtenden Staatspolitik einhergingen. Der Sozialstaat mit Vollbeschäftigung, wesentlich geringeren sozialen Unterschieden, mit sozialer Grundsicherung, der D. Zur Akzeptanz der kulturellen und Orientierung auf Allgemeinbildung und Kultur künstlerischen Entwicklung in der DDR erreichte in der deutschen Staatsgeschichte seinen bisher weitestgehenden Ausbau. Damit entstan- 1. Im Zentrum von Untersuchungen zur DDR-Kultur den für die große Masse der Bevölkerung andere steht gegenwärtig zumeist die Ideologisierung, Formen des Umgangs, soziale Wärme, mehr Soli- Politisierung und Zensur von Kunst und Kultur darität, mehr Denken „ an das Ganze", also Verhal- sowie die Ausgrenzung von nicht konformen tensweisen, denen mit dem Anschluß an die Bun- Künstlerinnen und Künstlern, die — wenngleich in - desrepublik Deutschland und dem Abbau des den Jahren unterschiedlich — Bestandteil der Kul- BRD-Sozialstaates immer mehr Grundlagen entzo- turpolitik der SED waren. M an kann die Kultur gen werden. jedoch weder mit der in ihr praktizierten Kulturpo- litik identifizieren, noch kann man sie unabhängig 4. Die DDR hatte auf einer Reihe von Gebieten, wie davon oder ausschließlich im Gegensatz zu ihr dem Arbeitsrecht, dem Zivilrecht, dem Familien- beurteilen. Denn tatsächlich war die Kultur in der recht, ein den Interessen der Bürger weitgehend DDR, wie jede Kultur anderswo, Lebensalltag der entsprechendes und ihnen verständliches Recht. Menschen, war sie die Leistung ihrer Künstlerin- Sie hatten subjetive Rechte, die durchsetzbar nen, Künstler und Kulturschaffenden und insofern waren. Auf Überzeugung, aber auch auf eine Bestandteil der in diesem Landes existenten gesell- Konfliktlösung in gegenseitiger Übereinstimmung schaftlichen Verhältnisse wie auch von diesen orientierte das Eingabenrecht, das im Konfliktfall geprägt und beeinflußt. Darin ist auch die Kultur- Gespräche mit den Staatsorganen, aber auch die politik als ein, wenngleich wesentlicher Faktor kostenlose Rechtsberatung bei den Gerichten und einzuordnen, der allerdings in der DDR sehr wider- Staatsanwaltschaften einschloß. Allerdings war sprüchliche, zu verschiedenen Zeiten unterschied- das Eingabenrecht kein ausreichender Ersatz für lich gelagerte Auswirkungen hatte. das Fehlen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit. Trotzdem gab es in Rechtsfragen des Alltags in 2. Die Kultur in der DDR war von dem sozial gerech- gewissem Maße Allgemeinverständlichkeit, Über- ten Grundkonzept bestimmt, die bisher eher ver- schaubarkeit und damit diesbezüglich das Gefühl nachlässigte breite Masse des Volkes stärker ein- von Rechtssicherheit. Überall, wo politische Macht zubeziehen. Das entsprach den veränderten politi- unmittelbar berührt wurde, hinsichtlich Teilen des schen Verhältnissen wie der neuen Eigentums- Strafrechts, des Verwaltungsrechts und insbeson- struktur und hatte sie zur Voraussetzung. Es dere des Verfassungsrechts, wurden Rechtsstaat- stimmte überein mit den ernstgemeinten Ambitio- lichkeit und Rechtsschutz weitgehend verweigert. nen vieler Engagierter, besonders auch unter den Folgen waren u. a. die Unbes timmtheit der Tatbe- Intellektuellen, eine Alterna tive zu jener Lebens- stände des politischen Strafrechts, unzulässige weise zu schaffen, wie sie der kapitalistischen Beschränkungen der Bürgerrechte und die Ver- Profitwirtschaft notwendigerweise entspringt. Die- weigerung eines wirksamen Verfassungs- und ses Gesamtkonzept war zweifellos beeinflußt von Verwaltungsverfahrensrechts. Der Krebsschaden der in den Traditionen der Arbeiterbewegung in der Rechtskonzeption der SED bestand in der lebendigen Losung „Die Kunst dem Volke". Der Reduktion des Rechts auf seine Instrumentalität gesellschaftliche Umbau war also nicht zuletzt von und in der Weigerung, die Funktion des Rechts als kulturellen Zielen bestimmt, lief auf die Erziehung Maß der Macht zu akzeptieren. Die Regierenden und Bildung eines „neuen Menschen" hinaus, brachen Recht, sobald ihre eigenen oder die Inter- worin deutlich auch illusionäre Vorstellungen mit- essen des bürokratisch-administrativen Systems schwangen. Die späteren Projekte einer „gebilde- gefährdet erschienen. ten Nation" und „sozialistischen Menschenge- meinschaft", auch zentrale Elemente des „Bitter 5. Die DDR war trotz aller Fortschritte auch auf dem felder Weges", lagen auf der gleichen Linie und Gebiet der Rechtskultur bis zum Schluß kein scheiterten in der einen oder anderen Weise auch Rechtsstaat, weil wesentliche Merkmale eines an den Schwierigkeiten der in der DDR nachzuho- Rechtsstaates (Dreiteilung der Gewalten, Bindung lenden Modernisierung. Damit waren allerdings der Staatsgewalten an das Recht) entweder fehlten auch Ausgrenzungen programmiert. oder unzulänglich ausgestaltet waren. Die Charak- terisierung der DDR als „Unrechtsstaat" oder „Un- 3. Von diesem sozialen Konzept ist auch der Aus- und rechtssystem" ist jedoch absurd, weil sie sich einer Umbau der kulturellen Infrastruktur in den ersten wissenschaftlichen Begründung entzieht. Daß die Jahrzehnten geleitet gewesen. Erhebliche Mittel DDR ein anderes Rechtssystem als die Bundesrepu- wurden dafür eingesetzt, doch ließ ökonomische blik Deutschland hatte, in dem die Rechtskultur Schwäche auch spürbare Lücken zurück. Bereits in unzureichend entwickelt war, ist kein Ruhmesblatt den fünfziger Jahren entstanden hunderte Kultur- der DDR. Daß es in der DDR verbreitet Unrecht häuser in Industriebereichen und auf dem Lande, sowie Verfolgung, Demütigung und Entmündi zahlreiche Räumlichkeiten für die Arbeit in Zirkeln Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

des künstlerischen Volksschaffens und Klubs für Natürlich waren in den Künsten auch affirma tive die Jugend. Das Land wurde mit einem Netz von und konformistische Züge vorhanden; sie erhielten Bibliotheken überzogen; ein gut gegliedertes durch die offizielle Orientierung eine Art höhere System von Verlagen sorgte für die Herausgabe Weihe, die ihnen eine unangemessene Bedeutung von Büchern, die auf den Gewinn neuer Leser- zukommen ließ. Auch Mittelmaß gab es genügend, schichten zielten. Hinsichtlich der Zahl der Thea- wie es im marktwirtschaftlichen System in die ter, Orchester, Museen (bezogen auf die Einwoh- Öffentlichkeit geschwemmt wird. Besonders in den nerzahl), lag die DDR bald mit an der Spitze im Massenmedien der DDR aber war beides überpro- internationalen Vergleich. Nicht nur staatliche portional vertreten. Äußerst fragwürdig jedoch ist Institutionen, sondern auch Betriebe und Genos- es, die durchgängig vorhandenen antifaschisti- senschaften wurden zu Trägern des kulturellen schen Gehalte als affirmativ zu verleumden, denn Lebens. Das System der Schulen für die verschie- dem stehen historische und biographische Fakten denen Künste wurde ergänzt, die Ausbildung auf entgegen. Keineswegs zufällig hatten sich viele einen hohen Stand gebracht und dort gehalten. Es prominente Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus funktionierte ein System kultureller Grundversor- dem antifaschistischen Exil in der DDR niederge- gung sowie der Förderung künstlerischen Schaf- lassen. Und nicht wenige Künstlerinnen und Künst- fens, das es der großen Mehrheit der Bevölkerung ler der Folgegeneration waren Antifaschistinnen gestattete, sich die Kultur aller Bereiche anzueig- und Antifaschisten aus bitterster Lebenserfahrung. nen. Die meisten kulturellen Leistungen waren Keineswegs affirmativ war auch jene Literatur und hoch subventioniert, was sich aus der sozialen Kunst, die aus dem Alltag des Lebens der Men- Orientierung des Gesamtkonzepts ergab. Gegen schen in der DDR erwuchs, ihre Erfahrungen und Ende der DDR breitete sich jedoch zum Nachteil Hoffnungen, Nöte und Illusionen teilte und ihnen der massenkulturellen Infrastruktur immer mehr oft genug Hilfe, Mut, auch Freude vermittelte und eine auf die Polithierarchie zugeschnittene Reprä- ihre Sorgen aussprach. In solchen künstlerischen sentationskultur aus. Werken war eine Wahrhaftigkeit wirksam, die aus den realen Lebensverhältnissen entsprang, die von 4. Der grundlegende Paradigmenwechsel in der Kul- Millionen Menschen über einen längeren Zeitraum tur zugunsten des Volkes beeinflußte nicht nur hinweg bejaht wurden und mit positiven Erwartun- kulturpolitische Entscheidungen, sondern wurde gen verknüpft waren. Davon nicht zuletzt war die auch von hervorragenden Künstlerinnen und historische Neuartigkeit der Literatur und Kunst Künstlern vollzogen und mit inspiriert. Künstleri- der DDR geprägt, die inte rnational interessierte. sche Konzepte wie die Brechts oder Felsensteins waren nicht zuletzt diesem Umstand geschuldet; 6. Dieser Impetus erlahmte allerdings im Laufe der ihre Realisierung in der DDR erlangte internatio- Zeit und wich jener Tendenz in den Künsten, die sie nale Anerkennung. Daraus resultierende Forde- zunehmend als kritisch-oppositionell auswies und rungen nach Realismus und Volksverbundenheit, deren Anliegen es war, der degene rierenden DDR- wie sie etwa Lukacs vertrat, wurden für die stalini- Gesellschaft immer wieder ihre verdrängten und stische Deformierung der Kunst mißbraucht. verratenen Ideale ins Bewußtsein zu rufen. Getra- gen von sich entwickelnden mündigen Bürgerin- 5. Neben der betont sozialen Komponente war in der nen und Bürgern, die schließlich 1989 die Wende DDR-Kultur ein nationales Element dauerhaft mit- herbeiführten, entwickelte sich in den Künsten und bestimmend; sie blieb insbesondere Staats- und im Gespräch über sie ein intensiver inoffzieller traditionsverbunden. Zwar wurden vom sowjeti- Diskurs, der Unzufriedenheit und die Kritik sowohl schen Modell strukturelle Elemente übernommen, der Details als auch der Grundlagen des real doch scheiterte der Versuch, es allseitig durchzu- existierenden Systems artikulierte und seine Refor- setzen. Hinter dem vielfältigen Charakter heutiger mierung erstrebte. Die schließlich erreichte Frei- Weltkultur zurückbleibend, ist eine, freilich selek- heit erwies sich jedoch insofern als Pyrrhussieg, tive, internationale Linie in der DDR-Kultur stets weil sie mit der Aufhebung der gesellschaftlichen vorhanden gewesen. Insgesamt steht ihre über Grundlagen einherging, denen die Künste im vierzigjährige Existenz für ein durch charakteristi- Osten Deutschland ihre unverwechselbaren Eigen- sche Akzente gekennzeichnetes Kapitel deutscher heiten verdankten. Kulturgeschichte. Die Künste der DDR fanden in einem Maße internationale Resonanz, wie sie den Kunstleistungen einer deutschen Region (in einem relativ kurzen Zeitraum) bis dahin nur höchst selten E. Zur Akzeptanz des DDR - Bildungswesens zuteil wurde. Regisseure und Solisten waren in vielen Ländern sehr gefragt. Orchester und Chöre 1. Das Bildungswesen der DDR war nach seiner hatten einen guten Ruf. Die von Autorinnen strukturellen Gestalt, nach seinen Zielen und geschaffene Literatur erregte Aufmerksamkeit; Inhalten durch eine Vielzahl korrespondierender Kinderbücher und Kinderfilme — systematisch und widerstreitender geschichtlicher Faktoren gefördert — waren für ihr hohes Niveau bekannt. bestimmt. Angestrebt wurden hohe Leistungsfä- Im Lande bewegten Literatur- und Schauspiel- higkeit, soziale Gerechtigkeit, weitgehende Chan- kunst das Publikum. Die regelmäßigen Wettbe- cengleichheit und gesellschaftliche Effizienz. Zu- werbe in der bildenden Kunst wurden von der gleich gab es geistige Bevormundung, politische Bevölkerung mit beachtlichem Interesse aufge- und ideologische Manipulation und Anpassung, nommen. Rockgruppen waren mit deutschsprachi- die wiederum zu Ausgrenzungen und zu neuen gen Titeln erfolgreich. Privilegierungen geführt haben. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die erstgenannten Momente standen anfangs im Macht her, sondern auch aus einem statischen Vordergrund, als noch Maßnahmen konsequent Persönlichkeitsbild, dem relativ fest gefügte Eigen- demokratischen Charakters angezeigt waren, und schafts- oder auch „Tugend"kataloge, ethische sie wurden ab den sechziger Jahren wieder ver- und intellektuelle Gebote zugrunde lagen, auf die stärkt beschworen, als die für eine moderne Indu- hin Kinder und Jugendliche zu erziehen seien. strienation nun einmal unverzichtbaren Bildungs- Diese Katechisierung wünschenswerter Eigen- (sowie Wissenschafts-)Erfordernisse deutlich wur- schaften der werdenden Persönlichkeit st and im den. Sie wurden jedoch mehr und mehr überlagert Widerspruch zu der Idee individueller Entwick- und zurückgedrängt von der Dominanz der Anfor- lung. derungen der unbedingten politischen und ideolo- gischen Absicherung und Stabilisierung der Macht 4. Die unstrittigen Leistungen des Bildungswesens in diesem Bereich. der DDR verweisen darauf, daß Erziehung Wesent- liches zur Persönlichkeitsentwicklung beizutragen 2. Hochgesteckte Ziele und anspruchsvolle Inhalte vermag. Der antifaschistische, der soziale, der der Bildung auf allen Stufen des Bildungswesens solidarische Sinn, die hohe moralische und soziale gerieten bis zuletzt und zunehmend in Widersprü- Wertung der Arbeit und ihrer Ergebnisse, das che zur Realität des gesellschaftlichen Lebens in Gerechtigkeitsempfinden von Millionen früherer der DDR. Hauptausdruck dessen war die Überdeh- DDR-Bürgerinnen und Bürger, die das Bildungs- nung der politischen und ideologischen Funktion wesen der DDR passiert haben, beweisen das. Als der Bildungsinstitutionen, die Politisierung und sich Teile der Bevölkerung der DDR am Ende der Ideologisierung der Bildungsinhalte auf allen Stu- achtziger Jahre gegen das stagnierende, verknö- fen des Bildungswesens und die Reglementierung cherte politische System auflehnten, wollten sie der Inhalte und Formen der Bildung und Erziehung beim Wort nehmen, was ihnen in den Einrichtun- sowie der sie ausführenden Personen selbst. gen des Bildungswesens der DDR über Gerechtig- keit, Sozialität und Demokratie vermittelt worden Innovationen für eine zeitgemäße Entwicklung des war. Zugleich verweist der Geschichtsprozeß in der Bildungswesens, wie sie nach dem Gesetz über das DDR darauf, daß Erziehung und soziale Erfahrung einheitliche sozialistische Bildungssystem" (1965) unmittelbar miteinander korrespondieren müs- möglich gewesen wären (von der pädagogischen sen. Wissenschaft vorgebracht), wurden abgewiesen. Das Bildungswesen stagnierte. Stagna tion wurde In diesem Kontext kann nicht überraschen, daß als Kontinuität bezeichnet. Schließlich scheiterte soziologische Erhebungen (1993) ergeben haben, das Bildungswesen als Bestandteil des gesamten daß beträchtliche Anteile der früheren DDR-Bür- gesellschaftlichen Systems der DDR am Ende der ger sich die Strukturen des Bildungswesens der 80er Jahre nicht zuletzt an den Gründen, die in DDR zurückwünschen und die nach der Vereini- diesem Bildungswesen selbst und in seinen Bezie- gung durch inkompetente Politiker oktroyierten hungen zur Gesellschaft der DDR lagen. Bildungssysteme, die Schultypen, die Bildungs- wege, die Konfusion, die Unübersichtlichkeit, die 3. Das nach 1965 gestaltete „einheitliche sozialisti- soziale Ungerechtigkeit und die pädagogische sche Bildungssystem" der DDR wies für künftige Gleichgültigkeit kritisieren. Entwicklungen in Deutschland Vorzüge und tradi- tionswürdige Modernität, zugleich aber Defizite und Fehlentwicklungen auf.

Immerhin lagen dem Bildungswesen der DDR bei F. Zur Akzeptanz wissenschaftspolitischer und aller politischen und ideologischen Instrumentali- wissenschaftlicher Leistungen in der DDR sierung ihrem Wesen nach humanitäre Absichten zugrunde, die sich aus dem Verständnis vom Sozia- 1. Es ist keineswegs solide und der historischen lismus als einer dem Menschen dienlichen Gesell- Wahrheit dienlich, wenn die Wissenschaftsrealität schaft erklären, jedoch nur bedingt rea lisiert wur- der DDR auf ihre Einbindung in die gesellschaftli- den. Es war keine hohle Phrase, wenn die Pädago- che, d. h. politische und ideologische, Rea lität der ginnen und Pädagogen aufgefordert waren, sich DDR reduziert wird. Hierin äußerte sich nicht ihr um Persönlichkeitsentwicklung, um Ausprägung Wesenszug als Wissenschaft, wohl aber ihre gesell- reicher Individualitäten, um eine „optimale" Ent- schaftlichen Funktion. wicklung eines jeden Kindes und Jugendlichen zu bemühen. Viele haben für solche Ziele aufopfe- Ohne die ab 1990 stattgefundene vordergründige rungsvolle pädagogische Arbeit geleistet, insbe- Abrechnung mit der politischen Einbindung der sondere Tausende von Kindergärtnerinnen, Lehre- Wissenschaften der DDR hätten die Wissenschafts- rinnen und Lehrern. Die wesentlichsten Akteure in traditionen der DDR durchaus einen entwicklungs- fördernden Einfluß auf die Gestaltung des Wissen- den Kinderkrippen, Kindergärten und allgemein- bildenden Schulen waren gut ausgebildete und schaftsgefüges des vereinigten Deutschlands aus- pädagogisch hoch motivierte Frauen. üben können, speziell wenn ihnen die Chance des freien Wettbewerbs mit den in der Bundesrepublik Zum anderen leiteten sich die Begrenzungen und Deutschland gewachsenen Formen eingeräumt die (resultative) Ineffizienz genuin humanitärer worden wäre. Nur ein solcher Wettbewerb (den Absichten und Programme im Bildungswesen der keinerlei noch so gewissenhaft ausgeführte Eva- DDR nicht allein aus dem Mißbrauch der Erziehung luation ersetzen konnte) hätte den gültigen Nach- für die Durchsetzung und Erhaltung von politischer weis erbracht, was an diesen Traditionen lebendig Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

und bewahrenswert und was steril und unbrauch- Isolation, die in Umfang und Qualität beachtlichen bar war. Ausstattungsdefizite, speziell auf dem Gebiet der Experimental- und Informationstechnik und vieles 2. Wirkliche Wissenschaft und deren sozial nützliche andere mehr. praktische Umsetzung, der Fortschritt an wissen- schaftlicher Erkenntnis und die Heranbildung von Unter den Hochschullehrern wie Studierenden Menschen, die fähig zur eigenständigen Problem- wurde jahrzehntelang immer wieder über die erkenntnis und zu produktiven wissenschaftlichen „Verschulung" der akademischen Ausbildung, Problemlösungen sind, war stets offiziell verkünde- über die einseitige Orientierung der Volksbildung tes Ziel der Wissenschafts- und Hochschulpolitik auf das „Kurzzeitgedächtnis" (auf Prüfungsfragen der SED. Und das beruhte nicht nur auf einem reduziert) sowie über andere Mängel des Bildungs- bloßen Propagandabedürfnis, da es sich hier um wesens geklagt und dazu vergeblich Änderungs- offenkundige Bedingungen dafür h andelte, daß die vorschläge entwickelt. Das demotivierte auch jene DDR nicht von vornherein ihren Anspruch als Teile der Intelligenz, die aktiv an der Neugestal- modernes Industrieland hätte aufgeben müssen. tung der Gesellschaft mitwirken wollten. Unter diesen Bedingungen konnten die frommen Wün- Als ab Mitte der fünfziger Jahre in den sozialisti- sche bezüglich der Ausbildung hochbefähigter und schen Ländern erkannt wurde, daß der gesamte hochmotivierter, zu eigenständiger Problemer- neuere Aufschwung von Wissenschaft und Technik kenntnis und Kreativität befähigter Kader, nicht in unserer Zeit den Systemwettstreit zwischen Ost verwirklicht werden. Dazu gab es schon Ende der und West unvermeidlich zugunsten des Westens 50er Jahre einige Ansätze, die im März 1980 die entscheiden wird, wenn die sozialistischen Länder Gestalt eines grundsätzlichen Politbürobeschlus- in diesem Bereich in Rückstand geraten bzw. ses annahmen, die aber niemals eine sichtliche weiter in ihm verbleiben, mußte Leistungssteige- Realisierung erlangten. rung in allen Zweigen der Wissenschaft (und der Bildung) verlangt werden. So entwickelte sich bis Nicht erfüllt wurden dringend nötige Vorausset- zu den sechziger Jahren eine erhebliche soziale zungen, damit die DDR in der Entwicklung von Ausweitung des Bildungssystems. Vielfältige wis- Wissenschaft, Technik und Produktivität mithalten senschaftliche Arbeiten in Lehre und Forschung, konnte, wie die Gewährung von schöpferisch nutz- seriös und zielstrebig betrieben, sind damals zu baren Freiräumen für Lehrer und Studenten, der teilweise nennenswerten Ergebnissen geführt wor- Übergang zu einem vorwiegend fakultativ gestal- den, darunter solchen mit beachtlicher internatio- teten Studienprogramm, die Senkung der Pflicht — naler Anerkennung. Semester — Wochen — Stunden, die Ausweitung 3. Es gereicht zur Ehre der im Bereich von Wissen- der Literaturauswahl, die Ausdehnung der von den schaft und Bildung in der DDR tätig gewesenen Dozenten und Professoren selbstbestimmten In- Menschen, unter den Bedingungen des Wissen- halte ihrer Lehrtätigkeit, die vielfältige Einbezie- schaftsembargos bis Anfang der siebziger Jahre hung der Studierenden in die Forschung bzw. und des Technologieembargos bis zum Schluß Praxis, die problem- und anwendungsbezogene Beachtliches geleistet zu haben. So ist von den Lehr- und Studientätigkeit u. a. durch die DDR-Wissenschaft hervorgebrachten 4. Zu den positiven Aspekten des Wissenschaftssy- und bis 1990 auch im Ausland anerkannten Ergeb- stems der DDR, über die nicht hinweggesehen nissen, gleich, welcher Disziplin, nach dem werden darf, gehören insbesondere: Anschluß der DDR nicht ein einziges — mit wissen- schaftlichem Anspruch und von der Fachwelt a) die gleiche soziale Sicherheit aller Typen wis- akzeptiert — widerlegt bzw. in Frage gestellt senschaftlicher Arbeitsverhältnisse. Sie kannte wurden. keine Aufspaltung der Wissenschaftlerpopula- tion in eine privilegierte, durch die lebenslange Die staatliche Leitung der Wissenschaft, die sich Sicherung der Arbeitsplätze zur Verfolgung letzlich aus dem staatlichen Eigentum an den ihrer wissenschaftlichen und Lebenspläne befä- Produktionsmitteln ergab, ermöglichte eine Zu- higte Beamtenschicht und in eine nichtprivile- sammenfassung der Kräfte für gesellschaftlich und gierte, zum Alternieren zwischen Zeitstellen volkswirtschaftlich wich tige Aufgaben. Das erwies und Phasen der Arbeitslosigkeit genötigte Mit- sich auf einer Reihe von Gebieten, gerade im arbeiterschicht (mit wenig Möglichkeiten, in die internationalen Wettbewerb, als fruchtbar. Zu- vorgenannte Schicht aufzusteigen); gleich führte sie im Zusammenhang mit dem poli- tischen und ideologischen Monopolanspruch der b) die Normalität stabiler Wissenschaftlergruppen, SED zu in der Regel schwerfällig — bürokratischen, zusammengesetzt aus Angehörigen unter- die Intelligenz oft entmündigenden und sowohl schiedlichen Qualifikationsgrades, unter- den Ideenwettstreit als auch die Herausbildung schiedlicher Begabungshöhe und unterschied- regionaler Vielfalt hemmenden Vorschriften, Pla- licher Berufserfahrung, damit zwar unterschied- nungs-, Leitungs- und Kontrollmechanismen. lichen aktuellen Einkommensniveaus, jedoch Hinzu kamen die Verschulung produzierende For- prinzipiell gleichen Berufschancen bzw. Per- men der akademischen Aus- und Weiterbildung, spektiven und in der Regel gleichem Gesamt- einschließlich der Graduierung, die mangelnden interesse am Resultat der gemeinsamen Arbeit; Möglichkeiten zu eigenen Publikationen, wie auch des Austausches mit der internationalen Wissen- c) der in der DDR bei aller Unzulänglichkeit des schaft, die Tendenzen des Provinzialismus und der Erreichten immer noch höhere qu antitative Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Anteil und qualitative Einfluß der Wissenschaft- von Institutionen und Be treuungseinrichtungen, lerinnen, infolge der gezielten Förderung von mit dem Plattmachen der materiellen Werte (soweit Frauen, bei Schaffung von Möglichkeiten, nicht ganz unmittelbar und erheblich gewinnträch- Berufstätigkeit mit Kinderbetreuung zu verein- tig) und mit dem Brachlegen großer Teile des baren, die Vielzahl der in der DDR erprobten Arbeits- und geistigen Poten tials der DDR-Gesell- Wege der Begabtenförderung und der engen schaft. Verbindung von Studium und Beruf; Zumindest eine auf vorausschauenden Vorteil d) die vielfältigen neu entwickelten Formen und bedachte Inventur des zugefallenen Erbes, welche Wege, die wissenschaftliche Forschung mit den mit nüchterner Objektivität das Brauchbare vom zu Problemstellungen, mit dem Leistungspotential Verwerfenden sondert, hätte man von der politi- und mit den Umsetzungsmöglichkeiten der schen und ökonomischen Elite der Altbundesre- modernen Produktion zu verbinden, nicht nur publik erwarten können. Es wäre dabei sicher mehr über die Wege der Verbindungen zwischen als der „grüne Pfeil" als durchaus verwertbar oder Akademie und Hochschulen mit der Industrie, ausbaubar in die gemeinsame Kasse gekommen. sondern auch vermittels spezieller Industrie- Verhindert werden sollte offensichtlich, daß die Forschungs-Zentren; Menschen aus der Alt-Bundesrepublik Deutsch- land soziale und andere Systeme der DDR als e) das bedeutend günstigere Verhältnis von Wis- brauchbar kennenlernen und eventuell überneh- senschaftlerinnen/Wissenschaftlern und Stu- men wollen würden. dentenzahlen an den Universitäten und Hoch- schulen, was im Prinzip (allerdings ohne die 2. Es war auch eine Chance der Enquete-Kommis- administrativen Hindernisse und politischen sion, in den von ihr beleuchteten Gebieten mit Einmischungen, die dem in der DDR im Wege solcherart Fragestellung nicht nur die eigentlich standen) eine wesentlich individualisiertere und gebotene Differenziertheit der Beurteilung zu fun- zugleich intensivere Studiengestaltung ermög- dieren und damit die ebenso dringend nötige wie licht hätte; schwierige Aufgabe der Versöhnung zu befördern, f) die vielfältigen Formen von kostenloser Weiter- sondern außerdem für die verschiedensten Gebiete mit nützlichen Hinweisen zum „Wie weiter?" auf- bildung einschließlich eines ausgebauten Sy- warten zu können. stems des Fernstudiums und der Erwachsenen- qualifizierung; 3. Die mit der Wiedervereinigung erfolgte Grundsatz- g) die Rolle bestimmter Foren und Mechanismen entscheidung gegen die in der DDR praktizierte der überinstitutionellen Koordinierung der wis- Planwirtschaft und für die Marktwirtschaft wurde senschaftlichen Arbeit, die (allerdings von zen- zumindest unnötig mit einer rigiden, d. h. aus- tralistischer Einseitigkeit und politischer Regle- schließlichen und fiebrig forcierten Privatisierung mentierung befreit) durchaus imstande gewe- der volkseigenen Wirtschaft und mit einem extrem sen wäre, die aus dem Kulturföderalismus ent- ungezügelten Bereicherungszug verbunden. springende Tendenz der Zersplitterung und Einerseits ist Marktwirtschaft durchaus mit einer Inkompatibilität wirksam zu kompensieren. Das Vielfalt von Eigentumsformen vereinbar (vorüber- schließt auch die Zuordnung von akademischer gehend in jedem Falle). Eine Mischung von Privat- Gelehrtengesellschaft und professioneller For- eigentum, öffentlichem Eigentum von Bund, Län- schungsorganisation als eine effektive Möglich- dern und Kommunen und genossenschaftlichem keit der Institutionalisierung von Erkundungs Eigentum plus gemischter Unternehmen hätte das und zielorientierter Grundlagenforschung mit Grundprinzip der Marktwirtschaft, den Wettbe- ein. werb, eher gefördert als behindert.

Andererseits wurde eine weitestgehende Absti- G. Was an sozialen und ökonomischen nenz geübt, in der eigentlich nötigen (und markt- Verhältnissen in der DDR nach ihrem wirtschaftlich möglichen) Weise direkt oder indi- rekt ordnend und strukturgestaltend auf die viel- Anschluß bewahrenswert gewesen wäre fach und für länger nicht voll zur Selbstregulierung fähigen Märkte impulsgebend und wettbewerbs- 1. Vorhersehbar hatte der Anschluß der DDR an die fördernd einzuwirken. Krasse Ungleichgewichte Bundesrepublik Deutschl and die Konsequenz, daß und Monopolsituationen entstanden und belasten deren System übernommen und das DDR-System die deutsche Wirtschaft. liqidiert wird, auch wenn das seinerzeit nicht von allen so erkannt wurde. Es war damit zu rechnen, 4. Art, Tempo und Ausmaß der Privatisierung der daß mit dem politischen System auch die in der volkseigenen Wirtschaft waren offenkundig mehr DDR herrschenden Eigentums-, Rechts-, ökonomi- ideologisch als ökonomisch bestimmt. Bei ausge- schen und sozialen Verhältnisse verschwinden wogenem Herangehen und längerem Atem wäre werden. Es war jedoch nicht zwangsläufig zu das Schaffen von Kapitalgesellschaften, in denen erwarten, daß alle wie auch immer gearteten Ver- der Bund oder die Länder (in etlichen Fällen die hältnisse, Formen, Normen und Traditionen, sofern Kommunen), zusammen mit Kapital- und Kreditbe- sie nur das Markenzeichen „DDR" aufwiesen, fast teiligung Dritter, bei Einstieg eines erfahrenen ohne näheres Hinsehen in den Orkus geschickt Managements, aussichtsreich gewesen (zumindest würden. Und dies zusammen mit dem Ausroden mit mittelfristigem Zeitziel). So wären öffentliche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Vermögenswerte, Arbeitsplätze, Märkte (darunter Es war für die DDR eigentlich typisch, daß der binnenwirtschaftliche bzw. regionale), aber natür- Betrieb und das Umfeld der Arbeitstätigkeit — hier lich auch Konkurrenzssituationen, erhalten geblie- vor allem das engere Arbeitskollektiv — zu einem ben. Bestandteil der unmittelbaren Lebenswelt mit vie- lerlei sozialen, individuell-persönlichen und auch Diese forderte Privatisierung (fast um jeden Preis) ideellen Beziehungen geworden war. Wenn auch erwies sich überhaupt als verlustreichste Variante die hier durchschlagende Tendenz zum Kollekti- der Privatisierung. Das Feilbieten faktisch einer vismus vom Einzelnen mehr oder weniger als ganzen Volkswirtschaft zum schnellstmöglichen gängelnd und bevormundend empfunden wurde, Verkauf mußte unvermeid lich zur Folge haben, so gab es in diesem Bereich doch spürbare, sich daß der Verkäufer selbst, die Treuhandanstalt, entwickelnde Beziehungen der Kommunikation, entgegen marktwirtschaftlich vernünftigen Über- gegenseitigen Hilfe und Unterstützung und das legungen die ohnehin lustlosen Käufer vollends in Geborgenheit vermittelnde Erleben der Gemein- die Position von Monopolnachfragern bringt, in der samkeit. Demgegenüber sind das Erleben fakti- diese faktisch die Bedingungen diktieren kön- scher Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit und der nen. allgegenwärtige Kampf „aller gegen alle" um das - 5. Die Landwirtschaft der DDR hätte, bei entspre- soziale Über- oder Besserleben drastische Negativ chendem Konzept der Strukturanpassung recht gut Erfahrungen für die von der ehemaligen DDR- in der Lage sein können, in relativ kurzer Zeit den Wirklichkeit geprägten Menschen Ostdeutsch- Übergang zur Marktwirtschaft unter den Bedin- lands. gungen der EG-Agrarpolitik zu vollziehen. Was die 8. Von den sozialen Regelungen/Verhältnissen der Betriebsgrößenstruktur bet rifft, befand und befin- DDR, von denen vieles erhaltenswert gewesen det sich die ostdeutsche Landwirtschaft in einem wäre, hat die Enquete-Kommission kaum Notiz deutlichen und ökonomisch sehr bedeutsamen genommen. Davon ist besonders Folgendes her- Vorteil gegenüber der Landwirtschaft der Altbun- vorzuheben: desländer. Dieser Vorteil kann aber sehr schnell verspielt werden (und die Politik der Bundesregie- a) Der grundlegende Unterschied der sozialen rung läuft darauf hinaus,) wenn der ostdeutschen Verhältnisse der DDR zu denen in der BRD, daß Landwirtschaft das „Modell des bäuerlichen Fami- die Mittel zum Lebensunterhalt überwiegend lienbetriebes" aufgezwungen wird, das sich ein- durch eigene Arbeit erworben oder — wenn dies deutig als Auslaufmodell erwiesen hat. noch nicht oder nicht mehr möglich war — durch staatliche Fürsorge erlangt wurden, förderte die 6. Eine besonders reiche Vermögensausstattung der unabhängige Lebensführung eines jeden Men- ostdeutschen Kommunen wäre wegen der Domi- schen. Das Sozialversicherungsprinzip war er- nanz des Volkseigentums in der DDR, einschließ- gänzt durch eine soziale Sicherung, somit war lich des zu DDR-Zeiten extrem unterbewerteten das in der Bundesrepublik Deutschland domi- Grundbesitzes, möglich gewesen und angesichts nierende Subsidiaritätsprinzip mit entwürdi- der ausgeleerten Kassen für die wi rtschaftliche genden Bedürftigkeitsprüfungen unbekannt. Fundierung der kommunalen Selbstverwaltung Gewiß gab es auch eine Art staatlicher Befürsor- sowie für die wirtschaftliche Gesundung in Ost- gungsmentalität, die sich jedoch nur ausprägen deutschland sogar dringend erforderlich gewe- konnte, weil eine leistungsgerechte soziale Dif- sen. ferenzierung im Lohn- und Gehaltssystem ungenügend ausgeprägt war, ein Trend zur Diese Chance wurde und wird absichtsvoll nicht Gleichmacherei existierte. genutzt. Die staatliche Hoheitsaufgabe der Vermö- genszuordnung an die Kommunen wurde in ihrer Unbestritten ist jedoch, daß grundlegende Men- Ausführung zu einem großen Teil der Treuhandan- schenrechte auf Arbeit, soziale Sicherung, stalt übertragen, die (ihrer vorrangigen Orientie- gesundheitliche Fürsorge und Wohnung weit- rung auf Privatisierung wegen) nahezu die Hälfte gehend gewährleistet waren. der Anträge der Kommunen auf Vermögensüber- b) Die nicht subsidiäre Gewährung sozialer Lei- tragung von Bildungs-, Gesundheits- und Kultur- stungen führte dazu, daß Kindergeld unabhän- einrichtungen (die zu DDR-Zeiten zu einem Groß- gig vom Einkommen der Eltern gezahlt wurde, teil betriebliche Einrichtungen waren), nega tiv daß es für alle Studentinnen und Studenten ein entscheidet. Stipendium gab und die Renten aus Versiche- 7. Ein wesentlicher, wenn auch kaum quantifizierba- rungsansprüchen durch eine Mindestrente er- rer Verlust an Lebensqualität, den die ehemaligen gänzt waren. Vor allem ältere Frauen und Men- Bürgerinnen und Bürger der DDR zu verzeichnen schen mit Behinderungen waren damit sozial haben, ist die inzwischen völlig veränderte Situa- mindestgesichert. Die heute häufig belächelte tion im Bereich der Arbeitswelt. Nicht nur, daß es in oder verächtlich gemachte geringe Höhe (Sti- der DDR für Frauen wie Männer in der Regel wenig pendium 280 Mark, Mindestrente 330 Mark) problematisch war, die geeignete Berufslaufbahn erlaubte zu DDR-Zeiten jedoch eine beschei- einzuschlagen (sei es im direkten Zugriff oder sei es dene eigenständige Lebensführung, vor allem mit mehrmaligem Anlauf) — erst recht war es durch die Subventionierung von Waren des normal, überhaupt einen Arbeitsplatz zu erhalten, täglichen Bedarfs, von Mieten und Verkehrsta- um durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu rifen und von Eintrittsgeldern für kulturelle und sichern sportliche Veranstaltungen in Milliardenhöhe. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

c) Erhaltenswert wäre das gefächerte Angebot der jährlich einen Erholungsurlaub leisten, auch Kinderbetreuung von der Krippe über den Kin- und gerade dann, wenn ihre Renten und Löhne dergarten bis zum Schulhort gewesen. Betrieb- relativ gering waren. liche soziale Leistungen für die Kinder der Beschäftigten, vor allem die Kinderferienlager, 9. Die Entwicklung im Herbst 1989 und die aktive, halfen die Angebotspalette für eine sinnvolle zum Teil auch ambivalente Rolle von Frauen in Freizeitbeschäftigung zu erweitern. Unschätz- diesem Prozeß ist ohne eine Charakterisierung der bar im Wert für eine vielseitige Entwicklung Frauenpolitik in der DDR nicht zu verstehen. Im waren Kinderfreizeitstätten und Jugendklubs. Hinblick auf die Differenzen in der politisch-histo- rischen Identität zwischen Frauen aus Ost und Der Kinder- und Jugend-Gesundheitsschutz mit Frauen aus West ist es unver antwortlich, mit der regelmäßigen prophylaktischen allgemein- und DDR-Frauengeschichte einen bedeutsamen Teil zahnärztlichen Untersuchungen, mit der fast der deutschen Nachkriegs-Frauengeschichte zu automatischen Abarbeitung eines Impfkalen- verleugnen oder durch Subsumtion unter eine ders, sicherte, daß viele gefährliche Infektions- abstrakte „Gesamtgeschichte „ zu verschweigen. und Kinderkrankheiten getilgt waren. Die DDR hatte ein inte rnational anerkanntes Dispen- a) Theorie und praktische Frauenpolitik in der saire-System, das inzwischen nahezu liquidiert DDR standen in der Tradition eines Weltbildes, ist. das gesellschaftliche Prozesse aus dem Blick- winkel ihrer ökonomischen Ursachen heraus d) Die Polikliniken der DDR, als effektive Organi- bewertete und erklärte. Der Geschlechterwider- sationsform gemeinschaftlichen Agierens von spruch, so er nicht ganz und gar geleugnet Ärztinnen und Ärzten, hätten dem kostenexplo- wurde, erschien in diesem Kontext als ein dierenden Gesundheitssystem der Bundesrepu- Nebenwiderspruch, der mit Lösung des Haupt- blik gut getan. Mit untereinander abgestimmter widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit ver- Arbeit (keine Doppel- und Dreifachuntersu- schwinden würde. chungen), mit gemeinsam genutzter Geräte- technik und Bausubstanz könnte ein kostenspa- Mit der Gleichberechtigung, d. h. der formalen render struktureller Impuls in die perm anente gesetzlichen Gleichbehandlung von Frauen sogenannte Gesundheitsreform eingebracht und Männern, glaubte man, das Problem der werden, anstatt nur laut über eine höhere Eigen- Benachteiligung von Frauen zu beheben. beteiligung der Patientinnen und Patienten Gleichberechtigung implizierte aber auch in der nachzudenken. DDR, daß an Frauen die Forderung nach Anpas- sung an männlich geprägte Wertvorstellungen, Trotz artikulierten politischen Willens ist das Normen und Lebensentwürfe gestellt wurde. geschlossene Netz der Polikliniken der DDR Gleichbehandlung setzte solche Anpassung dem Gewinninteresse der niedergelassenen voraus und reproduzierte infolgedessen die Ärzteschaft der Alt-Bundesrepublik Deutsch- bestehenden patriarchalen Strukturen, statt sie land zum Opfer gefallen. aufzuheben. Die ausgeprägte Schwangerenbetreuung sowie das ganzheitliche System zur Eingliederung Die marginale Bedeutung des Geschlechterwi- und Rehabilitation behinderter Menschen derspruchs und die daraus resultierende man- — materiell sicher unzureichend ausgestattet — gelnde Auseinandersetzung mit dieser Proble- sind ebenfalls bei der Überstülpung des west- matik hatte zur Folge, daß Frauenpolitik in der deutschen Gesundheits- und Sozialsystems als DDR auf den traditionellen Schwerpunkten nichtkompatibel auf der Strecke geblieben. kommunistischer und sozialdemokratischer Gleiches gilt für die kostenlosen prophylakti- Frauenpolitik der 20er Jahre aufbaute, ohne schen und Heilkuren. diese kritisch zu hinterfragen und die Theo rie den geänderten gesellschaftlichen Bedingun- e) Die wachsende Zahl der Obdachlosen auch in gen anzupassen. den neuen Bundesländern läßt das Wohnungs- bauprogramm der DDR in einem anderen Licht b) Wie andere Politikfelder auch, war Frauenpoli- erscheinen. Sicher waren die Wohnungen tik in der DDR eine durch die SED zentralistisch bescheiden ausgestattet und klein, sicher führte geplante und geleitete Politik. Sie wurde zuneh- die Konzentration von Neubaugebieten auf der mend für Frauen, nicht von Frauen und mit grünen Wiese zu Problemen im soziokulturellen Frauen gemacht. Raum für weibliche Subjek- Umfeld — aber: es entstanden mehr und mehr, tivität war in diesem Konzept kaum vorgese- vor allem bezahlbare Wohnungen. Obdachlo- hen. sigkeit war ein Fremdwort, Räumungen auf die Straße waren verboten. Ausgehend von der Nebenwiderspruchstheorie und in einem paternalistischen Verständnis vom f) Nicht zu unterschätzen ist das Ferienangebot, Verhältnis Partei/Staat — Frauen, wurde eine das der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zu eigenständige und besondere Interessenartiku- extrem billigen Preisen Beschäftigten und Vete- lation und -vertretung von Frauen als dekaden- ranen unterbreitete. Obwohl das Reiserecht der ter kleinbürgerlicher Angriff auf die führende Bürgerinnen und Bürger der DDR erheblich Rolle der Partei interpretiert und damit tabui- eingeschränkt war, konnten sich so Millionen siert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Frauen emanzipierten sich nicht selbst, sie wur- Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der den emanzipiert. Frau" im Jahre 1950 war fast immer begrenzt auf den erwerbstätigen Teil der weiblichen Bevöl- Die auch heute noch verbreitete antifeministi- kerung und hierunter zunehmend auf die sche Haltung vieler Frauen in den neuen Bun- erwerbstätigen Mütter. desländern hat hierin eine wesentliche Ursa- che. Auftretende Konflikte und Widersprüche wur- den als individuelles Versagen der Be troffenen, c) Frauenpolitik der DDR bewegte sich immer im Rudimente bürgerlichen Denkens bei einzelnen Spannungsfeld zwischen der offiziell als gelöst oder ideologische Hemmnisse verharmlost. geltenden sogenannten Frauenfrage und den in der Praxis sich vertiefenden gravierenden Die Erwerbszentriertheit staatlicher Frauenför- Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen derung hatte die fatale Folge, daß die zu rund hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft: 75 % aus Frauen bestehende ältere Genera tion, die nicht mehr erwerbstätig war, vor allem jene, — Der rechtlichen Gleichheit von Frauen und die ihre Erwerbstätigkeit vor Gründung der Männern stand eine soziale Ungleichheit DDR hatten, aus staatlich subventionierter beider gegenüber (in gewisser Hinsicht Frauenförderung ausgeklammert wurde und in sogar in der Entlohnung), die gravierender ihrem Lebensniveau Ungerechtigkeiten erlitt. war als zwischen anderen sozialen Gruppen bestehende Unterschiede. f) Die an sich hohe Wertung der Arbeit wurde in der DDR auf Berufs- und Erwerbsarbeit ver- — Einerseits existierte die verordnete Gleich- kürzt, wodurch der Anteil von Frauen an gesell- heit, deren Maßstab männliche Normen, schaftlich notwendiger Arbeit nur partiell wahr- Wertvorstellungen und Lebensentwürfe wa- genommen wurde. ren, andererseits gab es tatsächliche Fort- schritte in bezug auf die Gleichheit in der Unter dem Postulat der Gleichheit wurde ver- Rechtsgestaltung. sucht, das Prinzip der geschlechtshierarchi- schen Arbeitsteilung zwischen bezahlter, pro- — Der instrumentellen staatlichen Verfügung duktiver, vorrangig durch Männer geleisteter über weibliches Arbeitsvermögen st and die Erwerbsarbeit und unbezahlter, reproduktiver, ökonomische Unabhängigkeit der erwerbs- vor allem von Frauen geleisteter Familien- und tätigen Frauen gegenüber. Hausarbeit zu modernisieren. Mit dem Ergeb- — Durch einseitig an Frauen adressierte politi- nis, daß in der DDR die vorher Männern vor- sche Entscheidungen wurden traditionelle behaltene Erwerbsarbeit und die unbezahlte Rollenbilder und Haltungen in der Praxis Arbeit durch Frauen gemacht wurde. befördert und verfestigt, während anderer- seits die bestehende Benachteiligung von Familien- und Hausarbeit als gesellschaftlich Frauen durch eben diese kompensatorischen unbedeutende Arbeit blieb in der Verantwor- Maßnahmen aufgehoben werden sollte und tung der Frauen, auch wenn von den 70er auch tatsächlich abgeschwächt wurde. Jahren an das Modell des „mithelfenden" Ehe- mannes sich allmählich durchzusetzen be- d) Die ökonomische Eigenständigkeit von Frauen, gann. ein umfassender Frauen- und Mutterschutz, die liberale Fristenlösung hinsichtlich einer selbst- Mit dieser durch Frauen geleisteten erheblichen bestimmten Schwangerschaft, die rechtliche Mehrarbeit wurden Mängel in den Rahmenbe- Gleichstellung in Ausbildung und Beruf, gesi- dingungen für die Erwerbstätigkeit der Bevöl- cherte gesundheitliche Fürsorge, soziale Sicher- kerung — des Dienstleistungssektors, des Ver- heit im alltäglichen Leben schufen für Frauen kehrswesens, des Gesundheitssystems — aus- wichtige Ausgangspunkte einer emanzipatori- geglichen. Diese Tatsache und die für Frauen schen Entwicklung. Aber sie waren nicht hinrei- aus der Mehrfachbelastung erwachsenden Pro- chend für eine wirkliche Änderung des auch in bleme fehlten in der öffentlichen Diskussion und der DDR vorherrschenden Zivilisationsmodells wurden damit individualisiert. Patriarchat. Die Stellung der Frauen in der DDR blieb trotz günstigerer Entwicklungsbedingun- gen die einer benachteiligten und ausgebeute- Schlußteil: ten Frau im Patriarchat. 1. Es entsteht die Frage, ob — und wenn ja, wie — die Wegen der verkürzten Auffassung von einer als Aufarbeitung bezeichnete politisch orientierte emanzipatorischen Gesellschaft als einer von Auswertung der Geschehnisse, Hintergründe und kapitalistischer Lohnarbeit befreiten Gesell- Folgen der jüngeren Geschichte Deutschlands wei- schaft führten diese günstigen Bedingungen ter geführt werden kann bzw. so ll. An den im nicht zu einer wirklichen Befreiung der Frauen Bericht zusammengefaßten Ergebnissen der En- von männlicher Vormundschaft. quete-Kommission gemessen, kann der jetzige e) Frauenpolitik in der DDR war von Anfang an Stand keinesfalls als bef riedigend bezeichnet wer- eine auf die Vereinbarkeit von Mutterschaft und den. Mit der Vorlage dieses Berichtes an den Erwerbstätigkeit ausgerichtete Politik. Die Deutschen Bundestag am 17. Juni 1994 ist diese staatliche Förderung seit dem „Gesetz über den Aufarbeitung nicht abzuschließen (die wissen- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

schaftliche historische Forschung ohnehin nicht). Kräfteverhältnisse mit einem dauerhaft gültigen Abgesehen von den teilweise kritikwürdigen ein- Ergebnisstempel versehen werden kann. seitigen Deutungen von selektiv aus den Experti- sen und Anhörungen entnommenen Aussagen, ist Es wäre deshalb für eine systematische Weiterfüh- die Tiefe und Breite der von der Enquete-Kommis- rung der Untersuchungen zu plädieren. Dazu müs- sion durchgeführten Analysen für eine abrundende sen DDR-spezifische Erscheinungen und Problem- Gesamtaussage zum Untersuchungsgegenstand stellungen allerdings eingebunden werden in die nicht ausreichend. Das rührt u. a. von der kurzen korrespondierenden Wechselbeziehungen zur zur Arbeit verfügbaren Zeitspanne her, zum Teil Entwicklung der Alt-Bundesrepublik wie auch in vom unzureichenden Forschungsvorlauf, aber den gemeinsamen historischen Hintergrund der auch von dem in vielem nicht auf ausgewogene Zeit vor 1945. Es muß — unabhängig vom politi- Untersuchungen im sachlichen und historischen schen Standpunkt — im Interesse der politischen Zusammenhang ausgelegten Untersuchungspro- Zukunft unseres Volkes liegen, ein wirk lich radi- gramm. Und selbst das wurde nur teilweise erfüllt, kales Aufdecken und Verarbeiten der vollen Wahr- wie die im Bericht benannten Forschungsdeside- heit zu erreichen. Dabei sind in einer solchen rate beweisen. Aufarbeitung der Geschichte nicht so sehr irgend- welche auftretenden Teilwahrheiten als solche 2. Verglichen mit dem Untersuchungsprogramm bedenklich (sie können beim Umgang mit der bleiben sogar solch wesentliche Fragenkomlexe Geschichte nie ausgeschlossen werden), sondern unterbelichtet, wie z. B. die Sachanalyse der Struk- mehr noch das Stehenbleiben bei ihnen. tur und der Entwicklung des Machtapparates (ein- schließlich des MfS); die DDR-Wirtschaft als Objekt 4. Die weitere Aufarbeitung kann nicht von einer der inneren und äußeren politischen Einflußnahme politisch dominierten Enquete-Kommission — und und als eigenständiger Faktor der Systementwick- damit von den aktuell-politischen Tagesfragen lung (inhaltlich und auch funktionell); das Rechts- beeinflußt — erfolgreich ausgeführt werden. Sie system in seiner Ganzheit (einschließlich Zivil-, muß aber als politisch verantwortliche Zuarbeit Familien-, Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht), dem Deutschen Bundestag verfügbar werden — nicht nur unter vom Aspekt der Unrechtstaten, die und zwar als ein gemeinsames Anliegen der West- im Bereich von Recht, Justiz und Polizei herausra- und der Ostdeutschen. gen, sondern auch im Hinblick auf das Funktionie- ren des Gesamtsystems; ferner die Reaktionen der Deshalb wäre ein überparteilich zusammengesetz- SED-/DDR-Fiihrung auf die in den verschiedenen tes und die Ost- wie Westwissenschaftler koopera- Phasen ihrer Entwicklung sehr verschieden spür- tiv vereinendes wissenschaftliches Gremium, in baren äußeren Einwirkungen von „Freund" und Gestalt eines vom Bundestag beauftragten Gutach- „Feind" (in damaliger Sicht) auf die inneren ter-Ausschusses, eine denkbar gute Lösung für Geschehnisse; die Entwicklung der Interessen- dieses Anliegen. strukturen, Handlungsbedingungen und Verhal- tensmotive der Bevölkerung sowie ihrer haupt- 5. Ein wesentlicher Auftrag der Enquete-Kommission sächlichen sozialen und politischen Gruppierun- bestand darin, einen Beitrag zur Versöhnung zwi- gen, darunter der zeitweilig oder dauernd system- schen und unter den Menschen der DDR und der stützenden Kräfte. Bundesrepublik Deutschland zu leisten, die aus 3. Notwendig erscheint eine tiefergehende Aufarbei- unterschiedlichen Gründen und nicht immer tung der gesamten deutschen Nachkriegsentwick- selbstbestimmt, über vier Jahrzehnte in gegensätz- lung, einschließlich der des SED-Regimes, aber lichen und feindlichen Systemen gelebt hatten. Die eben nicht nur auf dieses bezogen, weder losgelöst Enquete-Kommission muß sich selbstkritisch die von den vorausgegangenen Jahrzehnten noch von Frage stellen, ob und wie sie dieser Verpflichtung den internationalen Rahmenbedingungen — und nachgekommen ist. Käme sie dabei zu einem ohne jegliche Tabus. Das ist eine Aufgabe, die nicht unbefriedigenden Ergebnis, müßte dies für die allein von der historischen Forschung im engeren Zukunft Kriterien und Maßstäbe für die weitere Sinne bewältigt werden kann und schon gar nicht Tätigkeit für vom Deutschen Bundestag eingesetz- durch das Urteil der aktuell gegebenen politischen ten Ausschüsse und Kommissionen setzen." Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

E. Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission

Die Aufgabe der Enquete-Kommission bestand im an die Westdeutschen, die von der SED-Diktatur wesentlichen in der kritischen Aufarbeitung der zumeist nicht existenziell berührt waren, kaum kriti- Geschichte der SED-Diktatur und ihrer Folgen in sche Fragen gestellt werden, sehen sich viele Ostdeut- Deutschland — mit dem Ziel, historisch-politische sche in einer Situation der Selbstrechtfertigung. Histo- Entwicklungen, Hintergründe und Zusammenhänge, risch-politische Aufarbeitung ist somit kein „bruch- Ursachen und Wirkungen im Hinblick auf die Gegen- los" gesamtdeutsches Unternehmen. Die Enquete- wart zu klären, daraus Erkenntnisse für die Politik der Kommission macht vielmehr auf die Gefahr aufmerk- inneren Einheit zu gewinnen und Empfehlungen zu sam, daß durch verständnislose, unsensible „Vergan-- erarbeiten, wie mit den Erblasten der DDR-Vergan- genheitsbewältigung" gegenseitige Vorurteile unter genheit umgegangen werden soll. Dabei hatte sich die den Deutschen in Ost und West wiederaufleben oder Enquete-Kommission Maßstäbe für die eigene Ur- neu entstehen können. teilsbildung zu schaffen. Deshalb muß eine sinnvolle Aufarbeitung der Ohne Zweifel hätte es die Enquete-Kommission über- Geschichte ebenso behutsam wie feinfühlig auf die fordert, wenn von ihr eine umfassende Geschichts- Bewußtseinslage der Menschen reagieren, die unter schreibung erwartet worden wäre. Diese muß ohnehin der zweiten Diktatur zu leben oder sogar zu leiden Sache der Historiker bleiben. Auch wäre für eine hatten und die heute vor der Notwendigkeit stehen, solche Aufgabe die verfügbare Zeit viel zu kurz sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen gewesen. Zwischen der Konstituierung der Enquete- und neu zu orientieren. Im Kontext dazu sehen sich die Kommission und der Vorlage ihres Berichts im Deut- historische, die sozial- und die rechtswissenschaftli- schen Bundestag lag eine Zeitspanne von 27 Mona- che Forschung vor der diffizilen Aufgabe, die mannig- ten. Ihre Erkenntnisse und Ergebnisse können des- fachen Verhaltensweisen der Menschen im „real halb nur als vorläufig betrachtet werden. Die Unter- existierenden Sozialismus" zu analysieren und zu suchung der Geschichte der SED-Diktatur durch die ergründen, um ihnen so gerecht zu werden. Pauschal- Enquete-Kommission sollte allerdings auch der histo- urteile wirken kontraproduktiv und verfestigen rischen Forschung Impulse vermitteln und der Öffent- Vorurteile. Das haben auch die Anhörungen und lichkeit die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Befragungen durch die Enquete-Kommission be- deutschen Teilung und der Geschichte der zweiten stätigt. deutschen Diktatur bewußt machen. In welchem Ausmaß haben die Menschen in der DDR unter der Diktatur der SED gelitten und diese ertra- gen? Inwieweit haben sie sich auch mit ihr arrangiert, sie im Glauben an den Sozialismus oder aus anderen 1. Erinnern als Lemprozeß Motiven unterstützt? Wer von ihnen hat ihr in ver- schiedener Weise, gelegentlich oder stetig, zu wider- Als besonders eindrucksvoll erwiesen sich im Verlauf stehen versucht? Wer hat mit Rat und Tat Ungerech- der Arbeit die Begegnungen mit Zeitzeugen vor- tigkeiten in Staat und Gesellschaft abgewehrt oder nehmlich aus den neuen Bundesländern. Ihre Befra- gegen sie opponiert? Inwieweit waren im Jahre 1945 gung ließen Anhörungen in der Kommission gele- bei dem Wechsel aus einer Diktatur in eine andere gentlich zu Lehrstunden werden, in denen Ost und schon entsprechende Mentalitäten vorgeformt? Wer West aus ihren grundverschiedenen Lebenserfahrun- glaubte in der DDR an die Möglichkeit, das System gen lernen konnten. Die einmalige und insofern von innen heraus zu verbessern, zu erneuern oder unwiederbringliche Chance lag darin, wichtige einen „dritten Weg" zwischen Sozialismus und Kapi- Zeitzeugen noch aus ihrem unmittelbaren Erleben, talismus finden zu können? ohne zeitbedingte Erinnerungsschwächen, zu hören. Im Diskurs unterschiedlicher Ost/West-Erfahrung Solche und ähnliche Fragen sind in der Enquete- konnte so ein genaueres Bild vom Leben in der DDR Kommission gestellt worden. Aus verständlichen entstehen, zumal Menschen aus vielen Schichten zu Gründen konnten bei weitem nicht alle beantwortet Wort gekommen sind: Männer und Frauen aus der werden. Es bleibt dem Urteil der Be troffenen vorbe- Arbeiterschaft wie aus der bäuerlichen Bevölkerung, halten, ob und inwieweit sie sich dennoch mit dem aus Bildung und Wissenschaft sowie aus der Politik, hier vorliegenden Befund identifizieren können, ob Künstlerinnen und Künstler. sie sich mit ihrem Wollen und Handeln im Bericht der Enquete-Kommission wiederfinden. Es bedarf künftig Dabei war sich die Enquete-Kommission stets bewußt, einer ebenso systematischen wie einfühlsamen For- daß die historisch-politische Aufarbeitung der SED- schungsarbeit, um die Geschichte der Verhaltenswei- Diktatur auf eine ungleiche Be troffenheit der west sen der Menschen unter den Bedingungen der SED und der ostdeutschen Bevölkerung, der Menschen in Diktatur in ihrer Kompliziertheit und Vielschichtigkeit den alten und neuen Bundesländern trifft. Während aufzuarbeiten. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

2. Zum Begriff der Diktatur messen weitergeführt werden sollte. Außerdem ist zu beachten, daß es bereits Ansätze zur Verdrängung Unstrittig war bei allen Mitglieder der Enquete- historischer Erfahrungen bis hin zur Legendenbil- Kommission — ausgenommen die Vertreter der dung gibt. Solchen Tendenzen in der öffentlichen Gruppe der PDS/LL — die Auffassung, daß sich die Meinung kann nur durch die weitere intensive Aus- Diktatur der SED entgegen der Legendenbildung zu einandersetzung mit der Vergangenheit begegnet keiner Zeit ihrer Existenz auf den Willen einer Mehr- werden. heit in der Bevölkerung der DDR stützen konnte. Wäre Ein im öffentlichen Bewußtsein verankerter antitotali- das anders gewesen, hätte die SED bei . den neun tärer Grundkonsens ist wesentlich für die Demokratie Wahlen zur Volkskammer, die unter ihrer Herrschaft in Deutschland. Er schließt eine historisch fundierte in der DDR durchgeführt wurden, allgemeine, glei- Beurteilung der SED-Diktatur ein. Eine Aufarbeitung, che, unmittelbare und geheime Wahlen nach den die die Realitäten aufdeckt, die Verantwortlichkeiten Grundsätzen des Verhältniswahlrechts zugestehen benennt und so den Erfahrungen der Menschen können, wie dies in Artikel 51 der ersten DDR gerecht wird, ist entscheidend für eine demokratische Verfassung übrigens zwingend vorgeschrieben war. politische Kultur in Deutschland. Wenn die Politik den- Die SED scheute jedoch ein demokratisches Votum. Rang dieser Aufgabe zur Geltung bringen will, sollte Das Volk hatte zu keiner Zeit die Möglichkeit einer sie sich aus dieser Erinnerungsarbeit nicht zurückzie- alternativen Entscheidung. Daher war die DDR in hen. allen ihren Entwicklungsphasen bis zum Sturz E rich Honeckers ein Staat ohne demokratische Legitima- tion. In keiner Anhörung oder Beratung der Enquete Kommission sind an dieser Auffassung jemals Zweifel 4. Aufgaben der Forschung geäußert worden. Daraus folgt auch, daß die einschlägige zeitgeschicht- Unter dieser Voraussetzung ist es eine zutreffende Beurteilung, wenn man — wie die Enquete-Kommis- liche Forschung nicht nur Ländersache sein kann. Sie ist eine gesamtstaatliche Aufgabe im Sinne der inne- sion das unmißverständlich get an hat — die Herr- ren Wiedervereinigung und muß als solche auch vom schaft der SED uneingeschränkt als Diktatur kenn- zeichnet. Schließlich hat die SED selber ihr Regime Bund wahrgenommen bzw. gefördert werden. Sie ist seit Mitte der 50er Jahre als Diktatur bezeichnet — als eine gesamtdeutsche Aufgabe, in den alten wie in den neuen Bundesländern, wobei es selbstverständlich „Diktatur des Proleta riats", die sich allerdings de facto zu jeder Zeit als Diktatur der SED-Politbürokratie sein sollte, daß hier nicht diejenigen in erster Linie erwiesen hat. Daher war es durchaus folgerichtig, daß gefragt sind, die zu Zeiten der DDR als willfäh rige die SED, als am 18. März 1990 erstmals in der DDR Gehilfen der SED-Diktatur das Regime historisch freie Wahlen zur Volkskammer möglich geworden gerechtfertigt haben. waren, in den Rang einer kleinen Minderheitspartei Deshalb ist es erforderlich, für die Aufarbeitung von zurückfiel, auch wenn sie sich inzwischen in die Geschichte und Folgen der SED-Diktatur und der „Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) deutschen Teilung durch die zeitgeschichtliche umbenannt hatte. Deutschlandforschung auch von seiten der Bundesre- An das Fehlen demokratischer Legi timation der SED- gierung erneut Anstrengungen zu unternehmen und Diktatur ist auch deshalb zu erinnern, weil der die Ergebnisse dieser Forschung — auch verbunden Behauptung in dem Sondervotum des Vertreters der mit der politischen Bildungsarbeit — der Öffentlich- Gruppe PDS/LL, Dr. Dietmar Keller, zu diesem keit zugänglich zu machen. Bericht, widersprochen werden muß, beide deutschen Ebenso legt die Enquete-Kommission der Bundeszen- Staaten und ihre Entwicklungswege seien „historisch trale und den Landeszentralen für politische Bildung wie völkerrechtlich, moralisch wie politisch" gleicher- nahe, sich nicht nur verstärkt der Aufarbeitung der maßen „legitim" gewesen. DDR-Geschichte zuzuwenden, sondern auch die Res- Im übrigen kann auch die sonst in dem Sondervotum sourcen der wissenschaftlichen Forschung zu nutzen versuchte verharmlosende Darstellung der SED-Poli- und zu unterstützen. Insbesondere sind unabhängige tik und der Lebenswirklichkeit der DDR nicht ohne Aufarbeitungsinitiativen, die vielfach aus der Bürger- Widerspruch hingenommen werden. Soweit in dem bewegung der DDR entstanden sind, von Bund, Län- Votum Kritik an der Arbeit der Enquete-Kommission dern und Gemeinden zu fördern. Sie verfügen oft über geäußert wird, läßt es zwar Ansätze zu einer differen- wertvolle Archive, die bei der Aufarbeitung der DDR- zierten Auseinandersetzung erkennen, aber noch Geschichte Berücksichtigung verdienen. Die Zusam- deutlicher wird sichtbar, daß das sich dort abzeich- menarbeit mit den Stiftungen der demokratischen nende Geschichtsbild dazu dienen soll, Existenz und Parteien in der politischen Bindungsarbeit ist zu Politik der PDS zu rechtfertigen. entwickeln. Die Enquete-Kommission empfiehlt der Kultusministerkonferenz zu erwägen, inwieweit die aktuell genutzten Schulbücher dem Erfordernis einer adäquaten zeitgeschichtlichen Bildung entsprechen. 3. Weitere Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit Sie regt an, Empfehlungen zur historischen Behand- lung der SED-Diktatur und der deutschen Teilung im Es steht außer Zweifel, daß die Aufarbeitung der Schulunterricht zu erarbeiten. DDR-Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit den Folgen der SED-Herrschaft noch immer in den Die Fortsetzung der historisch-politischen Aufarbei Anfängen stecken, die begonnene Arbeit also ange tung der DDR-Vergangenheit hängt auch vom unge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820 hinderten Zugang zu einschlägigen Archivbeständen menwachsens und der Versöhnung fördern helfen ab. Die Akten der SED, der Blockparteien und Mas- könnten. senorganisationen, der staatlichen Verwaltung — ins- Selbstverständlich konnte die Enquete-Kommission besondere der Ministe rien für Staatssicherheit und die strafrechtliche Verantwortlichkeit derer, die sich der Justiz, aber auch des Ministeriums für Auswärtige unter der Diktatur der SED schuldig gemacht haben, Angelegenheiten der DDR — müssen der Forschung nicht bewerten. Das muß dem Urteil unabhängiger zur Verfügung stehen. In Fragen der Deutschlandpo- Gerichte vorbehalten bleiben. Die Enquete-Kommis- litik und der innerdeutschen Beziehungen sind dar- sion hatte nicht den Auftrag, sich mit einzelnen über hinaus auch westdeutsche Akten — Akten des Verantwortungs- und Entscheidungsträgern in der Bundes, der Parteien, der Kirchen, der Gewerkschaf- DDR zu befassen; sie sollte Herrschafts- und Gese ll ten u. a. m. —von Bedeutung. Soweit ihrer Benutzung transparent machen. -schaftsstrukturen Schutzfristen entgegenstehen, sollten bei der Prüfung von Benutzungsanträgen die Belange der historischen Auf einer anderen Ebene liegt das Problem der Forschung angemessen gewichtet werden. Für eine politischen und moralischen Verantwortlichkeit, mit fundierte Aufarbeitung der Geschichte der SBZ/DDR dem die Enquete-Kommission während ihrer Tätig-- und der deutschen Teilung ist insbesondere auch keit wiederholt konfrontiert worden ist. Das Problem, die Auswertung entsprechender Aktenbestände in wie direkte und indirekte Verantwortlichkeit differen- den Archiven der früheren Sowjetunion und der ziert erfaßt und bewertet werden kann, wird nur drei westlichen Statusmächte von großer Bedeu- langfristig zu lösen sein. Denn die Bestimmung von tung. Kriterien für die Verantwortlichkeit von Entschei- dungs- und Funktionsträgern der SED-Diktatur ist bei dem noch immer unzureichenden Erkenntnisstand von den Feinstrukturen des Regimes nur begrenzt 5. Zur moralischen und politischen Verantwortung möglich. Erkennbar ist allerdings, daß ehemalige Entscheidungs- und Funktionsträger dazu neigen, Die vorurteilsfreie historisch-politische Aufarbeitung ihre Verantwortung auf übergeordnete Herrschafts- der Geschichte der SED-Diktatur besitzt besondere ebenen im Partei- oder Staatsapparat abzuschieben Bedeutung für die innere Einheit des wiedervereinig- oder sich auf sowjetische Weisungen berufen — eine ten Deutschland. Diese setzt in nicht zu unterschät- Argumentation, die wegen der Geheimhaltungsprak- zender Weise das Wissen um die Wirklichkeit in der tiken des Regimes und unklarer Kompetenzabgren- DDR voraus, weil erst dieses Wissen auch Verständnis zungen nicht einfach zu widerlegen ist. für die Menschen schaffen kann, die unter der Dikta- tur der SED gelebt und gelitten haben. Dieses Ver- Festzustellen ist — abgestuft nach der jewei ligen ständnis eröffnet die Chance zur Aussöhnung zwi- Stellung in Partei und Staat — die Verantwortung oder schen Opfern und Tätern und ist zugleich eine Vor- Mitverantwortung von Personen, die aufgrund eige- aussetzung für die innere Einheit der Deutschen. ner Entscheidung als Funktionäre tätig wurden. Ver- Durch die Erfahrungen in der Enquete-Kommission antwortung von Entscheidungs- und Funktionsträ- hat die Maxime „Keine Aussöhnung ohne Wahrheit" gern für die Politik des Regimes ergibt sich ebenfalls an Gewicht zugenommen. Gerade die Opfer des daraus, daß sie nicht nur innerhalb ihrer politischen früheren Unrechtsregimes haben ein Recht auf Wahr- und fachlichen Zuständigkeit für die Diktatur tätig heit. Erst wenn die Wahrheit offengelegt und Schuld waren, sondern auch als Mitglieder der SED, der von den Tätern eingestanden ist, kann auch die Massenorganisationen und der Blockparteien deren Versöhnung zur Sprache gebracht werden. Politik insgesamt mitzutragen und zu vertreten hatten. Personen, die sich durch schuldhaftes Verhalten oder In diesem Zusammenhang erscheint aber andererseits ihre Stellung im Machtapparat kompromittiert haben, der Hinweis von Gewicht, daß es im Prozeß des sind für Führungspositionen im demokratischen Staat Zusammenwachsens und der Herstellung der inneren und in demokratischen Parteien nicht geeignet. Die- Einheit Deutschlands keine pauschale und dauerhafte ser Grundsatz sollte nicht mit einem Mangel an Ausgrenzung jener geben darf, die seinerzeit in ihren Bereitschaft zur Versöhnung verwechselt werden. Funktionen an nachgeordneter Stelle an dem diktato- rischen System mitgewirkt haben. Auch sie sind aufgefordert, an der Gestaltung des vereinten Deutschland teilzunehmen. Überdies ist zu beachten, 6. Die Vergleichbarkeit totalitärer daß individuelle Verantwortung grundsätzlich nur Herrschaftssysteme durch individuelle Prüfung ermittelt werden kann. Gerade auch die Überprüfungsmöglichkeiten nach Die Enquete-Kommission setzte einen logischen dem Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) sind nicht als Schlußpunkt ihrer Tätigkeit, als sie am 3. und 4. Mai gesellschaftliche Diffamierung zu verstehen. 1994 Wissenschaftler und Zeitzeugen zu einer Diskus- sion über die zwei Diktaturen, die 1933-1945 und Notwendig ist sowohl die Bereitschaft als auch die 1945-1989 in Deutschland bzw. in seiner östlichen Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger in allen Bun- Hälfte historische Realität werden konnten, nach desländern, frei von Selbstgerechtigkeit und in Wür- Berlin einlud. Ist ein Vergleich beider Diktaturen digung diktaturbedingter Realitäten aufeinander zu- wissenschaftlich überhaupt zulässig? Welche politi- zugehen. Politisch Verantwortliche in Bund und Län- schen und gesellschaftlichen Kontinuitäten oder Dis- dern sind aufgerufen zu prüfen, inwiefern gesetzge- kontinuitäten lassen sich gegebenenfalls ausmachen? berische und exekutive Maßnahmen, gerade auch im Inwieweit vermag der Begriff des Totalitarismus zur Bereich der Strafverfolgung, den Prozeß des Zusam Aufarbeitung der Geschichte beider Diktaturen bei- Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode zutragen? Welcher politische Stellenwert kommt der nistheoretisches Instrument, sondern auch als kriti- historischen Aufarbeitung der Geschichte beider scher Maßstab gegenüber „totalitären Versuchun- deutscher Diktaturen für die Stabilisierung des demo- gen", gegen die selbst eine stabile Demokratie nicht kratischen Selbstbewußtseins und für die Entwick- von vornherein gefeit ist. lung einer politischen Kultur in Deutschland heute zu? Solche Fragen waren es, die die letzten Anhörungen Für die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Dikta- der Enquete-Kommission bestimmten. tur sind die Erfahrungen, die bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gesammelt wurden, auch insoweit In der Diskussion zwischen den Professoren Karl relevant, als sie einen schwierigen, langwierigen Dietrich Bracher, Jürgen Habermas, Klaus Ho rnung, Prozeß der Bewußtseinsbildung und der öffentlichen Eckhard Jesse, Jürgen Kocka, Rainer Lepsius, Sig rid Meinungsbildung erwarten lassen, der keineswegs Meuschel, Horst Möller und Wolfgang Schuller sowie nur auf der Grundlage von Akten und Archivalien nicht zuletzt dem Schriftsteller Jürgen Fuchs wurde entwickelt werden kann. Aufarbeitung so verstanden Einvernehmen darüber erzielt, daß ein Vergleich bedarf eines Klimas persönlicher Identifikation und beider Diktaturen zulässig ist. Vergleich bedeutet kritischer Distanzierung. Zur Stabilisierung demokra- nicht Gleichsetzung; bei einem Vergleich werden tischen Selbstbewußtseins und zur Entwicklung der- nicht nur Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, politischen Kultur kann ein solcher „Lernprozeß" sondern auch Unterschiede und Gegensätzlichkeiten beitragen, indem er durch die Auseinandersetzung herausgearbeitet. Ein differenzie rter Umgang mit mit den beiden Diktaturen auf deutschem Boden den dem Totalitarismusbegriff zielt folglich nicht auf die Blick für die Überlegenheit des freiheitlich-demokra- Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit dem „real tischen Rechtsstaates schärft und über die Grenzen existierenden Sozialismus". Vielmehr soll in Anknüp- der demokratischen Parteien hinweg das stiftet, was in fung an die wissenschaftlichen Traditionen von Han- der Anhörung der Enquete-Kommission „antitotalitä- nah Arendt und Carl J. Friedrich ein bestimmter Typus rer Konsens" genannt wurde. politischer Herrschaft gekennzeichnet werden. Auch die Diktatur der SED entsprach wie die NS-Diktatur einem System, das das Individuum und die Gesell- schaft ideologisch, politisch und organisatorisch dem 7. Vergangenheitsbewältigung und Monopolanspruch einer Partei unterworfen hat. Beide Zukunftsgestaltung Diktaturen waren Feinde der offenen Gesellschaft und damit der freiheitlichen Demokratie. Beide ver- letzten systematisch Menschen- und Bürgerrechte, Viele Erfahrungen aus der DDR-Vergangenheit gilt es beiden fehlte die Begrenzung der Macht durch Recht für die Zukunft zu bewahren. Zum historischen Erbe und Gesetz. Ebenso fehlte ihnen die Absicherung der ehemaligen DDR gehören nicht nur Verhaltens- relativ autonomer gesellschaftlicher Teilbereiche und weisen wie Anpassung an die alltäglichen Zwänge der Schutz des Privaten. Offene oder kaum verschlei- der Diktatur, Mitläufertum und Opportunismus aus erte Ein-Partei-Herrschaft, der Ausschließlichkeitsan- Mangel an Zivilcourage. Dazu gehören auch Solidari- spruch einer institutionalisierten Ideologie und die tät, Selbstbehauptung, widerständiges und oppositio- Ablehnung von Pluralismus in Staat und Gesellschaft nelles Verhalten bis hin zur Rückbesinnung der Men- kennzeichneten beide Systeme. Beide Regime setzten schen auf den „aufrechten Gang" im revolutionären moderne Massenbeeinflussungs- und Massenüber- Herbst 1989. Die Erinnerung an die SED-Diktatur ist wachungsmittel ein, sie negierten die Meinungs- und nicht nur eine Mahnung, in Deutschland niemals Versammlungsfreiheit für politisch Andersdenkende, wieder den Irrweg einer totalitären Herrschaft zu sie tabuisierten oder verfolgten jede Opposi tion. beschreiten. Die Erinnerung an ihren Sturz durch die Beide Systeme wollten die Gesellschaft umgestalten — in der deutschen Geschichte beispiellose — erfolg- und den „neuen Menschen" erziehen — allerdings reiche demokratische Revolution des Herbstes 1989 mit sehr unterschiedlichen Zielen, Methoden und ist vielmehr zugleich identitätsstiftend für das vereinte Folgen. Deutschland. Schließlich waren es die Demonstratio- nen in Leipzig, Berlin und anderen Städten, in denen Neben gleichartigen Merkmalen der „modernen Dik- die Menschen unter der selbstbewußten Losung „Wir tatur" zeichnen sich aber auch wesentliche Unter- sind das Volk" auf die Straße gingen und die Diktatur schiede ab. Mit Recht wurde in der Berliner Anhörung der SED in ihrem Fundament erschütterten — bis hervorgehoben, daß es in der DDR systema tischen, zuletzt die Losung umschlug in das Bekenntnis „Wir staatlich sanktionierten Massenmord, der auch nur sind ein Volk!". Ohne diese revolutionäre Bewegung entfernt der nationalsozialistischen Vernichtung der wäre die Politik der Wiedererlangung der Einheit Juden und anderer als „volksfremd" oder „rassisch Deutschlands nicht möglich geworden. Es wird eine minderwertig" erklärter Minderheiten geähnelt hätte, Aufgabe bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangen- nicht gegeben hat. Von der DDR ist auch kein Krieg heit bleiben, diese Erinnerung dem Selbstverständnis ausgegangen, der auf die Eroberung von „Lebens- der Deutschen — aller Deutschen — als unveräußer- raum" und die Vernichtung oder Versklavung als lichen Bestandteil einzufügen. minderwertig definie rter Völker gerichtet war. Was die NS-Diktatur noch auf Genera tionen hinaus zu Wenn andernorts hervorgehoben wurde, daß die Auf- einer ungetilgten Erblast macht, hat es in der SED arbeitung der DDR-Vergangenheit hauptsächlich die Diktatur nicht gegeben. Gleichwohl ist der Totalitaris- Menschen im ehemaligen sozialistischen Staat deut- musbegriff, davon hat die Anhörung der Enquete- scher Nation berührt, so heißt dies keineswegs, daß Kommission überzeugt, auch für die Gegenwart die Bürger in der alten Bundesrepublik kaum oder gar durchaus brauchbar — und zwar nicht nur als erkennt nicht davon betroffen wären. Das Gegenteil ist richtig: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

„Sie sollen sagen," — so hat Jürgen Fuchs in der den Fraktionen, kooperativ bei der Erarbeitung des letzten Anhörung der Enquete-Kommission „zuge- Kommissionsberichts mitgewirkt. Über weite Strek- spitzt und ungerecht-polemisch", wie er selber ein- ken ist es auch gelungen, im Wege der Verständigung räumte, gefragt — „warum sie koexistiert haben, und des Kompromisses gemeinsame Texte zu erarbei- warum sie sich mit der Teilung und der Verletzung der ten, die mit gewissen Abstrichen von allen Beteiligten Menschenrechte abfanden." getragen werden konnten. Allerdings mußten be- stimmte Fragen in Sondervoten behandelt werden, da Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit berührt die Mehrheit von ihrer Auffassung abweichende Posi- auch die europäischen Nachbarvölker, besonders tionen nicht oder nur unzureichend berücksichtigte. Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn, denn sie alle haben Fragen an das geeinte Deutschland, die Angesichts der Kompliziertheit der Materie und der sich aus der Geschichte seiner zwei Diktaturen erge- Lücken und Vorläufigkeit unserer Informationen war ben. Sie haben nicht vergessen, daß sich die DDR als die Suche nach Kompromißformulierungen zwischen deutscher Teilstaat aktiv — auch militärisch — an der den Fraktionen — aber auch innerhalb der Sozialde- Unterdrückung ihrer Demokratiebewegungen betei- mokratie, die als Volkspartei die Probleme und Bruch- ligt hat. Aus dem europäischen Kontext resultiert auch linien der Gesellschaft widerspiegelt — oft höchst die Frage nach der künftigen Rolle Deutschlands in zeitaufwendig. Diese Suche war jedoch in der letzten Europa. Deutschland sollte deshalb mit besonderem Phase der Kommissionsarbeit zum Bedauern der sozi- Engagement die demokratische Umgestaltung des aldemokratischen Arbeitsgruppe nicht mehr möglich, früheren Ostblocks einschließlich Rußlands sowie die weil die Kommissionsmehrheit nicht bereit war, die Einbeziehung dieser Staaten in eine gesamteuropäi- dazu notwendige Zeit einzuräumen, und auf den 17. sche Friedensordnung unterstützen. Der Einsatz für Juni 1994 als Abschlußtermin für die Arbeit der die Menschenrechte sollte die Politik der Bundesrepu- Kommission fixiert blieb, obgleich die Legislaturpe- blik in hohem Maße prägen. Von einer „europäischen riode noch genügend Zeit geboten hätte. Vision" war in der letzten Anhörung der Enquete- So weist der Abschlußbericht vielfältige Unzuläng- Kommission die Rede. Die Hoffnung ist begründet, lichkeiten, Disproportionen, Lücken und auch formale daß die Deutschen aus der Geschichte ihrer zwei Mängel auf. Beispielsweise wäre eine gründliche Diktaturen Konsequenzen gezogen haben. redaktionelle Überarbeitung von großen Teilen der Texte im Themenfeld II unbedingt erforderlich gewe- sen, insbesondere des Teiles 6 (Kulturpolitik) und des Sondervotum der Mitglieder der Fraktion der SPD Teiles 7 (Rolle des Sports). Auch sind wichtige inhalt- und der Sachverständigen Faulenbach, Gutzeit, liche Gesichtspunkte z. B. im Themenfeld VI über die Weber: Opposition in den 80er Jahren nicht mehr berücksich- tigt worden; dazu gehören die Frage nach der Bedeu- „Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete- tung der Staatssicherheit, die in analoger Weise wie Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Fol- im Kapitel Kirche zu stellen wäre, des weiteren die gen der SED-Diktatur in Deutschland" hat sich in Spannung zwischen oppositionellen Gruppen und einem intensiven Diskussionsprozeß mit der Ge- Ausreisewilligen und vor allem auch die äußeren und schichte der SBZ/DDR befaßt. Dies geschah nicht nur internen Schwierigkeiten der oppositionellen Grup- in internen Sitzungen in den Räumen des Bonner pen, zu einer handlungsfähigen politischen Struktur Parlaments, sondern durch zahlreiche öffentliche zu gelangen. Weitere Defizite in verschiedenen Kapi- Anhörungen auch und insbesondere in Ostdeut- teln ließen sich unschwer benennen. schland. Damit ist das Parlament bewußt zu den Noch gravierender ist, daß angesichts des vorzeitigen Betroffenen gegangen, deren Leben in der einen oder Abbruchs der Arbeit durch die Kommissionsmehrheit anderen Weise von den Erfahrungen und Verhaltens- ein durchaus möglicher, die unterschiedlichen Sicht- weisen unter der SED-Diktatur geprägt war und in der weisen zusammenbindender, diskursiver Text des Folge zum Teil noch wird. Ihnen sollte verdeutlicht Schlußkapitels verhindert wurde. Die Kommission hat werden, wie ernst die Volksvertretung ihre Probleme es damit versäumt, die politischen Konsequenzen nimmt. ihrer zweijährigen Arbeit ausreichend zu diskutieren Über die Resonanz in den Massenmedien hat die und entsprechende Empfehlungen zu formulieren. Kommission eine breitere Öffentlichkeit erreicht und Die Sozialdemokratie war deshalb zu diesem Sonder- auch dort den Prozeß der Aufarbeitung der neuesten votum gezwungen, wollte sie ihre begründeten Vor- deutschen Geschichte vorangebracht. Immer mehr stellungen nicht aufgeben. Sie legt hiermit ein Schluß- Bürgern wird klar, daß die Deutschen in West- und kapitel vor, das den Text der Mehrheit ergänzt, ihn Ostdeutschland nur dann die gegenwärtigen Pro- aber nicht ersetzen will, da do rt auch zahlreiche bleme und künftigen Herausforderungen werden sozialdemokratische Vorarbeiten eingegangen sind. bewältigen können, wenn sie die Vergangenheit nicht Insgesamt ist hervorzuheben, daß die Kommission verdrängen, sondern kritisch aufarbeiten mit dem angesichts des Umfangs und der Komplexität der ihr Ziel, die freiheitliche, soziale, rechtsstaatliche Demo- aufgetragenen Aufgaben und der ihr zur Verfügung kratie in Deutschland weiterzuentwickeln. stehenden knappen Zeit nur vorläufige und vielfach Die Sozialdemokraten in der Enquête-Kommission fragmentarische Antwortversuche zu einer Reihe von haben an diesem Prozeß der historischen Aufarbei- Fragen geben konnte. Sie sieht in der Aufarbeitung tung einen gewichtigen Anteil. Sie sind mit großem der DDR-Geschichte und der Bewältigung ihrer Fol- Engagement an ihre Aufgabe gegangen und haben, gen eine bedeutsame, Jahrzehnte in Anspruch neh- bei allen Unterschieden der Auffassungen zwischen mende politische, gesellschaftliche, kulturelle und vor Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

allem wissenschaftliche Aufgabe, zu der die Enquête- kann. Allerdings hat die Außenpolitk jeweils zu Kommission nur einen begrenzten Beitrag leisten erwägen, wie sie sich auf die Menschenrechte in konnte. Man mag darüber streiten, ob bei einer den einzelnen Ländern auswirkt; auswärtiges Han- zweckmäßigeren Arbeitsorganisation, die von der deln, nicht nur der Bundesregierung, sondern auch Kommissions-Minderheit frühzeitig angemahnt der Parteien, der gesellschaftlichen Gruppen, der wurde, der Ertrag der Arbeit nicht hätte größer aus- Unternehmen etc., muß den Menschenrechten ver- fallen können; doch sind die Schwierigkeiten, vor pflichtet sein. denen die Enquête-Kommission (mit ihrer Zusam- mensetzung aus Politikern und Sachverständigen) 5. Die Deutschen brauchen ein wahrheitsgemäßes stand, bei fairer Würdigung der geleisteten Arbeit in differenziertes Verständnis ihrer Geschichte, das Rechnung zu stellen. um die Vielzahl von Hypotheken — nicht zuletzt im Verhältnis zu anderen Nationen — weiß. Die not- Abschließend seien einige Einsichten, die sich bei wendige Auseinandersetzung mit der DDR-Ver- einer Beschäftigung mit der Geschichte und den gangenheit darf nicht dazu führen, die Schrecken Folgen der SED-Diktatur im Hinblick auf die Gegen- der NS-Zeit im gegenwärtigen Bewußtsein zu rela- wart aufdrängen, sowie Empfehlungen formuliert. tivieren; der Vergleich, nicht aber die Gleichset- zung von NS- und SED-Diktatur ist legitim. Nach wie vor stellt sich für die Deutschen die Frage nach Zur Gegenwartsbedeutung der Erfahrungen der den Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Struk- DDR-Vergangenheit turen, Denk- und Verhaltensweisen.

Die DDR-Vergangenheit ist nicht lediglich Ge- schichte; die in ihr gemachten Erfahrungen sind Empfehlungen zum Umgang mit den Folgen des vielmehr von grundlegender Bedeutung für das SED-Systems gegenwärtige deutsche Selbstverständnis und die demokratische politische Kultur: Die Folgen der SED-Diktatur stellen im vereinigten 1. Es gilt die Erfahrungen der Menschen mit der Deutschland riesige Problemkomplexe dar. Zur SED-Diktatur, insbesondere das den Menschen Bewältigung der politischen und kulturellen Folgen zugefügte Leid im historisch-politischen Bewußt- seien hier eine Reihe von Empfehlungen skizziert, die sein festzuhalten, der Opfer von Unrecht und sich an Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaf- Willkür zu gedenken. Menschen, deren Men- ten richten: schenwürde verletzt wurde, haben ein Recht dar- auf, ihre Menschenwürde wiederhergestellt zu 1. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gilt es sehen. In Erinnerung zu bewahren sind auch die weiterzuführen, teilweise sogar zu intensivieren: vielen Beispiele von Menschlichkeit, von Resi- — Die Strafverfolgungsbehörden sind personell stenz, von Opposition und Widerständigkeit, nicht und sachlich so auszustatten, daß sie in der Lage zuletzt die historische Leistung der Bewegung des sind, Regierungs- und Vereinigungskriminali- Herbstes und Winters 1989/90, die zum Sturz der Diktatur führte. tät wirksam zu ahnden. Die Verfolgung muß sich auf schwerwiegende Tatbestände konzen- 2. Die Erfahrungen mit totalitärer Herrschaft fordern trieren. Auch Straftaten mit geringerer Strafdro- dazu auf, Menschen- und Bürgerrechte in Gegen- hung sollten weiter verfolgt werden können, wart und Zukunft mit allen Mitteln zu schützen. zumal die Strafverfolgungsbehörden durch sie Diese Rechte sind zusammen mit den Sozialrechten nicht überbeansprucht werden. Der Rechtsstaat die Basis des demokratischen sozialen Rechtsstaa- darf sich seiner Aufgabe nicht entziehen, tes. Ihre Bejahung muß selbstverständliche Grund- Unrecht als solches zu kennzeichnen und zu lage der demokratischen politischen Kultur in ahnden. Deutschland sein. — Das Unrecht, das Opfer erlitten haben, ist — wo 3. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit und der Zeit der irgendmöglich — wiedergutzumachen. Wo dies Teilung haben die Deutschen sich heute als Na tion materiell nicht möglich ist, ist zu prüfen, mit zu begreifen, die sich als demokratische Verant- welchen Mitteln die Lage der Opfer verbessert wortungs- und Wertegemeinschaft sieht, sich eng und ihnen eine berufliche Perspektive geboten mit den europäischen Nationen des Westens ver- werden kann. Das den Opfern angetane bunden fühlt, in ähnliche Beziehungen mit den Unrecht muß im öffentlichen Bewußtsein aner- Nachbarnationen im Osten treten und die Zukunft kannt und verankert werden, es muß a lles getan zusammen mit den anderen europäischen Natio- werden, ihre personale Würde wiederherzustel- nen gestalten möchte. Die f riedliche Revolution in len. Stätten des Unrechts und Leidens sind der DDR hat für die freiheitliche Begründung der exemplarisch zu erhalten. Diejenigen, die mit Nation einen neuen Impuls gegeben. Mut und Zivilcourage Unrecht entgegengetre- ten sind, sollten in geeigneter Weise geehrt 4. Bei der Betrachtung der westlichen Haltung werden. gegenüber dem Ostblock in der Nachkriegszeit zeigt sich, daß eine Politik, die auf f riedliche — Über die strafrechtliche Klärung der Verant- Entwicklung setzt, indem sie Festigkeit mit der wortlichkeit hinaus ist die Frage der politischen Bereitschaft zur Kooperation verbindet, langfristig Verantwortung in Weiterführung des von der diktatorische Systeme schwächen und auflockern Enquête-Kommission unternommenen Versu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

ches (vgl. oben Kapitel I) differenziert zu klären, — Wie vor der Vereinigung (durch das innerdeut- wozu es eingehender Forschungen bedarf. Pau- sche Ministerium) sollten Bundesmittel für die schalurteile sind ebenso zu vermeiden, wie eine heutige Deutschland-Forschung zur Verfügung Sichtweise, die der Frage nach der politisch gestellt werden, wobei über deren Vergabe von moralischen Verantwortung ausweicht. Es ist einem nach wissenschaftlichen Kriterien urtei- darauf zu achten, die zentralen Fragen der lenden Gremium zu entscheiden ist. Weiter politischen Verantwortlichkeit nicht aus den gefördert werden sollte das „Deutschlandar- Augen zu verlieren durch Fixierung auf chiv", das ein unverzichtbares wissenschaft- bestimmte Gruppen („IMs "). lich-publizistisches Forum zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist. — Die Aufklärung über die SED-Diktatur, über ihre objektiven und subjektiven Strukturen und — Um die wissenschaftliche Aufarbeitung voran- Mechanismen ist mit dem Ziel fortzusetzen, die zubringen, sind alle relevanten Aktenbestände Menschen bei der kritischen Aufarbeitung „ih- der früheren DDR zugänglich zu machen. Außer rer" Geschichte zu ermutigen und einer Ten- den Akten der SED müssen auch die der Block- denz zu nostalgischer Verklärung der DDR parteien, Massenorganisationen und der staatli-- Vergangenheit entgegenzuwirken. chen Verwaltung der DDR, insbesondere auch die des Außenministeriums der DDR, für die Der Aufarbeitungsprozeß ist eine gesamtdeut- Forschung — u. a. durch Verstärkung der Res- sche — auch das Verhalten des Westens einbe- sourcen der Archive -nutzbar gemacht werden. ziehende — Aufgabe, bei der der Tatbestand zu CDU und FDP haben die Quellenbestände der bedenken ist, daß die Betroffenheit zwischen von ihnen übernommenen Blockparteien (Ost- den Bürgern der ehemaligen DDR und der alten )CDU und LDPD, wie gesetzlich vorgeschrie- Bundesrepublik diffe riert, was den Aufarbei- ben, an die „Stiftung Archiv der politischen tungsprozeß kompliziert macht und zu Mißver- Parteien und Massenorganisationen der ehe- ständnissen führt. Die Aufarbeitung erfordert maligen DDR im Bundesarchiv" abzugeben. Da von Publizisten und Wissenschaftlern ein hohes für die Klärung wichtiger Tatbestände die Aus- Maß an Sensibilität für die jeweiligen Problem- wertung westdeutscher Akten, insbesondere lagen der Menschen in der ehemaligen DDR. Zu des Kanzleramtes, des innerdeutschen Ministe- prüfen ist, ob nicht eine Bundesstiftung gegr fin- riums, der Parteien usw. zwingend erforderlich det werden sollte, die den Aufarbeitungsprozeß ist (und nur so buchstäblich einseitigen SED- fördert und die Deutschen im Westen und Osten orientierten Sichtweisen vorgebeugt werden politisch-kulturell zusammenführen hilft. kann), sind — wie von der SPD vorgeschlagen — Kritische Aufarbeitung ist Voraussetzung von — die angesprochenen Institutionen aufzufor- Versöhnung zwischen den Menschen, die in der dern, Materialien der Forschung durch eine SED-Diktatur gelebt haben; der Wille zur Ver- entsprechende Vereinbarung auch dann zu- söhnung aber ist Voraussetzung für die Ent- gänglich zu machen, wenn sie angesichts von wicklung einer tragfähigen demokratischen Sperrfristen dazu nicht verpflichtet sind; gege- politischen Kultur. benenfalls ist der Gesetzgeber gefordert.

2. Die wissenschaftliche Forschung über die DDR — Die Forschung zur DDR-Vergangenheit steht Geschichte, deren Ergebnisse eine wesentliche vor riesigen Aufgaben und bedarf deshalb zu vielen Themenfeldern besonderer Förderung 1)Voraussetzung für die politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung und daher von entscheidender durch Bund, Länder, durch die Forschungsför- Bedeutung ist, muß verstärkt vorangetrieben wer- derungseinrichtungen, die Stiftungen der Par- den: teien und der Gewerkschaften usw.. Schwer- punkt der Forschungsförderung sollten u. a. — Die Forschungseinrichtungen, die sich der Auf- folgende als Desiderata zu bezeichnende The- arbeitung der DDR-Vergangenheit widmen, menbereiche sein: sind stärker als bisher durch Mittel des Bundes • die Erarbeitung von Dokumentationen über und der Länder zu fördern. Dies gilt sowohl für die Opfer von Repression und Unrecht, bisherige Forschungseinrichtungen wie den die Erforschung der Verhaltensweisen, von Mannheimer Arbeitsbereich für DDR-Ge- • schichte als auch für neu errichtete Ins titute, Alltags- und Mentalitätsgeschichte in der Dik- insbesondere für das Zentrum für zeithistori- tatur, sche Studien in Potsdam, für das Hannah- • die genauere Untersuchung der Mechanis- Arendt-Institut in Dresden sowie entspre- men der Machtausübung in der DDR, chende Universitätsinstitute der neuen Bundes- • die Frage von Kontinuität und Diskontinuität länder. Sinnvoll ist auch die Weiterführung der zur vorhergehenden Geschichte, Forschungsarbeit der Behörde für die Stasiun- • der Diktaturenvergleich, insbesondere im terlagen, doch sollte die Forschungsabteilung Hinblick auf die osteuropäischen Länder, von der Behörde organisatorisch abgetrennt und mit einer eigenen Leitung sowie einem • die Rolle der Opposition in der DDR und im wissenschaftlichen Beirat versehen werden. Zu östlichen Europa (auch die Frage der Wirkung fördern sind auch Dokumentationseinrichtun- des KSZE-Prozesses), gen, die von Bürgerinitiativen 1989/90 z. B. in • das Verhältnis von DDR und Sowjetunion Leipzig und Berlin gegründet wurden. sowie die Außenpolitik der DDR. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Die Forschungen über die Diktaturen und die haltensweisen sich auch in Westdeutschland Oppositionsbewegungen in Ost- und Mittel- erst in einem längeren Prozeß durchgesetzt osteuropa, die von Wissenschaftlern und Institu- haben. Im übrigen ist Demokratie, auch für die ten verschiedener Länder begonnen worden Westdeutschen, eine ständige Aufgabe. sind, sollten vernetzt werden; zu prüfen ist, ob nicht eine Ins titution auf gesamteuropäischer — Der internationale Schüleraustausch ist beson- Ebene geschaffen werden sollte, die diese For- ders zu fördern; er ist ein Mittel, um na tional schungen anregt und koordiniert. begrenzten Sichtweisen entgegenzuwirken.

Zu fördern ist u. a. auch eine DDR-spezifische — In den neuen Bundesländern sollte in Schulen Rechtstatsachenforschung (Rechtsinstitute, und Erwachsenenbildung Rechtskunde vermit- -gewohnheiten, -über-zeugungen). Weitere telt werden. Auch sind möglichst bald flächen- Desiderata, denen die Forschungsförderung deckend Rechtsberatungsstellen (z. B. Mieter-, Rechnung tragen sollte, sind in den verschiede- Verbraucher-, Schuldnerberatung usw.) einzu- nen Kapiteln aufgeführt. richten, die den Menschen helfen, ihre Interes- sen in rechtsstaatlichen Formen wahrzuneh-- 3. Im Prozeß der Verarbeitung der Erfahrungen der men. DDR-Vergangenheit (und der Geschichte der Bun- desrepublik) kommt der politischen und histori- 4. Die Erinnerung an die Erfahrungen der SED- schen Bildungsarbeit der Schulen und der Erwach- Diktatur, an ihre Opfer und an den Prozeß ihrer senenbildung, der politischen Stiftungen, auch der Ablösung 1989 ist im öffentlichen Bewußtsein, in Bundeszentrale sowie den Landeszentralen für der Geschichtskultur des L andes besonders zu politsche Bildung besondere Bedeutung zu: fördern. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:

— Die Geschichte der DDR ist wie die der alten — Es gilt Gedenkstätten für die Opfer einzurichten Bundesrepublik in den alten wie den neuen (z. B. in Hohenschönhausen, Bautzen und Tor- Bundesländern gleichermaßen als Teil der gau), Gedenkstätten von nationaler Bedeutung deutschen Nachkriegsgeschichte zu behan- sind vom Bund zu fördern. deln. Die bislang vorherrschende völlig isolierte — Gedenktage, die an Ereignisse der DDR- Betrachtung von Bundesrepublik und DDR Geschichte erinnern, sollten ihren festen Platz sollte dabei überwunden werden, indem neben in der öffentlichen politische Kultur haben; zu den jeweiligen Teilgeschichten die Geschichte denken ist etwa an den 17. Juni 1953 oder an unter übergreifenden Fragen sowie die Bezie- den 9. Oktober 1989. hungsgeschichte beider Teile behandelt wird. Die Richtlinien der Schulen wie die Schulbü- — Bei der Benennung von Straßen, Schulen usw. cher sollten entsprechend umgearbeitet wer- sind Persönlichkeiten besonders zu berücksich- den. Auch die in den Schulen eingesetzten tigen, die sich gegen Unmensch lichkeit und Medien solltem diesem Gesichtspunkt stärker Unfreiheit gewandt haben. Rechnung tragen. 5. Es ist, wenn möglich, aus Mitteln von Institutionen — In Schulen, Fach- und Hochschulen sowie in der früheren DDR ein Fonds einzurichten, der auf sonstigen Bildungseinrichtungen ist die Kom- unbürokatische Weise bei Härtefällen Not zu lin- munikation aller Altersgruppen zwischen Ost- dern versucht und spezifisch Benachteiligten, für und Westdeutschen über Fragen der Vergan- deren Ansprüche es [noch] keine rechtliche Grund- genheit, Gegenwart und Zukunft auf vielfältige lage gibt, hilft. Zu denken ist auch an Opfer des Weise (durch Austausch, gemeinsame Semi- Dopings im DDR-Sport. nare etc.) zu fördern, wobei von der Erzählung des Erfahrenen, über dessen diskursive Erörte- 6. Die von der Bundesregierung seit 1990 verfolgte rung zu seiner Einordnung in größere Zusam- Vereinigungspolitik hat durch schwerweigende menhänge vorgegangen werden könnte. Fehler und Versäumnisse zu einer teilweisen Ent- fremdung zwischen Ost und West beigetragen. Die — Lokale Geschichtsarbeit kann helfen, die Ver- Politik des Bundes und der Länder muß künftig gangenheit kritisch aufzuarbeiten. Sie ist ent- versuchen, zielbewußt in einem längeren Prozeß sprechend zu fördern. Sie sollte sich dabei nicht die Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustel- nur auf die DDR-Geschichte, sondern auch auf len, insbesondere Chancengleichheit für die jun- die NS-Zeit und die Epochen davor beziehen. Es gen Menschen zu gewährleisten. Dies würde nicht gilt nicht zuletzt die demokratische Tradi tion nur helfen, die Menschen in Ost und West zusam- „vor Ort" bewußtzumachen. menzuführen, sondern auch die kritische Aufarbei- tung der Vergangenheit zu fördern. — Besondere Bedeutung ist der Einführung in das demokratische Institutionengefüge, in Möglich- keiten der Einflußnahme auf politische Prozesse sowie in das Erlernen der dafür erforderlichen Abschließend sei noch einmal hervorgehoben, daß die „Techniken" beizumessen. Un- bzw. antide- Deutschen in West- und Ostdeutschland nur dann mokratische Verbehalte und Verhaltensmuster zukunftsfähig sein werden, wenn sie die Vergangen- sind in der Bildungsarbeit aufzugreifen, demo- heit nicht verdrängen, sondern kritisch aufarbeiten kratisch-pluralistisches Denken zu fördern. Es mit dem Ziel, die freiheitliche, soziale und rechtsstaat- ist daran zu erinnern, daß demokratische Ver liche Demokratie weiterzuentwickeln." Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Stellungnahme der Mitglieder der Fraktionen der Zeitdruck nicht sachgerecht und auf entsprechen- CDU/CSU und F.D.P. zu dem vorstehenden dem Niveau gearbeitet, von den internen Schwie- Sondervotum: rigkeiten auf Seiten der SPD ab und fällt auf sie selbst zurück. „Die Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und 3. Die Behauptung, CDU und F.D.P. hätten die von F.D.P. weisen das Sondervotum zum Kapitel E zurück. ihnen übernommenen Quellenbestände der ehe- Sie stellen insbesondere fest: maligen DDR-Blockparteien CDU und LDPD, wie 1. Die Enquete-Kommission hat ihre Arbeit Bach- und gesetzlich vorgeschrieben, an die „Stiftung Archiv fristgerecht im Rahmen des gegebenen Arbeits- der Parteien und Massenorganisationen der DDR plans durchgeführt. Die Vorlage des Abschlußbe- im Bundesarchiv" abzugeben, ist unzutreffend. Die richtes zum 17. Juni 1994 war seit Monaten einver- von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der F ried- nehmlich interfraktionell vereinbart; einzig die rich-Naumann-Stiftung verwalteten Bestände ste- Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion ist von dieser hen vielmehr im Einklang mit gesetzlichen Vor- Vereinbarung abgerückt. schriften jedermann zur Nutzung zur Verfügung. 2. Im Rahmen der Arbeit der Enquete-Kommission 4. Der abschließende Vorwurf der SPD, die Bundes- hat auch die SPD ihre Auffassungen sachgerecht regierung habe mit ihrer seit 1990 verfolgten Eini- und in angemessener Form einbringen können. gungspolitik durch schwerwiegende Fehler und Lediglich aufgrund von ihr selbst eingeräumter — Versäumnisse zu einer teilweisen Entfremdung innerparteilicher — Konflikte war die SPD nicht in zwischen Ost und West beigetragen, kann nur als der Lage, ihre abweichenden Posi tionen rechtzei- vordergründige parteipolitische Polemik aufgefaßt tig zu formulieren. Insofern lenkt der Vorwurf, die werden. Sie steht unter dem der Arbeit der Enquete-Kommission habe durch selbsterzeugten Enquete-Kommission entsprechenden Niveau." Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Anhang

Inhaltsverzeichnis

Seite

Berichte, Expertisen und Forschungsaufträge 289

Angehörte Zeitzeugen und Sachverständige 293

Angehörte Initiativen, Organisationen, Institutionen 297

Archivadressen 298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Berichte, Expertisen und Forschungsaufträge

ACKERMANN, Dr. Manfred: „Phasen und Zäsuren DILLER, Dr. Ansgar: „Der Rundfunk als Herrschafts- des Erbeverständnisses der DDR unter besonderer instrument der SED" Berücksichtigung des Denkmalschutzes" EBERT, Frank: „Der Umgang des Staates mit opposi- AMMER, Thomas: „Die Machthierarchie der SED" tionellem und widerständigem Verhalten"

BAAR, Prof. Dr. Lothar/MATSCHKE, Dr. We rner: ECKERT, Dr. Rainer: „Zur Rolle der Massenorganisa- „Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen" tionen im Alltag der DDR-Bevölkerung" (zitiert als Eckert I) - BENZ, Prof. Dr. Wolfgang (TU Berlin): „Deutschland- politische Grundsatzpositionen und Zielvorstellun- ECKERT, Dr. Rainer: „Die revolu tionäre Krise am gen in den westdeutschen Besatzungszonen 1945 Ende der 80er Jahre und die Formierung der Oppo- bis 1949" sition" (zitiert als Eckert II)

BESIER, Prof. Dr. Dr. Gerhard: „Die Rolle des MfS bei ENGELMANN, Dr. Roger: „Zum Wert der MfS- der Durchsetzung der Kirchenpolitik der SED und Akten" die Durchdringung der Kirchen mit geheimdienstli- chen Mitteln" FAKTOR, Jan: „Brüche und Abgrenzungstendenzen unter den jungen Oppositionellen in der DDR. BICKHARDT, Stephan: „Die Entwicklung der DDR Brüche und Abgrenzungstendenzen in der alterna- Opposition in den achtziger Jahren" tiven Kultur. Verdeckte Brüche, der Verrat und die Konsequenzen" BILKE, Dr. Jörg Bernhard: „Unerwünschte Erinnerun- gen. Gefängnisliteratur 1945/49-1989" FEIEREIS, Prof. Dr. Konrad: „Weltanschauliche Struk- turen in der DDR und die Folgen für die Existenz der BINDER, Bischof Heinz Georg: „Die Bedeutung der katholischen Christen" finanziellen Transfers und der humanitären Hilfe zwischen den Kirchen im geteilten Deutschland" FINN, Gerhard: „Die Speziallager der sowje tischen Besatzungsmacht 1945 bis 1950" BLEEK, Prof. Dr. Wilhelm (Universität Bochum): „Die Deutschlandpolitik der SPD/F.D.P.-Koalition FISCHBECK, Dr. Hans-Jürgen: „Das Mauersyndrom 1969-1982" — die Rückwirkung des Grenzregimes auf die Bevölkerung der DDR" BRUNNER, Prof. Dr. Georg (Universität Köln): „Staatsapparat und Parteiherrschaft in der DDR" FISCHER, Prof. Dr. Alexander/RISSMANN, Martin: (zitiert als Brunner I) „Deutschland als Gegenstand alliierter Politik 1941 bis 1949" BRUNNER, Prof. Dr. Georg (Universität Köln): „Das Rechtsverständnis der SED (1961-1989) " (zitiert FISCHER, Dr. Bernd-Reiner: „Das Bildungs- und als Brunner II) Erziehungssystem der DDR — Funktionen, Inhalte, Instrumentalisierung, Freiräume" BUCHHEIM, Prof. Dr. Christoph: „Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen" FLIERL, Dr. Bruno: „ Städtebau und Architektur im BUCHSTAB, Dr. Günter: „Widerspruch und abwei Staatssozialismus der DDR" chendes Verhalten in der CDU der SBZ/DDR" FOITZIK, Dr. Jan: „Berichte des Hohen Kommissars BUCK, Dr. Hannsjörg F.: „Formen, Instrumente und der UdSSR in Deutschland 1953/1954. Dokumente Methoden zur Verdrängung, Einbeziehung und aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ/ Föderation" DDR" FÖRSTER, Prof. Dr. Peter: „Die deutsche Frage im CHAKER, Irene: „Die Arbeit des MfS im ,Operations- Bewußtsein der Bevölkerung in beiden Teilen gebiet' und ihre Auswirkungen auf oppositionelle Deutschlands. Das Zusammengehörigkeitsgefühl Bestrebungen in der DDR" der Deutschen. — Einstellungen junger Menschen in der DDR. Eine Dokumentation empirischer DALOS, György: „Der politische Umbruch in Ost- und Untersuchungen der Jugendforschung der DDR Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürger- 1966 bis 1989" bewegung in der DDR" FRANKE, Prof. Dr. Werner: „Funktion und Instrumen- DIETRICH, Christian: „Fallstudie Leipzig 1987-1989 talisierung des Sports in der DDR: Pharmakologi- — Die politisch-alternativen Gruppen in Leipzig vor sche Manipulationen (Doping) und die Rolle der der Revolution" Wissenschaft" Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

FRÖLICH, Dr. Jürgen: „Transmissionsriemen, Inter- HOLZWEISSIG, Dr. Gunter: „Die Presse als Herr- essenvertretung des Handwerks oder Nischenpar- schaftsinstrument der SED" tei? Zu Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkei- ten der NDPD" HÜBNER, Dr. Peter: „Zur Rolle der ,Massenorganisa- tionen' im Alltag des DDR-Bürgers" GOERNER, Martin Georg/KUBINA, Richard: „Die Phasen der Kirchenpolitik der SED und die sich IPSEN, Prof. Dr. Knut (Ruhr-Universität Bochum): darauf beziehenden Grundlagenbeschlüsse der „Die Selbstdarstellung der DDR vor internationalen Partei und Staatsführung in der Zeit von 1945/46 bis Menschenrechtsorganisationen" 1971/72" JÄGER, Prof. Dr. Wolfgang (Universität Freiburg): GRAF, Dieter: „Rekrutierung und Ausbildung der „Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen Juristen in der SBZ/DDR" (zitiert als Graf I) der CDU/CSU/F.D.P.-Koalition (Kohl-Genscher), die Diskussion in den Parteien und in der Öffent- GRAF, Dieter: „Die Mißachtung der Menschenrechte lichkeit 1982-1989" und der rechtsstaatlichen Grundsätze durch die Justiz" (zitiert als Gräf II) JANDER, Martin: „Die besondere Rolle des politi- schen Selbstverständnisses bei der Herausbildung GRAML, Hermann: „Inte rnationale Rahmenbedin- einer politischen Opposition in der DDR außerhalb gungen der Deutschlandpolitik 1949-1955" der SED und ihrer Massenorganisationen seit den siebziger Jahren" GRASEMANN, Dr. Hans-Jürgen: „Die Anleitung der Staatsanwaltschaft" JESKE, Edelgard: „Studie zum Thema ,Seilschaf- ten' " GRUNENBERG, Dr. Antonia: „Die Opposition unter Schriftstellern in der DDR vom Beginn der Ära JESSE, Prof. Dr. Eckhard: „Artikulationsformen und Honecker bis zur polnischen Revolution 1980/81" Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik" GRUNER, Prof. Dr. Wolf D. (Universität Hamburg): „Deutschlandpolitische Grundsatzpositionen und JORDAN, Carlo: „Umweltpolitik und Umweltzerstö- Zielvorstellungen in den westdeutschen Besat- rung in der DDR" zungszonen 1945-1949" KAISER, Dr. Monika: „Herrschaftsinstrumente und GUTMANN, Prof. Dr. Gernot: „Herausbildungs- und Funktionsmechanismen der SED in Bezirk, Kreis Entwicklungsphasen der Planungs-, Lenkungs- und und Kommune" Kontrollmechanismen im Wirtschaftssystem" KASCHKAT, Dr. Hannes: „Militärjustiz in der HACKER, Prof. Dr. Jens (Universität Regensburg): DDR" „Die Deutschland-Politik der SPD/F.D.P.-Koalition 1969-1982" KIRCHNER, Dr. Hube rt: „Die Freikirchen und Reli- gionsgemeinschaften in der DDR in ihrer Zusam- HAENDCKE-HOPPE-ARNDT, Maria: „Interzonen- menarbeit in der AGCK und in ihrem Verhältnis handel/Innerdeutscher Handel" zum SED-Staat"

HANKE, Prof. Dr. Irma: „Sozialstruktur und Gesell- KLEIN, Thomas: „Widerspruch und abweichendes schaftspolitik im SED-Staat und die geistig-seeli- Verhalten in der SED" schen Folgen" KLESSMANN, Prof. Dr. Christoph (Universität Pots- HANNEMANN, Martin: „Heimerziehung in der dam): „Die Deutschlandpolitik der Bundesregierun- DDR" gen Adenauer und die politisch-parlamentarische Diskussion in dieser Zeit" (zitiert als Klessmann I) HEHL, Prof. Dr. Ulrich von: „Die katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1989" KLESSMANN, Prof. Dr. Christoph (Universität Pots- dam): „Die Opposition in der DDR vom Beginn der HEIMANN, Dr. Siegfried: „Die Sonderentwicklung Ara Honecker bis zur polnischen Revolu tion 1980/ der SPD in Ostberlin 1945-1961" 81 " (zitiert als Klessmann II) HEITMANN, Steffen: „Die Sonderausbildung der Kir- chenjuristen" KNABE, Dr. Wilhelm: „Westparteien und DDR-,Op- position'. Expertise zum Einfluß der westdeutschen HELWIG, Dr. Gisela: „Frauen im SED-Staat" Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige Bestrebungen in der ehemaligen DDR" HERTLE, Hans-Hermann: „Fallstudie ,Der 9. Novem- ber 1989 in Berlin"' KNOTH, Hans-Dietrich: „Die Sonderausbildung der Kirchenjuristen" HERTWIG, Manfred: „Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten. — KOCH, Uwe: „Die Baueinheiten der Nationalen Die Opposition von Intellektuellen in der SED/DDR Volksarmee der DDR — Einrichtung, Entwicklung in den fünfziger Jahren (vor allem 1953 und 1956/ und Bedeutung" 57) und ihre Unterdrückung und Ausschaltung" KÖHLER, Dr. Anne: „Nationalbewußtsein und Identi- HILLE, Dr. Barbara: „Jugend und Jugendpolitik in der tätsgefühl der Bürger in der DDR unter besonderer DDR von 1961 bis 1989" Berücksichtigung der deutschen Frage" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

KOWALCZUK, Ilko Sascha: „Artikulationsformen MICHAEL, Klaus: „Alternativkultur und Staatssicher- und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten heit von 1976 bis 1989" in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft" MICHALK, Maria: „Kultur in der DDR" KREBS, Hans-Dieter: „Die politische Instrumentali- sierung des Sports in der DDR" MORSEY, Prof. Dr. Rudolf (Hochschule für Verwal- tungswissenschaften Speyer): „Die Deutschlandpo- KUKUTZ, Irena: „Die Bewegung ,Frauen für den litik der Bundesregierungen Adenauer und die Frieden' als Teil der unabhängigen Friedensbewe- politisch-parlamentarische Diskussion in dieser gung der DDR" Zeit"

KUPPE, Dr. Johannes: „Zur Funktion des Marxismus- MÜHLFRIEDEL, Prof. Dr. Wolfgang: „Herausbildung Leninismus " und Entwicklungsphasen des ,Volkseigentums"'

LANGE, Roland: „Einbindung und Behinderung der MÜLLER, Dr. habil. Hans-Peter: „Die Westarbeit der Rechtsanwälte" SED am Beispiel der DKP" (zitiert als Müller I)

LAPP, Dr. Peter Joachim: „Die NVA 1956-1990" MÜLLER, Silvia: „Der Rundfunk als Herrschaftsin- LEPTIN, Prof. Dr. Gert: „Formen, Instrumente und strument der SED" (zitiert als Müller II) Methoden von Verdrängung, Einbeziehung und MÜLLER, Prof. Dr. Werner: „Entstehung und Trans- Liquidierung der Privatwirtschaft" formation des Parteiensystems der SBZ/DDR 1945 LINK, Prof. Dr. We rner (Universität Köln): „Die bis 1950" (zitiert als Müller III) Deutschlandpolitik der Bundesregierungen Erhard MÜLLER-ENGERS, Helmut: „Normative Grundlagen und der großen Koalition (sowie die dazu geführte des MfS für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern. Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit)" Eine Dokumentation"

LIPPE, Prof. Dr. Peter von der: „Die gesamtwirtschaft- NEHRIG, Prof. Dr. Christel: „Rolle, Bedeutung und lichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den offi- Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien — die ziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DBD" DDR als Instrument der Agita tion und Propaganda der SED" NEUBERT, Erhart: „Die Rolle des MfS bei der Durch- setzung der Kirchenpolitik der SED und die Durch-. LOHSE, Landesbischof i.R. Prof. Dr. D. Eduard: „Der dringung der Kirchen mit geheimdienstlichen Mit- BEK und die EKD in ihrem Verhältnis zueinander teln" und zum DDR-Staat" NEUKE, Hartmut: „Artikulationsformen und Zielset- LOTH, Prof. Dr. Wilfried (Universität/Gesamthoch- zungen von widerständigem Verhalten in verschie- schule Essen): „Interna tionale Rahmenbedingun- denen Bereichen der Gesellschaft. — Der Zusam- gen der Deutschlandpolitik 1961-1989" menhang von Formen widerständigen Verhaltens LÖW, Prof. Dr. Konrad: ‚, Zur Funktion des Marxismus- in der DDR und Verantwortungsverhalten" Leninismus " NOACK, Axel: „Die Phasen der Kirchenpolitik der LUDES, Dr. Dr. Peter: „Das Fernsehen als Herrschafts- SED und die sich darauf beziehenden Grundlagen- instrument der SED" beschlüsse der Partei und Staatsführung in der Zeit von 1972-1989" MÂHLERT, Ulrich: „Jugendpolitik und Jugendleben von 1945 bis 1961" OTTO, Dr. Wilfriede: „Widerspruch und abweichen- des Verhalten in der SED" MAHNCKE, Prof. Dr. Dieter: „Das Berlin-Problem — die Berlin-Krise 1958-1961/2" OVERESCH, Prof. Dr. Manfred (Universität Hildes- heim): „Die Gründung der DDR als na tionales MARGEDANT, Dr. Udo: „Das Bildungs- und Erzie- Kerngebiet und der gesamtdeutsche Anspruch von hungssystem der DDR — Funktion, Inhalte, Instru- KPD und SED" mentalisierung, Freiräume" PAPKE, Dr. Gerhard: „Rolle, Bedeutung und Wir- MARQUARDT, Dr. Bernhard: „Menschenrechtsver- kungsmöglichkeiten der Blockparteien — die letzungen durch die Deutsche Volkspolizei" (zitiert LDPD" als Marquardt II) PFEILER, Prof. Dr. Wolfgang (Universität Greifswald): MARQUARDT, Dr. Bernhard: „Die Zusammenarbeit „Die ,nationale' Politik der KPD/SED 1945 bis von MfS und KGB" (zitiert als Marquardt III) 1952" MASER, Prof. Dr. Peter: „Juden und Jüdische PILVOUSEK, Dr. Josef: „Innenansichten. Von der Gemeinden in der DDR" ,Flüchtlingskirche' zur ,Katholischen Kirche in der MECHTENBERG, Theo: „Staatssicherheit und Litera- DDR"' turszene in der DDR" PLUCK, Dr. Kurt: „Innerdeutsche Beziehungen auf MEHLHORN, Ludwig: „Der politische Umbruch in kommunaler und Verwaltungsebene, in Wissen- Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die schaft, Kultur und Sport und ihre Rückwirkung auf Bürgerbewegung in der DDR" die Menschen im geteilten Deutschland" Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

POTTHOFF, Dr. Heinrich: „Die Deutschlandpolitik MfS und die polnische Krise 1980/81 " (zitiert als der Bundesregierungen der CDU/CSU/F.D.P.- Tantzscher II) Koalition (Kohl/Genscher), die Diskussion in den Parteien und in der Öffentlichkeit 1982-1989" TEMPLIN, Wolfgang: „Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten" PRIESS, Dr. Lutz: „Die Kreisleitungen der SED im politischen Herrschaftssystem der DDR — ihre THAYSEN, Prof. Dr. Uwe: „Der Runde Tisch und die Strukturen und Aufgaben. Ein Überblick." Entmachtung der SED. Widerstände auf dem Weg zur freien Wahl" RICHTER, Dr. Michael: „Entstehung und Transforma- tion des Parteiensystems 1945-1950" (zitiert als THOMAS, Rüdiger: „Ursachen und Folgen der Richter I) Gesellschaftspolitik im SED-Staat" RICHTER, Dr. Michael: „Rolle, Bedeutung und Wir- VOIGT, Prof. Dr. Dieter: „Karriereangebote, Karriere- kungsmöglichkeiten der Blockparteien — die CDU" muster und Eliterekrutierungen" (zitiert als Richter II) VOLZE, Dr. Armin: „Innerdeutsche Tr ansfers" ROGGEMANN, Prof. Dr. Herwig (Freie Universität Berlin): „Das Recht als Instrument im Kampf um die WEBER, Prof. Dr. Adolf: „Umgestaltung der Eigen- Machterhaltung — die letzten Jahre der DDR" tumsverhältnisse und der Produktionsstruktur in der Landwirtschaft der DDR" SATTLER, Friederike: „Die Funktion der Massenor- ganisationen" WEBER, Prof. Dr. Herrmann/LANGE, Dr. Lydia: „Zur Funktion des Marxismus-Leninismus" SCHMIDT, Karl Heinz: „Die Deutschlandpolitik der SED" WEIDENFELD, Prof. Dr. Werner (Universität Mainz): „Die deutsche Frage im Bewußtsein der Bevölke- SCHNEIDER, Dr. Eberhard: „Karriereangebote, Kar- rung in beiden Teilen Deutschlands. — Das Zusam- rieremuster und Eliterekrutierungen" mengehörigkeitsgefühl der Deutschen — Konstan- SCHRÖDER, Dr. Jürgen: „Die Westarbeit der SED am ten und Wandlungen. Einstellungen der westdeut- Beispiel der DKP" (zitiert als Schröder I) schen Bevölkerung 1945/49-1990" SCHRÖDER, Prof. Dr. Richard: „Der Versuch einer WEISSHUHN, Reinhard: „Einfluß der bundesdeut- eigenständigen Standortbestimmung der evangeli- schen Parteien auf die Entwicklung widerständigen schen Kirchen in der DDR am Beispiel der ,Kirche im Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien Sozialismuss" in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposi tion in der DDR" SCHUBERT, Prof. Dr. Charlotte: „Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR" WERKENTIN, Dr. Falco: „Die Waldheimer ,Prozesse' der Jahre 1950/52" SCHÜLLER, Prof. Dr. Alfred: „Die Integration der DDR-Wirtschaft in den RGW" WERNER, Sigrun: „Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten" SCHUMANN, Prof. Karl F. (Universität Bremen): „Flucht und Ausreise aus der DDR insbesondere im WIELGOHS, Dr. Jan: „Die revolutionäre Krise am Jahrzehnt ihres Untergangs" Ende der 80er Jahre und die Formierung der Oppo- SCHOTT, Dr. Peter: „Die Kulturpropaganda der DKP sition" als Teil der SED-Deutschlandpolitik" WISNIEWSKI, Prof. Dr. Roswitha/MARQUARDT, Dr. SENGBUSCH, Dietrich: „Das System der Jugend- Bernhard: „Marxismus — die Voraussetzung des werkhöfe in der DDR" politischen Systems der DDR" (1. Teil); „Totalitaris- mustheorie und die Aufarbeitung der SED-Dikta- SEUL, Dr. Arnold: „Das Ministerium für Staatssicher- tur" (2. Teil, zitiert als Marquardt I) heit (MfS) und die Volkswirtschaft" WOLF, Prof. Dr. Herbert/SATTLER, Friederike: „Ent- STAADT, Dr. Jochen: „Versuche der Einflußnahme wicklung und Struktur der Planwirtschaft der der SED auf die politischen Parteien der Bundesre- DDR" publik nach dem Mauerbau" WOLLE, Dr. Stefan: „Die SPD in Ost-Berlin 1946 bis SUCKUT, Dr. Siegfried: „Widerspruch und abwei- 1961" chendes Verhalten in der LDPD" ZIEMER, Christof: „Die politischen Stellungnahmen TANTZSCHER, Monika (BStU): „Aktion ,Genesung' des BEK in der Friedensfrage und die Friedensarbeit — Die Niederschlagung des ,Prager Frühlings' im der evangelischen Kirchen in ihren Auswirkungen Spiegel der MfS-Akten" (zitiert als Tantzscher I) auf die Gesellschaft in der DDR und in der Bundes- TANTZSCHER, Monika (BStU): „,Was in Polen republik Deutschland unter besonderer Berücksich- geschieht, ist für die DDR eine Lebensfrage!' — Das tigung des konziliaren Prozesses" Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Angehörte Zeitzeugen und Sachverständige

(Die Ziffern in runden Klammern geben die Protokoll-Nummern der Sitzung/Sitzungen an, in denen der betreffende Zeitzeuge/Sachverständige gesprochen hat.)

ALEXY, Prof. Dr. Robert, Kiel (37) DIEDRICH, Dr. Torsten, Potsdam (42) ALTMANN, Götz, Schwarzenberg/Sachsen (35) DIETRICH, Christian, Leipzig (68) ALTWEIN, Michael, Weißenfels (23) DLUGOBORSKI, Prof. Dr. Waclaw, Kattowitz (76) AMMER, Thomas, Bonn (25, 67) DOMBÖS, Manfred, Kloster/Hiddensee (62) AUERBACH, Thomas, Berlin (41, 68) DOMSCH, Dr. h. c. Kurt, Neustadt/Sa. (59, 62) DONNER, Dr. Wolfgang, Schwerin (32) BAHR, Prof. Egon, Hamburg (50, 52) DRALLE, Prof. Dr. Lothar, Gießen (18) BAIER, Hubert, Cottbus (41) DREGER, Winfried, Berlin (35 Sport) BARTL, Eva-Maria, Halle/Sa. (68) DUDSZUS, Prof. Dr. Alfred, Rostock (26) BARZEL, Dr. Rainer, Bundestagspräsident a. D., Bonn (55) EBERSBACH, Hartwig, Leipzig (35) BAUM, Karl-Heinz, Berlin (51) ECKARDT, Andreas, Berlin (69) BAUMGÂRTEL, Krescan, Bautzen (35) ECKERT, Prof. Dr. Jörn, Potsdam (39) BECKER, Jurek, Berlin (35) ECKERT, Dr. Rainer, Berlin (69) BEINTKER, Prof. Dr. Michael, Münster (56) EIGENFELD, Katrin, Halle (23, 68) BELEITES, Michael, Dresden (20, 68) EISENFELD, Bernd, Berlin (67) BENDER, Dr. Peter, Berlin (50) ENZIAN, Erik, Nordhausen (26) BENTZIEN, Hans, Reichenwalde/Brdbg. (35) EPPELMANN, Rainer, MdB, Berlin (51, 52, 68) BERG, Inge, Berlin (21) EPPLER, Dr. Erhard, Schwäbisch-Hall (52) BERG, Prof. Dr. Dr. Gunnar, Ha lle (31) ERBE, Dr. Joachim, Berlin (45) BESIER, Prof. Dr. Dr. Gerhard, Heidelberg (56) ERNST, Prof. Dr. Wilhelm, Erfurt (28) BEYER, Achim, Erlangen (41) BEYER, Frank, Berlin (35) FALCKE, Propst D. Heino, Erfurt (57) BIENERT, Inge, Berlin (69) FAUST, Siegmar, Berlin (35) BIERWISCH, Prof. Dr. Manfred, Berlin (67) FEIGL, Steffen, Bonn (41) BINDER, Heinz-Georg, Bischof, Bonn (59) FEIST, Günter, Berlin (35) BIRTHLER, Marianne, Ministerin a.D., Berlin (31) FIEDLER, Dr. Marianne, Leipzig (45) BISCHOFF, Dr. Diether, Münster (41) FINN, Gerhard, Bonn (67) BLACHNIK, Uwe, Berlin (31) FIPPEL, Günter, Leipzig (30) BLASCHKE, Prof. Dr. Karlheinz, Friedewald (22) FISCHBECK, Dr. Hans-Jürgen, Mülheim/Ruhr (68) BLUMENWITZ, Prof. Dr. Dieter, Würzburg (50) FISCHER, Dr. Friedrich, Leipzig (62) BOHLEY, Bärbel, Berlin (35, 68) FISCHER, Prof. Dr. Alexander, Bonn/Dresden BORKOWSKI, Dieter, Raddestorf (67) (18, 42) BÖTHIG, Peter, Berlin (36) FÖRSTER, Prof. Dr. Peter, Leipzig (51) BÖTTCHER, Jürgen, Berlin (35) FOSCHEPOTH, Dr. Josef, Münster (48) BÖTTGER, Dr. Martin, Cainsdorf (57) FRANKE, Prof. Dr. Werner W., Heidelberg BRACHER, Prof. Dr. Karl Dietrich, Bonn (76) (35 Sport) BRAUN, Dr. Günter, Mannheim (18) FRICKE, Karl Wilhelm, Köln (23, 26, 41, 51, 67) BRETSCHNEIDER, Harald, Dresden (62) FRÖLICH, Dr. Jürgen, Gummersbach (18) BROCKHOFF, Ellen, Berlin (41) FUCHS, Jürgen, Berlin (13, 67, 76) BUCHSTAB, Dr. Günter, St. Augustin (18) FURIAN, Dr. Hans-Otto, Probst (61) BUCK, Dr. Hannsjörg F., Bonn (27) BUDE, Roland, Swisttal (20) GARSTECKI, Joachim, Bad Vilbel (51) BUSCH, Dr. Heinz, Berlin (23) GARTON ASH, Prof. Timothy, Oxford (47) GEIGER, Dr. Hansjörg, Berlin (35 Sport, 30, 69) DACHSEL, Stefan, Berlin (61) GEISS, Prof. Dr. Immanuel, Bremen (76) DASCHITSCHEW, Prof. Dr. Wjatscheslaw, GENSCHER, Hans-Dietrich, Bundesminister a.D., Moskau (49) MdB, Bonn (53) DECKER, Andreas, Leipzig (35 Sport) GERBER, Fritz, Bautzen (22) DEMICKI, Ronald, Berlin (20) GERLACH, Benno, Holungen (23) DEMKE, Dr. Christoph, Bischof, Magdeburg (57) GERLACH, Vinzenz, Duderstadt (23) DENCKER, Prof. Dr. Friedrich, Münster (13) GESTER, Heidi, Berlin (41) Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

GLAAB, Manuela, Mainz (51) KLIER, Freya, Berlin (35) GOERTZ, Joachim, Berlin, (62) KNABE, Dr. Hubertus, Berlin (67) GRAF, Dieter, Berlin (40) KOCKA, Prof. Dr. Jürgen, Berlin (75) GRAML, Hermann, München (46) KÖGLER, Brigitta, Jena (40) GRASMANN, Dr. Hans-Jürgen, Salzgi tter (13) KOHL, Dr. Helmut, Bundeskanzler, Bonn (53) GRAUL, Elisabeth, Magdeburg (67) KÖHLER, Dr. Anne, München (51) GRAUMANN, Hans-Jörg, Gräfenhainichen (22) KÖNIG, Martin, Berlin (52) GRILLE, Prof. Dr. Dietrich, Erlangen/Nürnberg (67) KORTE, Dr. Karl-Rudolf, Mainz (51) GRINGMUTH-DALLMER, Götz, Berlin (20) KOSSAKOWSKI, Prof. Dr. Adolf, Berlin (31) GRÜNHAGEN, Heinz, Herzfelde (41) KOWALCZUK, Ilko-Sascha, Berlin (68) GUTMANN, Prof. Dr. Gernot, Köln (27) KOWASCH, Fred, Berlin (69) GUTTMACHER, Dr. Karlheinz, MdB, Jena (28) KRAHL, Toni, Glienicke (36) GUTZEIT, Martin, Berlin (23, 52, 68) KRAMER, Martin, Magdeburg (52) KRAUSE, Fritz, Frankfurt/Oder (26) HABERMAS, Prof. Dr. Jürgen, Frankfurt a. M. (76) KRIEGER, Dr. Albrecht, Bonn (45) HAGEN, Prof. Dr. Manfred, Göttingen (42) KRÖTKE, Prof. D. Dr. Wolf, Berlin (61) HAJNICZ, Dr. Artur, Warschau (47) KRUCZEK, Manfred, Potsdam (35 Sport) HAMEL, D. Johannes, Gräfelfing (56) KRUSCHE, Dr. h. c. Werner, Bischof i. R., HAMMER, Walter, Präsident i. R., Bremen (59) Magdeburg (56) HANKE, Georg, Generalvikar, Dresden (61) KUKUTZ, Iren, Berlin (23) HANNEMANN, Martin, Berlin (31) KÜTTLER, Thomas, Plauen (61) HASCHKE, Udo, MdB, Jena (28) HAUPTS, Prof. Dr. Leo, Köln (42) LANGGUTH, Dr. Gerd, Sankt Augustin (51) HEIDER, Dr. Magdalena, Mannheim (18) LAPP, Dr. Peter Joachim, Köln (22) HERTLE, Hans-Hermann, Berlin (22) LEICH, Dr. h. c. Werner D. D., Landesbischof em., HERZBERG, Wolfgang, Berlin (36) Eisenach (56) HEUER, Prof. Dr. Uwe-Jens, MdB, Berlin (39) LEONHARD, Prof. Wolfgang, Manderscheid (28) HILLER, Jürgen, Berlin (35 Sport) LEPSIUS, Prof. Dr. Rainer, Heidelberg (76) HILMER, Rudolf, Berlin (69) LIEBERKNECHT, Christine, Ministerin, Erfurt (31) HILSE, Werner, Berlin (57, 69) LINK, Prof. Dr. Werner, Köln (50) HIRSCH, Ralf, Berlin (20) LOBECK, Werner, Schwarzenberg (41) HOFFMANN, Dr. Jan, Potsdam (31) LOCHEN, Hans-Hermann, Berlin (41) HOFFMANN, Ulrich, Berlin (13) LOTH, Prof. Dr. Wilfried, Essen (46) HOLZWEISSIG, Dr. Gunter, Berlin (35 Sport) LOW, Prof. Dr. Konrad, Bayreuth (28) HOMEYER, Dr. Josef, Bischof, Hildesheim (59) HORNUNG, Prof. Dr. Klaus, MADER, Prof. Dr. Alois, Köln (35 Sport) Stuttgart-Hohenheim (75) MAHNCKE, Prof. Dr. Dieter, Bonn (46) HUBRICH, Eberhard, Hürth (75) MAIBAUM, Karl, Nürnberg (45) HUMMEL, Dr. Albrecht, Berlin (35 Spo rt) MAIER, Prof. Dr. Harry, Flensburg (27) MANGOLDT, Silvia, Berlin (20) ILLMANN, Norbert, Wolgast (62) MAREES, Prof. Dr. Horst de, Köln (35 Sport) JACOBI, Maria, Dresden (62) MARX, Hermann, Bonn (67) JACOBSEN, Prof. Dr. Hans-Adolf, Bonn (36) MECKEL, Markus, MdB, Berlin (51, 68) JAFFKE, Susanne, MdB, Anklam (13) MEHLHORN, Ludwig, Berlin (47, 75) JAGER, Manfred, Münster (35) MEMMLER, Prof. H ans-Joachim, JAGUSCH, Karl-Heinz, Jena (67) Neubrandenburg (23) JAHN, Roland, Berlin (67) MENDE, Dr. Erich, Bundesminister a. D., Bonn (48, 52) JESCHONNEK, Günter, Berlin (69) MENDT, Dr. Dietrich, Dresden (62) JESKE, Edelgard, Berlin (45) METTE, Norbert, Cottbus (41) JESSE, Prof. Dr. Eckhard, Chemnitz (76) MEUSCHEL, Prof. Dr. Sigrid, Leipzig (75) JOHN, Hanfried, Berlin (27) MEUSEL, Georg, Werdau/Sa. (68) JORDAN, Carlo, Berlin (68) MEYER, Prof. Dr. Hans-Joachim, Staatsminister JORK, Dr. Rainer, MdB, Radebeul (27, 33) für Wissenschaft und Kunst, Dresden (33) JÜNGEL, Prof. Dr. D. D. Eberhard, Tübingen (56) MICHAEL, Christel, Berlin (69) JUNGHANNS, Ulrich, MdB, Frankfurt/Oder (22) MILDE, Klaus, Dresden (61) MISCHNICK, Wolfgang, Bundesminister a. D., MdB, KELLER, Dr. Dietmar, MdB, Berlin (28) Kronberg (52) KITTEL, Dr. Manfred, München (75) MISSELWITZ, Dr. Hans, Potsdam (68, 75) KITTLAUS, Manfred, Berlin (13, 45) MISZLIVETZ, Prof. Dr. Ferencz, Budapest (76) KITZIG, Angelika, Berlin (69) MITTER, Dr. Armin, Berlin (26, 33, 42) KLENNER, Prof. Dr. Hermann, Berlin (39) MLYNAR, Prof. Dr. Zdenek, Wien (47) KLESSMANN, Prof. Dr. Christoph, Potsdam (42) MODROW, Dr. Hans, MdB, Berlin (25) Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode Drucksache 12/7820

MÖLLER, Prof. Dr. Horst, München (48, 75) SCHAUMBURG, Günter, Bad Vilbel (35 Sport) MOLLNAU, Prof. Dr. Karl, Berlin (39) SCHEEL, Walter, Bundespräsident a. D., MOLT, Rudi, Berlin (67) München (63) MÜLLER, Annemarie, Dresden (61) SCHEIDLER, Jochen, Berlin (41) MÜLLER, Dieter, Chemnitz (32) SCHENK, Fritz, Frankfurt a.M. (25, 51) SCHILLING, Walter, Dittrichshütte (23) NALI, Karl, Bautzen (20) SCHIRDEWAN, Karl, Potsdam (25) NEUBERT, Christhard-Georg, Berlin (69) SCHMAHL, Alfred, Wittgendorf (61) NEUBERT, Erhart, Berlin (20, 56) SCHMIDT, Andreas, Gera (68) NEUBERT, Frank, Dresden (52) SCHMIDT, Helmut, Bundeskanzler a. D., NEUGEBAUER, Dr. Gero, Berlin (26) Hamburg (55) NEUKE, Hartmut, Leipzig (20) SCHMIDT, Karl-Heinz, Hüttenberg (51) SCHMIDT, Prof. Dr. Max, Berlin (52) OLDENBURG, Fred, Köln (49) SCHMIDT, Uwe, Berlin (45) OTTO, Dr. Wilfriede, Berlin (37) SCHMOLL, Heike, Frankfurt a.M. (56) SCHMUDE, Dr. Jürgen, MdB, Bonn (59) PAHNKE, Rudi-Karl, Borgsdorf (31, 57) SCHMUTZLER, Dr. Siegfried, Berlin (21) PFANNKUCH, Julia, Kiel (37) SCHOLLWER, Wolfgang, Bonn (18) PFEIFFER, Dietrich, Dresden (27, 45) SCHÖN, Angelika, Weimar (57) PFITZENREUTER, Franz, Leinfelde (23) SCHÖNEMANN, Hannes, Hamburg (69) PFLEUMER, Klaus, Zittau (20) SCHÖNEMANN, Sybille, Hamburg (69) PICKENHAIN, Prof. Dr. Lothar, Leipzig SCHRÖDER, Prof. Dr. Richard, Berlin (56, 76) (35 Sport, 45) SCHROEDER, Prof. Dr. Friedrich-Christian, PLANER-FRIEDRICH, Dr. Götz, Neudietendorf (56) Regensburg (37) POHL, Edeltraud, Berlin (20) SCHROTH, Prof. Dr. Ulrich, München (13) POHL, Sieghard, Berlin (41) SCHUBERT, Helga, Berlin (36) POPPE, Gerd, MdB, Berlin (47, 68) SCHULLER, Prof. Dr. Wolfgang, Konstanz POPPE, Ulrike, Berlin (13, 68) (21, 26, 76) PRESCHER, Wolfgang, Berlin (27) SCHULT, Jürgen, Schwerin (35 Sport) PRUSKO, Georg, Bad Nauheim (67) SCHULT, Reinhard, Berlin (23) PUSCHMANN, Hellmut, Präsident Prälat, SCHULZ, Prof. Dr. Eberhard, Bonnheim (50) Freiburg (59) SCHUMANN, Dr. Heiner, Leipzig, Köln (35 Sport) RAAB, Gottfried, Woltersdorf (40) SCHÜRER, Dr. Gerhard, Berlin (25) RATHENOW, Lutz, Berlin (36) SCHÜTRUMPF, Dr. Jöm, Berlin (33) RATHKE, Dr. Heinrich, Bischof i. R., Schwerin (59) SCHWALM, Klaus, Berlin (23) REHHAHN, Dr. Helmut, MdL, Seegrehna (26) SCHWARZ, Dr. Ulrich, Hamburg (25, 51) REIPRICH, Siegfried, Potsdam (67) SEIDEL, Dr. Jutta, Berlin (20) RENESSE, Margot von, MdB, Bochum (37, 62) SEIDEL, Harry, Berlin (21) RICHTER, Anne, Berlin (31) SEIDEL, Helmut, MdL, Waren/Müritz (26) RICHTER, Edelbert, MdEP, Weimar (68) SEIFFERT, Prof. Dr. Wolfgang, Kiel (25) RIEDEL, Eugen; Massen (27) SEILER, Lutz, Berlin (35) RIEKE, Dieter, Rüsselsheim (18) SIMON, Bernhard, Berlin (23) RISSMANN, Martin, Koblenz (22) SOELL, Prof. Dr. Hartmut, MdB, Heidelberg (39) RÖDER, Hans-Jürgen, Berlin (51) STAUSS, Curt, Lauchhammer (57) RONGE, Prof. Dr. Volker, Wuppertal (69) STEGE, Eva-Maria, Berlin (21) ROTHE, Ilona, Erfurt (21) STEINBORN, Tom, Dresden (22) ROTTLEUTHNER, Prof. Dr. Hubert, Berlin (40) STEINERT, Bernd, Ebensfeld (68) RUB, Frank, Graitschen (67) STEINLEIN, Dr. Reinhard, Berlin (56) RUDOLPH, Thomas, Dresden (23) STIMMING, Peter, Berlin (20) RUFFMANN, Prof. em. Dr. Karl-Heinz, Köln (49) STORBECK, Eva-Maria, Premnitz (45) RUHL, Prof. Dr. Lothar, Bonn (51) STÜTZLE, Dr. Walther, Berlin (51) RÜHRDANZ, Sigrid, Berlin (20) SUCKUT, Dr. Siegfried, Berlin (22) SÜSSMUTH, Prof. Dr. Rita, Bundestagspräsidentin, SABATOVA, Anna, Prag (47) Bonn (42) SAUER, Elisabeth, Dresden (62) SCHABOWSKI, Ginter, Rotenburg/Berlin (25) TAESCHNER, Alexis, Freiberg/Sachsen (40) SCHACHS, Dr. Helmut, Bad Kösen (62) TANNERT, Christoph, Berlin (36) SCHACHT, Ulrich, Hamburg (21) TAUTZ, Lothar, Berlin (23, 62) SCHAEFGEN, Christoph, Berlin (13) TEMPLIN, Wolfgang, Berlin (20) SCHÄFER, Christian, Cottbus (41) TENORTH, Prof. Dr. Heinz-Elmar, Berlin (75) SCHALIKE, Rolf, Hamburg (21) THIEMANN, Ellen, Köln (69) SCHATZLER, Wilhelm, Prälat, Bonn (59) THIERSE, Wolfgang, MdB, Berlin (28) Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

TONNDORF-EHRKE, Sibylle, Berlin (45) WEISSKIRCHEN, Gert, MdB, Wiesloch (51) TSCHICHE, Hans-Jochen, MdL, Magdeburg (51) WELZ, Karl-Heinz, Dresden (62) WENDEL, Eberhard, Berlin (20) ULLMANN, Prof. Dr. Wolfgang, MdB, Berlin (28) WETTIG, Dr. habil. Gerhard, Köln (48) USCHNER, Dr. Manfred, Berlin (25, 52) WICKE, Prof. Dr. Peter, Berlin (36) WIECZOREK, Wojciech, Warschau (47) VOGEL, Dr. Hans-Jochen, MdB, Bonn (53) WIEDEMANN, Rüdiger, Zerbst (40) VOGT, Rudi, Küstrin (20) WILKE, Prof. Dr. Manfred, Berlin (18, 30) VOLLMANN, Heidi, Jena (31) WILMS, Dr. Dorothee, Bundesministerin a.D., MdB, VOLLNHALS, Dr. Clemens, Berlin (56) Köln (52) WACHOWIAK, Jutta, Berlin (35) WINDELEN, Heinrich, Bundesminister a.D., WAGENER, Manfred, Nürnberg (45) Warendorf (52) WAGNER, Bertram, Freiburg (69) WINTERS, Dr. Peter Jochen, Berlin (13, 51) WALTHER, Joachim, Berlin (35) WINTGEN, Hans, Berlin (31) WANKE, Dr. Joachim, Bischof, Erfurt (59) WOLF, Dr. Erika, Bonn (18) WARNKE, Dr. Jürgen, Bundesminister a.D., MdB, WOLF, Prof. Dr. em. Herbert, Berlin (20, 33) Bonn (59) WOLFRAM, Adam, Daaden (67) WASSERMANN, Dr. h. c. Rudolf, Goslar (13) WOLLE, Dr. Stefan, Berlin (46) WEBER, Prof. Dr. Hermann, Mannheim WÖTZEL, Dr. Roland, Leipzig (26) (18, 25, 26, 28) WREDE-BOUVIER, Dr. Beatrix, Bonn (18) WEISS, Konrad, MdB, Berlin (30) WEISSHUHN, Reinhard, Bonn (57) ZIMMERMANN, Monika, Berlin (26) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Angehörte Initiativen, Organisationen, Institutionen

(Die Ziffern in runden Klammern geben die Protokoll-Nummern der Sitzung/Sitzungen an, in denen Vertreter der be treffenden Initiative/Organisation/Institution gesprochen haben.)

Arbeitsgemeinschaft 13. August e. V. (14) Ökumenischer Arbeitskreis „Recht und Versöhnung" Leipzig (14) Archiv Bürgerbewegung e.V. Leipzig (14) Biographische Forschungen und Sozialgeschichte Projektgruppe zur Aufarbeitung der Geschichte der e. V. (14) Humboldt-Universität (MfS-Verflechtung) beim Stu- dentenrat (14) Bürgerinitiative „Vergangenheitsbewältigung" der Stadt Saalfeld (14) Rehabilitierungskommission ehem. Einrichtungen gem. Artikel 36 EV (14) Bürgerkomitee „15. Januar" (14) Sonderausschuß des Sächsischen Landtages zur Un- Bürgerkomitee Leipzig (14) tersuchung von Amts- und Machtmißbrauch infolge Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssi- der SED-Herrschaft (14) cherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demo- kratischen Republik (14) Umweltbibliothek Berlin — Domaschk-Archiv (14) Dokumentation- und Informationszentrum Torgau Unabhängiger Verein zur historischen, politischen (14) und juristischen Aufarbeitung der DDR-Vergangen- heit (14) Evangelische Kirche in Deutschland (14) Der Polizeipräsident in Berlin — Zentrale Ermittlungs- Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße stelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität e. V. (Astak) (14) (ZERV) (13, 45) Geschichtskommission des Verbandes deutscher Schriftsteller in der IG Medien (14) Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin (13) Historisches Dokumentationszentrum Bürgerkomitee Sachsen-Anhalt e. V. (14) Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin (45) Komitee zur Rehabilitierung der Opfer des Stalinis- Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der mus in Mecklenburg-Vorpommern (14) Landesjustizverwaltungen in Salzgitter (13)

Kunstdokumentation SBZ/DDR e. V. (14) Bundesanstalt für Arbeit, Nü rnberg (45) Kurt-Schumacher-Kreis Berlin e. V. (14) Vertrauensbevollmächtigter beim Vorstand der Treu- Neues Forum (14) handanstalt, Berlin (45) Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

Archivadressen

1. Adressen wichtiger deutscher Archive

1.1 Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Anschrift: Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits- dienstes der ehemaligen DDR Glinkastr. 35 10117 Berlin Telefon: 0 30/23 13-70 Bestände: — Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) bzw. Amt für Na tionale Sicherheit der DDR (AfNS) incl. Bezirksverwaltungen, Kreis- und Objekt- dienststellen

1.2 Bundesarchiv Anschrift: Bundesarchiv Potsdamer Straße 1 56075 Koblenz Telefon: 02 61/5 05-0

1.2.1 Bundesarchiv — Abteilungen Potsdam Anschrift: Bundesarchiv Abteilungen Potsdam Berliner Str. 98-101 14467 Potsdam Telefon: 03 31/3 14-0 • Bestände: Zivile Zentralbehörden der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, u. a.: Parlament, Staatsoberhaupt, Ministerrat — Volkskammer — Zentraler Runder Tisch — Präsidialkanzlei (Kanzlei des Präsidenten, Staatsrat) — Ministerrat — Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle — Komitee der Arbeiter- und Bauerninspektion — Amt für Reparationen Inneres und Justiz — Ministerium des Inneren — Zentrale Deutsche Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme (1945-1953) — Staatssekretär für Kirchenfragen — Ministerium der Justiz — Oberstes Gericht — Generalstaatsanwalt der DDR Finanzen, Wirtschaft, Handel — Ministerium der Finanzen — Garantie- und Kreditbank AG (1945-1956) — Deutsche Notenbank — Staatliche Plankommission — Volkswirtschaftsrat — Industrieministerien — Ministerium für Land- und Forstwirtschaft — Ministerium für Handel und Versorgung — Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen H andel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

Bauwesen, Wissenschaft und Technik, Gesundheit — Ministerium für Bauwesen — Bauakademie — Ministerium für Wissenschaft und Technik — Ministerium für Gesundheitswesen Bildung und Kultur — Ministerium für Kultur — Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen — Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur — Staatliches Komitee für Rundfunk

1.2.2 Bundesarchiv — Abteilung Militärarchiv 1. Anschrift: Bundesarchiv Abt. VI — Militärarchiv Wiesentalstr. 10 79115 Freiburg Telefon: 07 61/4 78 17-0 2. Anschrift: Bundesarchiv Militärisches Zwischenarchiv Zeppelinstr. 127/128 14471 Potsdam Telefon: 03 31/97 14-4 20 Bestände: Militärische Zentralbehörden der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, u. a.: — Nationaler Verteidigungsrat — Nationale Volksarmee — Grenzpolizei und -truppen — Militärstaatsanwaltschaften — Politakten, u. a. Pol. Hauptverwaltung — Militärischer Anteil an zivilen Einrichtungen und Bet rieben (Abt. I) — Amtliche Drucksachen und Sammlungsgut — Kasernierte Volkspolizei — Landstreitkräfte, Militärbezirk III und V — Militärakademie — Luftstreitkräfte, Luftverteidigung — Volksmarine — Hauptverwaltung Ausbildung, Kasernierte Volkspolizei — Militärmedizinische Akademie

1.2.3 Bundesarchiv — Filmarchiv, Dienstort Berlin Anschrift: Bundesarchiv Abt. VII — Filmarchiv Fehrbelliner Platz 3 13585 Berlin Telefon: 0 30/86 81-1 Bestand: Staatliches Filmarchiv der DDR

1.2.4 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Anschrift: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundes- archiv — Archiv und Bibliothek — Wilhelm-Pieck-Str. 1 10119 Berlin Telefon: 0 30/4 42 68-37, -38, -39 Bestände: Zentrale Überlieferungen der Parteien und Massenorganisationen der DDR, u. a.: Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

— Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) — National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) — Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) — Freie Deutsche Jugend (FDJ) — Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) — Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) — Kulturbund (KB) — andere Massenorganisationen

1.3 Archiv für Christlich-Demokratische Politik Anschrift: Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung Rathausallee 12 53757 St. Augustin Telefon: 0 22 41/2 46-0 Bestände: — Christlich-Demokratische Union Deutschlands (Ost-CDU) — Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD)

1.4 Archiv des deutschen Liberalismus Anschrift: Archiv des deutschen Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung Theodor-Heuss-Str. 26 51645 Gummersbach Telefon: 0 22 61/30 02-4 01 Bestände: — Liberal-Demokra tische Partei Deutschlands (LDPD)

1.5 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Anschrift: Auswärtiges Amt Politisches Archiv Adenauerallee 99-103 53113 Bonn Telefon: 02 28/17-21 61 Bestände: — Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR — Archiv der Staatsverträge beim Ministerpräsidenten der DDR — Völkerrechtliche Verträge der NVA

1.6 Evangelisches Zentralarchiv in Berlin Anschrift: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin Jebenstr. 3 10623 Berlin Telefon: 0 30/3 10 01-1 07

1.7 Regionalarchiv Ordinarien Ost Anschrift: Regionalarchiv Ordinarien Ost im Bistumsarchiv Erfurt Hermannsplatz 9 99084 Erfurt Telefon: 0 36 15/65 72-4 00 Bestände: — Akten der ehem. Berliner Bischofskonferenz

1.8 Landesarchive der neuen Bundesländer

1.8.1 Berlin — Landesarchiv Berlin Anschrift: Landesarchiv Berlin Kalckreuthstr. 1-2 10777 Berlin Telefon: 0 30/21 23 31 78 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

1.8.2 Brandenburg — Brandenburgisches Landeshauptarchiv Anschrift: Brandenburgisches Landeshauptarchiv An der Orangerie 14469 Potsdam Telefon: 03 31/22 97-1, -2 Bestände: — Landtag und Landesregierung der Provinz Mark Brandenburg (1945-1947) und des Landes Brandenburg (1947-1952) — sämtl. brandenburgischen Kreistage und -verwaltungen bis 1952 — Landesleitung Brandenburg der SED (1946-1952) — SED-Bezirksparteiarchive Potsdam, Cottbus und Frankfurt/O. incl. Kreis- leitungen, abgabepflichtige Grundorganisationen sowie Sammlungsgut

1.8.3 Mecklenburg-Vorpommern — Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Anschrift: Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Graf-Schack-Allee 2 19053 Schwerin Telefon: 03 85/54 11 Bestände: — Landtag und Landesregierung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (1945-1947) und des Landes Mecklenburg (1947-1952) — sämtl. mecklenburgischen Kreistage und -verwaltungen bis 1952 — Landesleitung Mecklenburg der SED (1946-1952) — SED-Bezirksparteiarchive Schwerin und Neubrandenburg incl. Kreis- leitungen, abgabepflichtige Grundorganisationen sowie Sammlungsgut

— Vorpommersches Landesarchiv Greifswald Anschrift: Vorpommersches Landesarchiv Greifswald Martin-Andersen-Nexö-Platz 1 17463 Greifswald Telefon: 0 38 34/7 72 86 Bestände: — SED-Bezirksparteiarchiv Rostock incl. Kreisleitungen, abgabepflichtige Grundorganisationen sowie Sammlungsgut

1.8.4 Sachsen — Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Anschrift: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Archivstr. 14 01097 Dresden Telefon: 03 51/5 25 01 Bestände: — Sächsischer Landtag und Landesregierung Sachsen (1945-1952) — sämtl. sächsischen Kreistage und -verwaltungen bis 1952 (außer Borna, Döbeln, Grimma, Leipzig und Oschatz) — Landesleitung Sachsen der SED (1946-1952) — SED-Bezirksparteiarchiv Dresden incl. Kreisleitungen, abgabepflichtige Grundorganisationen sowie Sammlungsgut

— Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Anschrift: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Beethovenstr. 4 04009 Leipzig Telefon: 03 41/2 13 26 74 Bestände: — Kreistage und Kreisverwaltungen Borna, Döbeln, Grimma, Leipzig und Oschatz bis 1952 Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

— SED-Bezirksparteiarchiv Leipzig incl. Kreisleitungen und abgabepflichtige Grundorganisationen

— Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz Anschrift: Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz Schulstr. 38 09125 Chemnitz Telefon: 03 71/4 57 39 30 Bestände: — SED-Bezirksparteiarchiv Karl-Marx-Stadt incl. Kreisleitungen, Gebiets- leitung Wismut und abgabepflichtige Grundorganisationen

1.8.5 Sachsen-Anhalt — Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Anschrift: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Hegelstr. 25 39104 Magdeburg Telefon: 03 91/3 01 23 Bestände: — Landtag und Landesregierung der Provinz Sachsen (1945-1946), der Provinz Sachsen-Anhalt (1946--1947) und des Landes Sachsen-Anhalt (1947 bis 1952) — sämtl. sachsen-anhaltinischen Kreistage und -verwaltungen bis 1952 — Landesleitung Sachsen-Anhalt der SED (1946-1952) — SED-Bezirksparteiarchiv Magdeburg in cl. Kreisleitungen und abgabe- pflichtigen Grundorganisationen

— Landesarchiv Merseburg Anschrift: Landesarchiv Merseburg König-Heinrich-Str. 83 06217 Merseburg Telefon: 0 34 61/21 50 02 Bestände: — SED-Bezirksparteiarchiv Halle incl. Kreisleitungen und abgabepflichtige Grundorganisationen

1.8.6 Thüringen — Thüringisches Hauptstaatsarchiv Anschrift: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Marstallstr. 2 99423 Weimar Telefon: 0 36 43/39 33 Bestände: — Landtag und Landesregierung des Landes Thüringen (1945-1952) — sämtl. thüringischen Kreistage und -verwaltungen bis 1952 — Landesleitung Thüringen der SED (1946-1952) — SED-Bezirksparteiarchiv Erfu rt incl. Kreisleitungen und abgabepflichtige Grundorganisationen

— Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt Anschrift: Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt Schloß Heidecksburg 07407 Rudolstadt Telefon: 0 36 72/2 26 86 Bestände: — SED-Bezirksparteiarchiv Gera incl. Kreisleitungen und abgabepflichtige Grundorganisationen

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— Thüringisches Staatsarchiv Meiningen Anschrift: Thüringisches Staatsarchiv Meiningen Schloß Elisabethenburg, Bibrabau 98617 Meiningen Telefon: 0 36 93/29 10 Bestände: — SED-Bezirksparteiarchiv Suhl incl. Kreisleitungen und abgabepflichtige Grundorganisationen

2. Adressen wichtiger russischer Archive *)

2.1 Staatlicher Archivdienst der Russischen Föderation Anschrift: uliza Iljinka, 12 103 132, Moskau Fax: 00 70 95/2 00 42 05 Telefon: 00 70 95/2 06 35 31 Ansprechpartner: Prof. Rudolf G. Pichoja, Vorsitzender Wladimir A. Tjunejew, stellvertr. Vorsitzender Wladimir P. Koslow, stellvertr. Vorsitzender Walerij I. Abramow, stellvertr. Vorsitzender Wladimir P. Tarassow, Leiter Auslandsabteilung Kyrill Tschernenkow, Deutschlandreferent

2.1.1 Staatsarchiv der Russischen Föderation („Archiv der Oktoberrevolution") Anschrift: uliza Bolschaja Pirogowskaja, 17 119 435, Moskau Fax: 00 70 95/2 45 12 87 Telefon: 00 70 95/2 45 81 41 Ansprechpartner: Sergej W. Mironienko, Direktor Alija I. Barkowetz, stellvertr. Direktorin Bestände u. a.: — Dokumente zur Geschichte der UdSSR — Staatliche Zentralbehörden der UdSSR (Oberster Sowjet, Ministe rien etc.) — Sowjetische Militäradministration in Deutschland (1945-1949) — Akten über die NKWD-Lager in Deutschland

2.1.2 Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen („Sonderarchiv") Anschrift: uliza Wyborgskaja, dom 3, korpus A 125 212, Moskau Telefon: 00 70 95/1 59 74 71 1 59 73 83 Ansprechpartner: Mansur M. Muhamedschanou, Direktor Wladimir Korotajew, stellvertr. Direktor Bestände u. a.: — zentrale deutsche Reichsbehörden sowie Institutionen, Verbände und Personen von übergeordneter Bedeutung — regionale deutsche Behörden sowie Institutionen, Verbände und Personen von regionaler Bedeutung — Aktenbestände österreichischer Provenienz — Dokumente, die die Deutschen in besetzten Ländern erbeuteten — Dokumente von Verlagen, Organisationen und einzelnen Persönlichkeiten im Exil — Dokumente und Sammlungen jüdischer Organisationen und Persönlich- keiten

e) Die Auflistung erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch kann sie im einzelnen für die Aktualität der Angaben bür- gen. Detaillierte Informationen und praktische Hinweise "Zur Situation in Moskauer Archiven" können dem Artikel von Jan Foitzik im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993 entnommen werden. Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

— Dokumente von Freimaurerlogen — Bestände sozialistischer und gewerkschaftlicher Organisationen in Deutschland

2.1.3 Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte (Zentrales Parteiarchiv der KPdSU bis Oktober 1952) Anschrift: uliza Puschkinskaja, 15 102 821, Moskau Fax: 00 70 95/2 92 90 17 Telefon: 00 70 95/2 00 51 12 2 29 97 26 2 92 48 65 Ansprechpartner: Prof. Kyrill N. Anderson, Direktor Oleg V. Naumow, stellvertr. Direktor Andrej W. Doronin, Leiter der Auslandsabteilung Galina W. Gorskaja, Leiterin der Benutzungsabteilung E. N. Schachnasarowa, Leiterin der Sektion „Internationale Arbeiterbewegung" (= Komintern-Archiv) Bestände u. a.: — Akten aller Sektionen der Kommunistischen Inte rnationale — Parteidokumente der KPdSU bis 1952 — Allgemeine Materialien des ZK der KPdSU — Akten der „Internationalen Abteilung" des ZK der KPdSU — Nachlässe führender kommunistischer Parteifunktionäre (Stalin, Mikojan, Kusnezow, Molotow, Shdanow et. al.) — Dokumente wichtiger sozialistischer Theore tiker des ausgehenden 19. Jahr- hunderts (Feuerbach, Herwegh, Lassalle, Proudhon u. a.)

2.1.4 Zentrum zur Aufbewahrung von zeitgenössischen Dokumenten (Archiv des Zentralkomitees der KPdSU ab Oktober 1952) Anschrift: uliza Iljinka, 12, podjezd 8 103 132, Moskau Telefon: 00 70 95/2 06 21 28 2 06 52 28 Ansprechpartner: Natalja M. Tomilina, amtierende Direktorin Dr. Anatolij D. Tschernew, Leiter der Publikationsabteilung Bestände u. a.: — Parteidokumente der KPdSU 1952 bis 1991 — Protokolle der ZK-Sitzungen — Unterlagen der ZK-Abteilungen und Sekretariate — Akten der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU

2.2 Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation („Kreml-Archiv") Anschrift: uliza Iljinka, 12 103 132, Moskau Ansprechpartner: Alexandr W. Korotkow, Leiter Prof. Rudolf G. Pichoja, Vorsitzender des Staatl. Archivdienstes Prof. Dimitrij Wolkogonow, Vorsitzender der Parlamentskommission für die russischen Archive Bestände u. a.: — Unterlagen des Politbüros der KPdSU von 1952 bis 1985 — Berichte des sowj. Botschafters Semjonow über seine Teilnahme an Politbürositzungen der SED — geheime Zusatzprotokolle zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 — Unterlagen über die Ermordung polnischer Offiziere, Soldaten und Zivilpersonen in Katyn Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode Drucksache 12/7820

— weitere wichtige Einzeldokumente und aus anderen Archiven entnommene Teilbestände

2.3 Historisch-Dokumentarische Verwaltung des Außenministeriums der Russischen Föderation Anschrift: Smolenskaja Sennaja Pl., dom 32/34 121 200, Moskau Telefon: 00 70 95/2 44 29 38 2 44 36 32 2 44 27 49 Ansprechpartner: Igor V. Lebedew, Leiter Wladimir W. Sokolow, Leiter der Archive

2.3.1 Archiv der Außenpolitik des Russischen Reiches Anschrift: uliza B. Serpuchowskaja, 15 Moskau Telefon: 00 70 95/2 36 83 97 Ansprechpartner: Igor W. Budnik, Leiter Bestände u. a.: — Akten zur Außenpolitik des Russischen Reiches bis 1917

2.3.2 Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation Anschrift: Plotnikow pereulok, 11 121 200, Moskau Fax: 00 70 95/2 93 88 46 Telefon: 00 70 95/2 44 16 06 2 41 51 12 2 44 29 38 Ansprechpartner: Jelena W. Belewitsch, Leiterin Bestände u. a.: — Akten zur Außenpolitik der Sowjetunion und der Russischen Föderation ab 1917 — Akten des Alliierten Kontrollrates — Akten der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland — Akten der Sowjetischen Kontrollkommission in der DDR — Akten des sowje tischen Hohen Kommissars in Deutschland

2.4 Zentrales Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit Rußlands (Zentrales KGB-Archiv) Anschrift: Lubjanka, 2 101 000, Moskau Fax: 00 70 95/9 75 24 70 Telefon: 00 70 95/2 24 31 49 2 24 50 97 Ansprechpartner: Generalmajor Anatolij A. Krajuschkin, Leiter der Archivverwaltung Leonid V. Ljukjanow, Referent im Zentrum für öffentliche Verbindungen des Ministeriums für Staatssicherheit Rußlands Bestände u. a.: — Akten des KGB — Akten des NKWD — Filtrationsakten - dt. „Trophäenarchiv „

2.5 Zentrales Archiv des Innenministeriums der Russischen Föderation Anschrift: uliza Mjasnitzkaja, 3 Moskau Fax: 00 70 95/2 39 57 68 Telefon: 00 70 95/2 39 57 68 Ansprechpartner: J. F. Tupikow, stellvertr. Direktor Drucksache 12/7820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode

2.6 Historisch-Archivarisches Zentrum des Generalstabs der Streitkräfte Rußlands Anschrift: uliza Snamenko, 19 103 160, Moskau, Telefon: 00 70 95/2 96 53 48 2 96 88 46 2 03 43 48 Ansprechpartner: Oberst Igor Wenkow, Leiter Oberst Viktor W. Muchin Benutzeranträge sind zu richten an: Generaloberst Anatolij N. Klejmenow, stellvertr. Chef des russischen Generalstabs

2.6.1 Militärarchiv in Podolsk: Anschrift: uliza Kirowa, 74 142 117 g. Podolsk (Moskowskaja oblast) Ansprechpartner: Oberst Nikolaj P. Briljow, Leiter Oberstleutnant Tschuwaschin, stellvertr. Leiter Bestände u. a.: — deutsche Wehrmachtsakten — Akten der sowjetischen und russischen Streitkräfte ab 1941 (ohne Marine/ Luftwaffe) — Akten der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee

2.6.2 Russisches Staatliches Militärarchiv Anschrift: uliza Admirala Makarowa, 29 125 884, Moskau Telefon: 00 70 95/1 59 80 91 Ansprechpartner: Viktor F. Saporoschtschenko, Direktor Bestände u. a.: — Militärakten der Zeit von 1917 bis 1941

2.7 Memorial Anschrift: ul. Profsojusnaja, 80 117 393, Moskau Fax: 00 70 95/9 73 20 94 Telefon: 00 70 95/2 09 78 83 2 09 78 83 Ansprechpartner: Nikita Ochotin, Vorsitzender Nikita V. Petrow, Mitarbeiter