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verschiedenen Teilen gibt. Sie machen auch kri- BUCHBESPRECHUNGEN tische Anmerkungen und sind bemüht, die speziellen Eigenarten und Aufgaben der von DEUTSCHE PRESSE SEIT 1945 ihnen jeweils behandelten Gattung herauszu- stellen. Herausgegeben von Harry Pross. Mit Beiträgen von Harold Hurwitz schildert in kritischer Weise Helmut Cron, Walter Fabian, Günther Gillessen, Harold Hurwitz, Cordes Koch-Mehrin, Manfred Kötterheinridi, die unterschiedliche Pressepolitik der Alliier- Helmut Lindemann, Karl Pawek, Fritz Sänger, Richard ten der Westzonen in den ersten Nachkriegs- Schmid, V. O. Stomps. Scherz Verlag, Bonn und Mün- jahren, Koch-Mehrin die Presse der sowjeti- chen 1965. 256 S., Ln. 17,80 DM. schen Besatzungszone. Kötterheinrich behan- delt die Gefahren einer zu weitgehenden Kon- Die Presse in ihrer vielfältigen Gestalt hat zentration der Presse. Fritz Sänger referiert vermöge ihrer Einwirkungsmöglichkeit im gu- über die Nachkriegsagenturen, wobei ihm seine ten wie im schlechten eine gewaltige Bedeu- langjährige Erfahrung als Leiter von dpa zu- tung. Deshalb ist dem Herausgeber Harry gute kommt; er legt großes Gewicht auf die Pross zu danken, daß er im yorliegenden Buch Frage der Nachrichtenauswahl und die Not- namhafte Mitgestalter dieses Einwirkungsmit- wendigkeit des eigenen gründlichen Wissens tels zu einer umfassenden Darstellung der der verantwortlichen Redakteure. Materie vereinigt hat. Die Persönlichkeiten, Günther Gillessen schreibt über die Tages- die hier zu Wort kommen, haben nicht alle die zeitungen und setzt sich dabei u. a. mit den gleiche Meinung in allen Fragen, aber im Kern Gefahren des Werbefernsehens für diese Zei- stimmen sie überein: Die Presse hat die Auf- tungen auseinander, zeigt aber auch Vorteile gabe, ihre Leser sachlich zu informieren und auf, die die Zeitungslektüre gegenüber dem sie zum eigenen Nachdenken, zur eigenen Ur- Fernsehen bietet. Er meint, schlechte Zeitungen teilsfähigkeit anzuregen. Und: die Presse- und müßten um der Meinungsfreiheit willen in Meinungsfreiheit muß unangetastet bleiben! Kauf genommen werden. Der Leser habe durch Unter diesem Aspekt legen die Autoren nicht Kaufen oder Nichtkaufen die Entscheidung nur dar, welche bedeutenderen Presseerzeug- über die Existenz der Presse in der Hand. nisse es in der Bundesrepublik bzw. in ihren Hierbei allerdings unterbewertet er wohl die

441 finanzielle Bedeutung der mehr oder weniger „Wie frei sind Meinung und Meldung heute?" glückenden Inseratenwerbung und unterläßt Dieser Beitrag ist sehr kritisch, weil Demokra- den Hinweis darauf, daß auf dem Gebiet der tie und verantwortungsvolle Freiheit bei uns sonstigen Erziehung der Menschen noch viel noch immer ein sehr junges Pflänzchen sind. nachzuholen ist. Schmid wendet sich gegen die Untugend, in Walter Fabian weist in seinem Beitrag über bezug auf Meinungs- und Pressefreiheit nur die Wochenzeitungen darauf hin, daß diese, mit Begriffen zu jonglieren. Die Zuständigkeit die zusammen mehrere Millionen Leser erfas- der Grundrechte gelte für jeden, auch für den sen, dank auch einer ruhigeren Vorbereitungs- Journalisten. Lediglich Verleumdungen und zeit, als sie den Tageszeitungen zugemessen ist, ehrenrührige Behauptungen dürften unter ein ganz besonders wichtiger Faktor der rich- Strafe stehen. Breite öffentliche Diskussionen tigen Orientierung und Meinungsbildung sind. seien Pflicht, weil die größte Gefahr für die Er beschäftigt sich ausführlicher mit dem Kul- Freiheit ein träges Volk sei. Toleranz gegen- turteil dieser Zeitungen („Die Zeit" u. a.) und über Andersdenkenden, „demokratische Kul- mit der Bedeutung einer ausführlicheren Be- tur" sei die Grundlage, damit freie Meinungs- sprechung von politischen Büchern. Er regt an, äußerung wirksam werde. Schmid bringt Bei- in stärkerem Maße als bisher auch Diskussio- spiele einer schlechten Rechtsprechung in dieser nen der Wochenzeitungen untereinander zu Beziehung und sieht schon in der Formulierung pflegen. „öffentliche Aufgabe der Presse" die Gefahr möglicher . Damit werde das Pawek schreibt über die Boulevardpresse Grundrecht der freien Meinungsäußerung zu und die weitverbreiteten illustrierten Zeit- leicht abhängig gemacht von der Erfüllung schriften, V. O. Stomps über literarische und einer Aufgabe oder einer Organfunktion. Kunstzeitschriften. Schmid erwähnt auch das Problem des juristi- Einen anderen Charakter haben die Beiträge schen und materiellen Verhältnisses des Jour- von Helmut Cron „Der Journalist und seine nalisten zu seinem Verleger. Irmgard Enderle Verbände" und von Helmut Lindemann „Die Rolle der freien Publizisten". Hier wird von den Personen gesprochen, die die Presseerzeug- nisse herstellen. Beide Autoren ziehen auch Vergleiche mit der Zeit vor 1933. Cron hebt GERHARD MÖBUS u. a. hervor, daß es auch heute nicht auf den Hochschulabschluß ankomme, sondern vor al- DIE POLITISCHEN THEORIEN lem auf die Berufsbegabung. Er würdigt die VON DER ANTIKE Rolle des Presserates, der gegen gewisse Ten- BIS ZUR RENAISSANCE denzen zur staatlichen Reglementierung ent- Politische Theorien Teil I — Die Wissenschaft von standen ist und sich allgemein, auch bei den der Politik, Bd. 7, Hersg. von den Professoren Dr. O. in Frage kommenden Behörden, Achtung er- K. Flechtheim und Dr. O. H. von der Gablentz in worben hat. Leider konnte Cron sich einen Verbindung mit Prof. Dr. Hans Reif im Auftrage des Otto- Suhr-Instituts an der Freien Universität (vormals Seitenhieb auf die Deutsche Journalisten-Union Deutsche Hochschule für Politik). Westdeutscher in der IG Druck und Papier nicht verkneifen. Verlag, Köln und Opladen 1964. 303 Seiten, kart. Lindemann unterscheidet die freien Publi- 19,80 DM. zisten von den Journalisten-Redakteuren, die zum Teil nur redigieren, was andere geschrie- ALFRED SCHAEFER ben haben. Der Publizist wolle durch eigene Arbeiten in besonderem Maße in die Öffent- DAVID HUME — PHILOSOPHIE lichkeit hineinwirken. Lindemann weist auf die UND POLITIK Schwierigkeit hin, heute keinen solchen zentra- len Ausgangspunkt zu haben, wie es früher Monographien zur philosophischen Forschung begründet einmal Berlin war. Er meint, der freie Publi- von Georgi Schischkoff, Bd. 34. Verlag Anton Hain, zist müsse unabhängig von jeder Partei blei- Meisenheim am Glan, 1963. 186 S., kart. 17,30 DM. ben, weil er kompromißlos auszusprechen habe, was er sich selbst als eigene Meinung erarbei- Die zweite, erweiterte Auflage des zuerst tete. Lindemann bedauert, daß es in der Bun- 1958 unter dem Titel „Die politischen Theo- desrepublik kaum solche Kolumnisten gebe, rien von den Anfängen bis zu Machiavelli" wie beispielsweise Walter Lippmann und an- erschienenen, primär als Hilfe für Unterricht dere in den USA. Ein besonderes Lob erfährt und Studium gedachten Bandes von Möbus der Herausgeber der „Nürnberger Nachrich- enthält jetzt außer Texten von Piaton, Ari- ten", Joseph E. Drexel, der als Ausnahme stoteles, Polybios, Cicero, Augustinus, Tho- unter den Verlegern selbst ein echter Publizist mas von Aquin, Thomas Morus und Machia- sei. velli auch Auszüge aus den Schriften von Herodot, Thukydides, des zu den Sophisten Den Abschluß des informationsreichen, an- gerechneten Anonymus Iamblichi, von Tertul- regenden Buches bildet ein Aufsatz von Über- lian, Johannes von Salisbury, Dante, Marsi- landesgerichtspräsident a. D. Richard Schmid lius von Padua, Wilhelm von Ockham, Niko-

442 BUCHBESPRECHUNGEN

laus von Kues und Erasmus von Rotterdam. eine fatale Konsequenz des Humeschen Posi- Damit tritt jene faszinierende Epoche des spä- tivismus aufmerksam. Indem er wie Machia- ten Mittelalters stärker hervor, in der eine velli vor ihm die politische Theorie auf den neue Skepsis gegen die etablierten Autoritä- Boden der Empirie zurückholte, lieferte er zu- ten den Grund aufwühlte, aus dem dann die gleich die Waffen, die Jahrzehnte 'später da- Renaissance erwuchs. Liegt es an der Zielset- zu dienten, die Angriffe von Paine, Godwin, zung des Bandes, der eher Wissen vermitteln Spence u. a. auf Staat und Eigentum in will als daß er zum Mitdenken anregte, oder Schach zu halten. Deutlicher läßt sich die liegt es an dem Ansatz von Möbus, der aus- „Dialektik der Aufklärung" kaum machen, drücklich die Geschichte der Wissenschaft von als es hier am Beispiel Humes geschieht. Aus- der Politik nicht erst mit Machiavelli anhe- gerechnet die Befreiung des Menschen von der ben läßt, daß trotzdem so wenig von dem Metaphysik etabliert das Arsenal, ihn mani- Dynamit spürbar wird, der das geistige Le- pulierbar zu machen. ben des späten Mittelalters erschütterte? Ob- Hermann Meier-Cronemeyer wohl der Verfasser betont, daß der „geisti- gen Einordnung des Politischen eine Lehre vom Menschen vorausgeht, sei es als philosophische oder als theologische Anthropologie" (S. 15), läßt seine Einführung nicht im geringsten er- DIE RUSSISCHE INTELLIGENTSIA kennen, wie beispielsweise die erkenntniskri- tische Position des Nominalisten Wilhelm von Herausgegeben von Richard Pipes. W. Kohlhammer Ockham, der nur den Individuen, nicht aber Verlag, Stuttgart 1962. 230 S., 9,80 DM. umfassenden Begriffen Realität zugesteht, sei- ner politischen Stellungnahme für die Tren- Beschaffenheit und Aussichten der russi- nung von Kirche und Staat korreliert. Daß schen „Intelligentsia" sind Untersuchungs- damit eine Loslösung der Politik aus einem gegenstand einer 1960 in den USA erschiene- umfassenden System der Ethik vorbereitet nen Aufsatzsammlung, die nun dankenswer- wird, geht in der Darstellung von Möbus terweise auch in deutscher Übersetzung zu- ebenso verloren wie die Ungeheuerlichkeit der gänglich ist. Dimension dieser Trennung, an deren Ende die Die Verfasser der einzelnen Beiträge be- Lehre von der Politik als eine Lehre von der haupten nicht, wie Pipes für sie im Vorwort Manipulation der Gesellschaft ersteht. Poli- bekennt, das ihnen gestellte Problem erschöpft tische Philosophie und Wissenschaft von der oder auch nur umrissen zu haben. Doch ge- Politik gleichzusetzen erweist sich als wenig lang es ihnen durchaus, dem Leser wichtige fruchtbar. Informationen über die Rolle der Intelligent- sia im vorrevolutionären und in Sowjet-Ruß- Was eine Zusammenschau von Philosophie land zu geben. und Politik zu leisten vermag, zeigt Schaefers Schrift über David Hume. Sie versucht die in Hierbei standen die Autoren vor der den diversen Werken des auch politisch enga- Schwierigkeit, daß eine präzise und allgemein- gierten Philosophen dargelegten Gedanken gültige Antwort auf die Frage „Was ist ,die nicht so sehr in ein System zu bringen als russische Intelligentsia' oder überhaupt ein vielmehr deren des öfteren unexakte Termi- .Intellektueller' oder ein .Intelligenzler'?" nologie verständlich zu machen. Hume spezi- nicht gegeben werden kann, zumal westlichen fizierte den Nominalismus Ockhams dahinge- Forschern der direkte Zugang zu der heuti- hend, daß umgreifende Allgemeinheiten, wie gen russischen Intelligentsia verwehrt ist. soziale Klassen und Institutionen zwar nicht Wie bei solchen Sammelbänden nicht anders als Ein-Drücke greifbarer Tatsachen bestehen, zu erwarten, ist der Wert dieser Aufsätze sie als Vorstellungen und Denkgewohnheiten unterschiedlich. Martin Malta gibt einen knap- jedoch durchaus Wirklichkeit gewinnen. Wie pen und doch inhaltsreichen Überblick über die modern Hume noch heute ist, ruft Schaefers vorrevolutionäre Intelligentsia. Leonhard Darstellung fast Seite für Seite ins Gedächt- Schapiro und Boris Elkin untersuchen das Ver- nis. Der Schotte enthüllte, wie Ideologen dar- hältnis dieser Gruppe zur bürgerlichen Ord- in geübt sind, „die allgemeine Aufmerksam- nung. Schapiro hält die „kommunistische Auto- keit auf die metaphysischen Prinzipien zu kratie" für das Resultat einer Entwicklung, die konzentrieren, die für Voraussetzungen ihrer das Stadium des bürgerlichen Kapitalismus politischen Meinungen ausgegeben werden" übersprang. Seiner Ansicht nach lehnte die (S. 144). Seine Skepsis richtete er schließlich radikale Intelligentsia Recht und Ordnung ab, nicht nur gegen das Naturrecht, sondern ge- war ihre Haltung weniger von Vernunft als gen die politische Philosophie überhaupt, an von moralischer Entrüstung bestimmt. Ande- deren Stelle er eine praktische Politik rer Auffassung ist jedoch Elkin: Die Mehr- (science of politics) setzte, die so weit ging heit der Intelligenz wünschte wirklich nur die zu raten, eine an und für sich wahre Idee Herrschaft des Rechtes. Eine Verständigung zur Vermeidung von Unruhen nicht populär mit der Monarchie sei nicht möglich gewesen, werden zu lassen. Damit macht Schaefer auf denn: „Für einen Kompromiß sind zwei Par-

443 teien nötig, und Nikolaus II. war niemals be- langsam auch innerhalb der Partei die Er- reit, einen Kompromiß mit den Gegnern der kenntnis Bahn bricht, daß wissenschaftliche Autokratie zu schließen". Die unterschiedliche Kontroversen nicht mit ideologischen Mitteln, Betrachtungsweise Schapiros und Elkins zeigt und viel weniger durch Parteibeschlüsse zu sich auch in der Beurteilung des gemäßigten lösen sind". bürgerlichen Politikers Tschitscherins. Schapiro Im letzten Aufsatz untersucht Benjamin nennt ihn einen „hervorragenden liberalen Ju- Schwartz schließlich die Intelligentsia im kom- risten und Philosophen", Elkin einen „alten munistischen China. Er bringt interessante Ver- Starrkopf". Abgesehen von dem erfreulich un- gleiche zwischen westeuropäischen Intellektuel- akademischen Stil hat den Rezensenten auch len und der sowjetischen Intelligentsia, um so inhaltlich der Beitrag Elkins mehr beeindruckt eine Ausgangsbasis für eine Gegenüberstellung als der Schapiros. der sowjetischen und der chinesischen Intel- Richard Pipes, Leopold Labedz, David ligentsia zu gewinnen. Burg, Leopold Haimson, Max Hayward, Da- Insgesamt darf man dieses Buch wohl als vid Joravsky und Gustav Wettet befassen sich einen gelungenen Versuch ansehen, über die mit der sowjetischen Intelligentsia. Stellt Pipes soziale Funktion und die historische Mission der ihre Geschichte dar, so untersucht Labedz ihre Intellektuellen in der Sowjetunion zu orien- Struktur an Hand sowjetischer Quellen. Auf tieren. Dr. Wilfried Gottschalch dem Hintergrund persönlicher Erlebnisse er- zählt David Burg vom Verhalten sowjetischer Universitätsstudenten gegenüber politischer Probleme. Burg fällt der Zwiespalt zwischen der täglichen Arbeit und der Ideologie vieler RÉMY CHAUVIN TIERE Komsomolzen auf. Er behauptet: „Eine solche Situation mag unglaubhaft erscheinen und sie UNTER TIEREN wäre in der Tat dort undenkbar, wo die Frei- heit der Meinung und der Diskussion existiert". Staat und Gesellschaft im Tierreich. Scherz Verlag, Bern - Wieso? Burg lebt doch schon mehrere Jahre München - Wien 1964. 292 S., Ln. 19,80 DM. in Westeuropa. Sollte er wirklich nicht bei seinen westeuropäischen Altersgenossen eine Der Entomologe Rémy Chauvin, Direktor ähnliche Diskrepanz zwischen Ideologie und der französischen Forschungsanstalt für Bie- Wirklichkeit beobachtet haben? Das würde nenkunde, unternimmt es, seine Leser über die gegen seine Beobachtungsgabe sprechen. Was Zivilisation der staatenbildenden Insekten zu sollen wir aber dann von seinem Erfahrungs- unterrichten und die Unterschiede in ihrem bericht über die sowjetischen Studenten hal- und dem menschlichen Verhalten herauszuar- ten? beiten. Es ist „zweifellos gerechtfertigt", so Heimson und Hayward schreiben über die schreibt er, „in bezug auf die Insekten von „Bewältigung" der stalinistischen Vergangen- einer Zivilisation zu sprechen, wenn man dar- heit, wie sie im Generationenkonftikt und in unter die Entwicklung hochkomplizierter so- den Werken sowjetischer Schriftsteller Aus- zialer Mechanismen, die gemeinsame Bewälti- druck findet. gung von Aufgaben, die methodische Auf- zucht des Nachwuchses durch die Gemeinschaft Aufschlußreich sind Joravskys und Wetters und die Aufteilung der Arbeit auf bestimmte Beiträge über das Verhältnis von Naturwis- Untergruppen versteht. Allerdings bedient sich senschaften und offizieller Ideologie in der der Mensch, um zu den gleichen Ergebnissen Sowjetunion. Joravsky spricht von einer zy- und noch weit darüber hinaus zu gelangen, klischen Wechselwirkung zwischen Naturwis- ganz anderer Methoden. Dieser Unterschied senschaften und sowjetischem Marxismus, der- in den Methoden ist übrigens das interessan- gestalt, daß Zeiten der Zusammenarbeit mit teste Thema der insektensoziologischen For- solchen der Konflikte abwechseln.. Als Philo- schung. Im Insektenstaat geht das Einzeltier sophie der Naturwissenschaften hätte der so- ganz und gar in der Gemeinschaft auf, wäh- wjetische Marxismus früher die Funktion rend sich bei den menschlichen Gemeinschaften eines unfertigen Glaubens streitbarer Ideo- eine Absorption des einzelnen nur andeu- logen und einer Geißel für verdächtige Wis- tungsweise findet." senschaftler gehabt. Es ist gut, daß Joravsky hier vom „sowjetischen Marxismus" spricht, Er fragt, warum die Insekten, die 80 vH denn Marx selbst hatte durchaus nicht die aller Tierarten stellen, die zu den ältesten Le- Absicht, eine Philosophie der Naturwissen- bewesen der Erde gehören (die Termiten ent- schaften zu entwickeln. Diesen Versuch unter- wickelten sich vor 200 Millionen Jahren, den nahmen vor Lenin lediglich Engels und homo sapiens gibt es erst seit 150 000), warum Kautsky. Wetter glaubt aus der Tatsache, daß sie es nicht waren, die zu Herren der Erde die Partei den Streit zwischen den Mitschu-rin- wurden, sondern der Mensch? „Manchmal Anhängern und ihren Gegnern bisher nicht glaubt man, daß den Insekten nur noch ein liquidierte, schließen zu dürfen, „daß sich kleiner Schritt fehlte." Der Beantwortung die- ser Frage gilt über die Hälfte des Buches, in

444 BUCHBESPRECHUNGEN dem der Autor die Insektenstaaten der Bienen, lings- und Emigrantennot, über Verfolgung Wespen, Ameisen und Termiten beschreibt und und Unterdrückung und Opferung des Men- die Probleme darstellt, die sich aus der Un- schen). möglichkeit dieser Lebewesen, als Einzelwesen Viel Bitterkeit, viele Anklagen und nur zu existieren, ergeben. selten Trost findet der Leser in diesem Buch. Chauvin macht uns nicht nur mit seinen Ist das die Schuld des Dichters? Nein, er spie- eigenen Forschungen bekannt. Er kennt Me- gelt in seinem Werk eine Welt, die noch thodik und Materie seiner Disziplin so genau, schlimmer, noch gefährdeter ist, als es im Wort, daß er mühelos die Forschungsergebnisse einer im Gleichnis ausgedrückt werden kann. „Wenn Reihe von Entomologen darlegt, so die des euch mein Angesicht mißfällt, gedenkt, ich litt Nobelpreisträgers Karl v. Frisch, „des größten in arger Welt", sagt Luitpold in einem der Biologen seit Pasteur", der für seine Arbeiten Gedichte. auf dem Gebiet der Bienenforschung den No- In der Einleitung von Ernst Mayer steht belpreis erhielt. der treffende Satz: „Josef Luitpold war und Aber er will noch mehr, nämlich die „völlig ist die Armut kein ,großer Glanz von Innen' außerhalb unserer Menschenwelt liegenden (Rilke), sondern ein lebenslanger Anlaß, sie Tiergemeinschaften, die Insektenstaaten, mit uneingeschränkt als jenes Übel zu bekämpfen, den lediglich ,paramenschlichen' (jedoch kei- das den Menschen der angeborenen Würde neswegs ,antimenschlichen') Gemeinschaften der beraubt." Mit dem Wort des Dichters kämpft Vögel und Primaten" vergleichen. Der Teil Josef Luitpold an gegen Armut und Unrecht, des Buches, der sich mit ihnen, den Vögeln und gegen Gewalt und gegen Unwissenheit und Primaten, beschäftigt, verrät jedoch, daß Chau- Unterwürfigkeit der Menschen. Und wiederum vin Entomologe ist; „irgendwie enttäuschen überzeugt Luitpold durch Sprachkraft und mich die Wirbeltiere; sind sie doch im Ver- Formsicherheit. Der Rahmen einer knappen gleich mit den Insekten in meinen Augen zu Rezension erlaubt leider nicht, Beispiele dafür einfach, in ihren Lebensgemeinschaften zu pri- anzuführen. Walter Köpping mitiv' ", sagt er selbst. Trotzdem ist auch die- ser Teil des Buches insofern anregend, als er bisher nur in der Fachwissenschaft bekannte Forschungsergebnisse beschreibt. Es ist kein ausschließlich wissenschaftliches WALTER B AUER Buch, aber das will es auch nicht sein. Chauvin DER WEG ZÄHLT, informiert in flüssigem Erzählstil über die Ar- NICHT DIE HERBERGE beitsweise der Verhaltensforscher, so daß der interessierte Laie einen Einblick gewinnen kann. Prosa und Verse 1928—1964. Ernst Tessloff Verlag, Die Übersetzung von Alfred P. Zeller hat Hamburg 1964. 480 S., Paperback 14,50 DM. dem Text seine Lesbarkeit und Allgemein- verständlichkeit erhalten Als 25jähriger Leuna-Arbeiter erregte Walter Bauer Aufsehen mit seinen ersten Ge- Annemarie Zimmermann dichten („Kameraden, zu euch spreche ich"). Unverfälscht und packend hatte er Arbeits- erlebnis, Gefahren, Unfälle und auch das Auf- begehren der Arbeiter literarisch fixiert. An- J O S E F LUITPOLD dere Gedichte zeugten für die brüderliche Liebe der Arbeiter, für ihre Hoffnungen und DIE GROSSE WARNUNG Sehnsüchte. — Bis 1933 legte Bauer vier Bü- cher vor, die die deutsche Arbeiterdichtung Band II des Gesamtwerks „Das Sternbild". Europa-Verlag, bereicherten und die für die Zukunft viel ver- Wien, 464 S., Ln. 24,50 DM. sprachen. Brutal zerstörten die braunen Macht- haber diese künstlerische Hoffnung. Bauers Der 80. Geburtstag dieses österreichischen Bücher wurden verboten. Arbeiterdichters rückt näher. Im Frühjahr Nach 1945 veröffentlichte Walter Bauer in 1966 wird dann das Gesamtwerk in fünf rascher Folge Gedichtbände (u. a. „Mein Bänden vorliegen. Band 1 („Glitzert, Pleja- blaues Oktavheft", 1953), Romane (u. a. den!") wurde hier bereits ausführlich bespro- „Besser zu zweit als allein", 1950), Hörspiele chen (GM Heft 6/1965). Der kürzlich heraus- und Biographien („Die langen Reisen", „Die gekommene zweite Band ist ebenso prächtig Sonne von Arles", „Folge dem Pfeil"). 1952 ausgestattet wie „Glitzert, Plejaden!". Hervor- verließ Bauer als ein Enttäuschter die Bundes- zuheben sind die Illustrationen von Alfred republik und begann in Kanada als Holz- Kubin, Frans Masereel und O. R. Schatz. fäller, Tellerwäscher, Gelegenheitsarbeiter ein Auch dieser umfangreiche Band enthält zwei neues Leben. Warum ging er? „Ich wollte Bücher: „Herz im Eisen" (Politische Lyrik nicht vor Scham, Ekel, Zorn und Resignation und Antikriegsgedichte) und „Der Schrei der ersticken", schrieb er einem Freunde. „Das Opfer" (Erzählungen und Essays über Flücht- Morgenrot, das wir erhofften, ist nicht gekom-

445 men. Restauration und Reaktion sind im Be- diese Begegnung sucht, reicher machen; griff, die Plätze einzunehmen." Als 50jähri- er wird aus dem Werk Bauers Einsicht und ger begann er wieder da, wo er als junger Zuversicht und Trost gewinnen. Mensch stand: als Arbeiter. Und er blieb, was Walter Köpping er stets war, ein Freund der Armen und Ge- demütigten. Dafür sind viele seiner Gedichte, die er in Kanada schrieb, Beweis. Walter Bauer, inzwischen 60 Jahre alt, ging seinen Lebensweg ohne Brüche und Winkel- IDEOLOGIE züge. Und so überrascht es nicht, daß The- Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Herausgeg. und men und dichterische Deutungen im Frühwerk eingeleitet von Kurt Lenk. Soziologische Teste Band 4, und im Spätwerk weithin übereinstimmen. In Luchterhand Verlag, Neuwied am Rhein und Berlin, der Handhabung der künstlerischen Mittel 2. durchgesehene und wesentlich erweiterte Auflage 1964. wurde er freilich sicherer und vielseitiger. 416 S., Ln. 28 DM, Studienausgabe 13 DM. Sprachlich gerafft und pointiert sind seine letz- ten Gedichte. Damals wie heute ist für Wal- DER HERRSCHAFTSVERTRAG ter Bauer auch das Verborgene, das Unauf- fällige, das Alltägliche groß und beachtens- Übersetzungen von Peter Badura und Hasso Hofmann, wert. Und immer wieder mahnt er zu Näch- herausgegeben von Alfred Voigt. Luchterhand Verlag, stenliebe und Frieden: Neuwied am Rhein und Berlin 1965, 249 S., Ln. 28 DM. Heute sah ich Der Ideologiebegriff ist mittlerweile in den auf einem Lastwagen Kühe, Wortschatz der Umgangssprache eingegangen. die zum Schlachthof gefahren wurden; Eduard Spranger schrieb 1954: „Nur selten ruhig rauchte der Fahrer am Lenkrad. noch ist die Rede von politischen Ideen und So fuhren wir zur Front, und Idealen, hingegen sehr viel von politischen ruhig rauchte der Fahrer am Lenkrad. Ideologien." Doch besteht keine Einigkeit Später wurden wir zurückgebracht, darüber, was Ideologie heißen soll und was dezimiert, wie man sagt, erheblich sogar, Ideologien sind. Übereinstimmung herrscht und zu wohlverdienter Ruhe für das Ende. wohl lediglich in der Auffassung, daß Ideo- Ein anderer Fahrer saß ruhig rauchend logien etwas mit der realen geschichtlichen am Lenkrad. Bewegung der Gesellschaft zu tun haben. Im- Walter Bauer blieb stets der Arbeiterbe- merhin lassen sich bestimmte Tendenzen im wegung verbunden. Das Einleitungsgedicht zu Gebrauch des Ideologiebegriffs beobachten. „Stimme aus dem Leuna-Werk" (1930) Machen die konservativen Positivisten den schließt er bescheiden mit den Worten: „Zusammenhang zwischen sozialer Seinslage „ . . . dein unbekannter Zeitgenosse W. B." und Sicht" (Karl Mannheim) zum Gegenstand Kennzeichnend für ihn und sein Werk sind der Ideologieforschung, so gilt den Anwen- andere Zeilen aus diesen Jahren: „ ... ich will dern der kritisch-historischen Theorie der Ge- dich aufsuchen in den Bergwerken, mein sellschaft in der Nachfolge von Bruder, / und berichten, wie du leidest und jenes Denken als ideologisch, das ein falsches lebst mein Bruder, / ohne zu beachten, ob es Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirk- schön klinge und Reim werde ..." 25 Jahre lichkeit hat. Halten also die kritischen Auf- später schreibt er in einem Brief aus Kanada: klärer an der Möglichkeit einer der Wahrheit „Hier bin ich niemand — everybody —, der mächtigen Vernunft fest ; so wird für die Schü- wie alle im ,streetcar named Jane Bloor' ler von Karl Mannheim Seinsverbundenheit fährt, in einem lunch-room ißt, von keinem identisch mit mangelnder Objektivität. Ist für angesehen, von keinem gefragt, was das die einen der Ideologiebegriff eine Waffe im nächste Buch macht — und das empfinde ich Kampf um die Aufhebung gesellschaftlicher als wohltuend." Und in einem Gedicht aus der Antagonismen, wird er für die anderen ein letzten Zeit berichtet er von den Menschen, neutrales Instrument soziologischer Forschung. die mit ihm im gleichen Viertel in Toronto Wer sich für diese Funktionswandlungen wohnen. Es sind Verkäuferinnen, Arbeiter, des Ideologiebegriffs interessiert, wird dank- Boten, Hausfrauen, Polizisten: bar zu der vorliegenden Auswahl von Ar- beiten zum Ideologiebegriff greifen, denen . . . sie belehren mich, ohne viel zu sagen. Kurt Lenk eine ausgezeichnete Einleitung bei- Ich ziehe sie allen Kongressen vor. Sie sind gegeben hat, die zu dem oben flüchtig skiz- Freunde und Berater. zierten Gedankengang führt. Die Reihe der Leider ist Walter Bauer heute bei uns fast Autoren reicht von Francis Bacon bis Leszek unbekannt. Was wir verlieren würden, wenn Kolakowski. Neu hinzugekommen sind in der wir ihn und sein Werk vergäßen, das zeigt 2. Auflage Pareto, Mosca, Adorno, Blum, der von Ernst Tessloff vorgelegte Auswahl- Goldmann, Horkheimer und H. Marcuse. band. Er ermöglicht uns erneut eine Begeg- Bei Durchsicht der inhaltsreichen Sammlung nung mit Walter Bauer. Sie wird jeden, der stößt man auf einen Auszug aus Georg

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Lukacs' „Gesuchte und Klassenbewußtsein". Werkzeuge waren, tradierte Herrschaft den- Demnächst erscheint dieses Buch in der Ge- kender Kritik zu unterwerfen. Schon der samtausgabe seiner Werke. Lukacs zögerte Grieche Alkidamas sagte, es sei Aufgabe der lange, der Neuauflage zuzustimmen. Gewiß: Philosophen, den Kampf gegen Gesetz und er hat sich von diesem Buch distanziert. Doch Brauch zu führen (S. 38). Alkidamas war hat Lukacs sich offenbar dankenswerterweise überdies einer der ersten, der für die Beseiti- die Auffassung von Joseph A. Schumpeter gung der Sklaverei eintrat. zu eigen gemacht, der sagte, ein einmal publi- ziertes Buch habe Eigenleben und höre auf, Die Einleitung von Alfred Voigt gibt einen geistiges Eigentum seines Verfassers zu sein. — ersten Überblick über das Buch. Allerdings Ein Lesebuch zur Geschichte der politischen fehlen nähere Hinweise auf die Beziehungen Ideen unter der Fragestellung: Was haben die der Theorien über den Herrschaftsvertrag zur großen Sozialphilosophen über den Herr- sozialen Entwicklung. Einige Urteile erschei- schaftsvertrag gedacht? hat Alfred Voigt her- nen mir fragwürdig: War Machiavellis Begei- ausgegeben. Seine Textauswahl reicht von sterung für Cesare Borgia wirklich „bedin- Piaton bis Hegel. Die Lektüre dieses Bandes gungslos" oder war sie vielmehr an die Hoff- lohnt sich. Der Kampf zwischen Aufklä- nung geknüpft, Cesare Borgia würde tat- rungs- und Verhüllungsphilosophen ist so alt, kräftig für die politische Einigung Italiens ein- wie das Interesse an der Veränderung und treten? Und paßte die Staatsphilosophie Verteidigung überkommener gesellschaftlicher Hobbes so wenig auf das England seiner Zeit, Verhältnisse, die nur zu oft der Stabilisierung wie das Voigt meint? In Max Horkheimers überflüssiger Herrschaft dienen. Die Theorien Buch „Anfänge der bürgerlichen Geschichts- über den Herrschaftsvertrag werden heute philosophie" kann man das anders lesen. Ähn- leicht in ihrer politischen Bedeutung verkannt. liche Fragen scheinen mir da und dort ange- Man hält sie für bloße Gedankenkonstruk- bracht. Sie mindern aber nicht den Wert des tionen und übersieht, daß sie oft wirksame anregendes Buches. Dr. Wilfried Gottschalch

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