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Politik der Paronomasie Kritische Potenziale sprachspielerischer Dichtung von Celan bis Jandl

Von Markus May, München

Für Theo Elm

Nein, ich habe kein Zutrauen zu rein ästhetischen Betrachtungen auf den Gebieten der Geistes-, der Literatur-, der Kunst-, der Sprach- geschichte. Man muß von menschlichen Grundhaltungen ausgehen; die sinnlichen Ausdrucksmittel können bisweilen bei ganz konträren Zielen die gleichen sein. Viktor Klemperer: LTI1

I.

Im Folgenden soll versucht werden, skizzenhaft und paradigmatisch eine Linie der Entwicklung sprachspielerischer Dichtung innerhalb der deutschsprachi- gen Literatur seit Celan nachzuzeichnen.2 Wie der Titel bereits suggeriert, geht es um diejenigen Formen paronomastisch verfahrender Lyrik, deren Wirkun- gen nicht im rein Autopoetischen, Autoreflexiven oder Komisierenden verhar- ren, sondern deren Anliegen auf die – um einen mit dem Hautgout des Antiquierten behafteten, nicht zufällig an Adorno gemahnenden Ausdruck zu gebrauchen – gesellschaftliche Praxis bzw. deren Misspraktiken verweisen. Der Begriff der Praxis – wie auch der der Kritik – ließe sich aber ebenso gut auf diskursanalytische Ansätze beziehen,3 hat doch Michel Foucault selbst an weniger prominenter Stelle auf die Affinität seiner philosophischen Anliegen

1 Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 2005, S. 90. 2 Zur umfassenden Darstellung der Sprachproblematik in der modernen Dichtung und deren Konsequenzen insbesondere für die sprachspielerische Poesie siehe Monika Schmitz- Emans: Die Sprache der modernen Dichtung. München 1997. Die damit verbundene Dimension sprachlich-poetischer Selbstreferentialität in ihren historischen Ausprägungen seit dem 18. Jahrhundert skizziert Jürgen H. Petersen: Absolute Lyrik. Die Entwicklung poetischer Sprachautonomie im deutschen Gedicht seit dem 18. Jahrhundert bis zur Gegen- wart. Berlin 2006. 3 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter

Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1991.

9 zu denen der kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“ hingewiesen.4 Die damit indizierte Assoziation zu dem von Strukturalismus und Poststrukturalismus eingeläuteten „linguistic turn“ innerhalb der Humanwissenschaften ist für unseren Gegenstandsbereich von besonderer Relevanz, da jenes Bewusstsein der vollständigen sprachlichen Verfasstheit menschlicher Kultur im foucault- schen Sinne auch den Umkehrschluss beinhaltet: Sprache ist immer Ideologie, Machtstrukturen sind Diskursstrukturen, der „sprechende Mensch“ ist – nicht nur im Roman – „stets ein Ideologe“, wie Michail M. Bachtin bündig formuliert hat.5 Es wird also darauf ankommen, zu zeigen, auf welche Weise gerade jene sprachspielerischen Elemente in der Dichtung seit Celan eine kritische Ausei- nandersetzung mit ideologischen Praktiken führen, indem sie sie sprachlich vorführen, dekonstruieren, parodieren oder anderweitig subvertieren. Anders gesagt: Es gilt, den Ernst im Spiel zu entdecken, das Moment der „poésie engagée“ in dem, was man sonst vielleicht leichtfertig für ein Indiz für „poésie pure“ zu halten geneigt wäre. Ein zweites wesentliches Charakteristikum der hier besprochenen Linie sprachspielerischer Dichtung liegt in ihrer Bezogen- heit auf die Shoah, die Ermordung der europäischen Juden durch das NS- Regime und seiner Schergen, und auf den Sprachmissbrauch der Nationalsozia- listen. Diese Linie mit Celans Dichtung einsetzen zu lassen, ist nahezu evident. Gerade in dieser immer wieder aufgerufenen Bezogenheit, die eine Form (sprach-)reflexiver Erinnerungskultur darstellt, unterscheidet sich dieser Tradi- tionszusammenhang von anderen Entwicklungslinien sprachspielerischer Ly- rik nach 1945, etwa jener, die mit sich den Namen Benn, Enzensberger und Rühmkorf verbindet, oder aber derjenigen, für die Autoren wie Heißenbüttel, Gomringer, Mon, Rühm, Artmann repräsentativ sind, wenngleich diese Linie beim letzten der hier besprochenen Lyriker zumindest berührt wird. Bereits bei einem flüchtigen Blick auf die Tradition paronomastischer Lyrik in der neueren deutschsprachigen Dichtung fällt auf, dass es seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Beispiele gegeben hat, in denen sprachspiele- risch angelegte Formen als Antwort auf tiefgreifende Krisen weltanschaulich- ideologischer, historischer und zugleich persönlicher Art konzipiert worden sind. So etwa lässt sich Quirinus Kuhlmanns Kühl-Psalter auch als ein – gewiss exzentrischer – Versuch der „Heilung“ jener tiefgreifenden Glaubensspaltungen begreifen, die sein Jahrhundert so gewaltsam erschütterten.6 Und auch die in sich kreisende, paronomastische Poesie eines – etwa in Ge-

4 Michel Foucault: Was ist Kritik? Aus dem Französischen von Walter Seitter. Berlin 1992, S. 22. 5 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine

Reese. Frankfurt a. M. 1979, S. 154–300; hier S. 221 (Hervorhebung von Bachtin). 6 Vgl. Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk. Berlin 1963, S. 263–300.

10 dichten wie Der Spinnerin Nachtlied und Wenn der lahme Weber träumt, er webe7 – kann als paradoxal-synthetisierende Reaktion auf die ersten den auf- klärerischen Optimismus erschütternden Entfremdungserfahrungen von Sub- jekt und Welt während der „Sattelzeit“ um 1800 gelesen werden.8 Die durch die epistemologische Krise ausgelöste, vor allem mit dem Namen Nietzsches verknüpfte fundamentale Sprachkrise um 1900 führte nicht nur zur Krise der symbolistischen Lyrik eines Hofmannsthal oder eines Rilke, sondern bereitete zugleich der nicht minder radikalen Ideologiekritik der -Dichtung etwa Hugo Balls und der MERZ-Kunst ’ den Boden.9 Gerade Balls scheinbar jeglichen denotativen Sinn verweigernde Gedichte (wie z. B. das Laut- poem Karawane) offenbaren eben in dieser Sinnverweigerung die definitive Absage an den ideologischen Missbrauch diskursiver Sprachverwendung,10 wie ihn die chauvinistische Propaganda aller beteiligten Krieg führenden Nationen (an welcher – horribile dictu – die europäischen Avantgardebewegungen wie Futurismus, Expressionismus oder Vortizismus z. T. leider nicht unerheblich beteiligt waren) bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrieben hatte.11 Balls dadaistische Dichtung steht in engem Zusammenhang mit seinen essayisti- schen sprach- und ideologiekritischen Schriften dieser Zeit, in denen er den propagandistischen Sprachgebrauch des kriegsversessenen spätwilheminischen Deutschlands geißelt und demontiert. So heißt es etwa in dem am 31.8.1918 in der Freien Zeitung erschienenen Artikel Propaganda hier und dort:

Die deutsche Regierung wird den erwählten Weg zu Ende gehen müssen. Die Ereignisse treiben sie ohne Erbarmen und schreiben ihr mehr wie je ihre Haltungen vor. In diesem Fatum liegt die Erklärung für das verzweifelte Bemühen des deut- schen Propagandasystems, nicht nur das eigene Volk, sondern auch das Ausland

7 Clemens Brentano: Werke. Erster Band. Hg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. München 1968, S. 131 u. 611. 8 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen

Welt. Frankfurt a. M. 1973. 9 Siehe hierzu Hans Dieter Zimmermann: Die in die Irre führen. Hugo Balls Kritik der deutschen Intelligenz. In: Bernhard Wacker (Hg.): Dionysius DADA Areopagita. Hugo Ball

und die Kritik der Moderne. Paderborn / München 1996, S. 93–112 sowie das III. Kapitel „Das künstlerische Selbstverständnis der Avantgarde“. In: Ralph Homayr: Montage als Kunstform. Zum literarischen Werk von Kurt Schwitters. Opladen 1991, S. 158–212. 10 Zur ideologiekritischen und sprachutopischen Konzeption der Lautdichtung Hugo Balls siehe das Kapitel „Lautdichtung zwischen Sprachutopie und lyrischer Diagnostik: Ver- wandtschaften und Differenzen zwischen Hugo Ball und Ernst Jandl“ bei Monika Schmitz- Emans: Die Sprache der modernen Dichtung, S. 131–173. 11 Zur propagandistischen Rolle der Dichter im Ersten Weltkrieg siehe Wolfgang J. Momm- sen: Deutsche und englische Dichter im Ersten Weltkrieg. In: Ders.: Der Erste Weltkrieg.

Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M. 2004, S. 155–167 sowie Thomas Anz und Josef Vogel (Hg.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918.

München / Wien 1982.

11 weiter zu täuschen, nachdem es mit dem Trug begonnen hat. Nie in der Weltgeschichte ist eine so böswillige Unwahrheitspropaganda für denkbar gehalten worden.12

Die schrecklichen Auswirkungen einer solchen sprachlichen Agitation, die Millionen Menschen begeistert in Krieg und sinnloses Sterben trieb (auch wenn ein Ernst Jünger darin den Kairos des Wirklichkeit gewordenen Nietzscheschen Übermenschen erblicken wollte), provozierten den ursprünglich aus dem Um- feld humanistisch katholischer Kulturkritik stammenden und später dahin zurückkehrenden Pazifisten Ball zur radikalen Dekonstruktion und Auflösung sprachlich-diskursiver Bedeutungsstrukturen. Und bereits die Findung des Wortes MERZ, als objet trouvé dem so verkürzten Wort „Commerzbank“ entstammend, indiziert die Richtung von Schwitters’ Poetik als eines Pro- gramms des – wie Manfred Engel gezeigt hat – „karnevalisierenden“ Umgangs mit der materiellen Textur der Wirklichkeit, deren Elemente aus ihren ursprüng- lichen Bezügen gelöst und in neue, ideologisch nun durchaus ambivalente (oder, mit Bachtin gesprochen, „dialogisierte“) Kontexte gestellt werden.13

II.

Der zivilisatorische Bruch, den die Barbarei des Dritten Reiches und vor allem die Shoah markiert, hat auch die deutsche Sprache auf eine zuvor nicht vorstellbare Weise affiziert, sich ihr als character indelebilis eingeschrieben. Von dem Versuch, dies in all seinen Konsequenzen zu erfassen, geben Texte wie Viktor Klemperers LTI (Lingua Tertii Imperii)14 und Dolf Sternbergers, Gerhard Storz’ und Wilhelm E. Süskinds Aus dem Wörterbuch des Unmen- schen15 Zeugnis, ebenso wie Adornos Abrechnung mit dem Weiterwirken des existentialistischen Diskurses à la Heidegger in Jargon der Eigentlichkeit, „Zur deutschen Ideologie“16 untertitelt. Für die Dichtung bezeichnet dies vor

12 Hugo Ball: Propaganda hier und dort. In: Ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans Burk-

hard Schlichting. Frankfurt a. M. 1988, S. 224–227; hier S. 227. 13 Siehe Manfred Engel: Collage als Karnevalisierung. Schwitters’ Merzkunst. In: Markus

May / Tanja Rudtke (Hg.): Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Heidelberg 2006, S. 271–295. 14 Viktor Klemperer: LTI.

15 Dolf Sternberger / Gerhard Storz / Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmen- schen. Hamburg 1957. 16 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. In: Ders.: Ge- sammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemanns unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit.

Frankfurt a. M. 2003, S. 413–526.

12 allem die Diskussion um die „Lyrik nach Auschwitz“,17 ausgehend von Ador- nos berühmtem und in seinen Prämissen häufig nur zu missverstandenem Diktum aus dem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft von 1951: „[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“18 Zwar gab es in der deutschsprachigen Nachkriegskultur eine zu ihrer Zeit fatal populäre Strömung von Lyrik, die sich dieser Erkenntnis verweigerte und sich in die völlige Verdrängung flüchtete; hierzu gehört etwa das Spätwerk Wilhelm Lehmanns mit seiner eskapistischen Bewegung zurück in die scheinbar „ewigen Werte“ von Natur, Kunst und Mythos, eine Konzep- tion, die Bernd Witte zutreffend als „Schrumpfform der klassischen Ästhetik“ dekuvriert hat.19 Hierher gehört auch die katholisch restaurative Dichtung eines Werner Bergengruen und anderer,20 aber auch der subjektivistische Rückzug in die „Artisten-Metaphysik“ des späten in den Statischen Gedichten ist geprägt von dieser Verweigerungshaltung gegenüber der eigenen historischen Verantwortung, was im Falle Benns besonders schwer wiegt.21 Und auch einem großen Teil der sprachartistischen Lyrikproduktion der fünfziger Jahre wie etwa der Konkreten Poesie haftet die Tendenz der bewussten Geschichtsverweigerung an, die eben nicht zuletzt die historisch- existentielle Dimension von Sprache aus der Reflexion ausblendet.22 Doch

17 Einen Überblick über die Diskussion gibt der Reader von Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 2001. 18 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Prismen. In: Ders.: Gesam- melte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemanns unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susann Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne

Leitbild. Frankfurt a. M. 2003, S. 11–30; hier S. 30. 19 Bernd Witte: Von der Trümmerlyrik zur Neuen Subjektivität. Tendenzen der deutschen Nachkriegsliteratur am Beispiel der Lyrik. In: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik nach

1945. Frankfurt a. M. 1988, S. 10–42; hier S. 13. 20 Zur Ausprägung solcher eskapistischer Rückzugstendenzen in der Dichtung der „inneren Emigration“ und nach 1945 siehe Leonard Olschner: Absences of Time and History. Poetry of Inner Emigration. In: Flight of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in

German Literature 1933–1945. Hg. von Neil Donahue und Doris Kirchner. New York /

Oxford 2003, S. 131–151. 21 Zur problematischen Verschränkung von Gottfried Benns ästhetischen und politisch-ideo- logischen Positionen vor und nach 1945 siehe die Kapitel V. „Benn und der Faschismus“ und VI. „Benn im literarischen Leben der Bundesrepublik“ bei Hugh Ridley: Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion. Opladen 1990, S. 181–195 u. 196–212 sowie Thomas Anz: Benns Bekenntnisse zur expressionistischen Moderne und zum Nationalsozialismus. In: Friederike Reents (Hg.): Gottfried Benns Modernität. Göttin- gen 2007, S. 11–23. 22 Dies zeigt sich selbst noch in denjenigen theoretischen Äußerungen der Vertreter der Konkreten Poesie, die deren gesellschaftskritische bzw. sogar revolutionäre Ambitionen postulieren – etwa in einem in seinen praktischen Konsequenzen nur sehr vage formulierten Anspruch auf Aufhebung der Entfremdung bei Bezzel, dem Gomringer im Gespräch mit

13 sind es neben Autoren wie Günter Eich, Peter Huchel, Johannes Bobrowski und vor allem die jüdischen Dichterinnen und Dichter, welche gerade die Problematik des Deutschen als „Muttersprache“ und „Mör- dersprache“ im Sinne der Möglichkeit einer „Lyrik nach Auschwitz“, einer Artikulation des Unaussprechlichen, dessen, „was geschah“,23 in ihren Texten ausloten. Paul Celans gesamtes Werk kann als eine zutiefst persönliche Auseinan- dersetzung mit der Shoah und ihren Folgen verstanden werden – nicht als eine Dichtung „nach Auschwitz“, sondern als ein Schreiben von Auschwitz her, Auschwitz ist – um ein Wort von zu adaptieren – „seine Ort- schaft“.24 Adornos späteres Bemühen um die Relativierung seines Diktums, wie sie etwa in dem Entwurf seiner Fragment gebliebenen Ästhetischen Theo- rie zum Ausdruck kommt,25 mag durchaus zusammenhängen mit seiner Be- kanntschaft mit Celan und dessen Werk – Adorno plante einen Aufsatz über

Ekkehardt Juergens sinnigerweise widersprochen hat. Vgl. Chris Bezzel: dichtung und

revolution. In: Text + Kritik 25: Konkrete Poesie I (2. Aufl. April 1971), S. 35 f. sowie Eugen Gomringer und Ekkehardt Jürgens: Wie konkret kann Konkrete Poesie sich engagie- ren? In: Text + Kritik 30: Konkrete Poesie II (2. Aufl. Oktober 1975), S. 43–47. 23 So die Formulierung Celans in seiner Bremer Ansprache. : Ansprache anläßlich der Entgegennnahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. von

Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 185–186; hier S. 186.

24 Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968, S. 113–124. 25 Theodor W. Adorno: Kritische Theorie. Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tie- demann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band

7. Frankfurt a. M. 2003. In den Paralipomena findet sich im Umkreis der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsgehalt hermetischer Dichtung eine aufschlussreiche Pas- sage über Celan: „Im bedeutendsten Repräsentanten hermetischer Dichtung der zeitgenös- sischen deutschen Lyrik, Paul Celan, hat der Erfahrungsgehalt des Hermetischen sich umgekehrt. Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negati- ves. Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen des Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern. Beseitigt werden die letzten Rudimente des Organischen; zu sich selbst kommt, was Benjamin an Baudelaire damit bezeichnete, daß dessen Lyrik eine ohne Aura sei. Die unendliche Diskretion, mit der Celans Radikalismus verfährt, wächst seiner Kraft zu. Die Sprache des Leblosen wird zum letzten Trost über den jeglichen Sinnes verlustigen Tod. Der Übergang ins Anorganische ist nicht nur an Stoffmo- tiven zu verfolgen, sondern in den geschlossenen Gebilden die Bahn vom Entsetzen zum Verstummen nachzukonstruieren. Entfernt analog dazu, wie Kafka mit der expressionisti- schen Malerei verfuhr, transponiert Celan die Entgegenständlichung der Landschaft, die sie Anorganischem nähert, in sprachliche Vorgänge.“ (S. 477). Diese Passage lässt sich durchaus als Ausdruck einer Revision des eigenen Verdikts Adornos in Bezug auf die Dichtung Celans verstehen, zumal sie Adorno hier als „bestimmte Negation“ im Sinne seiner eigenen Negativen Dialektik deutet.

14 Celan, der jedoch nicht realisiert wurde.26 Celan wiederum hat sich in der Tat mit Adornos Verdikt intensiv auseinander gesetzt, wovon beider Briefwech- sel,27 der Prosatext Gespräch im Gebirg sowie zahlreiche Gedichte, Notizen und Äußerungen Celans zeugen.

Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): Was wird hier als Vorstellung vom „Gedicht“ unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu bedichten28

So lautet ein Notat Celans aus dem Umkreis der Entwürfe zum Band Atem- wende, das die dem adornoschen Postulat zugrunde liegende Auffassung von Dichtung als ebenso naiv wie historisch überholt – als geradezu vormodern – entlarvt und somit implizit für sich selbst nicht zu Unrecht ein reflektierteres und (selbst-)kritischeres Verständnis von Dichtung reklamiert. Dies bezeugt Celans eigene poetische wie poetologische Entwicklung, die in der Büchner-Preis-Rede Der Meridian einen Vergangenes bilanzieren- den wie Zukünftiges programmatisch ankündigenden Kulminationspunkt er- reicht, der freilich – zieht man die Tendenzen des Spätwerks mit in Betracht – kein endgültiger ist. Celans Poetik der fünfziger und frühen sechziger Jahre

26 So schreibt Adorno in einem Brief vom 9. Februar 1968 an Celan: „Gehofft hatte ich, die längst projektierte Arbeit über Ihre Lyrik, die sich auf das Sprachgitter beziehen wird, so rechtzeitig fertig zu stellen, daß ich sie bei einer Veranstaltung des Radio Zürich im Theater am Hechtplatz am 25. Februar hätte vortragen können. Das ist nun nicht gelungen, ganz einfach wegen des unsinnigen und zum großen Teil ganz fruchtlosen Drucks, der während der letzten Semesterwochen auf mir lastet – daß ich ungezählte Prüfungen abhalten und an zahllosen Sitzungen teilnehmen muß, ist nun einmal durch die Definition meines Berufs gegeben, will mir aber doch als rollenhaft im schlechtesten Sinn, und ganz inadäquat, erscheinen. Ich hoffe aber, sobald ich Atem schöpfen kann, diese Sache zustande zu bringen; entworfen ist sie längst. Die Konzeption hat sich unmittelbar angeschlossen an eine Sitzung des Berliner Seminars von Peter Szondi, die wir gemeinsam über die ,Engfüh- rung‘ abhielten; ob, was ich zu sagen vorhabe, und was sehr schwierig sein wird, sich nur an dieses Gedicht oder an den ganzen Band halten wird, vermag ich noch nicht zu übersehen, glaube aber doch eher, daß ich den zweiten Weg gehe.“ Es ist zu vermuten, dass die in der angekündigten Arbeit enthaltenen Überlegungen Eingang gefunden haben in die zitierte Passage aus den Paralipomena zur Ästhetischen Theorie. Theodor W. Adorno und Paul Celan: Briefwechsel 1960–1968. Hg. von Joachim Seng. In: Frankfurter Adorno Blätter VIII. Im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hg. von Rolf Tiedemann. Göttingen 2003,

S. 177–202; hier S. 197 f. 27 Zum Briefwechsel und zur Beziehung Adornos und Celans siehe Joachim Seng: „Die wahre Flaschenpost“. Zur Beziehung zwischen Theodor W. Adorno und Paul Celan. In: Frank- furter Adorno Blätter VIII. Im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hg. von Rolf Tiedemann. Göttingen 2003, S. 151–176. 28 Paul Celan: „Mikrolithen sinds, Steinchen“. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Aus-

gabe. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a. M. 2005, S. 122 (Nr. 214).

15 bewegt sich weg von den surrealistisch geprägten Anfängen hin zu einer Auffassung von Dichtung, die neben ihrer dialogischen, Alterität anerkennen- den und sie gestaltenden Grundkomponente große Affinitäten zur existentiell- phänomenologischen Philosophie der Tradition Husserls, Oskar Beckers und – bei aller kritischer Auseinandersetzung Celan sehr bewusst – Heideggers aufweist, wenngleich sie ihre pneumatisch-jüdischen Wurzeln als Bekenntnis zur eigenen Herkunft dagegen zu setzen versteht.29 Zugleich erhebt diese Poetik den Anspruch, dass Dichtung einen Wirklichkeits- wie Daseinsentwurf darstellt, wie Celan dies in seiner Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen formuliert,30 und gerade darin offenbart sich ihr – im Sinne des von Celan verehrten Gustav Landauers – utopisches Potential als eine ,Freisetzung‘ und eine „Atemwende“.31 Als Sprache gewordenes historisches Bewusstsein des Einzelnen „bleibt [das Gedicht] seiner Daten eingedenk“, es schreibt sich von seinem „20. Jänner“ her,32 jenem „meridianhaften“ Datum, an dem nicht nur der Dichter Lenz in Georg Büchners gleichnamiger Novelle durchs Gebirge geht, sondern das auch als Datum der Wannseekonferenz wie ein Epitom den Beschluss zur endgültigen Vernichtung der europäischen Juden durch die Mörder des Natio- nalsozialismus markiert. Und zudem bleibt dieses Datum auf diskrete Weise auch rückgebunden an intimste, persönlichste Erfahrungen Celans. Zugleich ist Dichtung für Celan auf eine sehr essentielle Weise auch Ausdruck des Kreatürlichen, wie er es an Büchner, „dem Dichter der Kreatur“,33 exemplifi- ziert und wie dies in Celans emphatischem Gebrauch des „Atems“ als einer Chiffre für den unauflöslichen Zusammenhang von Lebens- und Dichttätig-

29 Zu Celans Heidegger-Rezeption siehe Anja Lemke: Konstellation ohne Sterne. Zur poeti- schen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan. München 2002. 30 Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hanse- stadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf

Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 185–186. Dort heißt es: „In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen. […] Gedichte sind auch in dieser Hinsicht unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.“ (S. 186). 31 Paul Celan: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Darmstadt am 22. Oktober 1960. In: Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter

Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 187–202; hier S. 193 und 195. 32 Paul Celan: Der Meridian, S. 196. 33 Paul Celan: Der Meridian, S. 192.

16 keit erkennbar wird. Diese eindringliche Verbindung von Existenz und Spra- che ist enggeführt in dem Bekenntnis, das Celan, der aus so vielen Sprachen und Literaturen übersetzte, anlässlich einer Umfrage der Pariser Librairie Flinker 1961 zum „Problem der Zweisprachigkeit“ abgelegt hat: „An Zwei- sprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. […] Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache“.34 Der für Celan unauflösliche Zusammenhang von Existenz, Kreatürlichkeit, Sprache und Dichtung manifestiert sich auch in einer der im schlimmsten Sinne des Wortes prägenden, aufs Tiefste verletzenden und dauerhaft traumati- sierenden Erfahrungen Celans der fünfziger und sechziger Jahre, der so ge- nannten „Goll-Affäre“.35 Celan hatte im November 1949 den todkranken Ivan Goll und seine Frau Claire in Paris kennen gelernt. Von dem jungen Dichter beeindruckt, baten der um seinen baldigen Tod wissende Goll – er starb am 27. Februar 1950 – und seine Frau Celan, einige von Golls Gedichten in französischer Sprache ins Deutsche zu übertragen, die lange Elégie d’Ihpétonga und andere Gedichte der Sammlung Masques de cendre sowie später den Band Les Géorgiques Parisiennes und den Zyklus Chansons Malaises. Celan kam der „Bitte eines Sterbenden“36 wie auch der der Witwe nach. Nachdem die geplante Publikation von Celans Übersetzungen der Géorgiques Parisiennes und der Chansons Malaises vom Schweizer Pflugverlag abgelehnt wurde und Claire Goll auf der Basis von Celans Übersetzungen 1952 ihre Fassung der übertragenen Malaiischen Liebeslieder bei eben diesem St. Gallener Verlag herausbringt, bricht Celan seine Verbindung zu Claire Goll ab. Darauf- hin beginnt diese eine beispiellose Verleumdungskampagne gegen Celan, die auf der absurden und durch die Entstehungschronologie der teilweise bereits in Der Sand aus den Urnen von 1948 enthaltenen Gedichte Celans zu widerlegenden Anschuldigung beruht, Celan habe in seinem 1952 erschienenen Band Mohn und Gedächtnis Texte ihres verstorbenen Mannes plagiiert, die in dem 1951 publizierten Band Traumkraut enthalten waren. Die Diffamierungskampagne erreicht 1960 mit der in der Münchener Zeitschrift Baubudenpoet veröffentlich- ten Anschuldigung von Claire Goll, Unbekanntes über Paul Celan betitelt,37

34 Paul Celan: [Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)]. In: Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. von

Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 175. 35 Meine Darstellung stützt sich im Folgenden auf die ausgezeichnete Dokumentation von Barbara Wiedemann: Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ,Infamie‘. Zusam-

mengestellt, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2000. 36 Barbara Wiedemann: Die Bitte eines Sterbenden – Übersetzungen für Yvan und Claire Goll. In: Axel Gellhaus et al.: „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Katalog zur Ausstellung

des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. (10. 5.–26. 10. 1997). Marbach a. N. 1997, S. 171–180. 37 Nachdruck in: Paul Celan – Die Goll-Affäre, S. 251–253.

17 ihren traurigen wie widerwärtigen Höhepunkt. Die weiten Kreise, welche diese Affäre in der Öffentlichkeit zog, bis hin zum von der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die Celan gerade den Büchnerpreis zuerkannt hatte, beauftragten und von – ausgerechnet! – Reinhard Döhl verfertigten Gutachten, waren für Celan nicht nur eine unvorstellbare Demütigung, vielmehr empfand Celan dies als den Versuch, ihn als Dichter, Jude und Mensch zu vernichten. Die Haltung, welche die Protagonisten zu den Anschuldigungen einnahmen, wurde für Celan, der den Vorgang mit der Affäre Dreyfus verglich38 und ihn als eine zutiefst antisemitische, die gesamte Gesellschaft betreffende Desavouierung wahrnahm, gewissermaßen zum Prüfstein aller seiner Beziehungen und Freund- schaften. Als eine auf dem Vorwurf eines vermeintlichen Plagiarismus beruhen- de ,Infamie‘ ist die Goll-Affäre auch und zuvörderst eine Sprach-Affäre. Celan, der – wie skizziert wurde – die existentielle Bezogenheit der untrennbaren Verflechtung von Herkunft, Erfahrung, Wahrnehmung und sprachlich-dichteri- schem Ausdruck als conditio sine qua non einer jeden wahren Dichtung im Sinne eines wahrhaften Existenzentwurfs erachtete – „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte“39 –, mußte erleben, wie nicht nur seine Sprache, die seiner Dichtung, sondern auch seine Herkunft als Überlebender der Shoah (oder, wie Celan selbst schreibt, des „Churban“)40 als „traurige Legende“41 verunglimpft und damit ihm enteignet wurde – und nicht nur das, vielmehr sah er sich infamerweise in die Rolle des „Altmetaphernhändler[s]“ (wie er sarkas- tisch-bitter mehrere Briefe jener Zeit unterzeichnete)42 und des Diebs versetzt, eine jegliche Wirklichkeit und Wahrheit entstellende Erfahrung, die er in seinen Gedichten, etwa in Eine Gauner- und Ganovenweise, aber auch in seinen Übersetzungen verarbeitete, wie die von Leonard Olschner entdeckte und in diesem Zusammenhang situierte, ungemein wichtige, aber von Celan nicht veröffentlichte Esenin-Übertragung Der schwarze Mann (černyj įelovek)43 demonstriert.44

38 So schreibt Celan in einem Brief vom 23.1.1962 an Adorno: „Diese ganze Sache ist

[Unterstreichung P. C.] eine Art Dreyfus-Affäre.“ (Adorno / Celan: Briefwechsel, S. 190). 39 Paul Celan: [Brief an Hans Bender]. In: Paul Celan. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III. Prosa. Reden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter

Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 177–178; hier S. 177. 40 Paul Celan: „Mikrolithen sinds, Steinchen“, S. 123. 41 Claire Goll: Unbekanntes über Paul Celan, S. 252. 42 So etwa an Walter Jens am 19. Mai 1961 (Paul Celan – Die Goll-Affäre, S. 533) und an

Adorno am 21. Jänner 1962 (Celan /Adorno: Briefwechsel, S. 187). 43 Sergej Esenin: Der schwarze Mann. Faksimile einer unpublizierten Übersetzung aus dem Nachlaß von Paul Celan. In: Jürgen Lehmann und Christine Ivanoviĭ (Hg.): Stationen. Kon- tinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk. Heidelberg 1997, S. 193–199. 44 Siehe Leonard Olschner: Sergej Esenin bei Paul Celan. Unbekannte Texte aus dem Nachlaß und ihre Bedeutung für Celans Werk. In: Jürgen Lehmann und Christine Ivanoviĭ (Hg.): Stationen. Kontinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk. Heidelberg 1997, S. 105–118.

18 Celans bittere Erfahrungen der Goll-Affäre prägen vor allem die Gedichte des Bandes Die Niemandsrose, der 1963 erschien. Die Niemandsrose ist eine literarische Entgegnung im Sinne des Celanschen Verständnisses des „Gegen- worts“,45 wie er dies als ein zentrales Konstituens seiner Poetik in der Büch- ner-Preis-Rede Der Meridian anhand der Figur Lucilles aus Büchners Drama Dantons Tod entwickelt hat. Celan legt hier gewissermaßen die Koordinaten seines literarischen wie existentiellen Kosmos offen, um zugleich in einem Akt des Widerstandes sich gegen die böswilligen und verleumderischen Vor- würfe des Plagiarismus zur Wehr zu setzen. Daraus resultiert auch die Spezifik der offensichtlichen Intertexualität dieses Bandes. Das heißt nicht, dass der Band einen höheren Grad an intertextuellen Verweisen aufweist als die vor- ausgehenden oder nachfolgenden Gedichtbände Celans, aber der Grad der Markiertheit ist hier deutlich indizierter als in seinen anderen Werken. Als „Gegenwort“ sind die Gedichte der Niemandsrose einerseits Bekenntnis zum eigenen Werdegang, zur eigenen dichterischen Biographie und damit auch zu den Autorinnen und Autoren, denen sich Celan in „meridianhafter“ Begeg- nung verbunden und teilhaftig fühlt, allen voran der verfolgte und ermordete jüdische „Bruder“ Osip Mandel’štam, „der Russenjude, / der Judenrusse“,46 dessen Andenken ja der gesamte Band gewidmet ist. Zum anderen sind die Gedichte aber auch eine drastische, bisweilen schmerzhaft sarkastische Ab- rechnung mit denjenigen Exponenten des deutschen Kultur- und Literaturbe- triebs, von denen sich Celan verleumdet, verfolgt und in seiner dichterischen wie kreatürlichen Existenz bedroht, ja negiert und annihiliert sah. „Ich bin“, so schreibt Celan in einem Brief an seinen früheren Bukarester Mentor Alfred Margul-Sperber am 8. Feber 1962, „der, den es nicht gibt“ [Hervorhebung von Paul Celan].47 Besonders eindringlich kommt dies außer in dem Gedicht Eine Ganuner- und Ganovenweise in Huhediblu zum Ausdruck:

HUHEDIBLU Schwer-, Schwer-, Schwer- fälliges auf Wortwegen und -schneisen

45 Siehe dazu Jürgen Lehmann: „Gegenwort“ und „Daseinsentwurf “. Paul Celans Die Niemands- rose. Eine Einführung. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hg. von Jürgen Lehmann unter Mitarbeit von Christine Ivanoviĭ. Heidelberg 1997, S. 11–35. 46 Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Siebter Band: Die Gedichte aus dem Nachlaß. Hg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann. An-

merkungen von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a. M. 2000, S. 371.

Die Zitierung entstammt einem „Bruder Ossip“ betitelten und von Celan auf den „29. 6. 61“ datierten Entwurf zu dem Gedicht Der Schmerz schläft bei den Worten, er schläft, er schläft, welches nicht Eingang in den Band Die Niemandsrose fand. 47 Paul Celan: Briefe an Alfred Margul-Sperber. In: Neue Literatur 26 (1975), H. 7, S. 50–63; hier S. 57.

19 Und – ja – die Bälge der Feme-Poeten lurchen und vespern und wispern und vipern, episteln. Geunktes, aus Hand- und Fingergekröse, darüber schriftfern eines Propheten Name spurt, als An- und Bei- und Afterschrift, unterm Datum des Nimmermenschtag im September –: Wann, wann blühen, wann, wann blühen die, hühendiblüh, huhediblu, ja sie, die September- rosen? Hüh – on tue… Ja wann? Wann, wannwann, Wahnwann, ja Wahn, – Bruder Geblendet, Bruder Erloschen, du liest, dies hier, dies: Dis- parates –: Wann blüht es, das Wann, das Woher, das Wohin und was und wer sich aus- und an- und dahin- und zu sich lebt, den Achsenton, Tellus, in seinem vor Hell- hörigkeit schwirrenden Seelenohr, den Achsenton tief im Innern unsrer sternrunden Wohnstatt Zerknirschung? Denn sie bewegt sich, dennoch, im Herzsinn. Den Ton, oh, den Oh-Ton, ah, das A und das O, das Oh-diese-Galgen-schon-wieder, das Ah-es-gedeiht, auf den alten Alraunenfluren gedeiht es, als schmucklos-schmückendes Beikraut, das Beikraut, als Beiwort, als Beilwort,

20 ad- jektivisch, so gehn sie dem Menschen zuleibe, Schatten, vernimmt man, war alles Dagegen – Feiertagsnachtisch, nicht mehr, –: Frugal, kontemporan und gesetzlich geht Schinderhannes zu Werk, sozial und alibi-elbisch, und das Julchen, das Julchen: daseinsfeist rülpst, rülpst es das Fallbeil los, – call it (hott!) love. Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres?48

Die ungemeine Vielfalt, Komplexität und Dichte sprachspielerischer Verfah- ren und deren Verklammerung mit und Motivierung durch intertextuelle Be- züge, welche das Gedicht prägen, ist – wenngleich sich nicht alles bei der ersten Lektüre erschließt – ebenso evident wie beeindruckend, ebenso wie der zwischen sarkastischer Bitterkeit und – besonders in Strophe 5 sowie in der Schlussformel präsent – trauernder, gleichwohl utopisch-hoffender Behaup- tung changierende Tonfall des Gedichts. Mit Ulrich Konietzny, dessen Kom- mentar zu diesem Gedicht meine Ausführung hier weitgehend verpflichtet sind, lässt sich konstatieren, dass der Titel wie auch die diesen Titel generie- renden onomatopoetisch-interlingualen Sprachspiele in Strophe 3 und 4 sich erst vom Schluss des Gedichtes her erschließen:49 als Abwandlung des Schluss- verses „Ah! quand refleuriront les roses de septembre!“ aus Paul Verlaines Gedicht L’espoir luit comme un brin de paille dans l’étable, enthalten im Band Sagesse. Konietzny hat neben der Bestimmung der verschiedenen Verfah- ren der den Text bestimmenden intertextuellen Anspielungen eine Bestands- aufnahme der sprachlichen bzw. sprachspielerischen Verfahren versucht und dabei sechs Gruppen unterschieden, unter dem für ein adäquates Verständnis wesentlichen Hinweis, dass diese „im Gesamtkontext metapoetisch reflektiert und relativiert eine andere Funktion erhalten“50 würden. Konietzny differenziert

48 Paul Celan: Huhediblu. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Erster Band: Gedichte I. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter der Mitwirkung von Rolf

Bücher. Frankfurt a. M. 2000, S. 275–277. 49 Ulrich Konietzny: Huhediblu. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hg. von Jürgen Lehmann unter Mitwirkung von Christine Ivanoviĭ. Heidelberg 1997, S. 295–306; hier S. 297. 50 Konietzny: Huhediblu, S. 296.

21 1. „Verfahren der Konkreten Poesie“51, wie in Vers 1 und 2 mit der dreimali- gen abbrechenden Wiederholung von „Schwer-“ und dem sprachgesti- schen Aufschub „fälliges“ in den zweiten Vers, 2. „[o]nomatopoetische Variationen“52 wie die Formulierung „die Bälge der Feme-Poeten / lurchen und verspern und wispern und vipern, / episteln“ (Verse 5–7), 3. „Nonsenseverse“53 (eine in diesem Zusammenhang etwas unglückliche Formulierung), welche sich aus dem phonetischen Material der Formulie- rung „Wann blühen die“ (Vers 16) ergeben, 4. „Alliterationen und Assonanzen, die semantisch brisante Gehalte anneh- men“54, Beispiel wäre die Verschiebung der Kompositaelemente in den Versen 46 und 47: „als schmucklos schmückendes Beikraut / das Beikraut, als Beiwort, als Beilwort“, 5. die Gruppe der „Inversionen, Metathesen, Paronomasien“55 wie „Erloschen, du liest, / dies hier, dies: / Dis- / parates-:“ (Verse 24–27), 6. das Gedicht strukturell umspannende „Korrespondenzen“56 wie etwa „Hüh –“ (Vers 16) und „(hott!)“ (Vers 60). Wenngleich das Gedicht von Vers zu Vers in seinem sich entfaltenden Bezie- hungsreichtum hier nicht besprochen werden kann, so bedürfen doch einige zentrale Aspekte der Erläuterung: Celan führt satirisch-sprachgestisch57 den Missbrauch der Sprache derjenigen vor, die von ihm als Kontrahenden in der Goll-Affäre wahrgenommen wurden, wie die Anspielungen auf den Namen des Nazi-Dichters Will Vesper („vespern“, V. 6) sowie auf Enzensbergers Gedicht Call it love („ – call it (hott!) / love“, V. 60/61) suggerieren.58 Celan, der sich energisch gegen eine Dichtung als bloßes „Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial“59 wandte, der darauf bestand, dass „[d]as Gedicht: kein Zeichen-System“60 im Sinne der ästhetischen Doktrinen der 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Hans Peter Bayerdörfer zählt Huhediblu zu den „satirisch-sprachexperimentellen Gedich- ten“ der Niemandsrose. Hans Peter Bayerdörfer: „Sprachen Rag-time“? Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945. In: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik

nach 1945. Frankfurt a. M. 1988, S. 43–64; hier S. 52.

58 : Verteidigung der Wölfe [1957]. Frankfurt a. M. 1999, S. 19. 59 Celan: Brief an Hans Bender, S. 177. 60 So ein Notat aus den Materialien zur Büchnerpreis-Rede. Paul Celan: Werke. Tübinger Ausgabe. Herausgegeben von Jürgen Wertheimer. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mit-

arbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a. M. 1999, S. 162 (Nr. 610).

22 Konkreten Poesie sei, demonstriert in Huhediblu die in der Tat fatalen – wortwörtlich tödlich-tötenden – Folgen eines solchen Sprachmissbrauchs. Die „An-, Bei- und Afterschrift“ (Vers 12) der „Bälge der Feme-Poeten“ (Vers 5) – also jener Dichter die andere („les poètes maudits“) verurteilten und verfem- ten – steht „unterm / Datum des Nimmermenschtags im September“ (Verse 12/ 13): Da Celans Gedicht laut seiner eigenen Datierung am 13. September 1962 in Moisville entstanden ist,61 liegt es nahe, als „Datum des Nimmermensch- tags im September“ den 15. September 1935 zu vermuten, jenen Tag, an dem die Nationalsozialisten auf ihrem Nürnberger Parteitag die Rassengesetze verkündeten, welche den Juden die Bürgerrechte aberkannten und den sexuel- len Verkehr zwischen Juden und Deutschen als „Rassenschande“ justiziabel machten.62 Die dadurch erfolgte antihumane antisemitische Diskriminierung setzt sich – folgt man der immanenten Logik des Celanschen Gedichts – demnach in jenen verbalen Attacken fort, die Celan während der „Goll- Affäre“ zu erdulden hatte. In diesem Zusammenhang ist auch der dieser Formulierung folgende Gedankenstrich und der Doppelpunkt semantisch zu lesen: Erst dies eröffnet die Möglichkeit, das alludierte Verlaine-Zitat in einer Weise zu entstellen, welche die Bemächtigung der Sprache und der Dichtung durch die eben jene Mörder und ihre Nachkommen („Bälge der Feme-Poe- ten“) repräsentiert – dies versinnbildlicht die Kontinuität zwischen den zur Shoah führenden Verbrechen der Nazis und der von Celan nicht ohne Grund als antisemitisch wahrgenommenen Kampagne gegen seine Person. Die über die Lautstruktur durchgeführte Permutation der Übersetzung der verlaine- schen Frage „Wann blühen die Septemberrosen“ führt zur in einer Art Perver- tierung der verlaineschen Sehnsuchtsgeste mündenden Frage nach dem erneu- ten Töten: „Hüh – on tue… Ja wann?“ (Vers 19). In einer früheren Fassung hatte es noch – vollständiger – geheißen: „on tue […] les poètes pour les citer après“,63 eine Formulierung, die Celan bei einem russischen Lyriker gefunden hatte und die er Barbara Wiedemann zufolge fälschlicherweise Verlaine zu- schrieb64 – was die intertextuelle Dichte und Referenzstruktur der Gedichtpas- sage allerdings noch steigert. Dass Celan diese Permutation nicht allein als translinguales – also der Übersetzung verpflichtetes – Wortspiel durchführt, sondern über die phonetische Struktur, gewissermaßen den lebendigen Wort-

61 Paul Celan: Werke. Tübinger Ausgabe. Hg. von Jürgen Wertheimer. Paul Celan: Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull unter

Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. Frankfurt a. M. 1996, S. 118.

62 Vgl. Konietzny: Huhediblu, S. 299 f. 63 Paul Celan: Die Niemandsrose (TCA), S. 116. 64 Paul Celan: Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert

von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 706.

23 Körper in einem Akt der Karnevalisierung65 disfigurieren und zerstückeln lässt, bindet das Verhältnis von Text und Körper im Sinne des celanschen Verständnisses der zutiefst existentiellen Dimension von Sprache und Dich- tung noch enger aneinander. Der „Oh-Ton“ des Galgens (Vers 41 bzw. 43), die Elementensubstitution der Komposita von „Beikraut“ über „Beiwort“ zum „Beilwort“, kulminierend in der nun wirklich „fällenden“ Trennung „ad-/ jektivisch“ im Zeilenbruch der Verse 48/49 („jacere“ lat. „fällen“), geht jetzt tatsächlich „dem Menschen zuleibe“ (Vers 50), gegen seine körperliche Exis- tenz. Von daher ist der perlokutive, artikulierte Sprache verweigernde („rülpst“) Sprechakt kurz vor Ende des Gedichts nur konsequent: „das Julchen, das Julchen: / daseinsfeist rülpst, / rülpst es das Fallbeil los, – call it (hott!) / love.“ (Verse 58–61). Es ist nicht einmal mehr die Sprache, die tötet und zerstückelt, nur noch ein animalisches Rülpsen erledigt dies. „Hüh“ und „hott“ finden aufs Grausamste im großen Chiasmus zueinander,66 die Zeit von der Wiederankün- digung des Tötens bis zum Akt hat sich erfüllt. Betrachtet man nach dem soeben Erläuterten die sprachlichen Verfahren des Gedichts sowie deren Gehalt, so lassen sich diese wirklich im Sinne von „membra disjecta“ be- schreiben, einer Zerstückelung des Körpers und der Sprache, wie dies Walter Benjamin in seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels als Kennzei- chen der Allegorie expliziert hat.67 Bereits in dem Gedicht Nächtlich ge- schürzt aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle (1955) hatte Celan jenen allegorisch-reziproken Verweischarakter von Körper und Sprache in ihrer doppelten Absenz in die Formel gefaßt: „Ein Wort – du weißt: / eine Leiche.“68

Was in Huhediblu gestaltet und reflektiert wird, ist also die mörderische Zurichtung der Sprache, wobei der Text es dabei allerdings nicht belässt, sondern dieser Sprache, die tötet, ein utopisches „Gegenwort“ entgegenstellt, das – in Celans emphatischen Wortgebrauch – „stehen“ kann; selbst dort, wo

65 Vgl. dazu den Aufsatz von Jürgen Lehmann: Karnevaleske Dialogisierung. Anmerkungen zum Verhältnis Mandel’štam – Celan. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion

1993. Hg. von Hendrik Birus. Stuttgart / Weimar 1995, S. 541–555. 66 In den Notizen zum Meridian finden sich drei aufschlussreiche Bezüge auf diese Formel: „Das Gedicht hört ebensowenig auf das modulationsfreudige und dankbar verfremdete Hüh der (angeblich) Engagierten, wie es auf das (neuerdings auch kybernetisch akkreditierte Hott der Ästheten hört; es bewegt sich auf eigenen Bahnen; […]“. „Das Gedicht hört ebensowenig auf das Hüh der Engagierten, wie es das Hott der Ästheten – die Kybernetiker unter ihnen sind mitgemeint – hört; es bewegt sich auf anderen Bahnen; […]“. „Die Geister rechts und links. Die Hü- und die Hott-Intellektuellen…“ (Paul Celan: Der Meridian,

S. 166 f.; Nr. 643, 644 u. 645). 67 Siehe Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Herr-

mann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 203–430. 68 Paul Celan: Gesammelte Werke I, S. 125.

24 die „Beschneidung des Wortes“ (z. B. in der Aposiopese „war / alles Dage- gen –“ Verse 51/52) schon erfolgt zu sein scheint. Denn so, als Losungswort, als Schibboleth, welches Derrida zufolge ja den einmaligen Vorgang der Beschneidung, der Inzision aufgehoben in sich trägt,69 lässt sich das veränder- te und doch seltsam restituierte Zitat Verlaines am Ende des Textes begreifen: Die Inversion fragt nach der Zeit – „vos septembres“ – der Rosen (Rose ist ja die Leitmetapher des gesamten Bandes Die Niemandsrose), die wieder anbre- chen soll oder zumindest als möglich im Sinne einer „Leidensform der Zu- kunft“ gedacht wird, auch als Gegen-Zeit zum „Nimmermenschtag im Sep- tember“. Hier ist die bereits erwähnte utopische Dimension der Celanschen Dichtung, das „Licht […] der Utopie“ im Geiste der Figur des Meridian auf einmal wieder präsent, der Text vollzieht an seinem Ende, vor seinem Ver- stummen, die „Atemwende“.

III.

Der Kampf gegen die Zurichtung des Humanen, der sich in der reflektierenden Auseinandersetzung mit jenen diese Zurichtung ermöglichenden ideologi- schen Praktiken manifestiert, ist auch charakteristisch für das Werk Erich Frieds. „Wir müssen die Klischees der Zivilisation, die zum Schutz der Un- menschlichkeit dienen, durchbrechen, wo immer wir können“, lautet der programmatische Schlusssatz von Frieds 1983 verfasstem Essay Was soll und kann Literatur verändern?70 Fried war ein Überlebender der Shoah wie Celan, den er wahrscheinlich nicht allzu lange nach Erscheinen von Der Sand aus den Urnen (1948), spätestens aber im Herbst 1951 kennen gelernt hatte.71 Es ergab sich eine bis in die sechziger Jahre hinein freundschaftliche Beziehung und ein – durchaus von beiden Seiten kritisch geführter – Dialog, der, was die Spuren

69 Jacques Derrida: Schibboleth für Paul Celan. Aus dem Französischen von Wolfgang Sebastian Baur. Wien 1986. 70 : Was soll und kann Literatur verändern? In: Ders.: Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hg. von Volker Kaukoreit. Berlin 1995, S. 69–85; hier S. 85.

71 So mutmaßen auch die Herausgeber von Ingeborg Bachmann / Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und kommentiert von Bertrand

Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008, S. 262. Das erste Zeugnis einer Begegnung findet sich allerdings erst in Celans Brief an Bachmann

vom 30.10.1951, enthalten im nämlichen Band, S. 34 ff. Zu Celan und Fried siehe Dietmar Goltschnigg: Intertextuelle Traditionsbezüge im Medium des Zitats am Beispiel von Erich

Frieds lyrischem Dialog mit Paul Celan. In: Gerd Labroisse / Gerhard P. Knapp (Hg.): Literarische Tradition heute. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrem Verhältnis zur Tradition. Amsterdam 1988, S. 27–59; hier S. 33.

25 in Frieds Werk anbelangt, noch über Celans Tod 1970 hinaus weiter wirkte.72 Fried, der seit 1938 bis zu seinem Tod am 22. November 1988 im Londoner Exil verblieb, war der Inbegriff des politisch engagierten Dichters, der sich immer wieder exponierte und engagierte, und damit häufig provozierte:73 in seinen Stellungnahmen gegen den Vietnam-Krieg (und vietnam und, 1966), gegen die deutsche Politik während der Studentenbewegung und in den siebziger und achtziger Jahren, gegen die aggressive israelische Palästinenser-Politik (Höre, Israel! 1974), gegen die Kandidatur des nationalsozialistisch belasteten Kurt Waldheim um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten. Und noch seine Rede zur Verleihung des Büchnerpreises 1987 sorgte für einen handfes- ten Skandal, da Fried hier mit der Behauptung provozierte, dass der Sozialre- volutionär Büchner, würde er heute leben, wohl eher auf Seiten der RAF als auf Seiten der im Saal versammelten Repräsentanten der Staatsmacht stünde.74

72 Davon zeugen Frieds Gedichte Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan (1972 veröffentlicht; in: Erich Fried: Gesammelte Werke. Hg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Gedichte 2. Berlin 2006, S. 65) – eine Antwort auf Celans Text Fadensonnen – , Give the Word (Erich Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 2, S. 220) mit Bezug auf Celans gleichnamiges Gedicht, Nachzügler (Erich Fried: Gedichte 2, S. 321), eine Elegie für den toten Freund, sowie das 1982 veröffentlichte Gedicht Nachruf (Erich Fried: Gedichte 2,

S. 685 f.), das als montiertes Cento-Gedicht Zitate von Celan, aber auch von Hölderlin, Heine, Rilke, Brecht, Ingeborg Bachmann und Rosa Luxemburg enthält. Auch finden sich in einzelnen Gedichten Frieds Anspielungen und Verweise auf Celans Texte, etwa der Begriff „Knochenhebräisch“ aus Celans Gedicht In Prag in Worte seit Auschwitz (Erich Fried: Gedichte 2, S. 599–602; hier S. 599). Darüber hinaus hat sich Fried häufig zu Celan und seinen Texten geäußert, so etwa in dem Beitrag zur „Frankfurter Anthologie“, der Celans Gedicht Das Fremde gewidmet ist (Erich Fried: Paul Celan: Das Fremde. Auch ein Liebesgedicht. In: Erich Fried: Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hg. von Volker Kaukoreit. Berlin 1995, S. 154–156), oder in seinem Gespräch mit Heiner Müller

(Erich Fried – Heiner Müller: Ein Gespräch geführt am 16. 10. 1987 in Frankfurt / Main Berlin 1989, S. 22, 26–28). Vgl. dazu Dietmar Goltschnigg: Intertextuelle Traditionsbezüge im Medium des Zitats am Beispiel von Erich Frieds lyrischem Dialog mit Paul Celan sowie Johann Holzner: „Die Worte sind gefallen“. Notizen zu Paul Celan und Erich Fried. In: Text + Kritik 91: Erich Fried (Juli 1986), S. 33–42. 73 Fried hat dies ironisch reflektiert in dem Satz: „ich selbst bin gerdazu berüchtigt als Verfasser vieler sogenannter ,engagierter‘ Gedichte.“ (Erich Fried: Gedichte über das Dichten. In: Ders.: Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hg. von Volker Kaukoreit. Berlin 1995, S. 33–51; hier S. 34).

74 „Es ist wahrscheinlich, daß dieser Zwanzigjährige [Büchner; M. M.] sich in unserer Zeit zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte – wenn auch keineswegs sicher, daß er sich nicht wieder abgewendet hätte! – und daß er heute im Gefängnis säße oder vor genau zehn Jahren, am 17. Oktober 1977, an einer ähnlichen Art Selbstmord gestorben wäre, wie es Baader, Ensslin und Raspe an diesem Tag widerfahren ist – und 17 Monate zuvor Ulrike Meinhof! Falls Büchner nicht schon bei der Verhaftung polizeilich erschossen worden wäre, natürlich nur in Notwehr oder in putativer Notwehr!“ (Erich Fried: Von der Nachfolge dieses jungen Menschen, der nie mehr alt wird. In: Ders.:

Gedanken in und an Deutschland. Essays und Reden. Hg. v. Michael Lewin. Wien / Zürich 1988, S. 271–283; hier S. 276).

26 Dabei war es ein zentrales Anliegen Frieds, den alten, seiner Auffassung nach nur scheinbaren Gegensatz zwischen „engagierter Dichtung“ und Form- kunst in seiner Lyrik zu überwinden. Davon zeugen auch seine literaturtheoreti- schen und -kritischen Aufsätze. In Nonsensdichtung und Montage etwa ver- sucht Fried an Beispielen, die von Kinderreimen über Gedichte Brentanos und den „Abzählreimen“ Celans bis zu seinen eigenen Texten reichen, die tieferen Sinndimensionen des scheinbaren Unsinns – und das heißt in diesem Fall, ihre häufig gar nicht so lustigen Wirklichkeitsbezüge – freizulegen und nachvollzieh- bar zu machen.75 Und in dem Aufsatz Gedichte über das Dichten zeigt Fried, ausgehend von Friedrich Schlegels Reflexionen zur Poesie in zweiter Potenz, der „Poesie über Poesie“, dass gerade das autoreflexive Moment einer solchen Dichtung im besten Fall ihr gesellschafts- und zivilisationskritisches Potential erst wahrhaftig zur Entfaltung bringt. Als abschließendes und gewichtiges Bei- spiel einer solchen Dichtung zitiert Fried seine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz das Gedicht Worte seit Auschwitz, in dem sich Sprachskepsis, aber auch die – wenn auch reduzierte – Hoffnung auf eine humane Sprache des Widerstandes artikuliert.76 Das Humane kommt bei Fried nicht zuletzt in einer ganz bewußten Schlichtheit der sprachlichen Mittel zum Ausdruck, die in fast diametralem Gegensatz zur oft schwer verständlichen Komplexität des celanschen Dichtens zu stehen scheint. Heiner Müller hat dies einmal als das „Durchsichtige“ der Friedschen Texte bezeichnet und ihnen diesbezüglich eine Qualität der „Freundlichkeit“ attestiert.77 In der Tat schei- nen sich Frieds Texte dem Leser mühelos zu erschließen, was nicht wenig zu ihrer ungeheueren Popularität beigetragen hat – Fried ist neben Rose Ausländer der zeitgenössische deutschsprachige Lyriker mit den höchsten Auflagen. Dabei ist ein wesentliches Element der Dichtung Frieds das „ernste […] Wortspiel“,78 welches gesteuert wird durch Erkenntnisinteresse hinsichtlich der so repräsentierten „Sprachwirklichkeit[en]“79, die aber fast immer einen engen Bezug zur gesellschaftlichen, politischen, künstlerischen, biographischen Realität aufweisen. Oft ist es gerade die Evidenz von Paradox und Tautologie, auf die Fried in seiner Gedankenlyrik baut, also rhetorische Figuren, die zugleich Denkfiguren der Logik sind, und die die historisch bedingten Ambiva- lenzen und Widersprüche menschlicher Sprach- und Wirklichkeitserfahrungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nach der Shoah – repräsentieren

75 Siehe Erich Fried: Nonsensedichtung und Montage. Ein Versuch. In: Ders.: Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hg. von Volker Kaukoreit. Berlin 1995, S. 53–68. 76 Erich Fried: Gedichte über das Dichten, S. 48–51. 77 Erich Fried – Heiner Müller: Ein Gespräch, S. 27. 78 Zit. nach Alexander von Bormann: Verwundbar und deutlich: Erich Fried (Nachwort). In: Erich Fried: Gedichte. Stuttgart 1993, S. 70–80; hier S. 71. 79 Alexander von Bormann: Verwundbar und deutlich: Erich Fried, S. 78.

27 und reflektieren. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden, das dem 1981 veröffentlichten Gedichtband Lebensschatten entnommen ist.80 Der Titel des Bandes spielt erkennbar auf den 1912 postum veröffentlichten Band Umbra vitae sowie das Gedicht gleichen Titels von an, und die drohend- katastophische Atmosphäre des expressionistischen Gedichts wie der ganzen Nachlasssammlung spiegeln sich auch in Frieds Gedichtband wider. Neben den für Fried typischen Mahngedichten reicht das thematische Spektrum des Bandes von Texten über das Alter und den individuellen Tod, über Elegien für aus politischen Gründen Ermordete wie Gustav Landauer, Erich Mühsam, aber auch für den bei einer Polizeikontrolle am Gründonnerstag 1980 „versehentlich“ erschossenen Manfred Perder, wie auch der Anklage anderer Fällen von Polizeigewalt und staatlicher Willkür, bis hin zu Texten – es ist die Hochphase des west-östlichen Rüstungswettlaufes – über die Bedrohung durch die atomare Apokalypse, aber auch – ebenfalls typisch für den späten Fried – Liebesgedichten. Der Text, der hier betrachtet werden soll, ist ein umso erschütternderes Zeugnis für das lebenslange Weiterwirken des „survivor guilt syndromes“, als er über fünfzig Jahre nach Frieds rettender Flucht ins englische Exil und fast ebenso lange nach der Ermordung seiner Großmutter und seines Vaters entstand:

Der Überlebende nach Auschwitz Wünscht mir nicht Glück zu diesem Glück daß ich lebe Was ist Leben nach soviel Tod? Warum trägt es die Schuld der Unschuld? die Gegenschuld die wiegt so schwer wie die Schuld der Töter wie ihre Blutschuld die entschuldigte abgewälzte Wie oft muß ich sterben dafür daß ich dort nicht gestorben bin?81

80 Erich Fried: Lebensschatten. In: Ders: Gedichte 2, S. 461–530. 81 Erich Fried: Gedichte 2, S. 522.

28 Auch dieser Text Frieds bedarf in seiner inhaltlichen Aussage eigentlich keiner Interpretation. Was erörterungswürdig ist, ist der intrinsische Zusam- menhang zwischen sprachlichem Vollzug und der dem Gedicht zugrunde liegenden, zutiefst existentiellen Problematik. Denn es geht hier nicht um ein bloßes Durchdeklinieren von Sprachwirklichkeiten, vielmehr wird für das verstörende, weil das Verhältnis von Schuld und Unschuld paradoxal verkeh- rende Gefühl der Scham der Opfer, die Shoah überlebt zu haben, ein adäqua- ter, weil analog durch Paradoxa, Antinomien, Paronomasien und offen gelas- sene Fragen bestimmter sprachlicher Ausdruck gesucht – ein Ringen, das die Textur offenbart. In der ersten Strophe wird durch die paronomastische Wen- dung der Verneinung, „Glück / zu diesem Glück“ zu wünschen, das Glück des Überlebt-Habens selbst in Zweifel gezogen, worauf die dritte Strophe mit dem Gegenbegriff des „Sterbens“ respondiert, mittels einer durch Verwendung einer paradoxen figura etymologica die Doppelstruktur vom ,Glück des Glücks‘ negierenden Frage: das einmalige Überleben zieht die Frage nach dem Preis in Gestalt eines sich wiederholenden, vielfachen Todes nach sich. Die Mittel- strophe liefert die Begründung, ebenfalls zunächst in zwei Fragen gefasst, die erste – die Infragestellung von Begriff und Sinn des Lebens nach „soviel Tod“ (Vers 5) – antinomisch gehalten, die zweite – die nach der „Schuld der Unschuld“ des Weiterlebens – paradoxal formuliert. Indem Fried durch eine etymologische Verschiebung von der „Schuld der Unschuld“ auf den unge- wöhnlichen altdeutschen Rechtsterminus der „Gegenschuld“ (er bedeutete ursprünglich noch ausstehende Forderungen eines Schuldners) rekurriert, ent- spricht er seinem programmatischen Anspruch einer Suche nach einer ange- messenen, widerständigen Sprache nach Auschwitz, wie er dies in dem Ge- dicht Worte seit Auschwitz dargelegt hat: „Andere Worte / neuere / ältere / arme / unbeholfene Worte / aber gefügt / um zu helfen / töricht zum Teil / aber vielleicht / doch nicht / ganz vergeblich / nicht ganz so leicht / überrennbar / nicht ganz so / wehrlos / beiseite zu schieben“82. Das Gewicht der Überle- bensscham, der „Schuld der Unschuld“ wird durch den Begriff der „Gegen- schuld“ quasi „juristisch“ in Bezug gesetzt zur „Blutschuld“ der „Töter“ (Verse 12 und 11). Diese haben sich im Gegensatz zu denen, die dem Morden entkommen sind, ihrer „Schuld“ entledigt („abgewälzte“, Vers 14), und auch die Gesellschaft hat sie rehabilitiert, wie die figura etymologica von der „entschuldigte[n] Blutschuld“ (Vers 12 und 13) insinuiert. In Frieds Gedicht – und dies ist kein Geringes – entspricht das „ernste Wortspiel“ in seiner paradoxalen, paronomastischen, fragenden Gestaltung der unentrinnbaren Widersinnigkeit der traumatischen persönlichen Erfahrung in ihren histori- schen Bedingungen. Zugleich geschieht dies mit den scheinbar einfachsten

82 Erich Fried: Gedichte 2, S. 599–602; hier S. 602.

29 Mitteln, was den Text sofort für jedermann verstehbar und erschütternd ein- leuchtend erscheinen lässt – auch dies eine besondere Qualität der friedschen Dichtung.83

IV.

Ernst Jandl in eine Reihe von gesellschaftskritisch motivierter bzw. wirkender sprachspielerischer Dichtung gestellt zu sehen, die mit Celan eingeleitet wur- de, mag zunächst verwundern. Zum einen, weil der Dichter ja gerade zum Umkreis jener „Wiener Gruppe“ gehört, als deren „Onkel“ er sich gelegent- lich, ebenso Sympathie wie Distanz ironisch bezeugend, bezeichnet hat,84 Jandl mithin seine Anfänge in jener Phase der experimentellen „konkreten“ Poesie der fünfziger Jahre hatte, die das autoreferentielle Moment der Sprache in den Mittelpunkt ihrer Poetik stellt, und die von Celan ja aufs Schärfste abgelehnt wurde. Und nicht nur das; Jandl hat immer wieder in seinen theore- tischen Schriften diese Konzentration auf das Autoreferentielle betont: „Ich habe nichts zu sagen“,85 heißt es, ein Wort von zitierend, zu Beginn der dritten der Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die Jandl im Wintersemester 1984/85 hielt. Und die Jandl-Philologie ist nicht müde geworden, die Warnung vor Interpretationsansätzen, welche die sprachliche Oberfläche von Jandls Texte hin zu einer etwaigen Tiefenstruktur – biographischer, psychoanalyti- scher, historischer Art etc. – durchstoßen wollen, wie ein Mantra zu wiederho- len. So etwa expliziert Hermann Korte – mit deutlich abgrenzenden Bezug auf Celan – Jandls Programm als „eine Poetik, die in der strikten Begrenzung auf eine Poetik des Schreibens und in der verweigerten Legitimation einer ,Bot- schaft‘ für irgendeine Arche oder auch Flaschenpost die Bedingung der Mög- lichkeit des Schreibens offen hält.“86 Diese – im Sinne Roland Barthes – ,Schreibbarkeit‘87 der Texte Jandls wird seitens der Interpreten nicht selten

83 Fried hat dies unter anderem in dem aphoristischen Gedicht mit dem ironischen Titel Widerspiegelung reflektiert: „Wenn die Gedichte / einfacher werden / so zeigt das / nicht immer an / daß das Leben / einfach / geworden ist“ (Erich Fried: Gedichte 2, S. 511). 84 So heißt es im Gedicht verwandte: „der vater der wiener gruppe ist h.c. artmann / die mutter der wiener gruppe ist gerhard rühm / die kinder der wiener gruppe sind zahllos / ich bin der

onkel“ (Ernst Jandl: idyllen. gedichte. Frankfurt a. M. 1989, S. 8). 85 Ernst Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frank-

furt a. M. 1990, S. 48. 86 Hermann Korte: „stückwerk ganz“. Ernst Jandls Poetik. In: Ernst Jandl. Text+Kritik 129 (Januar 1996), S. 69–75; hier S. 74. 87 Vgl. Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb? In: Ders.: Das Rauschen der

Sprache (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2006, S. 18–28.

30 zum Interpretationsverdikt schlechthin ausgeweitet – wobei sich die Propaga- toren dieses Arguments „against Interpretation“88 paradoxerweise aber selbst nicht daran halten. Bei Wendelin Schmidt-Dengler liest sich die Warnung – etwas vorsichtiger – so:

Darüber hinaus steht der analytischen Befassung mit Jandls Schriften eine Schwie- rigkeit entgegen: die Analyse scheint in den Texten enthalten und sich somit, wird sie geleistet, fast als ein Störfaktor zwischen diesen und den Rezipienten zu schieben, da das, was Objekt der Analyse werden könnte, unmittelbar zur Evi- denz kommt.89

Dennoch – so könnte man behaupten – bietet das Werk Jandls Anknüpfungs- punkte zu dem an Celan exemplifizierten Paradigma. Da wäre zum einen die Akzentuierung des Körperlich-Kreatürlichen im Akt des sprachlichen Vollzugs, wie dies besonders für den Jandlschen Typus des „Sprechgedichts“ prägend ist. So lautet auch der Titel von Jandls Frankfurter Poetik-Vorlesungen Das Öffnen und Schließen des Mundes,90 wodurch die sprachlich-dichterische Tätigkeit – ähnlich wie bei Celan – zum Ausdruck und zur Signatur der Sprachkreatur Mensch erhoben ist – allerdings mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Jandl keinen Verfügungsanspruch des Dichters über die Sprache erhebt:

Ja, ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere übrigens, und also gilt es, wie ich es sehe, für den Dichter jeglicher Zunge, gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schrift- steller sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache leben, d.h. in ihr, mit ihr und durch sie Menschen, menschliche Wesen sind.91

Ein Sprechgedicht Jandls existiert eigentlich nur wirklich, wenn Jandl es vorträgt (was nun leider nicht mehr möglich ist), es lebt erst als performativer Akt, es ist an die Stimme und den Körper seines Autors gebunden – eine Aussage, die nur der ganz nachvollziehen kann, der einmal eine der unnach- ahmlichen Performances Jandls live miterleben durfte. Zum anderen zieht sich eine zweite Linie durch Jandls Werk, die mit der ersten, das Autoreferentielle der Sprache betonenden bisweilen auch ver- schmelzen kann. Jandl selbst hat dies in einer kurzen, Zwei Arten von Ge- dichten betitelten Notiz aus dem Jahr 1968 so erläutert:

88 Vgl. Susan Sontag: Gegen Interpretation (Against Interpretation). In: Dies.: Kunst und

Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien. Frankfurt a. M. 1999, S. 11–22. 89 Wendelin Schmidt-Dengler: Humanisten und / oder Terroristen. In: Ders.: Der wahre Vogel. Sechs Studien zum Gedenken an Ernst Jandl. Wien 2001, S. 102–119; hier S. 104. 90 Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes. 91 Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes, S. 37.

31 Ich arbeite an zwei Arten von Gedichten: 1. in einem weiten Sinne gesellschafts- kritischen in komprimierter Alltagssprache; 2. in einem weiten Sinne sprachkriti- schen in manipulierter Sprache, wobei die Manipulation innerhalb des Gedichts systematisch erfolgt, das System von Gedicht zu Gedicht jedoch wechselt.92

Innerhalb jener von Jandl selbst als „gesellschaftskritischen“ Texte bezeichne- ten Gedichten und Stücken tritt immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Krieg – wie etwa in dem Binnenzyklus „krieg und so“93 aus laut und luise (1966 veröffentlicht, aber schon 1957 entstanden) –, aber vor allem auch mit dem Nationalsozialismus in den Vordergrund. Das gilt für das große, autobio- graphische „long poem“ deutsches gedicht94 (1957 verfasst, 1973 veröffent- licht), dem Jandl als Paratexte Anmerkungen und eine Vorrede95 beigefügt hat, in der er Entstehung und autobiographische Bezüge erläutert. Und das gilt auch für Jandls 1976 uraufgeführtes „konversationsstück in einem akt“, die humanisten,96 in dem zwei Männer, ein Universitätsprofessor und ein Künst- ler, nach einer Unterhaltung in der für den Jandl der 70er Jahre typischen, grammatikalisch reduzierten „heruntergekomme[n] Sprache“97, am Ende von einem dritten Mann in SS-Uniform mit einer MP liquidiert werden, der anschließend die Worte spricht:98

deutschen sprach besudelt haben diesen zweien. österreich, vaterland, besudelt haben diese zweien. aufhängen! stadtmauern!99

Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dessen im Wortsinn ,mörde- rischer‘ Sprache ist auch Gegenstand eines der bekanntesten Gedichte Jandls, das in dem bereits erwähnten dritten Binnenzyklus von laut und luise, „krieg und so“, veröffentlicht wurde, und das ebenfalls repräsentativ für die Verbin-

92 Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Dritter Band: Stücke und Prosa. Hg. von Klaus Siblewski.

Darmstadt / Neuwied 1985, S. 479. 93 Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Erster Band: Gedichte 1. Hg. von Klaus Siblewski.

Darmstadt / Neuwied 1985, S. 117–131. 94 Ernst Jandl: Gesammelte Werke. Zweiter Band: Gedichte 2. Hg. von Klaus Siblewski.

Darmstadt / Neuwied 1985, S. 7–27. 95 Ernst Jandl: Vorrede zu „deutsches gedicht“. In: Ernst Jandl: Gesammelte Werke III, S. 500. 96 Ernst Jandl: die humanisten. konversationsstück in einem akt. In: Ernst Jandl: Gesammelte Werke III, S. 237–253. 97 Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes, S. 33. 98 Zu dem Stück siehe Wendelin Schmidt-Dengler: Humanisten und / oder Terroristen, S. 102–119. 99 Ernst Jandl: Gesammelte Werke III, S. 253.

32 dung von gesellschaftskritischen und sprachkritischen Aspekten in Jandls Werk steht.

wien : heldenplatz der glanze heldenplatz zirka versaggerte in maschenhaftem männchenmeere drunter auch frauen die ans maskelknie zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick. und brüllzten wesentlich. verwogener stirnscheitelunterschwang nach nöten nördlich, kechelte mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme hinsensend sämmertliche eigenwäscher. pirsch! döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz mit hünig sprenkem stimmstummel. balzerig würmelte es im männechensee und den weibern ward so pfingstig ums heil zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.100

Auch hier muss eine detaillierte Analyse der einzelnen Verse leider entfallen, statt dessen sollen aber Art und Funktion der Sprachspiele untersucht werden. Für eine das gesamte Sprachmaterial und seine Assoziationsräume in den Blick nehmende Analyse sei auf den Aufsatz Jörg Drews’ Über ein Gedicht von Ernst Jandl: wien:heldenplatz verwiesen, an den sich die folgenden Überlegungen anschließen.101 Jandl selbst hat in dem 1967 im Rahmen des „Berliner Colloquiums“ publizierten Vortrag Mein Gedicht und sein Autor die dem Gedicht zugrunde liegenden biographische Reminiszenz enthüllt und Hinweise zur Deutung der darin verwendeten Verfahren gegeben:

Stoff dafür [für das Gedicht; M. M.] war die Erinnerung an eine Begebenheit aus dem Frühjahr 1938. Die Jahreszeit wird im Gedicht durch das Wort „pfingstig“ fixiert. Ich stand, 14jährig, auf der Wiener Ringstraße, nahe dem Heldenplatz, eingezwängt in eine Menge, die zu einer Kundgebung gekommen war.102

Bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit einer solchen Dichtung, die durch Auflösung und Neukombination des lexikalischen, semantisierten Mate-

100 Ernst Jandl: Gesammelte Werke I, S. 124. 101 Jörg Drews: Über ein Gedicht von Ernst Jandl: wien:heldenplatz. In: Ernst Jandl Mate-

rialienbuch. Hg. von Wendelin Schmidt-Dengler. Darmstadt / Neuwied 1982, S. 34–44. 102 Ernst Jandl: Mein Gedicht und sein Autor. In: Ders.: Gesammelte Werke III, S. 470–477; hier S. 470.

33 rials entsteht, und durch die Trennung der festen weil konventionalisierten Relation von Signifikant und Signifikat die Denotation zugunsten einer Öff- nung und Erweiterung der konnotativen (Spiel-)Räume verschiebt, lassen sich auf der Folie eines wie oben skizzierten „Realsubstrats“ des Textes sowie weiterer Hinweise des Autors bestimmte Grundstrategien und strukturelle Merkmale des Gedichts nicht nur deskriptiv, sondern auch funktional erfassen und sogar ansatzweise referentialisieren. Man kann sich dabei in diesem Fall auf den Autor selbst berufen, der dies am Zentrum des Gedichts selbst exemp- larisch vorführt und dabei sogar einen Hinweis zur Auflösung der etwas hermetischen Bildung „eigenwäscher“ gibt:

Als Zentrum dieser von primitiven Regungen umspülten Situation steht, ohne Namensnennung, Hitler im Gedicht, charakterisiert in Erscheinung und Diktion: „verwogener stirnscheitelunterschwang / nach nöten nördlich, kechelte / mit zu- nummernder aufs bluten feilzer stimme / hinsensend sämmertliche eigenwä- scher“ – Individualisten.103

Die Primitivisierung der Masse, ihre Regression ins Animalische wird im Text durch die Tiermotivik deutlich, welche die Personen, aber auch ihre Äuße- rungen erfasst: „männchenmeere“ (Vers 2), „brüllzten“ (Vers 5), „kechelte“ (Vers 7), „der gottelbock“ (Vers 11), „Sa-Atz“ (Vers 11), „balzerig“, „würmel- te“, „männechensee“ (Vers 13), „knie-ender“, „hirschelte“ (Vers 15). Damit korrespondiert die Anspielung auf den Fischfang als pervertierte Menschen- fischerei einer solchen Propagandaveranstaltung, welches die Assoziation zur Redewendung „jemanden ins Netz gegen“ weckt, in den ersten beiden Versen des Gedichts: die ,massenhaft‘ erschienen Menschen, das ,Menschenmeer‘ werden zu „maschenhaftem männchenmeere“; das Netz mit seinen Maschen ist quasi durch die Ineinanderblendung und Überlagerung der beiden Begriffe schon in der Masse enthalten – und umgekehrt. Entsprechend des aggressiven Duktus und der Bestialisierung ist die Botschaft dann nicht wie die eigentliche Pfingstbotschaft eine des Evangeliums, des Seelenheils und des allumfassen- den (Sprach-)Verständnisses, sondern die tödliche Jagd,104 in der comicartig- sprechblasenhaften Exklamation „pirsch!“105. Dabei ist das Tier selbst zum Jäger geworden, zum „gottelbock“ (Vers 11); eine Prägung, die einen weiten Assoziationsspielraum eröffnet: Einerseits phonetisch an „Doppelbock“ („döp- pelte“ heißt es von ihm) angelehnt, verweist es auf die Ursprünge Hitlers und seiner Politik aus den dumpfen Biernebeln des Münchner Bürgerbräu-Kellers. Des weiteren wird der Begriff „gott“ hier nicht nur – besonders bei Berück-

103 Ernst Jandl: Mein Gedicht und sein Autor, S. 470 f. 104 Ernst Jandl: Mein Gedicht und sein Autor, S. 471. 105 Jörg Drews: Über ein Gedicht von Ernst Jandl, S. 39.

34 sichtigung des österreichischen Idioms – pejorativ diminuisiert, es schwingt auch der fast zwingende Reimpartner „Trottel“ mit. Und zum anderen er- scheint in der Kompositaprägung der sich zum „Gott“ aufgeschwungen ha- bende „Bock“, was – berücksichtigt man die anderen religiösen Allusionen des Textes – ihn geradezu zu einer sprachlich karnevalesk entstellten Figura- tion des Antichristen macht. Der „gottelbock“ fügt sich auch ins Feld der Verknüpfung von animalischer Geilheit und des Tötens, vor allem in der Fügung „kechelte / mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme / hin- sensend sämmertliche eigenwäscher“ (Verse 7–9), die sich auf den „männechen- see“ („balzerig würmelte es“) und vor allem die „weiber […]“ überträgt, wobei gerade in den letzten zwei Versen die sexuelle wie quasi-religiöse Inbrunst ineinander geblendet werden – mit Bezug auf den Hitlergruß: „den weibern ward so pfingstig ums heil / zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschel- te.“ (Verse 14–15). Ähnlich wie bereits Charlie Chaplin in Der große Diktator dekonstruiert Jandl hier die pathetisch-mörderische Sprache Hitlers und der Nazis auf allen Ebenen, bis in die Phoneme und Morpheme hinein, indem er Ihre Aggressivität und Inhumanität ausstellt und struktural kommentiert, sie zur Kenntlichkeit entstellt – und damit auch den ihr zugrunde liegenden politischen Mythos demontiert. Jedoch bezieht die Sprachtravestie des Nazi- Tones hier auch die Rezeptionshaltung der fanatisierten Massen sowie deren im Triebhaften und Religiösen wurzelnde tiefenpsychologische Bedingungen mit ein. In den Worten Jörg Drews’: „[…] Jandl hatte einen Mythos analytisch zu destruieren – daher die funktionelle ,Häßlichkeit‘, das Aggressive des Gedichts, das die Häßlichkeit der nationalsozialistischen Sprache destruktiv und konstruktiv äfft, imitiert, zur Wahrheit verzerrt und steigert.“106 Die zwischen Schrecken und düsterer Komik oszillierende Groteske der sprach- spielerischen Travestie leistet somit die Bloßlegung und Entlarvung jener massenpsychologischen Triebfedern, die den rhetorischen Akt wie dessen performative Parameter im Bezug auf das kommunikative Feld von Sprecher und Rezipienten determinieren – und gerade in diesem analytisch-dekuvrie- renden Gestus erweist sich die Nähe zu Celans paronomastischen Verfahren und deren kritischen Funktionen in Huhediblu. Mehr aufklärerisch-kritisches wie subversives Potential gepaart mit einem derartigen Maß an autopoetischer Reflexivität wird man von einem Gedicht wohl kaum erwarten können.

106 Jörg Drews: Über ein Gedicht von Ernst Jandl, S. 42.

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