Seite 13 Beiträge zur Beraubt deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Seite 5 Seite 16 Steinheim-Institut Bedacht Bezeugen an der Universität Duisburg-Essen

18. Jahrgang 2015 Heft 3

Zwischen den Heimaten Jizchak Schwersenz, deutsch-israelischer Pädagoge (1915–2005) Gregor Pelger

as ist Heimat? Heimat ist vor allem dort, wo derstandsgruppe jüdischer Jugendlicher, die Wdas Elternhaus gestanden hat, wie auch das Schwersenz 1943 in in den Untergrund Verhältnis von Eltern zum Kinde gewesen sein mag. folgten und die er in finsterster Zeit im Sinne seiner Der Mensch bleibt, ob er will oder nicht, mit seinem zionistischen Überzeugung geistig und menschlich Geburtsort, mit seinem Geburtsland tief verwur- stärkte. zelt. Dort ist seine Heimat. Besonders den älter wer- Hans-Joachim Schwersenz wurde am 30. Mai denden Menschen zieht es zurück zu seinen Wur- 1915 in Berlin als ein Kind des Ersten Weltkriegs zeln. Nun kann es sein, daß das erwachsen gewor- geboren – in einer Zeit, in der sein Vater, nach dene Kind eine neue Heimat gründet, die ihm Hei- Wilhelm II. benannt, „für Gott, Kaiser und Vater- mat wird, und so ist mir zur zweiten Heimat land voller Überzeugung hinauszog und kämpfte, geworden. Eine Heimat (…) in der man sich zu- an der französischen und an der russischen Front, rechtfinden muß. Es ist für uns, als ob wir das Haus eines Urahnen wiedergefunden hätten.1

Das wechselseitige Verhältnis von Heimat und Exil war für Jizchak Schwersenz ein Thema, das sich als Konstante durch sein Leben zog, ihn maß- geblich prägte – bewusst, aber auch ungewollt. Da- bei widersprachen sich die Begriffe Heimat und Exil, wie man vielleicht zunächst vermutet, für Schwersenz nicht. Sie bildeten ein komplementäres Paar, das untereinander austauschbar und zugleich ineinander verwoben die Dialektik seiner Identität als „Deutscher und Jude“ zwischen Deutschland und Israel gestaltete. Eine andere biografische Konstante war die päd- agogische Arbeit: Schon früh engagiert in jüdischen Jugendorganisationen, wählte er den Lehrerberuf, mit dem er während und nach der Shoah jüdischen Kindern Lebenssinn zu vermitteln suchte. Nach sei- ner Alija setzte er seine didaktischen Fähigkeiten in verschiedenen israelischen Bildungseinrichtungen ein und fand als Pädagoge im Dialog schließlich sei- nen Weg nach Deutschland zurück. Beide Lebenslinien beeinflussten die Gründung des Chug Chaluzi („Kreis der Pioniere“), einer Wi- Jizchak Schwersenz 1932 JUGENDBEWEGUNG

unweit der Stelle, wo ihm der Dank seines Vater- gen des jüdischen Volkes“ und er „vernahm von landes gewiß war, in Auschwitz“.2 Wilhelm der alten, neuen Heimat in Palästina“: Schwersenz wurde im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert. Auf die Überredungsversuche des Wir wanderten durch den deutschen Wald, durch Sohnes, gemeinsam unterzutauchen, hatte er mit deutsche Städte und übernachteten in Burgen oder Ablehnung reagiert aus der tiefen Überzeugung Jugendherbergen, wir sangen deutsche Wanderlieder heraus, „in einem Kulturstaat wie Deutschland und Landknechtslieder, aber wir träumten auch von können nie so furchtbare Dinge geschehen“, wie sie der Sonne Palästinas und lebten und litten das Le- Jizchak befürchtete, zu Recht. Solch ein Gefühl der ben der jungen Pioniere, der Chaluzim, im Lande Zerrissenheit in Raum und Zeit, die seine Familien- der Väter. Wir sangen hebräische Lieder, die aus Pa- geschichte aber auch das eigene Schicksal bestimm- lästina herübergekommen waren, oder auch deut- te, prägte bereits den jungen Hans-Joachim: sche Lieder jüdischen Inhalts wie zum Beispiel:

Als Kind lernte ich in der Volksschule, der Ge- Dort wo die Zeder schlank die Wolke küßt, meindeschule 15/16 in Berlin Charlottenburg, und dort wo die Asche meiner Väter ruht, später im Schiller-Realgymnasium. Ich sang mit Be- dort wo die schnelle Jordanswelle fließt, geisterung am Ende der Schulferien mit allen ande- dieses schöne Land am blauen Meeresstrand, ren ‚Deutschland, Deutschland über alles, über alles das ist mein liebes Heimatland. in der Welt‘, ich lernte die deutsche Muttersprache, aber an den Nachmittagen besuchte ich die Religi- Die Gemeinschaft in der jüdischen Jugendbewe- onsschule der Jüdischen Gemeinde. Hier lernte ich gung, die Besinnung auf religiöse Bräuche und die von Judas, dem Makkabäer, vom Ersten und Zwei- Geschichten vom ‚Altneuland‘ bewirkten die Festi- ten jüdischen Staat und Tempel, und ich erlernte die gung seines jüdischen Selbstbewusstseins. Unmittel- hebräische Sprache. Ich war also ein deutsches Kind, bar damit verband sich die zionistische Sehnsucht. und ich war ein jüdisches Kind. Doch auf dem Mit seiner Bar Mizwa drängte er die Mutter, den Nachhauseweg oder auf dem Schulhof mußte ich ru- Haushalt koscher zu führen und nahm seinen he- fen hören: ‚Jude Itzig‘, und so manches Mal einen bräischen Namen Jizchak („Gott lächelt, dem Kind Steinwurf oder Schläge ertragen. Und auf meiner zu“) an – eine Entwicklung, die der Vater ablehnte Schulbank fand ich einmal, was ich bis heute noch und die Mutter nur schweren Herzens unterstützen auswendig kann, so sehr hat es mich gekränkt, einen wollte. Je mehr Schwersenz sich in der zionisti- Zettel mit der Aufschrift „Jude Itzig Lebertran, Jude schen Jugendarbeit engagierte und dabei zuneh- in der Eisenbahn, Jude mit dem krummen Been, Ju- mend mit nationalsozialistischen Gruppen in Kon- de, Dir wird’s schlecht ergeh’n“ – gleichsam prophe- flikt geriet, umso konkreter wurden seine Pläne für tische Worte in den zwanziger Jahren. die Auswanderung nach Erez Israel. Kurz vor seinem Abitur 1933 kehrte Schwersenz Im Spannungsfeld von deutschem Patriotismus, wegen befürchteter Repressalien von einer Hol- jüdischer Tradition und antisemitischer Anfeindung landreise nicht zurück. Hier im Exil „entstand der wuchs Schwersenz auf. 1921 hatten die Eltern sich Wunsch nach einer neuen Heimat“ und er bereitete scheiden lassen und Hans-Joachim blieb bei seiner sich mit einer Hachschara (landwirtschaftlichen Mutter Helene in der Berliner Straße 154 (heute: Ausbildung) auf seine Alija vor. Doch anstatt nach Fahrt in die Natur Otto-Suhr-Allee) in Charlottenburg. Gegen den Palästina zu gehen, wurde er 1935 vom orthodoxen Antisemitismus, den er täglich erfuhr, bot ihm die Brith Chaluzim Datiim (kurz Bachad, „Bund der re- jüdische Tradition zunehmend Halt: Mit neun Jah- ligiösen Pioniere“) nach Deutschland zurückgeholt, ren trat er dem Jugendbund Esra bei, mit dreizehn um die rapide steigende Zahl an Ausreisewilligen zu wechselte er zur Pfadfindergruppe Kadima („Vor- unterstützen. Die landwirtschaftlichen Kollektiv- wärts“). In dieser Gemeinschaft fühlte er sich si- ausbildungsstellen (30 Einrichtungen 1937) der jü- cher, hier fand seine Persönlichkeit als Deutscher dischen Jugendbünde wie Hechaluz („Der Pionier“) und Jude Entfaltung. Er lernte auf den „Heim- oder Bachad zogen zunehmend Jugendliche an, da abenden“ von der „Geschichte, von der Kultur, hier auch „Arbeitszertifikate“ zu erhalten waren, 2 dem Leidensschicksal und den großartigen Leistun- die von der britischen Mandatsregierung nicht aus- JUGENDHILFE

reichend freigegeben wurden. Diese Rückkehr in de, deren Mutter Christin das nationalsozialistische Deutschland wurde für war und die sich stets zu Schwersenz zum „Exil in der Heimat“: den Verfolgten, den Ge- ächteten und Leidenden Ich arbeitete nun als Heimleiter in Köln und spä- bekannte. Sie forderte ter in Berlin mit Jugendlichen, die sich auf ein Leben mich auf unterzutau- in Palästina vorbereiteten. Ich war in der Bundeslei- chen, aber ich wehrte zu- tung unseres ‚Jüdischen Pfadfinderbundes Deutsch- nächst ab, als sie mir den lands‘ tätig und unterrichtete in jüdischen Schulen, Gedanken nahebringen selbstverständlich, denn jüdische Schüler und Lehrer wollte. Sie aber machte waren seit 1933 Schritt für Schritt von den allgemei- mich darauf aufmerk- nen Schulen ausgeschlossen worden. Uns Lehrern sam, daß ich aus dem war die Aufgabe gestellt, der nun so isolierten jüdi- Untergrund heraus bes- schen Jugend neuen Halt, neue Kraft und Inhalte zu ser versuchen könnte, un- geben. Da uns auch die Universitäten inzwischen sere Schüler und Schüle- verschlossen waren, studierte ich in der jüdischen rinnen zu retten. Religionslehrerakademie in Köln, absolvierte dort das Religionslehrerexamen und konnte 1939, im Viele Jugendliche aus letzten Ausbildungsjahr, an der jüdischen Lehreraus- der ehemaligen Jüdi- bildungsanstalt in Berlin noch Volksschullehrer (heu- schen Jugendhilfe te: Grundschullehrer) werden. folgten Schwersenz. Nach der sogenannten „Fabrikaktion“ am 27. Feb- Ausflug nach Havelberg 1941 Getreu der Aufforderung „Aufbau im Abbau“, ruar 1943 hatte er zusammen mit Ewo die Gruppe die Leo Baeck als Präsident der „Reichsvereinigung Chug Chaluzi („Kreis der Pioniere“) gegründet. der Juden in Deutschland“ in einer Rede an Ju- Mit Ausflügen, religiösen Zusammenkünften, kul- gendleiter und Verantwortliche der Jugendarbeit in turellem Unterricht und zionistischem Programm Deutschland 1940 gerichtet hatte, schloss sich versuchte die Gruppe sich der geplanten Vernich- Schwersenz mit allen Kräften dem Unternehmen tung zu widersetzen. Einzelne Mitglieder wurden an, ein jüdisches Erziehungswerk im nationalsozia- von der Gestapo aufgespürt, doch der Großteil die- listischen Deutschland aufzubauen. Er selbst be- ser etwa 40 Personen umfassenden Gemeinschaft tonte später: „So eigenartig es klingen mag, das überlebte das nationalsozialistische Regime. Jahr 1940 kann als ein Blütejahr des jüdischen Er- ziehungswerks in Deutschland, insbesondere in Das Schicksal der Juden sollte durch die Arbeit in Berlin, angesehen werden.“3 der Gruppe, durch unsere kleine, aber feste und ver- Bereits im September 1939 war ihm die Leitung läßliche Gemeinschaft in einen positiven Wert umge- der Jugend-Alijah-Schule in Berlin (seit 1936) über- wandelt werden. In dem Willen, das jüdische Schick- tragen worden. Zudem betrieb er zionistische Ju- sal auf sich zu nehmen, um es für die Zukunft besser gendarbeit im Kinder- und Jugendheim Ahawah zu gestalten, damit eine Wiederholung der Leiden („Liebe“) oder im Wohnheim der „Reichsvereini- und Verfolgungen für alle Zeiten unmöglich würde. gung“, im Jüdischen Pfadfinderbund Makkabi Ha- Unser Name Chug Chaluzi sollte zum Ausdruck za‘ir („Junger Wächter“) und vor allem in der Jü- bringen, daß die Erhaltung unseres Lebens notwen- dischen Jugendhilfe. Hier traf er Edith Wolff, Ewo dig sei für die Alija nach Erez Israel und notwendig genannt, die entscheidenden Einfluss auf sein künf- für den Aufbau des Landes. Wir wollten durchhalten tiges Schicksal hatte. Im Rückblick schreibt er: um der jüdischen Zukunft willen, die Freiheit errei- chen um des jüdischen Aufbaus willen.4 Im September 1942 hätte ich deportiert werden sollen. Ich schloß mich aber dem ‚Transport‘ nicht Dabei konnte die Gruppe auf die Unterstützung an, sondern tauchte unter. Es war nicht mein Ver- des Hechaluz bauen. Das Weltbüro dieser zionisti- dienst, sondern das einer großartigen Frau, der Ewo, schen Organisation war kurz vor Kriegsbeginn von wie wir sie nannten, der Edith Wolff, deren Vater Ju- Warschau nach Genf verlegt worden; von hier aus 3 GLÜCKSCHANCE

hielt man Kontakt zu Juden in ganz Europa, ver- ses, das durch die Ermordung von Familienmitglie- sorgte sie mit Geld, Papieren, Nahrung und ver- dern, Verwandten und Freunden in der Shoah dau- suchte die Ausreise bzw. die Flucht zu organisieren. erhaft belastet wurde. Welchen Ersatz konnte man Als Schwersenz wegen der zunehmenden Gefahr für die verlorene Heimat finden? Wie sollte man entdeckt zu werden Anfang 1944 aus Berlin fliehen mit der ursprünglichen Vaterlandsliebe umgehen? musste, konnte er zusammen mit Nathan Schwalb- Konnte man jemals wieder mit der nicht-jüdischen Dror, dem Leiter der Hechaluz-Weltzentrale in deutschen Gesellschaft in einen Dialog treten? Genf, aus dem schweizerischen Exil die Versorgung Im Oktober 1990 beschloss Jizchak Schwersenz der Chug Chaluzi-Mitglieder fortsetzen. Schwalb- wieder nach Berlin zu ziehen – auch aus dem lebens- Dror brachte die Widerstandsarbeit des Hechaluz langen, tiefwurzelden Vertrauen in eine gerechtere und des Chug Chaluzi auf den Punkt: „Mit jedem Welt kommender Generationen. In hohem Alter Leben, das wir retten, bekämpfen wir Hitler!“ kehrte er in seine ursprüngliche Heimat zurück und Aus dem Schweizer Exil ging Schwersenz zusam- starb dort am 1. Juni 2005. men mit seiner Freundin und Lebensgefährtin Ewo

Foto: Ralf Boedler nach Israel, schlug dort die Laufbahn eines Lehrers Anmerkungen ein und blieb über Jahre Deutschland und deutscher 1. Jizchak Schwersenz, Mein Weg als Deutscher und Kultur fern. Erst 1979 stimmte er zögerlich einer Jude. Zwischen Heimat und Exil, in: Ders. (Hg.), Einladung der Stadt Berlin zu – es wurde eine Reise Zwischen Heimat und Exil. Ein jüdischer Lehrer er- mit Folgen: „Alles, was verdrängt war, brach nun zählt Geschichte, Berlin 1995, 13-26, hier 26. Zi- tate, soweit nicht anders gekennzeichnet, entstam- auf. Die Liebe zur alten Heimat, zur deutschen men diesem autobiografischen Text. Sprache, zur deutschen Kultur. Viele Menschen, die 2. Jizchak Schwersenz, Flucht aus Hohentwiel, in: ich traf, alte und neue Freunde, gaben mir Hoff- Ferdinand Kroh (Hg.), David kämpft. Vom jü- nung.“ Schwersenz erlebte den Besuch als Heim- dischen Widerstand gegen Hitler, 1988, kehr in seine alte, erste Heimat. Er suchte die Orte 126-142, hier 126. seiner Kindheit auf und sprach in Schulen vor Ju- 3. Jizchak Schwersenz, Aufbau im Abbau. Das jüdische gendlichen in Berlin, Hamburg oder Hannover: Erziehungswerk in Deutschland 1933-1942 am Bei- spiel von Berlin, in: Zwischen Heimat und Exil, 83- 93, hier 83. Damit begann eine stete Wanderung zwischen 4. Jizchak Schwersenz, Die versteckte Gruppe. Ein jü- den beiden Heimaten, zwischen Deutschland und discher Lehrer erinnert sich an Deutschland, Berlin Israel, Israel und Deutschland. Jedes Jahr kam ich 1994, 98. Zum Chug Chaluzi siehe auch: Christine ein- bis zweimal zurück in meine alte Heimat, ein- Zahn, „Nicht mitgehen, sondern weggehen!“ Chug geladen von Kollegen und Freunden, immer mehr Chaluzi – eine jüdische Jugendgruppe im Unter- lernte ich kennen, reiste in viele Städte, hielt Vorträ- grund, in: Juden im Widerstand. Drei Gruppen ge in Universitäten, in Kirchengemeinden, in Schu- zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion, Berlin 1939-1945, Berlin 1993, 159-205. len, in verschiedenen Organisationen, ja sogar in ei- ner Berliner Polizeischule, um von Mensch zu Mensch zu sprechen, als Jude zu Christen, als Israeli deutscher Herkunft zu Deutschen, als älterer Dr. Gregor Pelger war von 2002 bis 2004 wissen- Mensch zu jungen Menschen. Vor allem aber lag mir schaftlicher Mitarbeiter am Steinheim-Institut. 2007 daran, zu jungen Menschen zu sprechen, weil ja – 2014 war er im Schuldienst mit den Fächern nach Martin Bubers Wort ‚die Jugend die ewige Deutsch, Geschichte, Sozialkunde (Ethik) tätig. Glückschance der Menschheit‘ ist. 2013 erhielt er den Lehrinnovationspreis der Ludwig Maximilians Universität. Seit 2015 ist er für die Schwersenz kann als Vertreter einer Generation Öffentlichkeitsarbeit im Bayerischen Staatsministe- jüdischer Bürger gesehen werden, die vor 1933 in rium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Deutschland sozialisiert, sowohl jüdische wie deut- Kunst zuständig. Seine Promotionsschrift „Wissen- sche Identität selbstbewusst und nahezu wider- schaft des Judentums und englische Bibliotheken. spruchslos lebte. Erst antisemitische Anfeindungen Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahr- und nationalsozialistische Ideologie erzwangen den hundert“ ist 2010 in der vom Steinheim-Institut her- 4 Bruch dieses deutsch-jüdischen Selbstverständnis- ausgegebenen Reihe „minima judaica“ erschienen. Das Testament von Martha Cohen Ein bewegendes Dokument aus Zeiten der Verfolgung

Mitgeteilt von Helmut Holzhey

ermann und Martha Cohen hatten am 30. Juli H1915 ein gemeinschaftliches Testament aufge- setzt, dessen Text 1997 von Ulrich Sieg publiziert wurde. Das Schriftstück beleuchte, so Sieg, „die pri- vate Seite“ Hermann Cohens „und nicht zuletzt sei- ne vielfältigen Initiativen für das Judentum“1. Auf jeden Fall gibt es Aufschluss über Cohens Wertschät- zung von Personen und Institutionen. Die konkreten testamentarischen Verfügungen konnten allerdings großenteils nicht verwirklicht werden, da Hermann Cohen festgelegt hatte, dass sie erst nach dem Tod auch seiner Ehefrau in Kraft treten sollten. Gemäß Protokoll der Gemeinderatssitzung der Stadt Cos- wig vom 5. August 1918 scheinen allerdings die im Gemeinschaftstestament dem Magistrat der Stadt Coswig zugedachten Beträge von 10.000 und 500 Mark, von denen der erste zur Errichtung eines Sti- pendienfonds, der zweite zur Pflege des Grabes von Cohens Mutter bestimmt waren2, schon kurz nach Cohens Tod überwiesen worden zu sein.3 Martha Cohens Testament von 1932 ist, insbe- stützung durch Hermann Cohen gegründet wor- sondere mit seinen fünf Nachträgen – der letzte auf den5. An deren Stelle tritt im Nachtrag vom 24. No- den 7. Januar 1941 datiert – ein erschütterndes Do- vember 1938 die „Jüdische Gemeinde zu Berlin“. Martha Cohen, die Fotografie kument für die tödliche Repression des Judentums Von dem früheren gemeinschaftlichen Testa- ist vermutlich nach 1918 auf- und seiner Institutionen in Nazi-Deutschland. Zu- ment heißt es in § 1, es sei „im wesentlichen da- genommen. Links oben das Öl- nächst hatte Martha Cohen die Hermann Cohen- durch gegenstandslos geworden“, „dass durch die bildnis ihres Mannes von Max Stiftung, die von einem Kuratorium „in Anlehnung Inflation das beim Tode meines Mannes vorhande- Liebermann, rechts neben ihr an die Jüdische Akademie verwaltet“ werde, zu ih- ne Vermögen verloren gegangen ist“. Ob es juris- die von Glicenstein geschaf- rer Erbin erklärt. Gemeint ist eine bei der 1919 ge- tisch gesehen dadurch unwirksam geworden war, fene Büste (beide erwähnt im gründeten „Akademie für die Wissenschaft des Ju- ist nicht geklärt. Ich erhielt dazu vom Amtsgericht Testament, § 7). Martha Cohen dentums“ errichtete Stiftung, die den Zweck ver- Berlin-Schöneberg am 20.9.1971 folgende Mittei- steht an ihrem Flügel. folgte, „das Studium der Cohenschen Philosophie lung: zu fördern & zu verbreiten“. Eine Gründungssit- „In der Nachlaßsache Martha Cohen ist die Martha Cohen, Tochter des be- zung fand am 18. Oktober 1924 statt, an der Ernst Erbfolge ungeklärt. Zunächst steht nicht fest, ob kannten Komponisten Louis Cassirer, Robert Arnold Fritzsche, Dimitrij Gaw- die eröffneten Testamente der Erblasserin nicht Lewandowski, war die Gattin ronsky, Albert Görland, Julius Guttmann und Wal- sämtlich unwirksam sind, weil ein früheres gemein- des Philiosophen Hermann Co- ter Kinkel ins Kuratorium der Stiftung gewählt wur- schaftliches Testament vorhanden war. Selbst wenn hen (1842 Coswig – 1918 Ber- den.4 Die Titeleien etwa der Schriften zur Philoso- die späteren einseitigen Testamente wirksam wä- lin), der mit seinen Interpreta- phie und Zeitgeschichte von Hermann Cohen oder ren, so stände nicht fest, wer Erbe ist.“6 tionen Kants die Marburger der Untersuchungen zur Theorie des unendlichen Auf mein Ersuchen hin wurde mir anfangs 1972 Schule des Neukantianismus Urteils von Jakob Gordin, 1928 bzw. 1929 im Aka- eine beglaubigte Fotokopie des Testaments von begründete, ein dreigliedriges demie-Verlag Berlin erschienen, belegen die publi- Martha Cohen zugesandt. In Beantwortung meiner System der Philosophie erar- zistische Präsenz der Stiftung. Offensichtlich wurde Rückfragen erhielt ich folgendes, auf den 2.9.1972 beitete und nach der Jahrhun- die Akademie und mit ihr die Hermann Cohen-Stif- datiertes Schreiben: dertwende zum bedeutends- tung 1933/34 aufgelöst, wie der Nachtrag vom „In der Nachlaßsache Martha Cohen ist das ten deutschen Vertreter einer 26. August 1934 bezeugt. Martha Cohen setzte Testament von Amts wegen hier eröffnet7 worden Philosophie „aus den Quellen stattdessen die „Gesellschaft zur Förderung der (§ 2263 a BGB). Es ist seinerzeit von Herrn Justiz- des Judentums“ avancierte. Wissenschaft des Judentums e.V.“ als Erbin ein. Di- rat Dr. Ph. Salomon im Auftrage der Frau Martha ese Gesellschaft war 1902 auf Initiative von Leo- Cohen am 21.1.1932 beim hiesigen Amtsgericht pold Lucas (1872–1943) mit maßgeblicher Unter- hinterlegt worden. Frau Martha Cohen hat ja vor 5 Das Testament § 4. Meine Hausangestellte Marie Wiebach soll, falls sie bei Nr. 2 des Notariatsregisters für 1932. meinem Ableben noch bei mir sein sollte, ein Barvermächtnis Verhandelt von 1000 Rm erhalten, ferner die Möbel in ihrem Zimmer, die Berlin, am 15. Januar 1932 Kücheneinrichtung und den Teppich auf dem Boden. Vor dem unterzeichneten zu Berlin, Lützowstrasse 67 wohn- haften Notar im Bezirk des Kammergerichts § 5. 500.- Rm sollen an Bedürftige verteilt werden. Justizrat Dr. Philipp Salomon der als Zeugen: § 6. Die Erträgnisse aus den literarischen Arbeiten meines 1.) den Schneidermeister Franz Drzymala zu Berlin, Mannes sowie seine Manuskripte fallen der Jüdischen Ge- Lützowstrasse 67, meinde zu Berlin zu. 2.) den Kaufmann Georg K ö n i g zu Berlin, Lützowstrasse 67, beide dem Notar bekannt, hinzugezogen hatte, § 7. Von den vorhandenen Gegenständen, die einen kunsthis- erschien heute: torischen Wert haben, vermache ich: die verwitwete Frau Geheimrat Martha C o h e n a.) die nach dem Leben modellierte Büste meines Mannes geborene Lewandowski zu Berlin, Dörnbergstr. 6 wohnhaft. von Glicenstein , einem der bedeutendsten Bildhauer in Rom, Die Erschienene ist dem Notar von Person bekannt. der Universität Marburg mit der Auflage, sie im philoso- Die Erschienene übergab dem Notar den anliegenden ver- phischen Seminar oder an einem anderen würdigen Platze schlossenen Briefumschlag, gab an, dass in diesem Umschla- der Universität aufzustellen, ge sich eine Schrift befinde und erklärte, dass diese Schrift ih- b.) die Bilder meines Mannes, insbesondere die Radierung ren letzten Willen enthalte. und die Zeichnung von Max Liebermann, meines Schwieger- Das Protokoll wurde in Gegenwart des Notars, der Erblasserin vaters, meiner Eltern, der Jüdischen Gemeinde zu Frankfurt und der beiden Zeugen vorgelesen, von der Erblasserin ge- a.M. zur Ausschmückung der Räume, in denen sich die nehmigt und von ihr, den beiden Zeugen und dem Notar ei- Bibliothek meines Mannes befindet, genhändig, wie folgt, unterschrieben: c.) das Oelbild meines Mannes von Bondy der Hermann [Unterschriften] Cohen-Loge in Frankfurt a.M., [Neue Seite] d.) die Plakette meines Mannes von Horowitz sowie das ju- gendliche Oelbild meines Vaters und das Oelbild meiner Mein Testament Mutter dem Jüdischen Museum in Berlin, Unter Aufhebung aller von mir früher nach dem Tode meines e.) das Oelporträt meines Mannes von Liebermann gehört Mannes gemachten letztwilligen Verfügungen bestimme ich der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, für den Fall meines Todes über meinen Nachlass wie folgt: f.) die Originalbriefe des Freundes meines Mannes, des Sani- tätsrats Dr. Hermann Lewandowsky, dessen Sohn Herrn Ge- § 1. Das von mir und meinem Ehemann errichtete gemein- org Lewandowsky zu Frankfurt a.M. schaftliche Testament vom 30. Juli 1915 ist im wesentlichen dadurch gegenstandslos geworden, dass durch die Inflation § 8. Meine Verwandten und Freunde sollen, falls sie Wert dar- das beim Tode meines Mannes vorhandene Vermögen ver- auf legen, aus meinem Mobiliarnachlass ein Andenken erhal- loren gegangen ist. Mein Nachlass, über den ich zu verfügen ten, meine Nichten insbesondere das Tafelsilber und die Tep- berechtigt bin, setzt sich aus den von mir nach dem Tode piche unter sich verteilen. Ich bitte meinen Neffen Herrn meines Mannes aus meinen Einkünften gemachten und gut Rechtsanwalt Riegner, meinem Testamentsvollstrecker hierbei angelegten Ersparnissen und den mir gehörigen Gegenstän- behilflich zu sein und die Verteilung vorzunehmen. Was beide den meiner Wohnungseinrichtung, einschliesslich des Flügels, bestimmen, ist massgebend. Im übrigen soll der Nachlass zusammen. einschliesslich des Flügels verkauft werden.

§ 2. Zu meiner Erbin ernenne ich die Hermann Cohen-Stif- § 9. Zu meinem Testamentsvollstrecker bestimme ich den tung zu Berlin, welche von einem besonderen Kuratorium in Justizrat Dr. Philipp Salomon zu Berlin und im Falle dieser ab- Anlehnung an die Jüdische Akademie verwaltet wird. Meine lehnt oder verhindert ist, Herrn Georg Lewandowsky in Hoffnung ist, dass sich die Hermann Cohen-Stiftung zu einer Frankfurt a.M. grossen und bedeutenden Hermann Cohen-Gesellschaft ent- Berlin, den 15. Januar 1932 wickeln wird. [Unterschrift:] Martha Cohen § 3. So lange meine Schwägerin Ella Lewandowski geborene geb. Lewandowski Flechtheim lebt, sollen ihr aus den Einkünften meines Nach- [Neue Seite] lasses jährlich 600 M gezahlt werden. 6 COHENSTIFTUNG

Nachtrag zu meinem Testament. ben noch bei mir sein sollte, ein Barvermächtniß von 1000 1. Die im § 3 meiner Schwägerin ausgesetzte Rente von jähr- Rm. ausgesetzt. Inzwischen hat mich diese in meinem lei- lich 600 Mrk wird auf 900 Mrk erhöht. denden Zustand weiter betreut und gepflegt bei einem 2. § 6 fällt fort. Die Erträgnisse aus den literarischen Arbeiten Lohn, der wesentlich geringer war als ihre Leistungen. Um meines Mannes, sowie seine Manuskripte fallen also meiner dem Rechnung zu tragen, erhöhe ich hiermit das Barver- Erbin, der Hermann Cohen-Stiftung zu. mächtniß von 1000.- Rm. auf 4000 Rm. 3. § 7 c ändere ich dahin ab, daß das Abbild meines Mannes 3) In § 7 meines notariellen Testaments zu a) habe ich die von Walter Bondy an diesen selbst, der das Eigentum hieran Büste von Glicenstein der Universität Marburg vermacht. Soll- in Anspruch nimmt, u. es an ein Museum verkaufen will, aus- te diese das Vermächtnis nicht annehmen, so soll die Büste gehändigt werden soll. dem Jüdischen Museum zu Berlin zufallen. Berlin den 11. März 1933. 4) Im § 9 ist als zweiter Testamentsvollstrecker Herr Georg Frau Geheimrat Martha Cohen Lewandowski zu Frankfurt a.M. bestimmt. Da dieser sich geb. Lewandowski nicht mehr in Deutschland befindet, soll an dessen Stelle [Neue Seite] mein Neffe Heinrich Riegner treten. Berlin, den 24. November 1938 Nachtrag Martha Cohen In meinem Testament habe ich die Hermann Cohen-Stiftung geb. Lewandowski zur Erbin eingesetzt. Diese Stiftung selbst hat keine juristische [Neue Seite] Persönlichkeit, sondern bildet eine Abteilung der Jüdischen Akademie E.V. und wird von dieser durch ein besonderes Ku- Weiterer Nachtrag zu meinem Testament: ratorium verwaltet. Inzwischen hat sich die Jüdische Akade- 1). Zu 3) meines Nachtrags vom 24. November 1938 habe ich mie aufgelöst und ihre Löschung im Vereinsregister ist bereits für den Fall, daß die Universität Marburg die ihr vermachte erfolgt oder steht bevor. Das bisherige Tätigkeitsfeld der Jü- Büste von Glicenstein nicht annehmen sollte, bestimmt, daß dischen Akademie ist auf die Gesellschaft zur Förderung der die Büste dem Jüdischen Museum zu Berlin zufallen soll. Da Wissenschaft des Judentums E.V. übergegangen und damit das Jüdische Museum jetzt geschlossen ist, bestimme ich, auf die Verwaltung der Hermann Cohen-Stiftung. dass der Testamentsvollstrecker eventuell über die Büste ver- Ich bestimme daher, dass meine Erbin die Gesellschaft zur fügen soll. Förderung der Wissenschaft des Judentums E.V. sein soll, die 2). Zu 4) des vorerwähnten Nachtrages soll anstelle von Hein- ihrerseits verpflichtet ist, das Studium der Cohen'schen Philo- rich Riegner, der in kurzer Zeit nach Amerika übersiedelt, der sophie zu fördern und zu verbreiten, sowie auch im übrigen frühere Rechtsanwalt Paul Salomon in Berlin W. 35, Lützowstr. die satzungsmäßigen Aufgaben der Hermann Cohen-Stif- 67, treten, und falls dieser nicht in der Lage ist, das Amt als tung zu erfüllen. Meine zuversichtliche Hoffnung ist auch Testamentsvollstrecker zu übernehmen, dieses Amt der Jü- heute noch, daß sich die Hermann Cohen-Stiftung zu einer dischen Gemeinde in Berlin übertragen werden. großen und bedeutenden Hermann Cohen-Gesellschaft ent- Berlin den 1. Februar 1940 wickeln wird. Martha Sara Cohen Im übrigen bleiben die Bestimmungen meines notariellen [Neue Seite] Testaments sowie des Nachtrags in Geltung. Martha Cohen Nachtrag zu meinem Testament. geb. Lewandowski In meinem Testament vom 15. Januar 1932 habe ich meiner Straußberg den 26. August 1934. Schwägerin Ella Lewandowski geb. Flechtheim aus den Ein- [Neue Seite] künften meines Nachlasses eine Rente von jährlich 600 R.M. bis zu ihrem Lebensende vermacht und im Nachtrag vom 11. Weiterer Nachtrag zu meinem Testament. März 1933 die Rente auf 900 R.M. jährlich erhöht. Frau Le- 1) In meinem Nachtrag vom 26. August 1934 habe ich an- wandowski befindet sich zur Zeit in England. Für den Fall, daß stelle der Hermann Cohen Stiftung die Gesellschaft zur För- eine Überweisung der Rente nach meinem Tode an sie nicht derung der Wissenschaft des Judentums E.V. als Erbin einge- möglich ist, bestimme ich, daß die zu meiner Erbin eingesetz- setzt. Ich bestimme nunmehr, daß falls diese Gesellschaft te jüdische Gemeinde in Berlin den vollen Zinsgenuß meines nicht Erbin sein kann oder will, meine Erbin die Jüdische Ge- Vermögens haben soll, so lange das Hinderniß besteht. meinde zu Berlin sein soll. Die Grundsätze, die für die Gesell- Berlin, den 7. Januar 1941 schaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums maß- Martha Cohen gebend sein sollten, sollen auch von der Jüdischen Gemein- geb. Lewandowski de beachtet werden. 2) In § 4 meines notariellen Testaments habe ich meine Hausangestellten Marie Wiebach, falls sie bei meinem Able- 7 COHENSTIFTUNG

ihrer Deportation nach Theresienstadt im hiesigen und Arbeit der ehemaligen Schüler ihres Mannes, Gerichtsbezirk gewohnt. Da die Akten jedoch lei- kümmerte sich aber vor allem um dessen wissen- der durch Brand sehr beschädigt sind, konnte ich schaftlichen Nachlass. Zunächst musste sie jedoch weiteres nicht entnehmen.“8 mit einem gesundheitlichen Kollaps fertig werden. Am 17. September 1919 berichtete sie Toni Cas- Martha Cohens Leben und Tod sirer, dass sie den Oktober über einen nochmaligen Martha Cohen, geb. Lewandowski9, wurde am 20. Sanatoriumsaufenthalt17 vor sich habe. Wörtlich Juni 1860 als Tochter von Helene und Louis Le- schrieb sie: „Der Arzt dort sagte mir, ich müsse ei- wandowski in Berlin geboren; ihr Vater (1821– nen starken Körper u. eine starke Seele haben, 1894) war Komponist synagogaler Musik und kgl. wenn ich diesen Anforderungen so lange gewach- Musikdirektor. In die Familie eingeführt wurde sen geblieben sei. Mein Mann sei eben ein Über- Hermann Cohen wohl durch seinen Freund Her- mensch gewesen. Und doch bin ich glücklich, dass mann Lewandowsky (1844–1900)10, einen Neffen ich ihm so lange die treue Gehilfin habe sein kön- von Louis und Sohn von Jacob Lewandowski in nen. Besser freilich wäre es gewesen, ich wäre frü- Halle. Zwei Jahre nach seiner Ernennung zum or- her zusammengebrochen, besser für uns Beide. dentlichen Professor der Philosophie an der Uni- Dann wäre er auch mir eher gefolgt.“18 Sie kommt versität Marburg heirateten Hermann Cohen und auf die Krankheit, aber allem Anschein nach bereits Martha Lewandowski am 6. Juni 1878. Die Ehe davon geheilt, in einem Brief an Paul Natorp vom blieb kinderlos. Nach 1892 begann die „gemein- 4. Juli 1920 nochmals zurück: „Ich musiziere auch same Schreibarbeit“: Martha schrieb nun im We- wieder viel besser wie seit vielen Jahren, da ich sentlichen die Briefe ihres Mannes, die er ihr eben- nicht mehr so nervös bin. D. Krankheit war lange so wie seine späteren Werke diktierte, weil er sich vorbereitet. Ich war widerstandsfähig, weil ich fortan beim Lesen und Schreiben wegen einer dro- wollte und das grandiose Beispiel mich fortriß. Ich henden Netzhautablösung im rechten Auge scho- sah bei Ihnen u. m. Mann den Kampf aufnehmen nen musste; den Briefen ihres Mannes fügte sie ohne Rücksicht auf eigenes Wohl. Rathkes, meinen vielfach private Mitteilungen für die Ehefrauen Rettern...“19. Mit Natorp wie auch mit ihrer engs- (Helene Natorp oder Toni Cassirer) an. In der ihr ten Freundin, Frida Rathke, teilte sie das Interesse gewidmeten zweiten Auflage der Logik der reinen und die Freude an Musik. Erkenntnis (1914) heißt es, „dass ohne den uner- An anderer Stelle des Briefes vom 4. Juli 1920 müdlichen Beistand meiner Frau diese Bücher nicht heißt es: „Ich kann nun schon beginnen für meinen hätten entstehen können“. Und Cohen fährt fort: Mann zu wirken.“ Nachdem es bei diesem ihrem „Sie war mir aber nicht nur die heitere Genossin Einsatz zunächst um die Frage gegangen war, was der Arbeit, sondern nicht minder auch die stand- mit der großen Bibliothek Hermann Cohens ge- hafte Trösterin in den langen Jahren des Kampfes, schehen sollte, verfolgte und förderte sie in der die dennoch den lauten Erfolg mehr scheute als Mitte der 1920er Jahre vor allem die beiden Pro- herbeiwünschte“. Die Cohens – Martha war pianis- jekte zur Publikation der kleineren Schriften ihres tisch ausgebildet – beteiligten sich rege am Marbur- Mannes. Was die Bibliothek betrifft, so hatte Na- ger Musikleben11, fuhren zu Konzerten ins benach- torp zunächst den Plan, sie „als Cohen-Stiftung“ barte Gießen und unterhielten persönliche Kon- dem Philosophischen Seminar der Universität Mar- takte u.a. zu Joseph Joachim12 oder zu Hans Gui- burg zukommen zu lassen – im Wissen darum, dass do Freiherr von Bülow13. Das Ehepaar pflegte Frau Cohen „der volle Wert dieser kostbaren durch Korrespondenz und gegenseitige Besuche14 Sammlung zufallen u. also der Betrag dafür durch auch die zwischenfamiliären Beziehungen intensiv. die Freunde und Verehrer womöglich aufgebracht Nach dem Tod ihres Mannes am 4. April 1918 zog werden“ müsste20. Das ließ sich nicht realisieren, Martha Cohen wohl schon bald um15 und wohnte zumal nun „die früher von Cohen selbst ins Auge fortan im Haus der Familie Simion in der Dörn- gefaßte und fast schon zum Abschluß gekommene bergstr. 6 (Berlin W. 10)16. Wie aus ihren Briefen Übernahme der ganzen Bibliothek durch die Frank- an Paul und Helene Natorp, an Ernst und Toni furter jüd. Gemeinde“ – zum Bedauern Natorps – Cassirer, Albert Görland, Henry Slonimsky u.a. auch für Martha Cohen wieder in den Vordergrund 21 22 8 hervorgeht, nahm sie lebhaften Anteil an Leben trat und tatsächlich verwirklicht wurde . NACHLASS

Im Herbst 1922 trat sie auf Einladung einer Sie lebte zuletzt in Berlin W 30, Berchtesga- amerikanischen Freundin eine Reise in die USA an, denerstr. 37, 4. Stock34, und teilte die 5½- Zim- wo sie auch den Winter verbrachte.23 Sie stand mer-Wohnung mit Marie Wiebach, ihrer langjäh- hier u.a. in Verbindung mit Felix Adler (1851– rigen Haushälterin (Testament § 4 und Nachtrag 1933) und Henry Slonimsky (1884–1970), der vom 24. November 1938), und mit Bertha Stern- 1911 in Marburg promoviert worden war und ab son, ihrer Betreuerin35. In ihrer Vermögenserklä- 1914 Philosophie an verschiedenen amerika- rung vom 23. August 1942 gibt sie ihr ungefähres, nischen Universitäten lehrte, zur Zeit ihres Besuchs zur Hauptsache aus Wertpapieren bestehendes Ge- als Professor in Cincinnati: mit Ersterem bezüg- samtvermögen mit RM 20'300 an. Als Einkommen lich „ungedruckter, zumeist jüdischer Vorträge“ ih- benennt sie: die Witwenpension, eine Rente der Jü- res Mannes, mit Letzterem bezüglich der Überset- dischen Kultusvereinigung Frankfurt a.M. (jährlich zung der Ethik des reinen Willens24 und der Reli- RM 1'200)36 und den „Nießbrauch am Konto Her- gion der Vernunft25. mann Cohen Nachlaß (auf Lebenszeit) (Testa- Bruno Strauß dankt Martha Cohen im Vorwort mentsvollstrecker: Jüdische Kultusvereinigung zu zur dreibändigen Ausgabe der Jüdischen Schriften Berlin e.V.)“37. Zwar wird das Wohnungsinventar Hermann Cohens (1924) dafür, dass sie ihm „die in aufgeführt38, doch ist in die Rubrik Kunst- und ihrer Hut befindlichen Schätze zur Verfügung stell- Wertgegenstände nichts eingetragen, es fehlt auch te“. Ihr Hauptanliegen war es zu dieser Zeit, dass jeglicher Hinweis auf den wissenschaftlichen Nach- die „philosophischen Aufsätze“ ihres Mannes ge- lass von Hermann Cohen. Dieser Befund legt den sammelt gedruckt würden. Sie bemühte sich nicht Schluss nahe, dass Martha Cohen die Gegenstände nur um die Finanzierung26, sondern sorgte sich von„kunsthistorischem Wert“ (Testament § 7) und auch um ein rasches Erscheinen der Sammlung, die die Papiere ihres Mannes (Manuskripte, Briefwech- von Albert Görland und Ernst Cassirer redigiert sel) bereits weggegeben hatte. werden sollte27. Im Blick auf das Verhältnis zwi- Martha Cohen wurde am 1. September 1942 schen „jüdischen“ und „philosophischen“ Arbeiten durch die Gestapo Berlin (Transport I/56-5796) ihres Mannes pflichtete sie Görland28 bei: „Ich bin nach Theresienstadt deportiert39, wo sie am 12. ganz Ihrer Meinung, denn mein Mann ist in erster September 1942 verstarb.40 „Frau Cohen wurde Linie Philosoph, das betone & predige ich bestän- nicht begraben, sondern kremiert. Die Asche wur- dig den Juden gegenüber, die sich seiner vielleicht de (später) in die Eger geworfen. Auf dem Platz, ein wenig zu viel bemächtigen. Ich verstehe & ent- von welchem die Asche der Kremierten in die Eger schuldige das eher als Sie. Mir wäre es daher auch geworfen wurde, steht ein Gedenkstein.“41 lieber gewesen, wenn sie [die „philosophischen“ Wie die Jewish Restitution Successor Organiza- Schriften] vor den jüdischen erschienen wären. tion (JRSO Berlin) im November 1972 mitteilte, Aber umso wichtiger ist jetzt das schnelle Erschei- gehe aus den Akten des Oberfinanzpräsidenten nen. Der Gedanke sie zu sammeln, war gleich nach Berlin-Brandenburg hervor, dass „die Nachlass- m. Mannes Tode von Ernst Cassirer ausgegan- werte des Herrn Hermann Cohen vom Deutschen gen.“29 Martha Cohen machte auch Vorschläge zur Reich beschlagnahmt und eingezogen worden“ Auswahl der aufzunehmenden Aufsätze und be- sind. Auffällig an den mir in Kopie vorliegenden mühte sich um die Druckvorlagen30. Unterlagen ist, dass nie auf das Testament Martha Aus dem Leben Martha Cohens in den 1930er Cohens, sondern immer auf ein Testament Her- Jahren ist sehr wenig bekannt. Heinrich Riegner mann Cohens Bezug genommen wird42. und seine Frau, die Hermann Cohen sehr nahe ge- standen waren, pflegten die „freundschaftlichen Zum Verbleib des wissenschaftlichen Nachlasses Bande“ zu Martha Cohen bis zu ihrer Emigration von Hermann Cohen Ende 1938 und darüber hinaus in Briefen „bis in Nach Auskunft der Jewish Restitution Successor den Krieg hinein“31. Bezeugt ist auch der Kontakt Organization Berlin ergeben die Akten des Oberfi- zu Bruno Strauß und seiner Familie32: Für seine nanzpräsidenten Berlin nicht, „dass Manuskripte, kleine Auswahlausgabe von Briefen Cohens wertete Aufzeichnungen und sonstige literarische Werke er dessen im Besitz von Martha Cohen befindlichen des Professors Hermann Cohen vom Deutschen 43 Briefwechsel aus33. Reich körperlich beschlagnahmt worden sind“ . 9 NACHLASS

Es ist wohl davon auszugehen, dass die zum Nachlass gehörigen Papiere Co- hens (Manuskripte, Briefwechsel) ver- nichtet worden wären, wenn sie sich un- mittelbar vor der Deportation Martha Cohens noch in ihrer Wohnung befun- den hätten. Waren sie nach 1939 in der „Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ depo- niert worden, so können sie an deren Domizil in der Oranienburger Strasse durch Kriegseinwirkungen verbrannt sein. Eine weitere, wenn wohl auch eher unwahrscheinliche Möglichkeit besteht darin, dass sie zusammen mit anderen Akten jüdischer Gemeinden in Deutsch- land in die Sowjetunion gebracht wur- den; entsprechende Recherchen blieben bisher ohne Resultat.

Anmerkungen Mein herzlicher Dank gilt Hartwig Wiede- bach, der mich zu dieser Publikation er- muntert hat und mir bei inhaltlichen Fra- gen zur Seite stand. 1. Das Testament von Hermann und Martha Cohen. Stiftungen und Stipen- dien für jüdische Einrichtungen, hg. von Ulrich Sieg, Zeitschrift für neuere Theologiege- hang auch ein Schreiben der Jüdischen Kultusverei- schichte / Journal of History of Modern Theology 4 nigung zu Berlin e.V. vom 27. Oktober 1942 an den (1997) 251-264, zit. S. 258. Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg, Abt. 2. Gemeinschaftstestament § 3, Zi. 1 und 3. Vermögensverwertungsstelle, in dem sich die Jü- 3. In diesem Protokoll heißt es (gemäß der Anhal- dische Kultusvereinigung in ihrer Eigenschaft als tischen Elbe-Zeitung vom 8.8.1918): „Der Professor Testamentsvollstreckerin nur auf das Testament Dr. Cohn [sic], ein gebürtiger Coswiger, hat der Hermann Cohens, nicht aber auf das Testament Stadt ein Vermächtnis von 10'500 Mk. überwiesen, Martha Cohens bezieht (s.u.). wovon 10'000 für Studienzwecke von Arbeiter- und 7. Über der Kopfzeile „Mein Testament“ ist hand- Lehrerkindern und 500 Mk. für Pflege der Grabstei- schriftlich vermerkt: „Eröffnet am 21. Februar 1963 ne verwendet werden sollen. Das Vermächtnis wird Amtsgericht Schöneberg [Eine Unterschrift]“; die mit Dank angenommen.“ (Mitteilung von H. Wie- Nachträge zum Testament enthalten den Vermerk debach) „60/29 IV 807/18 Eröffnet am 25. Juni 1963 Amts- 4. Brief von Gustav Bradt an Albert Görland (ohne Da- gericht Schöneberg [Unterschrift wie oben]. tum), der dem Adressaten von Martha Cohen am 8. Das Protokoll und das Testament vom 15. Januar 19. Dezember 1924 übermittelt wurde (Hermann 1932 liegen in Kopie maschinenschriftlich, die Cohen-Archiv Zürich, im Folgenden: HCA). Nachträge handschriftlich vor (HCA 15/A). 5. Vgl. Dieter Adelmann: Die „Religion der Vernunft“ 9. Die Schreibung des Familiennamens ist uneinheit- im „Grundriss der Gesamtwissenschaft des Juden- lich, teils mit i am Schluss, teils mit y. tums“, in: „Religion der Vernunft aus den Quellen 10. Vgl. Hermann Cohen: Briefe, ausgewählt und her- des Jundentums“. Tradition und Ursprungsdenken ausgegeben von Bertha und Bruno Strauß S. 6. Bü- in Hermann Cohens Spätwerk / „Religion of Reason cherei des Schocken Verlags, Bd. 92, Berlin 1939 out of the Sources of Judaism“ ..., hg. von H. Holz- (erschienen noch Ende 1938) hey, G. Motzkin und H. Wiedebach (Hildesheim 11. Walter Kinkel (Hermann Cohen. Eine Einführung in 2000) S. 3-35, bes. 27-31. sein Werk, Stuttgart 1924, S. 88) berichtet, dass 10 6. HCA 17/E. – Von Interesse ist in diesem Zusammen- Martha Cohen bei Proben vor der Aufführung der NACHLASS

16. Im ersten ihrer erhaltenen Nachkriegs- briefe an Paul und Helene Natorp vom 22.1.1919 gibt sie diese neue Adresse an (Ms.: UB Marburg Hs 831:75). 17. Vermutlich im Sanatorium „Schwarz- eck“ in Blankenburg/Thüringen. 18. Brief an Toni Cassirer vom 17.9.1919, a.a.O., S. 290. 19. Martha Cohen an Paul Natorp aus Bad Reichenhall (Ms.: UB Marburg Hs 831:78), wo Rathkes, d.h. Heinrich Bernhard Rathke (1840-1923), ehema- liger Professor für Chemie in Marburg, und seine Frau Frida R. lebten. Cohens hatten, wie offenbar auch Natorps, seit langem regelmäßigen Kontakt mit ih- nen; Martha Cohen setzte ihn auch al- lein fort. 20. Aus einem vermutlich an Walter Kinkel in Gießen gerichteten Brief Paul Na- torps vom 17. Mai 1918 (UB Marburg Hs 803:11), veröffentlicht in H. Holz- hey: Das Hermann-Cohen-Archiv in Zürich, in: Zeitschrift für philoso- phische Forschung 31 (1977) S. 444- 447. 21. Aus einem wiederum vermutlich an Walter Kinkel gerichteten Folgebrief Natorps vom 26. Juni 1918 (a.a.O., S. 447-449). Vgl. auch den Brief Ernst Matthäuspassion, vermutlich 1892, die Soli gesun- Cassirers an Natorp vom 24. Juni 1918, abgedruckt gen habe. in: Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Mar- 12. Joseph Joachim (1831-1907), Violinvirtuose und burger Neukantianismus (Würzburg 1994) S. 507- Komponist, seit 1868 Direktor der Berliner Hoch- 508. schule für Musik. Cohen und Joachim standen in 22. Die Geschichte der Cohen-Bibliothek stellt detail- einem Briefwechsel, der sich vor allem um Konzerte liert und umfassend Hartwig Wiedebach dar: Her- in Marburg drehte (H. Wiedebach: Sammlung Göp- mann Cohen Werke. Supplementa Band 2. Die pingen); vgl. auch H. Holzhey: Cohen und Natorp, Hermann-Cohen-Bibliothek (Hildesheim 2000) II, S. 238, 276, 331. S. 14-35. 13. Hans Guido Freiherr von Bülow (1830-1894), Diri- 23. Ihr Aufenthalt in USA könnte sich bis in den Sommer gent, Pianist und Komponist. Zwei Briefe an Cohen erstreckt haben, denn Jörn Bohr und Klaus Christian aus dem Jahr 1887 abgedruckt in: Hans von Bülow: Köhnke, die Herausgeber von ECN Band 17, ver- Briefe, hg.von Marie von Bülow, Band 7 ( weisen in ihrem Kommentar zu Martha Cohens 1908) S. 105ff. Hinweise auf die Marburger Kon- Brief an Ernst und Toni Cassirer vom 30.4.1924 auf zerte Hans von Bülows bei Toni Cassirer: Mein Le- den Kondolenzbrief zum Tod von Benzion Keller- ben mit Ernst Cassirer (Hamburg 2003) S. 105-106 mann, den sie mit Datum vom 12.7.1923 aus Boston und H. Holzhey: Cohen und Natorp, II, S. 205-208. abschickt (ECN 17, S. 293). 14. Cohens wohnten z.B. während ihrer Berlin-Aufent- 24. Brief an Albert Görland vom 19.11.1923 (HCA): halte bei Marthas Bruder Alfred, Arzt in Berlin, wie „Ich habe drüben Manches erreicht. D. Ethik wird Briefe aus den Jahren 1892, 1894 und 1897 bezeu- übersetzt, Slonimsky wird es sehr gut machen.“ gen (vgl. Helmut Holzhey: Cohen und Natorp, II: 25. Brief an Natorp aus Boston vom 4.1.1923 (UB Mar- Der Marburger Neukantianinismus in Quellen, burg Hs 831:85). Basel 1986, S. 231, 214, 269). 26. Brief an Albert Görland vom 19.11.1923 (HCA). 15. Vgl. ihren Brief an Toni Cassirer vom 17.9.1919 27. Cohens Schriften zur Philosophie und Zeitgeschich- (Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und te erschienen in zwei Bänden erst 1928. Texte [ECN], Band 17, Hamburg 2014, S. 289-291). 28. Görlands Auffassung entnehme ich, da sein vorgän- 11 NACHLASS

giger Brief nicht erhalten ist, seinem Aufsatz „Cohen dienstes D-3548 Arolsen, mit beigefügter Sterbe- als Philosoph und Jude“ (Mitteilungen der Jüdi- urkunde ausgestellt vom Sonderstandesamt Arolsen schen Reformgemeinde zu Berlin vom 1.8.1928). am 19. Oktober 1972. Als „geprüfte Unterlagen“ Der Text gibt auszugsweise den Vortrag wieder, den werden angegeben: „Transportliste der Gestapo Ber- Görland „bei der Sitzung der Akademie für die Wiss- lin; Karteikarte des AJDC Berlin, ausgestellt nach enschaft des Judentums anläßlich des zehnjährigen dem Kriege und Karteikarte des Ghettos Theresien- Gedenktages des Todes Hermann Cohens“ gehalten stadt“. – Der Auszug und die Sterbeurkunde wurden hatte. Zwei Sätze seien daraus zitiert: „Darum kann Herrn Dr. Gerhart M. Riegner, Generalsekretär des also Cohen der große Prophet des modernen Juden- World Jewish Congress, in Genf zugesandt und mir tums sein, weil er vorher und vor allem der Rabbi von ihm übergeben. der unbedingten Gesetzlichkeit war. Weil Cohen 41. Mitteilung von Dr. Georg Weis, Jüdisches Komitee vorher und vor allem der Philosoph der Vernunft für Theresienstadt, c/o Hilfsfonds, an Dr. F. L. Brass- war, war er befähigt und ermächtigt, eine Religion loff, World Jewish Congress, Genf, vom 23. August der Vernunft aus den Quellen des Judentums zu er- 1972. spüren.“ 42. So zeigt der Vorstand der Jüdischen Kultusvereini- 29. Brief an Albert Görland vom 28.7.1924 (HCA). gung zu Berlin e.V. in einem an den Oberfinanzprä- 30. Brief an Albert Görland vom 28.7.1924 (HCA). sidenten Berlin Abt. Vermögensverwertungsstelle 31. Briefliche Mitteilung von Gerhart M. Riegner gerichteten Schreiben vom 27. Oktober 1942 an, (17.8.1972). dass der verstorbene Hermann Cohen „in seinem in 32. Martha Cohen schenkte mit Datum 25. April 1934 den Akten 29 IV.807.18 des Amtsgerichts Schöne- Albrecht Strauß, einem Sohn von Bruno Strauß, eine berg eröffneten Testament“ seine Witwe zur allei- Fotografie ihres Mannes, die im Jahr 1914 während nigen Erbin eingesetzt habe. Diese sei am 1. Septem- dessen Russlandreise aufgenommen worden war ber 1942 „ins Protektorat abgewandert“. Als Nach- (Katalog der Ausstellung zu Hermann Cohen in der lass werden – in weitgehender Übereintimmung mit Universitätsbibliothek Marburg, verfasst von Franz der Vermögenserklärung von Martha Cohen – die Orlik, Marburg 1992, S. 159-160). im Depot der Deutschen Bank befindlichen Wertpa- 33. Brief vom 20. März 1964 aus Shreveport, Louisiana, piere und ein dort bestehendes Bankguthaben be- an mich. nannt. Die Aktenziffer stimmt mit der des Gemein- 34. Hausbesitzer war ein Dr. Jakobs, wie mir der lang- schaftstestaments überein (vgl. U. Sieg, a.a.O., S. jährige Verwalter Max Naumann mitteilte. In der 261 Anm. 40). – Noch am 12. Januar 1945 teilt die Vermögenserklärung vom 23. August 1942 wird als Deutsche Bank (Rechtsabteilung) dem Oberfinanz- Hausverwaltung Hermann Brack & Co. angegeben. präsidenten Berlin mit, dass betr. Prof. Dr. Hermann 35. Bertha Sternson, geb. 1882, lebte im Juni 1939 nicht Cohen ein Nachlasskonto (mit einem Guthaben von mehr an ihrer ursprünglichen Adresse (Seesenerstr. RM 1'448.41) und ein Nachlassdepot bestehen, die 71, Berlin-Wilmersdorf). Ihr Mann, Sidney Sigmund gesperrt gehalten werden, und bittet darum, „bevor Sternson, geb. 1885, war schon 1933 ausgewandert. wir die Nachlasswerte an Sie herausgeben“, „uns Bertha Sternson wurde – wie zuvor Martha Cohen – durch Erbschein oder durch beglaubigte Abschrift am 14.12.1942 nach Theresienstadt deportiert. des Testaments und der Eröffnungsverhandlung 36. Entschädigung für die Überlassung der Bibliothek nachzuweisen, dass Martha Sara Cohen [...] alleinige ihres Mannes. Erbin des Hermann Cohen ist“. (Die vom Amt des 37. Vermögenswert: ca. 8'000 RM, Jahresertrag 1941: Berliner Senators für Finanzen im Oktober 1972 280 RM. erstellten Fotokopien befinden sich im Hermann 38. Schlafzimmer: Kleiderschrank, Bettstelle mit Ma- Cohen-Archiv Zürich.) tratze, Nachttisch, 2 Stühle, Frisiertoilette, Sofa, 43. Schreiben vom 17. Januar 1973 Sessel, Teppich, 2 Lampen; Speisezimmer: Esstisch, 3 Stühle, 3 Sessel, Vitrine, Krone, 2 Bücherregale, Schreibtisch; Verschiedenes: Flügel, Noten und Bü- Helmut Holzhey lehrte Philosophie an der Universi- cher. – Die Möbel und den Flügel Martha Cohens tät Zürich mit Schwerpunkt Neukantianismus. Er verkaufte die Berliner Firma Fritz Hentschel, Berch- begründete den „Schweizer Arbeitskreis für ethische tesgadener Straße 28. Forschung“, die Arbeits- und Forschungsstelle für 39. Zu diesen Transporten und der jeder Menschlichkeit Ethik am Philosophischen Seminar und die spottenden Situation in Theresienstadt vgl. H. G. Adler: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer „Schweizer Gesellschaft zur Erforschung des Zwangsgemeinschaft. Geschichte – Soziologie – Psy- 18. Jahrhunderts“. 2002 begründete Prof. Dr. Holz- chologie (Tübingen 1955) bes. S. 104ff. hey die „Hermann Cohen-Gesellschaft“, die dessen 12 40. „Dokumenten-Auszug“ des Internationalen Such- Werk ediert und pflegt. Raub oder Rettung? Peter Honigmann n den USA gibt es kaum ein jüdisches Archiv, das sollen, so wie ihr vorab veröffentlichter Artikel: Inicht eine beeindruckende „French Collection“ Lisa Moses Leff: Rescue or Theft? Zosa Szajkowski verwahrt. Zu nennen wären in New York YIVO, and the Salvaging of French Jewish History after Leo-Baeck-Institute, Jewish Theological Seminary World War II, Jewish Social Studies, 18, 2, Winter und die Yeshiva University, in Boston die Brandeis 2012, 1-39. Waren es Erwägungen der political University und in Cincinnati das Hebrew Union correctness oder ein verlegerisches Kalkül, jeden- College mit den American Jewish Archives. Auch die falls erscheint das Buch jetzt unter dem Titel „The in befindlichen Central Archives for the Archive Thief“. History of the Jewish People sind zu erwähnten. Wer herrenloses Archivgut oder solches, dessen In Frankreich hingegen gibt es bemerkenswer- Vernichtung bevorsteht oder in die Hände des terweise kaum eine einschlägige Sammlung, die Feindes zu fallen droht, an einen sicheren Ort nicht lückenhaft wäre. Verwiesen sei nur auf die bringt, wo es dann der jüdischen Forschung zur Alliance Israélite Universelle sowie auf das Archiv- Verfügung steht, handelt verdienstvoll. Wer aber Dokumente aus gut verwahrten Archivbeständen Lisa Moses Leff: The Archive Thief. The entfernt, Korrespondenzserien auseinanderreißt, Man Who Salvaged French Jewish History nur um sie mit noch mehr Gewinn an mehrere Ins- in the Wake of the Holocaust. Oxford Uni- titutionen zu verkaufen, handelt bestimmt verwerf- versity Press 2015, 286 pages, 29,95 USD lich. Szajkowski hat beides getan. Als in Europa die ISBN 978-01-9938095-4 Schoah in vollem Gange war, keimte bei den in die USA Entkommenen das Bewusstsein von Verant- wortung für das Erbe der vor ihren Augen unterge- depot in Nebenräumen der Pariser Synagogue de la henden jüdischen Kultur in Europa. Und sie haben Victoire, in denen die Akten sowohl des Consistoire sich nach Kräften bemüht zu retten, was zu retten israélite de Paris als auch des Consistoire central is- war, und jenseits des Atlantik neue Stätten der For- raélite de France aufbewahrt werden. Auch die jü- schung und des Bewahrens geschaffen. Das 1940 dischen Aktenbestände im Elsass sind höchst un- von Wilna nach New York verlegte YIVO (Yidisher vollständig, insbesondere beim Consistoire israélite visnshaftlekher institut) hat dann den von Polen du Bas-Rhin und bei der Société d’histoire des israé- nach Frankreich geflohenen Szajkowski beauftragt lites d’Alsace et de Lorraine, deren Sammlungen in zu sichern, was auch immer er an Quellen zur Ge- den Archives Départementales du Bas-Rhin liegen. schichte der Juden in Frankreich aufspüren konnte. Seit einem halben Jahrhundert war der Zusam- Szajkowski hat die von ihm nach den USA ver- menhang dieser beiden Phänomene ein offenes Ge- schifften Dokumente auch meist gleich in eigenen heimnis. Man musste nur mit Georges Weill, dem Publikationen ausgewertet. Sein Beitrag zur Erfor- Nestor des französisch-jüdischen Archivwesens, schung der französisch-jüdischen Geschichte war sprechen und konnte erfahren, dass die Reichtümer beachtlich. der amerikanischen Archive einigermaßen zu den Da ihm jedoch eine durch Diplome belegte re- Lücken der französischen passen und dass dies vor gelrechte Ausbildung fehlte, blieb ihm eine seinem allem das Werk eines Mannes war, des aus Polen Talent und seinen Leistungen entsprechende akade- stammenden jüdischen Historikers Szajko Frydman mische Laufbahn verschlossen. Vom YIVO nur (1911-1978), der unter dem Pseudonym Zosa Szaj- halbherzig unterstützt, konnte er sich nur mühsam kowski publiziert hat. Ein Archivdieb, doch hinter als unabhängiger Gelehrter behaupten. So begann dem kriminellen Teil der Geschichte verbergen sich er, seine Dienstleistungen als Quellenlieferant in Vorgänge eines transatlantischen Kulturtransfers. Rechnung zu stellen. In den USA war man glücklich Und das ist es, was die zunächst in Texas und inzwi- über den Zuwachs an wertvollem Archivmaterial schen in Washington lehrende Spezialistin für Ge- und hat nicht lange nach Ursprung und Überliefe- schichte der Juden in Frankreich, Lisa Moses Leff, rungswegen gefragt. Szajkowski versank dann im- veranlasst hat, ein ganzes Buch über diesen innerjü- mer tiefer in diesem Geschäft und entfernte noch dischen Archivraub zu schreiben. in den 1960er Jahren Papiere aus französischen Ar- Eigentlich hätte ihre Untersuchung unter die chiven und verkaufte sie an amerikanische Instituti- Überschrift „Rettung oder Raub“ gestellt werden onen. Schließlich trieb ihn die persönliche Not so- 13 weit, französisch-jüdische Dokumente aus einem ragende Forschungsarbeit gelungen, die umso mehr amerikanischen Archiv zu stehlen und sie an ein an- anzuerkennen ist, als sie allen betroffenen Seiten deres amerikanisches Archiv weiterzuverkaufen. nur Unannehmlichkeiten bereitet hat, in Amerika, Das konnte nicht lange gutgehen. 1978, als sich die indem sie auf den Diebstahl hinwies, und in Frank- Fahndungsschlinge immer enger zuzog, nahm er reich, weil sie zugleich von Rettung sprach. Ihr sich das Leben. Buch ist, soweit ich sehe, die erste Studie eines in- Lisa Leff hat dies alles mit viel Detail und viel nerjüdischen Falls von „Raubkunst“. Kontext brilliant beschrieben. Ihr ist eine hervor-

Buchgestöber

Kindertransporte nach Belgien Eingegangene Bücher (Besprechung vorbehalten) Kaum bekanntes Kapitel in der Geschichte der Ret- Kaplan, Yosef: Zwischen „Neuchristen“ und „neuen Ju- tung „unbegleiteter“ jüdischer Kinder und Jugend- den“. Die verschlungenen Wege von Kryptojuden und licher aus NS-Deutschland sind die Kindertrans- westlichen Sefarden in der Frühen Neuzeit. 16. Arye porte nach Belgien. Etwa Tausend Mädchen und Maimon-Vortrag an der Universität Trier. Trier Kliome- dia (Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden: Anne Prior: „Geben Sie diese Kinder Studien und Texte 9) 2014. 132 S. ISBN 978-3-89890- nicht auf!“ Kindertransport nach Bel- 195-6. 27,50 Euro. gien und die Schicksale der Bewohner des Israelitischen Waisenhauses Dins- Fischer, Stefanie: Ökonomisches Vertrauen und antise- laken 1938-1945, Essen: Klartext mitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 2015. ISBN 978-3-8375-1448-3. 1919-1939. Göttingen Wallstein (Hamburger Beiträge 13,95 Euro zur Geschichte der deutschen Juden 42) 2014. 368 S. ISBN 978-3-8353-1239-5, 34,90 Euro. Jungen konnten auf Initiative eines jüdischen Hilfs- Judenverfolgung in München. München Lehrstuhl für komitees nach den Novemberpogromen 1938 Jüdische Geschichte und Kultur (Münchner Beiträge Deutschland verlassen. In Belgien wurden sie in zur jüdischen Geschichte und Kultur; Jg. 8, H. 2) 2014. Familien und Heimen aufgenommen. Nach der 111 S. deutschen Besetzung gerieten sie jedoch erneut in Schubert, Werner: Beiträge zur Geschichte der Juden in tödliche Gefahr. Anne Prior verfolgt vor allem die Weißwasser. Eine bedeutsame Episode zwischen 1881 Spuren derjenigen Kinder, die bis zu ihrer brutalen und 1945. Weißwasser, O.L. Große Kreisstadt Weiß- Vertreibung während des Novemberpogroms im Is- wasser, 2014. 290 S., Abb. ISBN 978-3-9813991-7-2. raelitischen Waisenhaus Dinslaken lebten und zu- Preuß, Monika: „Sie könten klagen, wo sie wollten“. meist im Dezember 1938 mit dem ersten Kinder- Möglichkeiten und Grenzen rabbinischen Richtens in der transport nach Belgien gelangten. Dank der Hilfe frühen Neuzeit. Göttingen Wallstein (Hamburger Bei- engagierter Pädagogen und Pädagoginnen sowie träge zur Geschichte der deutschen Juden 43) 2014. weiterer unterstützender Kräfte gelang es einigen, 152 S. ISBN 978-3-8353-1532-7, 24,90 Euro sich den Deportationen zu entziehen und zu über- leben, oft auf abenteuerliche Weise. Anne Prior hat Ikonisierungsprozesse jüdischer Selbstwahrnehmung. die Biographien der Kinder und ihrer Helfer mit- Heidelberg Univ.-Verl. Winter (Trumah : Zeitschrift der hilfe bislang kaum bekannter Quellenbestände re- Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; 22) 2014. cherchiert – eine eindrucksvolle Lektüre, die hof- 204 S. ISBN 978-3-8253-6361-1, 20,00 Euro fentlich zu weiteren Forschungen Anlass gibt. reu Spiel-Räume: Juden im deutschen Theater. Berlin/New 14 York, de Gruyter (Aschkenas : Zeitschrift für Geschich- ligionsunterricht. Eine qualitative Inhaltsanalyse ausge- te und Kultur der Juden; 24/2) 2014. 213 S. wählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Themenheft: Aventiuren in Aschkenas. Berlin/New Österreich. V&R unipress, 2015. 284 S. ISBN 978-3- York, de Gruyter (Aschkenas : Zeitschrift für Geschich- 8471-0421-6, 44,99 Euro te und Kultur der Juden; 25/1) 2015. 213 S. Wiehn, Erhard Roy: Nirgends gern gesehen. Jüdische Hollender, Martin: Der Berliner Germanist und Thea- Schicksale im 20. Jahrhundert. Gespräche mit Überle- terwissenschaftler Max Herrmann (1865 - 1942). Leben benden in Konstanz und der Schweiz sowie Gertrud und Werk. Berlin Staatsbibliothek zu Berlin – Preu- Rothschilds Bericht über die Deportation. Konstanz Impressum Hartung-Gorre, 2015. 438 S. ISBN 978-3-86628-543- ßischer Kulturbesitz (Beiträge aus der Staatsbibliothek Herausgeber zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 42) 2013. 380 S., 9, 29,80 Euro Salomon Ludwig Steinheim-Institut Abb. ISBN 978-3-88053-184-0, 24,00 Euro Wiehn, Erhard Roy: Von Rom nach Jerusalem. Mein für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Herbst, Detlev; Schaller, Berndt: Spuren jüdischer Ge- Weg zum Judentum. Konstanz Hartung-Gorre, 2015. Rabbinerhaus Essen schichte zwischen Solling und Weser. Die Synagogenge- 134 S. ISBN 978-3-86628-519-4, 14,80 Euro ISSN 1436–1213 meinden Bodenfelde-Uslar-Lippoldsberg und Lauen- Wiehn, Erhard Roy: Jüdisches Leben und Leiden in Redaktion förde. Spurensuche vor Ort, in Archiven und auf Fried- Konstanz. 50 Jahre Israelitische Kultusgemeinde. 1964- Prof. Dr. Michael Brocke höfen. (Beiträge zur Geschichte des Sollings und des We- 2014. Konstanz Hartung-Gorre, 2014. 120 S. ISBN Dipl.-Soz.-Wiss. Harald Lordick sertals 3) 2014. 407 S., Abb. ISBN 978-3-940751-92-8, 978-3-86628-516-3, 14,80 Euro Dr. Beata Mache Annette Sommer 24,00 Euro Nick, Dagmar: Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Fischer, Rolf: Verfolgung und Vernichtung. Die Dort- Familienbuch. München C. H. Beck, 2015. 268 S. ISBN Layout munder Opfer der Shoah. Gedenkbuch. Essen Klartext 978-3-406-68148-6, 24,95 Euro Harald Lordick (Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Steinwa- Postanschrift der Redaktion Vogel, Ilse: Des Höchsten Liebling, mein Freund. More- Edmund-Körner-Platz 2 che Dortmund 2) 2015. 399 S., Abb. ISBN 978-3-8375- nu haRav R David Diespeck (1715-1793). Eine Biogra- 45127 Essen 1228-1, 39,90 Euro phie und Familiengeschichte. Würzburg Ergon (Franco- Telefon Ferera, Lisette; Tollmien, Cordula: Das Vermächtnis des nia Judaica 9) 2015. 197 S., Abb. ISBN 978-3-95650- +49(0)201-82162900 Max Raphael Hahn - Göttinger Bürger und Sammler. 119-7. 18,00 Euro Fax +49(0)201-82162916 Eine Geschichte über Leben und Tod, mutige Beharrlich- Buckard, Christian: Moshe Feldenkrais. Der Mensch E-Mail keit und die fortwirkende Kraft der Familientradition. hinter der Methode. München/Berlin Berlin Verlag, [email protected] Göttingen Hogrefe Verl. 2014. 176 S., Abb. ISBN 978- 2015. 368 S. ISBN 978-3-8270-1238-8. 24,00 Euro Internet 3-8017-2679-9, 19,95 Euro www.steinheim-institut.de Alt-neue Schriften. Typographische und buchgestalte- Druck Heimann-Jelinek, Felicitas; Kugelmann, Cilly: Haut ab! rische Arbeiten von Moshe Spitzer, Franzisca Baruch und Haltungen zur rituellen Beschneidung. Göttingen Wall- Brendow Printmedien Henri Friedlaender. Ausstellung im Israel Museum in 47443 Moers stein, 2014. 176 S., Abb. ISBN 978-3-8353-1576-1, Jerusalem, 20. Oktober 2015 bis 19. März 2016. Versand 24,90 Euro Deutsches Literaturarchiv Marbach, 2015. 37 S., Abb. Vierteljährlich im Postzeitungsdienst kostenlos für unsere Leser Bertram, Matthias: … in einem anderen Lande. Ge- ISBN 978-3-00-050011-4 Spendenkonto schichte, Leben und Lebenswege von Juden im Rhein- Rosenfeld, Alvin H.: Das Ende des Holocaust. Göt- IBAN DE42 3505 0000 0238 000343 land. Aachen Shaker Media, 2015. 410 S. ISBN 978-3- tingen Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 273 S. ISBN BIC DUISDE33XXX Stadtsparkasse Duisburg 95631-333-2, 23,90 Euro 978-3-525-54042-8. 39,99 Euro Althoff, Gertrud: Geschichte und Leben der jüdischen Miskotte, Kornelis H.; Braunschweiger, Heinrich: Edda Neuenkirchener. Mit Beiträgen zur Sozial- und Wirt- und Thora. Ein Vergleich germanischer und israelitischer schaftsgeschichte von Sebastian Kreyenschulte. Mün- Religion. Übersetzt aus dem Niederländischen und mit ster book on demand, 2015. 259 S., Abb. ISBN 978-3- einer Einführung versehen. Münster LIT, 2015. 310 S. 00-048499-5 ISBN 978-3-643-12993-2. 39,90 Euro Schneider, Hans Dieter: Geschichte und Geschichten um den Alten Jüdischen Friedhof in Rödelheim. (Beiträ- ge zur Rödelheimer Geschichte 4) 2015. 152 S., Abb., zu beziehen: [email protected]

Spichal, Julia: Vorurteile gegen Juden im christlichen Re- 15 ERMANN COHENS hauptsächliche Äußerun- Rudolf Kittel und Franz Delitzsch leiteten von hier Hgen über die »Nächstenliebe« im Judentum ... die sittliche Überlegenheit des Christentums, Anti- in einem Bändchen dieser Bücherei zu vereinigen, semiten die Minderwertigkeit des Judentums ab, habe ich angeregt, weil es mir wichtig erscheint, die- und vom Vulgärantisemitismus wurde, wie auch sen Mann für diesen Gegenstand in dieser Stunde heute noch, das Judentum gar beschuldigt, daß zeugen zu lassen, so weithin als wir vermögen. seine sittlich-menschlichen Grundsätze nur auf Ju- Zum Sinn der im Mittelpunkt von Cohens Betrach- den Anwendung fänden und daß es Nichtjuden ge- tung stehenden Bibelstellen scheint mir eine Vorbe- genüber ein unsittliches Verhalten empfehle. merkung erwünscht. »Sei liebend zu deinem Genos- Solche Anschuldigungen riefen Cohen, dessen Lev 19,18 sen als zu einem der wie du ist«, heißt es in der Name als der eines führenden Philosophen der Schrift, und kurz danach, wie um durch die beson- Zeit bereits Klang hatte, auf den Plan. Er hatte dere Hervorhebung in alle Zeit jeden etwa mög- sich vom Judentum bewußt entfernt, seit er das lichen Mißverstand auszuschalten: »Sei liebend zum Studium der Theologie mit dem der Philosophie Lev 19,33.34 Gastsassen als zu einem der wie du ist«. Rea, Ge- vertauscht hatte. Nun trieb ihn beleidigte Wahr- nosse, ist der Mensch, mit dem ich gerade zu tun ha- heitsliebe, das Seine zu sagen. Er tat es zuerst wi- be, der mir eben jetzt begegnende Mensch, der derwillig. Zu Anfang seines Gerichtsgutachtens Mensch also, der mich in diesem Augenblick »an- über die Nächstenliebe im Talmud von 1888 setzt geht«, gleichviel ob er mir volkeigen oder volks- er umständlich auseinander, wie er, der deutsche fremd ist. Ich soll, buchstäblich übersetzt, »ihm lie- Philosoph, dazu komme, über talmudische Fragen ben«: mich ihm liebend zuwenden, ihm Liebe erzei- auszusagen; und seine Enttäuschung über die ihm gen, Liebe antun; und zwar als einem, der »wie ich« zugefallene Verteidigungspflicht bricht in einem ist: liebesbedürftig wie ich, der Liebestat eines Rea Satze durch wie diesem: »... so wird es wohl nicht bedürftig wie ich, – wie ich es eben von meiner eige- helfen, darauf mit jüdischer Gelehrsamkeit zu nen Seele her weiß. Daß es so zu verstehen ist, ergibt antworten. Gegen die Pfefferkorne kann nur ein sich aus den auf den zweiten Satz folgenden Wor- Reuchlin helfen ...« ten: »Denn Gastsassen seid ihr im Land Ägypten ge- M[oritz] S[pitzer], „Nachwort“ wesen« – oder, wie es anderswo noch deutlicher heißt: »Ihr kennt ja die Seele des Gastsassen, denn Martin Bubers „Vorbemerkung“ kann sich 1935 nur- Gastsassen seid ihr im Land Ägypten gewesen«. Ihr mehr an die Bedrängten und Entrechteten richten. kennt diese Seele und ihre Not, ihr wißt, wessen sie Hermann Cohen solle jetzt zeugen, sagt Buber, „so bedarf, und darum, ihr, denen es einst verweigert weithin als wir vermögen“. Auch in der so anderen worden ist, verweigert es nun nicht! heutigen Situation gilt jenes Gebot des „alten Testa- Wagen wir es, von da aus die Begründung des ersten ments“ und seine Begründung. Sie gelten auch für Satzes in Worte zu fassen. Sei liebend zu deinem uns, die, wenn nicht aus der „Knechtschaft in Ägyp- Mitmenschen als zu einem der wie du ist — ihr ten“, so doch aus der „Knechtschaft der Unmündig- kennt ja die Seele des Menschen, dem es nottut, daß keit“ Befreiten, die nicht Entrechteten, nicht Be- man liebend zu ihm sei, denn Menschen seid ihr und drängten. Das Gebot der Schrift zu erfüllen war nie leidet selber die Menschennot. So ist eine Botschaft leicht, und ihm zu folgen fällt hier und heute allen des »alten Testaments« zu lesen. schwerer. Wir werden dem uralten, allzeit gültigen MARTIN BUBER, „Vorbemerkung“ Aufruf zur „Nächstenliebe“ nur dann entsprechen, wenn wir nicht in Ängste und Aggressivität zurück- Bei der Lektüre der Cohenschen Abhandlungen fallen, wenn wir dem fatalen Kulturpessimismus zu- muß man sich die Zeit ihrer Abfassung verge- wider denken und entschieden zuwider handeln. Alle genwärtigen. Ihre Ideologie war die christlich- Kräfte sind zu sammeln und aufzubieten, mit Zuver- menschheitliche, und der gegen das Judentum in sicht und Elan. So, wenn die Menschen dieses der Hauptsache erhobene Vorwurf war der, daß es Landes Bildung und Erziehung von Kindergarten in der Menschlichkeit, der unbedingten Liebe zum und Grundschule an ernst nähmen, ernster nehmen, Nächsten vom Christentum geistig und praktisch einander fördern, der zu fördernden Werte bewusst, überwunden sei. In diesem Punkt stimmten Theo- für den Mitmenschen von Hier und von Dort zu- 16 logen und Antisemiten überein. Theologen wie gleich, dann, und nur dann „schaffen wir es“. red