Einführung in Die Literaturwissenschaft
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Einführung in die Literaturwissenschaft VII. Terminologie der Gedicht-Analyse 1. Vorbemerkung Bei der Analyse von Lyrik geht es zuallererst um die Beobachtung von ›Unwahrscheinlichkeiten‹, d. h. von Regelmäßigkeiten (Metrik, Reim, Strophenform), wie sie in der Normalsprache nicht vorkommen. 2. Theodor Storms Die Stadt Zum Reim in diesem ›realistischen‹, daher metaphernfreien Gedicht lässt sich feststellen: • Endreime (immer betont) • in jeder Strophe das gleiche Schema: a b a a b • Variation zwischen 1. und 3. Strophe: ›Meer‹ wird von a zu b (bzw. f) • Korrespondenz: Schluss von Vers 1 und Vers 15 ist identisch (›Meer‹) Theodor Storm Die Stadt (1852) Am grauen Strand, am grauen Meer a Und seitab liegt die Stadt; b Der Nebel drückt die Dächer schwer, a Und durch die Stille braust das Meer a Eintönig um die Stadt. b Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai c Kein Vogel ohn’ Unterlaß; d Die Wandergans mit hartem Schrei c Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, c Am Strande weht das Gras. d Doch hängt mein ganzes Herz an dir, e Du graue Stadt am Meer; a/f Der Jugend Zauber für und für e Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, e Du graue Stadt am Meer. 1 a/f Durch diese Klangkorrespondenzen wird ein musikalischer Effekt erzeugt, der die Semantik des Gedichts potenziert. Dazu kommen weitere Stilmittel, die als eine Art ›Binnenreime‹ angesehen werden können: • Alliteration: Wiederholung von Lauten am Anfang von Wörtern, Versen und Strophen (vgl. Folie 9) 1 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 1: Gedichte. Novellen. 1848–1867. Herausgegeben von Dieter Lohmeier. Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 19), S. 14. 1 © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de VII. Terminologie der Gedicht-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft • Anapher: Wiederholung von Wörtern am Anfang von Versen oder Strophen (vgl. Folie 10) • Epipher: Wiederholung am Ende von Versen oder Strophen (vgl. Folie 11) Die Strophen bestehen aus je fünf Versen variierender Länge (diese Variationen wiederholen sich regelmäßig − Ausnahme: Vers 7; vgl. Folie 13). Es handelt sich insgesamt um eine freie, aber regelmäßige Strophenform. Bei der Analyse der Metrik stellt sich grundsätzlich die Frage, ob ein eher steigender (Jamben / Anapäste) oder ein eher fallender Rhythmus (Trochäen / Daktylen) vorliegt. Auf diese Frage gibt es häufig keine eindeutige Antwort, weil die schlichte Silbenzählung eventuell dem Klangeindruck widerspricht − im vorliegenden Storm-Gedicht (vgl. Folie 17) ist es daher sinnvoll, die jeweils erste Silbe eines Verses als ›Auftakt‹ zu begreifen und dadurch aus der Silbenzählung herauszunehmen (Die Stadt hat einen ›fallenden‹ Rhythmus: Trochäen mit Auftakt). Storms Gedicht wird aus biografischen Gründen oftmals auf Husum bezogen. Das ist jedoch irreführend, weil es im Text keine konkreten Hinweise darauf gibt. Durch die parallelen Oppositionen (Stadt/Meer, Einst/Jetzt, Stadt/Ich, Reizlosigkeit/Faszination) wird vielmehr eine melancholische Stimmung erzeugt, die keine Nordsee-Erfahrung voraussetzt. 2. Taktarten Bei der Analyse der Taktarten (›Versfüße‹) ist der grundlegende Unterschied zwischen quantitierender und akzentuierender Metrik zu beachten. Während die Dichtung der griechisch- römischen Antike auf dem Unterschied zwischen ›langen‹ und ›kurzen‹ Silben gründet (›quantitierend‹), arbeitet die neuzeitliche Dichtung (in Deutschland seit Martin Opitz, 1624) mit der Differenz von ›betonten‹ und ›unbetonten‹ Silben (›akzentuierend‹). Die wichtigsten Taktarten sind: Jambus (steigend) x x ́ (›Kamel‹) Trochäus (fallend) x ́ x (›Katze‹) Anapäst (steigend) x x x ́ (›Elefant‹) Daktylus (fallend) x ́ x x (›Eidechse‹) 3. Versformen Die einzelnen Versformen sind durch eine spezifische Verwendung der Taktarten gekennzeichnet und besitzen zudem typischen Charakter für bestimmte literarische Epochen und Formen. 2 © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de VII. Terminologie der Gedicht-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Alexandriner: sechs Jamben − in der Regel mit Mittelzäsur (kurze Pause in der Mitte) und paarweise gereimt. Der Alexandriner ist die dominierende Versform der französischen Dichtung und daher in deutscher Sprache überall dort gebräuchlich, wo man sich an französischen Vorbildern orientiert (speziell in der Dichtung des 17. Jahrhunderts). Beispiel: Andreas Gryphius: Es ist alles Eitel (1637/43) DU sihst/ wohin du sihst / nur Eitelkeit auff erden. Was diser heute baut / reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden.2 Hexameter: sechs Daktylen (die zu Trochäen verkürzt sein können) − ohne Reim! Der Hexameter ist die dominierende Versform antiker Epen und in der deutschen Dichtung erst im 18. Jahrhundert aufgegriffen worden. Beispiel: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias (1751-1773) Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt hat.3 Blankvers: fünf Jamben ohne Reim (›blank verse‹) Der Blankvers wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der englischen Dramenliteratur (Shakespeare!) in die deutsche Dichtung übernommen und bildet die dominierende Versform des ›klassischen‹ Dramas (seit Lessings Nathan der Weise). Beispiel: Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso (1790) TASSO (mit einem Buche, in Pergament geheftet.) Ich komme langsam, dir ein Werk zu bringen, Und zaudre noch es dir zu überreichen.4 (I, 3) 2 Andreas Gryphius: Es ist alles Eitel. In: Gedichte des Barock. Herausgegeben von Ulrich Maché und Volker Meid. Stuttgart 1980 (rub 9975 [5]), S. 114 (Hervorhebungen: A. M.). 3 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch- kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Herausgegeben von Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch (†). Abteilung: Werke IV. Band 1 und 2: Text. Herausgegeben von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin – New York 2000, S. 1 (Erster Gesang). 4 Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso. Ein Schauspiel. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 3.1.: Italien und Weimar. 1786–1790. I. Herausgegeben von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München – Wien 1990, 426–520, hier S. 436 (I, 3; Hervorhebungen: A. M.). 3 © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de VII. Terminologie der Gedicht-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Knittelvers: vier Hebungen (jambisch und trochäisch gemischt) mit Reim Die typisch ›deutschen‹ (= nicht ›romanischen‹) Knittelverse haben seit dem Verdikt durch Martin Opitz als niedere Versform gegolten und seitdem meist nur noch in parodistischer Absicht bzw. zur Charakterisierung niederer Schichten (z. B. Bauern) Verwendung gefunden. Beispiel: Friedrich Schiller: Wallensteins Lager (1800) BAUERNKNABE. Vater, es wird nicht gut ablaufen, Bleiben wir von dem Soldatenhaufen. Sind Euch gar trotzige Kameraden; Wenn sie uns nur nichts am Leibe schaden.5 (Erster Aufzug, v. 1-4) 4. Strophenformen Zentral ist die Unterscheidung zwischen den reimlosen Strophenformen der griechisch-römischen Dichtung (z. B. Ode / Hymne / Distichon) und den gereimten Strophenformen der neuzeitlichen (insbesondere italienisch-französischen) Dichtung (z. B. Sonett / Stanze). Weniger bedeutsam für die deutsche Lyrik sind dagegen ›germanische‹ (z. B. Nibelungen-Strophe / Meistersang-Strophe) und ›orientalische‹ (z. B. Ghasel) Strophenformen. Ode: Bei der Ode handelt es sich um Vierzeiler unterschiedlicher Form, die sich nicht reimen. Die Odenform wurde vor allem in der 2. Hälfte des 18. Jh. in die deutsche Dichtung übernommen und ist in semantischer Hinsicht in Deutschland durch ihren hohen, pathetischen Ton gekennzeichnet. Beispiel: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Zürchersee (1750) Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt. Von des schimmernden Sees Traubengestaden her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Komm in rötendem Strahle Auf dem Flügel der Abendluft, [...]6 5 Friedrich Schiller: Wallensteins Lager. In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. Band II: Dramen 2. Herausgegeben von Peter-André Alt. München – Wien 2004, S. 275–311, hier S. 277 (Erster Aufzug, v. 1-4; Hervorhebungen: A.M.). 6 Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Darmstadt 1962, S. 53ff., hier S. 53. 4 © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de VII. Terminologie der Gedicht-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Distichon: Als Strophenform der klassischen Antike ist das zweizeilige Distichon ungereimt und besteht ursprünglich aus einem Hexameter und Pentameter. Der eigentlich 5-hebige Pentameter wird in deutschsprachigen Distichen allerdings leicht abgewandelt: Der Pentameter ist hier ebenfalls mit 6 Hebungen versehen, wobei allerdings in der Mitte der Zeile zwei Hebungen aufeinandertreffen. Beispiel: Friedrich