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SWR2 Musikstunde

Herbst des Mittelalters (1) Codex Manesse – Die große Heidelberger Liederhandschrift Repräsentation und Rückblick in die Vergangenheit

Von Bettina Winkler

Sendung: Montag , 29. September 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikstunde vom 29. 9. bis 2. 10. 2014, 9.05 bis 10.00 Uhr mit Bettina Winkler Herbst des Mittelalters (1) Codex Manesse – Die große Heidelberger Liederhandschrift Repräsentation und Rückblick in die Vergangenheit

Signet Musikstunde 0‘05

…mit Bettina Winkler. Mein Thema in dieser Woche: Herbst des Mittelalters – heute Teil 1: der Codex Manesse, die große Heidelberger Liederhandschrift – Repräsentationsobjekt und Rückblick in die Vergangenheit.

Musikstunden-Indikativ – ca. 0‘20

Herbst des Mittelalters – das ist der Titel eines bekannten Buches des niederländischen Kulturhistorikers Johann Huizinga, in dem er ein Zeitalter voller Wandlungen und Veränderungen beschreibt: auf der Schwelle zur Neuzeit, zur Renaissance wird Altes bewahrt, aber auch verworfen, und Neues entdeckt – eine Zeit des Umbruchs. Natürlich hört das Mittelalter nicht mit einem speziellen Datum auf, die Renaissance beginnt nicht in allen Ländern zur gleichen Zeit. Der Wandel vollzieht sich vielmehr über einen längeren Zeitraum, wobei alte Traditionen und neue Ideen nebeneinander stehen. Von dieser Übergangszeit möchte ich Ihnen exemplarisch anhand von vier Beispielen in dieser herbstlichen Jahreszeit erzählen. Huizinga beschreibt vor allem die burgundisch-französisch-niederländische Welt des 15. Jahrhunderts, ich möchte dagegen einen Blick vor die eigene Haustüre werfen: nach Deutschland, in die Schweiz und nach Österreich. Es wird vom letzten Minnesänger und vom letzten Ritter die Rede sein, vom Meistersang und alten Handschriften – und letztere geben uns auch das erste Stichwort: Der berühmte Codex Manesse, die Große Heidelberger Liederhandschrift, die Sammelhandschrift für den klassischen der Stauferzeit. Mit ihr bekundete die Züricher Familie Manesse zum einen ihr Interesse an dieser Dichtung und stellte sich zum anderen mit diesem prachtvollen Buch in eine Erbfolge mit den Adligen der Vergangenheit.

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Musik 1: Anon. (13. Jh.): Chaçonetta Tedescha Studio der frühen Musik, Ltg: Thomas Binkley 3706 Teldec 8.44015 ZS, Take 10, 1'12

Das "wundersame Buch", wie den Codex Manesse einmal nannte, entstand im frühen 14. Jahrhundert, wohl im Auftrag der Patrizierfamilie Manesse - Zeugnis dafür wäre ein Preislied von Johannes Hadlaub, der wahrscheinlich mit der Zusammenstellung dieses Codex betraut war: in ihm lobt er die Sammeltätigkeit der Manesses. In seiner Züricher Novelle "Hadlaub" stellt sich Gottfried Keller vor, wie damals die Idee entstanden sein könnte, eine solche Sammlung anzulegen. In einem Gespräch zwischen dem Bischof von Konstanz und Rudolf Manesse erfährt man folgendes: "Weißt du, trauter alter Freund! Welch ein Gedanke mir eben gekommen ist, als ich mich dort mit dem Bücherwesen unterhielt? Seit mehr als hundert Jahren, so dachte ich, wird in deutschen Landen die Minne besungen und sonst so mancher weise und tapfere Spruch ersonnen; von Hand zu Hand gehen die Lieder und noch vermehren sie sich täglich, aber niemand weiß und kennt sie alle, und je mehr der Jahre fliehen, je mehr Lieder gehen mit den sterbenden Menschen zu Grabe! Wie mancher edle Sänger liegt seit sechzig, siebzig Jahren wohl in seiner Ruhe, noch haben wir seine Lieder, aber nur noch wenige seiner Weisen; in abermals siebzig Jahren, was wird noch vorhanden sein von seinen Tönen und von seinem Namen? Vielleicht ein Märchen, wie vom Orpheus, wenn's gut geht!" "Ich versteh dich, lieber Herr und Freund!" erwiderte der Bischof, seine Hand umfassend, "du willst die Lieder gründlich sammeln und retten, was zu retten ist, und ich muss solchen Vorsatz nur loben, so viel ich loben kann! Einen guten Anfang habt ihr ja schon gemacht, du und dein würdiger Sohn, von dem ich wiederholt erfahren und vernommen, wie er in allen Burgen und Klöstern nach Geschriebenem bohrt! Aber wir müssen nun ins Breite und Weite gehen und eine gewisse Ordnung in die Sache bringen!" "Versteh mich recht!" versetzte Manesse, "ich meine ein einziges großes Buch zu stiften, in welchem alles geordnet beisammen ist, was jeder an seinem Orte singt. Ja, soeben schaue ich", fuhr er in edler Erregung fort, "schon sehe ich das Buch in 4 schönster Gestalt vor mir, groß, köstlich und geschmückt wie, ohne Blasphemia zu reden, das Messbuch des Papstes!"

Musik 2: Walther von der Vogelweide: Unter der Linden Ensemble für frühe Musik Augsburg 0612 Christophorus CHR 77178, Take 15, 3'18

Unter der Linden, auf der Heide – ein Minnelied von Walther von der Vogelweide mit dem Ensemble für frühe Musik Augsburg. Adligsein im 14. Jahrhundert ist eine Frage der Zugehörigkeit, und diese weist sich aus durch traditionell als klassenspezifisch empfundene Attribute. Für die Literatur bedeutet dies zunächst Traditionspflege, Sammlung und Bewahrung vornehmlich jener Dichtung, die auf dem Höhepunkt feudaler Herrschaft zur Stauferzeit schmückender und repräsentativer Ausweis adliger Existenz war. Mit dem bewahrenden Rückgriff auf längst vergangene Literatur erbringt man gleichsam den literarischen Ahnennachweis. Diesem Bedürfnis verdanken wir die Überlieferung und damit unsere Kenntnis der Lieddichtung der Stauferzeit, des sogenannten hohen Minnesangs. Heute populärstes Zeugnis der Überlieferung deutscher mittelalterlicher Literatur ist jene Sammelhandschrift, die nach ihrem Aufbewahrungsort als "Große Heidelberger Liederhandschrift", nach ihrer Sigle als Liederhandschrift C, nach einem ihrer mutmaßlichen Auftraggeber als "Codex Manesse" und in der älteren Forschung nach ihrem Aufbewahrungsort vor 1888 als "Pariser Handschrift" bezeichnet wird. Das Repertoire dieser Sammlung reicht vom Klassischen Minnesang über bis zu Tageliedern. Einer der Dichter des Codex Manesse, der noch ganz in der Tradition des reinen Minnesangs des Hohen Mittelalters steht, ist der wilde Alexander.

Musik 3: Der wilde Alexander: Owe daz nach liebe ergat I Ciarlatani 0612 Christophorus CHR 77192, Take 13, 3'08

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"Owe, daz nach liebe ergat" - ein Minnelied der klassischen Stauferzeit vom "wilden Alexander" aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift mit dem Ensemble I Ciarlatani. Im Besitz der pfälzischen Kurfürsten ist der Codex Manesse zum erstenmal 1605/06 nachgewiesen, aber das kostbare Buch blieb nicht lange in der Residenzstadt . 1622 wurde es vor der Eroberung Heidelbergs durch die Truppen der Liga unter Tilly in Sicherheit gebracht und befand sich seit 1656 im Besitz der Pariser Bibliothèque Nationale. Wahrscheinlich hatte es die Witwe des Kurfürsten und "Winterkönigs" Friedrich V. während des 30-jährigen Krieges verkauft, weil sie sich in Geldnot befand. 1888 kehrte die berühmteste deutsche Handschrift durch Vermittlung des Straßburger Buchhändlers Karl Ignaz Trübner wieder nach Heidelberg zurück. Sie befindet sich noch heute in der dortigen Universitätsbibliothek unter der Signatur Codex Palatinus germanicus 848. Auf 426 Pergamentblättern enthält der Codex Manesse fast 6000 Strophen von 140 Dichtern von der Mitte des 12. bis ins erste Drittel des 14. Jahrhunderts. 137 Sängern ist eine ganzseitige Miniatur gewidmet, und diese Bilder haben entscheidend zum großen Bekanntheitsgrad dieser Handschrift beigetragen: kaum eine mittelalterliche Anthologie, ein Buch über das Mittelalter, auf dessen Titelbild nicht eine der Manessischen Miniaturen prangt. Bei der Anlage des Codex Manesse hat man von vornherein mit einem längeren Entstehungsprozess gerechnet, an dem mehrere Schreiber und Maler beteiligt waren. So ließ man Seiten frei, um Möglichkeiten für Nachträge zu haben. Die Handschrift ordnet die Texte nach Autoren, deren Reihenfolge durch ihren Rang in der sozialen Hierarchie bestimmt ist: sie wird eröffnet von Kaiser Heinrich VI und endet bei den titellosen, nichtadligen "Meistern". Dazwischen gruppieren sich die Könige, Herzöge, Grafen und zahlreiche "herren", von denen nicht wenige erst vom Redaktor nobilitiert wurden.

Musik 4: Kaiser Heinrich VI: "Ich grüeze mit gesange" Gert Westphal, Sprecher, Ensemble Bärengässlein EMI LP 16 95531, Take 8, 2'04

Kaiser Heinrich VI: "Ich grüeze mit gesange", vorgetragen von Gert Westphal. 6

Die meisten der Dichter des Codex Manesse stammen aus dem südwestdeutschen und dem Schweizer Raum wie zum Beispiel Bernger von Horheim. Sein Name begegnet uns 1196 in zwei italienischen Urkunden Philipps von Schwaben. Er könnte aus dem württembergischen Herrheim bei Vaihingen stammen. Sein Lied "Nu enbeis ich doch des trankes nie" mit der Klage "daz si mich truren lat" und dem Zitat des Liebestranks, der Tristan und Isolde schicksalhaft verband, ist eine formal wie inhaltlich getreue Nachdichtung des Liedes "Onques del bevrage ne buit" von Chrestien de Troyes. Und dazu ist glücklicherweise eine Melodie erhalten!

Musik 5: Bernger von Horrheim: Nu enbeis ich doch des trankes nie Nu enbeis ich doch des trankes nie 0612 Christophorus CHR 77192, Take 2, 2'55

Bernger von Horrheims Minneklage „Nu enbeis ich doch des trankes nie“ mit dem Heidelberger Ensemble I Ciarlatani.

Einen Schönheitsfehler weist der Codex Manesse auf, denn im Gegensatz zu anderen romanischen Manuskripten mit Liedern der Troubadoure und Trouvères enthält er keine Noten. Doch Minnesang war ursprünglich gesungene Lyrik. Die Dichter waren gleichzeitig auch Komponisten und Interpreten ihrer Lieder. Es handelte sich also in erster Linie um eine Vortragskunst, die zunächst mündlich weitergegeben wurde. Die Hochblüte des Minnesangs war im 12. und 13. Jahrhundert zur Zeit der Staufer-Kaiser. Die großen Liedersammlungen dagegen entstanden etwa hundert Jahre später in einer Zeit, in der der ursprüngliche Minnesang schon am Verfall war und man noch einmal versuchte, diese Kunst zu konservieren. Die Tatsache, daß nur die Texte aufgeschrieben wurden, zeugt von einer veränderten Rezeptionsgewohnheit, von der zunehmenden Bindung der Literatur an Schriftlichkeit. Hier handelt es sich um Lese- und nicht um Gebrauchsliteratur. Für einige der Texte aus dem Codex Manesse lässt sich jedoch die zugehörige Musik aus einer parallelen Überlieferung oder aus anderen Quellen erschließen, 7 siehe Bernger von Horrheim. Dafür kommen zum Beispiel die Jenaer Liederhandschrift von 1330 oder die noch später entstandene Colmarer Handschrift von etwa 1460 in Frage, die Repertoire aus der Spätzeit des Minnesangs mit Melodien enthalten. Für die Melodien der Lieder Neidharts von Reuental, die im Codex Manesse stehen, gibt es zwei relativ zuverlässige Quellen: das Fragment der Stadtbibliothek Frankfurt aus dem frühen 14. Jahrhundert und die Berliner Neidharthandschrift c, die um 1456 zusammengestellt wurde. Wahrscheinlich war Neidhart Berufssänger, stammte aus Bayern und ging, als er dort seinen Besitz verlor, um 1230 nach Österreich. Ein Leben lang auf der Suche nach einem Gönner, erfreute er sich zumindest zeitweise der Unterstützung durch Herzog Friedrich, den Streitbaren, den er in den angehängten Bittstrophen seiner Lieder auch direkt anspricht.

Musik 6: : Owe dirre not Studio der frühen Musik, Ltg: Thomas Binkley 3706 Teldec 8.44015 ZS, Take 6, (nur letzte Strophe), 1'20

So also bittet Neidhart von Reuental Herzog Friedrich um ein Lehen, damit er gut versorgt sei – es musizierte das Studio der frühen Musik unter Thomas Binkley. Für jene Dichter aus der Frühzeit des Minnesangs, die sich an romanischen Vorbildern der Troubadoure und Trouvères orientierten, gibt es die Möglichkeite, entsprechende Melodien zu rekonstruieren, indem man annimmt, dass es sich bei manchen Texten um Kontrafakturen handelt. Die Praxis des Kontrafazierens wurde im Mittelalter rege gehandhabt: man nahm bereits vorhandene Melodien und gab ihnen einen neuen Text, an den die Melodie teilweise auch angepasst wurde. Besitzt also ein mittelhochdeutsches Gedicht denselben Strophenbau wie eine provenzalische oder französische Vorlage mit Noten, lässt sich der deutsche Text dieser Melodie unterlegen. Stimmen auch noch das Reimschema und die Textinhalte in Einzelheiten überein, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der deutsche Sänger "im Ton" des romanischen Vorbilds dichtete. Glücklicherweise ist auf Umwegen die Melodie zu Tanhusers Leich "Ich lobe ein wib" ausfindig zu machen. Der mit Noten versehene lateinische Conductus "Sion egredere" aus einer Handschrift (clm 5539) der Bayerischen Staatsbibliothek 8

München endet erstaunlicherweise mit der mittelhochdeutschen Zeile: "Der sait der ist enzwai". Diese Schlusswendung, dass die Saite oder der Bogen des Fiedlers entzwei gehe, wird auch von Tanhuser häufig verwendet. Da dieser lateinische Text und Tanhusers Leich denselben Aufbau haben, könnte hier also eine Kontrafaktur vorliegen. Beim Tanhuser handelt es sich vermutlich um einen fränkischen Ritter, sein unstetes Wanderleben spricht aber ebenso für einen fahrenden Berufssänger. Friedrich II. von Österreich, der letzte Babenberger, gewährte ihm ein Lehen bei Wien, das er 1246 nach dem Tod des Herzogs wieder verlor. Der Tanhuser benutzte noch die überkommenen Formen des klassischen Minnesangs, die Inhalte werden von ihm aber parodiert. In seinem Tanzleich "Ich lob ein wib" betet der Tanhuser keine unerreichbare hohe Herrin an, sondern preist eine Frau aus Fleisch und Blut. Der Leich endet mit einem Tanz unter der Linde, zu dem ein Fiedler aufspielt, bis ihm der Bogen zerbricht.

Musik 7: Tanhuser: "Ich lob ein wib" Ensemble I Ciarlatani 0612 Christophorus CHR 77192, Take 15, 3'20 - 5'12

So also singt der Tanhuser in seinem Leich "Ich lob ein wib“. I Ciarlatani haben ihm die Stimme geliehen. Zumindest für einen der Texte Walthers von der Vogelweide aus dem Codex Manesse gibt es eine überlieferte Melodie. In einem Bruchstück einer Liederhandschrift aus dem 14. Jahrhundert, die im Staatsarchiv Münster liegt, findet sich die vollständige Melodie zu Walthers Palästina-Lied. In der Forschung wird dieses Lied als Kontrafaktur diskutiert. Als potentielle Vorlage könnten entweder "Quant je voi l'erbe" des Trouvères Gautier d'Espinau oder die Kanzone "Lanquan li jorn" von Jaufre Rudel gedient haben. Walther hat die Melodie aber nicht unmittelbar übernommen, sondern auf seinen eigenen Text abgestimmt. Walther von der Vogelweide ist vielleicht die bedeutendste Dichterpersönlichkeit des Minnesangs und der Spruchdichtung. Von keinem anderen mittelhochdeutschen Dichter ist ein solch umfangreiches und vielfältiges lyrisches Werk überliefert. Sein Palästinalied "Alrerst lebe ich mir werde" wird mit dem fünften Kreuzzug in 9

Zusammenhang gebracht, zu dem Kaiser Friedrich II. im Mai 1228 aufbrach. Es ist ein politisch-religiöses Propagandalied. In der letzten Strophe präsentiert der "Spielmann des Reiches" den selbstgerechten Besitzanspruch der Christen auf das Heilige Land gegenüber Juden und Muslimen.

Musik 8: Walther von der Vogelweide: Palästinalied Estampie 0612 Christophorus CHR 77183, Take 11

Das sogenannte Palästinalied von Walther von der Vogelweide in einer modernen Adaption mit dem Ensemble Estampie. Auch der zeitgenössische Komponist Alfred Schnittke hat sich mit den Liedern aus der großen Heidelberger Liederhandschrift auseinandergesetzt und sie in einem Chorstück collagiert: "Minnesang". Diese 1981 entstandene Komposition basiert auf zwanzig Liedern dieses Repertoires. Die Texte malen ein lebhaftes Bild des mittelalterlichen Lebens, und Schnittkes Musik zollt ihnen Tribut, in dem sie auf mittelalterliche Praktiken zurückgreift, besonders bei der Verwendung des Kanons. Dabei beschränkt sie sich auf eine Handvoll von Grundakkorden, die sich in einer Wellenbewegung von einem einzigen unverzierten Ton am Anfang zu einem gewaltigen Höhepunkt steigern und dann wieder in die Stille zurückkehren. Schnittke beginnt mit dem Text des Palästinaliedes von Walther von der Vogelweide, das Sie gerade gehört haben.

Musik 9: Alfred Schnittke: Minnesang Dänischer Nationaler Radiochor, Ltg: Stefan Parkman 7038 Chandos CHAN 9126, Take 1, 5’05

Ein Ausschnitt aus Alfred Schnittkes Chorwerk "Minnesang" mit dem Nationalen Dänischen Radiochor unter Stefan Parkman. Die wenigen Melodien der Minnesänger, die mehrfach aufgeschrieben wurden, weichen teilweise erheblich voneinander ab. Das hat mit den unterschiedlichen Einflüssen von der mündlichen Tradierung bis zur schriftlichen Fixierung zu tun. 10

Deshalb kann man sich den einzelnen Liedern als Interpret von heute nur annähern, indem man entsprechende Quellen studiert und vergleicht und dabei abwägt, wie das jeweilige Lied letztendlich zu singen und auch zu spielen sei. Bleibt allerdings noch die Frage nach den Begleitinstrumenten. Betrachtet man die Miniaturen des Codex Manesse, so finden sich auf 19 Bildern und einer Zeichnung Instrumente. Das am häufigsten abgebildete ist das Jagdhorn, gefolgt von Fiedel, Schalmei, Trommel, Flöte, Psalterium, Trompete bzw. Busine, Sackpfeife und Harfe. Diese Instrumentenabbildungen dienen aber nicht der Darstellung einer bestimmten Vortragsform, sie sollen vielmehr den sozialen Kontext des Autorenbildes verdeutlichen oder eine symbolische Funktion erfüllen. So stehen die Blasinstrumente zum Beispiel für Herrschaft. Man unterschied zwischen lautem Ensemble, sogenannter "haute musique", und den leisen Instrumenten wie Fiedel, Flöte, Psalterium und Harfe. Entsprechend der mittelalterlichen Ästhetik sind laute und leise Instrumente nie beim gemeinsamen Spiel zu beobachten. Die strikte Trennung von laut und leise, die bis zum Ende des Mittelalters Gültigkeit hatte, war von den Arabern übernommen worden, die sich ihrerseits an aristotelischen Grundsätzen orientierten.

Musik 10: Anon. (frz. Um 1350) Estampie Capella Antiqua Bambergensis 7049 CAB 06, T. 4, 0'55

Eine Estampie, gespielt von der Capella Antiqua Bambergensis. Etwa fünfzehn Kilometer von Heidelberg neckaraufwärts liegt auf einem schmalen Bergrücken zwischen Steinach- und Neckartal die Hinterburg, die älteste der vier Burgen von Neckarsteinach. Sie war der Stammsitz Bliggers II, der zwischen 1165 und 1209 in Urkunden bezeugt ist und dessen Lieder ebenfalls im Codex Manesse stehen. Die Zeitgenossen schätzten ihn hauptsächlich als Epiker, sein von Gottfried von Straßburg hoch gelobtes Hauptwerk, der "umbehanc", ist jedoch verschollen. Lässt man Spekulationen über seine eventuelle Mitarbeit am Nibelungenlied außer Acht, dann sind von ihm nur wenige Verse überliefert, in denen er sich der entsagungsvollen hohen Minne verpflichtet zeigt. In seinem Lied "Er funde guoten kouf an minen iaren" beklagt er sein freudloses Leben und hofft auf Errettung durch 11 eine "Schöne vom Rhein". Vielleicht hat er es während eines Kreuzzugs ins Heilige Land geschrieben. Als musikalische Vorlage diente ganz offensichtlich die Melodie von "Tant mà mené force de seignorage" des Trouvère Gace Brulé, nach der sich Bliggers Lied silbengenau singen lässt.

Musik 11: Bligger von Steinach: "Er funde guoten kouf an minen iaren" Ensemble I Ciarlatani 0612 Christophorus CHR 77192, Take 6, 2'41

Bligger von Steinachs klassisches Minnelied "Er funde guoten kouf an minen iaren" mit dem Ensemble I Ciarlatani.

Am Ende dieser Musikstunde über den Codex Manesse steht nun noch ein Sänger aus dieser Handschrift, der die Hochblüte des klassischen Minnesangs repräsentiert. Und wenn man von einem "Kreis südwestdeutscher Minnesänger" sprechen kann, dann ist der aus dem Rhein-Main-Gebiet stammende sein bedeutendster Vertreter. Er war ein politisch einflussreicher Ministeriale und: er ist der erste historisch nachweisbare Minnesänger. Seinen Tod im Jahre 1190 während des dritten Kreuzzuges, von dem auch Kaiser Friedrich Barbarossa nicht mehr zurückkehrte, kann von mehreren Zeitgenossen bestätigt werden. Wie kein anderer vor ihm überträgt Friedrich von Hausen romanische Vorbilder ins Mittelhochdeutsche und thematisiert im Kreuzlied "Min herze unde min lip die wollen scheiden" den Konflikt zwischen dem Anspruch seiner Herrin auf Minnedienst und seiner gesellschaftlichen Verpflichtung als Ritter im Dienste Gottes.

Musik 12: Friedrich von Hausen: "Min herze unde min lip" Bärengässlein EMI LP 16 95531, Take 5, 2'59

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Das war die SWR2 Musikstunde zum Thema „Herbst des Mittelalters“. Im ersten Teil ging es um den berühmten Codex Manesse, die große Heidelberger Liederhandschrift. Zuletzt hörten sie Friedrich von Hausens Kreuzlied „Min herze unde min lip die wollen scheiden“ mit der Gruppe Bärengässlein. Morgen geht es um den letzten „Minnesänger“ Oswald von Wolkenstein – und bis dahin verabschiedet sich für heute Bettina Winkler.