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BADISCHE HEIMAT Mein Heimatland 200 Jahre J.P.Hebel 40.Jg. 1960 I left 1/2, Mai

Landesverein Badische Heimat e. V., Freiburg i. ßr. BADISCHE HEIMAT MEIN HEIMATLAND INHALT 39. Jahrgang / Heft 1/2 / Mai 1960 Hebel ohne Ende. Gedieht von Hermann Burte . . . 2 I M AUFTRAG d es J. P. Hebel über sich s e l b s t ...... 3 Landesvereins J. W. Goethe über Hebels Alemannische Gedichte. . . 4 Badische Heimat e.V. Goethe liest Flebels „Unverhofftes Wiedersehen" vor . 6 J. P. Hebel zum 100. Todestag. Von Walter Benjamin . 7 für Heimatkundeund Heimatpflege, Natur- und Denkmalschutz, J. P. Hebel, der Mann und sein Werk. Von Gottlieb f . 11 Volkskunde und Volkskunst, über Hebels Frömmigkeit. Von Erwin Kiefer .... 17 Familienforschung J. P. Hebels „Biblische Geschichten". Von Otto Frommei . 21 herausgegeben von Lebensspuren Hebels. Von Walther Oslerrieth .... 31 Prof. Dr. H. Schwarzweber Hebels Karlsruher Gymnasium. Von W ilh. Zentner . . 45 Freiburg i. ßr. Die Hebelmutter Ursula. Gedicht von Gertrud Albrecht . 57 Haus Bad. Heimat, Hansjakobstr. 12 Aus Hebels Erlanger Studentenzeit. Von F. A. Pietzsch . 58 Hebelisches Land. Gedicht von Hedwig Salm ...... 60 Diese Zeitschrift erscheint viertel­ Schauspielerin und Kirchenrat. 61 jährlich und wird den M itgliedern Von Elfriede Gottlieb . . frei geliefert. An das Hebelhaus zu Hausen. Gedicht von Hedwig Salm 67 Hebel und Wessenberg. Von Wilhelm Zentner . . . 68 Jahrespreis durch den Buchhandel mit Ekkhart-Jahrbuch D M 14.— Altersschrift Hebels. Von Walther Osterrieth .... 74 ohne Ekkhart-Jahrbuch DM 12.— Im Hebel sy Helge. Gedicht von Hubert Baum .... 75 Jahresbeitrag J . P. Hebel als Prüfungskommissar. Von K. Schwab . . 76 für Einzelm itglieder. . D M 8.50 Hebelverwandte im Wiesental. Fern. Richard Nutzinger . 80 für Körperschaften . . DM 15.— Hebels Heimat. Gedicht von Max Rieple ...... 82 Freiwillige Mehrleistungen werden J. P. Hebels Geburtshaus in . Von C. A. Müller , . 85 dringend erbeten u. herzl. verdankt. Hebelland in der Schweiz. Von Otto Kleiber...... 98 Sie dienen restlos zum Ausgleich der gesteigerten Kosten und zur Erleich­ Zum Hebelgymnasium in Lörrach. Von A. Baumhauer . 102 terung für wirtschaftlich schwache J. P. Hebel, der Bettler, mit Übertragung von R. Gang . 109 Mitglieder. Das Wiesental zur Zeit J. P. Hebels. Von Karl Seith . . 111 Mitglieder,werbt neue Mitglieder! Die Hebelstätten im Markgräflerland. Von K. Poltier . 125 Fü rein Neu mitglied ein schönes Buch, Lebendige Hebelheimat. Gedicht von Hedwig Salm, . . 138 für zwei Neumitglieder Erlaß eines und das Rebland. Von A. E isele ...... 139 Jahresbeitrages! Schenkt die Mit­ Hebel und das Rebland. Von Hermann Schäfer . . . 146 gliedschaft zu Festen ! Badener, werdet Mitgl. der Badischen Heimat! H ebel, der milde Schutzgeist. Von Emil Baader . . . 152 Stunden in Hebels Geist. Von Hermann Wiedtemann . . 155 Einbanddecken zu D M 2.50 für die Hebels Karlsruher Ausstellung. Von O. E. Sutter . . . 158 Jah rg än g e 1950/51,1952,1953,1954, Ein norddeutscher Nachfolger J. P. Hebels. Von V. Schupp 162 1955,1956, 1957,1958 und 1959sind Hebel, Großvater, Mutter und ich. Von H. Bischoß . . 168 vorrätig mit und ohne Ekkhart. J. P. Hebel auf allen Wegen. Von Franz Schneller. . . 170 A lle Rechte der Vervielfältigung Unvergänglicher J. P. Hebel. Von Richard Gang . . . 175 und Verbreitung behält sich der Mein Weg zu J. P. Hebel. Von Adolf Glattacker . . . 189 Verlag vor. Bruno Schley und seine Markgräfler Blätter. Von R.Feger 196 A lle Sendungen für die Zeitschrift sind an den Landesverein Was Hebel war. Gedicht vom Abiturienten H. Burte . . 203 Badische H e i m at, Freiburg i. ßr., G . F. N. Sonntag. Von Engelbert Strobel ...... 204 Hansjakobstr. 12, zu richten. Für un­ Hebels Abschied von Lörrach. Gedicht von Hermann Burte 205 verlangte Manuskripte und Bespre­ Dr. Carl Christian Gmelin. Von Engelbert Strobel . . . 206 chungsstücke wird keine Haftung Aus Hebels letzten Tagen. Erzählung von H. Vortisch . 208 übernommen. Erinnerungen an den Hirschen in Lörrach. VonH. Pflüger 209 Zahlstellen des Landesvereins: Postscheckkonto 16468 Der Wächterruf. Eine Hebelerzählung von R. Schneider . 226 Bankhaus I. A. Krebs, Freiburg i. 8r. Zwei Hebelerzählungen. 229 Deutsche Bank Freiburg i. ßr. Von Hermann Vortisch . . . Städt. Sparkasse Freiburg, Girokonto 320 An Burte. Gedicht von Hubert B a u m ...... 238 BADISCHE HEIMAT Mein Heimatland - 200 Jahre Johann Peter Hebel - 40. Jahrgang 1960. Heft 1/2

Johann Peter Hebel, 1760—1826 Stahlstich von Eduard Schüler, Carlsruhe, C. F. Müllersche Hofbuchhandlung Hebel ohne Enbe

Hat Aine gmaint, jetzt haig er alles gfait — Er muß am Enö roohl zue nem felber fage: Riich ifch öä Gelft, ne ßa mit oile Lage, mengs ifch in tiefe ßoöe abegleit.

Am Afang öunkts aim chinöerliichte ßfcheiö, notno roürös fchroer, me möchti fchier oerzage: Nie roürö me feerig mit em ßücki trage. So mannigfaltig hat er blüeiht unö trait.

Treu, rain unö recht, ä luteri Natur — ring, ohni Müeh, roie’s Otme goht fy Schribe, us Liebi unö Verftanö für ö’ Kreatur.

Es öuet en aber au ne Wille tribe bis in öie höchfti Chunft, im Schaffe pur, er libt unö lebt, fy Werch roürö eroig blibe.

Hermann ßurte

2 Johann Peter Hebel über sich selber Aus einer nie gehaltenen Antrittspredigt vor einer Landgemeinde (verfaßt um 1820). . . . Ich bin von armen, aber frommen Eltern geboren, habe die Hälfte der Zeit in meiner Kindheit bald in einem einsamen Dorf, bald in den vornehmen Häusern einer berühmten Stadt zugebracht. Da habe ich frühe gelernt arm sein und reich sein. Wiewohl, ich bin nie reich gewesen; ich habe gelernt nichts haben und alles haben, mit den Fröhlichen froh sein und mit den Weinenden traurig. Diese Vorbedeutung von dem Schicksal meiner künftigen Tage hat mir mein Gott in meiner Kindheit gegeben. Schauet zurück in eure vergangenen Tage: ist's nicht also, daß Gott manchem schon in seiner Kindheit ein Wahrzeichen seines Lebens gibt? Ist nicht die Kindheit der verborgene Keim, aus welchem nach und nach der reiche Baum des Lebens mit allen seinen Leiden und Freuden sich auseinanderschlägt? Ich habe schon in dem zweiten Jahre meines Lebens meinen Vater, in dem dreizehnten meine Mutter verloren. Aber der Segen ihrer Frömmigkeit hat mich nie verlassen. Sie hat mich beten gelehrt; sie hat mich gelehrt an Gott glauben, auf Gott vertrauen, an seine Alb gegenwart denken. Die Liebe vieler Menschen, die an ihrem Grabe weinten und in der Ferne sie ehrten, ist mein bestes Erbteil geworden, und ich bin wohl dabei gefahren. — O, meine Freunde, Väter und Mütter! gerne laß ich dies meine erste Ermahnung sein, die ich an dieser Stätte an euch tue: Laßt das irdische Wohl eurer Kinder eure große Sorge sein; aber macht ihre Erziehung zur Gottseligkeit zu eurer größten Sorge! Das ist das Erbteil, das nim= mer trügt, nimmer verzehret wird, das in unsern Herzen wächst und unser Herz täglich reicher macht und am Ende noch am reichsten. Gott hat mir an Elternstatt wohltätige Berater meiner Jugend und treue Lehrer der welt= liehen Weisheit und des geistlichen Berufes gegeben. Sie schlafen im Frieden; aber ich erfülle eine Pflicht der Dankbarkeit, indem ich ihrer gedenke. Ich erhielt die Weihe des geistlichen Berufes. An einem friedlichen Landorte, unter redlichen Menschen als Pfarrer zu leben und zu sterben, war alles, was ich wünschte, was ich bis auf diese Stunde in den heitersten und in den trübsten Augenblicken meines Lebens immer gewünscht habe. Aber, o Gott, auf welchem langen Umweg hast du mich an das Ziel meiner Wünsche geführt! Eilf Jahre lang, bis in das einunddreißigste meines Lebens, wartete ich vergeblich auf Amt und Versorgung. Alle meine Jugendgenossen waren versorgt, nur ich nicht. Ich stand noch da, wie der Prophet Jesaias sagt, „gleich einem Baume oben auf einem Berge und einem Panier oben auf einem Hügel". Da war es wohl an mir getan, daß mich Gott gelehrt hatte, arm sein und nichts haben. — Doch ich wurde unversehens in die Residenz berufen, aber zu keinem Pfarramt. Ich bin von Stufe gestiegen zu Stufe, aber nie zu einem Pfarramt. Ich habe vielleicht zweitausend Jünglinge in Sprachen und Wissenschaften unterrichtet. Viele von ihnen erfreuen mein Ant= litz, wenn ich sie nun als fromme, als glückliche, als geachtete Männer und Freunde wieder= sehe. Manche von ihnen stehen schon lange in geistigen Ämtern, und manches fromme Wort, das ich hie und da in ein gutes Herz gelegt habe, o Gott, es trägt vielleicht jetzt reichliche Früchte, ohne daß ich's weiß. O Freunde, was wir Gutes tun, was ihr Gutes tut in Wort und Tat, es ist nicht verloren. Wir sehen nicht, wohin der Wind das Samenkörnlein wehet; aber Gottes Auge folgt ihm nach und begleitet es mit seinem Segen. —

1* 3 Ich habe die Liebe und Achtung vieler guten Menschen, ich habe das Vertrauen und die Gnade unserer Fürsten genossen. Ich bin Mitglied der obersten Kirchenbehörde geworden. Ich bin zuletzt mit einer in unserer vaterländischen Kirche noch nie erhörten Würde geehrt wor= den und mit Fürsten im Rat gesessen. So bin ich an einer unsichtbaren Hand immer höher hinan, immer weiter von dem Ziel meiner bescheidenen Wünsche hinweggeführt worden; und als ich am weitesten glaubte entfernt zu sein, war ich am nächsten. Was ich im zwan= zigsten Jahre meines Lebens bald zu hoffte, gab mir Gott im sechzigsten. Mach's mit mir, o Herr, mach es mit uns allen, wiewohl wunderlich, durch Christum den Herrn nur seliglich. Ja, meine Freunde, die Wege, die uns Gott führt, sind oft wunderbar und uner= forschlich seine Absichten; aber sie sind gegründet in der Tiefe des Reichtums, beides, sei» ner Weisheit und seiner Erkenntnis. Meine Freunde, ich habe euch mit wenigen Linien den Weg gezeigt, auf welchem mein Gott mich zu euch geführt hat. Ich bin ein Mensch, nicht ohne Schwachheit und Fehler; sonst wäre ich Adams Kind nicht. Aber ich bemühe mich, täglich völliger zu werden; sonst wäre ich Christi Jünger nicht. . .*).

*) Nach „Johann Peter Hebels Werke", Bd. I S. 551 ff. Hgg. von Wilhelm Altwegg, Atlantis Verlag (*958).

Johann Wolfgang Goethe über Hebels Alemannische Gedichte in der Jenaisdien Allgemeinen Literaturzeitung vom 13. Februar 1805. Der Verfasser dieser Gedichte, die in einem Oberdeutschen Dialekt geschrieben sind, ist im Begriff sich einen eigenen Platz auf dem Deutschen Parnaß zu erwerben. Sein Talent neigt sich gegen zwey entgegengesetzte Seiten. An der einen beobachtet er mit frischem frohem Blick die Gegenstände der Natur, die in einem festen Daseyn, Wachstum und Bewegung ihr Leben aussprechen und die wir gewöhnlich leblos zu nennen pflegen und nähert sich der beschreibenden Poesie; doch weiß er durch glückliche Personificationen seine Darstellung auf eine höhere Stufe der Kunst heraufzuheben. An der anderen Seite neigt er sich zum Sittlich» Didaktischen und zum Allegorischen; aber auch hier kommt ihm seine Personification zur Hülfe, und wie er dort seine Körper für einen Geist fand, so findet er hier für seine Geister einen Körper. Dieß gelingt ihm nicht durchaus; aber wo es ihm gelingt, sind seine Arbeiten vortrefflich, und nach unserer Überzeugung verdient der größte Theil dieses Lob. Wenn antike, oder andere durch plastischen Kunstgeschmack gebildete Dichter das soge» nannte Leblose durch idealische Figuren beleben und höhere, göttergleiche Naturen als Nym» phen, Dryaden und Hamadryaden an die Stelle der Felsen, Quellen, Bäume setzen, so ver= wandelt der Verfasser diese Naturgegenstände zu Landleuten und verbauert auf die naivste, anmutigste Weise, durchaus das Universum; so daß die Landschaft, in der man denn doch den Landmann immer erblickt, mit ihm in unserer erhöhten und erheiterten Phantasie nur eins auszumachen scheint. 4 Das Local ist dem Dichter äußerst günstig. Er hält sich besonders in dem Landwinkel auf, den der bei Basel gegen Norden sich wendende Rhein macht. Heiterkeit des Himmels, Fruchte barkeit der Erde, Mannichfaltigkeit der Gegend, Lebendigkeit des Wassers, Behaglichkeit der Menschen, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe, zudringliche Gesprächsformen, neckische Sprach weise, so viel steht ihm zu Gebot, um das was ihm sein Talent eingibt, auszuführen. Gleich das erste Gedicht enthält einen sehr artigen Anthropomorphism. Ein kleiner Fluß, die genannt, auf dem Feldberg im Oesterreichischen entspringend, ist als ein immer fortschreitendes und wachsendes Bauernmädchen vorgestellt, das, nachdem es eine sehr be= deutende Berggegend durchlaufen hat, endlich in die Ebene kommt und sich zuletzt mit dem Rhein vermählt. Das Detail dieser Wanderung ist außerordentlich artig, geistreich und man= nichfaltig, und mit vollkommener, sich selbst immer erhöhender Stätigkeit ausgeführt. Wenden wir von der Erde unser Auge an den Himmel, so finden wir die großen leuch= tenden Körper auch als gute, wohlmeinende, ehrliche Landleute. Die Sonne ruht hinter ihren Fensterläden; der Mond, ihr Mann, kommt forschend herauf, ob sie wohl schon zur Ruhe sey, daß er noch eins trinken könne; ihr Sohn, der Morgenstern, steht früher auf als die Mutter, um sein Liebchen aufzusuchen . . . Jahres= und Tageszeiten gelingen dem Verfasser besonders. Hier kommt ihm zu Gute, daß er ein vorzügliches Talent hat, die Eigenthümlichkeiten der Zustände zu fassen und zu schib dern. Nicht allein das Sichtbare daran, sondern das Hörbare, Riechbare, Greifbare, und die aus allen sinnlichen Eindrücken zusammen entspringende Empfindung weiß er sich zuzu= eignen und wiederzugeben. Dergleichen sind, der Winter, der Jänner, der Sommerabend, vor= züglich aber Sonntagsfrühe ein Gedicht, das zu den besten gehört, die jemals in dieser Art gemacht worden . . . Deutet nun der Verfasser an allen genannten Gedichten immer auf Sittlichkeit hin, ist Fleiß, Tätigkeit, Ordnung, Mäßigkeit, Zufriedenheit überall das Wünschenswerte, was die ganze Natur ausspricht, so gibt es noch andere Gedichte, die zwar directer, aber doch mit großer Anmuth der Erfindung und Ausführung auf eine heitere Weise vom Unsittlichen ab und zum Sittlichen hinleiten sollen. Dahin rechnen wir den Wegweiser, den Mann im Mond, die Irrlichter, das Gespenst an der Kanderer Straße, von welchem letzten man beson= ders auch sagen kann, daß in seiner Art nichts Besseres gedacht noch gemacht worden ist. Das Verhältniß von Eltern zu Kindern wird auch von dem Dichter öfters benutzt, um zum Guten und Rechten zärtlicher und dringender hinzuleiten. Hierher gehören die Mutter am Christabend, eine Frage, noch eine Frage. Hat uns nun dergestalt der Dichter mit Heiterkeit durch das Leben geführt, so spricht er nun auch durch die Organe der Bauern und Nachtwächter die höheren Gefühle von Tod, Vergänglichkeit des Irdischen, Dauer des Himmlischen, vom Leben Jenseits, mit Ernst, ja melancholisch aus. Auf einem Grabe, Wächterruf, der Wächter in der Mitternacht, die Ver= gänglichkeit sind Gedichte, in denen der dämmernde, dunkle Zustand glücklich dargestellt wird. Hier scheint die Würde des Gegenstandes den Dichter manchmal aus dem Kreise der Volkspoesie in eine andere Region zu verleiten. Doch sind die Gegenstände, die realen Um= gebungen, durchaus so schön benutzt, daß man sich immer wieder in den einmal beschrie= benen Kreis zurückgezogen fühlt. Überhaupt hat der Verfasser den Charakter der Volkspoesie darin sehr gut getroffen, daß er durchaus, zarter oder derber, die Nutzanwendung ausspricht. Wenn der höher Gebildete von dem ganzen Kunstwerke die Einwirkung auf sein inneres Ganze erfahren, und so in einem höheren Sinne erbaut seyn will, so verlangen Menschen auf einer niederen Stufe der Cultur die Nutzanwendung von jedem einzelnen, um es auch sogleich zum Hausgebrauch benutzen zu können. Der Verfasser hat nach unserem Gefühl das Fabula docet meist sehr glücklich und mit viel Geschmack angebracht, so daß, indem der Charakter einer Volkspoesie ausgesprochen wird, der ästhetisch Genießende sich nicht verletzt fühlt. Die höhere Gottheit bleibt bei ihm im Hintergrund der Sterne . . . Allen diesen innern guten Eigenschaften kommt die behagliche naive Sprache sehr zu Statten. Man findet mehrere sinnlich bedeutende und wohlklingende Worte, theils jenen Ge= gegenden selbst angehörig, theils aus dem Französischen und Italiänischen herübergenom= men, Worte von einem, zwey Buchstaben, Abbreviationen, Kontractionen, viele kurze leichte Sylben, neue Reime, welches, mehr als man glaubt, ein Vortheil für den Dichter ist. Diese Elemente werden durch glückliche Konstructionen und lebhafte Formen zu einem Styl zu= sammengedrängt, der zu diesem Zwecke vor unserer Büchersprache große Vorzüge hat... Wir fügen ein Musterstück unserer Anzeige bei, und empfehlen noch einmal angelegent= lieh dieses Bändchen allen Freunden des Guten und Schönen1).

*) Johann Peter Hebel, Alemannische Gedichte, Karlsruhe 1947, Verlag C. F. Müller. Nachwort von M. Letsch, S. 137 ff.

Goethe liest Hebels Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen" vor.

„Neulich hat uns Wolff bei Frau von Schardt ein paar Lieder von Hebel deklamiert. — Die Geschichte von dem Bergmann in Falun hat uns der Geheimrat Goethe in einer Gesellschaft vorgelesen. Wir haben alle geweint. So rührend hat er es mit seiner schönen Stimme gelesen- Er sagt: es sei die erste Geschichte in allen 42 Taschenbüchern, die in dieser Messe erschienen sind." So schrieb Charlotte von Schiller am 23. 11.1810 an ihren Sohn Karl. Die Kalendergeschichte scheint Goethe so bald nicht mehr losgelassen zu haben. Denn noch ein halbes Jahr später, am 27. 5 . 1811, schreibt Schillers Witwe an Karl: „Mache doch die Tante aufmerksam auf die Geschichte des schwedischen Bergmanns, die so prächtig erzählt ist. Geheimrat Goethe kann sie nicht genug lesen und loben."

Aus: Schillers Sohn Ernst. Eine Briefsammlung mit Einleitung von K. Schmidt. Paderborn 1893, S. 62 f. Zitiert nach „Goethes Gespräche", hgg. von F. v. Biedermann, 2. Aufl. (1909), 2. Bd., S. 100, Nr. 1355 u. 1355a.

6 Johann Peter Hebel zu seinem 100.Todestag

Von W alter Benjamin

Ein Wort zur Einführung Shandy“, Laurence Sterne, das Attribut der Dem freundlichen Entgegenkommen des Unsterblichkeit zuzuerkennen, wird diese Suhrkamp-Verlags verdanken wir die Mög­ wenigen Seiten in dem Schrifttum über Hebel lichkeit, die in der „Badischen Heimat“ ver­ nicht missen wollen. Walther Osterrieth einigte Gemeinschaft der Hebelfreunde mit Walter Benjamins bedeutendem Essay be­ Wenn man heute, an seinem 100. Todes­ kannt zu machen, der 1926 zu Hebels 100. tage, J. P. Hebel nicht als „Verkannten“ aus­ Todestag im „Berliner Börsenkurier“ erschien graben und dem öffentlichen Interesse emp­ und trotz seiner Aufnahme in Benjamins fehlen kann, ist das weit mehr sein eigenes „Schriften“ (2 Bände, 1955, Suhrkamp) Verdienst als das der Nachwelt. Verdienst wohl vielen Verehrern unseres alemanni­ der souveränen Bescheidenheit, die auch schen Dichters entgangen sein dürfte. Über postum in eine solche Rolle sich nicht schicken den Verfasser, der 1892 in Berlin geboren würde und ein Jahrhundert um die Einsicht wurde, äußerte sich einer unserer Größten. betrog, im „Schatzkästlein des Rheinischen nennt Benjamins Hausfreundes“ eines der lautersten Werke Abhandlung „Goethes Wahlverwandtschaf­ deutscher Prosa-Gold-Schmiederei zu be­ ten“ einen „schlechthin unvergleichlichen sitzen. Schuld aber dieses 19. Jahrhunderts, Aufsatz“ und fährt fort: „Ich kann nur dieser Nachwelt, wenn solche Einsicht neu sagen, daß er in meinem inneren Leben oder gar paradox klingt — des schauerlichen Epoche gemacht hat und daß sich mein Den­ Bildungshochmuts, der den Schlüssel dieser ken, soweit nicht die eigene Arbeit alle Auf­ Schatulle unter Bauern und Kinder verwor­ merksamkeit erzwingt, kaum von ihm hat fen hat, weil Volksschriftsteller nun einmal lösen können. Wunderbar ist mir — um von hinter jedem noch so gottverlassenen „Dich­ dem scheinbar „Äußeren“ zu sprechen — die ter“ rangieren. Zumal, wenn ihre Quelle im hohe Schönheit der Darstellung bei einem so Dialekt fließt. Und — zugegeben — eine beispiellosen Eindringen ins Geheimnis; diese trübe, im Fall, daß sie verstockt, sich selber Schönheit entspringt aus einem völlig siche­ genug sei, eitel gegen das Schrifttum der ren und reinen Denken, wovon ich wenig Nation, borniert gegen Gehalte der Mensch­ Beispiele weiß. Sollte dieser Mann ein jün­ heit sich abheben will. Doch Hebels auf­ gerer, etwa weit unter meinen Jahren sein, geklärter Humanismus schützte ihn davor. so wäre ich von dieser Reife aufs Äußerste Nichts liegt der provinziell beschränkten betroffen“ (Brief vom 20. 11. 1923 an Florens Heimatkunst ferner als der erklärte Kosmo­ Chr. Rang, Die Neue Rundschau 1959, politismus seiner Schauplätze. Moskau und S. 440). Im Jahre 1934 mußte Benjamin in Amsterdam, Jerusalem und Mailand bilden die Emigration — nach Paris — gehen, und den Horizont eines Erdkreises, in dessen in der Nacht vom 26. September 1940 nahm Mitte — von rechtswegen — Segringen, er sich auf der Flucht vor den Schergen beim Brassenheim, Tuttlingen liegen. So steht es Übergang über die Pyrenäen im spanischen um alle echte, unreflektierte Volkskunst: sie Grenzort das Leben. — Auch wer sich von spricht Exotisches, Monströses mit der glei­ uns nicht dazu verstehen kann, dem im chen Liebe in gleicher Zunge aus wie die Schlußsatz genannten Verfasser des „Tristram Angelegenheiten des eigenen Hauswesens. 7 Das schauend aufgerissene Auge dieses Geist­ die Moral zu machen. Zahlreiche Spitzbuben­ lichen und Philanthropen bezieht sogar das geschichten hat Hebel aus älteren Quellen ge­ Weltgebäude selber der dörflichen Oekono- schöpft; aber das Gauner- und Vaganten­ mik noch ein, und Hebel handelt von Plane­ temperament des Zundelfrieders und des ten, Monden und Kometen nicht als Magi­ Heiners und des roten Dieters ist sein eigenes ster, sondern als Chronist. Da heißt es etwa gewesen. Als Junge war er für seine Streiche von dem Mond (der nun mit einemal als berüchtigt, und vom erwachsenen Hebel er­ Landschaft wie auf dem berühmten Bilde zählt man, Gail, der berühmte erste Phreno- von Chagall vor einem steht) „Der Tag loge, sei einmal ins Badische gekommen; da dauert dort an einem Ort so lange als un­ habe man auch Hebel ihm präsentiert und gefähr zwei von unseren Wochen und ebenso um ein Gutachten gebeten. Aber unter un­ lange die Nacht, und ein Nachtwächter muß deutlichem Gemurmel habe Gail beim Be­ sich schon sehr in achtnehmen, daß er in den fühlen nichts als die Worte „ungemein stark Stunden nicht irre wird, wenn es einmal an­ ausgebildet“ vernehmen lassen. Und Hebel fängt 223 zu schlagen oder 309“. Daß dieses selber, fragend: „Das Diebsorgan?“ Wie viel Mannes Lieblingsschriftsteller war, Dämonisches in diesem Hebelschen Schwank­ fällt nach solchen Sätzen nicht schwer zu er­ wesen umgeht, zeigen die großen Steindrucke, raten. Versteht sich, daß solche Männer, die Dambacher im Jahre 1842 einer Ausgabe „zarte“ Empiriker nach Goethes Wort, weil der „Schwänke des Rheinischen Hausfreun­ ihnen alles Faktische schon Theorie, zumal des“ beigab. Diese ungemein starken Illu­ jedoch das anekdotische, das kriminelle, das strationen sind gleichsam Zinken auf dem possierliche, das lokale Faktum als solches Pasch- und Schleichweg, auf dem die son­ schon moralisches Theorem war, einen höchst nigeren Halunken von Hebel Verkehr mit sprunghaften, skurrilen, unableitbaren Kon­ den düsteren, schrecklichen Kleinbürgern des takt mit der ganzen Breite des Wirklichen Büchnerschen „Wozzeck“ treiben. Denn die­ hatten. Jean Paul empfiehlt für Säuglinge in ser Pastor, der das Handeln zu schildern der „Levana“ Branntwein und verlangt, daß verstand wie keiner unter den deutschen sie Bier kriegen. Viel unanfechtbarer stellt Schriftstellern sonst und alle Register vom Hebel Verbrechen, Gaunereien, Bubenstreiche niedrigsten Schacher bis zur schenkenden in das Anschauungsmaterial seiner Volks­ Großmut zu ziehen wußte, war nicht der kalender ein. Und hier, wie sonst in allen Mann, das Dämonische im bürgerlichen Er­ seinen Sachen, entspringt dann die Moral nie werbsleben zu übersehen. Die Schulung des an der Stelle, wo man nach Konventionen Theologen brachte er dazu mit. Gradlinig sie erwartet. Jeder weiß, wie der Barbier­ aber wirkt protestantische Disziplin auch in junge von Segringen es sich getraut, dem Hebel, dem Prosaiker, fort. Sollte im All­ „Fremden von der Armee“ den Bart zu gemeinen es zu eng gegriffen sein — auf ihn scheren, weil doch kein anderer den Mut hat. trifft ohne jeden Zweifel zu, daß neuere „Wenn ihr mich aber schneidet, so stech ich’ deutsche Prosa eine höchst gespannte, höchst euch tot“. Und der dann am Schluß: „Gnä­ dialektische Auseinandersetzung zwischen diger Herr, Ihr hättet mich nicht erstochen, zwei Polen ist. Einem konstanten und einem sondern wenn Ihr gezuckt hättet und ich variablen: der erste ist das Deutsch der hätt’ Euch ins Gesicht geschnitten, so wär Lutherbibel und der zweite die Mundart. ich Euch zuvor gekommen, hätt’ Euch augen­ Wie sich bei Hebel beide durchdringen, das blicklich die Gurgel abgehauen und wär auf ist der Schlüssel seiner artistischen Meister­ und davon gesprungen“. Das ist Hebels Art, schaft. Sie ist gewiß nicht einzig sprachlicher Illustration zu J. P. Hebels Kalendergeschichte „die nasse Schlittenfahrt' Lith. Dambacher

9 Natur. Wenn ihm im „Unverhofften Wieder­ Auseinandersetzung des überkommenen sehen“ die Schilderung eines Zeitverlaufes Hochdeutsch mit der Mundart, wobei denn von 50 Jahren, da eine Braut um ihren ver­ für den Wortschatz (wie bei Luther) die unglückten Liebsten trauert, den Bergmann, krausen Kostbarkeiten Hobelspänen ähnlich diese unvergleichliche Stelle eingibt: „Unter­ abfallen. „Dann geht er (der verständige dessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal Mann) mit guten Gedanken seines Weges durch ein Erdbeben zerstört, und der Sieben­ weiter und kann sich nicht genug erschauen jährige Krieg ging vorüber, und Kaiser an den blühenden Bäumen und farbigen Franz I. starb, und der Jesuitenorden wurde Matten umher“. Dergleichen Sätze — und aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaise­ das „Schatzkästlein“ ist deren fast ununter­ rin Maria Theresia starb, und der Struensee brochene Folge — sollte man endlich in einer wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und Gesamtausgabe bereit wissen, weder als Vor­ die vereinigte französische und spanische wand modischer Illustrationen noch als bil­ Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die lige Schulprämie, sondern als Monument Türken schlossen den General Stein in der deutscher Prosa gedacht. In solcher Ausgabe, Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der welche noch fehlt, hätte man nachzuschlagen. Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav Denn diesen Hebelschen Geschichten ist von Schweden eroberte russisch Finnland, eigentümlich und ein Siegel ihrer Vollkom­ und die französische Revolution und der menheit, wie schnell sie vergessen werden. lange Krieg fing an, und der Kaiser Leo­ Glaubt man schon, eine im Sinne zu haben, pold II. ging auch ins Grab. Napoleon er­ so wird die Fülle dieser Texte immer eines oberte Preußen, und die Engländer bombar­ Besseren belehren. Ein Schluß, den man nie dierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten „kennen“, höchstens auswendig wissen kann, und schnitten. Der Müller mahlte, und die wiegt nicht selten alles auf, was vorher ging. Schmiede hämmerten, und die Bergleute „Dies Stücklein ist noch ein Vermächtnis gruben nach den Metalladern in ihrer unter­ von dem Adjunkt, der jetzt in Dresden ist. irdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute Hat er nicht dem Hausfreund einen schönen in Falun im Jahre 1809“ — wenn er so den Pfeifenkopf von Dresden zum Andenken Verlauf von fünfzig Trauerjahren darstellt, geschickt, und ist ein geflügelter Knabe darauf so spricht da eine Metaphysik, die erfahren und ein Mägdlein und machen etwas mit­ ist und mehr zählt als jede „erlebte“. In einander. Aber er kommt wieder, der Ad­ anderen Fällen aber beruht die grenzenlose junkt.“ Damit schließt „Die Probe“. Wem künstlerische Freiheit doch auf einer Sprache, Hebel nicht aus solchem Satz tief entgegen­ die stellenweise diktatorisch, wie die Goethe- blickt, der wird ihn auch in anderen nicht ische im zweiten Teil des „Faust“ sich ver­ finden. So als Erzähler sich in die Geschichte nehmen läßt. Solche Autorität kommt ja einzumischen, ist nicht romantische Art. natürlich nicht vom bloßen Dialekt, der Eher schon die des unsterblichen Sterne. immer unmaßgeblich und befangen bleibt, Aus Walter Benjamin: Schriften, Band II, 1955, wohl aber aus der kritischen, gespannten im Suhrkamp-Verlag, S. 279—285.

10 Johann Peter Hebel, der Mann und sein Werk Von E lf r ie d e G o t t lie b f , Tauberbischofsheim „Ich bin von armen, aber frommen Eltern Sänger der Heimat hat vom Vater her einen geboren, habe die Hälfte der Zeit in meiner Tropfen schweifendes Abenteurerblut über­ Kindheit bald in einem einsamen Dorf, bald kommen. Den markantesten Vertreter seiner in vornehmen Häusern einer berühmten Rasse, in dem sie sich für alle Zeiten ver­ Stadt zugebracbt. Da habe ich frühe gelernt klärte, befähigte dazu vielleicht nicht am arm sein und reich sein. Wiewohl, ich bin wenigsten die relative Freiheit, wie sie aus nie reich gewesen, ich habe gelernt nichts ha­ der Beimischung von Bestandteilen einer ben und alles haben, mit den Fröhlichen anderen deutschen Rasse sich ergeben mußte. froh sein und mit den Weinenden traurig. Wir sprechen mit Absicht von „Beimi­ Diese Vorbedeutung von dem Schicksal mei­ schung“. Kind einer alemannischen Mutter ner künftigen Tage hat mir mein Gott in und eines fränkischen Vaters, erwies sich meiner Kindheit gegeben.“ (Aus einer un­ Hebel gleichwohl in den Fundamenten seines vollendeten Antrittspredigt.) Wesens, innerlich ebenso wie äußerlich, Was vorstehendes Bruchstück einer Selbst­ durchaus als Alemanne. Wärme des Gemüts, charakteristik nicht ausspricht, das ist die bedächtige Langsamkeit, gründlicher Ernst, Tatsache, durch die allein es für uns Inter­ bis zur Schwerfälligkeit gesteigert, kenn­ esse gewinnt: die angedeuteten Bedingungen zeichnen ihn. Aber wie Sonnenfunken auf förderten die Entwicklung eines Genius, den einer dunklen Wasserfläche blitzen und spie­ der Prüfstein der 200 Jahre, die seit seiner len darüber hin die Lichter fränkischer Mun­ Geburt verflossen sind, als einen unserer terkeit und Laune. Größten bewährt hat. Das Schicksal traf weite Anstalten, um die Welcher Art sind diese Bedingungen? Der Voraussetzungen für die Entstehung des Ton der wenigen Worte ebenso wie ihr In­ Genius zu schaffen. Hebels fränkischer Vater halt bezeichnet den schlichten Mann, der, entstammte dem damals pfälzischen Städt­ einfachsten, naturnahen Verhältnissen ent­ chen Simmern auf dem Hunsrück. Wir füh­ stammend, jedoch von Anfang an nicht völ­ len uns an Schillers Vater erinnert, wenn uns lig auf sie beschränkt, ihnen allmählich ent­ berichtet wird von Johann Jakob Hebels wächst: um indessen in der Entfernung die Sinn für Dichtkunst, dem Bedürfnis, seine Wesensart, die durch jene Verhältnisse ge­ Kenntnisse und Erfahrungen zu erweitern. bildet wurde, umso bewußter zu ergreifen, Dieser Drang litt ihn nicht lange in den eng umso beharrlicher zu bewahren. Eine ur­ beschränkten heimischen Verhältnissen. Früh ließ der junge Weber Gewerbe und Heimat sprünglich gegebene bodenständige Grund­ im Stich, um in der Ferne sein Glück zu lage kräftigster und gesundester Art erfährt suchen. Er nahm Kriegsdienste in Basel. Als ihre Auflockerung durch einen hinzutreten­ Diener begleitete er den damaligen Major den Gegensatz, die sie ihrer dumpfen, ge­ in französischen Diensten Iselin nach Flan­ nügsamen Selbstverständlichkeit entreißt und dern, an den Niederrhein und später nach eben damit produktiv macht. Corsica. Den weit in der Welt umhergekom­ Etwas Ähnliches, wie für den Entwick­ menen Soldaten gewöhnte eine junge Ale- lungsverlauf, läßt sich bei Hebel bereits in- mannin wieder an Seßhaftigkeit: Ursula bezug auf den entscheidenderen Faktor der örtlin von Hausen, die bei Iselins in Dien­ elterlichen Voraussetzungen feststellen. Der sten stand. Das Ehepaar Hebel lebte winters 11

J in Hausen, wo Johann Jakob sein altes man nicht ähnliche Schicksale bei ihnen ver­ Handwerk am Webstuhl trieb, um im Som­ muten? Und doch: nichts kann verschiedener mer bei der früheren Herrschaft in Basel sein. Dort ungeheure Erschütterungen, Sturm Aufnahme und Verdienst zu finden: ein und Kampf: der Entwicklungsgang des Tra­ periodischer Wechsel des Orts und der Ver­ gikers ist ein ununterbrochenes Ringen auf hältnisse, den später auch die Witwe mit Leben und Tod mit vernichtenden Gewalten. dem Kinde beibehielt. Hier die gleichmäßig-ruhige, sprunglos­ Nichts in der Welt entspricht vollkommen unmerkliche Entfaltung des episch-lyrisch seiner Idee; überall bringt das empirische bestimmten Künstlers. Hebels Existenz ent­ Dasein Abzüge und Fehler mit sich. Waren behrt, obschon der weite gesellschaftliche für den Volksdichter die, durch den fränki­ Abstand des Endes vom Anfang solche er­ schen Einschlag aufgelockerte, alemannische warten läßt, gleichwohl so völlig aller er­ Rassensubstanz, das von zeitweiligem Stadt­ regenden dramatischen Zwischenfälle, daß aufenthalt unterbrochene und desto inten­ man sich bereits mehr als einmal bewogen siver gelebte Dorfleben günstigste Vorbe­ fand, dem berühmten Manne solche anzu­ dingungen, so fehlte ihm eine andere, die dichten. Aber die falsche Romantik haftet zur Bildung eines naturhaften Genies fast in keiner Weise an seinem Bilde; es zeigt am unerläßlichsten scheint: die Familie. In ausschließlich die Züge der stets unpatheti­ dieser Hinsicht war Hebel sogar ungünstiger schen Natur. gestellt als ein anderes dichterisch begabtes Sein äußeres Leben läßt sich daher weiter­ Handwerkerkind, das durch eine traurige hin fast mit der Angabe einiger, an die Jugend ging: der (infolge zufälliger Na­ offiziellen Wendepunkte anknüpfender Da­ mensähnlichkeit noch heute nicht gar selten ten erledigen. Von Beginn an stand der mit ihm verwechselte) Friedrich Hebbel. Geistlichen Beruf vor seiner Seele als ein Ziel, Hebels Vater starb im Jahre nach seiner Ge­ das weder fremder Zwang, wie bei Schiller, burt, und eine einzige, wenige Wochen alte noch Wechsel der Gesinnung, von dem er Schwester folgte ihm bald. Auch die Mutter verschont blieb, ihm je entrückten. Auch durfte er nur bis zum dreizehnten Jahre zeigt sich die Erreichung dieses Ziels für den behalten. In diesem noch kindlichen Alter früh verwaisten Sohn des Handwerkers und wurden ihm alle naturgegebenen menschli­ der Magd merkwürdigerweise kaum mit chen Beziehungen abgeschnitten, und der nennenswerten Schwierigkeiten verknüpft. Dichter, der weit entfernt von individuali­ Noch zu Lebzeiten der Mutter ging er von stischer Sonderung, aus innigster Verbunden­ der Hausener Dorfschule auf die Latein­ heit mit dem Ganzen heraus schuf, stand schule zu über. Völlig unbemit­ isoliert in der Welt. telt hinterließ Ursula Hebel ihr Kind nicht; Wir haben den Namen Friedrich Hebbels indessen, der Hauptanteil an der Bestreitung erwähnt. Es lohnt sich, den Vergleich zwi­ seines Studiums und Unterhalts fiel doch schen den beiden, aus dem Volke hervorge­ wohlhabenden Gönnern zu. Der begabte, gangenen Großen ein wenig weiter zu einnehmende Knabe fand solche leicht, und, führen. Ein Maurer- und ein Webersohn; wie es scheint, blieb die Beziehung zu ihnen beide ausgezeichnet durch poetisches Talent; fast ungetrübt von der ätzenden Bitterkeit, beide gehören der deutschen Nation an; wie Friedrich Hebbel sie in gleichen Ver­ dreizehn Jahre ihres beiderseitigen Lebens hältnissen empfand. Johann Peters Mutter fallen noch in die gleiche Zeit; beider Weg hatte ihn bereits ein halbes Jahr vor ihrem führt aus den Niederungen zur Höhe. Sollte Tode dem Diakonus Obermüller zu Schopf­

12 heim übergeben, der ihn behielt, bis er, beim einzigartigen Berg gesponnen; in frohen Übergang in das Karlsruher Gymnasium, Freundschafts-Bündnissen mit dem Prorek­ von dem Hofdiakonus Preuschen in sein tor Tobias Günttert und dem Vikar W. F. Haus aufgenommen wurde. Achtzehnjährig Hitzig, die, unter scherzhaft-mystischen For­ zum Studium der Theologie nach Erlangen men, genügend ernsten Gehalt in sich bargen, entlassen, zeigte sich der muntere, jugend­ um ein ganzes Leben zu durchdauern; in un­ liche Geist so ungebeugt und unbeschwert ausgesprochener Neigung zu Güntterts schö­ von der Armut, wie sie den studierenden ner Schwägerin Gustave Fecht. Friedrich Hebbel verzehrte, daß man von Dieser angenehme Zustand hatte nur fröhlichen Burschenstreichen erzählt. Ohne­ einen Nachteil: daß er sich ins Unabsehbare hin lag Hebels auf das Konkrete und Leben­ ausdehnen zu wollen schien. Noch im ein­ dige eingestelltem Sinn die Beschäftigung mit unddreißigsten Lebensjahr, nach acht in Lör­ abstrakten Speculationen nicht; davon zeugt rach, elf im Dienst der Kirche verbrachten noch später das komische Grausen, mit dem Jahren, war Hebel ohne feste Anstellung er die Kantische Philosophie, sogleich nach und so schlecht besoldet, daß er den Rest dem ersten Versuch, Einblick in sie zu ge­ seines kleinen Vermögens zusetzen mußte. winnen, wieder fallen ließ. Für jetzt indes­ Seine Gesuche blieben ohne Erfolg. sen ergab sich aus dieser Abneigung ein nur Und doch scheint es Schicksalsfügung in mittelmäßig bestandenes Schluß-Examen, einem höheren Sinne, welche dem Leben des infolgedessen sich die Gönner, einigermaßen Mannes die von seiner Veranlagung und enttäuscht, vorderhand zurückzogen und ihn Neigung unmittelbar geforderte Vollendung seinem Schicksal überließen. versagte. Hätte er die ersehnte Pfarrei im Dies Schicksal führte den Predigtamtskan­ Oberland erreicht, Gustave Fecht, wie wohl didaten dahin, wohin ihn selbst wohl am anzunehmen ist, als Pfarrfrau heimgeführt, meisten verlangte: in die alte Heimat. Zu­ so wäre ihm persönlich damit ohne Zweifel nächst als Hauslehrer, dann als Vikar beim tieferes Genügen geschehen, als die glanz­ Pfarrer Schlotterbeck in dem Markgräfler volle Stellung, zu der er in der Landeshaupt­ Dorf Hertingen, später als Präceptorats- stadt emporstieg, ihm je zu gewähren ver­ vikar in Lörrach, erneuerte der Erwachsene mochte. Ob der solchermaßen völlig befrie­ nunmehr bewußt die Beziehungen zu dem digte uns aber die Gaben geschenkt hätte, Boden seiner Kindheit, in einem Zusammen­ um derentwillen wir seiner jetzt, zwei Jahr­ gehörigkeitsgefühl, so stark und intensiv, wie hunderte nach seiner Geburt, dankbar geden­ es nur lange Trennung zu zeitigen vermag. ken, bleibe dahingestellt. Der Ursprung sei­ Diese Jahre untergeordneter Stellung sind ner späteren Poesie läßt es mindestens zwei­ vielleicht die glücklichsten, die Hebel erlebte. felhaft erscheinen. Seine berufliche Tätigkeit brachte ihm Be- Schwerlich hat wohl Hebel selbst, da er * friedigung und Anerkennung. Zugleich aber im Jahre 1791 als Subdiakonus die zweite ließ sie ihm Zeit genug für ein ausgiebiges Assistentenstelle am Karlsruher Gymnasium Eigenleben. Und dieses entfaltete sich in übernahm, vorausgeahnt, daß damit die heimatseligen Streifereien durch die geliebte künstlich geschaffene Residenz — der zu Landschaft, deren verborgenstes Fleckchen damaliger Zeit die Bemühungen und die er sich innig und unverlierbar zu eigen Persönlichkeit des hervorragenden Fürsten machte. Die Wunderwelt des Belchen hat Karl Friedrich ihren Zufallscharakter noch Hebel erst eigentlich entdeckt und hat mit nicht hatten nehmen können, und die arm den Freunden einen eigenen Mythos um den war inbezug auf Schönheit der landschaft­ 13 liehen Umgebung — das Dorfkind für im­ blieb er Zeit seines Lebens Sprößling des mer, das heißt für die letzten 35 Jahre Volkes, blieb dem losgelösten Subjektivismus seines Lebens, in ihre Mauern aufnahm. der naturentfremdeten Schichten fern. Viel­ Nichts hätte weniger den Wünschen des jun­ leicht läßt sich aus jener seiner Eigenschaft gen Oberländers entsprechen können als ein zögernder Passivität, schwerblütigen Behar­ dauerndes Festgeschmiedetsein an einem sol­ rungsvermögens, wie es dem Volke eigen ist, chen Ort. Es ist daher gewiß alles anders als auch eine andere Tatsache erklären, die frei­ streberischer Ehrgeiz, mutet vielmehr eher lich ebensowohl ganz im Gegenteil als ein an wie ein verständiges Sich-fügen in den fremder Zug fast Grillparzerischer Lebens­ durch innere Logik getriebenen Gang der scheu in des alemannischen Dichters lebens­ Dinge, wenn Hebel nunmehr von Stufe zu gesättigtem Bilde gedeutet werden könnte; Stufe emporsteigt auf einer Rangleiter, die insbesondere wird die letztere Auffassung ihn in Karlsruhe festhält. Aus dem Subdia- nahe gelegt durch die bekannten, unter sei­ konus wird 1792 der Hofdiakonus, 1798 nen Freunden kolportierten Worte: „Als ich der außerordentliche Professor, 1805 der heiraten wollte, konnte ich nicht, und als ich Kirchenrat, 1806 der Lyzeumsdirektor, 1814 konnte, wollte ich nicht“. Völlig ist die das Mitglied des evangelischen Oberkirchen­ Frage, warum Hebel die treu geliebte Gu­ rats, der obersten Kirchen- und Schulbehörde. stave Fecht, die seine Neigung offenbar er­ 1819 endlich wurde der hervorragende Be­ widerte und die nie einem anderen Mann die amte vom Großherzog Ludwig als Prälat Hand gereicht hat, nicht als Gattin nach zum Haupt der evangelischen Landeskirche Karlsruhe holte, wohl kaum lösbar. Jeden­ gemacht. Am 22. September 1826 starb er, falls: schon in früher Kindheit der Familie 66 Jahre alt, auf einer Prüfungsreise begrif­ beraubt, verblieb er in freiwilliger Einsam­ fen, in und ist daselbst be­ keit bis an sein Ende. graben. Aber es sollte so sein. Die jahrzehntelang Man fühlt sich versucht, die Frage zu nur mit Schmerzen ertragene Verbannung stellen, warum der Mann, dessen Briefe wie­ in eine Stadt, wo auch nicht Weib und Kind der und wieder dem schmerzlichsten Heim­ ihm halfen, Wurzel zu fassen, hat die poeti­ weh Ausdruck geben, anscheinend doch sche Quelle in ihm aufgeschlossen. Deren kaum mehr eine energische Anstrengung ge­ erstes und charakteristischstes Erzeugnis, He­ macht hat, das Ziel seiner Sehnsucht: eine bels alemannische Dichtung, ist ein ausge­ Pfarrei im Oberland zu erreichen. Für den sprochenes Kind des Heimwehs. Die Sehn­ in Karlsruhe bald zu ungewöhnlichem An­ sucht selbst wird in diesem Falle fruchtbar: sehen Emporgestiegenen dürfte dies kaum sie bauti sich in anderer Form die verlorene unmöglich gewesen sein. Indessen, abgesehen Heimat wieder auf. Die heimatliche Land­ davon, daß Beruf und Wirkungskreis von schaft, ihre Tier- und Menschenwelt, ihre solcher Gewichtigkeit doch wohl dem reinen Sitten und Gebräuche, ihre Sagen und ihr Gemütsbedürfnis gegenüber schwer genug Glaube ersteht, von dem organisch ihr zu­ in die Wagschale fallen mußten — Hebel gehörigen Leib ihrer Sprache umkleidet, in war offenbar keine allzu aktive Natur. Es Hebels Poesie so greifbar nahe, so „wirk­ lag ihm näher, sich in stiller, gleichsam epi­ lich“, daß, wer das Wiesental nie mit eige­ scher Beschaulichkeit dem Schalten des nen, wohl aber mit dieses Dichters Augen Schicksals ein- und unterzuordnen, anstatt es gesehen hat, es unter Umständen besser selbsttätig, auf Grund persönlicher Wünsche, kennt, als der, bei dem es sich umgekehrt in eine andere Bahn zu lenken. Auch darin verhält. 14 Und die ganze unerschöpfliche, ungebro­ halber förmlich zu entschuldigen. Erst Hebel chene Fülle der heimischen Natur, des heimi­ hat den Dialekt recht eigentlich literatur­ schen Stammes, drängt in dem Sohne, durch fähig gemacht. In den mittlerweile verflosse­ ihn, zur Erscheinung. Wir haben in Deutsch­ nen anderthalb Jahrhunderten ist das Ver­ land keinen anderen Dichter, in dem sich ständnis für seinen wahren Wert und sein das Volk mit gleicher Unmittelbarkeit offen­ genetisches Verhältnis zur Schriftsprache, bart. Wollen wir über die politischen Gren­ deren tragendes und nährendes Erdreich er zen hinaus gehen, so bietet sich der stamm­ bedeutet, aus den Gelehrtenkreisen auch verwandte zum Vergleich. unter die Laien gedrungen. Und vollends Erdgeruch atmen Hebels Gedichte. Die Un­ heutzutage, wo die energische Bestrebung, schuld und Herrlichkeit ursprünglichen Le­ schon der Schuljugend einen möglichst bens lacht und weint uns aus ihnen entgegen. gründlichen Einblick zu geben in Werden Eine Kraftquelle sprudelt hier, ein Jung­ und Wesen des gesamten Deutschtums, wie es brunnen, aus dem sich in erdenferner Ab­ die verschiedenen Stämme differenzierend straktion und Konvention welk gewordene und ergänzend darstellen, zu einer Angele­ Geschlechter wieder gesund trinken könnten. genheit des Staates geworden ist, sollte die Dieser Born ist sämtlichen deutschen sprachliche Form der Hebelschen Gedichte, Stämmen zugänglich. Denn das Verwurzelt­ als ein unvergleichliches Erkenntnis-Instru­ sein in der Heimat bedeutet für Hebel nicht ment für einen unserer wichtigsten Dialekte, zugleich auch Abgeschlossenheit und Be­ gerade in den nichtalemannischen Gegenden schränkung. Das Wiesentäler Büblein, das die höchste Wertschätzung erfahren. zum Prälaten aufgestiegen war und über die Anfang 1803 waren die „Alemannischen Geschicke des Landes mitberiet, hatte im Gedichte für Freunde ländlicher Natur und Abstand genügend Weit- und Tiefblick er­ Sitten“ erschienen. In welchem Grade die­ worben, um die heimatlichen Eindrücke typi­ selben einen Ausfluß innerer Notwendigkeit sierend weiter zu entwickeln. Ohne im min­ darstellen, könnte u. a. auch die Tatsache desten seinem Naturgrund entfremdet zu bezeugen, daß Hebel der einen Sammlung, werden, aber nach Möglichkeit gesteigert trotz außerordentlich günstiger Aufnahme, und erhöht, wird somit Hebels Alemannen- kein Erzeugnis gleicher Art folgen ließ. tum zum Spiegel, in dem Allgemeindeut­ Heimwehdrang hatte diese Lieder geschaffen; sches, Allgemeinmenschliches sich wieder er­ der Verfasser hatte sich selbst genug getan kennt. damit; bewußte Absicht sollte sie nicht ver­ Die Sprache aber, der nicht hinwegzu­ mehren. Indessen, der Dichter in Hebel, ein­ denkende Körper dieser Seele, dürfte heut­ mal befreit, ruhte noch nicht. Doch befaßte zutage der Verbreitung von Hebels Gedich­ er sich von nun an ausschließlich mit einer ten, über ganz Deutschland wenigstens, kein poetischen Gattung, die seiner uneigennützig Hindernis mehr bieten. Im Gegenteil. Vor beobachtenden Natur vielleicht noch näher Hebel betrachtete der Durchschnittsgebildete, lag, als die Lyrik, und die auch schon in den in fundamentalem Irrtum, die Mundart Gedichten reichliche Verwendung gefunden allgemein als verdorbenes Schriftdeutsch. hatte: mit der Epik. Auch zur Epik mußten Von den poetischen Gattungen glaubte man, ihn, der an eigener Initiative nicht stark daß höchstens die niedere Poesie sich der war, die Umstände und Verhältnisse treiben, „Bauernsprache“ bedienen könne. Die Ein­ sowie sie ihn derselben später wieder ent­ ladung zur Subscription hält es für notwen­ fremdeten. 1802 schrieb er an Hitzig: dig, sich der Verwendung des Alemannischen „Brauer (der damalige Präsident der Ober­ 15 kirchenbehörde) macht mich mit Gewalt zum 1824 erschienene Bearbeitung der „Biblischen Schriftsteller. Ich habe jetzt den Landkalen­ Geschichten.“ Der Dichter, der bei jeder der zu befrachten; wird etwas Schönes wer­ Zeile im Geist „oberländische Kinder be­ den.“ Doch entzog er sich dem an ihn ge­ lauscht“ hat, versetzt die Gestalten eines stellten Ansuchen nicht, empfand vielmehr fernen Landes und Volkes, denen er das sicherlich eine gewisse Freude und Genugtu­ Fremdartige nimmt, mitten unter jene Kin­ ung darüber. Zunächst lieferte er dem „Ba­ der, so daß sie traulich mit den weither ge­ dischen Landeskalender“, später „Der Rhein­ kommenen Gästen wandeln und ihnen innig ländische Hausfreund“ genannt, jährliche nahe zu kommen vermögen. Für den Geist Beiträge, um von 1807 an die Bearbeitung der Bearbeitung — die, zu dem einigen und desselben völlig zu übernehmen. Der Erfolg einenden Urgrund aller christlichen Konfes­ war so groß, daß Hebel die Erzählungen, sionen hinabreichende Frömmigkeit des die er bis zum Jahre 1811 beigesteuert hatte, Mannes, der in froher, vertrauensvoller Hin­ sammelte und als „Schatzkästlein des Rhei­ gabe an das gottbeseelte All, von dem ihn nischen Hausfreundes“ besonders herausgab. nie ein selbstherrlich gewordener Individu­ 1814 bewog ihn der Anstoß, den die Regie­ alismus losriß, sein Leben lebte — zeugt die rung an einer der Geschichten nahm, sich von Tatsache, daß seine biblischen Geschichten, der Herausgabe des Kalenders zurückzu­ ein Jahr nach ihrer Einführung an allen ziehen. evangelischen Schulen Badens, von einem be­ Hebels Epik prägt seinen sich gleich blei­ freundeten katholischen Geistlichen für die benden Grundcharakter erdenechter und katholische Jugend bearbeitet wurden. doch veredelter Volkstümlichkeit, der Gat­ Eine kleine Anekdote belegt dieses tung gemäß, wieder in neuen Schattierungen „schlechthinige Abhängigkeitsgefühl“ Hebels, aus. Mit soviel knapper Gedrängtheit wie sein sicheres Ruhen in der göttlichen Hand, Gemächlichkeit erzählt, geben die kurzen das, als ihr letzter geistiger Gehalt, mit sug­ Geschichtchen ihre Figuren in derber Holz­ gestiver Kraft all seinen Werken entströmt, schnittmanier, erregen sie Lustigkeit, Emst besonders deutlich als die Richtschnur auch und Wehmut in harmonischem Wechsel. Ge­ seines Handelns. Sie knüpft an die 1806 eine wöhnlich laufen sie in eine deutliche Pointe Zeitlang schwebende Möglichkeit der Über­ aus, hinter der sich häufig eine, auch dem siedlung Hebels nach Freiburg an. Als er auf einfachen Gemüt faßliche, direkte Lehre einer zur Begutachtung der in Betracht kom­ oder Ermahnung verbirgt, die fast immer menden Pfarrstelle unternommenen Reise dem Kundigen den Blick in weitere Tiefen unterwegs in Emmendingen nächtens von menschlicher Weisheit eröffnet. Hinter jedem zweifelnden Erwägungen gequält wurde, Wort leuchtet des Dichters ehrwürdiges gewann er Stille der Seele und ruhigen Antlitz, ein gütiges und schalkhaftes Lächeln Schlaf durch seine eigenen, aus dem Munde in den freundlichen Augen. des Nachtwächters ertönenden Worte: Hebels Dichtung geistesverwandt, so daß Un wem scho wider, eb‘s no tagt, sie in diesem Zusammenhang nicht uner­ Di schweri Sorg am Herze nagt, wähnt bleiben darf, ist endlich noch seine, Du arme Tropf, dii Schlof isch hi! auf Bitten der Freunde hin verfaßte und Gott sorgt! Es wär nit nötig gsi.

16 über Hebels Frömmigkeit

Zum 200. Geburtstag des Dichters

von Erwin Kiefer, Heidelberg Wer sich anschickt, über die Frömmigkeit auf dem deutschen Parnaß zu erwerben. Sein eines Menschen zu sprechen oder zu schrei­ Talent neigt sich gegen zwei entgegen­ ben, muß sich darüber im klaren sein, daß er gesetzte Seiten. An der einen beobachtet er an ein zartes, vielleicht an das zarteste Ge­ mit frischem, frohen Blick die Gegenstände webe im Organismus des menschlichen der Natur ... an der anderen Seite neigt er Geistes rührt. Fast will es mir taktlos er­ sich zum Sittlich-Didaktischen und zum scheinen, die Frömmigkeit, das Fromm-sein Allegorischen . . . wenn antike oder andere eines Menschen zum Gegenstand einer Be­ durch plastischen Kunstgeschmack gebildete trachtung zu machen. Man kann die Theo­ Dichter das sog. Leblose durch ideale Figuren logie eines Theologen, die Metaphysik eines beleben und höhere göttergleiche Naturen Philosophen, die Rechtsprinzipien eines als Nymphen ... an die Stelle der Felsen, Juristen einer kritischen Prüfung unter­ Quellen, Bäume setzen, so verwandelt der ziehen, aber mit der Frömmigkeit eines Verfasser diese Naturgegenstände zu Lands­ Menschen hat es seine eigene Bewandtnis. leuten und verbauert auf die Würde der Versuch, die Frömmigkeit zu naivste, anmutigste Weise analysieren, nicht gleichbedeutend sein mit durchaus das Universum...“. dem Versuch, die Schönheit einer Blume etwa Goethe fährt fort: „Überhaupt hat der darin zu erkennen, daß wir sie ihrer Staub­ Verfasser den Charakter der Volkspoesie gefäße berauben? Was bliebe am Ende übrig? darin sehr gut getroffen, daß er durchaus, Ich habe daher nicht die Absicht, Hebels zarter oder derber, die Nutzanwendung Frömmigkeit in ihre Bestandteile zu zer­ ausspricht . . . der Verfasser hat nach unse­ legen, sondern diese wundervolle Blume in rem Gefühl das fabula docet meist sehr ihrer Ganzheit zu erfassen und zur Darstel­ glücklich und mit viel Geschmack angebracht, lung zu bringen. Ferner gedenke ich im Fol­ so daß . . . der ästhetisch Genießende sich genden nicht über die Theologie Hebels zu nicht verletzt fühlt.“ Und auf Hebels Fröm­ sprechen. Diese wäre leicht als ein Kind der migkeit hinweisend, bemerkt Goethe zum Aufklärungszeit des ausgehenden 18. Jahr­ Schluß: „die höhere Gottheit bleibt ihm im hunderts zu charakterisieren mit allen Vor­ Hintergrund der Sterne, und was die posi­ zügen und Schwächen, die nun einmal die­ tive Religion betrifft, so müssen wir ser wie jeder Geistesepoche anhaften. Über gestehen, daß es uns sehr behaglich war, den Dichter, Erzähler und Erzieher Hebel durch ein erzkatholisdtes Land zu wandern, mich näher zu verbreiten, kann ich mir er­ ohne der Jungfrau Maria und den blutenden sparen. Doch scheint es mir nicht unange­ Wunden des Heilands auf jedem Schritte zu bracht zu sein, einleitend einige Urteile be­ begegnen. Von Engeln macht der Dichter rufener Literaturhistoriker über Hebel an­ einen allerliebsten Gebrauch, indem er sie an zuführen1). An erster Stelle stehe das Menschengeschick und Naturerscheinungen Urteil Goethes über unseren Heimat­ anschließt.“ dichter: „Der Verfasser dieser Gedichte, die Ich wende mich zweitens der Beurteilung in einem oberdeutschen Dialekt geschrieben Hebels durch A. F. C. Vilmar zu2). sind, ist im Begriff, sich einen eigenen Platz Vilmar zählt ihn unter die Dichter, die „auf

2 Badische Heimat 1960 17 dem Gebiete des Volkstümlichen die Meister­ sondern man ist es entweder ganz oder über­ schaft erreichten“. Seine Idyllen „haben nicht haupt nicht. Ein Mittleres gibt es nicht. — selten etwas Gelehrtes, Geschmücktes, wo In einem veräußerlichten Sinn wird unter nicht gar Geziertes wie z. B. die Wiese“. Frömmigkeit oft die peinlich genaue Erfül­ Dagegen gehören die Naturschilderungen lung religiös-kirchlicher Vorschriften ver­ „bei weitem zu dem Besten, was wir besit­ standen. Von dieser statutarischen Frömmig­ zen“. „Viel wichtiger ist Hebel als Volks­ keit ist bei Hebel keine Spur zu finden. schriftsteller in der Prosa“, und Vilmar zieht Bei ihm sind alle Lebensäußerungen von dem das Facit, „daß die Erzählungen des Rhei­ warmen Strom einer echten Herzensfröm­ nischen Hausfreundes an Laune, an tiefem migkeit getragen. Unter seinen alemanni­ und wahrem Gefühl, an Lebhaftigkeit der schen Gedichten befindet sich kein einziges Darstellung vollkommen unübertrefflich mit einer ausgesprochen religiösen Über­ sind und wiegen ein ganzes Fuder von schrift, aber fast alle atmen jene Atmo­ Romanen auf!“ sphäre, die uns an die Transzendenz des Wilhelm Scherer3) endlich kommt, in An­ Daseins erinnert. Ob es das „Spinnlein“ oder lehnung an Goethes Urteil, zu dem Ergebnis: „der Abendstern“ ist, ob wir den „Weg­ „während die poetischen Landschaftsmaler weiser“ oder den „Wächterruf“ vernehmen, nur allzuoft einer toten Beschreibung mit — im Sinnlichen ist für Hebel das Übersinn­ lose gereihten Motiven huldigten, wußte liche verborgen, und alles wird für ihn zu Hebel die Natur durch naive Vermensch­ einer Allegorie, deren tieferer Sinn sich dem lichung zu beleben und schuf sich auf dem Leser leicht erschließt, sofern er nicht ganz Wege, den Herder für die Urzeit vermutete, abgestumpfte Organe für die wahre und eine eigene Mythologie, in der es wie unter eigentliche „Welt“ besitzt. — Von religiöser den Bauern zugeht“ . . . „Hebel habe durch Schwärmerei beobachtet man bei Hebel seine tiefe innere Verwandtschaft mit dem nichts. Seine Frömmigkeit ist nüchtern, Gemüte des Volkes den Göttinger Dichter­ klar, einfach. Das „Simplex est natura kreis übertroffen“. veritatis, simplex est natura pietatis“ Nach diesem Exkurs nun zurück zu mei­ trifft auf unseren Dichter voll und nem Thema. Wie offenbart sich Hebels ganz zu. Zu den schönsten Gebilden seiner Frömmigkeit? Worin äußert sie sich? Zu­ Dichtkunst zähle ich seine Naturlieder. So nächst: Frömmigkeit ist zu allen Zeiten und groß auch seine Liebe zur Heimat und zur bei allen Völkern nichts anderes gewesen als Natur ist, so unterliegt er dennoch nicht der die personale Gottbezogenheit, sofern sie Gefahr, daß seine Frömmigkeit ins Panthe- sich als Ehrfurcht, als ehrfürchtige Scheu, als istische verschwimmt. Er sieht die Grenze, ein „mysterium tremendum“ vor dem Leben die den Menschen von Gott trennt, und er standen. Von dieser statutarischen Frömmig­ verwechselt nicht die Geschöpfe mit dem keit ist primär stets ein Ergriffensein des Schöpfer. Für ihn gibt es eine Einheit, eitlen Menschen von einer den Menschen über­ Zusammenhang zwischen Gott und Natur, ragenden Macht. Frömmigkeit beschränkt aber er ist sich dessen bewußt, daß Einheit sich nicht nur auf das Gefühl (wie noch nicht gleichbedeutend ist mit Vereinerleiung. Schleiermacher meinte), sondern affiziert den Bei Hebel lernt man verstehen, was die ganzen Menschen nach Leib, Geist und Seele. Griechen das Thaumazein nannten, das ehr­ Im „Herzen“ fromm, aber im Verstand gott­ fürchtige Bewundern und Sich-wundern über los sein ist ein Mißverhältnis, das letztlich die rätselhaften Vorgänge in der Natur. Er auf einem Mißverständnis der Frömmigkeit freut sich wie ein Kind an den Dingen, beruht. Man kann nicht partiell fromm sein, Naivität der Seele hat nichts zu tun mit 18 Primitivität seelischer Empfindungen. Naive 7. Frömmigkeit ist Gelassenheit der Seele, Dichtkunst ist — recht verstanden — die ist ein Ruhen in Gott, der unser Leben Krone lyrischer Poesie. Das Schaubare ver­ führt8). wandelt sich bei Hebel ins Erkennbare, und In Hebels Frömmigkeit erblicken wir den was unser Erkennen übersteigt, vor dem Urgrund, den Mutterboden seines dichteri­ beugt er sich in Ehrfurcht. Was Goethe die schen und pädagogischen Wirkens. Er ge­ dreifachen Ehrfurchten genannt hat, möchte hörte zu den Stillen im Lande ohne pietisti- ich auf Hebels Frömmigkeit angewendet schen Beigeschmack. Er lebte ein praktisches wissen. Darin liegt der Grund, warum Christentum, frei von orthodoxer Engherzig­ Hebels Frömmigkeit nie aufdringlich oder keit. Wir dürfen ihn zu den sympathisch­ zudringlich wird. Er weiß um die Ehrfurcht sten Vertretern einer religiösen Aufklärung vor dem Nächsten als Person. Er liebt seine zählen. An ihm bewahrheitet sich, was Landsleute, aber er will sie nicht bekehren. Goethe einmal so ausgedrückt hat: Er will sie auch nicht überreden, sondern sie „Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, überzeugen, indem er seine Hörer an den wenn man ihn wohl zu pflegen weiß“9). unabänderlichen Lebensordnungen teilhaben Möge diese Gedenkstunde für uns erneut läßt. Hebels Frömmigkeit gewinnt, von hier zum Anlaß werden, sich mit J. P. Hebel zu gesehen, ethischen Charakter. Er klärt auf beschäftigen. Er will nicht gelobt, aber ge­ und erklärt am Kleinen das Große, aber er lesen werden. Er weilt bei denen, die leben, schulmeistert nicht seine Leser. Sein „Morali­ obwohl sie gestorben sind. sieren“ und „Moralpredigen“, das zu seinen 4) Zum Ganzen: Vgl. in diesem Heft S. 4 ff mit Lebzeiten gang und gäbe war, erweckt bei Goethes Urteil über J. P. Hebel. J. P. Hebels uns keinen unangenehmen Beigeschmack. Es sämtliche Werke, 6 Bde., hrsg. u. erläutert von E. Keller, Leipzig, Max Hesses Verlag, vgl. verhält sich in der Tat so, wie Goethe es aus­ Einleitung vom Herausgeber. Goethe über gedrückt hat: „Der Verfasser hat nach unse­ Hebel in „Beiträge zur Jenaischen allg. Lite­ rem Gefühl das fabula docet meist sehr raturzeitung 1804/05“ in „Goethes ges.Werke“ 16. Bd. S. 277 ff Propyläen-Ausgabe, Georg- glücklich und mit Geschmack angebracht.“ — Müller-Verlag, München. Aufschlußreich ist: „Hebels Briefwechsel“, hrsg. von Prof. Dr. Was Frömmigkeit ist und was sie bei Alex. Ecker 1860, derselbe: biogr. Skizze Hebel vermochte, das möchte ich zum Schluß Hebels, eine Festrede, gehalten am 10.5. 1860 in Freiburg i. . in folgende Sätze zusammenfassen: 2) In Vilmars Gesch. der dt. Nationalliteratur l.Im Frommsein wird Pietät anschaulich4). S. 451/52, 1894, Marburg an der Lahn, Elwert- sche Verlagsbuchhandlung. 2. Im Frommsein wird die Natur zum Gleich­ 3) W. Scherer, Gesch. d. dt. Literatur S. 703/04, nis des in ihr und durch sie wirkenden all­ Verlag Th. Knaur Nachf., Berlin W 50, hrsg. von H. Amelung. mächtigen Gottes. 4) Vgl. dazu einen Abschnitt aus einer (zwar nie gehaltenen, aber skizzierten) Antrittspredigt 3. Frömmigkeit erzeugt ein heiteres Gemüt vor einer Landgemeinde in Hebels Werken und liebt den Humor5). Bd. 6, S. 24. Daraus die zu Herzen gehenden Worte: „Der Segen ihrer Frömmigkeit (der 4. Wahre Frömmigkeit erhebt sich über die Mutter) hat mich nie verlassen. Sie hat mich konfessionellen und rassenpolitischen beten gelehrt, sie hat mich gelehrt, an Gott zu Schranken. Sie ist tolerant. glauben, auf Gott vertrauen, an seine All­ gegenwart zu denken . . .“ Vgl. hier S. 3—4. 5. Frömmigkeit hat zum Begleiter das gute 5) Vgl. die mannigfachen Beweise im Schatzkäst- Gewissen. Sie ist die Basis der Sittlich­ lein. 6) Vgl. das Gedicht „der Wegweiser“. keit6). 7) Belege dafür im Schatzkästlein. 6. Frömmigkeit findet den Weg zum Du, 8) Vgl. Bd. 4, S. 287 „Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt!“. zum Nächsten. Sie ist sozial7). 9) Zahme Xenien VI.

2' 19 Johann Peter Hebel Federzeichnung Ernst Würtenberger

20 Johann Peter Hebel und seine „Biblische Geschichten"

Vorrede der Ausgabe 1946 im Verlag C. F. Müller, Karlsruhe

von O tto F ro m m e i, Heidelberg (1871-1951) Im alemannischen Volk hat seit alter Zeit Basel. Strömen Erdgeruch aus und den Duft die Gottesgabe der Erzählung geschlummert. eines starken eigenartigen Volkstums. Ja, sie Denn Früchte, wie sie in reicher Fülle seit sind, obwohl hochdeutsch, auch sprachlich hundert Jahren am Stamm der erzählenden aus dem Geist der Mundart geschaffen. Nur Dichtung auf alemannischem Boden reiften, wie ein zarter Schleier liegt die Schrift­ deuten auf ursprüngliche Anlage. Ich nenne sprache über dem alemannischen Antlitz, das nur die vier großen Namen Hebel, Jeremias sie alle tragen. Gotthelf, , Conrad Ferdi­ Und hinter ihnen steht derselbe Mensch, nand Meyer, denen sich nicht wenige noch der feine, treue, warmherzige, schalkhafte lebende alemannische Erzähler würdig an­ Johann Peter Hebel, den uns Ernst Würten- reihen ließen. berger in einer Federzeichnung unvergeßlich Was Hebels alemannische Gedichte bedeu­ vor das Auge gestellt hat. Der Mann mit ten, das hat schon Goethe ausgesprochen. dem kräftigen Rundkopf, den lustig zwin­ Seine Anzeige gehört zum Feinfühligsten, kernden Äuglein, dem lehrhaftigen, an­ Anmutigsten, was über diese einzigartigen mutigen Mund, dem glattrasierten Gesicht Dichtungen gesagt ist. Aber sie hat einen und dem behäbigen Doppelkinn. weiter reichenden Wert; denn was in ihr von Hebel ist das Glück geworden, rasch er­ den alemannischen Gedichten gesagt ist, gilt kannt und bekannt zu werden. Ihm selbst wesentlich auch von Hebels Prosaerzäh­ war es ein Wunder vor seinen Augen, daß lungen. Diese, die uns unter dem Namen Leute wie Jakobi, Jean Paul, J. H. Voß — „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreun­ wobei der Name Goethes noch nicht einmal des“ bekannt sind, offenbaren dieselben genannt ist — seinen Gedichten Aufmerk­ Vorzüge wie jene. Herausgeboren aus der samkeit und Beachtung schenkten. Er hat Freude am Erzählen verdanken sie ihre Ent­ das wohl zu werten gewußt, aber fast mehr stehung der Gelegenheit; es sind Kalender­ als einen Sieg der Heimat, denn als einen erzählungen, die Hebel als Herausgeber des persönlichen Erfolg. Von seinen Kalender­ Rheinischen Hausfreunds geschaffen hat, erzählungen gingen viele in die Lesebücher Meisterstücke der kleinen Form. Was Goethe der Volksschulen aller Länder deutscher an den Gedichten rühmt: die frische, frohe Zunge über und wurden, ebenso wie seine Naturbeobachtung, wobei „durch glückliche alemannischen Gedichte, von den besten Personifikationen die Darstellung auf eine Vortragskünstlern gesprochen. höhere Stufe der Kunst erhoben wird“, und * „die Neigung zum Sittlich-Didaktischen und Wir kehren in die Zeiten zurück, da die Allegorischen“, die doch nie der Gefahr badische Unionskirche aus den reformierten verfällt, abstrakt und nüchtern zu werden und lutherischen Bestandteilen des jungen — das sind auch Vorzüge der Prosaerzäh­ Großherzogtums zusammenwuchs, d. h. in lungen. Sie tragen alle den Stempel des die Wende des ersten und zweiten Jahr­ Heimatlichen. Wurzeln im oberländischen zehnts des vorigen Jahrhunderts. Boden, in dem lieblichen, gesegneten Länd- Der allgemeine Aufschwung, den Baden chen zwischen dem Knie des Rheines bei unter der Regierung Karl Friedrichs nahm,

21 und dessen freundliche Frucht eine milde, gegen Hebels Buch den Vorwurf, es sei gemütvolle Aufklärung war, trat auch auf „nicht vollkommen bibelgetreu“, der objek­ dem kirchlichen Gebiet hervor. Nirgends in tive Charakter der biblischen Geschichte deutschen Landen vollzog sich die Kirchen­ komme nicht zu seinem ungeschmälerten vereinigung so leicht und in so umfassender Recht, die Subjektivität des Verfassers trete Weise wie in Baden. Es kam hier nicht nur allzu stark hervor. Es nimmt sich eigentüm­ zu einer Verwaltungs- und Verfassungsver­ lich aus, wenn dieselbe Synode fast in einem einigung, sondern es wurde eine Union der Atemzug sich dahin äußert: „Die Meister­ Lehre und Gesinnungen auf biblischem Boden schaft Hebels in volkstümlicher Darstellung erzielt. Die Herzen wollten zueinander; ist unbestritten. Er hat, wie wenige Schrift­ Dogma und Kult vermochten den inneren steller, den Volkston getroffen. Seine tiefe Zug nicht aufzuhalten. Gemütlichkeit, sein zutraulicher Humor und Solche Zeiten quellenden Lebens pflegen seine gesunde Laune haben ihm aller Herzen schöpferisch zu sein auf den mannigfachsten gewonnen; auch spricht sich überall seine Gebieten. Der neue Inhalt bedarf der neuen treuherzige, fromme Gesinnung lebendig Formen. Man bedurfte neuer Lehrbücher. aus.“ Voran einer biblischen Geschichte, aus der Eine andere Zeit war heraufgezogen. Das die kleinen unierten Christen die alten Jahr 1848, der badische Aufstand, hatte viele biblischen Stoffe in einer zeitgemäßen Bear­ fromme und ängstliche Gemüter tief er­ beitung erlernen sollten. schreckt und nachdenklich gemacht. Zu den Da kamen einige Freunde Hebels auf den Ursachen dieser Irrungen und Wirrungen naheliegenden Gedanken, er sei der geborene zählten sie vor allem einen Mangel an reli­ Mann, eine solche Aufgabe in Angriff zu giöser Zucht und Bildung. Und den schoben nehmen: er, der Dichter, der Schulmann, der sie wieder auf die verderblichen Wirkungen Kirchenmann. Eine überaus glückliche Idee, der Aufklärung und des kirchlichen Ratio­ die Hebel mit Freuden ergriff. Er machte nalismus. sich 1818 ans Werk, das er, der inzwischen Hatte die Synode von 1834 noch geglaubt, in der neugeeinigten Kirche deren erster an dieses „Denkmal von Hebels Geist und Prälat geworden war, im Jahre 1824 voll­ Gemüt“ nur mit der größten Schonung endete und bei Cotta erscheinen ließ. Es Hand anlegen und Änderungen nur da vor­ überkommt uns, die wir die Einführung nehmen zu dürfen, wo es durchaus not­ eines neuen Lehrbuches für den Religions­ wendig erschien, so glaubte ein seiner eigenen unterricht meist um den Preis langwieriger Einschätzung nach kirchliches Geschlecht, und umständlicher Beratungen erkaufen solche Pietät dem Mitbegründer der Union müssen, ein wehmütiger Neid, wenn wir nicht mehr schuldig zu sein und legte Hebels daran denken, daß Hebels Biblische Ge­ Biblische Geschichte zu den Akten. Freilich, schichte, dies Buch von so ausgeprägter per­ dem Ersatzstück, das es an seiner Stelle sönlicher Eigenart, ohne großen Widerstand brachte, ging’s nicht besser. Nach abermals in den Schulen unseres Landes eingeführt zwanzig Jahren mußte die Biblische Ge­ und volle zwanzig Jahre im Gebrauch be­ schichte von 1855 unserer jetzigen weichen. halten wurde: ja, daß sogar eine Bearbeitung Habent sua fata libelli. von einem katholischen Geistlichen erschien. * Es war der Generalsynode des Jahres 1855 Hebel hat sich in der Stimmung an sein Vorbehalten, Hebels Biblische Geschichte un­ Werk gesetzt, die man als Erzähler haben seren Kindern wieder zu nehmen. Sie erhob muß, wenn etwas Lebenswertes heraus­

22 kommen soll: in der Stimmung des Be­ „Als Saul sich nicht mehr zu retten wußte, hagens, der Liebe und der Freude. Man ehe sich der König von Israel lebendig an fühlt es seiner Art zu erzählen an, wie die Feinde ergab, stürzte er sich in sein ruhig und harmonisch, wie gesammelt in den eigenes Schwert.“ „Leute, die ich nicht kenne, Tiefen sein Gemüt gewesen sein muß, als er wo sie her sind.“ „Man kann das Wund­ seinem Volk die heilige Geschichte erzählte. werden der Kinder gar oft verhüten, daß es Er hat sich ja auch Zeit dabei gelassen. Als garnicht kommt.“ ein nahezu Sechziger hat er die Arbeit Wer dächte bei solchen Beispielen nicht an begonnen. Also auf der Höhe des Lebens, Gotthelf und Keller, bei denen es übrigens der Kraft und der Erfahrung. Dies gibt viel stärker und häufiger auftritt, während seinem Werk die Reife, den milden Herbst­ bei Hebel das Dialektische doch mehr nur sonnenschein, den reinen, blauen Himmel, wie ein leiser Unterton anklingt. Es wäre den warmen Goldton. Und er ist, als er dies verkehrt, Hebels Biblische Geschichte als eine Buch schuf, im Geist noch einmal, ein letztes- Herabziehung und Trivialisierung ins Bäuer­ mal dort eingekehrt, wo alle Zeit sein Herz liche und eng Oberländische vorzustellen. war, in der heißgeliebten Oberländer Heimat: Hebels Größe liegt bei allen seinen Dich­ ... us der Heimet chunnt der Schii, tungen in seiner Überlegenheit dem dar­ S’muß liebli in der Heimet sy! zustellenden Stoff gegenüber. Diese Über­ legenheit, die sich bei ihm so gern und so Den Schein der Heimat hat er über seine reizend in die Form des gemütlichen Humors, biblischen Geschichten ausgegossen; Ober­ zuweilen auch der elegischen Stimmung länder Wald- und Rebenduft atmen sie. kleidet, bewahrt ihn vor der Gefahr, ins Oberländer sind die biblischen Helden ge­ worden. Selbst der Heiland trägt Ober­ anekdotisch Kleinliche zu verfallen. Er bleibt länder Gewand. Bekennt doch der Dichter immer der Erzähler, der Dichter, wird nie — wenigstens in der Biblischen Geschichte selbst: ich habe das Büchlein mit Liebe für nie — zum bloßen Plauderer. mein Vaterland geschrieben ... ich habe fast bei jeder Zeile im Geist oberländische Kinder Hier kommt noch eins in Betracht: Hebel belauscht. weiß sehr wohl, daß es biblische Ge­ Ernst Keller hat auf den alemannischen schichten und nicht Kalender geschichten Sprachcharakter der Biblischen Geschichte sind, die er erzählt. Jenes innerlich feine, aufmerksam gemacht. An zahlreichen Bei­ differenzierte Stilgefühl, das den großen spielen hat er verdeutlicht, wie diese „heilige Dichter ausmacht, der immer er selbst bleibt Sprache seines Herzens“ immer wieder in und doch immer gerade den Ton an­ einzelnen Wendungen und sprachlichen schlägt, der für den besonderen Gegen­ Eigentümlichkeiten durch den hochdeutschen stand der richtige ist, offenbart sich auch Vortrag durchklingt. Da heißt es, daß „das hier. Hebel wird oft groß, er erreicht jene heilige Gesetzbuch verloren ging und nicht Höhe, die er in einigen seiner alemannischen einmal gemangelt wurde“. Die Philister hän­ Gedichte, z. B. im Karfunkel, erklommen gen die Leichname „außenwendig“ an die hat, wenn es der biblische Gegenstand Stadtmauer; man ruht „ein Stündlein oder gebietet. Wie packend lautet der Schluß der Etwas“. „Moses war ein kraftvoller, junger Kreuzigung: Mann, wie wohl er hatte eine schwere „Da waren sie aufgelöst die Schmerzen Zunge.“ Der Kranke von Bethesda klagt: des frommen, heiligen Dulders. Da neigte er „Herr, ich habe keinen Menschen, wenn das das müde Haupt und starb. Aber nicht um­ Wasser sich bewegt, der mir hineinhelfe.“ sonst hatte sich der Himmel in furchtbaren 23 Wolken verhüllt. Die Erde erbebte, daß die allzu Gütige, Göttliche und das Ewig-Mensch­ Felsen zersprangen und die Gräber auf­ liche der biblischen Erzählungen tritt um so gingen. Ja, der Vorhang im Tempel zerriß, kräftiger hervor, als das spezifisch-jüdische der das Allerheiligste des Tempels bedeckte. und das Zeitgeschichtlich-Bedingte mehr ver­ Als der Hauptmann der römischen Wache schwindet. Und durch alles hindurch schwingt das Erdbeben wahrnahm, sprach er: Wahr­ als die lebendige Seele des Buches Hebels lich, er ist ein frommer Mann und Gottes persönliche Frömmigkeit, die mehr war als Sohn gewesen. Das Volk aber schlug an seine seine Theologie, und die sich hier reicher und Brust und kehrte wieder um. Man weiß seiner Natur entsprechender entfalten konnte nicht, was man dazu sagen soll.“ als in der Predigt, in der Hebel als Karls­ Für jede Stimmung findet er den rechten ruher Hofdiakonus wohl durch Rücksichten Ton. Für jedes Bild die richtigen Farben. auf seine kritische Zuhörerschaft sich etwas Die volkstümliche Schlichtheit des Kalender­ beengt und beschränkt fühlte. erzählers eint sich mit der Kraft und Tiefe * des Lyrikers und mit der geistigen Kultur Wie ist Hebel nun im einzelnen zu Werk des hoch- und weitgebildeten Mannes. gegangen? Wir erinnern uns nochmals an Als Theologe und Prediger war Hebel seine eigenen Worte: „Ich habe fast bei jeder ein Sohn seiner Zeit, die von der Aufklärung Zeile im Geist oberländische Kinder be­ und von Kant herkam und die in der Reli­ lauscht“; und: „es ist mir jede Stunde der gion Vernunft und Moral über alles liebte freien Zeit und frommen Geistesstimmung und schätzte, der es aber keineswegs eine dazu teuer, absonderlich die heilige Zeit, innere Unmöglichkeit war, daneben die wenn die Festglocken läuten und nachklingen, Grundbegriffe und Anschauungen der alt­ und die Spätzlein ans Fenster kommen.“ kirchlichen Lehre festzuhalten und mit jenen Auch daran, daß er in Briefen an seine vernünftigen Vorstellungen zu verschmelzen. Freunde davon spricht, wie er sich bei der Diese Theologie war der Ausdruck einer Abfassung des Buches eine Vereinigung von milden, weitherzigen, noch immer mit der Müttern mit ihren Kindern denke und sich heiligen Schrift in nahem Zusammenhang selbst darunter als lernendes Büblein, und stehenden, auf das Gute, Wahre und Schöne wie er nun beide, Mütter und Kinder, im in jeder Form gerichteten Frömmigkeit, die Geist um ihr Urteil frage. sicher bei ihren Anhängern ganz echt war. Vom Kind ging Hebel aus, fürs Kind hat Treten nun in Hebels Predigten die er geschrieben. Kindlich fiel darum auch Ton, Schwächen dieser Anschauungsweise, ihre Sprache und Charakter des Buches aus. Ich Nüchternheit und Kühle, der stark ratio­ kenne kein Beispiel glücklicherer Übertra­ nalisierende Zug oft etwas nackt hervor, so gung eines großen geschichtlichen Stoffes in daß eine lebendige Wirkung von ihnen heute die Sprache des Kindes. nicht mehr ausgeht, so ist das bei den Wie der echte Lehrer stets, so ist Hebel Biblischen Geschichten anders. Was dort bei seiner Arbeit Gebender und Nehmender Schwäche ist, wird hier — wir wollen nicht in einer Person. Er belauscht das Kind, dem sagen Vorzug. Aber es wird einerseits aus­ er erzählt; liest ihm seine Fragen, Gedanken, geglichen durch das Schwergewicht der Einfälle von den Augen ab und stimmt sein biblischen Stoffe, denen der Dichter mit so­ eigenes Instrument genau auf die Seele der viel herzlicher Pietät gegenüber tritt. Und kindlichen Zuhörer. es wirkt andererseits mäßigend und mildernd Er hat Geschichten versprochen. Er gibt auf den biblischen Supranaturalismus. Das Geschichten. Farbige, von prächtiger An­ 24 schaulichkeit. Er greift aus der biblischen glatte Schlange, denn also kommt die Ver­ Vorlage immer gerade das heraus, was das führung.“ Das Ergebnis der Sündflut aber Kind interessiert, was es fassen kann, was wird also zusammengefaßt: „Da war nichts es behält. Es geschieht fortwährend mehr, als Wasser unten und Wasser oben etwas. Breite prophetische Reden, Lehr­ und ein schimmerndes Haus mit acht Seelen stücke, selbst Jesu-Reden hat er nur sparsam unter Gottes Schutz und Schirm.“ in die Schilderung der Begebenheiten ein­ Später heißt es: „In diesem Augenblick, geflochten. Eine Geschichte ist eben kein als Noah seine Augen emporhob, da stand Rahmen für Glaubenssätze oder Moral­ der schöne Regenbogen in einer stillen Herr­ lehren, sondern eine Erzählung von Gescheh­ lichkeit und Majestät in den Wolken.“ nissen. Dabei hat er sich nicht gescheut, die Und vielleicht das schönste Beispiel, das biblischen Stoffe ganz subjektiv zu behan­ die behördliche Vorlage unter ihre Anklage­ deln, an ihnen zu formen, sie weiterzubilden, punkte aufgenommen hat, die Einleitung zur dem kindlichen Verständnis mundgerecht zu Geburtsgeschichte des Herrn: „Aber in wel­ machen; aber immer unter dem Gesichts­ chem Palast oder Kirchlein wird der Sohn punkt, Geschichten zu liefern. Der Erfolg Mariä geboren werden? Wer wird ihm von ist eine hohe Anschaulichkeit. Wie prägnant Zedernholz die Wiege verfertigen und mit seine Darstellung ist, dafür nur wenige Bei­ goldenem Blumenwerk schmücken?“ spiele. In der Geschichte von der Schöpfung Solche Züge, die den Dichter verraten, heißt es: finden sich beinahe auf jeder Seite. „Es war noch kein lebendiges Wesen vor­ Es ist nicht zu verwundern, daß Hebel, handen, das sich über die schönen Lichter dem Erzähler, das Alte Testament geeigne­ hätte freuen können. Aber bald fing es an, teren Stoff bot als das Neue. Das Alte sich im Wasser zu bewegen, an großen und Testament ist ja eine Fundgrube für den kleinen Fischen. Es flogen Vögel in der Luft geborenen Erzähler. Fortwährend wech­ umher und kamen immer mehr, und setzten selnde Szene: fruchtbare Gefilde, rauchende sich auf die Zweige der Bäume in ihrem Berge, tosende Wasser, Kriegszüge und Hir­ farbenreichen Gefieder und freuten sich in tenidylle, stille Rast am Brunnen und end­ tonreichen Weisen. Es kamen Tiere auf der lose Reisen durch Wüstenglut und Sonnen­ Erde zum Vorschein, jegliches in seiner Art. brand. Königsgestalten in Purpurgewändern Der Falter flatterte um die schönen Blumen­ und Propheten im kamelshärenen Kleid. häupter. Das Lamm hüpfte und weidete auf Stolze üppige Weiber und zarte anmutige dem Anger. Im Wald erging sich der präch­ Mädchen. Eine Welt, die man nur schauen tige Hirsch. Überall, in allen Tiefen und muß, um nicht mehr von ihr loszukommen. Höhen bewegte sich ein fröhliches Leben.“ Im Neuen Testament fehlt es ja wahrlich Welche Anschaulichkeit und Frische! Die nicht an ähnlichen Zügen. Aber die völlige Musik hat in Haydns Schöpfung eine ähn­ Verinnerlichung des Lebens und der trans­ liche Umsetzung des alten Schöpfungsberich­ zendente Grundton, der durch alles hin­ tes in Geist und Sprache einer von Rousseau durchklingt, lassen die farbige Außenseite beeinflußten Aufklärungsreligion hervor­ doch je länger desto mehr zurücktreten. gebracht. Es ist keine Frage, daß das Neue Testa­ Und wie trefflich wird in der Geschichte ment in Hebels Bearbeitung nicht durchweg vom Sündenfall die Schlange eingeführt: auf der Höhe des Alten steht. Er hat das „Da kam mit farbenreichen schimmernden auch selbst empfunden und ein Erlahmen Schuppen und in schönen Windungen eine seiner Kraft deutlich gespürt. 25 Was Auswahl und Gruppierung des Stoffes lich, daß Gott gute Leute aus der Nachbar­ betrifft, so ist Hebel zwar sorgfältig, aber schaft erweckte, welche der armen Frau auch durchaus subjektiv verfahren. Er hat täglich so viel zum Unterhalt des Propheten seine Lieblinge unter den biblischen Gestal­ zutrugen, daß sie und ihr Kind davon zu ten — welcher Freund des heiligen Buches leben hatten.“ Und bei der Erwählung Sauls hätte sie nicht? — zu denen gehört in erster durch Samuel heißt es: „Samuel gewann in Linie David. Seine Geschichte, überhaupt seinem Herzen die Überzeugung, daß dieser die Kriegsgeschichten des Alten Testaments Saul der sei“ .. . sind mit besonderer Vorliebe behandelt. Da­ Allein zahlreich sind diese Erklärungen gegen läßt er andere, darunter schöne und nicht. Sie beziehen sich meist auf nebensäch­ bedeutsame, ganz weg, z. B. im Alten Testa­ liche Züge und sind, da Hebel das Wunder­ ment die Erzählung vom Turmbau zu Babel, bare als solches ja ruhig bestehen läßt, vom von Jakobs Traum, von dem Ringkampf pädagogischen Gesichtspunkt aus tragbar. Jakobs am Jabok, von Simson, Jona und Scheinen sie doch von der psychologisch Hiob, im Neuen die Hochzeit von Kana, richtigen Erwägung auszugehen, daß wir das kananäisdie Weib, die Gleichnisse vom heute manches in einem ändern Licht schauen Unkraut unter dem Weizen, vom Senfkorn, als die Menschen des Altertums, und daß wir vom Sauerteig, vom Schatz im Acker, von gar manchmal nach kausalen Zusammen­ der guten Perle, vom Netz, vom verlorenen hängen suchen müssen, wo der ungebrochene Groschen, vom großen Abendmahl, von den Wunderglaube der Antike unmittelbares zehn Jungfrauen, die Fußwaschung. göttliches Eingreifen annahm. Andererseits Die Gründe sind unschwer zu erraten. wahrt Hebel an entscheidenden Stellen mit Von den Gleichnissen dachte Hebel gewiß großer Pietät den „Offenbarungscharakter“ nicht gering. Aber er wollte ja Biblische des biblischen Wortes, indem er aus der Geschichte geben, mußte also den mythischen Einkleidung den in ihr verbor­ Lehrstoff tunlichst einschränken und wählte genen göttlichen Sinn herauslöst und in eine darum nur die farbigsten, einpräglichsten, dem kindlichen Verständnis zugängliche, namentlich lukanische Parabeln, die mehr einfache Form kleidet, ohne die legendäre den Charakter von Geschichten als von Lehr­ Hülle selbst zu zerstören. Man lese darauf­ erzählungen haben. Jene anderen Erzäh­ hin die Erzählung vom Sündenfall: es bleibt lungen dagegen mochten ihm zu mirakulös alles Bildhafte erhalten: die paradiesische oder für unser Denken zu fremdartig er­ Kindlichkeit, Unschuld des ersten Paares, scheinen: die Sprachenverwirrung, Jakobs die Erzählung von den beiden Bäumen, von körperliches Ringen, Jonas im Bauch des Wal­ der lockenden Frucht und von der verfüh­ fisches, die Wasser- und Weinverwandlung. renden Schlange, die Übertretung des gött­ Hier tritt allerdings der rationalisierende lichen Gebotes, die darauf erfolgende Ver­ Zug in Hebel hervor, an dem die Männer treibung aus dem Paradies mit ihren schmerz­ der Generalsynode von 1855 sich so sehr lichen Folgen. Und zum Schluß den un­ stießen. Desto mehr ist anzuerkennen, daß erschöpflichen Sinngehalt der Erzählung in der Zeitgenosse eines Paulus sich der ratio­ die einfachsten Worte zu fassen: „Als sie die nalistischen Wundererklärungen so ziemlich Unschuld verloren und gesündigt hatten, enthalten hat. Einige derartige Ketzereien konnten sie die Lebensruhe und die seligen finden sich aber doch. Die wunderbare Er­ Kinderfreuden des Paradieses nimmer ge­ haltung der Witwe zu Sarepta wird durch nießen. Wer die Unschuld verloren hat, kann folgende Worte erklärt: „Es ist wohl mög­ in keinem Paradies mehr glücklich sein.“ 26 Gerade dies Nebeneinander des rationalen auszulegen. Und sein gesundes Gefühl trifft und irrationalen Elements gehört zu den hier oftmals das Richtige. So in der für Feinheiten dieses Buches, dessen Verfasser Hebel bezeichnenden Bemerkung zu der sich auch hierin als ein Meister kindlicher Hinschlachtung der Baalspfaffen: und volkstümlicher Psychologie erweist. „Aber man weiß nicht, ob man alles Ähnlich verhält es sich mit den Umbildun­ loben soll, was Elias tat. Die Propheten gen biblischer Geschichten und Charaktere. sind auch Menschen. — Der allzu große Eifer Es ist wahr: Hebels Schöpfungsgeschichte ist im Guten kann zu allen Zeiten selbst das etwas anderes als die Erzählung der Genesis. Gute hindern und das Böse befördern.“ Sie ist „keine biblische Geschichte, sondern Verfehlt dagegen ist seine Charakteristik eine freie Reproduktion der im Anfang des des Stephanus, die viel böses Blut gemacht Jahrhunderts herrschenden, hauptsächlich von und dem Buch manche Feindseligkeiten ein­ Herder eingeleiteten Theorie der Vermitt­ getragen hat: lung der naturwissenschaftlichen Erklärung der Entstehung des Sonnensystems mit den „Stephanus war neben seiner Frömmig­ Anschauungen der Bibel“. Allein die Grund­ keit auch ein schöner, aber zugleich ein wahrheiten des biblischen Schöpfungsberich­ wortseliger und reizbarer Mann; man sah tes sind zu klarem Ausdruck darin gekommen. ihm wohl an, daß er noch ein Neuling und Und wie fein und lieblich ist Hebels Um­ kein Apostel war. Seine Reizbarkeit be­ dichtung zu lesen. fördert seinen Tod . . . (Ja er hat), als er schon erhitzt war in seiner Rede, die Fassung Als Entgleisung des Dichters ist allerdings seines frommen Gemüts so sehr verloren, die Stelle am Schluß der Bergpredigt zu daß er anfing zu schimpfen. Das ist kein empfinden. Da heißt es: Apostel. Er nannte sie Halsstarrige und Un­ „Aber nicht alles, was Jesus seinen Zeit­ beschnittene, was damals eine große Beleidi­ genossen sagt, gilt so auch für alle Menschen gung war, und warf ihnen vor, daß ihre und für alle Zeiten. Wiewohl Sanftmut, Väter die Propheten getötet haben, und sie Nachgiebigkeit mit Ehre und Klugheit ist in selber seien nicht besser. Niemand läßt gern allen Zeiten zu empfehlen, und schon man­ seine Väter schimpfen, sie auch nicht.“ chem, welchem die Streitsucht oder Eigen­ * nützigkeit oder die Rachbegierde nicht er­ lauben wollte, einmal ein Unrecht zu er­ Damit haben wir bereits eine weitere tragen, hat sich dadurch in das größte Un­ Eigentümlichkeit der Hebelschen Biblischen glück gestürzt. Ein Körnlein Goldes ist in Geschichte berührt. Wer das Büchlein durch­ allem, was Jesus gesprochen hat, für den, der liest, dem fallen sofort die zahlreichen er­ es suchen und erkennen mag.“ klärenden, ermahnenden, zusammenfassen­ Hier wird mit unzulänglichem Maßstab den Bemerkungen auf, von denen es durch­ gemessen. Es ist bezeichnend, daß gerade an setzt und durchzogen ist. der Bergpredigt der Rationalismus, der Jesus Der Fluß der Erzählung wird zuweilen doch vor allem als Lehrer zu würdigen ver­ plötzlich durch eine Frage unterbrochen, suchte, seine Achillesverse offenbaren mußte. etwa der Art: „Aber wie erging es in der Weniger schlimm sind die Umbildungen, Zeit dem Jakob und seinen zwölf Söhnen die Hebel mit einigen biblischen Gestalten in Kanaan? Aber warum kommt Johannes vorgenommen hat. Da zeigt sich vielmehr der Täufer so lange nicht mehr zum Vor­ seine ganze naive, freimütige Art, die Bibel schein? Aber was wird unterdessen aus des subjektiv und persönlich anzuschauen und Jairus totkrankem Töchterlein? Aber in 27 welchem Palast oder Kirchlein wird der Und an den Regenbogen nach der Sünd­ Sohn Mariä geboren werden?“ flut knüpft er die sinnige Ausdeutung: An diesen im ganzen sparsam verwen­ „Also erscheint noch von Zeit zu Zeit der deten rhetorischen Fragen zu kritteln und Regenbogen am Himmel, und es spiegelt sich zu mäkeln, ist ein Zeichen von Unverstand. in seiner schönen Gestalt und in seinen Denn sie beleben in reizvoller Weise den milden, heitern Farben noch jetzt die Freund­ Vortrag und geben ihm die Wirkung der lichkeit und Leutseligkeit Gottes gegen die unmittelbaren Rede. Menschen ab und leuchtet hernieder auf die Das nämliche gilt von den erklärenden Erde. Fromme Kinder sehen ihn mit Ver­ und ermahnenden Zusätzen. Es ist wahr, wunderung und Freude an und wollen nie Hebel unterbricht sich oft in seiner Erzäh­ etwas Böses tun.“ lung. Er malt aus, schildert z. B. David als Zu diesen mehr erklärenden gesellen sich „einen gar hübschen Knaben von schöner dann häufig jene ermahnenden und war­ roter Farbe, mit schönen Augen und von nenden Bemerkungen, die so überaus charak­ guter Gestalt“, er erklärt den Sinn einer teristisch für Hebels Erzählerstil sind, und ganzen Erzählung oder gibt ein Urteil über die wir aus den Kalendergeschichten kennen: eine Handlung oder eine Persönlichkeit. So „Item — der geneigte Leser merke!“ faßt er den Sinn der Sämannsparabel in Ein charakteristisches Beispiel für viele folgende Fragen: (am Schluß der Versuchungsgeschichte): „Was will ein Kind aus diesem Gleichnis „Merke hierbei: Wer die Sprüchlein der und seiner Deutung abnehmen? Ist nicht die heiligen Schrift mit Wissen falsch deutet, daß Schule einem solchen Acker gleich? Rührt er die Sünde beschönige, der treibt des Satans nicht Jesus mit so manchem schönen Sprüch­ Werk und böse Kunst. Wer sein will wie lein die zarten Herzen an, und säet das Jesus, der stärkt sich durch die guten Sprüch­ Wort? Wie steht es um mein Herz? Bewahre lein gegen die Sünde und gefällt Gott und mich, mein Gott, vor Unachtsamkeit, vor den heiligen Engeln wohl.“ Leichtsinn, vor bösen Begierden! Erhalte in Gegen diese Zusätze und Einschübe hat mir ein feines und gutes Herz! Mein Leben sich der Widerspruch von 1855 besonders sei fruchtbar an guten Gesinnungen und heftig gewendet. Mit scheinbar ästhetischen T aten.“ Gründen suchte man ihnen zu Leibe zu Das Leben Josephs faßt er mit kräftigen rücken. „Es kommt uns gerade so vor“ — Strichen zusammen: heißt es im Kommissionsbericht— „wie wenn „Das ist nun des Josephs wunderbarer man uns während des Lesens, Hörens, Weg, den er wandeln mußte aus des Vaters Sehens eines Kunstwerks mit einem geist­ Haus in eine tiefe Grube, aus der Grube als reichen Kommentar über dessen einzelnen ein verkaufter Knecht nach Ägypten in das Schönheiten behelligen wollte, anstatt seinen Haus des Potiphar, aus dem Haus des Poti- Lebenseindruck ungestört walten zu lassen.“ phar in das Gefängnis, aus dem Gefängnis Dieser Gesichtspunkt, der, so allgemein in des Königs Palast.“ geltend gemacht, berechtigt ist, versagt der Von der Tat Jakobs an Esau und Isaak Hebelschen Biblischen Geschichte gegenüber urteilt er: vollständig. „Es gehört nicht viel dazu, einen alten, Denn Hebel zerreißt die Zusammenhänge blinden Vater zu hintergehen, wenn nicht nie durch seine Bemerkungen, sondern ver­ kindliche Liebe und Ehrfurcht und Scheu knüpft sie desto enger; er zergliedert nicht, vor Gott es dem Herzen schwer machen.“ sondern baut auf. Er ist kein geistreicher 28 Kommentator, sondern der freundliche, geschlossen. Die Gründe, mit denen diese wohlwollende Lehrer, der seinen Kindern Maßnahme gestützt wurde, sind teils richtig, die biblischen Stoffe vermitteln und nahe­ größerenteils falsch. Die Maßnahme selbst bringen will. war das Ergebnis einer völlig veränderten Der erzieherische Wert des Buches — er­ kirchlichen und allgemeinen Lage. Sie muß zieherisch nicht nur für die Kinder, sondern daher geschichtlich begriffen, d. h. praktisch vor allem auch für die Lehrer — liegt darin, anerkannt werden. Die Wiedereinführung, daß es uns zeigt, wie man die biblischen sei’s des Originals, sei’s einer Bearbeitung, Geschichten zu behandeln hat. Da ist kein wäre ein verfehltes und unhistorisches Be­ vergewaltigendes Umbiegen, kein theolo­ ginnen. gisches Umdeuten, kein künstliches Zerfasern Damit ist aber nichts gegen den bleiben­ und Präparieren des biblischen Stoffes. Son­ den Wert der Hebelschen Biblischen Ge­ dern Erzählung, Erklärung und Anwendung schichte gesagt. Dieser ist ein doppelter. Ein sind mit vollendeter Kunst in Eins zusam­ rein literarischer. Hebels Biblische Geschichte mengewoben und stehen als ein schönes, gehört unserer deutschen Nationalliteratur rundes, wohlgeordnetes Ganzes vor unseren an wie Luthers kleiner Katechismus. Sie ist Augen. Für unsere Zeit, die auf der einen ein Kleinod und Meisterwerk deutscher Er­ Seite dem Unterricht durch das ewige Er­ zählerkunst. Innerhalb der Werke Hebels klären und Rationalisieren alles Großen in selbst nimmt sie neben den alemannischen Geschichte, Religion und Poesie das Rück­ Gedichten und dem Schatzkästlein die erste grat auszubrechen droht und es in ein farb­ Stelle ein. Wer Hebel wirklich kennen will, loses, unschmackhaftes Etwas verwandelt, der kann an seinen Biblischen Geschichten vor dem die Jugend sich geekelt abwendet, nicht vorüber gehen. und in der sich infolgedessen bereits eine Für den biblischen Geschichtsunterricht ebenso maß- und ziellose Gegenströmung aber erwarten wir gleichfalls noch segens­ geltend gemacht, die alles Erklären für über­ reiche Wirkungen des Hebelschen Werkes. flüssig, unkünstlerisch und schulmeisterlich Möchten es doch alle die, welche der Jugend abtun und aus dem Unterricht bannen die unvergänglichen Schätze der biblischen möchte, kann Hebels Biblische Geschichte Erzählungen zu vermitteln berufen sind, unschätzbare Dienste leisten. Sie kann ihr zum Gegenstand eingehender Beschäftigung zeigen, wie man erzählen, gut, frisch, herz­ machen. Mögen sie vom alten Hebel lernen, lich erzählen und beim Erzählen ganz un­ wie man Kindern die biblischen Geschichten vermerkt auf eine anmutige Weise erklären kindlich erzählt. Möge er ihnen das Geheim­ und anwenden kann. nis offenbaren, das ihn wie seit Luther Wenigen enthüllt war, das Geheimnis, von Gott und seinem Reich so zu sprechen, daß Hebels Biblische Geschichte ist seit vielen die Herzen der Unmündigen bewegt und ge­ Jahrzehnten vom Religionsunterricht der stimmt werden zu einem Lob des Ewigen. evangelischen Kirchen unseres Landes aus­ November 1946

29 Hofdiakonus August Hausrath 1806—1847, Karlsruhe

30 Lebensspuren Hebels

Aus den Tagebüchern seines Schülers August Hausrath ausgezogen

von W alther Osterrieth, Freiburg „Unter den Büsten, die in der Halle des nur drei Predigtsammlungen (1834, 1838 Karlsruher Friedhofs an verdiente Persön­ und 1843), deren erste unter dem Titel lichkeiten des badischen Landes und der „Der Sonntag-Abend“ als Wochenschrift er­ Stadt Karlsruhe insbesondere erinnern, findet schienen war. Die schmalen Bände sind seit sich zur rechten Hand die eines jungen Pre­ Jahrzehnten ebenso vergessen und fast ver­ digers, die mit milden Zügen auf die Gräber­ schollen wie einige als Einzeldrucke erschie­ reihen vor ihr hernieder schaut1). Es ist das nene Predigten, die von dem Karlsruher von „Freunden und Verehrern“ gesetzte Buchhändler Georg Holtzmann, einem Denkmal des Hofdiakonus August Haus­ Schwager Hausraths, verlegt wurden. Von rath in Karlsruhe, der in der Blüte seiner ihnen verdiente besonders die Rede der Ver­ Jahre ein Opfer seiner aufreibenden geist­ gessenheit entrissen zu werden, die der Hof­ lichen Tätigkeit wurde, aber trotz seines diakonus am 6. September 1843 bei der frühen Todes ein warmes Andenken in Beerdigung des Leutnants Julius Freiherr seiner Gemeinde hinterlassen hat. — Die Göler von Ravensburg hielt, der in der rührende Teilnahme und das nachhaltige damals und später oft die badische Hals­ Andenken, das die Gemeinde Karlsruhe bandgeschichte genannten Haber-Affaire4) ihm bis zur Stunde erhalten hat, zeugen im Duell Von dem Russen Werefkin getötet nicht nur für den Wert des Mannes, sondern worden war. Zwar nicht so weit „links“ geben auch davon Zeugnis, daß der Beruf, stehend wie sein Schwager, der Mannheimer dem er lebte, die tiefgehendsten und dank­ Stadtpfarrer Emil Otto Schellenberg, der barsten Wirkungen auszuüben vermag, wenn bei der Gedächtnisfeier für Robert Blum nur anders der Mann danach ist. Auch ist öffentlich von der „Sünde der Obrigkeit“ er ein Beweis, daß es heute so wenig als vor­ und dem „Mißbrauch der heiligen Gewalt“ mals in Sachen der Religion nötig ist, durch zu reden wagte5), nahm Hausrath doch die weitverbreitete Schriften oder ins Auge Gelegenheit wahr, den Adel an seine Pflich­ fallende Taten zu glänzen, um eine tief­ ten zu mahnen; er konnte das um so un­ gehende Wirksamkeit zu üben; die Kirche geschminkter tun, als er mit seinen vorzüg­ -ist vielmehr der Platz, wo die ganze Per­ lichsten Karlsruher Repräsentanten persön­ sönlichkeit einzusetzen ist, und auf diese lich befreundet war, mit einigen sogar schon führt sich auch hier der große Erfolg zu­ seit seiner Schulzeit. rück, der August Hausrath in seinem Uns, die wir nach noch unentdeckten Kreise beschieden war“. Lebensspuren Hebels suchen, können hier Mit diesen Worten beginnt und endet die nur Hausraths Schul- und Studienjahre ausführliche Lebensschilderung, die der Hei­ (1817—1827) beschäftigen. Sie treten uns delberger Kirchenhistoriker und Schrift­ sehr lebendig aus den Tagebüchern vor steller Adolf Hausrath (1837—1909)2) sei­ Augen, die er seit dem Jahre 1818, also nem Vater in Weechs Badischen Biographien von seinem 12. Lebensjahre an, geführt hat. widmete3). August Hausrath, der am 24. 7. Doch geben wir noch einmal dem Sohn 1806 in Hochstetten geboren wurde und Adolf das Wort: „Seit 1817 Zögling des am 2. 2. 1847 in Karlsruhe starb, hinterließ Karlsruher Lyceums ward August Hausrath 31 Arzthaus Dr. Singeisen in Riehen heute bald ein Lieblingsschüler Hebels, der na­ heit und Intelligenz dieses Knaben das mentlich die philologische und poetische Wohlgefallen des Prälaten finden mußte7). Begabung des frühreifen Knaben in eine Hinzu kommt, daß Hausrath schon persön­ erfolgreiche Pflege nahm. Unter den Mit­ liche Beziehungen zu Hebel mitbrachte. Zwar strebenden befanden sich nachmals nam­ mag sein Vater, der Pfarrer Christoph hafte Persönlichkeiten: Alexander Braun, Friedrich Hausrath (1769—1841), dem Prä­ der Botaniker, Ferdinand Hitzig, der Theo­ laten nur dienstlich bekannt gewesen sein. loge, Robert Volz, der Mediziner, Adolf Die Mutter Amalie Hausrath (1786—1849) von Marschall, der nachmalige Minister des aber war die Tochter des aus Lörrach stam­ Innern. Sie alle verband ein früher Freund­ menden Pfarrers Johann Balthasar Herbster schaftsbund, der dem gemeinsamen Genuß (1750—1812), eines Vetters des im Jahre der alten und neuen Literatur und der 1747 in Basel geborenen Berginspektors Musik galt und im Hause der verwitweten Johann Jeremias Herbster, dem Hebel die Frau von Marschall eine freundliche Auf­ erste Auflage der Alemannischen Gedichte nahme fand“6). gewidmet hatte8). Auch war Amalie Haus­ Daß der junge August Hausrath ein Lieb­ rath die Enkelin des Kirchenrats und Gym­ lingsschüler Hebels6a) gewesen sei, mag den nasialprofessors Christoph Mauritii (1720 Hebelfreund überraschen, weil sich der bis 1792), bei dem der junge Hebel, als er Name dieses Schülers bei Hebel, insbesondere 1774 nach Karlsruhe ins Gymnasium illustre in seinen Briefen, nirgends findet. Doch kam, auch einen Freitisch — neben anderen abgesehen davon, daß diese Bemerkung des — hatte9). Der Prälat hat es seinem Schüler als Wissenschaftler bedeutenden Sohnes noch nicht vergolten, daß dessen Urgroßvater ihm auf mündlicher Überlieferung fußt, kann für dann bei seinem Dienstantritt als Sub- den, der vollen Einblick in die Tagebücher diakonus im Dezember 1791 einen kühlen genommen hat, kein Zweifel darüber sein, Empfang in Karlsruhe bereitet hat! Der daß der musische Sinn, die Frömmigkeit, die Beweis hierfür liegt in den nachfolgenden Lauterkeit und die erstaunliche Aufgeweckt­ Auszügen offen zu Tage. Sie sind freilich 32 Zeichnung Glattacker Hebel nimmt Abschied vvn seinem Freund Singeisen vor dem Haus zur Linde in Riehen 1791 — vor allem gemessen an dem Umfang und gab Hebel, der schon 1814 von der Direk­ der Ausführlichkeit der Tagebücher — spär­ tion des Gymnasiums befreit worden war, lich genug. Aber auch im Zeitalter der in den hier in Betracht kommenden Jahren schwärmerischen Empfindsamkeit pflegten nur noch einige Unterrichtsstunden10). Knaben und Jünglinge nicht gerade ihre Da es uns allein darauf ankommt, Hebel Schullehrer zum Gegenstand ihrer Herzens­ in seinem Wirken und Nachwirken sichtbar ergießungen zu machen; so müssen wir uns zu machen, durfte davon abgesehen werden, verständnisvoll bescheiden. Daß sich der die nachfolgenden Tagebuchauszüge durch­ Umgang Hausraths mit seinem verehrten weg mit biographischen oder geschichtlichen Lehrer nicht auf die wenigen Episoden be­ Anmerkungen zu kommentieren. Dem Ken­ schränkte, die wir in seinen Tagebüchern ner der Staats- und Wissenschaftsgeschichte finden, versteht sich von selbst. Allerdings unseres Landes103) werden ohnehin die mei­

3 Badische Heimat 1960 33 sten Namen, die genannt werden, vertraut nun meiner Eitelkeit nicht besonders schmei­ sein, und die Hebelfreunde im besonderen cheln, denn ich konnte mir wohl einbilden, werden unter Hausraths Schul- und Studien­ sie haben gedacht, mein Gedicht würde gefährten einigen Vertretern der zweiten schlecht bestehen vor des Prälaten Prolog Generation aus Hebels Freundes- und Be­ — doch was tut’s. Ich fand, daß Hebels kanntenkreis begegnen. Obgleich die Tage­ Gedicht besser war als das meine, doch hatte bücher nicht zur Veröffentlichung bestimmt er — ohne in mein eigenes Machwerk ver­ waren und nie überarbeitet wurden, werden liebt zu sein — fast die nämlichen Ge­ die Auszüge in unverändertem Wortlaut ge­ danken.“ bracht11). Wer die eine oder andere Wen­ Wir müssen der Versuchung widerstehen, dung nicht elegant genug findet, möge be­ auch noch die nachfolgende reizende Schilde­ denken, wie jung der Schreiber war, der rung dieses ländlichen Festes wiederzugeben. seine Tageseindrücke mit rascher Feder, ohne Leider ist uns Hebels Hochzeits-Carmen an einen Mitleser zu denken, hinschrieb. nicht überliefert und die Verse seines da­ Die Reihe der Auszüge, in denen der mals noch fünfzehnjährigen Schülers können Name Hebel fällt, beginnt mit einer Idylle. kaum den Anspruch erheben, der Nachwelt Eintrag vom 1. Juli 1822 (Karlsruhe): in vollem Wortlaut mitgeteilt zu werden. Doch seien die erste und letzte Strophe „Den ganzen Morgen regnete es, erst wiedergegeben: gegen Mittag trat die Sonne aus dem Ge- wölke und am Abend ward es wirklich Sieh’ Blumenkränze bringen wir, schön, besonders da die Hitze, die dieses Des schönen Frühlings Blüten Jahr drückender war als je, dadurch gemil­ Nur wenig ist es, was wir dir, dert wurde. Doch gern und freudig bieten — Ich wurde auf diesen Abend zu einer Du ziehst in Deine Heimat hin, Gesellschaft eingeladen, bei dem Herrn von Entfernst dich von uns allen, Kageneck. Es gab eine kleine Fete auf der Läss’st unsere Kränze, ach, verblühn Glashütte, der Fräulein v. Reck oder jetzigen Und unser Lied verhallen. Frau v. Suntal zu Ehren, die vor etlichen Bei der Suche nach diesem Gedicht im Nach­ Tagen sich verheiratet hatte. Ich mußte dabei laß des Hofdiakonus glückte ein schönerer singen und ging mit den anderen, die über­ Fund. Im Inhaltsverzeichnis seiner hand­ haupt etwas beim Feste zu tun hatten, schriftlichen Gedichtsammlung fand sich der voraus. Die größere Gesellschaft kam später Titel „Wechsel — An den Prälat Hebel“. und wurde von uns empfangen. Sechs Kna­ Auf der angegebenen Seite steht nachfol­ ben und Mädchen, die Knaben als Bauern gendes Gedicht. Der Überschrift „An einen verkleidet, traten aus dem Gebüsche mit Greisen“ ist die Zeile vorangesetzt: „Wechsel Kränzen auf einmal vor und der Gesell­ Das Thema v. Präl. Hebel gegeben“ und schaft in den Weg, Marschall hielt eine Rede unter dem Gedicht ist vom jungen Poeten an sie, in der er etwas stecken blieb, und vermerkt: „Von Herrn Hebel für eine Kunst­ hinter dem Gebüsche standen wir vier ausstellung erklärt — besonders das Ende Sänger (Kageneck, Stockhorn, Reck und ich) für sehr schön erklärt, nichts weiter daran und bewillkommneten sie mit einem Liede. corrigiert.“ Die Dichtung ist vom Prälaten Hebel. An einen Greisen Ich hatte ein Lied dazu machen sollen und Klage nicht, daß jene Tage, war schon fertig damit, nun hatten sie es Da du in Jugendkraft des Lebens Stürmen dem Prälaten Hebel aufgetragen. Dies wollte Trotztest, jetzt dahingeschwunden! 34 O klage nicht, daß deine Kniee wanken, Hebel seinen jungen Schülern das Thema Daß dich Aller Loos getroffen! der Vergänglichkeit nicht im Sinne seines Sieh um dich, sieh wie Alles auf der Erde gewaltigen gleichnamigen Gedichts stellte, Wechselt, und im Wechsel fliehet, sondern in der Denkform des Wechsels. Wie Sieh wie ein Bild das andere verdrängt, sich jugendlich schön und auch poetisch glücklich Alles seinem Ende nähert! — dadurch, daß er, der Jüngling, sich an O freue dich darüber! — Oder willst du einen Greisen wandte — Hausrath die Auf­ Daß die Rose ewig blühe, gabe löste, erkennen wir leicht, wenn wir das Der Wiese frisches Grün sich nimmer bleiche, am 6. 1. 1836 entstandene Greisen-Gedicht Daß dem Baum kein Blatt entfalle? eines anderen Siebzehnjährigen betrachten, Wie, soll die Flur Jahrtausende hindurch das Jakob Burckhardts unjugendlich todessehn­ Bild der einen Frühlingsstunde süchtige Verse „Der Sylvesterabend des Im Antlitz tragen? Wie, soll diese Sonne Greisen“.112) Sich im Morgenthau nur spiegeln? * Wenn du es wünschest, daß die Zeit dahin- Aus dem Eintrag vom 4. Mai 1823 Durch Aeonen ohne Wechsel, [schleicht (Karlsruhe): Dann wünsche Jugend dir, die nimmer altert! „Ich ging lange Zeit mit dem Kirchenrat Aber wenn du gern es siehest, Doll, er sagte zu mir, ich hätte ihm letzthin Wie dort die Rose schüchtern sich emporhebt, eine große Freude gemacht. Der Prälat Sich entfaltet, und selbst welket, Hebel hätte ihm einen Aufsatz von mir ge­ Wenn es dich freut, daß Veilchen wiesen, der sehr schön gewesen sei. Ich freute und Zeitlosen mich und führte das Gespräch mit ihm fort Dort der Wiese Grün durchweben, über Sprache, Literatur, Verfall der italieni­ Daß jener Baum nicht Blüten — schen Dichtkunst, über Rousseau und die nein auch Früchte Revolution und über den jetzigen Zustand Trägt, daß jene vollen Ähren von Spanien und Frankreich.“ Des Sommers Glut erzeugt, und daß des Schnees * Flocken auch den Winter kleiden; Der Eintrag vom 5. Oktober 1823 ist auf Wenn dich der Sonne — Untergang entzückt! einer Wanderung in der „Schönmünzacher O dann klage nimmer, daß dich oder Schwarzenberger Glashütte“ im Würt- Dein Genius den Weg der Menschheit führet, tembergischen geschrieben. Der Karlsruher O dann klage nicht, daß du auch Lyceist kam im Wirtshaus in ein Gespräch Die schwache Hülle bald vertauschest; preise mit Bauern — Deinen Winter, ohne ihn beut „da kam einer mit dem Wort dazwischen, Der ew’ge Frühling nimmer seine Kränze. ich hätte ganz recht, aber ob es einem wohl sein könne, wenn die Regierung ihre Unter­ Das Gedicht ist nicht datiert, doch kann tanen so behandelte, wie sie behandelt Hausrath, als er sich dieser poetischen Schul­ würden. Beinahe das einzige Mittel zu ihrer aufgabe unterzog — oder sollte ihm Hebel Erhaltung sei die Viehzucht, nun ließe aber das Thema privatim gestellt haben? — nicht der König beinahe alle ihre Weideplätze älter als siebzehn Jahre alt gewesen sein, wegnehmen und umzäunen, um neue denn schon im Herbst 1824 siedelte er zum Waldungen anzulegen. — „Aushungern Studium der Theologie nach Göttingen über. wollen sie uns“ fuhr er in erhöhtem Tone — Es erscheint uns bemerkenswert, daß fort und fing nun eine Litanei über die Be­

3' 35 drückungen des Landvolks an, wie man sie gleich von der anderen Seite des Hauses das in unseren Tagen nicht selten hört. Wiesental, das wahrlich seinen Hebel ver­ Ich erinnerte mich an das Noli me tangere, dient hat. Wir trieben uns hauptsächlich in welches Hebel, wohlmeinend, bei Gelegen­ den Weinbergen herum und aßen den Leuten heit eines politischen Aufsatzes zu mir ge­ die Trauben.“ sprochen hatte, und da ich überdies einige ■k Personen mit öffentlichen Röcken in der Eintrag vom 12. Januar 1824 (Karlsruhe): Stube sitzen sah und nicht wußte, wie weit „Der Prälat Hebel gab mir heute meinen sich die liberale Gesinnung der württem- Aufsatz mit einer sonderbaren Kritik zu­ bergischen Regierung erstrecke, so gab ich rück. Er schien manches nicht verstanden zu ihnen einige allgemeine Trostsprüchlein haben oder verstehen zu wollen. Freilich preis, sprach in nichtssagenden Phrasen habe ich etwas allzu derb darin hatgrihirt15), weiter und wurde immer allgemeiner und und ein anderes Mal will ich es nicht mehr allgemeiner, bis ich auf Gegenstände, die tun.“ weniger verfänglich waren, leicht übergehen * konnte.“ * Die Begebenheit vom 23. 1. 1824, so un­ scheinbar sie sich dem ersten Blick darstellt, Die Aufzeichnung vom 19. Oktober 1823 würde für den alternden und trotz treuer führt uns in Hebels Heimat. Hausrath macht Freunde immer einsamer werdenden Präla­ eine Wanderung durchs Oberland und kehrt ten tröstlich gewesen sein, zumal er wohl im Pfarrhaus zu Egringen ein, wo er seine gerade an diesem Tage seinen am 21. 1. 1824 Karlsruher Mitschüler Ferdinand Hitzig12), gestorbenen alten Freund Nikolaus Sander, den Sohn des Egringer Pfarrers Ferdinand „mit dem ich in 32 Jahren viel lieb und leid Sigismund Hitzig13), und Theodor Seubert durchgemacht habe“ (Br. v. 7. 2. 1824), zu trifft. Gemeinsam gehen sie am nächsten Grabe getragen hatte. Tage nach Wollbach, besuchen dort Pfarrer Am 22. Januar 1824 notiert Hausrath, Raupp14) und setzen die Wanderung mit daß das Schwesterchen Röse seines Schul­ Raupps Sohn fort: freundes Karl von Kageneck, „ein Kind von „Wir gingen von hier über das Gebirg sieben Jahren so hoffnungsvoll wie ich noch zum Teil klassischen Boden, wenigstens keines sah“, am Scharlachfieber gestorben durch Schlachten berühmt, bis wir von der war und daß die Eltern bei Frau von Mar­ Anhöhe das reizende Wiesental übersehen schall Wohnung nahmen. konnten. Das alte Schloß Rötteln sieht Eintrag vom 23. Januar 1824 (Karlsruhe): schauerlich in das freundliche Tal von seinen „Ich ging abends zu Marschalls. Ich be­ Waldbergen herab. Hitzig und Raupp, die wundere diese Frau immer mehr, wie sie Väter und die Söhne, sollen manches hun­ alles richtig aufzufassen und wenden weiß, dertmal über diese Berge nach Lörrach herab wie sie alles vermeidet, was den Schmerz in die Schule gegangen sein und wußten der unglücklichen Eltern wieder aufregen manches Geschichtchen noch von jenen Zeiten (kann). Wir lasen in Hebels Gedichten. — zu erzählen. Wir kamen endlich nach Tül- Wahr ist es aber doch, die Menschen sind lingen, wo ein splendides Mittagessen ge­ nie liebenswürdiger als im Unglück.“ geben wurde. Das Pfarrhaus liegt von allen, * die ich bis jetzt kenne, am schönsten. Man Eintrag vom 28. Januar 1824 (Karlsruhe): übersieht das ganze weite Feld bis Basel und „Der Prälat milderte heute im Hebräi­ darüber, den grünen Rheinstrom und zu­ schen seinen gestrigen etwas schneidenden 36 Ton und war außerordentlich gnädig. Nach­ buch — bezeichnenderweise — ausschweigt, mittags trieb ich Italienisch und Tacitus und hatte sich entschlossen, in Göttingen und Theokrit16), dann besuchte ich Kageneck in Halle Theologie zu studieren. Er nahm im bestem Humor, ging dann in den Singkranz Königsbacher Pfarrhaus von seinen Eltern im Museum17), wo mich Langeweile und und seiner Großmutter Abschied und fuhr Überdruß beinahe überfallen hätten — ich am 16. Oktober 1824 nach Karlsruhe zurück, entging aber diesen schlimmen Gästen durch um von dort nach Göttingen weiter zu einen Besuch bei Marschall, wo ich mit dem reisen. Herrn von Reck einen interessanten Streit * über Schiller und Goethe führte — und Eintrag vom 16. Oktober 1824 (Karls­ legte mich dann um 10 Uhr ins Bett, zufrie­ ruhe) : den mit dem heutigen Tage.“ „Nach ein Uhr wurde der Wagen einge­ * spannt, und ich sagte meinem lieben Königs­ „Sonntag, den 8. Februar 1824 (Karls­ bach Lebewohl. August ging mit mir bis ruhe) : Morgens schrieb ich an einer Epistel für Karlsruhe, wo mir auch noch einige harte Adolf von Märschall. Der Prälat hatte mich Stunden bevorstanden. Prälat Hebel gab gestern zum Essen eingeladen, und ich war mir eine Schrift mit, vermittelst welcher ich heute dort von 12—3. Er ist unerschöpflich die Collegien in Göttingen frei bekommen an neuen Erzählungen. Zandt18) kam am sollte. Der Kirchenrat Doll, der wirklich als Ende auch dazu, und wir sprachen von der ein Vater für mich gesorgt hat, schrieb sie, Schweiz. Dann machte ich eine Visite bei und Hebel gab nur seinen Namen dazu her.“ Gailings, traf sie aber nicht an.“ Eintrag vom 25. Oktober 1824 (Göt­ tingen) : * „Heute gab ich meine Schrift vom Herrn Prälat Hebel den hiesigen Professoren beim Die Schulferien im April 1824 verbrachte Belegen der Collegien. Bouterwek hatte mir Hausrath wieder bei seinen Eltern in schon vorher einen sehr guten Platz ver­ Königsbach, wo er den Brand des Hauses, in sprochen, weil ich mich durch Eisenlohr hatte dem seine Tante wohnte, miterlebte. Zwei melden lassen, auch hielt er die Schrift per­ Tage vor Wiederbeginn der Schule kehrt er sönlich an ihn gerichtet. Pott sagte mir, er nach Karlsruhe zurück. wolle es tun, obgleich die Schrift nicht in Eintrag vom 2. April 1824 (Karlsruhe): forma probante geschrieben sei.“ „Ich kann die traurigen Gedanken nicht In den weiteren Aufzeichnungen des Göt­ los werden. Ich glaube beinahe, daß ich tinger Studenten wird Hebels Name nicht Heimweh habe. Ich war heute auch beim mehr erwähnt. P rälat.“ * * Als der Prälat starb, befand sich Haus­ In den nächsten Monaten ging für Haus­ rath auf einer mehrwöchigen Wanderung rath die Schulzeit zu Ende. Die folgende durch Böhmen und Sachsen. Die Todesnach­ Eintragung stammt schon nicht mehr von richt empfängt er auf dem Rückweg nach dem Schüler, sondern dem „mulus“. Haus­ Halle in Dresden. rath, der beim Abgang vom Lyceum die Eintrag vom 30. September 1826 (Dres­ poetische Abschiedsrede gehalten und als den): primus omnium eine silberne Denkmünze „Die Dresdner Zeitung fiel mir in die bekommen hatte, worüber sich das Tage­ Hände. Die erste Nachricht, die ich darin 37 las, war die, daß Hebel den 22. September Durch Hebels Tod scheint das Konsisto­ in Schwetzingen verschieden ist. Ich weiß, rium ganz in Unordnung geraten zu sein. was ich an ihm verloren und werde mich Die Professoren stehen sich selbst hemmend immer noch glücklich preisen können, wenn einander gegenüber. — ihn in der Folgezeit nur mein Herz ver­ Dem guten Prälat ist es ergangen wie mißt. — Wenn ich dann doch einmal die vielen anderen großen Männern. Die letzte traurige Nachricht erhalten mußte, so ist es Mißhandlung erfahren sie vom Leichen­ immer noch am besten, daß es hier zuerst prediger. Der gute Mann sprach von seinen geschah, denn Dresden ist ebenso geeignet, Verdiensten und die brillanteste Stelle der zerrissene Herzen zu heilen, als einen Glück­ Rede war: Wir ersehen hauptsächlich die lichen fühlen zu lassen, was ihm alles noch Verdienste des Abgeschiedenen darin, daß er fehlt.“ durch das Vertrauen unseres allergnädigsten Einige Seiten später: Landesherrn so sehr geehrt wurde, daß „Eine schöne Promenade, an einem Monu­ dieser ihm selbst den Löwinger Zähren­ ment vorbei, dessen Bedeutung ich nicht ver­ orden20) erteilt. Die ganze Versammlung, stand, führt von hier zur Brühl’schen Ter­ der überhaupt bei einer solchen Leichenrede rasse. Wir setzten uns hier zu der Musik und sonderbar zumute gewesen sein mag, soll bei tranken einen Kaffee. Der Platz geht über dieser Stelle laut aufgelacht haben. Auffal­ den Elb-Pavillon in . Die Aussicht lend ist es, daß aus Karlsruhe kein einziger über den Fluß bei Sonnenuntergang ist wun­ von den Kollegen Hebels und überhaupt dervoll. Allmählich brach die Nacht herein. niemand zugegen war, als der Medizinalrat Eine zahllose Menge von Spaziergängern Seubert, während sich doch auf zehn Stun­ schwebte an dem eisernen Geländer vorüber den alle Landpfarrer und Dorfschulmeister und weilte zum Teil bei der rauschenden eingefunden hatten.“ Musik, die in vollen Akkorden den schönen * Abend feierte. In der Neustadt flimmerten einzelne Lichter, bald spiegelte sich auch die Die Aufzeichnung über die schwungvolle volle Beleuchtung der Elbbrücke im Wasser Sylvesterfeier der an der Universität Halle wieder. Unter sinnigen Gesprächen über die studierenden badischen Landsleute beschließt Schicksale des Menschen im Leben, zu denen die Reihe dieser Auszüge, die, wenn sie auch der Tod Hebels und so vieler meiner dem Bilde Hebels keinen neuen Zug hinzu­ Freunde19) Veranlassung gaben, fanden wir fügen, den Verehrern und Freunden des endlich unser Stübchen wieder.“ Dichters vielleicht nicht ganz unwillkom­ men sein mögen. * Eintrag vom 1.1. 1827 (Halle): Bei Beginn des Wintersemesters 1826 ist „Es geziemte sich, das alte Jahr — das Hausrath wieder in Halle. letzte meines Universitätslebens — noch mit Eintrag vom 18. Oktober 1826 (Halle): allem Jubel zu beschließen, und es ist auch „Neun neue Landsleute ersetzen die ab­ geschehen. Ich werde an die durchschwärmte gegangenen reichlich wieder, wenigstens der Neujahrsnacht mit so mehr Vergnügen Zahl nach. Die Nachrichten aus Karlsruhe denken, da kein Jammer und Überdruß lauten alle sehr traurig. Der Großherzog zurückgeblieben ist. läßt seit drei Wochen jeden Sonntag 5000 Unsere meisten Landsleute waren noch in Mann auf dem Schloßplatz defilieren und das Theater gegangen, ohne sich darin zu scheint über seinen Soldaten ganz kindisch amüsieren, als etwa an den schlechten Schau­ geworden zu sein. — spielern. Um neun Uhr versammelten wir 38 uns unten im vorderen Zimmer. Bis V2I 2 Die Annahme, daß ein Mann wie Johannes commersierten wir in Bier mit aller Ruhe Bähr25), der selbst schon im Jahre 1826 und Gemütlichkeit. Das Präsidium wechselte das Ritterkreuz des Zähringer Löwen- unter uns. Schillers Hymne an die Freude Ordens erhalten hatte und im folgenden wurde nicht vergessen und dem unsterb­ Jahre als Nachfolger Hebels in der Prälaten­ lichen Sänger ein Vivat gebracht. Sodann würde mit dem Kommandeurkreuz dieses wurde die erste Bowle Punsch aufgetragen, Ordens geehrt wurde26), sich so einfältig — für Schillers Punschlied ward mir das Prä­ subaltern über diese Auszeichnung als Indiz sidium übertragen. Die Gesundheiten wur­ für höchste Verdienste geäußert haben den ausgebracht, zuerst für uns Badener könnte, verbietet sich von selbst. Vielmehr selbst, dann für unsere Lieben in der Heimat dürften sich die Studenten über Ungeschick­ und für die Toten. Lehlbach, ein leiden­ lichkeiten eines der beiden Ortsgeistlichen schaftlicher Verehrer von Paulus, ließ ihn ereifert haben, die Sonntag, wenn er sie hochleben, von ihm kam man auf Voss, ich überhaupt erfahren haben sollte, in seiner stellte mich nun in vollem Eifer auf den Lebensbeschreibung selbstverständlich nicht Stuhl und brachte Hebels Andenken in verewigen wollte und durfte. — Bedenklich dankbare Erinnerung.“ mag allerdings erscheinen, daß die Anwesen­ heit und Ansprache des Kirchenrats Bähr, * der seit 1822 auch Hebels Karlsruher „Kollege“ in der Kirchensektion war und Eine Nachbemerkung zum Eintrag vom den Karlsruher Lyceisten bekannt sein 18. 10. 1826: mußte, bei Hausrath überhaupt nicht er­ Dem Tagebuch ist leider nicht zu entneh­ wähnt sind. Doch legte der junge Tagebuch­ men, von wem Hausrath diese Angaben über schreiber keinen Wert auf eine vollständige die Leichenpredigt erhielt. Sie scheinen die Dokumentation. Aus der fehlenden Erwäh­ bei Altwegg21) mitgeteilte Schilderung Sonn­ nung der würdigen Ansprache Bährs läßt tags zu ergänzen, nicht aber in Widerspruch sich daher kein Argument gegen die Glaub­ zu ihr zu stehen. Altwegg hat den Bericht, haftigkeit der von Hausrath festgehaltenen den Gustav Friedrich Nikolaus Sonntag Tatsachen herleiten, zumal auch bei Sonn­ (1788—1858), Hebels Nachfolger in der tag über die Anwesenheit von Kollegen oder Kirchen- und Ministerialrats-Stelle22), in sonstigen Staats- und Kirchendienern aus seiner „Lebensbeschreibung“ Hebels23) ge­ Karlsruhe — außer Bähr — nichts zu lesen geben hat, nicht vollständig zitiert. Der ist. Selbst ein unzweifelhafter Augenzeuge, letzte Satz lautet: „Von den beiden Orts­ der Heidelberger Professor Karl Philipp geistlichen sprach der eine noch einen Nach­ Kayser, hat in seiner Tagebuchaufzeichnung ruf am Grabe und der andere hielt eine Rede vom 18. bis 24. 9. 1826 über die Beerdigung in der Kirche, womit die Leichenfeier be­ nur vermerkt: „Wir feierten seine Leiche schlossen wurde.“ Hiernach wird es sich also durch zahlreiche Anwesenheit: denn von bei der Predigt, über die sich die badischen hier (Heidelberg) und und aus Studenten in Halle vielleicht auch etwas der Umgegend von Schwetzingen versam­ mehr moquiert haben, als nötig gewesen melte sich eine große Menge, um ihn zu wäre, nicht etwa um die kurze Ansprache seiner Ruhestätte zu begleiten27).“ Der Ge­ des Kirchenrats Bähr gehandelt haben, die heime Hofrat Dr. Karl Seubert, Hebels nach Sonntags glaubhaftem, wenngleich Hausarzt, war nicht erst zur Beerdigung wohl auch nur aus zweiter Hand geschöpf­ nach Schwetzingen gekommen; vielmehr war tem Bericht24) alle Anwesenden tief ergriff. er schon ans Krankenbett des Dichters ge- 39 Oberkirchenrat G. F. N. Sonntag 1788—1858 Stadtarchiv Karlsruhe ein Zeitgenose J.P. Hebels und Nachfolger im Amt

40 rufen worden und am Abend des 21. Sep­ Lörracher Zeit her kannte, flüchtete Hebel dreimal, als er auf seiner ersten Oberländer tember in Schwetzingen eingetroffen28). Reise 1796 in die Kriegswirren geriet (Brief Nr. 30 v. 6. 11. 1796). Ein Urenkel der Ehe­ Anmerkungen leute Singeisen-Bürgelin war der Missionsarzt und Schriftsteller Dr. Hermann Vortisch aus *) Sie fand später ihren Platz in der Sakristei Lörrach (1874—1944), an dessen trotz „recht der Karlsruher Stadtkirche, wo sie bis zu großer poetischen Freiheiten“ (Altwegg, deren Zerstörung im letzten Krieg stand. S. 249) reizendes Hebelbuch „Vom Peterli 2) Vgl. über ihn K. Bauer, Adolf Hausrath — zum Prälaten“ (1927 bei Salzer, Heilbronn) Leben und Zeit l.Band, Heidelberg 1933 erinnert sei. Über den Berginspektor vgl. (Fortsetzung nicht erschienen); weitere Lite­ Wilhelm Altwegg, Joh. Peter Hebel (1935), ratur über Adolf Hausrath in Otto From­ S. 28, 52. Hebels Widmungsgedicht an ihn: meis Nekrolog, Biograph. Jahrbuch Bd. 14 Werke ed. Altwegg I2, S. 213; ed. Meckel (1912), S. 294—299, und Oefterings Ge­ (Insel), S. 3; ed. Zentner I, S. 81. schichte der Literatur in Baden II (1937), S. 184 ff, wo Ad. Hausraths Romane, die er *) Vgl. Wilhelm Zentner, Joh. Peter Hebel (Bio­ als George Taylor erscheinen ließ, gewürdigt graphie), S. 31 und Raif, Das Karlsruher werden. Gesellschaftsleben zur Zeit J. P. Hebels, 3) Bad. Biographien I (1875) S. 336—340. Der Jahresheft 1928 („Karlsruhe“) der „Bad. Hei­ Beitrag ist dort nur mit einem Stern ab­ mat“, S. 106, Anm. 2. gezeichnet, also anonym erschienen. Das ,0) Näheres hierüber in Wilhelm Zentners Bei­ Manuskript liegt mir vor; auch die bisher trag „Hebel und das Karlsruher Gymnasium“ noch nicht veröffentlichten oder sonstwie in der diesjährigen Jahresschrift des Gym­ ausgewerteten Tagebücher meines Urgroß­ nasiums und hier S. 45 ff. vaters August Hausrath, aus denen die 10a) Seit kurzem besitzen wir eine Untersuchung Hebel betreffenden Stellen im Text mit­ hohen Ranges über die damalige Bildung am geteilt werden, und seine Gedichtmanuskripte Oberrhein im allgemeinen und in Karlsruhe befinden sich in meinem Besitz. Über August im besonderen: die im „Schauinsland“ 76 Hausrath vgl. ferner Bauer a. a. O. S. 46 bis (1958), S. 59—81 veröffentlichte Abhandlung 50 und das Universal-Lexikon vom Groß­ von Paul Malthan „Die Oberrheinische Kul­ herzogtum Baden (Karlsruhe 1843), Sp. 515 f, turprovinz im Zeitalter Karl Friedrichs und wo er, noch zu Lebzeiten, als „einer der Hebels“. Die für mehrere Wissenschaftszweige, gemütvollsten und beliebtesten Geistlichen nicht zuletzt für die Hebelforschung, un­ unseres Großherzogtums“ bezeichnet wird. gemein anregende Arbeit ist auch ein wert­ 4) Vgl. Ad. Hausrath, Richard Rothe und seine voller Beitrag zur Geschichte des — trotz der Freunde, 2. Band (Berlin 1906), S. 73 ff; ferner Napoleonischen Geburtshilfe — Werdens und Rapp, König Haber, Vossische Zeitung vom Wachsens einer badischen Staatsgesinnung 29. 5. 1932 (Nr. 148). und Heimatliebe. 5) Bad. Biographien II (1875), S. 254. u) Nur die Schreibweise und die Interpunktion 6) Bad. Biographien I, S. 336. wurden, sofern es sich nicht durch den Tage­ 6a) Neben anderen; genannt seien der junge buchstil verbot, der unseren angeglichen. Schwager von Hebels Freund Gmelin, Chri­ lla) Schlußstrophe: „Doch als ich hob den Becher stian Philipp Herbst (Bad. Biogr. II, S. 560), Wein, / Da klang daran so leis' und fein der Sohn des Pfarrers in Steinen (Ad. Schmitt- / Manch andrer Becher von Geisterhand. / henner: „Das Tagebuch meines Urgroßvaters“) Bald folg ich Euch, Freunde, ins stille Land!“ und Hebels Patenkind Oswald Haufe, den S. den Teilabdruck bei W. Kaegi, Jacob der Prälat noch im Frühjahr 1826 bei sich Burckhardt, Biographie, Bd. I (Basel 1947), aufnahm. S. 277; vgl. auch S. 273 f. über die Bedeu­ 7) Die Begründung dieses Satzes kann hier aller­ tung von Hebels „Vergänglichkeit“ für Burck­ dings nicht gegeben werden; sie würde — mit hardt, der noch im Alter seine Schüler auf weiteren, Hebel nicht betreffenden Tagebuch­ dieses „feierlich ergreifende Gedicht“, das auszügen und ihren Analysen — den Rahmen zum Ergreifendsten gehöre, was die Poesie dieses Beitrags sprengen. aller Zeiten geschaffen habe, hinzuweisen s) Amalie Hausraths Grab ist auf dem Alten pflegte. Der „Sylvesterabend“ entstand zwar, Friedhof zu Freiburg. — Eine Cousine ihres noch bevor sich die Eichendorffschen „For­ Vaters, auch des Berginspektors, war Sabine meln“ im Empfinden und Denken Burck- Bürgelin geb. Herbster, die zweite Schwieger­ hardts einprägen konnten, läßt jedoch schon mutter des Riehener Arztes Dr. Theobald die Empfänglichkeit für sie erkennen; vgl. (Diebold) Singeisen (nach einer freundlichen hierüber jetzt W. Rehm, J. Burckhardt und Auskunft der Lörracher Genealogin Margret Eichendorff, Freiburg 1960. Krieg); zu Singeisen, den er schon von seiner 12) Bad. Biograph. I, S. 377 ff. 41 13) Zentner, Hebel-Briefe II, S. 781, zu Brief 51. 22) Vgl. die Lebensbeschreibung Sonntags von u) Zentner, Hebel-Briefe II, S. 848, zu Brief 267. Dr. J. Holtzmann in Bad. Biograph. II, Seite 15) Vermutlich eine lyceistische Verballhornung 303 ff. Kirchenrat Sonntag war — als Urur- von harang(u)ieren (aus franz. haranguer) in enkel des Markgräfl. Rentkammerrats Engel­ der Bedeutung von: schwafeln, drauflos­ hard Sonntag (1643—1725), dessen Grabstein schwätzen. noch in der ehem. prot. Kirche, der jetzigen 16) Eine Schulaufgabe für Hebel, dem die Er­ Festhalle zu Müllheim steht — ein Verwandter klärung Theokrits auch noch nach 1814 als von August Hausraths 2. Schwiegertochter Lehraufgabe verblieben war; vgl. Zentner Luise Sonntag aus Emmendingen, wo sein Biograph., S. 213. Dazu noch Hebels Brief Vater, Hebels „zuverlässigster“ Jugendfreund an Hitzig vom 30. 11. 1807: „Ich bekomme Wilhelm Engelhard S.— der „Kanderer Sonn­ Herodot, den ich liebe, Theokrit, auf den tag“ des Hebelbriefs an Hitzig vom 13. 4. ich midi freue, den Plutarch, den der Teufel 1811 — im Jahre 1799 gestorben war und hole . ..“ Über Hebels Übersetzung von Theo­ wo die Famihe Sonntag heute noch ansässig krits 15. Idyll vgl. Altwegg, S. 166 und 240. ist. Vgl. über G. Fr. N. Sonntag auch Albert Seine Nachbildung „Kürze und Länge des Eisele in „Mein Heimatland“, 17. Jahrg. Lebens“ (hochdeutsches Gesicht): Werke ed. (1930), S. 1 f, über Wilh. Eng. Sonntag Alt­ Altwegg I2, S. 307; ed. Meckel (Insel), S. 162; wegg S. 28, 45 und Zentner Biograph. S. 55 f. ed. Zentner I, S. 294; Zentners Hinweis Luise Sonntags Urgroßmutter Maria Magda­ (S. 358) auf Theokrit als Muster ist wohl lena Sander (1757—1819) war als Urenkelin treffender als Altweggs Hinweis auf die des in Köndringen seßhaft gewordenen Regi­ 7. Ekloge Vergils, zumal ja die Idyllen ments-Feldschers Christian Sander (1655 bis Theokrits, wie Vergil in den ersten Zeilen zw. 1710 u. 1713), des Sohnes des Bürger­ der 4. und 6. Ekloge selbst andeutet, die meisters von Ratzeburg, eine Verwandte des Vorbilder für seine Bucolica waren. oben erwähnten Kirchenrats Sander und eine 17) Gemeint ist das 1916 durch Brand zerstörte Schwiegertocher des in Hebels Brief v. 28. 4. schöne Gesellschaftshaus, das sich die seit 1822 genannten Karlsruher Posthalters und 1808 (nicht 1818, wie Altwegg, S. 90) j,Mu- Erbprinzenwirts Theodor Christoph Kreg- seum“ genannte exklusive Lesegesellschaft linger (1731—1817) und seiner Ehefrau nach Weinbrenners Plänen bauen ließ und Jacobina, geb. Benckiser. Über Sander: Bad. dessen Einweihung am 9. 12. 1814 Hebel, Biograph. II, S. 230, über die Kreglinger: der für die Gesellschaft manches Festgedicht Fritz Hirsch, Hundert Jahre Bauen und verfaßt hatte, absichtlich mied, denn „es ver- Schauen, Bd. II, 1932, S. 330 ff. (Note 401); dreusst mich die große Anstalt und Pracht“ vgl. auch Hodapp, Bad. Heimat 1959, S. 368 ff. (Brief Nr. 388 vom 9. 12. 1814 an Gustave 2S) In dem 1834 erschienenen 1. Band der acht­ Fecht). Am 4. 10. 1815 führte er mit Wein­ bändigen Gesamtausgabe bei C. F. Müller, brenner Goethe in dieses Haus; vgl. die Karlsruhe. Aufzeichnung v. Biedenfelds in Goethes Ge­ spräche ed. Flodoard v. Biedermann, 2. Aufl. 24) Sonntag lebte seit 1812 als Diakonus und II (1909), S. 350. Goethe erwähnt die Begeg­ Vorstand der Lateinschule, seit 1825 als nung kurz in den Tag- und Jahresheften Stadtpfarrer in Müllheim, wohin die Todes­ 1815 am Ende. Über die — bekanntlich nachricht wohl frühestens am Spätnachmittag allerdings ganz einseitige — innere Begeg­ des Todestages gelangt sein konnte; die Be­ nung der beiden: W. Rehm, Goethe und erdigung in Schwetzingen fand schon am J. P. Hebel, Freiburger Universitätsreden folgenden Nachmittag statt. NF, Heft 7, 1949; erweitert in „Begegnungen 25) Vgl. Bad. Biograph. I, S. 31. und Probleme“ (Bern 1957), S. 7 ff. — Über die Museumsgesellschaft vgl. Raif a. a. O. 26) Universal-Lexikon (vgl. Anm. 3) Sp. 71. S. 108 f., vor allem aber wieder die in Anm. 27) Aus gärender Zeit, Tagebuchblätter usw. 10a genannte Abhandlung von Malthan in (Heimatblätter „Vom Bodensee zum Main“, „Schauinsland“ 76 (1958), S. 59 ff., hier ins- Nr. 24, 1923), S. 99; wieder abgedruckt bei bes. S. 69 u. 75. Albert Becker, Ein Schwetzinger Hebelfreund *“) Kirchenrat Jacob Friedr. Theodor Zandt (Gartenbaudirektor Joh. Mich. Zeyher, in (1760—1843), seit 1814 Direktor des Karls­ dessen Wohnung Hebel starb), „Mein Hei­ ruher Lyceums; vgl. Bad. Biograph. II, S.532. matland“, 27. Jahrg. (1940), S. 185 ff. 19) Tief erschüttert hatte den Studenten Haus­ 28) Sein Bericht und der des Schwetzinger Arztes rath der Tod seines Freundes Karl von Dr. Ludwig Griesselich ist abgedruckt in Dr. Kageneck im Juni 1826. Oskar Harfners Abhandlung „Über Hebels 20) Umdrehung der Worte „Zähringer Löwen- letzte Krankheit und Tod“, Zeitschrift der Orden“, vermutlich ein peinlicher Lapsus des Gesellschaft für Beförderung der Geschichts-, Pfarrers. Altertums- und Volkskunde von Freiburg 21) Vgl. Altwegg, S. 229 f. usw. Bd. 34 (1918) S. 155—159. 42 Johann Peter Hebel, Prälat Lith. von C. F. Müller in Carlsruhe, nach Agricola (1814)

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Titelblatt „Der Rheinländische Hausfreund oder Neuer Calender auf das Jahr 1811“ 44 Johann Peter Hebel und das Karlsruher Gymnasium0

Von W ilh e lm Z e n tn e r, München An einem Apriltag des Jahres 1774 stan­ anstalt des Landes, das Gymnasium illustre den vor der Poststation Kaltenherberge an in Karlsruhe, und der Hofdiakonus August der großen Landstraße ein bäuerlich gewan- Gottlieb Preuschen, Obermüllers Amtsvor­ deter, stattlicher älterer Mann und ein Knabe gänger, leitete in der Residenz die vorberei­ von noch nicht ganz vierzehn Jahren, des tenden Schritte ein. Er erwirkte, daß der „Pforzheimer Boten“ gewärtig, der den junge Hebel ein Jahr früher als üblich kon­ Reise- und Postverkehr zwischen den süd­ firmiert werden und danach zum Beginn des lichen und nördlichen Landesteilen der Mark­ neuen Schuljahrs die Reise aus dem Ober- grafschaft Baden-Durlach besorgte. Der ins Unterland antreten konnte. Die Zinsen Mann war Sebastian Wahrer aus Hausen im aus dem von der Mutter hinterlassenen Wiesental, der Knabe sein Mündel Johann kleinen Vermögen sowie die Zusage mehrerer Peter Hebel, der am 16. Oktober des ver­ Freitische ermöglichten es dem Vierzehn­ gangenen Jahres seine Mutter Ursula Hebel jährigen, den begonnenen Bildungsweg fort­ verloren hatte, nachdem es dem bereits 1761 zusetzen. So fuhr man, nachdem dem Pforz­ durch einen jähen Tod dahingerafften Vater heimer Boten die Transportgebühr von Johann Jakob Hebel nur beschieden gewesen 7 Gulden 21 Kreuzern erlegt worden war, war, den ersten Zahn und die frühesten Geh­ dem neuen Bestimmungsort entgegen. versuche seines einzigen Sohnes zu erleben. Als der in Karlsruhe Angelangte zur Mel­ Hanspeter fühlte sich noch nicht recht wohl dung und Eintragung in das ledergebundene in dem neuen, vorsorglich fürs „Hinein­ Schülerregister vor dem damaligen Rektor wachsen“ gemachten Anzug, und noch weniger Johann Christian Sachs erschien und beschei­ schienen ihm die Schuhe an den Füßen zu be­ den, wie die Mutter es ihn gelehrt hatte, das hagen; war er doch durch den größten Teil Käppiein zog, schwante ihm schwerlich, daß seines bisherigen Lebens „barfiß“ geschritten er selbst einmal auf dem Stuhle des Anstalts­ und hatte sich durchaus wohl dabei gefühlt. leiters thronen werde. Das Karlsruher Gym­ Er war ein munterer, aufgeweckter Bub, hin­ nasium illustre, das sich damals, ein lang­ ter dem seine ersten Lehrer bald mehr ver­ gestreckter Holzbau, an der Nordostecke des mutet hatten als einen künftigen Bauern heutigen Marktplatzes und der Kaiserstraße oder Leinweber. Ein Lieblingswunsch der befand, konnte auf eine rühmliche Tradition verstorbenen Mutter war gewesen, daß ihr zurückblicken. Im Jahre 1568 war es unter Sohn Theologie studieren möge, und so hatte dem Markgrafen Ernst Friedrich in der da­ er in den letzten Jahren die Lateinschule in maligen Residenz Durlach gestiftet worden Schopfheim, ein Sommersemester lang (1772) und gedieh rasch zu schöner Blüte. Einem sogar das Gymnasium am Münsterplatz in Basel besucht. Der Schopfheimer Diakonus Zug der Zeit entsprechend lag das Haupt­ und Pfarrer in Hausen Karl Friedrich Ober­ gewicht auf der Erweckung religiösen Sinns, müller, der den Unterricht in Latein und in in der Heranbildung tüchtiger Theologen. den Anfangsgründen des Griechischen er­ Nach der Verlegung des Regierungssitzes in teilte, befürwortete mit warmen Worten den das von Markgraf Karl Wilhelm neugegrün­ Übertritt seines Schülers in die erste Bildungs- dete Karlsruhe wurde bald auch das Gym­ nasium (1721) in der werdenden Residenz *) Aus dem Jahresbericht des Karlsruher Bis­ marck-Gymnasiums (Hebelfestschrift) mit frdl. angesiedelt, während in der alten lediglich Erlaubnis. ein Pädagogium zurückblieb. Die Bildungs- 45 Stätte, die sich unter ihrem Rektor Johann Wohnung und Aufsicht, überdies für zwei Kaspar Malsch den stolzen Namen Wochentage Kost. Auch an anderen Frei­ „Athenäum“ zulegte, sah sich zwar durch tischen hat Hebel gesessen, so bei Professor Kriegsnöte und Geldverlegenheiten mehrfach Mauritii und bei dem Geheimen Rat Hum­ in ihrer Entwicklung bedroht, erfuhr jedoch mel, dem Ephorus des Gymnasiums. Allen durch den allen Bildungsfragen lebhaft er­ diesen Männern hat der ehemalige Kost­ schlossenen Markgrafen Karl Friedrich die gänger zeitlebens rührend dankbares Ge­ Begünstigung höchsteigenen Interesses. Be­ dächtnis bewahrt. Noch in demselben Jahre, deutende Köpfe wurden um Erstattung von da Hebel ins Karlsruher Gymnasium auf­ Gutachten angegangen: Gottlieb Konrad genommen wurde, ereignete sich in der Resi­ Pfeffel, der in oberrheinischen Bereichen denz ein Begebnis, das infolge seiner Un­ hochgeschätzte Schulleiter und Dichter in gewöhnlichkeit ein Stadtgespräch abgegeben Colmar, sowie haben mag. Im Oktober 1774 erschien näm­ gehörten zu den Befragten. Zeitweise spielte lich auf Einladung des Landesherrn der ge­ man sogar mit dem Gedanken einer Univer­ feierte Friedrich Gottlieb Klopstock, das sität. Namen von Klang und Gewicht wur­ „Ideal echter menschlicher Größe“, wie ihn den von auswärts berufen, unter ihnen der Friedrich Heinrich Jacobi damals nannte, Physiker Boeckmann und der Latinist und um den ganzen Winter lang am Hofe seines Philosoph Tittel. Gönners und dessen geistig nicht minder reg­ Als Hebel eintrat, betrug die Schülerzahl samer Gattin Karoline Luise zu verweilen. über 180. Die letzten Klassen entsprachen Der Besuch wird wohl seine Wellenkreise bis dem Studiengang der ersten Universitäts­ ins Gymnasium hinein gezogen haben; mög­ semester; den Studiosis war sogar vergönnt, licherweise hat der Dichter in Person einige einen Degen zu tragen; sie durften diesen Lehrstunden in der Anstalt, auf die der allerdings nicht in den Unterricht oder in Markgraf mit Stolz blickte, mit seiner An­ die Kirche mitbringen. Daß Hebel von die­ wesenheit beehrt. Ohne Zweifel aber dürfte ser Vergünstigung Gebrauch gemacht habe, sich Hebel seit jenen Tagen mit den Dichtun­ scheint nicht wahrscheinlich, sonst hätte er gen des Messiassängers beschäftigt haben, den gewiß einmal dieser Tatsache Erwähnung ge­ er selbst zu den ersten Anregern seiner ersten tan. Im übrigen widmete sich der in die poetischen Versuche zählt. Sekunda eingetretene Sohn des Wiesentals Vier Jahre lang war Hebel Karlsruher mit der ganzen Kraft guter Vorsätze den Gymnasiast. Anfangs mag er nur beklom­ gesteigerten Anforderungen der Gelehrten­ men die Luft der kleinen Residenz geatmet schule, wo er gute Fortschritte erzielte. Frei­ haben, die es gerade auf 4000 Einwohner lich versäumte er ebensowenig, jung mit der gebracht hatte und wo jeder zweite Mann, Jugend zu sein; gesteht er doch selbst, daß der einem begegnete, ein Hof- oder Staats­ er als Karlsruher Gymnasiast vor allem im beamter war. Das flache Land war dem nahegelegenen Hardtwald die letzten Träume Wälderbüblein noch wenig vertraut. So er­ seiner Kindheit verträumt, Erdbeeren und schien es ihm als „Sandwüste“, als „Welsch­ Himbeeren gepflückt und Vogelnester ge­ kornland“, eine Bezeichnung, die sich bis in wußt habe. unsere Tage erhalten hat. Durch das Fenster Preuschen, der für seinen Pflegebefohlenen der Studierstube sah man höchstens die zu sorgen versprochen hatte, löste sein Wort. nördlichen Ausläufer des Schwarzwalds mit Im einstöckigen Mansardenhause des väter­ dem markanten Profil des Mahlberges, wäh­ lich gesinnten Hofdiakonus an der Herren­ rend bei Durlach die Vorpostenberge des straße (Nr. 5) fand Hanspeter unentgeltliche Kraichgauer Hügellands an die Rheinebene 46 herantraten. Die Hänge des von Hebel gern wobei der erstere als rücksichtsloser, mit den besuchten Turmberges trugen damals noch moralischen Gebrechen der Leichtfertigkeit, Reben; von Durlach kam überdies die Unwahrhaftigkeit und Gottlosigkeit behaf­ Wasserversorgung der jungen Residenz. Be­ teter Usurpator, Augustus hingegen als Bei­ sonders lieb mag dem Karlsruher Gymna­ spiel des aufgeklärten, goldene Mittelwege siasten der Rhein geworden sein, war er doch wählenden Regenten erscheint, dessen Bild ein alter Bekannter von frühester Jugend­ die Zeit liebte und in Dramen und Romanen zeit, der seine Wogen schon unter den Fen­ glorifizierte. Die überlegene Beherrschung des stern von Hebels Geburtsstube am Basler Schullateins, in der Hebel übrigens in einem Rheinbord vorbeigetragen hatte. Der bei späteren Zögling des Karlsruher Gym­ Klein-Hüningen mit der heimatlichen Wiese nasiums, in Joseph Viktor von Scheffel, einen vereinte Strom konnte so die unmittelbarsten ebenbürtigen Nachfolger erhalten sollte, Grüße der fernen Heimat überbringen. In brachte dem Verfasser einen Preis von einer Ferienwanderung folgte Hebel seinem 25 Gulden ein. Der Protektor der Gesell­ Lauf bis nach Mannheim, wohin fünfzig schaft, Erbprinz Karl Ludwig, war der Stif­ Jahre später seine letzte Reise gehen sollte. ter. Die Kunde davon mag bis nach Hausen Auf der Schule verlief alles nach Wunsch. gedrungen sein, wo Hanspeter in einem Als guter Lateiner trat Hanspeter im Jahre Herbstaufenthalt 1777 sein Heimweh stillte 1776 in die zehn Jahre zuvor von Professor und zugleich neue Kräfte für das zu Ostern Tittel gegründete „Marchio-Badensis Societas nächsten Jahres abzulegende Abitur sam­ latina“ ein und nahm, ungeachtet seines melte. Man war sich im Heimatort und bei jugendlichen Alters, an deren Sitzungen akti­ den sonstigen Oberländer Freunden der ven Anteil. Vier seiner dort gehaltenen latei­ Tragweite des Ereignisses voll bewußt, denn nischen Reden sind in säuberlicher Hand­ das Stammbuch des Karlsruher Gymnasiasten schrift mit den Quartbänden der Societas füllte sich mit einer Wucht wohlmeinender auf uns gekommen. Die erste, „Ex rebus und frommer Sprüche. Karl Friedrich Ober­ minus secundis facile oriri passe suspicionem“ müller, der Hebels erste Schritte ins Land betitelt, atmet etwas ängstlichen und be­ humanistischer Bildung geleitet hatte, drückten Geist; eingangs erstirbt der Frei­ schmückte ihn dabei in einem lateinischen tischgymnasiast, der sich mit dieser Probe Distichon mit dem Namen seines „ehemals dem gelehrten Gremium vorstellte, förmlich süßesten Schülers“. vor Ergebenheit, um im Folgenden das Bild Im März und April 1778 betrat Hebel, des Mißtrauischen in düsteren Farben aus­ nachdem seinem schriftlichen Gesuch um Zu­ zumalen, weil dieser sich überall Fallstricke, lassung entsprochen worden war, die gelegt glaube. In frischer, freierer Tonart Feueresse der Prüfungen, die manchen min­ singt er in „Veritatis fontes atque principia“ der Vorbereiteten versengt hätte. Waren das Lob der Wahrheit; am ehesten jedoch doch die Anforderungen nicht gering. Außer wittert man in der Rede Quod fecunditas et scharfer Examination in sämtlichen gehörten laetitia indolis bonae in iuvene indicia sint“ Fächern harrten des Prüflings noch kitzliche einen Geisteshauch des späteren Hebel, wenn Disputationen über dogmatische Gegenstände der Jüngling hier Schaffenslust und ein nebst einer Probepredigt. Hebel erledigte frohes Gemüt als jene Kräftespender preist, alles zur Zufriedenheit. Obwohl er in der denen jede gute und große Tat entquillt. Ins Hauptsache nur wiedergeben konnte, was er politische Gebiet schweift die Ansprache an Lehrstoff in sich aufgenommen hatte, be­ „Caesaris cum Augusto comparatio“ mit der stätigte ihm das Schlußzeugnis „besonders Vergleichung zwischen Cäsar und Augustus, gute Naturgaben“. Verstimmend wirkte nur, 47 daß offenbar auch Hebel keine Ausnahme weis bietet die Vorlage „einiger Gedanken, von dem Brauch der Studiosi machte, gleich wie die bisherige Einrichtung der Lectiones nach den Vorlesungen seine Handbücher zu des Pädagogiums, besonders in Rücksicht der verkaufen, „als dadurch beim Mangel fernerer zweiten Klasse, nach den Umständen könnte Kultur das Gelernte notwendig bald muß abgeändert werden“ aus dem Jahre 1790. In vergessen werden“. Jenes Gefühl unbegrenz­ der Anregung, den auch für die Erlernung ter Freiheit, das die Brust jeden jungen Man­ der Fremdsprachen wichtigen Deutschunter­ nes .weitet, der auf die hohe See des aka­ richt von bisher einer Wochenstunde auf vier demischen Studiums hinaussticht, wird auch zu erweitern, bekundet sich bereits der künf­ Hebel mit freudigen Zukunftsbildern durch­ tige Volksschriftsteller. Hebels pädagogische wogt haben. Jedenfalls aber glaubte er mit Gaben sind der Vorgesetzten Behörde nicht dem Karlsruher Gymnasium endgültig ab­ verborgen geblieben. Sie dürften vermutlich geschlossen zu haben. den Anlaß zu seiner unter dem 2. November Nach zweijährigem Studium auf der Uni­ 1791 erfolgten Berufung als Subdiakonus an versität Erlangen, zu deren Besuch vermut­ das Karlsruher Gymnasium gebildet haben. lich sein Gönner Preuschen geraten hatte, Dieses galt immerhin als die vornehmste legte Hebel im Herbst 1780 das theologische Erziehungs- und Bildungsstätte des Landes. Staatsexamen in Karlsruhe ab. Allein die In diesem Sinne war der Ruf nach Karls­ Aufnahme unter die „Candidati Ministerii ruhe gewiß nicht enttäuschend. Daß Hebel ecclesiastici“ bedeutete noch keine feste An­ in ihm zunächst die Zerstörung lange geheg­ stellung. Diese erfolgte erst mit der Berufung ter Wünsche und Träume erblickte, hatte zum Präzeptoratsvikar am Pädagogium seinen Grund in der Erwartung des Lörracher zu Lörrach im Frühjahr 1783, nachdem Präzeptoratsvikars, es werde ihm eine Land­ sich Hebel bis dahin als Hauslehrer beim pfarrei, möglichst im geliebten Oberland, Pfarrer Schlotterbeck in Hertingen, dem er zuteil werden. Der Gedanke an eine Land­ auch gelegentliche seelsorgerische Hilfsdienste pfarrei hat Hebel nie verlassen, selbst der leistete, durchgeschlagen hatte. In den Lör- Prälat spielt noch ernstlich damit und hat racher Jahren 1783—1791, den sorglos glück­ ums Jahr 1820 den Entwurf einer Antritts­ lichsten in Hebels Leben, wurde im vertrau­ predigt vor einer Landgemeinde zu Papier ten Verkehr mit Land und Leuten jener gebracht. innere Besitz angesammelt, dem der Dichter So waren die Gefühle, mit denen Hebel später die Alemannischen Gedichte sowie gar nach Karlsruhe und an die Anstalt, der er manche der Kalendergeschichten des Rhein­ vier Jahre lang als Schüler angehört hatte, ländischen Hausfreunds entschöpfen sollte. als Lehrer zurückkehrte, zum mindesten sehr Allein auch der Pädagoge Hebel durchmaß geteilter Natur. Kein Drang des Herzens hier entscheidende Entwicklungsjahre. Er zog ihn ins Unterland. Die Trennung vom unterrichtete gern, liebte die Jugend und Oberland hingegen erheischte Verzicht auf zeigte sich stets bestrebt, das Beispiel eines geliebteste Dinge. Allein es lag nicht in „frohen“ Schulmanns zu geben. Seine im Hebels Art nein zu sagen, wo die oberste Jahr 1783 gefertigte „Consignatio discipu- Behörde und der Landesherr gerufen hatten. lorum“ verrät einen klaren Blick für die War nicht alles im irdischen Leben dem Fähigkeiten und Charaktereigenschaften Wechsel untertan, besaß der Mensch über­ seiner Schüler, die er nicht ohne Humor und haupt auf Erden eine bleibende Statt? Nicht allerwegen gütiges Herz beurteilt. Auch mit ohne Absicht wählte der scheidende Präzep­ organisatorischen Fragen beschäftigte sich toratsvikar als Text seiner Abschiedspredigt der Lörracher Präzeptoratsvikar. Den Be­ am 13. November 1791 die Frage „Warum 48 sind so viele Leiden in das Los unserer Tage in dem Hebels auf Harmonie bedachte gemischt?“ Allerdings konnte der Sprecher Natur, der es stets näher lag zu binden statt damals noch nicht ahnen, daß ihn das Unter­ zu trennen, sich nicht unbehaglich fühlen land dauernd festhalten werde. Die Hoff­ konnte, obwohl der Ankömmling, als er sich nung auf mögliche Wiederkehr mag die bei der Meldung im Konsistorium als der Bitternis der unerwarteten Loslösung vom neue „Diakonus“ vorstellte, mit einem sehr heimatlichen Bereich gemildert haben. akzentuierten „S u b diakonus“ einen Vor­ Hebel hatte bei seiner Wiederkehr Karls­ geschmack der hier waltenden bürokratischen ruhe über ein Jahrzehnt lang nicht mehr ge­ Rangstufenordnung auf die nichtsahnende sehen. Zwar stand das Gymnasium noch am Zunge bekam. alten Platz, aber sonst war viel gebaut wor­ Wenn es auch zu den Verpflichtungen des den. Das Residenzschloß erprangte nunmehr neuen Subdiakonus gehörte, hin und wieder in seiner endgültigen äußeren Gestalt; seit zu predigen, galt seine Hauptarbeit doch 1785 trug der Turm die charakteristische dem Schulamt. Das Gymnasium bestand kuppelförmige Haube. Die Zahl der Ein­ damals aus zwei Abteilungen. Die eine um­ wohner und damit auch ihrer Behausungen faßte die jüngeren Schüler, welche sechs war nicht ganz um die Hälfte gewachsen, Klassen bildeten, die andere die oberen drei das Leben in den Straßen reger, bewegter Klassen, deren Besucher den Namen „Exem- geworden. Französische Emigranten, die die ten“ führten. Hebel war die Nachfolge des Residenz nunmehr beherbergte, ließen sogar verstorbenen Professors Ernst Ludwig Wolf ein fremdsprachiges Idiom erklingen. Mark­ zugedacht. In dessen Junggesellenbehausung graf Karl Friedrich unternahm alles Erdenk­ im Obergeschoß des Gasthauses „Zum Bären“ liche für das Aufblühen seiner Hauptstadt fand der Zugezogene seine erste Karlsruher von ca. 5000 Seelen in der Markgrafschaft Wohnung, also nur wenige Schritte vom Ort um 1802 mit 250 000 und 1806 im neuen seines Wirkens entfernt. Zu Hebels Bedie­ Großherzogtum mit 900 000 Einwohnern. nung genügte vorläufig ein Aufwärter, erst Zwischen dem Monarchen und seinen Unter­ mit dem Kirchenrat und Gymnasiumsdirek­ tanen herrschte gutes Einvernehmen; lebte doch tor sollte eine Haushälterin ins Haus kom­ der Regent nicht gesondert, vielmehr inmitten men. Da der Vorgänger Orientalist gewesen seiner Landeskinder. Ihr Verhalten legte war, fiel Hebel als ein Haupterbe der ihm, obschon das Wetterleuchten der Fran­ hebräische, jedoch auch lateinischer und grie­ zösischen Revolution von der Rheingrenze chischer Unterricht zu. Es war ein Deputat herüberzuckte, keine Zurückhaltung auf. Es von 20 Wochenstunden, denen sich noch drei blieb ihm unverwehrt, in alle Verhältnisse weitere in der 1774 als Sonderabteilung des persönlichen Einblick zu nehmen, und er tat Gymnasiums begründeten „Realschule“ ge­ dies nicht ungern. Heute konnte er in der sellten. Hier konnte Hebel seine bereits in Wohnung eines seiner Beamten erscheinen, Lörrach erworbenen mathematischen Kennt­ morgen in der Werkstatt eines Handwerkers, nisse und Erfahrungen in die Waagschale übermorgen als Teilnehmer an einer Unter­ werfen. Eine in diese Richtung zielende richtsstunde im Gymnasium. Solche Allgegen­ Neigung ist dem Dichter immer eigen ge­ wart des väterlich besorgten Fürsten, der wesen; und deshalb kann es nicht wunder­ den Wohlstand seiner Untertanen redlich nehmen, daß er einige Jahre später, als sein zu mehren trachtete, verlieh dem Stadt­ Kollege Karl Christian Gmelin mit dem charakter Karlsruhes, so viele Mängel ihm Karlsruher Naturalienkabinett vor der sonst anhaften mochten, einen patriarchali­ drohenden Kriegsgefahr nach Ansbach aus­ schen, gewinnenden Zug. Es war ein Milieu, wich, den naturwissenschaftlichen Unterricht

4 Badische Heimat 1960 49 übernahm. Er hat diesen nicht nur mit Lust Gymnasium in unmittelbarer Beziehung und Liebe, vor allem in der mit Leidenschaft stand. betriebenen Botanik, erteilt; auch der künf­ Zählte doch die Herausgabe des „Badi­ tige Kalendermann sollte aus dieser Beschäf­ schen Landkalenders“ seit dem Jahre 1750 tigung mancherlei Anregung und Nutzen zu den Privilegien des Karlsruher Gym­ ziehen. nasiums, das aus dem Ertrag nicht unbeträcht­ In den ersten Monaten mußte Hebel mit lichen Nutzen zog, eine Einnahmequelle, die den alten Lörracher Bezügen vorlieb nehmen, insofern unversieglich schien, als Oberämter die neue Besoldung des Subdiakonus wurde und Dekanate zu regelmäßigem Bezug ver­ erst im Mai 1792 bewilligt. Nach den Akten pflichtet waren. Vorwiegend vom kommer­ des Badischen Generallandesarchivs standen ziellen Standpunkt aus betrachtete außerdem ihm 250 Gulden in bar, darunter 60 Gulden der für den „Badischen Landkalender“ ver­ Wohnungsgeld, 10 Malter Korn, 20 Malter antwortliche Gymnasialrechner, Kammerrat Dinkel, 2 Malter Gerste, 10 Ohm Wein erster Karl Friedrich Jägerschmid das Vorrecht, und 5 Ohm Wein zweiter Klasse zu. Mit das man in Druckpacht gegeben hatte. Jäger­ letzterem, der aus der Durlacher Amts­ schmid, eher Geschäftsmann als geistiger kellerei stammte, war der an die Markgräfler Patron des Kalenders, hatte im Laufe der Kelter gewöhnte Gaumen nicht immer zu­ Jahre mehr und mehr außer acht gelassen, frieden, so daß sich neben dem Durlacher daß die Abnehmer für ihre sauer erworbenen Besoldungswein mit der Zeit auch manches Batzen eine Gegenleistung zu erwarten be­ Fäßlein aus dem Oberland bezogener oder rechtigt waren. Gegen Ende des 18. Jahrhun­ gestifteter Markgräfler Gutedel in Hebels derts war die Unzufriedenheit derart ge­ Keller einlagerte. Die Berufslaufbahn verlief wachsen, daß es bei der Abnahme des Kalen­ in geregelten Bahnen. Am 21. März 1798 er­ ders zu Auftritten kam, die einer Rebellion folgte die Ernennung zum Professor extra- nicht unähnlich waren. Hierauf griff man ordinarius der dogmatischen Theologie und höheren Orts ein und nahm Zuflucht zu einer hebräischen Sprache sowie zum Obersthelfer, Kommission zur Behebung der eingerissenen wobei die Verpflichtung zum Predigen weg­ Mißstände. Allein auch diese Kommission fiel, am 12. Dezember 1806 die zum Kirchen­ versagte, und abermals drohte das Schifflein rat unter Verminderung der Stundenzahl. des Kalenders auf Grund zu geraten. Es endgültig flott zu machen, erinnerte sich der Obwohl die Schule, vermehrt durch gelegent­ Präsident der Oberkirchenbehörde Friedrich liche freiwillige Kirchendienste, anfangs über­ Brauer Johann Peter Hebels, dessen Aleman­ dies durch Privatunterricht, Hebel voll be­ nische Gedichte gerade damals (1802) sich anspruchte, zumal er die Vorbereitung auf anschickten, den Flug in die Öffentlichkeit den Unterricht nicht leicht nahm, fand er in zu nehmen. Brauer bewies damit eine feine den Jahren 1799—1802 doch noch Muse für Witterung, wenngleich der zur Mitarbeit die Alemannischen Gedichte, die, eine Frucht Aufgeforderte sich zunächst wenig erbaut des Heimwehs nach dem Oberland, in einem zeigte. „Brauer macht mich mit Gewalt zum elementaren Schöpferdrang aus ihm hervor­ Schriftsteller“, klagt Hebel Ostern 1802 brachen und den literarischen Ruf und Rang seinem Freunde Friedrich Wilhelm Hitzig ihres Verfassers begründeten. Eine neue Auf­ in Rötteln, „ich habe jetzt mit Professor gabe erwuchs ihm in der Redaktion des unter Boeckmann den Landkalender zu befrachten; Hebels Hand vom „Badischen Landkalender“ wird etwas Schönes werden. Ich proponierte zum „Rheinländischen Hausfreund“ gewor­ geschmackvolle Nachahmung des Hinkenden denen Kalenders, der mit dem Karlsruher Boten, Geschichte der neuesten Jahre, 50 Chronikartikel usw., populärästhetisch und Gutachten drang Hebel endgültig durch. moralisch fruchtbar vorgetragen mit nied­ Zwar hatte er es nicht versäumt, bei der Be­ lichen Holzschnitten.“ tonung einheitlicher Schriftleitung von der Fürs erste ging demnach der durch seine eigenen Person abzulenken, allein damit Lehrverpflichtung reichlich ausgelastete Karls­ blühte ihm kein Glück. Die Redaktion fiel ruher Professor nicht gerade mit Begeisterung dennoch zu seinen Lasten. Und in der Tat, an seine Aufgabe heran. Auch erscheint sein wie hätte sich auch eine glücklichere Wahl Anteil am Kalender für 1803 noch verhältnis­ treffen, wo ein berufener Mann finden lassen? mäßig bescheiden. Einer der Beiträge, das Mit dem Beginn des Jahres 1807 über­ erste „Rechnungsexempel“ stammt überdies nahm der Dichter zu den übrigen Berufs­ der mathematischen Idee nach von Hebels geschäften sein neues Amt, für das man ihn Freundin Gustave Fecht, lediglich das sprach­ nur bescheiden entschädigte. Er war nunmehr liche Röcklein, in das es der Dichter gesteckt Schriftleiter und Hauptautor in einer Per­ hatte, ist Zuschnitt seiner Hand. Immerhin son1). Auch im äußeren Gewände suchte erden scheint der Appetit mit dem Essen gekom­ neuen Geist, den er seinem Pflegebefohlenen men zu sein. Je länger Hebel darüber nach­ einzuhauchen strebte, zu versinnbildlichen. dachte, desto lebhafter mußte ihn der Auf­ Der Titel „Badischer Landkalender“ fiel, an trag reizen. Eröffnete dieser doch die Mög­ seine Stelle trat „Der Rheinländische Haus­ lichkeit, zu den Menschen seiner Heimat in freund oder neuer Kalender, mit lehrreichen unmittelbarer Anrede zu sprechen. Zwar Nachrichten und lustigen Erzählungen“. Die mußte die „heilige Sprache seines Herzens“, Ausstattung ließ allerdings noch immer sein heimatliches Alemannisch, in diesem Wünsche offen, zumal sich ein notwendig Falle dem Hochdeutsch weihen, jedoch gewordener Wechsel der Druckerei nicht ge­ Hebels schriftdeutsche Kalendersprache ist rade förderlich auswirkte. „Das möglichst spürbar durch den Filter mundartlichen Wohlfeile ist auch das möglich Schlechte“, Sprachdenkens und Sprachempfindens ge­ klagt der Hausfreund im Dezember 1809, sickert und entwickelt auf diese Weise ihren nachdem ihm die ersten Exemplare des Jahr­ eigenen oberrheinischen Charakter. Jener gangs 1810 zu Gesicht gekommen waren. Hauch landschaftlicher Bezogenheit, der die Bei diesem äußeren Ansehen ging es auch Dialektpoesie überschwebt, lagert ebenso um die Ehre des Privilegträgers, des Karls­ über Hebels erzählendem Werk. ruher Gymnasiums. Inhaltlich wurde indes­ Der gelegentliche Mitarbeiter fühlte sich sen — und das ist das Wesentliche — jede mit seiner neuen Aufgabe bald derart in Erwartung übertroffen. Ruckartig schnellte Einklang, daß er im Jahre 1806 dem zu­ die Auflage in die Höhe. Während Jäger- ständigen Konsistorium ein „unabgefordertes schmid ehedem keine 20 000 riskieren zu Gutachten über eine vorteilhaftere Einrich­ können vermeint hatte, druckte man in den tung des Kalenders“ unterbreitete. Den nächsten Jahren mehr als das Doppelte, in Angelpunkt der Verbesserungen erblickte der den besten Zeiten wurde eine Zahl von über Gutachter in einer einheitlichen Redaktion, 50 000 erreicht. Den unmittelbaren Nutzen „denn viele Köche versalzen den Brei“. Des­ hatte das Karlsruher Gymnasium, ein Ver­ halb ging Hebels Vorschlag dahin, die dienst Hebels, das nur allzu oft übersehen Herausgabe einem Landgeistlichen zu über­ wird. Aus den verschiedensten deutschen tragen, der neben einer eingehenden Kennt­ Ländern liefen Bestellungen ein; im Jahre nis der ländlichen Bevölkerung, ihrer Sitten 1811 schrieb Goethe eigenhändig um den und Gebräuche zugleich die dazu erforder­ „Rheinländischen Hausfreund“. Der Kalen­ liche Muse besäße. Erst mit einem zweiten der wurde Gegenstand ernsthafter literari­ 4' 51 scher Würdigung, ohne daß dadurch seiner der neueren Hebelausgaben haben mit Recht volkstümlichen Wirkung, seiner Beliebtheit auf die Originale zurückgegriffen. Abbruch widerfahren wäre. Das Jahr 1815 brachte den Rheinlän­ Kein Wunder, wenn sich im Laufe der dischen Hausfreund um seinen Betreuer. War Jahre das Verlangen regte, die in den einzel­ doch im Kalender für 1815 aus Hebels Feder nen Kalenderjahrgängen verstreuten Stücke eine mit einem Holzschnitt versehene kleine in einem Sammelband vereinigt zu sehen. Erzählung „Der fromme Rat“ erschienen, Nachdem der Verleger Cotta zunächst den deren Veröffentlichung ungeahnte Folgen Versuch gemacht hatte, den Kalendermacher hatte. Ein junger Mann begegnet auf einer zur Mitarbeit am Stuttgarter Morgenblatt zu Brücke zwei katholischen Priestern, die beide gewinnen, fand er bei diesem bereiteren das Allerheiligste tragen. Unschlüssig, vor Widerhall mit dem Anerbieten eines „Schatz- welchem von beiden er in frommer Wallung kästleins für die interessanteren Artikel des niederknien solle, wird er von einem der Hausfreundes“. Schon im Januar 1810 wurde Geistlichen durch den Zeigefinger der erho­ dieses „Schatzkästlein“, ein Titel, der Hebels benen rechten Hand auf den Himmel ver­ Beifall gewann, angekündigt. Lediglich über wiesen, dem allein die Ehre gebühre. Der die weitere Titelformulierung war man zu­ Verfasser hatte mit jener Toleranz gerechnet, nächst im Zweifel. Als „Deutscher Haus­ die er selbst jederzeit zu üben bereit war. freund“ mochte sich der Verfasser nicht be­ Auch die Zensur hatte „Der fromme Rat“ zeichnen lassen, weil dieses Prädikat sich anstandslos passiert. Trotzdem erfolgte von durch nichts rechtfertige, „weder durch den katholischer Seite ein Einspruch, hinter dem Namen einer früheren Schrift, noch durch der päpstliche Nuntius in Luzern und der deren Inhalt“. Deshalb beharrte der Dichter Generalvikar des Bistums Konstanz standen. auf einer engeren, das Spezifische seiner Dar- Die Regierung zog es vor nachzugeben, um stellungs- und Geistesart ahnenlassenden Be­ die erst seit einem Jahrzehnt dem badischen zeichnung. Schließlich einigte man sich auf Staatsverband angehörenden neuen katholi­ den Namen „Schatzkästlein des Rheinischen schen Landesteile nicht zu verstimmen. Der Hausfreundes“, das im Mai 1811 zum ersten Rheinländische Hausfreund für 1815 durfte Versand gelangte. Auf Bildbeigaben, wie sie erst wieder verkauft werden, nachdem das den Kalender geziert hatten, war vom Ver­ beanstandete Blatt ausgemerzt und durch ein lag verzichtet worden. Nach unseren Begrif­ harmloses ersetzt worden war. Hebel, dem fen hätte, um den Nagel auf den Kopf zu nichts ferner liegen konnte als eine Ver­ letzung der religiösen Gefühle Andersden­ treffen, vom „oberrheinischen Hausfreund“ kender, legte verstimmt die Redaktion die Rede sein müssen. Der Band vereinte nieder. An seine Stelle trat Alois Schreiber, nahezu alle Beiträge aus den Kalendern von ein literarisch versierter, schreibkundiger 1803—1811. Lediglich was allzu zeitbeding­ Mann, der zu Hebels näherem Umgang ter Natur gewesen war, wie die politischen zählte, gewiß kein unwürdiger Nachfolger. Übersichten und Weltbegebenheiten, von Zwei Stücke, die fertig auf dem Schreibtisch derem raschem Wechsel der Verfasser über­ lagen, erschienen noch im Jahrgang 1816. zeugt war, sowie das Tabellarische und Stati­ Erst 1818 nahm der Dichter wieder das Wort stische, einige Rätsel und wenige Erzählun­ zur Verteidigung seines ehemaligen Hausener gen mußten ausscheiden. Auch im einzelnen Lehrers Andreas Grether, dem er „Eine sind Retuschen vorgenommen worden. Kör­ Gerechtigkeit“ widerfahren ließ. Dagegen ist niger, säftiger, dialektnäher gibt sich im all­ der Jahrgang 1819 mit zwei Dutzend Bei­ gemeinen die Originalfassung. Die meisten trägen noch einmal fast ausschließlich Hebels 52 literarisches Eigentum. Die Stücke waren herzogs Karl Friedrich dafür aus, daß Hebel allerdings für einen geplanten württember- ein Jahr zuvor das ihn sehr verlockende An­ gischen Volkskalender vorgesehen gewesen, gebot, die neue evangelische Stadtpfarrei in dessen Verwirklichung sich im letzten Augen­ Freiburg zu übernehmen, nach längerem blick zerschlug. So gediehen die Beiträge dem Schwanken abgelehnt und Karlsruhe sowie badischen Kalender zunutz, für den sich der seinem Landesherrn, der ihn in seiner Nähe Autor von vorneherein das Veröffent­ wissen wollte, die Treue gehalten hatte. lichungsrecht ausgebeten hatte. Leider endete Nunmehr war Hebel endgültig Karlsruhes damit die Tätigkeit des Kalendermachers, Wahlbürger geworden. dem die immer zahlreicher anfallenden Amts­ Obwohl Hebel im Jahre 1809 zum Mit­ bürden die Stunden der Muße immer mehr glied der evangelischen Kirchen- und Prü­ beschnitten. Überdies hatte sich Hebel an fungskommission gewählt wurde, behielt er eine neue Arbeit gemacht, die ihm mit der die Direktion des Gymnasiums sowie ein be­ inzwischen erlangten Würde eines Prälaten trächtliches Stundendeputat bis zum Jahre besser vereinbar schien als die Beschäftigung 1814 bei. Unter dem Druck der Verwaltungs­ mit dem Kalender, die Biblischen Geschich­ geschäfte, die ihm weniger lagen, hat der ten, die letzte Gabe des Genius. Es liegt ein Direktor oft gestöhnt, weil sie ihm „zum schöner und tiefer Sinn in der Tatsache, daß verbarmungswürdigsten angenagelten und diese Schöpfung des Alters der Jugend dar­ angekreuzigten Märtyrer für die gute Sache“ gebracht wurde, denn bei der Arbeit, die sich, machten. „Den ganzen Tag auf dem Kathe­ häufig unterbrochen, durch mehrere Jahre der sitzen ist ein Feiertagsleben, ein Oster- hinzog, hatte der Autor „fast bei jeder Zeile montagsspäßlein, nach dem ich mich zurück­ oberländische Kinder belauscht“. Bis zum sehne. Aber daß ich über den heillosen Jahre 1855 blieb dieses „Denkmal von Mechanismus des Ganzen wachen muß, daß Hebels Geist und Gemüt“ im praktischen sich mein Museum, meine Proteuskapelle in Schulgebrauch. eine Kanzleistube verwandelt hat, wo ich Wir müssen noch einmal zurückgreifen. den ganzen Tag Berichte schreiben, Buch und Mit dem Gymnasium siedelte Professor und Rechnungen führen, Red und Antwort Hebel im Jahre 1807 aus dem baufällig ge­ geben, examinieren, kastigieren, Zeugnisse wordenen alten Holzgebäude in den Neu­ fertigen, mit allen Vätern aller Kinder des bau über, der auf der südlichen Seite der Lyzeum korrespondieren muß, das lehrt mich Stadtkirche am Marktplatz errichtet worden den Sinn der Worte verstehen: ich sterbe täg­ war. Bald (23. April 1808) sollte er in die­ lich.“ Allein, es lag nicht in Hebels Natur, sem Hause eine Dienstwohnung von fünf sich Pflichten zu entziehen, von deren Not­ kleinen und einem größeren Zimmer erhal­ wendigkeit er überzeugt war, und der Dienst ten, denn das Jahr 1808 brachte ihm die an der Sache stand ihm über dem Dienst an Ernennung zunächst zum provisorischen der eigenen Person. Selbst von den karg be­ (25. Januar), sodann zum bleibenden Leiter messenen Ferientagen hat Hebel gar man­ (21. Dezember) des nunmehr nach französi­ chen geopfert, wenn ein dringendes Geschäft scher Sitte Lyzeum genannten Gymnasiums. keinen Aufschub zu dulden schien. Wie oft Der Titel „Direktor“ war nicht nach dem werden die Straßburger Freunde, in deren Geschmack des damit Beliehenen; empfand Kreis er mit besonderer Vorliebe seine Er­ er doch das Wort als eine sprachliche Miß­ holungsstunden verbrachte, nachdem die wei­ geburt, der bisherige „Rektor“ wäre ihm ten Reisen ins Oberland allmählich beschwer­ lieber gewesen. In der Beförderung drückte lich zu fallen begannen, durch eine Absage sich vermutlich auch der Dank des Groß­ in letzter Stunde enttäuscht, wie manches 53 liebe Mal muß ein Aufenthalt frühzeitig ab­ nest“. Es mußte schon ein hoffnungslos gebrochen werden, weil unaufschiebbare stumpfer Sinn gewesen sein, der sich dabei Amtsgeschäfte rufen. Im Jahre 1812 gab gelangweilt hätte. Ein Herzensanliegen be­ Hebel zwei von den sechs Räumen seiner deutete ihm die Erklärung der Theokriti­ Dienstwohnung zur Aufstellung eines Teils schen Idyllen; er hat auf sie selbst dann nicht der Lyzeumsbibliothek ab, nachdem er be­ verzichtet, als er die Direktion niedergelegt reits 1808 die Mineraliensammlung in seiner und als hoher Ministerialbeamter nur noch Behausung untergebracht hatte. Die Klage wenige Stunden am Gymnasium beibehalten über „Raummangel“ ist die unentwegteste, hatte. die der Dichter während seiner Direktions­ Aus allen Erinnerungen seiner Schüler zeit zu führen hat. Aber der Prälat sollte spricht eine tiefe Dankbarkeit für das Was wenigstens noch den Bau des nördlichen und Wie des von ihrem Lehrer Empfangenen. Flügels (1824) erleben, der endlich allem Der Basler Hebelforscher Wilhelm Altwegg Übel abhalf. hat darauf hingewiesen, daß ein Wort aus Es ist hier wohl der richtige Ort, auf den dem „Stilbuch“, nämlich die Mahnung „Ge­ Pädagogen Hebel einzugehen. Daß es stets brauche nie ein hartes Wort, wo ein glimpf­ sein Ziel war, das Beispiel eines „frohen liches seine Dienste tut“, Hebels Maxime ge­ Schulmanns“ zu geben, ist bereits erwähnt wesen sein dürfte. War er wohlgelaunt, worden. Pedanterie war ihm fremd, kein liebte er es, mit dem Geld oder den Schlüs­ Pult, kein Katheder trennte ihn von seinen seln in der Tasche zu klimpern. Mit Vorliebe Schülern, in deren Mitte er lebte, mit denen brachte er seinen Spazierstock in den Unter­ er jedoch sich auch nie gemein machte. Ein richt mit. Einer seiner Schüler, Friedrich von feiner Takt des Herzens ließ ihn stets den Biedenfeld, schreibt in seinen 1859 im „Stutt­ gebotenen, aber fast unmerklichen Abstand garter Morgenblatt“ veröffentlichten Erin­ halten. Da er wohlvorbereitet das Schulzim- nerungen: „Den Kopf trug Hebel gewöhn­ mer betrat, gab er sich nie eine Blöße. Ließ lich sehr aufrecht, und sein ziemlich kleines, es die Stimmung des Augenblicks einmal zu mit scharfen Seitenwinkeln geschnittenes einer Ungerechtigkeit kommen, folgte die Auge trug in dem offenen Blick gerade aus Wiedergutmachung auf dem Fuße. Trocken­ ein so glückliches Gepräge inneren Friedens, heit war seiner Lehrweise fremd. Für die tiefen Gemüts und lebendigen Geistes, daß lateinischen Stilübungen entwarf er eigene schon sein erster Anblick ihm die Herzen Texte, die wir aus einem uns erhaltenen gewann. Ein nahendes Donnerwetter ver­ „Stilbuch“ kennen. Hier wechseln natur­ kündete das weitere öffnen der Augen und wissenschaftliche und erdkundliche Stoffe mit ein zuckendes Herabziehen der Brauen. Beim klugen Sitten- und Lebenslehren, vor allem seltenen Anblick dieses Zeichens wurde dem aber finden sich erzählerische Themen, die Schuldigen nicht wohl zumute, obschon Hebel zugleich aus den Kalendergeschichten des stets nur mit wenigen scharfen Worten Rheinländischen Hausfreunds bekannt sind, strafte und dann sogleich wieder in sein z. B. „Der verachtete Rat“, „Das Mittag­ Lehrthema überging. Frohsinn erwachte in essen im Hofe“ und sogar der unsterbliche aller Herzen, wenn sein Auge von innerem „Kannitverstan“. Für die lebendige Anschau­ Behagen eigentümlich erglänzte, die Mund­ lichkeit seines naturwissenschaftlichen Unter­ winkel lächelnd zuckten, die Lippen seltsam richts bürgt die verwandte Behandlung sol­ sich spitzten; denn da war gewiß eine Haus­ cher Themen im Rheinländischen Hausfreund freundschalkheit oder ein blühender poeti­ wie die Beiträge „Die Verbreitung der Pflan­ scher Gedanke oder eine jener kurzen, prä­ zen“ oder die „Betrachtung über ein Vogel­ gnanten und überraschenden Ideen im An­ 54 zuge, welche sich der Seele für das Leben was er ihm zumuten kann und wie er zu einprägten.“ Hebels Güte versackte nie in zwingen ist, und raten ist schwer.“ Schwäche. Im gegebenen Moment konnte er Im weiteren Text rät Hebel dem Vater, durchaus die gebührende Strenge walten dem Sohne eine Summe festzusetzen, mit der lassen. Von einem solchen Augenblick gibt er auskommen müsse. „Ich rede nicht von er seiner Freundin Gustave Fecht in einem dem Geld als solchem, sondern als Sub- Briefe aus dem Jahre 1811 Kunde: „ . . . sie sidium der Liederlichkeit. Was ihm über das wurden rebelliscb gegen ein Professor, der anständige Bedürfnis verwilligt wird, ist etwas unklug gehandelt hatte. Es tat mir sehr Einladung zur Befriedigung der Sinnlichkeit. wehe, da ich seither durch Liebe und Klug­ Das erste Trotzen des Jünglings ist nur ein heit die Ordnung erhalten und noch keinem Versuch und wird nur solange fortgesetzt, ein böses Wort geben mußte, jetzt in einer als es gut tut. Mache der Vater, wenn er fremden Sprache durchfahren zu müssen. ebenso viel Mut als der Sohn hat, den Aber einer von ihnen sagte daheim, es sei Gegenversuch und schicke er ihm den ersten ihnen gar kurios worden, als ich sagte: unanständigen Brief zerrissen mit ernster, Diesmal noch und zum letzten Mal spricht darniederbeugender Wortstrafe und gemesse­ der warnende Freund. Wenn ihr in einer hal­ ner Drohung, etwa durch den Direktor oder, ben Stunde nicht Ordre pariert, so läßt der wenn er will, durch mich zurück und zeige Direktor die Schnur auf den Boden laufen, er Kraft und Festigkeit, so halte ich es für sagte ich. Tut, was ihr wollt. Sie ließen es mehr als bloß möglich, daß der Sohn bald nicht darauf ankommen. Manchmal sagen sie andere Saiten aufspannen wird.“ Und nun zu ändern Leuten, er muß alles einmal auch ein echt Hebelscher Schluß: „Vor der Hand mitgemacht haben, weil er alles sogleich hielt ich es aber auf alle Fälle für viel zu merkt und weiß.“ Eine erstaunliche Einfüh­ frühe, den jungen Menschen schon zurück zu lungsgabe, gegründet auf reiche Erfahrung nehmen. Ich halte ihn für verirrt, aber nicht und tieflotende Beobachtung, verrät der für verdorben. Noch verdient er Geduld, Brief an Pfarrer Schmidt in Britzingen vom und wir sind ihm gemeinschaftliche Auf­ Jahre 1817, von dem' Besorgnisse über die merksamkeit und Bemühung für seine Zu­ bedenkliche Entwicklung eines in den Ober­ rechtbringung schuldig. Die meinige sei hier­ klassen des Karlsruher Gymnasiums befind­ mit angeboten.“ Hebels Vorschläge sind lichen Pfarrkindes geäußert worden waren: übrigens von Erfolg begleitet gewesen. Denn „Es ist nichts Seltsames, daß auch gut­ der Britzinger Lehrerssohn, von dem hier geartete Jünglinge, von denen man viel er­ die Rede ist, machte zur gegebenen Zeit sein warten darf, eine Zeitlang auf Abwege Abitur am Karlsruher Gymnasium, studierte geraten und durch eigene Besinnung, durch in Tübingen und war bereits 1824 Pfarrer Zuspruch und Erfahrung gebessert, sich bald in Tennenbronn, später in Weisweil. In den wieder erholen. Aber das Bedenkliche ist letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit scheint mir, was ich von Ihnen erfahre, sein Be­ die Überbürdung mit den vielfältigen Amts­ tragen gegen die Eltern, nicht nur an sich, geschäften den Prälaten zuweilen etwas ner­ sondern auch wegen der Ursache desselben. vös gemacht zu haben, doch bekam er sich Denn Unart, Grobheit, Schnoddrigkeit des rasch wieder in der Hand, wie ein Tagebuch­ Kindes setzt immer und unfehlbar Schwäche eintrag eines seiner letzten Schüler August der Eltern und frühe Erziehungsfehler vor­ Hausrath vom 28. Januar 1824 dartut: „Der aus, deren Folgen fast ebenso unheilbar sind Prälat milderte heute im Hebräischen seinen als die Schwächen selbst. So ein Sohn hat gestrigen etwas schneidenden Ton und war seinen Vater schon lange gemessen und weiß, außerordentlich gnädig.“ 55 Als echtem Schulmann war für Hebel des der Bearbeitung der neuen Lehrpläne des Lernens kein Ende. So teilt er in einem Briefe Lyzeums nahm er lebhaften Anteil; sie ist aus dem Jahre 1804 mit, daß er sich gerade zu einem großen Teil sein Werk. Erst seit mit der schwedischen Sprache beschäftige, dem 16. Oktober 1824 ruhte Hebels Lehr­ „weil es für einen Lehrer der Jugend gar tätigkeit ganz. Es war in einer Zeit, da die heilsam ist, wenn er von Zeit zu Zeit wieder ersten Anzeichen jenes Leidens, das zwei die eigene Erfahrung macht, daß es doch Jahre später zu seinem Tode führen sollte, schwerer sei, etwas Unbekanntes zuzulernen verspürte und, wie er außerdem seiner als etwas Bekanntes zu lehren.“ Mit seinen Freundin Gustave Fecht nach Weil berichtet, Kollegen am Gymnasium verband Hebel die Erfahrung machte, daß er „langsamer stets ein aufrichtiges, herzliches, in vielen arbeite und früher maßleid werde“. Viel­ Fällen freundschaftliches Verhältnis, auch leicht wurde der Entschluß, den Unterricht aus manchen seiner früheren Schüler wurden, aufzugeben, auch dadurch erleichtert, daß nachdem diese im Lehrkörper wirkten, Hebel kraft seines Amtes in der obersten Freunde wie Gerstner und Doll. Und mit Kirchen- und Schulbehörde insofern der besonderer Genugtuung vermerkt der Ly­ Schule unmittelbar verbunden blieb, als ihm zeumsdirektor: „Ich bin qua Direktor des die Abnahme der Schlußprüfungen oblag. Lyzeums stolz und glücklich durch den Frie­ Mit Stolz konnte er im Entwurf einer frei­ den und die wahre Seelenharmonie, die uns lich nie gehaltenen Antrittspredigt vor einer alle, selbst die Obern miteingerechnet, wie Landgemeinde sagen: „Ich habe vielleicht eine Familie verbindet.“ Den Mittagstisch 2000 Jünglinge in Sprachen und Wissen­ teilte er lange Jahre mit seinem Kollegen und schaften unterrichtet. Viele von ihnen er­ Freunde Nikolaus Sander, den Abend ver­ freuen mein Antlitz, wenn ich sie nun als brachte er mit Vorliebe am Stammtisch. In fromme, als glückliche, als geachtete Männer späteren Jahren liebte er es, den einen oder und Freunde wiedersehe.“ anderen seiner Schüler zum Mittagsmahl bei Im Dienste der Schule erreichte ihn audi sich zu sehen, wobei er „unerschöpflich an das Ende. Obwohl sich Hebel bereits krank neuen Erzählungen war“ (August Hausrath). fühlte, ließ er es sich doch nicht nehmen, Hebels Berufung in die Evangelische Mini- den Abschlußprüfungen am Mannheimer sterialdirektion, die oberste Kirchen- und Gymnasium, wo sein ehemaliger Schüler Schulbehörde des Landes, hatte zur Folge, daß der Dichter im Jahre 1814 die Direk­ August Nüßlin Direktor war, anzuwohnen, tion des Lyzeums niederlegte. Sein Nach­ weil er wußte, wie freudig man ihn dort folger wurde Jakob Friedrich Theodor erwartete und welche Enttäuschung sein Zandt, seit 1807 bereits Professor in Karls­ Nichterscheinen bereiten müßte. Dem Gast ruhe, ein im Geiste seines Vorgängers wir­ zu Ehren veranstaltete man eine abendliche kender Mann. Wie sehr jedoch das Unter­ Rundfahrt auf Neckar und Rhein, jenem richten und der damit verknüpfte Umgang Strom, dessen Rauschen die ersten Atemzüge mit der Jugend für Hebel zum unentbehr­ des am Basler Rheinbord Geborenen begrüßt lichen Lebensinhalt geworden war, geht aus hatte; bald sollte er ihm auch das Totenlied der Tatsache hervor, daß er zunächst noch murmeln. Wenige Tage danach wären die 17, später als die Prälatenwürde weitere Examina in Heidelberg fällig gewesen; Hebel Einschränkungen erheischte, wenigstens noch wollte die Zwischenzeit benützen, im Hause 9 Wochenstunden beibehielt, nämlich 4 Stun­ seines alten Freundes, des Hof garten direktors den Hebräisch, 2 Stunden Theokrit, 2 Stun­ Zeyher in Schwetzingen, ein wenig auszu­ den Rhetorik sowie 1 Stunde Latein. An rasten und sich zu erholen. Es wurde eine 56 Rast für immer, denn das Leiden verschlim­ 23. September wurde am offenen Grabe der merte sich zusehends, die von Heidelberg Sarg noch einmal geöffnet und ein Lorbeer­ herbeigeeilten Gymnasiumsdirektoren Kayser kranz um die erkaltete Stirn gelegt. Seine und Mitzka finden ihn in Kleidern auf dem grünen Blätter galten vor allem dem Ehren­ Bette liegend, der am nächsten Tag ein­ gedächtnis des Dichters und der lauteren treffende Karlsruher Hausarzt Dr. Seubert Persönlichkeit des von edelster Humanität sieht sich einem Sterbenden gegenüber. Am beseelten Mannes, allein ich glaube, ein Blatt frühen Morgen des 22. September 1826 ging dieses Kranzes dürfen wir auch für den nicht Johann Peter Hebel still und unvermerkt weniger verehrungswürdigen Pädagogen in aus der Welt, nachdem er kurz vorher den Anspruch nehmen, für den Freund und Men­ bei ihm wachenden Pfleger zur Ruhe ge­ tor der Jugend, die er so gern gelehrt und so schickt hatte. Beim Leichenbegängnis am innig geliebt hat.

x) Vgl. H . Kohlbecker, Allgem. Entwicklungs- gesch. des bad. Kalenders von 1700 bis 1840. Freibg. Diss. 1927, S. 35— 46.

Die Hebelmutter Urfula

Wenn öu, bis ime Johr, Hans Peterli, uf Schopfe äne, in ö’Latinfchuel chunnfch, rileft mer öi niimme meh Hans Peterli, öört rileft mer öi öerno Hans Peter.

Sie fage öir oillicht au numme Hebel — öoch rnenn fe froge, roie 6e heißifch, faifch - roenn's öer au no fo lang unö oornehm öunht - faifch, roie öe öauft bifch: Johann Peter Hebel.

6 fchöne Name hefcb, jo gel, öä gfallt öer- öe heißifch Johann, roie öi Vaööer feiig - un roie ör Petrijünger-Peter, unö graö oo feilem het mer letfchthi träumt:

I ha mir grounfche, aß öi Namesgoatter fürs ganze Läbe öir e Leitbilö feig, aß öu gliich ihm, öas W ort oerhünöe rootfch, aß öu e Lehrer unö e Pfarrer roirfch.

E Traum ifch's gfi, eimol ifch's heine meh. Weifch, 's roär mir roohl, fo roüeßt i öi guet borge, unö blibfch im Segc öur öie heilig Lehr — öu hefch jo 's Züg öerzue — Hans Peterli.

G trtruö A Ib r ech t

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■ Ur*-+~S>it* 4*H+Asi*iy tyvx 4/i.fi,—*+4'' rJ^Cn. /W ■**£*+■ L-. jL*~ Xtty~iy tu~j* vfl. Y?- f r

Scherenschnitt aus Hebels Karlsruher Schulzeit (zwischen 1774 und 1778.) Stammbuchblatt J. P. Hebels aus Erlangen im Jahre 1779

Aus Hebels Erlanger Studentenzeit

Von F. A. Pietzsch, Heidelberg

Der alemannische Mundartdichter Johann mannschaften und Studentenorden der Uni­ Peter Hebel wurde am 10. Mai 1760 zu versitäten nachahmten. Basel geboren. Der Hauptwohnsitz seiner Nach Bestehen der Abgangsprüfung bezog Eltern war , daher be­ er zu Ostern 1778 die Universität Erlangen, zeichnet Hebel seine Herkunft in seinen um daselbst Theologie zu studieren. Er trat Stammbucheinträgen mit: „aus dem Badi­ hier sogleich in die Landsmannschaft der schen“ und „aus dem Sausenburgisch-Badi- Moselaner ein, zu der auch die Badener ge­ schen“. Schon früh verlor er seine Eltern, hörten, und lernte hier ein flottes Burschen­ seinen Vater 1761 und seine Mutter 1773. leben kennen. Die finanzielle Schwäche eines Er besuchte zunächst die Volksschule in Hau­ Einzelnen spielte dabei keine Rolle, da die sen, anschließend die Lateinschule in Schopf­ reicheren Mitglieder für die ärmeren auf­ heim, wo er bei seinem Lehrer Obermüller kamen. Nach etwa einem halben Jahr wurde wohnte, der nach Hebels Aufzeichnungen Hebel für würdig befunden, in den engeren einer „Landsmannschaft der Franken und Kreis dieser Landsmannschaft — den Elsäs­ Pfälzer“ angehört hatte; seit 1774 war er serorden — aufgenommen zu werden. Es auf dem Gymnasium in Karlsruhe, wo er war dies der geheime Studentenorden der von den bereits abgegangenen Absolventen, Amicisten, der innerhalb der Moselaner die in den Ferien nach Karlsruhe zurück­ Landsmannschaft nistete und sich in Erlan­ kamen, über das Wesen des Studententums gen „Elsässerorden“ nannte; derselbe schloß auf den deutschen Universitäten informiert sich als selbständiges Gebilde gegen die wurde; nicht erwiesen ist es bis jetzt, daß anderen Mitglieder der Landsmannschaft ab, auch an diesem illustren Gymnasium, wie an beherrschte aber diese. Er hatte ein beson­ anderen Orten Deutschlands,Pennälerverbin­ deres Ritual für die Aufnahme in den Orden dungen bestanden haben, die die Lands­ und eigene Gesetze und Statuten. Während 58 der Studienzeit Hebels kam es zu inneren D. Brodhag nunmehr nach seinem Tode vom Zwistigkeiten der Ordensbrüder, so daß Harmonistenorden erlöst sei. Das letzte viele in die „fränkische Landsmannschaft“ Zeichen ist das des „Proteus“, das sich Hebel übertraten und innerhalb derselben den als Symbol seines Geheimbundes auserkoren „Orden der schwarzen Brüder“ — Harmo- hatte und des öfteren in seinen Briefen als nistenorden — erneuerten. Die Folge davon Anfangsbuchstaben seines Decknamens „Par- war eine Reihe von „Pro Patria“-Duellen, menides“ schrieb, das auffälligerweise bereits von denen auch Hebel zwei austragen im Jahre 1776 in einem Tübinger Studenten­ mußte; einmal gegen Runckel, das andere- stammbuch von einem Heilbronner gesetzt mal gegen Stork. Hebels Freund, der Lega­ wird. tionsrat Kölle — als Adjunkt des rheinlän­ Hier also scheint sich die Feindschaft zwi­ dischen Hausfreundes bekannt —, der mit schen den Ordensbrüdern der Amicisten und Hebel seit 1800 befreundet war, schreibt in Harmonisten auch noch in späteren Jahren der Stuttgarter Morgenpost Nr. 63 vom bemerkbar gemacht zu haben. Jahre 1827, daß Hebel in Erlangen in ein Wenn wir in die Geheimnisse des von Duell verwickelt worden sei; er habe sein Hebel in Lörrach begründeten Geheimbun­ Herzklopfen, so gut er konnte, verborgen des der Proteuser und des Belchismus ein- und sei mit einer leichten Armwunde davon­ dringen wollen, so müssen wir uns in die gekommen; noch nach Jahren habe Hebel Gepflogenheiten der Moselaner Landsmann­ die pathetische Anrede seines Sekundanten, schaft und des Elsässerordens vertiefen, denn des späteren Geheimrats Ludwig Rheinwald hier steckt die Wurzel für den späteren Ge­ in München, auf unnachahmliche Weise heimbund von Hebel; hier wie dort gab es wiederholt. „Siegel“, „Geheimsprache“, „Geheimschrift“, In diesem Zusammenhang tritt uns das „Decknamen“ für jeden Ordensbruder, ent­ Rätsel des D. Brodhag entgegen, dem, wie nommen aus der römischen und griechischen Hebel in seinem Briefe an Gustave Fecht vom Geschichte oder Mythologie und dergleichen 25. Dezember 1795 behauptet, der Weg zum mehr. Himmel verschlossen sei. War dieser Brodhag Von der Warte eines Studentenhistorikers ein „Schwarzer Bruder“? Wir müssen es gesehen, ist das Proteusertum mit dem Bel­ wohl annehmen, denn Hebel setzt hinter chismus ein Weiterleben Hebels in der seine Frage an Gustave „Und hat er (der Atmosphäre seiner Erlanger Studentenzeit, Engel) Ihnen nichts vomD. Brodhag erzählt?“ und wahrscheinlich ist Günttert ebenfalls folgende Zeichen: ein Angehöriger der Moselaner Landsmann­ schaft und Ordensbruder des Amicistenor- & C{© Abra $ cad & Abra D & J I t dens nur von einer anderen Universität ge­ Wir wissen heute, daß der Sternengrad wesen, und so haben sich beide in Lörrach der erste, der Mondengrad der zweite, der auf der Basis ihres Studentenerlebens wieder Sonnengrad der dritte Grad des Studenten­ getroffen. ordens der „Schwarzen Brüder“ war. Abra- Wenn Hebel in seinem späteren Leben cadabra ist ein bei dem römischen Dichter als „Wild- und Rheinkönig Peter von Ass­ Serenus Samonicus (um 200 n. Chr.) erstmals mannshausen“ thronte, so ist das eine Remi­ vorkommendes Wort, das als magische Heil­ niszenz an die Hofstaaten der Studenten mit formel benutzt wurde; also in diesem Zu­ ihren Hoftagen auf den Bierdörfern, wo sie sammenhänge wohl so auszulegen ist, daß als Kaiser, Könige, Herzöge, bis herab zum 59 Knappen in entsprechender Maskierung auf­ den, denn es darf nicht vergessen werden, traten. daß zu Hebels Zeiten der weitaus größte Audi das wiederholte Sicheinsetzen für Teil der evangelischen Theologen Ange­ seinen Kollegen Erhard Christoph Eccard hörige der Landsmannschaften und Ordens­ erklärt sich aus dessen Zugehörigkeit zur brüder der verschiedenen Studentenorden Moselaner Landsmannschaft, obwohl er ihn waren. schon zur Studentenzeit als „verbummelt“ Zu Ostern 1780 verließ Hebel bereits in seinem Stammbuche bezeichnet hatte, und nach zwei Jahren die Universität Erlangen, so könnten noch weitere Zusammenhänge um sich in Karlsruhe auf das theologische Hebels mit anderen Personen geklärt wer­ Examen vorzubereiten.

Hebelifches Lanö

W e r’s Groß Wiefetal nie gfeh het, chennt öer Hebel no nit gnueg. W a e er au Öen Anöere geh het, 's Oberlanö biibt fy mit Recht unö Fueg.

Bafel, Lörcch, Schopfe, Huufe, Rüttle, Tüllige unö W yl - au öer ßelche ghört fyr Mufe — Selbe roiift em no ne höcher Ziel.

Gfchönt ifch Jeöeo Bröfli Grunö an öe Wege, rooner fchritet. D'Heimet blibt fy gueti Stunö, roonem in öer Fremöi ’s Herz no reitet.

Oh, öer Hebel fieht au ö' Mängel, un er mahnt mit fiinem Gfüehl — Lueg— im ßeerifchlag öer Engel! Stoht er acht no öört am Alzebüehl?

Au öer Chnab öer Sunntig, chennt er! Wenn er chunnt im Morgerot, roaiht Auriheliöuft— roas roänt öer? us öe Gärte, rooner goht un ftoht.

So lochte Lanö fy Liebi uufe - Suechfch öer Hebel, finöfch en ganz: Gohfch öer Wiefe no uf Huufe, trifft öi groiß fy Blich im Morgeglanz!

H eöroig Salm

60 Schauspielerin und Kirchenrat

Von Elfriede Gottlieb f, Tauberbischofsheim Durchforscht man das Leben von Johann und weh, daß sie gestern früh fort ist. Indes­ Peter Hebel, so überrascht die merkwürdig sen, Leutlein, behält doch Euer Gevatter­ geringe Beteiligung der Frau. Mutter und mann den Kopf oben und ist nicht vernarrt, Schwester wurden dem Dichter früh entrissen. sondern nur entzückt und heilig.“ Die Pfarrerstochter Gustave Fecht, mit der Die Steigerung geht auf den letzten Abend er bis zu seinem Tod in freundschaftlicher zurück, den Frau Hendel einer kleinen Zahl Verbindung verharrte, durfte gleichwohl von Erwählten widmete, bei welcher Ge­ seine Hausfrau nicht werden; das Verhältnis legenheit sie „eine Kunst und ein göttliches blieb lebenslang auf einer Entwicklungsstufe Talent“ entwickelte, „das sie wohl auf stehen, die noch nicht einmal die Grillpar­ keinem Theater und vor keinem gemischten zerische der „ewigen Verlobung“ erreichte. Publikum preisgibt“. Hebels Schilderung Wie es scheint, fehlte ein letzter Reiz, der in dieser Leistungen atmet den jugendlichen die einigermaßen schwerfällige, kräftiger Enthusiasmus. Sie mündet in die Worte: Initiative abgeneigte Natur des Mannes den „Kindlein, Euer Gevattermann ist sonst der­ zündenden Funken des Entschlusses hätte jenige nicht, der seinen eigenen kleinen werfen können. Liebte Hebel die schöne Lorbeerzweig ändern Leuten um die Nase Oberländerin, wie anzunehmen ist, so war er herumstreicht und sagt: Riecht daran! Aber doch nicht in sie verliebt. Indessen sollte das muß ich zur Wahrheit sagen, daß ich auch dies Gefühlserlebnis ihm nicht vorent­ für die alemannischen Gedichte mich noch halten werden. Es traf ihn schon gereift, nie so geehrt fühlte, als durch die feine längst mit hohen Ehren und Würden beklei­ Attention und Auszeichnung, mit der mich det. Aber wenn auch der neunundvierzig- diese Frau während ihres Hierseins behan­ jährige Kirchenrat nicht daran dachte, irgend delt hat, so daß ich nicht weiß, ob ich über welche lebenseinschneidenden Konsequenzen ihr, oder über mir selber vernarrt — wollte daraus zu ziehen, so läßt doch der Ton sagen entzückt bin.“ distanzierter, fast ein wenig ironischer Heiter­ keit, in dem er davon berichtet, die verbor­ Doch die Gefahr, die Hebel beschworen gene Wärme spüren, die ihn frühlingshaft glaubte, kam dräuender zurück. Im Septem­ berührte. ber 1809 gab die Hendel ein zweites, diesmal Im Spätherbst 1808 zeigte sich die be­ mehrwöchiges, Gastspiel. Und nun hören wir rühmte Schauspielerin HenrietteHen- Hebel: „24 Tage hindurch, so lange Madame d e 1 acht Tage lang im Karlsruher Theater. Hendel hier war, schwelgte ich diesmal in Hebel, der ihren Darbietungen, wie seine einem Genuß, der mir vor einem Jahr schon Briefe beweisen, als unermüdlicher und auf­ minutenweise unbezahlbar war. Ihr Umgang merksamster Zuschauer folgte, schreibt dar­ aber ist eine immerwährende Sitzung der über an Frau Sophie Haufe: „Im Grund ist Akademie der Künste, der goldenen Lebens­ es mein Glück, daß ich sie morgen zum weisheit und des Frohsinns.“ — „Oft war letzten mal sehe, eh ich mich in sie ver- es mir, wenn ich sie in der ganzen Glorie narre.“ — Jedoch der Schluß widerruft: ihres Genies und ihrer Kunst erblickte, wie „Jetzt soll alles nichts mehr gelten, was ich einem, der mit einem höheren Wesen im im Anfang dieses Briefes von M. Händel ge­ Umgang steht und die Ahndung hat, es schrieben habe. Denn es ist mir herzlich leid könnte kein gutes Ende nehmen.“

61 62 Henriette Hendel-Schutz «ez- J-N- Peroux, gest. G. Ritter Die bekannten Briefe an F. W. Hitzig und Zeichen der Indignation auf der Stelle be­ an Sophie Haufe vom 27. und 29. Oktober strafen müssen. Nichts! Das Klatschen 1809 geben den Höhepunkt: die reizende dauerte so lang und laut, daß sie den Schluß- Liebeserklärung, die dem überraschten Dich­ Vers nicht mehr anbringen konnte, und statt ter, in seine eigenen alemannischen Worte für den Beyfall stumm zu danken, that sie gekleidet, von der Bühne herunter aus es laut, und sagte, daß sie dieses Glück (ich schalkhaftem Munde zuteil wurde. will aus Bescheidenheit nicht alles nachschrei­ „Der Montag war nicht nur mein, son­ ben, aber das schönste) ihrem Freund Hebel dern des ganzen Oberlandes Ehrentag. Unter zu verdanken habe, durch dessen Gegenwart den Stücken, die sie deklamieren wollte, sie begeistert sey. Meine Fassung kann ich stand von den alemannischen Gedichten nur nicht begreifen, wenn sie nicht selbe durch Hans und Verene auf dem Zettel. Sie trug es geheime Künste auf mich wirkte. Während in Gegenwart des Hofes und Adels, des alle Logen und Gallerien auf mich schauten, Fürsten von Thurn und Taxis, mehrerer schaute ich auf sie, und nickte ihr einen leich­ Fremden, die wegen dem Kayser hier waren, ten anständigen Dank.“ und mehr als 600 Personen verschiedener Freilich, ganz und gar nur dabei blieb es Stände unter beständiger Begleitung des all­ nicht. Der Kirchenrat, wie er zwar nicht dem gemeinen Beyfalls vor, der am Ende in ein Freund, wohl aber der Freundin berichtet, so lautes und langes Klatschen ausbrach, daß dankte der Schelmin im Garderobezimmer sie hoffen konnte dem Publikum mit einer mit einer Umarmung. Repetition gefällig zu seyn, und fieng von Den ereignis- und ehrenreichen Tag be­ neuem an: Es gfallt mer nummen eini. — schloß ein Unfall von keineswegs harmloser Aber als jetzt nach dem Zeddel eine Scene Art: „Nach dem Akt holte ich sie in den aus Makbeth folgen sollte, hielt sie einige Culissen zu einer großen Abendgesellschaft Sekunden still, schaute mich (ich saß im Par- ab. Denn obgleich jeden Augenblick der quett in den vordersten Reihen) eine Weile Kayser erwartet wurde, wollten doch alle lächelnd an, als die eine Spitzbüberey im Eingeladenen lieber bey der gepriesenen Sinn hat, und begann mir selbst überraschend: Künstlerin seyn, als die Ankunft des Helden z’Fryburg in der Stadt etc. etc. Auch dies sehn. In diesem Saal hielt ich eine Balkons- vortrefflich, und fast mit noch größerem thüre (ohne Balkon) für ein Fenster, weil sie Beifall, weil es unerwartet war. Aber nun zum Behuf der Illumination eine leicht ein­ denke dir ein Weib, das im stolzen könig­ geschobene Blendung hatte, lehnte mich, wie­ lichen Bewußtseyn, alles thun zu dürfen, was wohl schon einmal gewarnt, um die Pfeife es will, auch wirklich alles thut, was sie will. auszublasen an die trügliche Brustwehr. In — In der Stelle: einem Nu lag Brustwehr, Lampen und Licht Minen Auge gfallt------zerschmettert unten auf der Gasse, und ich, gel, de meinsch, i sag der Wer, ich weiß nicht durch welch Wunder, noch mit dreht sie sich nach mir, lächelt nach mir, der schweren Hälfte des Körpers im Zimmer, sagt: obgleich der Kopf, der weit in der Luft und es isch kei Sie, es isch en Er Nacht draußen schwebte, um 12 Uhr auch und deutet auf mich. — Eine Schauspielerin nicht mehr leicht war.“ — Ich begreife meine auf dem Theater, und ein Kirchenrath im Rettung und meine Ruhe bei völligem Be­ Parquett! Hätte nicht das Publikum, wenn wußtseyn nicht, aber schon vor einem Jahr es auch nur einige Achtung für meine Person habe ich M. Hendel dafür angesehen, daß und mein Amt hat, jede andere mit dem sie im Besitz verborgener Künste sey.“ Das gefährliche Ereignis ging „ganz ohne Frau zu sprechen, verschaffte er Befriedigung, allen Nachtheil, ohne den mindesten Schrek- indem er sie zur „Schwiegermutter“ eines ken, ohne Spur von Schmerz“ vorüber. jungen Freundes ernannte, der ihr Töchter- Tragik lag nicht in der Linie von Hebels chen im Bilde bewundert hatte. Als ein Jahr Wesen und Leben. nach Frau Hendel die Schönberger in Karls­ Zwar spielen er und Frau Hendels Eich- ruhe auftrat, erklärte Hebel, er sei „sehr hörnlein, das sie ihm geschenkt hat — im eifersüchtig über die Ehrenbezeugungen, mit Briefwechsel „das Zarte“ genannt — nach denen man ihr huldigte“. Und er gesteht bei der Abreise der Künstlerin „zwey betrübte dieser Gelegenheit: „Ich muß doch ein wenig Figuren miteinander“. Und wenn das Jahres­ verliebt gewesen sein in die Geliebte“, mit ende auch die Freude eines nochmaligen einem Nachtrag, dem man freilich kaum Wiedersehens brachte, so folgte doch un­ Glauben schenken wird: „wie ich iezt erst mittelbar darauf wieder ein neuer Abschieds­ m erke“. schmerz. Am 1. Januar 1810 schreibt Hebel: In welcher Art Hebel die Wiederverehe­ „Ich habe in dieser Nacht das Jahr bey der lichung der Bewunderten aufnahm, zeigt der Madame Hendel gewechselt. Sie war nur folgende, aus dem Frühjahr 1811 stammende 3 Tage hier und ging heute wieder fort, und Brief. Man wird nicht umhin können, zum iezt — mindesten ein Körnchen Ernst durch den Wie einstens an des Nilus Strand Scherz durchzufühlen: „Aber noch immer der König stand — hab ich nicht geschrieben, warum ich so lang Die sieben fetten Küh’ verschlangen hag’re nicht geschrieben habe, auch im Verlauf Die sieben vollen Ähren sieben mag’re meines Stillschweigens nie. Ein Gestrandeter Daß sein Verstand hat auch gut, sich entschuldigen: Und königlich Besinnen schwand. So steht in einem Kämmerlein Ach auf Freuden folgen Leiden, und athmet schwere Trübsal ein auf die Sünden harte Buß. an iezt der König ohne Land. Daß ich’s sagen, daß ich’s klagen, Verlohren sind ihm Rast und Ruh Götter, daß es w ahr seyn muß. Er reitet auf der magern Kuh Die durch ihre Rosenwangen, Die dürre Ähre sproßt im Sand.“ durch der Lippe Red und Kuß, Vielsagender, als die launige Reimerei, ist durch ihr zärtliches Umfangen fest mein armes Herz gefangen, der kurze Schlußsatz: „Frau Gevatter, iezt will ichs aufrichtig gestehn. Ich geh’ herum, daß es ewig zappeln muß, daß es brennt wie Doktor Huß, wie der Schatten an der Wand.“ beut nun ihre holden Wangen Indessen ist diese Behauptung anscheinend einem anderen zum Kuß. nicht wörtlich, jedenfalls nicht äußerlich zu Hat das Sakrament empfangen, verstehen. Vielmehr konstatieren die Freunde das zum heimlichsten Genuß sogar mit Ergötzen eine Veränderung gegen­ iede Liebe weihen muß, teiliger und sehr wohltätiger Art, die der und hat schon ein Kind empfangen. Verkehr mit den Grazien und Musen, perso­ nifiziert in ihrer lieblichen Dienerin, gewirkt Sie hat nemlich, die gebenedeite Tochter hatte: der Herr Kirchenrat hörte auf, seine Kronions Madame Hendel, zerrissen hat sie Erscheinung, wie bisher, nach sträflicher den Bendel, und sich in den Stand der vier­ Junggesellen-Manier zu vernachlässigen. ten heiligen Ehe begeben mit Herrn Profes­ Dem Bedürfnis, von der „wunderschönen“ sor Schütz in Halle. 64 Und da soll man noch an einem Schuh- er „Mit unbegrenzter Liebe und Ergeben­ macherstühlein drechseln, und sich nicht viel­ heit“ zugetan bleibt, atmen die gleiche herz­ mehr mit dem Diakonus Schuhmacher selber liche, jetzt ein wenig schmerzliche Neigung associren und mit ihm einen thränenreichen wie ehedem, und sind beladen mit „mehr Hopelpoppel schreiben oder ein durchlöcher­ als einem Schmützli“. Der Gatte und die tes H erz.“ Kinder werden nunmehr rückhaltlos in den Jedoch war die Verbindung damit keines­ Freundeskreis mit eingeschlossen. Am wegs abgebrochen; sie war es umso weniger, 13. November 1810 schreibt Hebel an Pro­ als auch Professor Schütz, der „edle und fessor Schütz: „Ich bezeuge Ihnen meine geistreiche Mann“, wie Hebel ihn nennt, den innige Teilnahme an dem Glück der schönen Dichter nicht minder verehrte, als seine Frau, Verbindung, die Sie mir freundschaftlich an- und auf seine Art nicht weniger eifrig für zeigten, und meinen wärmsten Dank für ihn wirkte. Im April 1811 schreibt Hebel alles Liebe und Freundliche, was Sie in Ihrem von seinem Kalender: „Seitdem letzterer in Briefe mir mittheilen. Ich kann nicht aus­ der Hallischen Literatur-Zeitung recensirt sprechen, wie glücklich ich Sie schätze, denn und natürlich gelobt ist, denn der Recensent ich habe die Worte nicht, um Ihnen zu sagen, ist der fünfte und derweilige Gatte meiner wie sehr ich Ihre Gattin verehre, und wie guten Freundinn Madame Hendel, seitdem glücklich sie uns auch hier durch ihre Kunst, wird er stark ins nördliche Deutschland ge­ und alle, denen sie ihr Wohlwollen schenkte, sucht. Neulich schrieb Goethe darum.“ — durch ihre Güte und ihren herz- und geist­ Die alemannischen Gedichte wanderten mit vollen Umgang gemacht hat. Indem Sie mir Frau Hendel-Schütz durch die Welt weit Ihre Theilnahme an dem Wohlwollen zu­ über Deutschland hinaus. So trugen beide, sichern, mit welchem dieselbe während ihres die liebreizende Interpretin und ihr Gatte, Hierseyns mich behandelt und vor gezogen dazu bei, der Produktion des Dichters die hat, bieten Sie mir das erfreulichste Ge­ „Zelebrität“ zu verschaffen, in deren Be­ schenk, das ich mit offenem Herzen auf­ wußtsein er sich zuweilen „bis zur Trunken­ nehme.“ — Der „Wohlgebohrene, Hoch­ heit glücklich“ fühlte. zuverehrende Herr Professor“ wird im Neben diesen sachlichen Beziehungen gehen Januar 1811 zum „theuersten Herrn Gevat­ persönliche her, und nicht nur solche, die ter“, nachdem Hebels Gotchen, die kleine Hebel selbst auf scherzhafte Art veranlaßt Sappho, geboren war. „Unterdessen wiege hat. Im März 1812 schreibt er an Haufe: ich doch oft ganz für mich allein das Kind­ „Ich wäre gottlob gesund, ausgenommen, lein, das mir Vater und Mutter auf Freundes­ daß mir die Zauberin Medea von Petersburg arme gelegt haben, und singe ihm und er­ heraus ein Zugpflaster auf mein armes ver­ kenne in seinem holden Lächeln schon das narbtes Herz geschickt hat. Ich bin aber sel­ Töchterlein seiner Mutter. Sie setzen ihm ber dran schuld. Ich schrieb einmal auf ein doch aufs Frühjahr in dem Garten in einem Blatt Briefpapier: Petersburg d. . . . Lieber Blumenbeete sein Bäumlein, mit dem es Herr Kirchenrath! und schob es unter ihre fröhlich und schön und lange blühen möge, Papire. Vielleicht findet sie’s irgend einmal, und lassen mich seinen Namen erfahren. dachte ich, und lacht, aber ich hatte es schon Einstweilen nenn’ ichs Henriettchen . . .“ lange wieder vergessen. Dieses Blättlein hat Der Brief vom Juni 1811 zeigt, wie auch sie mir wirklich aus P. über und über be­ Hebel seinerseits der Freundin, die ihre schrieben wieder zugeschickt.“ — Hebels Kunst in seinen Dienst gestellt hatte, mit Schreiben an die „Theuerste Freundinn“, der seiner Kunst ein bleibendes Denkmal setzte:

5 Badische Heimat 1960 65 „Ich bitte Sie, das Schatzkästlein des rhein­ da mir der Sonnenschein nicht hat werden ländischen Hausfreundes, das dieser Brief wollen. Ich wünschte mir nur, Sie einmal begleitet, freundlich von mir anzunehmen recht herzlich bei mir bewirthen zu können, und ebenso freundlich zu verzeihen, daß oder vielmehr recht oft.“ — Im folgenden Sie so oft darinn genannt sind. Hab ich bricht seit langen Jahren wieder einmal mir’s versagen können, mit Ihrer Freund­ etwas durch von jener zärtlichen Neckerei, schaft groß zu thun, die jeden, der sie wie sie das ursprüngliche Verhältnis kenn­ genießt, so sehr beglückt?“ — In dem glei­ zeichnete: diskreter Ausdruck der Verliebt­ chen Brief findet sich, nicht zum ersten Mal, heit, die Hebel, seit der Verehelichung der die Anspielung auf eine schmeichelnde Zu­ Geliebten, stillschweigend in eine andere kunfts-Hoffnung: „Der Himmel lächle zu Kategorie von Empfindungen zu überfüh­ Ihrem schönen Gedanken, wie ich darüber ren sich bemüht hat: „Ich bin gar glücklich frohlocke, und zünde alle Sterne an, und gewesen in der Wahl meiner Haushälterinn fege alle Wolken weg, daß Sie bald zu uns und muß ihr gut seyn, weil sie fast ieden kommen, der Herr Gevatter auch, die her­ Abend nach Tisch zu mir sagt: Verzählen zige Pathe doch auch — und daß Sie viel­ Sie mir etwas von der Frau, wo ihr Portrait leicht auf immer die Unsrigen werden wol­ im Zimmer hängt, das Sie so oft anschauen, len. Dann bin ich ein glücklicher Mann, und von Ihrem ehemaligen Schatz.“ es kann noch etwas aus mir werden. Meine herzlichen Grüße Ihrem Herrn Gemal, und Eine andere Möglichkeit häuslicher Nähe o wie viel Küsse dem kleinen Engel und der wird von Hebel zwar dankbar vermerkt Mutter.“ Durch Napoleon seiner Professur aber nur einmal erwähnt (im Mai 1819) und in Halle enthoben, unternahm Schütz als wohl kaum recht ernst genommen: „Doch Schauspieler Gastspielreisen mit seiner Frau. darf ich mich rühmen, daß ich mir in meiner In wiederholten Gesuchen an den Intendan­ Phantasie auch ein recht schönes Halle und ten bemühten sich beide um Engagement am darinn eine allerliebste Wohnung, nemlidi Karlsruher Hoftheater. Im Mai 1812 heißt die Ihrige, oder vielmehr die unsrige, gebaut es: „O, daß das, was der Wunsch und die habe. Denn mein Stüblein, welches Sie mir so Freude des ganzen Publikums wäre, nun lieb und freundlich zum Ruhesitz meines auch der Wille und das Wort eines Einzigen Alters angeboten haben, ist nicht vergessen.“ würde, daß Sie mit Ihrem theuren Gemahl Tatsächlich kam ja auch für den Beamten, wieder zu uns kämen und unser würden, der in den Sielen starb, niemals ein Alters- und mir erlaubten, wie Sie so schön sagen, Ruhesitz in Betracht. mit Ihnen eine Familie zu seyn, wenigstens Mit den Jahren werden Hebels Briefe sel­ Ihr recht inniger und treuer Hausfreund.“ tener. Als Ursache erkennt .man mit Be­ Es sollte nicht sein. Nicht einmal der dauern die abnehmende Rüstigkeit des Man­ vorübergehende Besuch des Ehepaares in nes, der seine sinkenden Kräfte in immer Karlsruhe kam zustande. Am 13. Oktober höherer und verantwortlicherer Stellung 1813 seufzt Hebel: „Also hab ich mich für verbraucht. „Ich bin seit zwei Jahren nim­ diesmal vergeblich gefreut und gesehnt.“ Im mer recht gesund, nie heiter, fast immer Oktober 1813 heißt es, mit wehmütiger An­ trübsinnig, verdrossen zu allem, was ich thun spielung auf jene längst begrabene größere soll, selbst was ich sonst mit Liebe und Aussicht: „Ich lebe jetzt in einer eigenen Freude that.“ — Niemals abgenommen hat Haushaltung und befinde mich recht wohl, die Wärme und Innigkeit der Freundschaft, wenigstens im Schatten des häuslichen Glücks, zu der Hebels späte Verliebtheit sich geläu­

66 tert hatte, und der von dem Ehepaar Schütz nahe und theuer ist. Leben Sie wohl, Theuer- mit der Übertragung der Patenschaft eine ste! Ich bin mein Leben lang und unverändert offizielle Form und Anerkennung in der Ihr redlichster Freund Hebel.“ sichtbaren Welt gegeben worden war. Nach Noch ein Schreiben ist erhalten, lang und einem sehnsüchtigen Rückblick auf jene Blüte­ liebevoll, datiert vom 28. April 1822. Es war zeiten — „O, wie war das Jahr 1809 so gewiß nicht so wörtlich gemeint wie es sich schön!“ — endet dieser Brief (es ist der vor­ erfüllt hat, wenn Hebel, der 1826 starb, letzte und er trägt das Datum des 9. Juni zum Schluß desselben schreibt: „Lesen Sie 1821), mit den Worten: „Ich grüße und das letzte noch gerne, daß meine Verehrung umarme Sie und alles, was Ihrem Herzen und Freundschaft unveränderlich bleibt.“

Än fcae Hebelhaus zu Haufen i. W .

zu feiner Einroeihung als Heimat- unö Hebelmufeum am 200. Geburtstag öea Dichtere

Jets blTch e Mufeum rooröe, Hebelhüüfli, gel, öo fpichfch! Altertümer us öe Heimetorte trailch j'etst uf öe neue Schaft un Boröe — Nuffe zeig öenn, roie öe öi öry fchichfch!

Me no hüetfch in öyne Wänöe, roo öe n eim ans Herz roitt lege: Us öe Bilöer, Brief un ßüecherbänöe, roo me g’orönet het mit gfchichte Hänöe, chunnt öer Hebel lebig eim ergege.

Nit as Bueb Jetst meh, as chleine, nei - as brüehmte Dichtersma! Aber nit z’oergeffe, roie mer’s meine: Ma un Chnab, me cha fie roohl oeretne, un fo roämmer ßeeöi bynis ha.

W as er fait, öas blibt un bftoht, all no ifch fy W ort e FUnöli. Wenn er fo mit eim öur ö’Stube goht, huuchto eim a roie’s himmlifch Morgerot - Hüüfii, gunn is öenn mengg choftber Stünöli!

H eöroig Salm

67 J. H. v. Wessenberg, Bistumsverweser von Konstanz

Hebel und Wessenberg

Von Wilhelm Zentner, München Für beide Männer bedeutet 1960 ein schöpft. Mag Wessenberg als Sohn des säch­ Gedäcbtnisjahr: am 10. Mai sind zweihundert sischen Konferenzministers, Oberhofmeisters Jahre verstrichen, seit Johann Peter Hebel und Prinzenerziehers Philipp von Wessen­ das Licht der Welt erblickte, am 9. August jährt berg auch in Dresden geboren sein, seine sich zum hundertsten Male der Todestag väterliche Familie war in Feldkirch unweit Ignaz Heinrich Freiherrn von Wessenbergs. Staufen ansässig, wo der Knabe in der Ob­ Allein damit ist das Walten des Beziehungs­ hut seines Großvaters seine frühen Jugend­ vollen, das sie verbindet, keineswegs er­ jahre verbrachte, und in das er später immer

6 8 wieder gerne als in sein „Tusculum“ zurück­ ließ. Systeme waren ihnen verdächtig, weil kehrte. Verfolgt man das Geschlecht weiter sie ungerecht gegen den Pulsschlag des Lebens zurück, gelangt man in das Schweizer Frick- machen können. Ihr Ehrgeiz war deswegen tal im Aargau. Wessenberg war von Vaters weniger der des schulgerechten, begriffs­ Seite her ebenso Alemanne wie Hebel im sicheren Philosophen als der des Pädagogen mütterlichen Stamm, beider Kindheit hat und Ethikers, des freudig schaffenden, den Schwarzwald zum Schauplatz gehabt, handanlegenden Menschenfreundes. Herder beide fühlten sich ihrem Stammestum, Land stand ihnen näher als Kant. Nicht nur aus und Leuten zeitlebens aufs unmittelbarste der Zeitstimmung, aus eigenstem innerem zugehörig. Erleben und Erfahren erwuchs ihnen die Näher getreten sind sich Hebel und Wes­ Überzeugung von der Notwendigkeit reli­ senberg allerdings erst im letzten Lebens­ giöser und menschlicher Toleranz. Über den jahrzehnt des Dichters, vor allem seit sie, Belangen der Konfessionen, deren Berech­ die Vertreter der evangelischen und katho­ tigung sie keineswegs leugneten, erhob sich lischen Kirche, ihren Sitz in der Ersten für sie hochthronend aller Bekenntnisse er­ Kammer der badischen Landstände ent­ habenste Mutter, die Religion selbst. In der nahmen. Wessenberg hatte zu jenen Bera­ göttlichen Person Christi verehrten sie deren tern des Großherzogs Karl gezählt, die von makelloseste Offenbarung. der Notwendigkeit der Einführung einer Wessenberg nahm regen Anteil an der landständischen Verfassung überzeugt waren, Entstehung von Hebels „Biblischen Geschich­ unentwegt dafür wirkten und sich nun am ten“, und dieser versicherte bei der Über­ Ziel ihrer Wünsche sahen. Indessen eint beide sendung des ersten Buchexemplars, daß die Männer mehr als die Zugehörigkeit zum Zufriedenheit seines Freundes ihm das Parlament, denn, ungeachtet der Verschie­ „schönste Omen“ bedeuten würde, unter denheit der Konfessionen, verband sie eine dem seine Arbeit in die Welt ginge. Als Wahlverwandtschaft des Fühlens und Den­ bald nach Erscheinen der „Biblischen Ge­ kens, der Lebenshaltung, die sie uns gleich schichten“ der Verlag Cotta eine Bearbei­ verehrungswürdig erscheinen läßt. Man hat tung für katholische Schulen in Erwägung den evangelischen Prälaten Hebel und den zog, förderte Wessenberg, obwohl er bis katholischen Bistumsverwalter Wessenberg dahin für die Verbreitung der erstmals 1802 gleichermaßen als Jünger der Aufklärung erschienenen „Biblischen Geschichte für Kin­ bezeichnet und sie der Schule des Ratio­ der“ des ihm nahestehenden Christoph Schmid nalismus einzureihen versucht; allein wer in seinem Bistumsbereich gesorgt hatte, diesen tiefer schürfend sich in ihr Leben, Wollen Plan und machte für diese Aufgabe geeignete und Wirken versenkt, dem wird nicht die Persönlichkeiten namhaft. trockene Luft eines einseitigen Verstandes­ Jene primäre Dichterkraft, die uns Hebels kultes, sondern der Lebenshauch der Huma­ Schöpfungen so teuer macht, eignete dem nität, der Menschenliebe entgegen wehen; und adligen Kirchenfürsten, so sehr ihn nach so gewinnt an dem, was sie schufen, neben poetischer Aussage verlangte, nicht in gleich der Vernunft das Herz wohlausgewogenen unmittelbarer Weise. Der Sänger der ale­ Anteil. Der Philosophie, der mächtigen Be­ mannischen Gedichte, der Erzähler des Rhein­ herrscherin der Zeit, waren sie nur insofern ländischen Hausfreunds wurzelte ungleich geneigt, als diese nicht in lebensfremde tiefer im Volke. Auch seiner Darstellungs­ Theorie und Abstraktion erstarrte, sondern mittel war Wessenberg nicht immer gewiß, sich in lebensnahe Daseinspraxis übertragen Ausdruck und Form bereiteten ihm zuweilen

69 Schwierigkeiten oder weckten zum minde­ die gemeinsame Tätigkeit in der Ersten sten Zweifel, ob er sich ihrer richtig bediene. Kammer, und bald muß in Hebels Briefen Infolgedessen wandte sich der Konstanzer die offizielle Anrede „Euer Excellenz“ Bistumsverweser gern um Rat an literarisch dem vertraulicheren „Verehrungswürdigster erfahrene Freunde wie Heinrich Schreiber Freund“ oder „Geehrtester Freund“ Platz und J. G. Jacobi in Freiburg oder auch an machen. Die zwölf Briefe Hebels an Wessen­ Hebel, dem er die „Blüten aus Italien“ zur berg sind freilich typische „Altersbriefe“ Durchsicht schickte. Hebel beließ es bei Hebels, d. h. sie beschränken sich in sach­ kleinen Änderungen, „unmaßgeblichen Va­ licher Knappheit und Kürze auf das unbe­ rianten“, wie er meinte, weil „es schwer und dingt Mitteilensnotwendige und nähern mißlich ist, an Geistesprodukten etwas än­ sich bisweilen der Nüchternheit des amt­ dern zu wollen, die so viel Eigentümlichkeit lichen Schreibens. Oft bricht sich nur in haben, und unverzeihlich fast, wenn diese so Anrede sowie in der Unterschrift „In auf­ lebendige Anschauungen der schönen Natur aufrichtiger Verehrung und Liebe“, „Von und der Kunstdenkmale wiedergibt und sich Herzen Ihr aufrichtiger Verehrer“ oder „Mit in so tief bewegten Gefühlen und lebhaft innigstem Gefühl Ihr aufrichtiger Verehrer hervorspringenden Ideen ausspricht“. Hier und Freund“ die Wärme persönlichem urteilte nicht nur Hebels Verbindlichkeit, Empfindens, der freundschaftlichen Zunei­ denn die „Blüten aus Italien“ zählen in der gung Bahn. Das Beste und Wertvollste, was Tat zu Wessenbergs gelungensten, selbst sich die beiden Männer zu sagen hatten, heute noch lesenswerten Schöpfungen. Auch ist wohl nicht in den Briefen, es ist im die für den von dem Karlsruher Verleger mündlichen Gespräch und Gedankenaus­ Gottlieb Braun herausgegebenen Almanach tausch niedergelegt worden. Ein Verlust, „Rheinblüten“ (1822)bestimmten poetischen daß wir darüber keinerlei Zeugnisse besitzen. Beiträge, darunter das Gedicht „Am Grabe Der Verkehr mit Wessenberg lehrt uns Virgils“ unterwirft Wessenberg Hebels Be­ jedoch Hebel von einer Seite kennen, die gutachtung, und dieser schlägt wiederum im allgemeinen wenig bekannt ist und zu­ einige „Varianten“ vor; so möchte er das weilen völlig übersehen wird, nämlich der ihm „provinziell“ esrcheinende Wort „ent­ Parlamentarier. Daß er dieser Tätigkeit lädt“ (es ist von einem „milden Regen“ die keine allzu große Neigung entgegenbrachte, Rede) durch „ergießt“ ersetzt wissen, über­ ist bekannt und bei seiner Wesensart kaum läßt indessen die Entscheidung Wessenbergs verwunderlich. Immerhin rühmt sich Hebel in „reinem und richtigem Takt“. seiner nie gehaltenen Antrittspredigt vor Wann sich die Fäden persönlicher Be­ einer Landgemeinde, er „habe mit Fürsten kanntschaft angesponnen haben, ist nicht im Rat gesessen“. Eine stille Genugtuung mehr genau zu ermitteln. Sie werden durch muß ihn also doch darüber erfüllt haben, die gemeinsamen Freunde Joseph Albert daß er nach bescheidenen Anfängen so hoch von Ittner, den Kurator der Universität gestiegen, so wohl geachtet war. Zu dem vie­ Freiburg und späteren Direktor des See­ len Unangenehmen, das ihm sein Sitz und kreises in Konstanz, sowie durch Johann das zeitraubende Schriftführeramt in der Georg Jacobi geknüpft worden sein, dessen Ersten Kammer bereitete, gesellten sich Taschenbuch „Iris“ sowohl Hebel als auch immerhin auch erfreuliche Dinge; als deren Wessenberg zu seinen Mitarbeitern zählte. erfreulichstes mag er wohl die enge Zusam­ Zu einem regelmäßigen Verkehr und Gei­ menarbeit mit dem ähnlich gesinnten Wessen­ stesaustausch kam es allerdings erst durch berg begrüßt haben.

70 Ursprünglich auf den 1. Februar 1819 bildliche Vorarbeit in seiner Diözese geleistet anberaumt, verschob sich die Eröffnung der hatte, scheiterte gleichfalls an Rottecks und Kammer durch den Tod des Großherzogs seiner Freunde Widerstand. Günstiger schnitt Karl auf den 22. April dieses Jahres. Unter Hebel mit den von ihm eingebrachten dem Vorsitz des Markgrafen Wilhelm, der Motionen ab, vor allem mit dem Vorschlag, sich dieser Aufgabe mit großem Geschick zu mit staatlicher Unterstützung eine Pensions­ unterziehen verstand, hatte sich eine Reihe kasse für brotlos gewordene Geistliche und bedeutender Persönlichkeiten zusammenge­ hilfsbedürftige Witwen und Waisen zu funden wie Fürst Egon von Fürstenberg, gründen. Mit der Annahme dieses Antrags Fürst Philipp von Löwenstein, Johann Frei­ sah sich Hebel, der bereits früher den in herr von Türkheim, Karl Freiherr von seinen Mitteln sehr beengten Pfarrwitwen- Zyllnhardt, der Fleidelberger Rechtsgelehrte fiskus verwaltet hatte, am Ziel seit geraumer Anton Friedrich Justus Thibaut, der Frei­ Zeit gehegter Wünsche. Gleichermaßen lag burger Staatswissenschaftler und Historiker Hebel und Wessenberg eine grundlegende Karl von Rotteck. Die Staatsregierung war Umgestaltung des Schulwesens, eine Hebung durch den Minister von Berstett und die des Bildungsgrades der Lehrer, zugleich geheimen Referendare Winter, Nebenius und deren soziale Besserstellung am Herzen. So Boeckh vertreten. Einer der ersten Anträge, konnte Hebel mit Wessenbergs Hilfe die welche Wessenberg stellte, galt der Einfüh­ Errichtung eines zweiten evangelischen rung örtlicher Rüge- und Sittengerichte, die Lehrerseminars, Wessenberg seinerseits einer der Roheit und Verwilderung, die als Folge­ zweiten Ausbildungsstätte für katholiche erscheinungen der langen Kriegszeiten um Volkschullehrer ins Werk setzen. sich gegriffen hatten, steuern und durch per­ Bei den in den folgenden Jahren erregt sönlichen Zuspruch, Ermahnung und Beleh­ und leidenschaftlich geführten Verhandlun­ rung eine Besserung herbeiführen sollten. gen über Zensur und Pressefreiheit griff Die sittliche und geistige Hebung des Vol­ Hebel nur selten in die Debatte ein, aber kes, das dadurch für eine sinnvolle Gesetz­ jedenfalls waren ihm, der als Kalender­ gebung reif werden sollte, war das Ziel des mann einst selbst unter dem Einspruch des Antragstellers, der damit keineswegs die Zensors zu leiden gehabt hatte, nunmehr persönliche Freiheit eingeschränkt wissen aber durch launige Ironie des Schicksals wollte. Hebel war Berichterstatter über selbst dem Oberzensurkollegium angehörte, diese Motion und äußerte sich in befürwor­ Wessenbergs mannhafte Worte aus der Seele tendem Sinne. Scharf opponierte Karl von gesprochen: „Die Deutschen wie alle Völker, Rotteck, der bis dahin in manchen anderen bei denen Geistesbildung und bürgerliche Punkten mit Wessenberg einig gewesen war: Freiheit Hand in Hand gehen, erblicken in ohne Despotie werde nicht einmal der Bür­ dem gesetzlich geordneten freien Gebrauch ger mittlerer Klasse vor diesen Sittengeridi- der Presse eine Schutzwehr für beide. Je ten erscheinen, viel weniger die höheren höher sie den Wert des Gebrauchs der Klassen; in den Städten seien sie überhaupt Presse, der die Herrschaft des Geistes über nicht durchführbar. Die Regierung schloß die Sinne befördert und zur allmählichen sich Rottecks Ansicht an, und Wessenberg Verbreitung und Verteidigung der Wahrheit drang trotz Hebels Unterstützung nicht dient, zu schätzen wissen, umso verabscheu­ durch. Ein weiterer Antrag Wessenbergs auf ungswürdiger und strafbarer erscheint ihnen Errichtung von Priesterseminaren, für die ein Mißbrauch“. Auch die weiteren Sätze der Konstanzer Bistumsverwalter schon vor­ dürften Hebels Zustimmung erfahren haben:

71 „Ein Gesetz, das die Pressefreiheit nimmt, wurde in , das Blindenheim in ist noch weit entfernt, ihrem Mißbrauch zu Freiburg erstellt. Wer weiß, ob nicht Wes­ wehren. Dieser fährt fort, ungestraft im senberg mit seinem Plan einer Rettungsan­ Dunkeln zu spuken. Hundert Organe der stalt für verwahrloste Kinder weiter ge­ Wahrheit werden vielleicht verstummen, diehen wäre, wenn zur Zeit dieses Antrags aber umso ungescheuter zischeln die Stim­ Hebel noch unter den Lebenden geweilt men lichtscheuen Betrugs und frecher hätte. Einmal nur ließ Hebel seinen Kolle­ Schmähsucht, ja, die schamloseste Lüge und gen Wessenberg im Stich, als dieser 1824 Täuschung tritt beherzter auf“. Wie weit nach der auf Grund der Karlsbader Be­ Hebel seinem katholischen Parlamentskolle­ schlüsse erfolgenden Auflösung der eigent­ gen in dessen Eintreten für Handels- und lichen Volksvertretung, der Zweiten Kam­ Gewerbefreiheit zu folgen vermochte, ent­ mer, als einziger Sprecher der Ersten Kam­ zieht sich unserer Kenntnis, doch geht man mer die Regierung vor der Gefahr eines wohl nicht fehl mit der Annahme, daß er solchen Schrittes warnte und diesen wider­ sich in dieser Frage etwas zurückhaltender riet. verhalten haben dürfte. Hingegen mag Wes­ Von sozialem Verantwortungsgefühl zeu­ senberg, als er 1822 die erste Anregung zur gen beider Männer Bemühungen um die Errichtung einer höheren polytechnischen Gewerbeordnung. Hebel wie Wessenberg Schule, der späteren Technischen Hochschule liebten das werktätige Volk und waren auf in Karlsruhe, gab, die volle Billigung des dessen Förderung bedacht; wußten sie doch naturwissenschaftlich interessierten Pädago­ aus eigener Anschauung, wieviel ein gesun­ gen und Kalendermanns gefunden haben. der gewerblicher Mittelstand wert ist. Als Ebenso war die von Wessenberg gefor­ sich die neue Gewerbeordnung gegen die derte „allgemeine Studierfreiheit“ ganz nach Wanderung der Handwerksburschen aus­ Hebels Herzen und Überzeugung. sprach, opponierte der sonst schweigsame Am unmittelbarsten trafen sich indessen Hebel. Offenbar gedachte er dabei der Wan­ die Naturen beider Männer im karitativen derjahre des eigenen Vaters, dessen mit Auf­ Wirken. Die bedeutendsten Taten auf die­ zeichnungen aus dieser Zeit angefülltes sem Gebiete waren neben Hebels Antrag auf Taschenbuch dem Sohne ein kostbares Ver­ Verstaatlichung der Pensionskasse für Pfar­ mächtnis bedeutete, erinnerte sich außerdem rerswitwen und Waisen Wessenbergs Vor­ des eigenen Wandertriebs und der Lust, hier schläge zur Gründung einer Taubstummen­ und da „etwas Vagabundisches“ in unser anstalt und später eines Blindenheims. In Dasein zu mischen, beklagte überdies den beiden Fällen waltete Hebel als Berichter­ Verlust einer Poesie, die damit dem Hand­ statter und trat dabei mit dem ganzen Ge­ werkerstand verloren ging. Hebel wies auf wicht seines Einflusses sowie mit dem hei­ das Beispiel des Studierenden hin, der auch ligen Eifer der Überzeugung für „das Gelin­ eine Universität, vielleicht deren mehrere gen des schönen Werkes“ ein. Immer wieder besuchen müsse, obgleich er sich auch durch unterrichten die Briefe den Freund in Kon­ Privatstudium helfen könne. Für den Hand­ stanz über den Stand der Angelegenheit, zu werker werde das Wandern den nämlichen deren Verwirklichung der Kirchenfürst ein Vorteil gewähren. Gemeinsam mit seinem gutes Beispiel dadurch gab, daß er auf seine Freunde trat Hebel für die Befreiung der Tagesgelder verzichtete, ein Vorgehen, dem Geistlichen und Lehrer sowie der wohltä­ sich sämtliche Mitglieder der Ersten Kam­ tigen Stiftungen von den Gemeindeumlagen mer anschlossen. Die Taubstummenanstalt ein, desgleichen für die Befreiung der Theo­ 72 logen vom Kriegsdienste. Allerdings kamen mentarier, zumal in der feudalen Ersten im Plenum die Antragsteller nicht durch, Kammer, taugte Hebels bescheidener Sinn weil man auf der anderen Seite geltend wenig; ohne Zweifel hätte es eher noch machte, es dürfe um des sozialen Ausgleichs seinem Geschmacke entsprochen, in der und der Gerechtigkeit willen kein Stand vor Zweiten Kammer, „unter dem Volke“, zu dem anderen eine Bevorzugung genießen. sitzen, wo seine Freunde Friedrich Wilhelm Überblickt man die parlamentarische Hitzig und Gottlieb Bernhard Fecht tätig Tätigkeit der beiden Kammermitglieder, so waren. Ganz gegenteilig verhielt es sich bei wird man feststellen können, daß Hebel dem Aristokraten Wessenberg, der seine vorwiegend in Angelegenheiten, die ihm un­ diplomatische Schulung auf dem Wiener mittelbar nahe lagen oder gar Herzensan­ Kongreß und in Rom empfangen und erst liegen waren, also vor allem in Fragen der kurz vor der Kammereröffnung seine be­ Schule, Kirche, tätiger Menschenliebe, aus rühmte Rechtfertigung vor dem Vatikan seiner Zurückhaltung hervortrat, während hatte ergehen lassen. Kein Wunder, wenn er in ausgesprochen politischen Bereich man des Konstanzer Bistumsverwesers An­ nur ausnahmsweise seinen Fuß setzte. Hier träge und Reden zum Gediegensten gezählt ließ er gerne Wessenberg den Vortritt, der hat, was die deutsche politische Beredsam­ sogar in Budgetdebatten mit den Worten ein- keit aus ihrer Jugendzeit aufzuweisen hat. griff: „Es ist mir kaum ein Fall denkbar, Ohne Privatinteresse, ohne Partei- und wo die Pflicht des Volksvertreters mir hei­ Kastengeist hatte er — und in dieser Lauter­ liger ist, als wenn es sich um Kontrahierung keit der Gesinnung trifft er sich wiederum einer neuen Staatsschuld handelt.“ Hebel mit Hebel — nur das Wohl’ des Landes, war allerdings auch kein so gewandter und seiner Bewohner und darüberhinaus aller glänzender Redner wie der um vierzehn Menschen und ihrer Menschenwürde im Jahre jüngere Wessenberg, seine Stimme Auge. war schwach und hatte Mühe, im großen So ergibt Hebels und Wessenbergs Wirken Sitzungssaal sich zur Geltung zu bringen. Es im badischen Parlament eine Synthese von lag in der Natur des Rheinländischen Haus­ geradezu sinnbildhafter Bedeutung: der freundes, daß er niemals jene Grenzen über­ aktive, kampfbereite, kampfgewohnte Wes­ schritt, die er seinem Wesen, seinen Fähig­ senberg und der passivere, von stiller Weis­ keiten, seinem Wirken gezogen wußte. Es heit erfüllte Hebel. Das ist ein guter, voll­ widerstrebte ihm, etwas Ungemäßes zu ver­ klingender Akkord, von dem man keinen suchen, bei dem er nicht mehr mit allen Ton missen möchte, weder die politische Fasern er selbst war. Ihm war, wie bereits Leidenschaftlichkeit des einen, der mitunter schon angedeutet, nicht sonderlich wohl zu­ dem Rad der Geschichte in die Speichen mute mitten unter Grafen, Freiherrn, Mini­ fallen zu müssen glaubte, noch die innere stern und Generalen; fiel ihm in so erlauch­ Ruhe und Stetigkeit des anderen, der allen ter Gesellschaft doch immer wieder ein, daß Dingen ihre organische Entwicklung und er einst als barfüßiges Hausener Dorfkind Entfaltung lassen wollte, weil er von der ehrfürchtig das Käppiein ziehend aus dem Notwendigkeit eines natürlichen Wachstums Weg getreten war, wenn ein Schreiber da­ als einem göttlichen Ordnungsprinzip über­ herzog. Gewiß, zum ausgesprochenen Parla­ zeugt war.

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Faksimile Hebels Brief an seinen Verleger Cotta vom 1. Dez. 1824 (?). Bes. W. Osterrieth

Altersschrift Hebels

Ihr Merkmal besteht, wie bei einem Vergleich tafel wünschte ich bei II noch beigesetzt u n ­ mit Schriftzügen aus Hebels besten Mannesjah­ gefähr, welches alsdann auch für die folgen­ ren leicht zu erkennen ist, vor allem darin, daß den Nummern ein für allemal gilt. Bedeutende die Worte nicht mehr in einem Zuge durch­ Druckfehler, die einer Anzeichnung bedürften, geschrieben sind, sondern mehr oder weniger sind mir nicht vorgekommen. in Buchstaben auseinanderfallen. Bei dem hier C. R. l.December 1824 (?) Hebel.“ erstmals veröffentlichten Zettel handelt es sich Die Anweisung bezieht sich auf die „Biblische um eine Anweisung für einen Setzer folgenden Zeittafel nach runden Zahlen“ am Ende der Wortlauts: „In der Anlage gebe ich die mir ge­ „Biblischen Geschichten“, deren von Cotta ver­ fällig mitgetheilte Revision zurück. In der Zeit­ legte Erstausgabe Ende Dezember 1823 aus­ gedruckt und Anfang Januar 1824 versandt 28.7.1824 an Cotta, Nr. 536) erschienen wäre, wurde (vgl. Briefe Nr. 516 bis 524 der Zentner- ist nichts bekannt geworden. schen Neuausgabe von 1957). Wir müssen daher Die Anweisung vom 1. 12. 1823 dürfte sich nicht 1824, sondern 1823 lesen. Denn auch die also noch auf Cottas Erstausgabe beziehen, in „wohlfeile“, bei dem Pforzheimer Verleger Katz, der sie allerdings — wohl aus Zeitnot — nur dem Pächter oder Unterpächter des Lyceums- noch unvollständig befolgt wurde. Da nämlich verlages, erschienene Schulausgabe war, wie wir unterlassen wurde, auf S. 223 unter das erste dem Hebelbrief Nr. 545 entnehmen, Anfang „ungefähr“ und vor die weiteren Zahlen Wie­ Dezember 1824 bereits ausgegeben, während die derholungsstriche zu setzen, kann der Leser nicht von Cotta im Jahre 1825 zur Abwehr des Rott­ wissen, daß die Einschränkung „ungefähr“ nicht weiler Nachdrucks von Herder herausgebrachte nur für die seit der Erschaffung der Erde bis zur Ausgabe für die katholische Jugend im Dezember „Sündfluth“ verflossenen 1650 Jahre (!!), son­ 1824 allenfalls geplant, keinesfalls jedoch schon dern „alsdann auch für die folgenden Nummern gesetzt war (vgl. Hebels Brief an Cotta vom ein für allemal gilt“. Die nach der letzten Buch­ 6. 4. 1825, Nr. 552). Davon, daß Ende Dezem­ messe vom C. F. Müller-Verlag in Karlsruhe ber 1824 oder im Jahre 1825 eine im wesent­ vorgelegte schöne Ausgabe Wilhelm Zentners lichen unveränderte (also „protestantische“) bringt vollständig und getreu den Wortlaut der zweite Auflage der Erstausgabe, „die zu meiner Erstausgabe und damit auch deren „Biblische Freude so bald auf die erste folgt“ (Brief vom Zeittafel“ mit dem einen „ungefähr“. Osterrieth

Im Hebel fy Helge

Im Aug e frünöli Mahne un e Lobe Macht alles guet, fo güetig luegfch aim aa Hefch groüßt, roie ö Fremöi fchroer un leer fii dia, 6 ftille Ernft ifch fiin un liia oerhobe;

ßym Chlnni ficht me a, ring ifch 6 füregfchobe, 6 munzig Rünzeli aber ehneöra Lacht haiter, muefch e bfunöre Gfalle ha, So froh bifch, royl öe helfe cha'fch un gobe;

Im ßfchaue roirö me ftill, oerftuunt e Rung, Hochufe goht öy eöle Stirnefchroung, €a ifch e rounöeraige fchön Geöicht,

Linö überftrahlt e liebe Glaft öy Glicht, Goht uua in ö W elt un fegnet e Lanö am Rhy, 6a ifch öy Herz, örum goht a in ö Herze ii.

Hubert Baum

zu Johann Peter Hebele 200.Geburtstag am to.Mai 1900

75 Prälat Johann Peter Hebel als Prüfungskommissar1) am Karl-Friedridi-Gymnasium in Mannheim und sein Tod in Schwetzingen Von Karl Schw ab, Mannheim In der 150jährigen Geschichte des Karl- folgenden gelegentlich anschließe) wird im­ Friedrich-Gymnasiums ist unter den Prü­ mer nur knapp dieser letzten Amtshandlung fungskommissaren keiner bekannter und be­ Johann Peter Hebels gedacht. Nur an zwei rühmter als der des Jahres 1826, nämlich Stellen findet sich meines Wissens eine aus­ Johann Peter Hebel, der Prälat aus Karls­ führliche Darstellung, zuerst in den „Briefen ruhe. Johann Peter Hebels an einen Freund“, Am 10. Mai 1760 in Basel geboren und in welche der ehemalige Direktor unseres Gym­ Hausen im Wiesental aufgewachsen, be­ nasiums, Friedrich August Nüßlin, zur Feier suchte Hebel nach vorbereitendem Unterricht des 100jährigen Geburtstages Hebels bei der in Schopfheim und Basel das Gymnasium der Buchdruckerei Heinrich Hogrefe in Mann­ Landeshauptstadt Karlsruhe und studierte heim 1860 in Druck gab. Nüßlin, ein ehema­ nach Ablegung der Reifeprüfung an der liger Schüler Hebels, war im Lauf der Jahre Universität Erlangen Theologie. 1782 er­ einer seiner vertrautesten Freunde geworden. folgte seine Ordination, 1783 wurde er am Die bei ihm früh entwickelte Neigung für Pädagogium in Lörrach Präzeptoratsvikar, die Antike, besonders für die griechische 1791 am Karlsruher Gymnasium Subdiako- Sprache und Literatur, war durch das Stu­ nus, 1798 an der gleichen Schule Professor, dium in Halle bei dem berühmten Philo­ 1808 deren Direktor. In dieser Eigenschaft logen Friedrich August Wolf sehr gefördert erhielt er den Auftrag, sich des „Badischen worden. Nach Ablegung des Staatsexamens, Landkalenders“ anzunehmen, der zu den bei dessen Vorbereitung ihm offenbar auch Privilegien des Karlsruher Gymnasiums ge­ Hebel behilflich war, war er in Genf, Lör­ hörte. Die für den „Rheinischen Haus­ rach und Mannheim tätig, wo er zum Leiter freund“, wie der Landkalender bald genannt des Lyzeums aufstieg, das er zu hoher Blüte wurde, geschriebenen Geschichten und Be­ brachte. Nachdem er 1850 von der Leitung trachtungen wurden im „Schatzkästlein des der Schule zurückgetreten war, bemühte er rheinischen Hausfreundes“ in Buchform her­ sich, die mündliche Überlieferung von Hebels ausgegeben. 1814 trat Hebel in die evange­ Schaffen, Leben und Wesen der Nachwelt lische Ministerialsektion ein. Im September weiterzureichen. Das geschah auch durch die des gleichen Jahres konnte er zwar die für uns besonders wertvollen Erläuterungen, welche Nüßlin den oben erwähnten Briefen Direktion des Karlsruher Gymnasiums nie­ beigab. derlegen, aber zu seinen Dienstobliegenheiten Auf diese Erläuterungen griff dann Gu­ gehörte weiterhin die Abnahme von Schul- stav Wiederkehr in seinem heimatgeschicht­ prüfungen. Die letzte dieser Prüfungen nahm lichen Werk „Mannheim in Sage und Ge­ er 1826 an unserer Schule ab. schichte“ zurück, einem Werk, in dem er ver­ In den mir zugänglichen Hebel-Biogra­ dienstvoller Weise die Jungen und Mädchen phien (auch in der des vorzüglichen Hebel­ in die schöne Welt der heimat­ kenners und -forsdiers Wilhelm Zentner, lichen Geschickte hineinführen wollte. dessen einschlägigen Schriften ich mich im Wenn auch im folgenden von den letzten Lebenstagen Hebels berichtet wird, so ge­ J) Aus den Gedenkblättern zum 150j. Bestehen schieht es einmal deshalb, weil nicht nur des Karl-Friedrich-Gymnasiums Mannheim 1807— 1957 Nüßlins Briefe und Erläuterungen selten 76 sind, sondern sicherlich häufig auch Wieder- Ausdruck meiner herzlichen Verehrung Ihrer kehrs Heimatbuch, das einst in den Bücher­ edlen Gattin und der aufrichtigsten Liebe schränken und auf den Bücherborden vieler Ihres ergebensten Mannheimer Familien stand, mit anderen Hebel.“ Zeugen der heimatlichen Vergangenheit den Kriegszerstörungen zum Opfer fiel. Zum Mit gewohnter Freundlichkeit begrüßte ändern soll durch den Bericht über die letzte Hebel, wie Direktor Nüßlin erzählt, dessen Amtshandlung Hebels die Erinnerung an erläuternden Bemerkungen ich großenteils diesen liebenswerten Dichter gepflegt werden, fast wörtlich folgen kann, seinen damals im wobei wir uns durch eine von J. P. Hebel Gymnasium selbst (A4, 1) wohnenden Gast­ selbst ausgesprochene Hoffnung leiten lassen, geber und dessen Freundeskreis. Während daß uns durch jedes Stück Heimatgeschichte seines ganzen Aufenthaltes in Mannheim das Wahre, Gute und Schöne am wirksam­ suchte er die körperlichen Schmerzen, welche sten in die Seele geht. ihn quälten, zu verbergen. Aber trotz aller Am 6. September 1826 schrieb Hebel von Bemühungen wollte die alte Heiterkeit nicht Karlsruhe aus an Direktor Nüßlin folgenden wiederkehren. Die Prüfungen zwar über­ Brief: „Ich werde, verehrter und theuerster wachte und leitete er mit Würde und An­ Herr Hofrath und Freund, auf den Sonntag stand und mit einer Aufmerksamkeit, welche Abends in Mannheim ankommen. Billig seine Freunde, die seine Leiden kannten, in sollte ich Anstand nehmen, Ihr gastfreund­ Erstaunen setzte. Aber der Frohsinn und liches Haus abermal mit meiner Einquartie­ köstliche Humor, womit er früher die Men­ rung zu belegen. Ich sollte vielleicht sogar schen seiner Umgebung erfreute — er ver­ einen anderen Anstand, den man mir unter mochte es ja glücklicherweise oft, die durdi die Augen rücken wollte, eine ernsthaftere überhäufte und unangenehme Geschäfte ge­ Erwägung widmen. Aber wie kann ich Ihrer trübte und verdüsterte Stimmung durch sei­ abermaligen liebevollen Einladung wider­ nen Humor zu überwinden — war ver­ stehen, wie kann ich, lassen Sie mich so schwunden. Mit freundlicher Miene, aber eigennützig sprechen als ich bin, den köst­ stumm und wortkarg saß er im Kreis der lichen Stunden entsagen, die mir jedesmal in Mannheimer Freunde und hörte lieber andere der lieben Umgebung Ihres Hauses zu Theil sprechen, ohne selbst das Wort zu ergreifen. werden. Ich komme zu Ihnen, aber ich rechne Erst am Abend vor seiner Abreise lebte auf die Gewährung einer wiederholten Bitte, der alte, heitere Geist noch einmal wieder auf die süßeste, die mir widerfahren kann, auf. Die Lyzeisten der oberen Klassen woll­ daß Sie mich durch nichts zur Erinnerung ten dem Prüfungskommissar (nach Nüßlins kommen lassen, daß ich etwas Fremdes in Bericht) ihre Liebe und Verehrung durch Ihrem Hause sei, wo es so gut ist, einheimisch einen Fackelzug bekunden und teilten dem zu sein. Dieses Glück wird selbst etwas Direktor ihre Absicht mit. Da der Direktor Balsamisches für mich haben, denn ich glaubte, daß durch eine so geräuschvolle komme diesmal — erschrecken Sie nicht — Huldigung dem einfachen, anspruchslosen in der Qualität eines Patienten zu Ihnen; Mann mehr Verlegenheit als Freude bereitet doch Gottlob ohne Arzneigläslein, auch ohne werde, machte er ihnen einen anderen Vor­ Bedürfniß von Kraftbrühen, zarten Gemüs- schlag. Professor Eisenlohr (neben Nüßlin lein etc., nur mit dem Bedürfniß des Stille­ der bedeutendste Lehrer des damaligen Ly­ lebens unter einem freundlichen Dach. Doch zeums, der bis zu seiner Berufung an das mehreres alsdann, und jetzt nur noch den Karlsruher Polytechnikum hier in Mannheim

77 als Lehrer der Mathematik und Physik Beim Aussteigen aus dem Schiff entließ wirkte und das Bildungsleben der Stadt sehr Hebel die jungen Leute mit dem freundlich­ förderte) hatte Nüßlin und Hebel mit einer sten Dank und versicherte gegen die Um­ Gesellschaft befreundeter Damen und Her­ stehenden, er habe dieselben schon bei der ren für den Abend zu einer Wasserfahrt Prüfung gerne gesehen, aber größere Freude auf dem Rhein eingeladen. Die Lyzeisten hätten sie ihm auf dem Schiff dadurch ge­ sollten diesem Schiff entgegenfahren und an macht, daß sie in der fröhlichsten Munterkeit der Mündung des Neckars in den Rhein den den Anstand nie verletzten. verehrten Mann mit einigen Worten bewill­ Der Abschied war ein Abschied für immer. kommnen. Mit Freuden gingen die Abituri­ Die Freude des letzten Abends war das enten auf diesen Vorschlag ein. letzte Aufflackern eines bald ersterbenden Als um die Zeit des Sonnenuntergangs das Lichts. Schiff, in welchem Hebel mit seinen Freun­ den fuhr, aus dem Rhein in den Neckar ein­ Am 16. September rüstete sich Hebel zur bog, kam das festlich geschmückte und durch Abreise nach Schwetzingen, wo er einen alten Musik belebte Schiff der Lyzeisten plötzlich Freund, den Gartendirektor Zeyher, be­ unter den Uferbäumen hervor und steuerte suchen wollte, um dann zu den Prüfungen an das Schiff Hebels heran, welcher mit im­ nach Heidelberg zu gehen. Aber die Mann­ mer gespannterer Erwartung der Annähe­ heimer Prüfung sollte seine letzte gewesen rung des Schiffes entgegensah. Als aber die sein. Seine Schmerzen mehrten sich, ver­ Abordnung der Schüler zu ihm herübertrat gebens baten ihn die Freunde, er möge die und ihm nach einer liebevollen Anrede mit Abreise verschieben. Hebel glaubte, durch gefüllten Gläsern ein freudiges Hoch brachte, Spaziergänge im Schwetzinger Schloßgarten da verklärte sich sein edles Gesicht zu einer die gewünschte Linderung zu finden. Als er wunderbaren Heiterkeit, und die gehobene aber von einem Spaziergang, den er bald nach Stimmung dauerte bis an das Ende des Tages, seiner Ankunft in Schwetzingen im Schloß­ den Hebel für einen seiner schönsten er­ garten unternahm, zurückkehrte, äußerte er klärte. Unter fröhlichen Gesprächen, heiteren seinem Freund Zeyher gegenüber, heute habe Scherzen und Grüßen herüber und hinüber er die ersten Todesgedanken gehabt. Fünf fuhren die beiden Schiffe unter dem Klange der Hörner, Flöten und Klarinetten neben­ Lebenstage waren ihm noch gegeben. Ge­ einander flußaufwärts, dem rechten Ufer duldig ertrug er die Schmerzen des Leibes, entlang, auf welchem bei anbrechender Nacht freundlich war er zu dem behandelnden viele Menschen aus ihren Gärten in die Stadt Arzt, seinen Freunden und dem Wärter, den zurückkehrten. Bei ihrem Anblick äußerte er in der Morgenfrühe des 22. September Hebel, es komme ihm vor, als fahre die schlafen zu gehen geheißen hatte, kurz bevor Gesellschaft auf Charons Nachen über den ihm selbst das letzte öl in der Lampe erlosch. Styx und die Leute da drüben wären aus Am Tag darauf wurde er auf dem Schwet- dem Leben geschiedene Schatten, welche zinger Gottesacker zur letzten Ruhe bestattet. Überfahrt begehrten. Kurz zuvor hatte er Der Friedhof wurde später auf gelassen; so einer Dame des Kreises, welche darüber erhebt sich heute Hebels Grabdenkmal in­ klagte, daß seit der letzten Begegnung mit mitten der Stadt, nicht weit von der Schwet­ ihm mehrere Freunde gestorben seien, er­ zinger Volksschule, aus der die Stimmen der widert: „Wenn wir alt werden, wandeln wir Jugend, die er so sehr geliebt hat, nun zu auf einem großen Kirchhof“. ihm herüberschallen.

78 Grabstätte von J.P. Hebel in Schwetzingen

79 Hebelverwandte im Wiesental

Keine große Untersuchung, sondern eine kleine Plauderei

von R ic h a rd N u tz in g e r, Hauingen Es kann sich bei der Themafrage nach zwar im Heimatdorf der Ursula erloschen; Verwandten mit J. P. Hebel im Wiesental die meisten Familien dieses Geschlechts seien natürlich nur um Nachkommen der Hebel­ nach Amerika ausgewandert mit großem mutter, der Ursula örtlin, handeln, denn Fernweh — ganz im Gegensatz zur Hebel­ unser lieber Hebel ist ja bekanntlich unver­ mutter, die wohl kaum in ihrem Leben über heiratet geblieben. Und der Hebelvater, der die 25 Kilometerstrecke Hausen-Basel hin­ Dragunerjobbi, stammte ja aus Simmern im ausgekommen ist. Nur noch in Grenzach sei, Hunsrück, und es ist mir unbekannt, ob dies so höre ich, eine Familie dieses Namens alte Webergeschlecht dort noch heimisch ist1). seßhaft. — So müssen wir in dieser Stamm­ Kürzlich fuhr mich ein Chauffeur von einem folge der Ursula etwas weiter zurückgehen. Hebelvortrag, den ich in einem abgelegenen Da treffen wir als Großmutter eine Anna Dörflein des Reblandes zu halten hatte, zur Suter, und die gehört in die weitverzweigte, nächsten Bahnstation, und als er mir den meist in Schopfheim ansäßige Familie Sut- Verschlag zum Aussteigen öffnete, sagte er ter, wie sie sich heute schreiben, und in diese mir noch, er heiße übrigens Johann Peter Verwandtschaft gehöre ich auch ein wenig Hebel. Ich erstaunte wie über eine Geister­ und freue mich, noch mit meiner alten Tante erscheinung, aber er wiederholte seine Be­ Elise Sutter in Verbindung zu stehen, die hauptung mit dem Hervorholen seines amt­ zugleich auch den bekannten Otto Ernst lichen Ausweises, — und der Name stimmte Sutter zu ihren Neffen zählt. Ebenso stand genau — nur war leider keine Zeit mehr eine ehrsame Bürgersfrau aus Schopfheim, zu stammbaum-ähnlichen Nachforschungen, eine Frau Pflüger, Gevatter bei der Taufe denn der Zug stand schon auf der Station, der kleinen Ursula. Auch meine Großmutter und ich mußte einsteigen und konnte mich in Fahrnau war eine geborene Pflüger und erst während der Bahnfahrt wieder sam­ hat mir bei gelegentlichem Ferienaufenthalt meln und war erfreut über diese Begegnung. über Hebel erzählt und seine alemannischen Aber seitdem habe ich nichts mehr von die­ Gedichte schon früh meinem kindlichen Ge­ sem Wagenführer gehört und weiß also müt nahegebracht. Und ich erinnere mich nicht, ob und wie er mit unserm Dichter noch wohl eines Hebelmählis in Hausen, zusammenhängt. Aber soviel ist gewiß: wohin mich achtjährigen Buben ein Fahr- Hebel fährt noch in unserer Gegend herum, nauer Onkel mitnahm und bei dem heftig und gewiß ist, daß er von seiner Mutter darüber diskutiert wurde, wo Hebel geboren her noch schwache Spuren hinterlassen hat, sei: die Hausener nahmen ihr Dorf dafür und vielleicht nicht einmal so schwach, denn in Anspruch, während die Basler Herren — die Hebelmutter muß schon eine ausge­ und dies ja mit Recht — Gründe dafür an­ prägte Persönlichkeit gewesen sein, die ihren führten, daß in ihrer Stadt Hebels Wiege Sohn, obwohl sie den Dreizehnjährigen gestanden sei. Man einigte sich dann, um das schon für immer verließ, sein Leben lang gute Verhältnis zueinander nicht zu stören, begleitet, ihm ihre alem. Wesensart aufge­ dahin, daß er — entsprechend seinem Zitat drückt und weithin sein Tun und Lassen aus dem „Bettler“: „gibore bini uf der bestimmt hat. Der Name örtlin selbst ist Stroß“ — unterwegs zur Welt gekommen

80 sei. Lange Zeit, ja bis in unsere Tage hinein — spukt noch dies Gerücht unter den Wiesentälern, aber Hebels Aussagen und die Nachforschungen durch Fritz Liebrich sind so erdrückend, daß kein Zweifel mehr dar­ über bestehen kann, daß er in dem so stilvoll hergerichteten Häuslein Totentanz 2 in Basel geboren ist. Aber darüber werden unsre lieben Basler Hebelfreunde selbst berichten. Eine andere Hausener Familie, die m. W. von den örtlin abstammt, sind die Behrin- ger, und bei ihr ist die Hebeltradition noch sehr lebendig, so etwa in dem allzu früh verunglückten Adlerwirt, der mit Zumtobel zusammen das Hausener Heimatbuch her­ ausgab und darin dem Dichter ein würdiges Denkmal gesetzt hat. Eine Nichte von ihm, das Bethli Behringer, die Gemeindehelferin in Freiburg war und dort leider beim Bom­ benangriff im November 1944 ums Leben kam, habe ich wohl gekannt und sie immer Hebels ,,Annemeili“ Annemarie Flury aus dem in allen Fragen um Hebel zu Rate gezogen, „Ochsen“ in Lörrach, später Frau Kr afft in was ich ihr hiermit gerne und nachträglich Fahrnau. Künstler unbek. Bes. Dr. Pflüger nochmals danken möchte. Damals beim 100. Sterbetag Hebels, als mein Hebelspiel: damals bei einem kurzen Aufenthalt in „Der Hanspeter“ herauskam, hat sie mir Steinen im Jahre 1954 den Bundespräsidenten bei der Korrektur treulich mitgeholfen, und Heuss so freundlich willkommen geheißen wäre sie nicht gewesen, so wäre mir ein und auf seine Vreneligruppe deutend, ihm ge­ böser Fehler unterlaufen: ich hatte statt des sagt: „Gellet aber, mir henn schöni Maidli Fürtuchs der Mutter „Brusttuch“ geschrie­ z’Steine!“ Als er dem hohen Gast den ben, das aber ist, wie sie mir erklärte, ein Ehrentrunk bot, verbat sich Prof. Heuss, männliches Bekleidungsstück, nämlich die daß er da so mitten unter den auf dem Tisch Weste! Mit Liebe denke ich auch noch an in reicher Zahl aufgestellten Gläsern und den Bruder des Adlerwirts zurück, den Weinflaschen durch die ebenfalls reichlich Kaufmann Ernst Behringer in Lörrach, der vertretenen Reporter geknipst würde, mit uns im Hebelbund wertvolle Dienste ge­ der Begründung: „Sonst heißt’s wieder, der leistet hat. Bundespräsident sauft im Land rum.“ Aber auch eine andere Familie ist mir Schließlich sei noch eine Familie aufge­ gut bekannt, die den berechtigten Stolz hat, zeigt, die fast gar in unmittelbare verwandt­ in die Hebelmuttersippe hineinzugehören, schaftliche Beziehung zu Hebel selbst getre­ das sind die Arzet. Das war der Mädchen­ ten wäre, nämlich die Flury aus dem dama­ name der Urgroßmutter der Ursula örtlin. ligen „Ochsen“ in Lörrach, wo der Prä- Der Steinerner Hebelvogt, der Küfermeister zeptoratsvikarius seinen Stammtisch hatte. Heinrich Arzet, ist ein namhafter und origi­ Dieses Wirtstöchterlein Annemeili muß neller Vertreter dieses Geschlechts. Er hat Hebel nicht ganz gleichgültig gewesen sein,

6 Badische Heimat 1960 81 er hat sein Wachstum vom 7. bis -zum 15. gräfler gehören. Oder stirbt Hebel so lang­ Lebensjahr miterlebt und hat später in sam aus in unserm Oberländer Winkel? Es seinen alemannischen Gedichten mancher hat mich erschüttert, als mir kürzlich ein glücklichen jungen Frau ihren Namen gege­ Kreisschulrat berichtete, er habe vor Jahren, ben. Sicher ist, daß er im „Morgenstern“ als eben so ein schöner Schneefall einsetzte, dies Annemeili Flury gemeint hat, welches einmal eine kleine Reise in verschiedene meine Ururgroßmutter ist, denn in unserer Schulen gemacht, um zu erforschen, ob die Familie geht heute noch die mündliche Über­ Kinder wohl den „Winter“: „Isch echt do obe lieferung von Geschlecht zu Geschlecht, daß Bauwele feil?“ gelernt hätten und ihm vor­ Hebel diesem Annemeili, das eine Frau sagen könnten. Das Ergebnis war kläglich. Krafft in Fahrnau geworden war, dies Ge­ Nur in einem ganz verschwiegenen Wälder- dicht und ein Bändchen seiner alemannischen dörflein streckte ein Büblein den Finger: Gedichte dediziert habe mit den Worten: „Des Gidicht het mer gestert z’Obe s’Groß- „Annemeili, i haa der öbbis.“ Annemeili müetterli hergsait.“ Wissen nur noch die aber habe etwas neckisch geantwortet: „Das Großmütter von Hebel? Daß uns allen doch wird öbbis Rechts sii?“. — dies Hebelerinnerungsjahr unsern Dichter Es ist nur ein kleiner Ausschnitt von mir wieder näher bringen möge, damit wir bekannten Familien, die mit Hebels Mutter Markgräfler auch in unserer Gegenwart die verwandtschaftliche Beziehungen nachweisen nicht ohne Gefahr zu unterbrechende Kette können. Gewiß gibt es deren noch weit der geistigen Verwandtschaft zu unserm mehr, und vielleicht haben sie den Mut, Johann Peter Hebel bilden und auch wieder sich bei der „Badischen Heimat“ anzumel­ an unsere Jugend weitergeben. den und diesen meinen kleinen Beitrag noch wesentlich zu ergänzen. Im letzten Grunde ') Vergleiche den Aufsatz von Friedrich wird es ja auch nicht auf die blutsmäßige R o t h im Ekkhart 1959, S. 65, „Die Herkunft Verwandtschaft allein ankommen, sondern von J. P. Hebels Vater“, in dem nachgewiesen wird, daß es heute noch in Simmern Träger auf die geistige, und dazu sollten alle Mark­ dieses Namens gibt.

Hebele Heimat

Zroifchen Strom unö Bergen W arö zürn Lieö, öas munöet, roeingefegnet liegt roie öer golöne Wein, Hebels Lanö, in Tälern roie öem Kinö öie füße fclig hingeroiegt. Hafelnuß oom Rain.

Trägt als helle Krone Wer oon öiefem Lieöe Bürgeln, hochgebaut holtet, fpürt öie Kraft öas, oom Licht geblenöet, rauhen Bauernbrotes, bis nach Bafel fchaut. trinht öer Apfel Saft.

W as öem Schloß fich hinreicht: Unö er fchlägt öie Wurzeln, Rebhang, W alö unö Berg, Baum unö Korn oerraanöt, örang mit herber Sprache, öurch öas W ort oerzaubert, Hebel, in öein Werk. Hebel, in öein Lanö.

Ma* Rieple

82 83 Basel, Totentanz 2. Hebels Geburtshaus (mit Tafel überm Eingang) phot. P. Hemann

84 Gundeldingen, Blick auf Basel um 1820 Staatsarchiv Basel, Lithographie

Johann Peter Hebels Geburtshaus in Basel

Von Christian Adolf Müller, Basel

Wenn wir im Gedenken an den Geburts­ sah, nämlich genau so, wie er sie als fröh­ tag unseres heimatlichen Dichters den Blick liches Büblein vor manchen Jahrzehnten zweihundert Jahre zurückrichten, so fragen erlebt und sich ihre Einzelheiten eingeprägt wir uns unwillkürlich nach dem Aussehen hatte. der Stadt Basel zur Zeit, da Johann Peter Bis an den weitumfassenden Stadtbering Hebel in ihr geboren und einen Teil seiner der Mauern, Türme und Tore heran dehn­ Kinderjahre daselbst verbracht hat. Gerne ten sich von den Jurakämmen sowohl wie ziehen wir die Darstellungen alter Maler von den Schwarzwaldbergen her Gärten, und Zeichner zu Rate; sie geben uns das Äcker und Wiesen. Die Verbindung zwischen reizvolle Bild einer noch ganz mittelalterlich der Stadt und der sie umgebenden Land­ erscheinenden, von Mauern und Bollwerken schaft war so eng, wie wir es uns heute umgürteten Stadt. Wir brauchen uns dabei kaum mehr vorstellen können; aber die nicht auf die Künstler aus der Mitte des große Siedelung am Rheinbogen war durch 18. Jahrhunderts zu beschränken, — nein, den Mauergürtel klar und sauber gegen das so wie damals, so sah Basel fast hundert offene Land abgegrenzt. Deutlich sah man Jahre später noch aus. Aus diesem Grunde die großen Landstraßen den Stadttoren zu­ wußte denn auch der alternde Herr Prälat streben. Weniger sichtbar, aber nicht minder in Karlsruhe zu gut, wie „seine“ Stadt aus­ wichtig, waren auch die Wasserläufe, die 85 von den Nebenflüssen des Rheins im Süden gehörte und von diesen größtenteils aus­ und Nordosten abgezweigt wurden, um gemietet wurde1). Auf dem Iselin’schen drinnen in der Stadt zahlreiche fleißige Grundstück vor dem Tore befand sich nur Räder zu treiben. Wie von der Birs her der ein bescheidenes Bauernhaus mit einem St. Albanteich nach dem östlichsten Quartier älteren Rebhäuslein daneben, das vom Lehen­ in Großbasel floß, so kam auch viel Wasser mann bewohnt wurde, der den Boden be­ der Wiese, von „Feldbergs lieblicher Toch­ baute2). Wir können uns aber vorstellen, ter“, mit dem Riehenteich nach Kleinbasel daß hin und wieder auch andere Bedienstete und half dort, Mühlen und andere Gewerbe der Familie in einer der kleinen Kammern in Gang zu halten. einlogiert wurden, wenn im Stadthaus zu So war es seit dem 13. Jahrhundert gewe­ wenig Platz vorhanden war. So mochte auch sen. Die Bürger der Stadt besaßen fast alle Johann Jakob Hebel, der seinem Herrn ihr Gütlein vor den Toren. Aber erst seit treulich dienende Offiziersbursche, dort dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mehr­ draußen Quartier bezogen haben, wenn der ten sich hier die kleinen Reb- und Garten­ Herr Major Iselin sich nach Basel in den häuslein, die es erlaubten, bei wachsender Urlaub begab. Im Hause an der Petersgasse Annehmlichkeit den Sonntag oder laue Som­ hatte Hebel eine Magd der Frau Susanna merabende im Freien vor der Stadt zuzu­ Iselin geborene Ryhiner kennen gelernt, die bringen. Es braucht noch mehr als hundert stille und bescheidene Ursula Oertlin aus Jahre, bis einige begüterte Basler es wagten, Hausen im Wiesental. Die beiden Dienst­ auch reicher ausgestattete Landhäuser vor leute liebten sich bald; am 30. Juni 1795 den Toren anzulegen, um sie über Nacht ließen sie sich in Hauingen — halbwegs und längere Zeit bewohnen zu können. zwischen Basel und Hausen — trauen, und Manche Rebgüter wurden im Gedanken, sie die Frau Majorin spendete dazu das Mahl. ebenfalls auszubauen, arrondiert. Wir sehen Doch wohin führte nun Hans Jakob diesen Vorgang oftmals aus den Bildern und Hebel seine junge Frau heim? Wahrschein­ Plänen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. lich verlebten die beiden die erste glückliche So besaß an der Landstraße ins Elsaß, Zeit im Oertlin’schen Flause in Hausen, — kurz außerhalb des St. Johanntores der dem nunmehrigen „Hebelhaus“, das bis einer hochgeachteten Basler Kaufmanns­ heute erhalten blieb —, um dann schon bald familie angehörende Johann Jakob Iselin wieder gemeinsam in Basel ihrer gewohnten (1704—1772), Offizier in französischen Arbeit nachzugehen. Das Paar konnte wohl Kriegsdiensten, ein größeres Grundstück, den kaum bei ihrer Herrschaft Unterkommen, sogenannten „Brunnen-Byfang“ (an­ weder im „Flachsländerhof“ noch im „Brun­ stelle der heutigen Liegenschaft Elsäßer- nen-Byfang“. So mieteten sich die beiden straße 7). Das in Basel mehrfach vorkom­ genügsamen Leutchen in einem kleinen Bür­ mende Wort „Byfang“ bezeichnet seit alters ein eingezäuntes Stück bebauten Landes. Der gerhaus des ihnen liebgewordenen St. Jo­ Besitzer wohnte nicht selber hier, sondern hannquartiers ein und zwar — wie erstmals wenn er zwischen den Dienstzeiten in die der Basler Dichter Fritz Liebrich in seinem Heimatstadt kam, muß er sich im „Flachs­ reizvollen Büchlein zu Hebels hundertstem länderhof“ an der Petersgasse (heutige No Todestag 1926 nachwies — am Anfang der 46) aufgehalten haben, einem stattlichen St. Johannvorstadt gegenüber der Prediger­ Herrensitz, der im 18. Jahrhundert noch kirche, im zweiten Hause vom nahen immer dem ehemals aus dem Elsaß stam­ inneren Stadttore, dem sogenannten St. menden Adelsgeschlecht der von Flachsland Johann-Schwiebogen (heute Totentanz 2). 86 Basel, rheinaufwärts lavierte Tuschzeichnung um 1740 von E. Büchel Von hier aus konnte sowohl Fräu Ursula, den Gottesacker des alten Predigerklosters solange dies möglich war, ihren Dienst im einschloß, jene Mauer, die an der Innenseite nahen Hause der Herrschaft zwischen Peters­ den in einer Pestzeit des 15. Jahrhunderts gasse und St. Johanngraben (wie der untere entstandenen Bilderzyklus des „Totentanzes“ Petersgraben damals noch hieß) versehen; aufwies. Es gab also damals noch keinen ebenso war es für Hans Jakob Hebel kein freien Platz zwischen der Kirche der Domi­ weiter Weg, seinem Herrn im „Brunnen- nikaner oder Prediger und der Häuserzeile Byfang“ außerhalb des St. Johanntores am Rhein, sondern die Gasse, die vom Tor dienstbar zu sein. der inneren, um 1200 entstandenen Stadtbe­ Der Nam e Jotentan z“, der an dem festigung her mittels einer Brücke den Stadt­ Platz vor dem St. Johann-Schwiebogen seit graben überschritt, um als Vorstadt weiter­ langem haftet, mutet alle, die ihn nicht als zuführen, wurde durch die weit vortretende geborene Basler von Jugend auf gewohnt Friedhofmauer bis auf eine geringe Breite sind, merkwürdig, ja zum Erschauern an. eingeengt. Die jungen Eheleute Hebel konnten sich Dieser Zustand rührte schon aus dem daran nicht stoßen; denn als sie ihre beschei­ 13. Jahrhundert her. Kaum war nämlich die dene Wohnung gegenüber der Prediger­ Stadt auf dieser Seite durch das „Kreuztor“ kirche bezogen, da hieß der Gassenzug noch und die Mauer am Petersgraben aufwärts bis zum inneren Tor, d. h. dem „Schwie- neu umschlossen, so siedelte sich außerhalb bogen“, St. Johannvorstadt und stand auf bereits eine vor kurzem in Frankreich ge­ der anderen Seite der Gasse eine Mauer, die gründete geistliche Bruderschaft an. Im

87 Jahre 1233 schenkte Bischof Heinrich von Währung an Hans Caplar, den „Gartner- Basel dem Predigerorden des heiligen Domi- zunftknecht“, und seine Frau Waltpurg nicus einen Platz in der „Vorstadt zum veräußerte. Es zeigten sich aber Schwierig­ Kreuz“, worauf die nach Basel gesandten keiten, und ein Ratsherr Hans Graf schal­ Brüder mit dem gesammelten Gelde so­ tete sich ein, der offenbar als Spekulant das gleich eine Niederlassung zu bauen began­ Haus um 80 lb erwarb und es schon 1527 nen. Ihr Bauplatz befand sich im Winkel um 110 lb an Hans Herbolt den Steinmet­ zwischen dem vom Kreuztor herkommenden zen weiterverkaufte. Da der neue Eigen­ Stadtgraben und der nach Norden ziehen­ tümer als Baufachmann das Haus zu er­ den Landstraße, die dem hohen Uferbord neuern gedachte, so brauchte er Geld; die des Rheins entlang lief. benötigten 50 lb streckte ihnen der Ver­ Zwischen Straße und Strom müssen sich käufer, Hans Graf, mit 5°/o Zins vor. An gleichzeitig auch schon einige Bürgerhäuser die Zeiten, da Hans Herbolt der Steinmetz erhoben haben. Der Ursprung jener Zeile und seine Frau Dorothea im Hause zum von bescheidenen Wohnstätten, in deren „Erengut“ wohnten, erinnert heute noch die einer wir 1759 oder 1760 das Ehepaar Jahreszahl 1555, die mitsamt dem Stein­ Hebel-Oertlin sich einmieten sehen, geht metzzeichen des Handwerkers am Türsturz zweifellos in das 13. Jahrhundert zurück. des Eingangs erhalten blieb. Sicher wissen wir, daß im Jahre 1302 jen­ Wie lange Herbolt die Liegenschaft besaß, seits der Brücke, die vom Kreuztor über den wissen wir nicht. 1572 sehen wir sie in den Stadtgraben führte, ein Haus von Meister Händen zweier verwitweten Schwägerinnen, Ruedi dem Pfister (d. h. Bäcker) bewohnt von denen die eine mit ihren Kindern den wurde. Dieses Eckhaus „zum Kreuz“, mit ihnen gehörenden Anteil am Hause an dem die St. Johannvorstadt begann und das Elisabetha Villingerin wyland Hans Ech- mit seinem torwärts gerichteten Giebel an lers, des Pfarrherrn von Fischingen sel. das kurze, steil in den Rhein abfallende Wittib, weitergibt. Die letztere jedoch ver­ Stück des Stadtgrabens stieß, war auch spä­ kauft noch selbigen Tags die ganze Liegen­ ter ununterbrochen von einem Brotbecken schaft an Hans Jakob Obermeyer, der als benutzt; Grund und Boden gehörte aller­ „Salzhausschreiber“ eine stadtbekannte Per­ dings Adeligen und Klöstern der Stadt. Als sönlichkeit war (1550—1613). Ihm verdan­ diese Liegenschaft im Jahre 1405 geteilt ken wir vermutlich das vor kurzem ent­ wurde, tauchte erstmals das nördlich an­ deckte Wandbild in der vorderen Stube des stoßende Haus, „E h r u n d G u t“ genannt, 1. Obergeschosses. Als er 1576 seine Frau auf. Dieses wurde 1425 von Konrad Wese­ Maria Magdalena, die Tochter des Juristen lin bewohnt; 1482 wird daselbst Elsbeth und Professors Johann Ulrich Iselin und der Maslin, die „tüchlin Riberin“, erwähnt, die Faustina Amerbach, heimführte, wird er in diesem Jahre Haus und Hofstatt genannt das kleine Haus auf beste Art ausgestattet „Erengut“ an Ennelin Kesslerin, „wiland und so auch das Rankenwerk mit Figur und Hans Heinrich des molers sel. Witwe“ ver­ Spruch in einer der Wandnischen in Auftrag kaufte. Im schmalen Hause, das fortan stets gegeben haben, möglicherweise an den mit diesem Namen bezeichnet wurde, haus­ Maler Hans Hug Kluber (1535/6—1578), ten in den folgenden Jahrhunderten ähnlich der eben damals mit der Instandstellung einfache Bürgersleute, so 1526 Agnes Ein­ der benachbarten Totentanz-Bilder beschäf­ fältig, die Witwe eines „Gewandmanns“, tigt war. Die Malerei im Hause Obermeyers die diesen ihren Besitz um 100 lb Basler ist mit 1577 datiert und stellt eine Spinnerin

8 8 Basel, Predigerkirch lavierte Tuschzeichnung E. Büchel dar, — wie aus dem die Gestalt umflattern­ herumzanken mußte. Die Streitfragen den Spruchband zu entnehmen ist, ein faules kamen am 18. Juli 1583 vor dem „Fünfer­ Mädchen, das am liebsten hätte, wenn aller gericht“ (d. h. den fünf Herren der dama­ Flachs mitsamt der Kunkel verdürbe und ligen Baupolizei-Kommision) zur Sprache3). die Weber so viel Geld hätten, daß keiner Da stritten sich die beiden einmal „der mehr zu arbeiten gäbe . . . Privaten (Abort) halb“, so der Notar Das Haus muß nicht lange im Besitz der „vf siner lauben hinden vf den Ryn gon Familie Obermeyer geblieben sein. Denn hatt“. Nach einem „Fünferbrief“, der schon bereits im Jahre 1583 sehen wir es in an­ 1525 festgelegt worden, war dies dem Besit­ deren Händen, und zwar in denen des zer des Hauses „Ehr und Gut“ verwehrt; Notars Konrad Labhardt. Dieser, von Kon­ somit mußt er die Häuslichkeit „verma­ stanz gebürtig, war 1576 Bürger von Basel chen und hindannen thun“. Zum zweiten und im Jahr darauf zu Weinleuten zunft- hatte Labhardt ebenfalls auf der Seite genössig geworden. Nachdem ihm seine erste gegen den Rhein über den Lauben einen Frau, Dorothea Tschudi, die Tochter des Fensterladen angebracht, der den Metzger Prediger-Schaffners, gestorben war, hatte er störte; da die „Fünf“ aber erkannten, er sich 1583 zu St. Peter mit Jungfrau Salome sei jenem unschädlich, so blieb er bestehen. Ottendorf verehelicht. In eben diesem Jahre Dagegen hatte der Notar seinerseits zu erfahren wir einige bauliche Einzelheiten beanstanden, daß der ihn verklagende über das in seinem Besitz befindliche Haus Metzger einen „Schwynstall vornen in sinem „Ehr und Gut“, dadurch, daß Konrad Lab­ Huß gleich bey dem eingang der Hauß- hardt sich mit seinem Nachbarn zur Linken, thüren an der schidmuren ston hatt“, wo­ dem Metzger Fridli Brogli wegen allerlei durch ihm, dem Notar, „inn seinem Keller 89 vyl vnraths durch scharffen geschmackh Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts scheint vnndt verfülung (Verfaulung) der schid- die kleine Wirtschaft wieder eingegangen muren widerfahre“. Auf ihrem Augenschein zu sein. Nachdem der Almosenschaffner mußten sich die Fünferherren mit Augen Bilger Russinger einige Zeit das Haus be­ und Nasen davon überzeugen und verlang­ sessen, ging es 1646 an Frau Valeria Faesch, ten deshalb, daß der Stall verschwinde und die Witwe eines Hugenotten über, die da­ keiner mehr an seine Stelle gesetzt werde. mals in Basel zahlreich waren und in der Eine vierte Klage betraf einen langen höl­ nahen Predigerkirche ihre französischen zernen Känel, der von des Metzgers Wasser­ Gottesdienste hielten. Im September 1713 stein nach dem Rhein lief und Unrat auf konnte sich der damalige Eigentümer, Kas­ der dortigen Allmend (wohl dem Ufer­ par Krug, der Weinmann, wegen Überschul­ streifen) ansammelte, wogegen die „Lohn­ dung nicht mehr auf der Liegenschaft hal­ herren“ (Aufsichtsbeamte der städtischen ten. Sie wurde ihm „gefrönt“ und bald dar­ Bauten) Einspruch erhoben. auf ging sie um 1310 lb an Emanuel Giss- ler, den „Herrendiener“, über. Doch 1730/ Wir sehen, daß die sanitären Verhältnisse 31 wird Peter Sixt, der Schneider, als Be­ noch recht „trauliche“ waren, daß man sitzer genannt; dieser nahm in diesen Jahren aber doch gegen die schlimmsten Miß­ Geld auf, vermutlich um eine Erneuerung stände einzuschreiten versuchte. Wie lange des baulichen Bestandes durchzuführen. Am der Notar und spätere Stadtschreiber von 1. August 1747 übergab Sixt die „Behausung Liestal noch im Hause „Ehr und Gut“ hinder dem Todtentanz“ seinem Tochter­ wohnte? Keine Schriftstücke berichten uns mann Nikolaus Riedtmann (ge­ darüber. Nachdem Labhardt ausgezogen tauft 10. Dez. 1720 zu St. Peter), der — oder Todes verblichen war, ging die Lie­ ebenfalls Schneider — wohl erst bei Sixt genschaft in völlig andere Hände über, Geselle war und dabei an des Meisters denn 1593 heißt es, daß Appollonia Wein­ Tochter Gefallen gefunden hatte. So trat brennerin, die „alte Wirtin zum Kopf“ Riedtmann nach seiner Verheiratung mit das Haus besitze. Weil die Genannte in Ursula Sixt (30. Jan. 1747 in Kleinhünin- diesem jahr aber den Zins für eine auf­ gen) in die Fußstapfen seines Schwieger­ genommene Schuld nicht bezahlen konnte, vaters, übernahm dessen Haus und Geschäft wurde ihre Behausung „gefrönt“, d. h. mit und verzinste das 1730/31 von Sixt beim Beschlag belegt. Doch die „Kopfwirthenen“ „Großen Almosen“ aufgenommene Kapital. konnte sich darin behaupten und den Zins Allein schon am 19. Mai 1752 mußte er wieder regelmäßig abliefern, so daß sie seine Frau, Ursula Sixt, nach St. Peter zu noch 1610 als Eigentümerin erscheint. Seit Grabe tragen. Als er sich ein Jahr später dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde mit Ursula Hoch von Liestal verheiratete, also im Erdgeschoß des kleinen Bürger­ konnte er offenbar das ihm von seiner hauses gewirtet und — wie dies in Basel ersten Frau in die Ehe gebrachte Haus üblich war — am liebsten „Markgräfler“ behalten und betrieb darin sein beschei­ ausgeschenkt. Dadurch verlor sich jedoch der denes Schneidergeschäft, das ihm soviel ein­ alte Hausname „Ehr und Gut“ und wurde brachte, daß er mit seinen Angehörigen durch die Bezeichnung „zum Kopf“ leben, aber dabei keine Reichtümer sammeln ersetzt, die nicht ein menschliches Haupt, konnte. Wir können es daher verstehen, sondern eine Art von Wein- oder Bier­ wenn er hin und wieder einen Teil seiner glas bedeutete. Behausung vermietete. Das tat er denn — 90 wie wir bereits gesehen haben — im Som­ dem Pfarrherrn zuliebe dort hinüber ging. mer des Jahres 1759 oder im Frühjahr dar­ Es ist schwer zu denken, daß die Familie auf an die jungen Eheleute, die ihm durch Hebel aus der Nähe des „Brunnen-Byfangs“ Arbeit für deren Herrschaft, die Familie und vom Totentanz weggezogen sein Iselin, bekannt sein mochten. könnte. Im Frühsommer, als das Töchterlein Wann Johann Jakob Hebel und seine zur Welt kam, war der Vater bereits krank Frau Ursula ins Haus „gegenüber dem und konnte kaum noch seiner Arbeit nach­ Totentanz“ einzogen? Ob sie den Winter gehen. Mit Frau und Kindern begab sich in Hausen verbrachten oder bereits im darum Johann Jakob Hebel in die ländliche Hause Riedtmanns? Wir wissen nur gewiß, Stille von Hausen, wo ihm aber bloß noch daß ihnen am 10. Mai 1760 hier ihr erstes eine Lebensfrist von wenigen Tagen ver­ Kindlein geschenkt wurde und daß man es gönnt war. Am 25. Juli 1761 starb er da­ vom Haus beim St. Johann-Schwiebogen selbst „seines Alters 41 Jahr“. Bald folgte aus am 13. Mai in die nahe Peterskirche ihm das nur ein paar Wochen alt gewordene zur Taufe trug, bei der es die Namen Susannchen im Tode nach. Johann Peter erhielt. Da die beiden von Die Witwe war, obgleich ihr im Heimat­ den Eltern zu Taufpaten bezeichneten Ver­ ort Hilfe zuteil wurde, für die Güte beson­ wandten von Simmern in der Rheinpfalz ders dankbar, die sie durch die Familie und von Hausen im Wiesental nicht an der Iselin in Basel erfuhr. In jenen ersten Jahren Feier anwesend sein konnten, sprang Niko­ des Alleinseins von Mutter Hebel hatte Frau laus Riedtmann, der Schneidermeister und Iselin die Freude, ihren Mann mehr zu Hause Hausbesitzer am Totentanz, gerne ein; als zu haben. Der Herr Major, dem der Verlust zweiter gesellte sich ein Nachbar und seines langjährigen treuen Begleiters nicht Freund Riedtmanns, der Schuhmachermei­ gleichgültig war, dachte ernsthaft an seinen ster Friedrich Lüdin dazu, der vier Häuser Abschied vom Militär, obgleich er eben jetzt weiter auswärts in der St. Johannvorstadt vom königlich französischen Hof für seine (heute Totentanz 6) wohnte. Dienste manche Ehrung erfuhr. 1763 ließ er Es ist anzunehmen, daß die Familie Hebel seine Truppeneinheit an den ihm nachfol­ den Sommer und Herbst 1760 im Hause vor genden, gleichnamigen Sohn übertragen; dem St. Johann-Schwiebogen verbrachte. ihm selber wurde im November 1764 die Aus des Vaters Notizen geht hervor, wie Ernennung zum „Brigadier des Armees du dieser sich am Wachstum seines Bübleins Roi“ zuteil. Mit diesem Titel und einer an­ freute, daß der Kleine mit 22 Wochen den ersten Zahn bekam, mit 28 Wochen allein sehnlichen Pension versehen, zog er sich in sitzen, mit dreiviertel Jahren schon allein seine Vaterstadt zurück. Hier konnte er sich, aufrecht stehen und an der „Basler Messe“ gemeinsam mit seiner Gemahlin, für Frau zu Ende Oktober bereits auf einem ihm an Ursula Hebel und den kleinen Hanspeter einem Stand gekauften hölzernen Pfeiflein einsetzen. Auf Iselin’sche Fürsprache hin herzhaft blasen konnte. wird der aufgeweckte Knabe in die Ge­ Warum das zweite Kind des Ehepaars — meindeschule von St. Peter und 1772 ins ein Mädchen, das nach seiner Patin, der Gymnasium „auf Burg“ (d. h. am Münster­ Frau Majorin Susanna Iselin-Ryhiner, Su- platz) aufgenommen worden sein. Daß der sanna genannt wurde — seine Taufe in der Offizier bis ans Lebensende seines treuen Kleinbasler Pfarrkirche St. Theodor erhielt, Dieners gedachte, zeigte sich, als er am wissen wir nicht; es könnte sein, daß man 22. Juni 1772 verstarb und der Frau Hebel 91 laut Testament eine Summe Geldes ver­ weist sein Gedicht „Erinnerung an Basel“, machte. das er Frau Miville-Kolb, ebenfalls eine In seiner ersteh Kinderzeit war der kleine Bewohnerin der St. Johannvorstadt, wid­ Hanspeter stets um die Mutter; wohnte sie mete und das zum meistgesungenen Basler in Hausen, so hielt er sich auch dort auf, Volkslied geworden ist. lebte sie in der Stadt, so konnte sie ihn wohl Zwölfjährig geworden, kam Hanspeter bei sich im Iselin’schen Hause behalten. nach Schopfheim in die Schule und wohnte Vermutlich wohnte der lebhafte Bub manch­ auch im Städtchen. Im Oktober 1773 wurde mal auch ohne sein Mütterlein dort und er von dort nach Basel gerufen, weil seine zählte dann wie selbstverständlich zur hoch­ Mutter im Hause der Familie Iselin schwer angesehenen Familie; daß er in seiner Schul­ erkrankt war. Da sie heimzukehren zeit oft in die Häuser seiner Klassen- und wünschte, holte sie Vogt Maurer von Hau­ Spielkameraden kam, ist anzunehmen. So sen — in Schopfheim stieg erschreckt der verbrachte Hanspeter „die Hälfte der Kind­ Knabe zu — mit seinem Ochsengespann in heit bald in einem einsamen Dorf, bald in der Stadt ab. Doch kam die gute Frau nicht den vornehmen Häusern einer berühmten mehr nach Hause — unterwegs, zwischen Stadt“; dadurch hat er „frühe gelernt arm Brombach und Steinen, angesichts des Röt- sein und reich sein . . ., gelernt nichts haben teler Schlosses, griff der Tod ins Gefährt und und alles haben, mit den Fröhlichen froh nahm dem weinenden Hanspeter die Mutter sein und mit den Weinenden traurig“. für immer. Von der Petersschule und der Wohnung Für längere Zeit blieb nun Basel für den der Familie Iselin, die im „Flachsländerhof“ Knaben mit einer schmerzlichen Erinnerung an der Petersgasse lag4), war es nur ein verbunden, die durch andere Erlebnisse Sprung zum Petersplatz, dessen freie Weite überwunden werden mußte. Nach Jahren dem frohen Knaben für immer im Gedächt­ des Studiums in Karlsruhe und Erlangen, nis haften blieb. Lehrer und Pfarrvikar geworden, kam Könnte Hanspeter aber nicht auch bei Hebel von Hertingen und Lörrach her wie­ seinem Vicegötti im Geburtshaus am der in die Stadt, um der seit 1772 verwit­ „Totentanz“ untergekommen sein? Weil er weten Frau Susanna Iselin seine Aufwar­ selber in späteren Jahren sagt: „Ich bin be­ tung zu machen5), aber auch um sein Ge­ kanntlich in Basel daheim, von dem Sande- burtshaus und den noch immer darin woh­ hansemer Schwiebogen das zweite H aus. . .“ nenden Vicegötti, Schneidermeister Riedt- wäre es so unwahrscheinlich nicht, daß er mann, und seine Frau aufzusuchen. Als dort in Kinderjahren, die für das Heimat­ dann 1791 der Ruf nach Karlsruhe erfolgte gefühl entscheidend sind, dauernd ein- und und Hebel in die ferne Stadt umsiedelte, ausgegangen ist. Von Riedtmanns Haus war wurden die Basler Besuche selten, und es es ja ebenfalls nicht weit zur Petersschule, verstrich oft manches Jahr, bis er wieder und zum Münsterplatz ließ sich’s mit Leich­ durch Basels Gassen „schlupfen“ konnte, tigkeit in einer Viertelstunde gelangen. Wie die ihm besser bekannt waren als manchem tief er die Vorstadt „Santihans“ mit der Einheimischen. „grünen Schanz“ (dem sogenannten „Hohen Niklaus Riedtmann und seine Frau Ur­ Wall“ an der Stadtmauerecke hinter dem sula wagten es noch 1796, in hohem Alter, Petersplatz oder der Rheinschanze beim — wohl den Kindern zuliebe — eine äußeren Tor) und dem „Seiler-Graben“ „Uberbesserung ihrer Wohnbehausung“ vor­ zeitlebens ins Herz geschlossen behielt, be­ zunehmen, wofür er bei dem 1749 gebo- 92 Basel, St. Johann Schwiebogen von außen, 1860 phot. Höflinger renen, aus erster Ehe stammenden Sohn gewordene Mann das Haus „zum Kopf“ Niklaus eine Summe von 300 lb Basler nicht dem vorgenannten Sohn, sondern dem Währung aufnahm und als Pfand dafür aus der zweiten Ehe stammenden Johannes das instandgestellte Haus einsetzte. Die (geboren 1759), der es laut Kaufbrief vom Erneuerung betraf zweifellos mehr das 1. November gemeinsam mit seiner Frau Äußere, das damals jenes Aussehen erhielt, Elisabeth Löw um 3000 lb übernahm. wie es sich noch heute mit seinen schlichten In dieser Zahl drückt sich deutlich, wenn Fenstern zeigt. Schon zwei Jahre später, man die früheren Hauspreise vergleicht, die 1798, übergab nun aber der wohl krank­ Geldentwertung der Revolutionszeit aus. 93 Die Übernahme der Liegenschaft muß Jo­ der ehrwürdige Totentanz gemalt war, son­ hannes Riedtmann einige Schwierigkeiten dern auf einen freien sich bis zur Prediger­ bereitet haben; auch trug ihm das erlernte kirche dehnenden Platz. Am späten Abend des Schneiderhandwerk wenig ein. Die Zeitläufe 5. August 1805 hatten einige Anwohner — erwiesen sich den Kleinbürgern nicht hold. unter diesen gewiß auch der Wirt Johannes Nachdem Vater Niklaus Riedtmann am Riedtmann —, nachdem sie schon 1804 eine 2. Dezember 1800 bei St. Peter zu Grabe Eingabe an den Rat gemacht hatten, daß die getragen worden war, trug der Sohn keine schadhafte Mauer beseitigt werden möge—, in Bedenken mehr, im kleinen Haus am ihrer Ungeduld selber Hand angelegt und Totentanz eine „Pintenwirtschaft“ aufzu­ sich Licht und Luft und eine verbreiterte tun. War das gleiche Gewerbe nicht früher Straße verschafft. Dabei gingen aber die schon im Haus zum „Kopf“ betrieben ehrwürdigen Wandbilder aus dem 15. Jahr­ worden? hundert bis auf wenige Reste, die von Kunst­ In seiner späteren Lebenszeit hat Johann freunden gerettet worden, zugrunde. Peter Hebel noch einige wenige Male im Das Ereignis wurde sicher auch mit Hebel „Oberland“ und damit auch in Basel ge­ beim Schöpplein Markgräfler besprochen. weilt. Sicher war dies der Fall, als er nach Ob ihm dieses Bedauern auslöste? Die Liebe der Schweizerreise mit den jungen Baronen zur St. Johannvorstadt hat es ihm jedenfalls Carl und Ernst von Mentzingen im Septem­ nicht genommen. ber 1805 in der Rheinstadt kurze Zeit 1812 war er das letzte Mal im „Ober­ rastete und von da aus seine Besuche machte, land“, zu dem ganz selbstverständlich auch etwa in Weil oder in Rotteln, etwa in Basel zählte. Daß er späterhin noch oft „Bourglibre“,dem nahen sundgauischen Ort, genug an die Stadt dachte, geht aus manchen der vor der Revolution Saint-Louis ge­ heißen hatte und von den Sans-Culotten Stellen in seinen Briefen hervor. So beschäf­ umgetauft worden war. Diese Ortschaft, tigte ihn die Nachricht, daß die Festung die Hebel gut bekannt war, erreichte man Hüningen 1814 und 1815 von den Alliierten auf eben der Straße, die von der St. Johann­ belagert wurde, recht stark. Er wußte, wie vorstadt geradwegs dorthin und ins weitere nahe vor die Mauern der alten Rheinstadt die Elsaß verlief. Wie konnte Hebel da am Franzosen dieses Trutzbasel gesetzt hatten kleinen Haus vor dem inneren Tor Vorbei­ und mußte sich deshalb vorstellen, wie nun gehen, ohne darin ein Schöpplein oder zwei die Geschosse der Belagerten gerade jenen zu genehmigen? Wir sehen ihn mit der be­ Teil Basels zuerst erreichen konnten, der tagten Frau Riedtmann-Hoch (f 1810) auf ihm besonders lieb und vertraut war. Aus der Fensterbank der Wirtsstube sitzen und diesen Gedanken schrieb er an Friedrich zwischen dem frohen Geplauder oftmals Wilhelm Hitzig, Pfarrer zu Rotteln: einen Blick nach den lichten Schwarzwald­ „... In Basel mag sich jetzt viel Angststoff­ bergen tun, unter denen der majestätische gas entwickeln. Etwas davon gönne ich ihnen Blauen wie eh und je die Basler Landschaft und möchte an deiner Seite gern eine Stunde beherrschte. drin sein und die jammervollen Kyrie eleisa Aber Hebel mag bei diesem Besuch vor hören. Aber leid wäre es mir, wenn der dem Haus zum „Kopf" baß erstaunt stille Stadt selbst ein Leid geschähe, in der ich gestanden sein: Die Fenster der Familie geboren bin, und zwar just in der Santehans, Riedtmann sahen nicht mehr gegen die ni fallor (wenn ich nicht irre) n. 14, das 2te Gottesackermauer, an deren abgekehrter Seite Haus vor dem Schwiebogen, und wo ich so 94 Großbasler Ufer beim Totentanz. Um 1880 Aus dem Basler Staatsarchiv viel gutes genossen und wo wir manches ihr nördlichstes Quartier benennen) damit proteusische Stündlein verbracht haben .. ich immer hinüber nach Weil schauen Wenn er in diesem Briefe von 1815 den könnte .. .“ Und noch deutlicher wird Hebel Baslern gern etwelche Ängste um ihren Be­ in einem Brief vom 16. Januar 1825 an die sitz gönnt, weil er sie offenbar als an ihren Freundin im Oberland. Der Fünfundsechzig- Reichtümern hängende Leute kannte, so jährige dachte daran, sich mit Antritt des hätte er es doch schmerzlich empfunden, 70. Lebensjahres in Basel „zur Ruhe zu wenn dem wohlgestalteten Stadtbild ein setzen“ : „...Ich bin bekanntlich in Basel Nachteil aus dem Kriegsgeschehen erwachsen daheim, von dem Sandehansemer Sch wie­ wäre. Einige Jahre später, als sich das Alter bogen das 2te Haus. Selbiges Häuslein kauf bereits bemerkbar machte, dachte er weniger ich mir alsdann um ein paar Gulden; aber mehr an unangenehme Seiten gewisser Be­ ich bin kein Burger (die allein in Basel wohner Basels, sondern träumte davon, dort­ Häuser erwerben konnten), also miete ich hin zurückzukehren und seinen Lebensabend es und gehe alle Morgen, wie es alten Leuten in der St. Johannvorstadt zu verbringen. geziemt, in die Kirchen in die Betstunden Diesen Gedanken sprach er in einem Brief und schreibe fromme Büchlein, Traktätlein, vom Oktober 1823 an Gustave Fecht aus; — und Nachmittag nach Weil wie der alte wenn er könnte, so schrieb er, „wohnte ich Stickelberger im Schaf6) .. .“ im Winter in Basel an dem Sanhans (ge­ Hebels Gedanken kreisten, wie wir sehen, meint war die „Santihans“, wie die Basler immer wieder um das kleine Haus, in dem

95 er geboren war, selbst jetzt noch, da sein Wer weiß, ob Hebel mit dieser Baslerin „Vizegötti“ bereits ein Vierteljahrhundert seine letzten Worte nicht ganz und gar in droben bei der Peterskirche dem Auferste­ der beiden wohlvertrauten Mundart der hungstag entgegenschlief. Vielleicht wollte Rheinstadt getauscht und dabei etwas wie der Dichter selber auch bei diesem Gottes­ Heimatglück empfunden hat? So als wäre haus den „Jüngsten Tag“ erwarten, den er er nun doch in das kleine Haus beim Santi- seit langem lebendig vor Augen hatte. Wie hans-Schwiebogen zurückgekehrt und hätte ernst er es mit dem Besuch der Morgen­ alles, was ihm von der Jugendzeit her lieb predigten und dem Schreiben frommer Büch­ war, nahe um sich. War es so, dann hat ihm lein meinte, wissen wir nicht; was er aber dies sicher das Sterben leicht gemacht und für den Nachmittag vorhatte, leuchtet uns das Verlangen nach dem Auferstehungstag ein: Über die Rheinbrücke wollte er wan­ verklärt. dern hinüber zu den Dörfern und Höhen im * nahen Markgräflerland, wie einst nach Weil zu Pfarrer Günttert und Jungfer Gustave, Dem Häuschen am Anfang der St. Johann­ auf den Tüllingerberg, nach Oetlingen, nach vorstadt war, seit sein bekanntester Be­ Rötteln ins „Chilft“ zu seinem Freund wohner die Augen für immer geschlossen Hitzig7) . . . Die Landschaft war sich gleich hatte, ein erträgliches Schicksal beschieden. geblieben, und der Fensterschein der lieb­ Es blieb im Besitz der Familie Riedtmann, lichen Rebdörfer von Tüllingen über Fischin- die im Stillen die Erinnerung an Johann gen bis hinab an den Isteiner Klotz glitzerte Peter Hebel bewahrte, und deren Erben über das unbebaute Kleinbasler Ufer in die über ein Jahrhundert lang. Allerdings muß hintere Stube des Hebel so liebgewordenen den „Pintenschenk“ Johannes Riedtmann, kleinen Hauses am Totentanz herein. den Sohn des „Vizegöttis", zwischen 1825 Es war dem im Alter zu höchsten Würden und 1828 ein tragisches Geschick getroffen aufgestiegenen Dichter nicht vergönnt, seine haben: Er verschwand aus Basel und blieb „Heimkehr“ nach Basel zu erleben. Keine vermißt. Seine Ehefrau, die das kleine Ge­ zwei Jahre nach jenem Brief an Gustave schäft weiterführte, starb zu Ende des Jahres Fecht, in dem er diesen Wunsch ausdrückte, 1830 und laut Familienverkommnis, das nahm sein Leben im „Unterland“ ein rasches bereits am 2. Dezember 1828 abgeschlossen und unerwartetes Ende. Auf einer Dienst­ worden, ging das Haus am Totentanz in reise legte sich Hebel 1826 in Schwetzingen den Besitz der älteren Tochter, Frau Salome zum Sterben nieder, merkwürdigerweise im Riedtmann (geboren 1792) und deren Ehe­ Hause eines Freundes, der wie er aufs engste mann, Meister Heinrich Schäfer, Kutscher, mit Basel verbunden war. Der Betreuer des über. Der Letztere war nun über zwanzig Schwetzinger Schloßparks, Garteninspektor Jahre lang Pintenschenk. 1862 gehörte die Johann Michael Zeyher, hatte mehrere Jahre Liegenschaft weiteren Nachkommen des in Basel gelebt, hier den großen Garten beim Schneiders Riedtmann, nämlich Ludwig Markgräflichen Palast und von 1801 bis Danzeisen-Berger; Wohnrecht hatte darin 1804 auch den benachbarten botanischen die Witwe Margaretha Berger-Riedtmann, Garten der Stadt besorgt. Mit dem Basler welche die Wirtschaft und ein bescheidenes Stadtgärtner Niklaus Petersen bekannt ge­ Ellenwarengeschäft im Erdgeschoß betrieb. worden, heiratete Zeyher 1794 dessen Toch­ Bis 1955 blieb die Familie Danzeisen Eigen­ ter Magdalena, die 1804 mit ihm ins ba­ tümerin des Hauses und hat es im großen dische Unterland zog8). und ganzen in der Gestalt zu erhalten ge­ 96 wußt, die es zu Hebels Zeiten besaß. Wo 5) Sie starb hochbetagt und wurde am 19. Sep­ tember 1787 zu St. Peter bestattet. früher das Wirtszeichen über der Haustür 6) Unter dem „alten Stickelberger im Schaf“ war gehangen, befindet sich seit dem „Hebeltag“ ein reicher Kleinbasler, Johann Rudolf Stickel­ (10. Mai) des Jahres 1928 jene Erinnerungs­ berger, Küfermeister an der Obern Rebgasse, im Hause zum Schaf (heute Altersheim „zum tafel, die zu Unrecht während Jahrzehnten Lamm“, Rebgasse 16) gemeint, der wie noch an einem Haus der „Neuen Vorstadt“ (in heute mancher Basler sein Schöpplein Mark­ gräfler am liebsten an der Quelle trank. Hebelstraße umgetauft) angebracht war. 7) Günttert war allerdings 1821 verstorben und Und was der Dichter Fritz Liebrich aus Friedrich Wilhelm Hitzig seit 1818 Pfarrer Briefen Hebels wieder ans Licht gehoben, in Auggen, von 1828 an Dekan in Lörrach, t 1849. ist heute glücklich jedem Basler Schulkind 8) Maria Magdalena Petersen,getauft am lO.April bewußt: Hier am Totentanz war unser 1766 zu St. Elisabethen in Basel. Ihr Vater, Johann Peter daheim! Niklaus Petersen, war ein gebürtiger Däne von der Insel Alsen; ihre Mutter, Maria Char­ Er ist es auch heute noch! Die neuen lotte Werdenberg, gehörte einem in Basel und Besitzer, Herr und Frau G. Albrecht- seiner nächsten Nachbarschaft seit alters an- Vischer, haben nach Erwerbung des Hauses säßigen Geschlecht an. 1955 ihr Bestes getan, um die Räume so Benützte Quellen und Druckwerke auszugestalten, daß — käme der „Rheinische Historisches Grundbuch der Stadt Basel. Staats­ Hausfreund“ zu Besuch, er sich darin hei­ archiv Basel. (Faszikel: Totentanz, Petersgasse, misch fühlen müßte. Und sitzt man selber Liegenschaften vor dem St. Johanntor). Tauf-, Ehe- und Sterberegister 1700—1850. bei den lieben Leuten zu Gast — ist nicht Staatsarchiv Basel. jedesmal unser Dichter Hebel mit dabei, als Nachlaß Dr. Achilles Lotz. Privat-Archive guter Geist von Haus und Stadt, der alle, 355 C. Staatsarchiv Basel. Friedr. Weiss-Frey, Heinrich Iselin von Ro­ denen die zwischen Feldberg und Basel, senfeld und sein Geschlecht. Basel 1909. Jura und Vogesen gesprochene Mundart J. P. Hebel. Festgabe zu seinem hundertsten geläufig ist, näher zusammenführt? Geburtstage. Herausgegeben von Friedrich Becker. Basel 1860. Anmerkungen: Fritz Liebrich, J. P. Hebel und Basel. Auf den 100. Todestag J. P. Hebels herausgegeben 4) Handschriftliche Notiz von Dr. Gustav Ryhi- im Auftrag der Kommission zur Förderung des ner-Sigel. Staatsarchiv Basel. heimischen Schrifttums. Basel 1926. 2) Zeichnung von 1797, in Privatbesitz (Ab­ gebildet in Wilhelm Altwegg, Hebel. Bilder K. E. Hoffmann, Basler Dichterstätten. Im aus seinem Leben. Stuttgart 1954, Abb. 6). Aufträge der Kommission zur Förderung des 3) Gerichtsarchiv W 6, Protokolle des Fünfer­ heimischen Schrifttums in Basel herausgegeben. gerichts 1567—1584. Staatsarchiv Basel. Basel 1934. 4) Es ist schwerlich an der Angabe von Dr. Wilhelm Altwegg, Johann Peter Hebel. (Die G. Ryhiner zu zweifeln, weil 1767 der Sohn Schweiz im deutschen Geistesleben. Der illu­ Hans Jakob Iselin (1742—1831) von Stein­ strierten Reihe 22. Band.) Frauenfeld/Leipzig metz Rudolf Biermann das oberhalb an den 1935. Flachsländerhof anstoßende Haus (Peters­ Wilhelm Altwegg, Das Basler Hebel-Häus­ gasse 48) erwarb, wohl um seinen Eltern chen in erneuerter Gestalt. Sonntagsblatt der nahe zu sein. „Basler Nachrichten“ vom 5. Mai 1957, No. 18.

7 Badische Heimat 1960 97 Hebelland in der Schweiz

Von Otto Kleiber, Basel „z’ Basel an mim Rhi, jo dort möcht i si. an jedem zehnten Mai den zwölf ältesten singen die Schülerinnen der Petersschule an Mannen seines Heimatdorfes Hausen im jedem 10. Mai bei der Feier vor dem Hebel­ Wiesental einen Schoppen Markgräfler zu denkmal am Petersplatz. Sie ist ganz stiften. Ein Bankkrach in Mannheim ver­ „ihre“ Feier, mit Eifer werden reizende hinderte die Durchführung dieser freund­ Einladungen dazu gezeichnet und an Tan­ lichen Absicht. So griffen denn die Basler ten und Großmütter, und wen sie sonst noch Hebelfreunde im Jubiläumsjahre 1860 mit gerne dabei sähen, verschickt. ihrer Gründung diese Idee auf. Und aus Betrachten sie doch Johann Peter Hebel dem „Hebelschoppen“ wurde schon ein Jahr als ihren Schulpatron, denn er ist ja auch später das „H e b e 1 m ä h 1 i“, das an des einmal in die Gemeindeschule zu St. Peter Dichters Geburtstag in Hausen die Basler gegangen und nachher in die Münsterschule, und die Markgräfler Hebelfreunde vereint und die „Töpli“ hat er bis ins Alter nicht in fröhlicher Tafelrunde, die davon zeugt, vergessen. Er war eben ein Gemütsmensch. wie echte Volkspoesie in den Herzen leben­ Darum müssen die Lehrer und Lehrerin­ dig bleibt. Jahr für Jahr fand, wenn nicht nen den Dichter des Basler Stadtliedes den Krieg die Grenzen sperrte, diese Demon­ Kleinen nicht erst nahebringen. Wenn sie stration des friedlichen Herzens im Hebel­ nicht schon auf Mutters Schoß staunend dem dorf statt. Die „zwölf alten Mannen“ von „Mann im Mond“ und dem „Spinnlein“ Hausen sind die Gäste der Stiftung, und gelauscht haben, dann fanden sie diese und die Rede eines Baslers auf sie bildet stets den all die ändern Gedichte schon in den frühen Mittelpunkt dieser heimeligen Dichter­ Lesebüchern. Und kein Lehrer kann sich ehrung, bei der auch vier der besten Hau­ heute noch bei den Buben beliebter machen, sener Schüler Hebels Gedichte aus der Hand als der, welcher ihnen in einer Zwischen­ des Stiftungspräsidenten entgegennehmen stunde, statt Prozentrechnungen oder unre­ und außerdem zwei Bräute oder jungver- gelmäßigen Verben ein paar Streiche des heiratete Frauen des Jahres eine Aussteuer­ Zundelfrieders und seiner Kumpane aus gabe. Seit 1935 wird bei diesem Anlaß auch dem „Schatzkästlein“ vorträgt. Und sind der Träger des „Hebelpreises“ verkündet, auf der Oberstufe nicht alle reif genug, die den der Staat Baden-Württemberg Persön­ „Vergänglichkeit“ ganz zu erfassen, so be­ lichkeiten des oberrheinischen Schrifttums kommen sie doch eine Ahnung davon, wie deutscher Sprache, ohne Rücksicht auf die es möglich ist, auch tiefsten Gedanken in der Landesgrenzen zuspricht. Mundart dichterisch Ausdruck zu verleihen. Johann Peter Hebel bewahrte seiner Ge­ So blieb in Familie wie in Schule Hebels burtsstadt, in der er „im Buebekamisol“ sich Andenken in Basel stets lebendig. Und als in den alten Gassen und auf dem Peters­ der hundertste Geburtstag des Dichters platz „wie ne freie Spatz“ getummelt und nahte, da taten sich eine Reihe von Bür­ als Jüngling so „manches proteusische Stünd- gern zusammen zu einer Ehrung in dauern­ lein verbracht“ hatte, zeitlebens ein liebes der Form. Sie riefen die „B a s 1 e r H e b e 1- Gedenken. Nicht nur in der „Erinnerung an Stiftung“ ins Leben. Es war eine Lieb­ Basel“, in der er die Stätten seiner Jugend lingsidee des alternden Dichters gewesen, poetisch reizvoll umschreitet, und die in der 98 Vertonung von Franz Abt zum Stadtlied kein Verständnis für das Neue und Eigen­ geworden ist, sondern auch in manch an­ artige der Alemannischen Gedichte. Auch derem der Alemannischen Gedichte gedenkt beim Drucker Haas verwendete sich Freund er der Rheinstadt in herzlichster Weise. Am Günttert in Weil vergeblich, weil er nur ergreifendsten wohl in der »Vergänglich­ gegen Bezahlung drucken wollte. Das trug keit“ : Günttert für sein Bemühen nur die ärger­ „Isch Basel nit e schöni, tolli Stadt? liche Bemerkung Hebels ein: „Dunderschieß, ’s sin Hüser drin, ’s isch mengi Chilche nit han is denn nit gseit, daß der Haas keini so groß, und Chilche, ’s sin in mengem Dorf Eier leit?“ Aber während der Subskribenten­ nit so viel Hüser. ’s isch e Volchspiel, ’s suche gab er dem Bruder aus dem Proteuser- [w ohnt bunde doch noch den Wink: „Vielleicht e Richtum drin, und menge brave Her trümmelt dir da und dort auch ein Böppi und menge, woni gchennt ha, lit scho lang ins Netz!“. Nur ein kleiner Trost in der im Chrützgang hinterm Münsterplatz und Enttäuschung war es, daß wenigstens das [schloft. Papier für die Erstausgabe aus der Fabrik ’s isch eithue, Chind, es schiacht emol e des Baslers Kolb in Schopfheim stammte. [Stund, Wie Hebel in seinen „Marktweibern“ unge- goht Basel au ins Grab und streckt no do scheut Kritik übt am städtischen Leben, so und dort e Glied zum Boden us, e Joch, hat er den Charakter der Basler wohl zu en alte Thurn, e Giebelwand, es wachst treffen gewußt. Als er hörte, daß Haas do Holder druf, do Büechli, Tanne dort, Gipsporträts von ihm für 6 Livr. verkaufe, und Moos und Farn, und Reiger sitze druf. bat er Freund Hitzig in Rötteln, ein Exem­ ’s isch schad derfür. — “ plar für ihn zu erstehen und fügte bei: „Es Die Erinnerung an manchen Basler ist ganz baslerisch, daß er ohne mein Wissen Namen seiner Zeit verblaßte in Hebel nie. Handel mit mir treibt, und daß ich mich Ob es nur Scholer mit der großen Nase in selber bey ihm kaufen muß, wenn ich mich seiner Bude auf der Rheinbrücke war oder haben will, statt daß er mir mit Ehren und der gelehrte Ratschreiber Isaac Iselin, das ohne Schaden einige Abgüsse hätte zu­ „Eiermeitli“ oder der berühmte Botaniker schicken wollen.“ Er wußte Basel und Bas­ Lachenal, der den eifrig botanisierenden ler, Stadt und Städter wohl auseinander zu Dichter besonders interessierte. Und bei kei­ halten. Daß man den Dichter schon so bald nem Besuch unterließ er den Gang zum „in Gips“ kaufen konnte, zeigt den Erfolg, Grab der Majorin Iselin, der Dienstherrin den seine Gedichte dies- und jenseits des seiner Eltern. Und wenn er im Unterland Rheins fanden. Flicks Filialleiter in , baseldeutsche Töne hörte, kam sein Herz in Sauerländer, gab 1820 die erste schwei­ Wallung. So damals, als er den Graveur zerische Ausgabe heraus. Hueber aus Basel kennen lernte und mit ihm Und wenn „der Winkel zwischen dem in der Erinnerung durch alle Gassen und Fricktal und dem ehemaligen Sundgau“, Gäßlein der Rheinstadt schlüpfte. „Am die „Suppenschüssel zwischen Jura, Ende gestand er, daß ich Basel besser kenne, Schwarzwald und Vogesen“, das Oberland als er.“ und Basel, Ort und Gegend dem Dichter Als der Dichter für sein „Wälderbüblein“ „die liebsten zwischen allen Meridianen und auf die Verlegersuche ging, dachte er in Parallelzirkeln des großen Erdenrundes“ erster Linie an Basel. Aber die Verhandlun­ waren, so zog er gerne das übrige Schweizer­ gen mit Flick brachen kurz ab, er zeigte land mit in diese Liebe ein. Er ist auf klei-

7* 99 J/R Hebels Ffuckl" nach Riehen, am 6.IN/ovember 1796 neren und großem Wanderungen und Fahr­ „Wo man gerne wäre, dauert’s nur kurz“, ten in ihm eingekehrt, und einmal, in den meinte Hebel, wenn er jeweilen in die Hei­ Kriegswirren von 1796, suchte er hinter der mat seines Herzens reiste. Das gilt auch für Schweizergrenze, in Riehen, Schutz vor dem seine Fahrten ins Schweizerland hinein. Er Getümmel der sich zurückziehenden franzö­ wanderte über Basel in die Juratäler, stieß sischen Armee. „Zum Glück hatten wir den etwa auch, ein Goldstück für die Hinreise Schweizer Boden nahe.“ Dieser Boden war im rechten, und eins für die Rückreise im ja freilich schon dem Lörracher Präzepto- linken Gilettäschlein, weiter in schweize­ ratsvikar immer nahe gewesen, wenn er rische Gaue vor. Das Ziel, der Rigikulm, abends „die Stettemer Matten herab“ ins wurde freilich nicht erreicht, weil das Geld Pfarrhaus Weil am Fuße des Tüllinger rechts schon aufgebraucht war. Im Jahre Hügels eilte, zu vertrauter Aussprache mit 1805 aber unternahm er, als Führer zweier den Pfarrleuten Günttert — Fecht und vor Herrensöhne, eine Reise, die ihn ins Herz allem mit der Jungfer Gustave Fecht, der der Schweiz führte. Der Weg ging den Herzensfreundin, mit der er bis ans Lebens­ Rhein, „Gotthards große Bueb“, aufwärts ende verbunden blieb und Briefe tauschte, nach Schaffhausen an den Rheinfall, dann die zu den köstlichsten im Briefschatz der durch den Thurgau und über Winterthur deutschen Literatur gehören. nach Zürich, wo es sich recht wohl leben 100 ließ, und wo der Dichter auch dem Denk­ noch 5 Jahren bin ich 70. Alsdann bitte ich mal SalomonGessners, des Geistverwandten, um meinen Ruhegehalt und komme heim. einen Besuch abstattete. In der Hohlen Ich bin bekanntlich in Basel daheim, vor Gasse in Küßnacht sprach dann die Schwei­ dem Sandehansemer Schwiebogen das zweite zer Vergangenheit mächtig auf die fremden Haus. Selbiges Häuschen kaufe ich alsdann Gemüter ein: um ein paar Gulden — aber ich bin kein „Ans Wilhelm Telle Freiheitshuet Burger! — also miethe ich es, und gehe alle hangt menge Tropfe Schwizerbluet“ Morgen, wie es alten Leuten geziemt, in die Kirchen, in die Betstuben, und schreibe In Interlaken sahen sie, wie „d’Sunn am fromme Büchlein, Traktätlein, und Nach­ Schwitzerschnee“ glänzt, und in Grindel­ mittags nach Weil, wie der alte Stickelber­ wald führten Gletscher und Lawinen ihre ger im Schaf.“ mächtige Sprache. Auf der Rückreise hielten Es ist nicht zu dieser Heimkehr gekom­ sie sich zwei Tage in Bern auf, und durch men. Schon im nächsten Jahr verließ er den Jura erfolgte die Rückreise nach Basel, diese Welt für immer. An seinem Sterbebett wo Hebel seinen Begleitern die ihm wohl­ stand eine Baslerin und pflegte ihn, die Frau vertrauten Sehenswürdigkeiten der „größten von Garteninspektor Zeyher, bei dem Stadt der Schweiz“ zeigte: Rathaus, Mün­ Hebel, auf seiner letzten Inspektionsreise ster, Kreuzgang, Konzilssaal und Pfalz, in Schwetzingen, krank eingekehrt war. deren Aussicht er so lieblich besungen hat. Diese Reise von der Dauer eines Monats „Selbiges Häuschen“ aber am Basler gab dem Dichter das Wohlgefühl von einst: Totentanz Nr. 2 steht unversehrt. An jedem „Man fühlt, daß man ein freier Mensch zehnten Mai umzieht eine grüne Girlande ist, wenn man wie der Spatz alle Abend die Broncetafel über der Haustür, die ver­ auf einem ändern Ast sitzt.“ Vor allem kündet: aber vermittelte sie ihm tiefe und nachhal­ Joh. Peter Hebel tige Eindrücke von Land, Natur und Volks­ hier geboren art der Schweiz. Er hat sie in seinen Haus­ X. Mai MDCCLX freund-Geschichten wohl zu verwerten ge­ Das Haus haben die Basler unter Denkmal­ wußt, in den belehrenden wie in den rein schutz gestellt. Seine jetzigen Besitzer, treue erzählenden Stücklein, man denke etwa an Hebelfreunde, pflegen und hüten es aufs „Große Schneeballen“, „Schreckliche Un­ beste. Von der Laube auf der Rückseite aus glücksfälle“, „Zustand von Europa“, „Die schweift der Blick über den Rhein hinweg gute Mutter“, „Jakob Humbel“ und andere. ins Markgrafenland, in die seit alters mit Der Alemanne fühlte sich im stammver­ Basel verbundene Heimat des Dichters, an wandten Lande stets wie daheim. der er ebenso treu hing, wie er den Stätten Am 16. Jenner 1825 schrieb Hebel aus seiner Jugendheimat lebenslang herzliche Karlsruhe an Jungfer Gustave in Weil: „In Anhänglichkeit bewahrte.

101 Von der Rötteler Kapitelschule zum Pädagogium1) und Hebelgymnasium in Lörrach Von A u g u st Baumhauer, Lörrach So groß und berechtigt auch die Freude ten und ihren Sitz nach der Burg Rötteln und Genugtuung bei allen Freunden des im Wiesental verlegten. Der bedeutendste Hebel-Gymnasiums über den Neubau ist, Fürst dieses Geschlechtes war Markgraf Ru­ den die Schule nun bezieht, so beschleicht uns dolf III., der 64 Jahre lang segensreich re­ Lehrer und die ehemaligen Schüler doch auch gierte. Er erbaute 1401 die schöne Kirche zu ein wenig Wehmut, da wir unser altes Rötteln, in deren Gruft er 84jährig im Jahr „Schiff“ auf geben, in dem seit 1761, also 1428 beigesetzt wurde. Markgraf Rudolf seit 200 Jahren, viele Generationen von erhob die Rötteler Kirche zur Kapitular- Schülern ihre humanistische Bildung erwar­ und Konventualkirche; die Geistlichen der ben, dessen Mauern und Bänke von Schü­ Umgegend bildeten das Ruralkapitel, also lerfreud und Schülerleid gezeichnet sind, in zum Unterschied von den Domkapiteln ein dessen Räumen zahlreiche, ihrer hohen Auf­ Landkapitel. Der Markgraf richtete ferner gabe bewußte Lehrer mit Hingabe und Idea­ an drei Altären seiner Kirche Meßstiftungen lismus unterrichteten. Wegen seiner dem für sein und seiner Gemahlin Seelenheil ein Barode eigenen feinen Stufung und zugleich und dotierte sie 1418 mit den Einnahmen Kreuzung der ornamentalen Bestandteile, aus verschiedenen Dörfern, mit Einkünften wegen der Harmonie der Fassade hat der aus Bodenzinsen, aus Frucht- und Weinzehn­ Kunsthistoriker Pfister unser Sdiulhaus, das ten, aus den Abgaben von Nüssen, Hühnern unter Denkmalschutz steht, zu den besten und Eiern. Es ist zwar nicht belegt, aber Alt-Lörracher Bauten gerechnet. Und diese wohl zu vermuten, daß das Röttler Kapitel Harmonie war nicht nur Fassade, sie schon damals durch Unterricht, auch im La­ herrschte auch stets in durchaus humaner teinischen, für die erste Heranbildung geist­ Weise zwischen Lehrern und Schülern im lichen Nachwuchses bemüht war. Innern des ehrwürdigen Gymnasiums. Wenn Im Jahr 1503 starb der letzte Hachberger, nun auch unser bisheriges Schulhaus, Basler und die Markgrafen von Baden wurden Straße 143, das einst für eine Tabakmahu- Landesherren. Als Markgraf Karl II. von faktur erstellt worden war, jedoch noch vor Baden-Durlach dann im Jahr 1556 in seinen der Vollendung zum Schulhaus umgebaut oberen Landen die nach luthe­ wurde, seit zwei Jahrhunderten schon dem rischer Lehre einführen ließ, wurde ein Bas­ damaligen Pädagogium als dem Vorläufer ler Professor, Thomas Grynaeus, evangeli­ des Hebel-Gymnasiums diente, so müssen scher Pfarrer zu Rötteln. Da nun die Meß­ wir uns doch noch weitere zwei Jahrhun­ stiftungen ihrem ursprünglichen Zweck ent­ fremdet waren, wurden ihre Einkünfte an­ derte zurückversetzen, um die ersten An­ derer Verwendung zugeführt: der Besoldung fänge der Schulgründung zu belegen. der evangelischen Geistlichen, der Ausbil­ Lörrach war nur ein unbedeutendes Dorf, dung junger Theologen, die in Basel studier­ als nach dem Aussterben der Freiherrn von ten, und dem Schulunterricht. Zunächst Rötteln im Jahr 1315 die Markgrafen von wurde eine deutsche Schule in Rötteln Hachberg-Sausenberg deren Erbschaft antra- eingerichtet, die von Theophil Grynaeus, dem Sohn des Pfarrers geleitet wurde, und *) Übernommen mit frdl. Genehmigung aus der Festschrift der Vereinigung der Freunde des kurze Zeit darauf die „Lateinische Hebel-Gymnasiums Lörrach (1960) Roettelische Landschule“, die 102 Das alte Hebel-Gymnasium in Lörrach allererste Vorläuferin unseres Hebel-Gym­ bend“, zugegen waren. Die Schule im Rötte­ nasiums. Die Buben aus der ganzen Gegend, ler Kapitelhaus wuchs und brauchte zum die den Beruf als Geistlicher oder Beamter Magister primarius noch einen secundarius; ergreifen wollten, erhielten dort ihre erste im Auftrag des Markgrafen übte der Dekan Ausbildung. 1613 versah ein Diakonus die des Kapitels die Aufsicht aus. Lateinschule, die hochentwickelt gewesen Kaum waren 27 Jahre einer wenn auch sein muß, denn er lehrte Latein, Griechisch, nicht ganz ungestörten Friedenszeit vergan­ Hebräisch sowie Logik und Rhetorik, Poesie gen, als eine neue Wendung in der Ge­ und Musik. schichte der Schule eintrat. Das Jahr 1678, Furchtbar wütete in den Jahren 1610, in dem die französischen Truppen des Mar­ 1629 und 1634 die Pest im Markgräflerland, quis de Boufflers und des Herzogs von das dazu noch unter Raub und Brandschat­ Choiseul das Rötteler Schloß zerstörten, zung durch plünderndes Kriegsvolk aller wurde entscheidend für die wenige Jahre Nationen, die in den Dreißigjährigen Krieg später erfolgende Erhebung des Dorfes Lör­ verwickelt waren, entsetzlich zu leiden hatte. rach zur Stadt wie auch für die weitere Ent­ Viel Markgräfler Volk suchte und fand Zu­ wicklung der Markgräfler Kapitelschule, die flucht in Basel; der Landesherr selbst hielt nun mit allen Behörden heimatlos geworden sich dort auf. Die Rötteler Landschule muß war und nach Lörrach übersiedelte. Schon in den unaufhörlichen Kriegswirren allmäh­ am 29. Januar hatten die Franzosen im lich eingegangen sein. Als dann aber Mark­ Weiler Rötteln das Pfarrhaus und das Ka­ graf Friedrich V. von Baden-Durlach nach pitelhaus mit der Schule in Brand gesteckt, Beendigung der Kriegshandlungen seine so daß die Geistlichkeit und die Lehrer ob­ Herrschaften Badenweiler, Rötteln und Sau­ dachlos wurden, und am 20. Juni eroberten senberg aufsuchte, um sich an Ort und Stelle und zerstörten sie das Schloß selbst nach ein Bild zu machen von den furchtbaren dreitägiger Belagerung und Beschießung. Verwüstungen und Greueln, welche die Wieder bot die sichere und reiche Stadt Basel langen Kriegsjahre hervorgerufen hatten, den heimatlosen markgräflichen Beamten beschloß er im Jahr 1650 die Neu­ und der Kapitelschule, die dort notdürftig gründung der Schule bei seiner weitergeführt wurde, für eine Übergangszeit BurgRötteln. Weil sie der Leitung und ein Asyl. Nur ein Lehrer, der Diakon von Verwaltung des Rötteler Landkapitels un­ Wieslet, marschierte jeden Dienstag etwa terstand, wurde sie von nun an meist als sieben Stunden weit nach Basel, unterrichtete Kapitelschule bezeichnet; sie blieb für drei Tage und versah dann wieder sein lange Zeit die einzige höhere Schule im badi­ Pfarramt. Um wieder einen geordneten Un­ schen Oberland, in der Latein gelehrt wurde. terricht zu ermöglichen, schlug der damalige Die erste Einführung in die lateinische Spra­ Landschreiber der Herrschaft Rötteln, Dr. che erhielten seltensamerweise um 1650 die Praun, in seinem Bericht an das Geheime Pfarrers- und Beamtensöhne in einer Latein­ Ratskollegium am 29. September 1679 vor, schule im Dorfe Binzen; sie bezogen dann man möge in Lörrach ein Kapitelhaus „de von Binzen aus die Rötteler Kapitelschule. novo“ erbauen oder ein solches kaufen; die Diese entwickelte sich recht gut unter der lateinische Schule „samt den praeceptoribus Leitung des Präzeptors Spieß, so daß schon und studiosis“ aber solle auch nach Lörrach 1653 ein Examen abgehalten werden konnte, verlegt werden, „welches auch sonst der stu­ „bei dem die Herren Pastores und Parentes, dierenden Jugend vieler triftlichen Ursachen so ihre Knaben bei der Rötteler Schule ha­ halber sehr gut wäre“. Dieser Rat wurde

104 erst einige Jahre später in die Tat umgesetzt. von Lehrern und Schülern genügend Spiel­ Aus dem Bericht des Lörracher Stadtpfarrers, raum ließ. In einem pädagogischen Werk von des Dekans oder sog. Spezials Weiniger, vom 1691 war die für jene Zeit umwälzende Juni 1691 wissen wir, daß das Haus Herren­ Forderung aufgestellt worden: „Man sollte straße 10 vom Kapitel erworben wurde und eher einen Schüler aus den oberen Klassen daß hier auch die Schule untergebracht zierlich teutsch als unzierlich griechisch oder wurde. Zwei Praeceptores unterrichteten in in einem abgeschmackten lateinischen Car­ zwei Klassen, von denen jede wieder in zwei mine perorieren (d. h. vortragen) lassen.“ So Curias, inferiorem et superiorem, eingeteilt ist denn auch der fortschrittliche Geist in den war. Dekan Weiniger ist voll des Lobes über Lörracher Schulstatuten zu bemerken durch die zum dritten Mal errichtete Kapitelschule; die Forderung: „Es sei die teutsche Sprache er rühmt unter anderem die „artliche Musik“, selbsten, sowohl in Prosa, als auch ligata, die hier betrieben wurde, „daß man sich d. h. in der Dichtung zu excolieren (zu pfle­ deren auch vor hohen Standespersonen nicht gen).“ Bis dann allerdings neben Latein, zu schämen hatte“, und sagt voll Stolz, daß Griechisch und Deutsch auch noch Franzö­ die Lörracher Scholares, wenn sie später aufs sisch, Mathematik, Physik, Geschichte und Gymnasium nach Durlach kämen, dort oft Geographie als sog. „galante“ Fächer ent­ gleich die oberste Klasse besuchen könnten. sprechend gepflegt und dem theologischen Es gab aber bald auch andere Stimmen, Unterricht gegenübergestellt wurden, vergin­ welche beanstandeten, die Lehrer hätten zu gen noch Jahrzehnte. Vom Rechnen heißt es viele Lehrfächer, deshalb kämen die Kinder noch in der Schulordnung von 1719 nur, es nicht recht vorwärts und lernten wohl „in könne zur gelegenen Zeit mitgenommen wer­ multis et omnihus aliquid“, jedoch „in toto den. Daß die Kinder rechnen lernten, hielt nihil“, d. h. zwar vielerlei, jedoch nichts man damals vielfach für überflüssig. gründlich. Um gegenüber dieser herben Kritik Abhilfe zu schaffen, wurde 1715 ein In den Statuten fällt uns die modernere dritter Lehrer eingesetzt „sub titulo pro- Betonung des verstandesmäßigen Lernens auf rectoris“, und damit wurde die Kapitelschule im Gegensatz zum reinen Auswendiglernen, nun zum fürstlichen Pädagogium er­ wie es an der mittelalterlichen Schule betrie­ hoben. Der Unterricht dauerte von acht bis ben wurde. Es ist der neuzeitliche Geist, wie zehn und von ein bis drei Uhr, bald auch er in der Pädagogik eines Christian Weise noch von zehn bis elf. Deutschen Unterricht und August Hermann Francke in Sachsen gab es zunächst noch nicht; allbeherrschend seinen Ausdruck findet und ein lebendiges war das Latein; Griechisch wurde nur ge­ Verständnis des Stoffes verlangt an Stelle trieben, um das neue Testament zu lesen. Die eines toten Gedächtnislernens, So gebietet Schülerzahl schwankte zwischen 16 und 24. der Markgraf: „Die Docentes unseres Die Schulstatuten des fürstlichen Pädago­ Pädagogii haben sonderlich darauf zu sehen, giums in Lörrach wurden am 18. Dezember wie sie in allen lectionibus sacris et profanis 1719 von Serenissimus persönlich in allen nicht soviel auf die Wort des Praecepten und Einzelheiten festgelegt. Sie gewähren einen auf überflüssiges Memorierungstreiben Wert vorzüglichen Einblick in den auf Gottes­ legen, als vielmehr den wahren Sinn der­ furcht und Achtung vor der Autorität ge­ selben erklären und die praktische Anwen­ gründeten Lehrgang, der neben der Vermitt­ dung dero Jugend darlegen sollen, denn da­ lung eines soliden, genau festgelegten durch sie die Sache viel besser begreifet und Wissens dennoch auch der freien Initiative wird die Urteilskraft geschärfet.“ 105 Der Landesfürst sah ganz besonders auf gehen. „Daheim oder anderswo soll der straffe Schulleitung und strenge Pflichterfül­ Schüler nichts aus der Schule schwätzen, noch lung bei Lehrern wie Schülern. Häufige In­ seine Praeceptores oder Mitschüler bei seinen spektionen und Prüfungen fanden statt; von Eltern oder Pflegern verunglimpfen oder be­ den Ferien aber meinte er: „Alldieweilen die schimpfen.“ Auch die Lehrer werden vom Ferien zu nichts anderes als dem schädlichen Markgrafen streng gemahnt, ein mäßiges und Müßiggang Anlaß geben, sollen selbige mög­ exemplarisches Leben zu führen, keinerlei lichst vermieden werden!“ Was würden Zwietracht oder Mißhelligkeiten aufkommen unsere heutigen Schüler sagen, wenn sie ver­ zu lassen. „Sie sollen“, so heißt es in den pflichtet würden, sich in den wenigen Ferien­ Lörracher Statuten, „an der dem Dozieren tagen zu Hause „still und fromm“ zu ver­ gewidmeten Zeit im geringsten nichts säu­ halten, wenn sie „kein Brot, Obst oder men, sich mit dem Glockenschlag in ihrem essend Waren“ mit in die Schule bringen Auditorio bei der Jugend einfinden, daselbst dürften und sich „des Badens in denen kalten bis zum Ende der anvertrauten Stunde per­ Wassern und all’ anderer verderblicher und sönlich verharren und durch ihre Privathaus­ dem Studieren hinderlicher Dinge“ enthalten haltungsgeschäfte und andere sich an der sollten? Der markgräfliche Landesvater Verrichtung des Schulamts durchaus nicht kannte die Schwächen der Jugend sehr wohl, hindern lassen!“ wenn er in langen Ausführungen auf die Es würde zu weit führen, an dieser Stelle moralischen Pflichten hinweist, die der Be­ die lange Reihe der Bestimmungen zu be­ such der Höheren Schule auferlegt. „Die- sprechen, die alle noch in den Statuten des weilen alle Wissenschaften bei Ermangelung Pädagogiums von 1719 enthalten sind und der Tugenden und ändern anständigen Sitten uns Aufschluß geben über interessante Ein­ ein unvollkommen Wesen und, wie es die zelheiten des pädagogischen Wirkens jener Erfahrung bezeuget, mehr schädlich als nütz­ Zeit. In der Zeitschrift „Das Markgräfler­ lich und vorträglich sind, so solle nicht weni­ land“, Jahrgang 1954, habe ich ausführlich ger die studierende Jugend mit allem Eifer darüber berichtet. Durch die Befolgung die­ zu diesem angeführet werden. Hingegen solle ser Statuten hatte nun das aus der früheren von der Jugend aller Mutwill, üppig Schwel­ Kapitelschule zu Rötteln hervorgegangene gen und andere Unmäßigkeit, auch Lügen, Lörracher Pädagogium, das seit 1697 in der Trügen und in summa alle ändern Laster, Herrenstraße 10 untergebracht war, eine das unordentlich Auslaufen in Wirtschaften neue, straffere Ordnung erhalten. Das An­ und Spielplätze, das nächtlich Schwärmen sehen der Schule festigte sich wieder, wenn­ und Johlen, Graggelen und Balgen auf den gleich ihre Aufgabe nur darin bestand, Schü­ Gassen abgewendet und die Übertreter mit ler im Alter von 10 bis 16 Jahren zum empfindlicher Straf angesehen werden.“ Der Übergang auf das Gymnasium in Durlach Landesvater ermahnt seine Schuljugend, sich resp. Karlsruhe vorzubereiten. Die Schule unflätiger Reden und Gebärden, Zoten und sollte eben nur ein Pädagogium bleiben, und Narrenpossen zu enthalten, die Mitschüler so wurde z. B. einem Prorektor ausdrücklich nicht zu schlagen, zu schmähen, ihre Kleider, untersagt, sich Gymnasiumsdirektor zu nen­ Bücher oder Schreibzeug, aber auch das nen. Sehr wechselnd war allerdings die Schulgebäude, die Klassenzimmer und die Fenster zu schonen. Ist die Schule aus, so Faksimile einer Klassenliste J. P. Hebels mit sollen sie „ohne alles Lärmen, großes Gepol­ trefflichen Beurteilungen der Schüler vom J. 1783 ter und Geräusch“ geradenwegs nach Hause (Im Besitz des Hebel-Gymnasiums'Lörrach). 106 ßiynaXlb cüjUpLUo+utn .

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Hoan. ItZr. fiebtt. %cnr. Schülerzahl, die zeitenweise so gering war, gar der bis dahin verpönte Turnunterricht daß der Prorektor sogar aufgefordert wurde, eingeführt wurde. Das Pädagogium hatte in in die nahe Schweiz zu reisen, um dort wei­ seinem Bestand sehr unter den Nöten der tere Schüler zu gewinnen. Die ständigen Revolutions- und Koalitionskriege zu leiden Kriegswirren waren für den Schulbesuch sehr bei den wiederholten Durchzügen verschie­ hinderlich; so zählte das Pädagogium im dener Truppenteile und den damit verbun­ Jahr 1737 noch ganze neun Schüler und war denen Einquartierungen. 1797 war der Saal am Eingehen. Nach diesem Tiefstand blühte der Schule, das Auditorium, mit Soldaten die Schule aber doch bald wieder auf, so daß belegt; oft konnten auswärtige Schüler den im Jahr 1759, als das alte Kapitelhaus sich Unterricht nicht besuchen, weil französische als zu klein erwies, das Gebäude der Tabak­ Vorposten sie nicht passieren ließen. Das manufaktur erworben und bis 1761 zum Schulhaus wurde vielfach beschädigt. 1807 Schulhaus ausgebaut wurde. Im unteren hatte das Pädagogium wieder ungefähr die­ Stock wurden vier Lehrerwohnungen ein­ selbe Schülerzahl wie zu Hebels Zeiten. Im gerichtet, im zweiten Stock vier Klassenzim­ Jahr 1790 hatte Hebel an seine Vorgesetzte mer und ein sog. Auditorium, die Aula. In Behörde Reformpläne eingereicht, die darauf diesem Hause lehrte seit dem 17. Mai 1783 abzielten — wie er schrieb — „den Unter­ der 23jährige Präzeptoratsvikar Johann richt für die nicht studierenden jungen Leute Peter Hebel. Der Dichter bewohnte wahr­ ertragreicher zu gestalten, ohne die studie­ scheinlich im zweiten Stock das Zimmer am renden zu verkürzen oder aufzuhalten“. Sie südlichen Ende des Flurs. Er wurde der zeigen uns, daß der Dreißigjährige klare und Lehrer der zweiten Klasse und gab außer wohl begründete pädagogische Anschauun­ Religion 12 Wochenstunden Latein, 2 Stun­ gen hatte, denen er zeitlebens treu geblieben den Geschichte, 2 Geometrie und eine Wo­ ist. Was Hebel damals mit seinen Vorschlä­ chenstunde Deutsch. Hebel lebte in Lörrach gen hatte anbahnen wollen, erwuchs jetzt in bis zum Herbst 1791. Am 13. November anderer Form im Jahr 1839 durch die Er­ verabschiedete er sich von der Lörracher Ge­ richtung der Bürgerschule, einer Oberstufe meinde und von seinen Schülern, um sein der Volksschule, die nicht wissenschaftlichen neues Amt am Karlsruher Gymnasium an­ Zwecken dienen sollte. zutreten. In diesen Jahren von 1783 bis 1791 1854 wurde das außen und innen schad­ schwankte die Zahl der Schüler zwischen 34 hafte Schulhaus für 2000 Gulden instand­ und 60, „welche Zahl“, wie es in einem gesetzt. Die Schülerzahl betrug damals 115, Bericht des Kapitels vom 6. April 1790 heißt, für eine fünfklassige Schule in jener Zeit „doch sichtbar für vier Lehrer sehr gering recht viel. Im Jahr 1871 wurde die Bürger­ ist“. Und im Jahr darauf heißt es in einem schule in ein sechsklassiges Real­ weiteren Bericht, „daß die vier Lehrer sehr gymnasium umgewandelt, in dem das erleichtert seiend und ein ruhiges Leben füh­ Latein beibehalten wurde. Daneben bestand ren können“. das Pädagogium noch weiter mit griechischem Bis zum Jahr 1839 behielt das Lörracher Anfangsunterricht. Es trat jetzt zum ersten Pädagogium auf Grund der Statuten von Mal der Fall ein, daß der Leiter der Schule, 1719 ungefähr dasselbe Lehrziel und den­ Direktor Eisen, kein Geistlicher war, son­ selben Lehrplan bei. Dann allerdings be­ dern ein klassischer Philologe. Vorher schon ginnt ein neuer Abschnitt in der Entwicklung waren öfters Laien als Professoren für alte der Schule, als sie sich eine sogenannte Sprachen und Mathematik ernannt worden. Bürgerschule angliedert und so­ Die einstige Kapitelschule, die aus geistlichem 108 Stiftungsvermögen unterhalten wurde und gymnasium erhob, dem dann nach von Geistlichen geleitet worden war, war Überwindung verschiedener Schwierigkeiten somit verstaatlicht. In dieser Zeit der histo­ 1 8 8 3 auch noch die Unter- und die Ober­ risch-intellektuellen Erziehung empfand man prima angeschlossen wurden. So hatte sich in Lörrach den Mangel, daß man im ganzen denn die ehrwürdige Markgräfler Kapitel­ Hochrheingebiet zwischen Konstanz und schule über das Pädagogium hinweg zur Freiburg nirgends eine Schule hatte, die zur Vollanstalt des humanistischen Hochschulbildung führte, immer bitterer. Gymnasiums entwickelt, das im 100. Endlich erreichte man im Jahr 18 8 1, daß Todesjahr Hebels die Auszeichnung erhielt, der Landesherr das Pädagogium zu seinen Namen tragen zu dürfen. Seit 1926 einem s i e b e n k 1 a s s i g e n Pro­ ist es das Hebel-Gymnasium.

Der Bettler oon J. P. H e b e l mit hochöeutfcher Übertragung oon R. G ä n g

6n alte Ma, en arme Ma, Ein alter Mann, ein armer Mann er fpricht ich um e Wohltat a. fpricht euch um eine Wohltat an; E Stüchli Brot ab euem Tifch; oon eurem Tifch ein Stilchlein Brot roenn’e eue guete Willen lieh! mit milöer Hanö für meine Not, He jo, öur Gotts Wille. ach ja, öurch Gottes Willen.

In Sturm unö Wetter, arm unö bloß, Geboren bin ich arm unö bloß, gibore bin i uf öer Stroß, Gehleiöet nur mit Hemö unö Hos’ unö uf öer Stroß in Sturm unö W inö bin auf öer Straß in Sturm unö W inö erzöge arm, e Bettelchinö. erzogen arm als ßetteihinö. Druf rooni chräftlg rooröe bin, Unö als ich ausgeroachfen schier, unö ö’ eitere finö gftorbe gli, öa ftarben beiöe Eltern mir. fe hani öenht: Salöatetoö Da öaehte ich Solöatentoö.

Aua ötm neuen Rehlambänöchen Joh. Peter Hebel, Alemannlfche Gedichte mit hochöeutfcher Uberfetzung oon Richard Gäng. Stuttgart 1060 Kart. 1,30 DM, Lmö. 3,50 DM

109 Wo der Dengle-Oeist in mitternächtige Stunde . Zeichg. Glattacker Zeichg A. Glattacker

Das Wiesental zur Zeit J. P. Hebels

Von Karl Seith. Schopfheim Einen besseren Begleiter durchs Wiesental herwärts das Wiesental vom jenseits sich zu Hebels Zeiten kann man sich nicht wün­ bildenden Albtal trennt. schen als seine Gedichte, vorab jenes, das „Feldbergs liebliche Tochter“ mit Leben er­ Alsbald vereinen sich die unaufhörlich rin­ füllt und sie mit Lob und Preis schmückend nenden kleinen Wasser zum jungen Bach, bekränzt. der nach kurzer Freude des Beisammenseins seinen wilden übermütigen Lauf beginnt, Droben an der Quelle der Wiese am „Zei­ über Felsen hinüber und an Blöcken vorbei­ ger“, wo die Rinnsale vom Haupt des Feld­ schießt, sich durch Engen hindurchzwängt bergs das kurze Gras netzen, rieselt das ver­ und schäumend und rauschend bald links, borgene Wasser hinunter zum Scheitel, der bald rechts hinunter durch die Schlucht ins 111 enge Tal jagt. Ehedem klopfte der Schlägel Als besser! — Dort bei St. Blasien. — Aus des Bergmanns auf Silberadern in den Stol­ dem Kloster? — Nein, von Schönau. — Aus len. In der „Poche“, weiter talab, wurde das dem Städtlein? — Nein, von Todtnau! — Erzgestein zerkleinert und in Hütten ge­ O du Lichtbube des Proteus, hätt ich ihn schmolzen. Die Todtnauer Münze galt etwas mögen umarmen. „Was lebt der Hansjerg in im Umkreis am Oberrhein. Flußspatstollen , und der Klingeli, und gelt, bei haben den Silberbergbau abgelöst. Kein der Capelle herwärts Castel ists schön, und wimmelndes Menschengedränge störte die sind die Felsen noch nicht bald durchge­ heilige Ruhe der hohen Berge, der Weiden kniet?“ — „Die armen reisenden Herrschaf­ und Wälder, wo der Dengelegeist sich zur ten bekommen einen gewissen weltbürger­ Erde begibt, seine goldene Sense dengelt, lichen Sinn und lernen geschwind das nil mit den Sonntagskindern freundlich und admirari (gibt nichts zu bewundern). Wir gütig redet, ihre Fragen mit liebreicher Ge­ Angewurzelten bringens nicht so weit!“ duld beantwortet und sie mit guter Lehre Noch Jahrzehnte nach seinem Scheiden aus entläßt. dem Oberland steht aus seiner Jugendzeit „B’halt di Gwisse rein, ’s goht über Bsibne das Talbild so lebendig in der sandigen un Bsegne“!1) H ardt. Über Brandenberg eilt der kleine klare In Todtnau gesellt sich der Stübenbach Fluß Todtnau zu, dem lieblichen Waldstädt­ dazu, der von Todtnauberg her fast 100 m chen, wo noch nicht Haus an Haus gebaut, hinabstürzt und danach seine schießende das noch nicht mit geraden Straßen durch­ Kraft verliert. Aber er eilt der Feldbergs­ schnitten ist. Aber Holzhäuser, mit Schin­ tochter zu, und nun geht es vereint und deln verschalt und gedeckt, sitzen an geeig­ immer neue Bäche und Bächlein aufnehmend, neten Plätzen und Halden und suchen die bald links, bald rechts die Hände reichend, Sonne. Die alte Gletscherlandschaft schreibt vor nach Utzenfeld und Geschwend. Hier zwingend ihr Gesetz in das Schaffen der zweigt die Straße ab, die über Präg und die Menschen. Wacht nach St. Blasien führt, wo Abt Ger- Der Silberbergbau lockt sie nicht mehr wie bert als weiser Regent für das gemeine Wohl einst. Der Wald ist in die Wohnungen der wirkt und mit dem Markgrafen Karl Fried­ Menschen gekommen und bietet sich als rich in Karlsruhe in freundschaftlichem Helfer an: sie stellen Bürsten her, und alle Briefwechsel steht. In die stille Einsamkeit Glieder der Familie sind als Helfer ange­ der ehemaligen Albzelle fuhr Prorektor spannt und jeder ist eifrig mit seiner Teil­ Günttert mit seiner Familie und dem Haus­ aufgabe beschäftigt. Kräftige Burschen neh­ freund Hebel im Jagdwagen hinüber. Viel­ men die Fertigware auf ihren Rücken, be­ leicht sahen sie dort noch die Reste der alten hängen mit ihr auch die Schultern und gehen Verschanzungen, Reste von Baum- und Ast­ ins Land hinaus, um zu hausieren. In Karls­ verhauen, die die Waldbauern gegen feind­ ruhe ist’s, wo Hebel einem hübschen Bur­ liche Einfälle errichtet hatten. Aber das schen auf der Straße begegnet, der mit viel wurde nicht bewußt wahrgenommen, auch Schuhbürsten, Holzgeschirr und schwarzem nicht die Bedeutung des „Dürrenacker“ vor Zundel daherkommt. Sofort nimmt er ihn Geschwend, dem Tagungsort der Lands­ ins Gespräch: „Woher des Lands, und von gemeinde des vorderen und hinteren Tales. wannen seid Ihr? — Abbem Schwarzwald! Anders aber hier: Bei Schönenbuchen steht — Nicht genug, gebts besser! — Dort hin­ die Petruskapelle. In der Gruft ist ein mäch­ ten, hinter Freiburg. — Noch nicht genug. tiger gerundeter Steinblock zu sehen mit 112 Vertiefungen in Form eines klobigen Fußes schlagen. Zuzeiten durchdringt der dumpfe — Spur des Teufels aus vergeblicher Jagd Aufschrei eines gefällten Baumriesen den nach den Seelen von Menschen. Aber seine geruhsamen Frieden des Tales. Macht ist vor Kreuz und Rosenkranz ge­ Kapellen und Feldkreuze stehen bei Ge­ brochen, er stampft in ohnmächtiger Wut höften, an Wegen und Weggabeln und kün­ und fährt ohne Beute von dannen. Diese den frommen Sinn und andächtiges Bemü­ Überlieferung ist auch Hebel bekannt ge­ hen um den Segen des Gekreuzigten. An worden; daher fragt er den Bürstenhändler, sonnigen Halden blüht gelb der Lewatt, ob der Stein noch nicht durchgekniet sei, Riemen an Riemen, denn große Flächen gibt denn die Gläubigen verrichten dort knieend der Hang nicht frei. Die Kartoffel ist noch ihre Gebete, um vor den Anschlägen des fremd, allein der Hafer gedeiht auf dem Teufels bewahrt zu werden. Doch nichts er­ kargen Boden. wähnt er von dem mächtigen, 7 m langen und lVäm hohen Bild, einem Ölgemälde an „ ’s Habermues wär ferig, so chöm- der Seitenwand, das die wunderbare Rettung met, ihr Chinder, un esset! — Gsait der Talbauern in der Sicht auf die ursprüng­ het der Ätti der Haber un abegeget liche Kirche von Schönau vor einem starken im Früeihjohr, un der himmlisch Vat- Trupp der Armagnaken — der „Kehlen- ter het gsait: Jetz chasch wieder snyder“ — im Jahr 1444 darstellt und zu haimgoh, aß es wachst un zyttig wird, F-hren des Gottesschutzes der Kapelle ge­ für seil will i sorge!“ weiht wurde. Schon hat der stattliche Bach die Talwei­ Flier, in der schönen Aue rinnen von allen tung von Marnbach erreicht, wo der Weg Seiten starke Bäche und Rinnsale zusammen, nach St. Antöni abzweigt und den Wall­ die zu gewissen Zeiten zu zerstörerischer fahrtsweg nach Todtmoos freigibt. Überall Verwüstungskraft anschwellen. Die Wiese suchen Schafherden an Wegrändern und ab­ wird wasserreich. Runde FFöcker mit Glet­ gegrasten Weiden nach Futter. In gewun­ scherschliffen unter der Grasnarbe und denem Lauf tritt Feldbergs liebliche Tochter Gletschermühlen als Erinnerung an die Eis­ aus dem engen Tal, jetzt ein stattliches Ge­ zeit finden sich in ihrem Bett oder sind im wässer geworden, läßt bei Zell die 1000 m- Schutt des hohen Ufers versteckt. Der Weg Häupter der Hohen Möhr und des Zeller führte damals rechts des Flusses über den Blauen hinter sich, man sieht aber nicht die Stich am Kastei, während die Wiese tief in Schanzen und Gräben auf den Berglehnen der Schlucht bis Marnbach dahinbraust. und vorgeschobenen Köpfen, die heute Oben auf den Talschultern liegen die Sie­ meist im aufgeforsteten Wald verborgen, delungen der Bergbauern, ein kleiner Dorf­ aber am Blauen noch, wie je, im Weidfeld kern ist vorhanden, am Rande lockert sich zu sehen sind. die Reihe und gibt Einzelhöfen Raum. Die Verlassen sind die Talvogteien und die Felder schließen sich nach oben an, über Fröhnd, hinter ihr liegt der Schönauische ihnen dehnen sich die Weiden mit gewohn­ Herrschaftsteil Zell der Freiherren von ten Brunnen und mächtigen Buchen zur Schönau-Wehr, und nun kommt die Wiese Ruhe im Wiederkäuen des Weidviehs. Der zur Grenze. Da steht knapp über der Straße First der Bergzüge ist überwölbt von dich­ das Kreuz und ehemals der Galgen als ten Waldungen. Die Jauchzer der Hirten­ Zeichen der Gerichtshoheit eines anderen buben geben einander Antwort; aus dem Herrn, des baden-durlachischen Markgrafen, nahen Wald ertönen die Axtschläge der — altes badisch-hochbergisch-sausenbergisches Holzhauer, die ihre Klaffen in die Stämme Land. Blutsverwandtschaft über die Grenze

8 Badische Heimat 1960 113 Feldbergs lieblige Tochter, o Wiese, bis mer Gottwilche! Zeichg. A. Glattacker hinüber besteht nicht mehr, auch die Mund­ wachsenden Knaben, wo er auf den Schemel art ist anders (das helle „a“ bezeugt es), das stieg und seiner jugendlichen Gemeinde, die kirchliche Bekenntnis hat sich gewandelt, mit dem Gesangbuch zur Predigt gekommen und die Romkirche hat der Reformation war, Gottes Wort auslegte, wie es der Pfar­ Martin Luthers nach dem Willen des Mark­ rer in der Kirche tat. grafen Karls II. und der Zustimmung der Aber der Kreis seiner Jugend weitete sich Untertanen Platz gemacht. Auch die Tracht mehr und mehr. Droben am Maiberg, wo der Mädchen und Frauen ist anders gewor­ es nach Enkenstein und ins Tal der Kleinen den — die Flügelhaube, die noch gebunden Wiese geht, am Alzebühl und Plaßberg am wird, ist der Heimatschein der Mark­ Hang der Hohen Möhr, auf dem Rümmelis- gräflerin. bühl bei Gresgen, wo es Beeren zu suchen Nicht mehr zwischen hohen, nahegerück­ gab und das schöne Land zu schauen war, ten Bergen sucht das hurtige Gewässer seinen der Belchen und der walddunkle Köhl­ Weg; jetzt, wo die niedrig gewordenen garten und ihre Täler — da war er daheim. Höhenzüge ein breites Tal umsäumen, hat Die Heimat wuchs ihm zu, und er nahm sie der wasserreiche Fluß die Wahl des Bettes. ans Herz und ins Gemüt. Von der tannen- In zahlreichen Armen, durchsetzt mit Grie­ dunkeln Möhr herab kommt er mit dem nen und Werten, bestanden mit Weiden und Strauß seiner Alemannischen Gedichte, ent­ Erlen, zieht er dahin, aber er wird zur Zeit standen aus dem teuersten Gefühl seiner der Schneeschmelze oder langandauernden Heimatseligkeit, die ihn ins Dorf hinunter Regengüssen zum Wildwasser und wirft im blicken ließ, wo ihm Freunde wohnten und Überschwang seiner Kraft Kies und Wacken­ manche ihm blutsverwandt waren, wo die steine und Sand auf naheliegende Matten, alte Linde beim Schmelzofen stand und das reißt Gelände ab, zerstört auch Wehre und junge Volk mit den Alten sich am Sonntag­ Stege und beschädigt Brücken so gründlich, nachmittag versammelte. Mit dem eifrigen daß wochenlang an ihrer Wiederherstellung und sorgfältigen Arbeiten im Schmelzwerk gearbeitet werden muß. war er wohl vertraut, hat er doch manche Hausen ist Hebels Heimat, obwohl er in Stunde Holzkohlen getragen und Steine zer­ Basel geboren ist. Zwar liebt er auch die klopft, um der Mutter einen kleinen Ver­ große Stadt am Bogen des Rheins, den dienst heimzubringen. Vom Geist der Dank­ Petersplatz, das St. Johannistor, die Aus­ barkeit der Bergleute gegen den Inspektor sicht vom Haus am Totentanz nach Weil, Herbster und von der Verehrung des Mark­ dem Ort seines Herzens und seiner Liebe. grafen war er Zeuge gewesen. Auf dem Gottesacker in Hausen liegen ihm Vater und das kleine Schwesterchen Susanna. „Es leb der Marggrof un si Huus!“ Die Mutter ist ihm geblieben. Der muntere „Ziehnt d’Chappen ab un trinket uus! Knabe war ihr Glück, seine Erziehung ihre Ne bessere Her treit d’Erde nit, Aufgabe und ihre Verantwortung. Ihre Ge­ ’s isch Sege, was er tuet un git, fühlsäußerungen blieben in den Grenzen der i cha’s nit sage, wieni sott: herkömmlichen Schlichtheit und bedurften Vergelts em Gott! Vergelts em Gott!“ keiner großen Worte, doch die Zucht stand Im „verhängten“ Wald — sein Betreten in ihrem Herzen und in ihrer Hand. Und war zur Schonung des jungen Aufwuchses das war nötig; denn Hanspeter war nasch­ verboten — und mit den Wässerungswiesen haft — für manchen harten Taler hat er mit ihren Gräben und Stellfallen wußte er Zuckerwerk „gefressen“. Die Laube des wohl Bescheid. Der Bammert (Feldhüter) 2 Stockes sah die Gemütstiefe des heran­ war sein Freund nicht, desto mehr die Nach- 115 Ckömmet ihr ordligi Thierli, do hender, esset und trinket! Zeichg. Glattacker barn seines Heimathauses, der Schmied, der Er spürt im sanften Hauch das Weben und ihn mit seinem Hämmern am frühen Mor­ Wesen der Oreaden und Najaden, der gen zum Gang in die Schule weckte, und der Wald- und Wasserelfen, ergötzt sich am Metzger. Zusammenfluß der Kleinen mit der Großen Zwischen Hausen und Schopfheim schlägt Wiese in der „Müschelen“, wo die Reiher ihm das Herz der Heimat am höchsten. Hier stehen, sehr zur Unlust des Fischermeisters findet er seinen Schulkameraden und Weg­ Schanzlin von Maulburg. genossen Bartlin Clais, den Sohn des Fahrn- „Chennsch dy Schwesterli nit? ’s chunnt auer Lehrers, den Zeugen und Teilnehmer z’allernöchst vo Wieslet, manchen Bubenstreiches. Er kennt die Obst­ Uf un nieder het’s dy Gang un dini bäume mit den frühesten Früchten, er hat Giberde. seine Freude und sein Staunen am Spiel des Joo, de chennsch’s, worum denn nit? Mit Wassers in den Gräben und am Gesträuch, freudigem Bruusche unter dem die Fische im ruhigen Wasser Nimmsch’s in d’Arm un losch’s nit goh; stehen, aber auch an den Steilfallen, die das gib Achtig, verdruck’s nit!“ schnelle Wasser hemmen oder frei laufen Er schaut das Leben am Wachthäuschen lassen und die man verstellen kann, so daß vor dem Grabentor, wo die Vaganten, die der Bauer, der nur an bestimmten Tagen Handwerksburschen, die Bettler und Kollek- und zu festgesetzten Stunden seine Wiesen tanden2), die blessierten und abgedankten wässern darf, ärgerliche Suche nach dem Soldaten, die Kranken und Elenden der Schuldigen unternimmt, der sich aber ins Landstraße ankehren, vom Torwart zu­ Fäustchen lacht oder den Bammert hänselt, nächst mit Brot gespeist werden, dann war­ der wohl den Freund erwischt hat, aber ten müssen, bis sie am Abend der Wächter dem Hebelbuben über den schwachen Baum­ dem Spitalwart zur Atzung mit Suppe über­ steg sich nicht zu folgen getraut. Die Wei­ gibt, zur Aufnahme der Kranken, die der den und Haselhürste schenken ihm die Chirurg Stupfer am ändern Morgen besucht fitzenden Gerten. und sie in Kur nimmt. Die ändern aber wer­ In Schopfheim besucht er bei Diakonus den am kommenden Tag vom Spitalwart Karl Friedrich Obermüller die Lateinschule, eine Strecke Wegs geleitet, wo er sie in die daneben aber noch die Hausener Volks­ Richtung zum nächsten Spital anweist, hin­ schule bei dem Schulmeister Andreas Grether auf zu den Waldstädten. Ganz in der Nähe für die weltlichen Fächer. Erst nach dem steht das Kornhaus mit dem Salzmagazin, Tode der Mutter, als ihn Obermüller in wo die Bauern des Kirchspiels das Getreide sein Haus und in seine Familie aufnimmt, abliefern oder Saatgut kaufen können, wo findet er bei Präzeptor Zilly den zusätz­ lichen Unterricht. Das Städtchen mit seinem die Salzpächter von den Krämern aus wei­ Leben und Treiben öffnet sich dem aufmerk­ tem Umkreis aufgesucht werden, da die samen und gut beobachtenden Knaben. Mit Stadt das Salzmonopol hat. Er sieht die seinen Kameraden von der Lateinschule ver­ Mühle „zwischen den Gräben“, die Stadt­ gnügt er sich an der Wiese mit dem Werfen mühle, kennt aber auch die Hammer-, die der Kieselsteine, die hüpfend den Wasser­ Au-, die Vorstadtmühle und die in Günden- spiegel streifen, steigt durch den nahen Wald hausen, ergötzt sich an den mehlbestaubten des Entegast, den der letzte Herr von Rot­ Müllern und Müllerburschen, sieht das Auf- teln, der Domherr Lütold, i. J. 1314 den und Abladen von Dinkelkorn und Mehl; in Bürgern der Stadt geschenkt hat, „damit sie seinen Ohren rauscht das Schwirren der desto lieber wohnen und bleiben möchten“. Tauben, die trippelnd das Korn im Hofe 117 Zue de Schöne Buechen un hört e heiligi Mess a Zeichg. Glattacker auflesen und die Hühnerschar, die gravi­ dörfern Langenau, Gündenhausen und Ei­ tätisch ihren Tribut einheimst. Talabwärts chen, und aus den Bergdörfern Wiechs, steht vor den Mauern der Drahtzug, in dem Kürnberg, Raitbach und Schweigmatt, wo das Eisen des Hausener Schmelzwerks ver­ bereits Schulmeister amtieren und der Stadt­ arbeitet wird; er vernimmt auch das Pochen pfarrer die Schulprüfungen abnimmt, in der der Hammerschmiede, die oben am Wuhr steht, Lateinschule aber der Herr Special (Dekan). vielfach Not am Holz leidet und es sich aus Mit Wecken werden die Schüler für ihren dem hinteren Tal beschaffen muß, denn das Fleiß belohnt. Mit Freude und Lust lauscht einheimische Holz, vor allem das aus den der junge Kirchgänger dem Orgelspiel des großen Waldungen von Gersbach, ist allein Präzeptors Zilly, der beim Eintritt des für den Schmelzofen in Hausen bestimmt, Stadtpfarrers Specht beginnt, die Orgel zu dessen Eisen dem schwedischen gleichkommt. „schlagen“, und bald lauter, bald leiser Regi­ Noch heute sind unsere Waldungen zu Hun­ ster zum Tönen bringt. Wenn er aber die derten und Tausenden mit alten Kohl­ Vox humana, die „Menschenstimme“ zieht, plätzen übersät. da singt das Herz des Knaben mit. Früh Mit den Mahlmühlen suchen auch die Öl­ läutet die Glocke den Morgen ein und das mühlen und Lohstampfen, die Hanfbrechen Tagwerk beginnt. Läden, Türen und Tore und Sägewerke das Wasser, wie auch die öffnen sich, und die Leute begeben sich nach Färber und Gerber, ebenso die Badstube auf dem Morgenmahl an die Arbeit. Das Getöne der Au; Nagelschmiede sind hier, auch Ring- geht mit ihm nach der Residenz und er hört und Kettenschmiede, Hafner, Seiler und sie beide. Wagner, Schreiner, Maurer und Zimmer­ „Süeß dönt d’Schopfemer Glocke, wenn leute, und sie haben alle viel zu tun, denn es früeih der Morgen in d’Nacht luegt, gibt nach den vorangegangenen Kriegszeiten Süeß dönt d’Menschenstimm wohl in der noch allerhand zu flicken und auszubessern, Schopfemer Orgle.“ nicht nur für die Stadt mit ihren eigenen Mit leichten Wagen waren die weitentfernt Häusern, sondern auch für die Nöte der wohnenden Kirchspielszugehörigen in die Bürger. Er erlebt auch viermal im Jahre die Höfe der zahlreichen Wirtshäuser eingefah­ hohen Tage der gefreiten Jahrmärkte an ren, wo die Kirchgänger mit raschen Tritten Fasnacht, an Pfingsten, zu Michaeli und zu und eilenden Schritten dem Gefährt ent­ St. Luziae, dem „Kalten Markt“. Da kom­ stiegen. Drinnen füllten sie das Schiff und men sie, die Krämer von weither, von Lo­ die doppelten Emporen; Kopf an Kopf carno und St. Gallen, aus Savoyen südlich saßen sie, und mächtig hallte ihr Gesang des Monte Rosa, dem „Augstal“, die Steier­ durch den verbauten Raum der Michaels­ märker, die Elsässer, die von Staufen und kirche. In den Scheitel des schönen Netz­ aus dem Rheinfelder Amt. Statthalter und gewölbes hatte Markgraf Rudolf IV. sein Räte sind da, um Streitigkeiten am Preis zu schlichten; der Waibel hat die Standgelder Wappen mit dem neuenburgischen Pfahl ge­ eingenommen, um die Summe dem Stadt­ setzt. Dicht daneben weist der rotgewandete rechner auszuhändigen, der ihm davon seinen blondgelochte Jüngling St. Michael den festgesetzten Betrag zuweist. Draußen auf schwarzen Antichrist mit geschwungenem den Dörfern wird der Schopfheimer Jahr­ Schwert zur Hölle. Demütig blicht das Ant­ markt mit Tanz und Musik weitergeführt. litz des Baumeisters unter einer Konsole auf An den Sonntagen erlebt der Knabe das die Gemeinde seines Gotteshauses. Hoch im Hereinströmen der Männer und Frauen aus Triumphbogen hängt das Kreuz mit dem dem weitgespannten Kirchspiel, aus den Tal­ Erlöser, der seinen Sieg erstritten hat, ein 119 Kunstwerk, von Chirurg Stupfer und seinen wohlbekannt und beliebt ist, eilen die Buben beiden Söhnen gestiftet. Eindringlich tröstet hinauf an den Berg, wo die Böller krachen es die Gemeinde: „Gottes Gnad und Christi und der ehrwürdige „Hurlibaus“, das alte Blut machen allen Schaden gut.“ Nach be­ Falkonettlein, seine Ladung mit erschröck- endetem Gottesdienst wandten sich die lichem Donnern hinausjagt. Später, als Hebel Frauen zu Einkäufen in die Kramläden unter in Karlsruhe wieder einmal einen jener dem Grabentor, die Männer strebten den napoleonischen Friedensschlüsse erlebt, deren Wirtsstuben zu, wo sich die Wohlbekannten jeder den langen Frieden bringen sollte, rät aus der weiten Kirchhöri herzlich begrüßten er dazu, den Hurlibaus zu vernageln und und allerhand aus Wirtschaft und Familie ihn in den ewigen Ruhestand zu versetzen. zu berichten wußten. Er hatte die kleine Stadtkanone nicht ver­ Draußen, auf den Matten längs der Wiese gessen. betrieb die Bleichgesellschaft ihr Wesen. Die Steigt er aber an einem schönen Frühlings­ Fabriken von Mülhausen und Basel brachten tag auf den Entegast, dahin, wo heute das mit Fuhrwerken ihre Ballen Baumwoll- „Bajerhüttli“ steht, da breitet sich vor ihm gewebe hierher, um sie bleichen zu lassen. das mattengrüne Tal gegen Höllstein und Dazu kam inländisches Leinentuch von den Steinen aus, voller Gras, Blumen und glit­ Sammelstellen in Lörrach und Kandern. Das zernden kleinen Wasserläufen, voll Vogel­ Wasser der Wiese war kalkfrei und griff gezwitscher und lachender Sonne. Keine Fa­ deshalb das Gewebe nicht an, brachte es aber briken stehen störend im Tal; die Dörfer durch viel Begießen zu frischem gefälligem sind alle gegen die Berghänge ausgewichen, Weiß. um vor den Hochwassern sicher zu sein. „Stoht e Mühli näume, en öli oder e Riibi, Noch durchschneidet kein Schienenstrang den Drohtzug oder Gerstestampfi, Sägen un grünen Plan. Die Erinnerung an die selige [Schmidte, Empfindung der Natur- und Gottesnähe ver­ lengsch mit biegsemen Arme, mit gelenkseme läßt ihn sein Leben nimmer, und wir ver­ [Fingere dure, stehen, wenn er seinem Freund, dem Schopf- hilfsch im Müller mahlen un hilfsch de Maid- heimer Stadtpfarrer Hitzig, dem „Zenoides“ [lene riibe, des belchischen Proteuserbundes, die Herr­ spinnsch mer ’s Huusemer Iise wie Hanf in lichkeit der Landschaft vor Augen stellt: [gschmaidigi Fäde, „O wie schön muß es jetzt bei euch sein, eicheni Plütschi3) versägsch, un wandlet ’s Zenoides, wo es immer so schön ist, und wie [Iise vom Füürherd ahndungs- und kosselig für den auswendigen ui en Amboß, lüpfsch de Schmiede freudig und inwendigen Menschen in dem schönen [der Hammer, einzigen Tal voll Schmehlen und Ketten­ singsch derzue un gehrsch ke Dank: „Gott blumen, lustigen Bächlein und Sommer­ [grüeß ich! Gott bhüet ich!“ vögeln, wo es immer duftet wie aus einem Un isch näumen e Blaichi, so lösch di au das unsichtbaren Tempel herausgeweht, und im­ [nit verdrieße, mer tönt wie letzte Klänge ausgelüttener chuuchisch e bizzeli duren un hilfsch der Festtagsglocken, mit beginnenden Präludien [Sunne no blaiche, mengeliert und verschmolzen, und wo jeder aß sie feerig wird: sie isch gar grüüseli land- Vogel oberländisch pfeift und jeder, selbst [sem!“4) der schlechteste Spatz, ein Pfarrer und hei­ Aber am Karlstag im Winter, dem Na­ liger Evangelist ist und jeder Sommervogel menstag des Markgrafen Karl Friedrich, der ein gemutztes Chorbüblein, und das Weih­ durch mehrfache Besuche den Schopfheimern wasser tröpfelt unaufhörlich und glitzert an 120 Jo, de bisch jo hübsch, un jo, du Närrli, mer luege Zeichg. Glattacker

121 jedem Halm.“ „Dort schwelgen die Pfarrers­ zur Pfarrkirche im alten Kloster des Kirch­ leute in eitel Herrlichkeit, aber Hebel fühlt spiels Weitenau. Hier amtiert Pfarrer Ober­ sich immer noch als Fremdling in der Resi­ müller, der Lehrer seiner Jugend in der denz, trägt ein mutterndes und bruttelndes Lateinschule. Hebel besucht ihn und hört die Heimweh in sich „und möchte weinen, so Sage von der Häfnetjungfer, die im Häfnet- oft er den ärmsten Teufel in der Welt, einen brunnen wohnt; am Häfnetberg mußte der Oberländer Rekruten sieht“. Herr Vikarius vorbei. Weiter geht der Weg, Aus dieser Erinnerung heraus erklingt im an der Hauinger Kirche vorüber, wo die „Abendstern“ das hohe Lob des einzigen Eltern getraut worden waren von Pfarrer Tales: Friesenegger, der vorher in Hausen seines „Er seit: ,0 Muetter, lueg doch au! Amtes waltete. Die Mutter wird dort zu­ do unte glänzt’s im Morgetau weilen auf dem Weg nach oder von Basel so schön wie in dym Himmelssaal!“ angekehrt haben; ihr Büblein hatte einst eine ,He“, seit si, ,drum isch ’s Wiesetal.““ schöne Erklärung vom Pfarrerssohn Chri­ Die „Vergänglichkeit“ hat ihren Schau­ stoph erhalten, daß beim Spinnennetz jeder platz nicht weit davon entfernt. Noch auf Faden zusammengelegt sei. Hausener Boden steht der „Rümmelisbühl“ Gegenüber liegt die Wiesenbrücke bei mit seiner wunderbaren Fernsicht. Wenn die Brombach. Dort mag’s dem Manne schwer Welt im Untergang des jüngsten Tages auf dem Gemüt gelegen haben: der Tod der brennt und alles Menschenwerk untergegan­ Mutter, die im Wagen des Fuhrmanns starb, gen ist, sieht der Dichter die Ruinen der als sie auf dem Heimweg nach Hausen war. heimatlichen Landschaft: Wie sie erblaßte und ihren Geist aufgab, hat „Der Belche stoht vercholt, der Knabe erlebt, vergessen und wieder ge­ der Blaue au, as wie zwee alti Dürn wonnen im Gedenken an den Tag seiner un zwüsche din isch alles usebrennt Geburt. bis dief in Boden abe. D’Wiese Weiter vorn steht auf dem Berg die Ruine het kei Wasser meh; ’s isch alles öd un des Röttler Schlosses, bei Nacht ein bedrük- [schwarz kender Anblick — ein Zeichen der Vergäng­ un totestill, so wyt me luegt. Das sihsch lichkeit. Unten, etwas vorgerückt, liegt das un saisch dym Kamerad, wo mit der goht: Dorf Rötteln mit seiner Festungskirche; ,Lueg, dort isch d’Erde gsi, un seile Berg hinter der Eingangspforte und hinter der het Belche g’heiße! Nit gar wyt dervo Türe zur alten Sakristei liegen in gemauerten isch Wieslet gsi; dort hani au scho g’lebt Röhren noch die eichenen Balken, um die un Stiere g’wettet, Holz go Basel g’füehrt Türen zu verrammeln, Zeichen der Kriegs­ un broochet, Matte g’raust5) un Liechtspöh zeiten, die das Dorf mitgemacht hat bis zum [g’macht Brand i. J. 1678. In der Grabkapelle sind die un g’vätterlet6) bis an my selig End Grüfte der Markgrafen von Hochberg- un möcht jetzt nümme hi.‘“ Sausenberg und zweier ihrer Frauen. Rudolf Ja, dort hat er, vom Belchen durch das III. und seine 2. Gemahlin, Gräfin Anna Kleine Wiesental herabeilend, beim Bläsi- von Freiburg, ruhen da, von der Kunst des schaffner Tscherter in Wieslet eingekehrt und Steinmetzen meisterhaft gestaltet. Auch die sein Schöpplein Wein getrunken. Es ist wohl Röttler Freiedeln, so weit sie nicht auf den das heutige Gasthaus „zur Sonne“. Bischofsstühlen von Basel oder als Dom­ Weiter im Tal, vorn bei Steinen, steht das herren in Konstanz saßen, waren hier be­ kleine Schloß, vom Wassergraben umgeben. graben. Ihre mächtige Grabtafel ist in der Dort führt die Straße dem Klosterbach nach wetterabgewandten Außenmauer eingelassen.

122 Nimmschs in d’Arm un loschs nit goh; gib achtig, verdrucke nit! Zeichg. Glattacker Schloß und Wald sind Hebel wohl ver­ Das Wiesental, seine Menschen und sein traut; sie gehören mit der Aussicht ins Tal Leben sind Hebel in ungeschwächter Erinne­ zur großen „Suppenschüssel“, in der alles rung geblieben, so lebendig und farbig, daß Liebliche zusammengefaßt ist. Denn von er aus ihr so unsterblich gedichtet und er­ hier kommt ihm sein Freund Friedrich Wil­ zählt hat. Mit Auge und Ohr hat er seine helm Hitzig zu, der im Proteuserbund den Heimat erlebt. Durch alle Poren sind ihm Namen „Zenoides“ trägt. Er blieb ihm der die Natur und ihre Geschöpfe eingegangen Weggenosse für ein Leben lang. — nichts hat ihn so ergriffen wie das Leben An Lörrach bindet ihn das Pädagogium, der Natur und das menschliche Wesen in wo er als Präzeptoratsvikar lehrte und seinen Äußerungen. Weil er sein Wesen mit wirkte mit schmaler Besoldung. Aus Not er­ dem sonnigen Gemüt, mit dem feinen Hu­ teilte er Nachhilfeunterricht. Die Familie mor und der Sorge um die eindringliche des Prorektors Günttert wurde ihm eine Wirkung seiner Erzählungen ganz in sein freundliche Heimstätte; das Leben des or­ dichterisches Werk eingegossen hat, ist er dentlichen Städtchens erinnert ihn an seine auch heute noch der Erzieher zum Erkennen Mutter. Sie hielt ihn an, sein Käppiein zu der göttlichen Wunder um uns und zu güti­ ziehen, wenn ein Schreiber des Wegs daher gem Menschentum und wird es bleiben, so kam, ein „Herr“. Auch die Wirtstochter lange menschliches Gemüt nach den höchsten Annemeili blieb ihm im Gedächtnis; in Fahrn- Gütern verlangt und an ihnen Trost und au hat er sie als verheiratete Frau wieder­ Kraft findet, sich über alles Getöse der Welt, gefunden und sie, ungesehen, neckisch an­ über den Streit und die Einbildung der gerufen. Mit Predigten hat er in Grenzach „Großen“, über die technischen Überspitzun­ und Tüllingen ausgeholfen. Von der Höhe gen und die Verschwörungen der Gewalt zu des Tüllinger Berges macht er sich ein Bild erheben. Schließlich sitzt ihm und uns „Gott des jüngsten Tages, wo die Glocken von :m Regimente“ als Urgrund und „Schöpfer selbst anschlagen von Hauingen um den Berg aller Dinge“. herum bis nach Efringen und die Welt im *) Siebenfach segnen. Glast steht, wie er dann eilends den Reb­ 2) Es sind die Bittenden und Geldsammler für Brandgeschädigte oder auch zur Befreiung von berg nach Weil hinunterspringt, um seiner Gefangenen in türkischem Gewahrsam u. dgl. Freundin Gustave zu helfen, ihre schweren 3) Flecklinge. goldenen Garben zu binden, „denn sein 4) langsam. 5) Kleine Wassergräben ziehen und öffnen. bißchen Halmen sei bald beisammen“. 6) Sich mit Kleinigkeiten beschäftigen.

124 Bild 1 Das Wiesental bei Hausen 1826 Aquarell G. W. Friesenegger

Die Hebellandschaft und Hebelstätten im Markgräflerland in alten Bildern

Von Karl Poltier, Lörrach Das Bild der Heimat Johann Peter Hebels, war, ist aus seiner Seele „die Fülle der leuch­ des markgräflichen Oberlandes vom Rhein­ tenden und von seiner eigenen Empfindung knie bei Basel über die gesegneten Fluren getränkten Bilder seines Heimatlandes“ — des Reblandes hinauf zu den Schwarzwald­ wie Professor Altwegg das so treffend aus­ höhen des Belchen und Feldberges strahlt als drückte — hervorgebrochen und hat mit Grundton seiner inneren Schau aus den ale­ seiner Dichtung sich und der Markgräfler mannischen Gedichten und blitzt und fun­ Heimat ein unvergängliches Denkmal ge­ kelt — von der Erinnerung vergoldet — aus setzt. seinen Briefen an die Freunde und an seine In der Tat ist dieses Land ein kleines Freundin im Oberland. Denn erst nachdem Paradies, und seine Lieblichkeit hat man­ er als zweiunddreißigjähriger Mann vom chem Großen in Wissenschaft und Literatur Markgrafen nach Karlsruhe berufen worden Worte der Begeisterung entlockt. Dem großen

125 Bild 3 Schopfheim. Der innere Marktgraben mit der alten Lateinschule 1885 Zeichg. G. Gebhard Basler Jakob Burckhardt drängten sich aus innerer Freude daran gelegentlich die Worte „unvergleichlich“, „superb“, „von sublimer Schönheit“ in die Feder, der Elsäs­ ser Rene S c h i c k e 1 e nannte es „Him m ­ lische Landschaft“ und Hermann Eris Busse „Homerisches Land“. In den „Briefen für Joie“ lobt es R udolf B i n - ding: „Von allen Höhen wendet sich der Blick der Rheinebene zu, hinter der die Vogesen wie eine Sehnsucht in ihren stah­ ligen Schärfen herüberblicken... — es ist alles so weit und so reich.“ Und ein zweites ebenso unvergängliches Denkmal erstand diesem Land hundertzwanzig Jahre nach Hebel, von anderem Temperament gestaltet, „mit Liebe geschönt“ in der sprachgewal- tigen alemannischen Dichtung der „Madlee“ des nun verewigten Hermann B u r t e : „dief us em wilde Gmüet — s Markgräf­ ler Lied“. Auch bei Hermann Burte kam der Anruf zu seiner alemannischen Dichtung wie bei Hebel aus der inneren Spannung des Heimwehs in der Fremde, als er in Paris sein alemannisches Dichten begann. Bild 4 Herlingen, Pfarrhaus Natürlich hat diese Landschaft auch die Künstler und Maler zur Gestaltung angeregt, wobei ihn zuletzt die Erinnerung übermannt, und diese Bilder des Hebellandes, die un­ so daß er das Gedicht in alemannischen gefähr den Zustand zu Hebels Lebenszeit Versen zu Ende bringen muß. Auch das darstellen, seien vornehmlich Gegenstand heute noch stehende Elternhaus in Hausen dieser Betrachtung. Dabei folgen wir dem hat Friesenegger dargestellt (Bild 2). Dieses Lebensgang des Dichters in der Reihenfolge Haus und der in unermüdlicher Sparsamkeit der Orte. und Ausdauer durch seine Mutter vermehrte Das liebliche Tal seiner Kindheit um das Besitz ermöglichten es nach ihrem frühen D orf Hausen, wo seiner Eltern Haus Tode, den begabten Hanspeter als Schüler steht, hat der Schopfheimer Maler Gustav zunächst in die Obhut des Diakonus Ober­ W ilhelm Friesenegger in sommerlicher müller auf die Lateinschule in Schopfheim Nachmittagssonne ausgebreitet (Bild 1) mit am inneren Marktgraben (Bild 3) zu geben den begrenzenden Berghöhen der Hohen und ihn nach der Mutter Wunsch und seiner Möhr mit dem Blaßberg und dem Alzebühl, eigenen Neigung folgend Theologie studieren auf der anderen Seite der Maiberg und das zu lassen. Nach seiner Gymnasial- und Sättele, so wie es Hebel in seinem Widmungs­ Studienzeit in Karlsruhe und Erlangen fin­ gedicht an den Berginspektor Herbster in den wir Hebel während drei Jahren im Hausen mit hochdeutschen Versen schildert, Pfarrhaus in Hertingen bei den Kin-

127 Bild 6 Blick auf Lörrach 1812 Sepiazchg. S. Birmann Kupferstichkabinett Basel Bild 7 Blick ins Wiesental (Ausschnitt), Wenkenhof, Riehen, Aquarell Samuel Biermann, Basel, 1812 Stetten, Lörrach

BiU 8 Blick vom Tüllinger Berg gegen Weil und Basel Aquarell Anton Winterlin (um 1840) Bildchen von unbekannter und etwas un­ gelenker Hand aber mit um so mehr Liebe und Heimatsinn gezeichnet (Bild 5). Der an sich enge Marktplatz mit dem großen Brun­ nen erscheint stark geweitet, aber dafür be­ lebt mit pulsendem Leben: die Honoratioren sind zu Pferd, zu Fuß und im Kremserwagen unterwegs, der Küfer und Wagner macht sich an seinem Holzturm zum Trocknen der Faßhölzer zu schaffen, während von allen Seiten Kühe und Ziegen an den Brunnen getrieben werden und die Maulesel vom Erztragen ermüdet nach Hause dürfen. Das Kirchlein ist noch der alte spätgotische Bau hinter der Kirchhofmauer. So hat Hebel damals leutselig und heimatfroh Land und Leute in sich aufgenommen. Aus diesem Born des ländlichen Lebens hat er für seine Gedichte und Kalendergeschichten geschöpft und zeitlebens gerne an die drei Hertinger Jahre zurückgedacht. Von Hertingen wurde er nach Lörrach als Präzeptoratsvikar an das Pädagogium Bild 9 Weil, Kirche und Pfarrhaus berufen. Dieses damals stille Landstädtchen im vorderen Wiesental hatte es auch dem jungen Basler Maler Samuel Birmann dern des dortigen Pfarrers Schlotterbeck als angetan, welcher den Blick auf Lörrach und Hauslehrer und zuletzt als ordinierten Vikar ins Wiesental gleich in zwei schönen Bildern (Bild 4). Natürlich führten den Wander­ festgehalten hat: Einmal den Blick vom frohen seine Wege von dort aus ringsherum Fuße des Tüllinger Berges am Stettener ins Markgräflerland, nach Schloß Bürgeln, Wuhr gegen das Röttler Schloß und die nach Liel und nach Müllheim in die „Post“. Schwarzwaldberge an einem Vormittag im Besonders stark zog ihn K a n d e r n an, Heuet (Bild 6) und ein andermal als Aqua­ wo sein Freund Karl Friedrich Sievert ge­ rellbild den unvergleichlichen Blick von der rade zu jener Zeit Präzeptor war, den er anderen Seite des Tales über Riehen am von der gemeinsamen Karlsruher Gymnasial­ Wenkenhof gegen den Tüllingerberg, Röt­ zeit her kannte, und nicht viel später, als teln, Lörrach und Stetten an einem Sommer­ Hebel aber schon in Lörrach lehrte, kam ein anderer seiner Freunde, Wilhelm Engelhard abend, dahinter — über alles sich wölbend Sonntag ebenfalls als Präzeptor und Vikar — der Hochblauen (Bild 7). Diese Land­ nach Kandern. Auch hatte das Kanderner schaft hat Hebel in den acht Jahren seiner Eisenwerk mancherlei Beziehungen zum Lehrtätigkeit in Lörrach oft und oft durch­ Eisenwerk seines Heimatortes Hausen. Den wandert, wenn er zu seinem jüngeren Marktplatz dieses gemütlichen damaligen Freund Hitzig nach Rötteln oder zu Pfarrer Dorfes am Fuße des Blauen zeigt uns ein Reinhard, dem Freund und Proteuser, ins

130 Bild 10 Beschießung des Brückenkopfes und der Schusterinsel nach Moreaus Rückzug 1796 Heimatmuseum Lörrach

Bild 11 Lörrach, das alte Pädagogium (Hebelgymnasium) Bild 12 Wirtschaftsschild „zum Ochsen“ in Lörrach Zeichnung K. Poltier, Heimatmuseum Lörrach

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Bild 13 Rötteln, Kirche und Pfarrhaus (um 1820) Öl, Chr. Meichelt, Heimatmuseum Lörrach Bild. 14a Kirche und Pfarrhaus in Rötteln (Gesamtbild) Chr. Meichelt (?) um 1812(?) Heimatmuseum Lörrach

Pfarrhaus nach Obertüllingen hinaufstieg fach!“. Diesen Blick hinunter nach Weil, oder zu Fuß nach Grenzach mußte, wo er Basel und zu den Schweizer Jurabergen hat gelegentlich aushilfsweise zu predigen hatte. der Maler Anton W i n t e r 1 i n in sein Ganz besonders oft aber auf seinen später Skizzenbuch gemalt (Bild 8), selbst entzückt immer häufigeren Gängen ins Weiler Pfarr­ von der Weite der abwechslungsreichen haus zu seiner Jungfer Gustave, wie er selbst Landschaft am Rheinknie. Am Fuße des es beschreibt: . durch die Stettener Mat­ Berges fällt das große Pfarrhaus in die ten herab, am Batzenhäuslein (das ist das Augen mit Scheune und Stallung in dem Häuschen des Grenzwächters, wo der stattlichen mauerumgebenen Pfarrgarten. „Batzen“ erhoben wurde) rechts um, husch Dahinter die Kirche mit dem alten niederen über den Wiesensteg, Rebberg auf — Reb­ Turm, denn das Kirchenschiff war gerade berg ab — und da bin ich! . . Die Aus­ neu erbaut und im September 1791 ein­ sicht und der Rundblick auf dem Tüllinger geweiht worden, als Hebel im November Berg hatte es auch ihm besonders angetan: nach Karlsruhe berufen wurde. So gibt das .. wie fein und lieblich es ist, wenn mor­ Bild, obwohl erst ein paar Jahrzehnte später gens die Bättglocken läuten von Hauingen entstanden, doch den Zustand wieder, den an um den Berg herum bis nach Efringen Hebel noch erlebt hatte. Im Pfarrhaus selbst hinab ..." — „Segne Gott mein Tüllingen (Bild 9) war immer die „obere Stube“ für — und Weil unten dran zwiefach und zehn­ ihn bereit, wenn er zu Besuch kam, und er

133 Bild 14 b Hebel in Rotteln (Ausschnitt) Chr. Meicheit (?) kam sehr oft, manchmal täglich und übers durch das österreichische Belagerungsheer Wochenende, seit die blonde, blauäuige fahren mußte, das die Festung Hüningen Jungfer Gustave hierher übergesiedelt war. und deren rechtsrheinischen Brückenkopf be­ Hier in Weil geschah es auch, daß er gleich schoß und bestürmte (Bild 10). bei seinem ersten Besuch von Karlsruhe aus In den acht Lörracher Jahren wohnte im Oberland in das wilde Kriegsgetümmel Hebel im Gebäude (Bild 11) der Latein­ des Rückzuges der Franzosen unter Moreau schule, des „Kapitelhauses“ und aß auch am hineingeriet und auf der Heimreise mitten Tische mit der Familie des Prorektors Günt-

134 Bild 14 c Hebel in Rütteln (Ausschnitt) Chr. Meichelt tert, mit dem ihn bald eine herzliche Freund­ Die engste und vertrauteste Freundschaft schaft verband. In der Wirtschaft „zum verband Hebel damals mit dem siebenein­ Ochsen“ am Marktplatz (heute „Storchen“) halb Jahre jüngeren Pfarrerssohn von Rot­ verkehrten oft die Junggesellen, wo die teln, Friedrich Wilhelm Hitzig, unter den Wirtin Frau Rebekka Flury und ’s Anne­ Proteusern „Zenoides“ genannt, die sich als meili, ihr hübsches Töchterlein, für das Wohl junge Vikare kennengelernt hatten. Hitzig ihrer Gäste besorgt waren. Noch ist das ein­ wurde Hebels Nachfolger als Präzeptorats- fache gediegene schmiedeeiserne Wirtshaus­ vikar in Lörrach und dann Pfarrer als Nach­ schild des „Ochsen“ im Lörracher Heimat­ folger seines Vaters im Röttler P farr­ museum (Bild 12). Im Gasthaus „zum wil­ haus, dem wohl am schönsten gelegenen den Mann“, in dem Haus, das auf Bild 11 Pfarrhaus weitherum im Markgräflerland. die „lange Straße“ am oberen Ende abzu­ Ein treffliches Bild hat der Zeichenlehrer am schließen scheint, hatte der eigenartige Ge­ Lörracher Pädagogium, Christian Mei­ heimbund der Proteuser seine Zusammen­ chelt, ein Zeitgenosse Hebels, davon ge­ künfte, und mancher Gast im Lokal, der malt. Hinter der Anhöhe mit Pfarrhaus und vielleicht ihr Gespräch gerne mitgehört Kirche steht einerseits das mächtige Röttler hätte, wird sich über deren merkwürdige Schloß, und andererseits geht der Blick weit Geheimsprache gewundert haben, die für ins Wiesental flußaufwärts und auf den Ort Uneingeweihte unverständlich war und es Brombach (Bild 13). Im Vordergrund pflügt wohl auch sein sollte. ein Bauer seinen Acker, und ein Markgräfler

135 Bild 15 Blick auf das Wiesental mit Lörrach Aquarell Anton Winterlin (1840)

Maidli geht mit ihrem Marktkorb auf dem Spaziergänger den Berg heraufkommen. Lei­ Kopf nach Lörrach zum Markt. Das Röttler der ist über die dargestellten Personen gar Pfarrhaus mit der Kirche zeigt noch ein nichts bekannt, nur zu Füßen des einen weiteres Bild aus größerer Nähe (Bild 14), steht „J. P. Hebel“; aber die Liebe und offenbar die Vorzeichnung zu einem großen Genauigkeit, mit der das Bild entworfen Aquarellbild — wohl auch von Chr. Meichelt und durchgezeichnet ist, zeugen von der Be­ — schon peinlich genau durchgeführt. Da geisterung des Malers über die Schönheit der ist Hebel mit einigen Freunden schon teil­ Landschaft. weise fertig gemalt. Vielleicht sollen es die Den entgegengesetzten Blick von der Höhe Proteuser sein, eher ist es aber ein Konvent des Röttler Schlosses talabwärts nach Süden der „Theologischen Gesellschaft“, der Pfar­ gibt uns Anton Winterlin in einem Aqua­ rer von den umliegenden Orten, die aus rell (Bild 15). Im Vordergrund liegen unten Anlaß eines Besuches Hebels im Oberland Röttlerweiler und die Röttler Kirche vor hier zusammengekommen sind. Eine Schar dem breit ausladenden Wiesental mit Lör­ fröhlicher Menschen mit einem Dutzend rach, Stetten und Riehen, links begrenzt vom Jugendlicher voraus sieht man den Kirch- Grenzacher Horn und rechts vom Tüllinger weg hinunterziehen, während Sonntags- Berg mit den Dörfern Unter- und Obertül- 136 lingen. Hinter der langen Pappelreihe in der Trotz allen Veränderungen der Landschaft Ferne fließt der Rhein und dahinter steigen in den vergangenen 200 Jahren durch Bau­ über dem Birstal die Schweizer Jurahöhen an. ten für Wohnung, Industrie und Verkehr Ist es nicht die Heimat im Festkleid des zaubern Sonnenschein und Wolkenschatten, Abendsonnenscheins! Hierher wandten sich das verschwenderische Blühen, das drängende so oft die Heimatgedanken des Dichters im Entfalten der Natur, das Tragen und Ab­ fernen Karlsruhe, und Rötteln ist — nach sterben im Jahreskreis das göttliche Wirken dem Pfarrhaus in Weil — der Ort seines vor unsere Augen und in die Herzen, daran liebsten Gedenkens: wir uns — wie einst unser Dichter — in . o, wie schön muß es jetzt bei Euch seinem Geiste dankbar fröhlich erbauen und sein, Zenoides! Rötteln, Lörrach und die ganze Wiese von Todtnau bis an den Stet- gleich ihm in bescheidener Beschränkung tener Steg ... in dem schönen einzigen ohne heimatselige Überheblichkeit im Klein­ Tal voller Schmelen und Chettenblumen, sten und Unscheinbaren das Große der lustigen Bächlein und Summervögeln, wo Schöpfung ahnen und verehren. es immer duftet wie aus einem unsicht­ baren Tempel herausgeweht, und immer Die Druckstöcke für die Bilder 1, 2, 3, 4, 9, 11 tönt, wie letzte Klänge ausgeläuteter Fest­ sowie S. 83 verdanken wir der freundlichen Hilfs­ tagsglocken! ..." bereitschaft des Verlages E. Schreiber (Inh.Burk), Graph. Anstalten in Stuttgart, der uns aus seinem Daß wir das heute ebenso empfinden und schönen Bilderheft „Hebel, Bilder aus seinem erleben können, ist unser glückliches Teil. Leben“ sie bereitwillig zur Verfügung stellte.

Hebel

Du hefch as Wälöerbüebli Bccri gunne Am Alzebiiehl, Tie riife fo=n=ehaim: Im Sunnöigchinöerlanö bilch all öehaim Vo luter Liecht uti Liebl überfpunne.

Verzellfch e Glchicht, fo lächlet ’e Läbe=n=Aim, Grhlärfch ö’ Natur, oerhlärfch fle ooller Sunne, De fingfch e Lieö, no bruufcht e ghaime Brunne. Wenn aber briegfch, no geiltereto ue em Laim!

So lang e Muul no: Mueöer! Tage cha, Bifch öu öi gueöi Stunö ob alle Moöe, Ne Stärn, öo hangen Aller Auge öra.

Du ziehfch oom Volch, oom Volch öy öiefen Oöe Un chuuchfch ee roieöer roarm un läbig a, Du rainlti Seel ab eufem beite ßoöe. Hermann Burte

137 Hebel auf dem Wege nach Hausen öl Ad. Glattacker

Lebenöige Hebelheimat

Vom ftolze Möhreturm hodiobe Er goht oiellicht no z'erfcht in ö'Chilche, goht frei öer Blich ins Wiefetal: 's mueß öenh e Sunntigmorge fy — D'ßerg fin roie ufenanöer gfchobe, No fait er alle LUt Gottroilche, un 's Lanö lit oor eim roie ne Saal in fyne Äuge glänzt e Schy mit grüene Teppig, griiene Wänöe, oor Freuö, oor Leiö — roer cha's oerrote? hoch O'Himmeleöechi örüber gfpannt- Er trait fy Herz no all nit z’Märt! Me meint, me griifti mit öe Hänöe Er ifch öeheim-un zieht öer Ote öer Wiefe ihre filbrig Banö. fo tief, as er nüt z'sage gärt.

Do liege ö'Dörfer in öe .Matte, So roänn mer en öenn nit oertriibe öört roachfe Stäöt am Berg öuruf. mit allergattig z'lutte Tön W y t öuß gänn Chemi graui Schatte - fufcbt fait er zletfcht! „I mag nit bliibe, W as roeer's, roenn hei Mafchine luff? am Älzebüehl ifchs au no fchön!" 's ifch nümme roie zue's Hebels Tage, Jeßt finget mer e frünölig Gfäßli, mengg lieblig Pläßli ifch oerbaut! un ö' MuuFig blos mer no ne Tufch „Fremö fchiint mer alles, ' rourö er fage, fo chunnt fcho alles ans recht Plähli, „öoch Hanö un Fueß hets, roemme 's bfcbaut." öas goht fo öure imme Hufch . . .

So roenöe mer öer Blich halt roieöer, W a s gilts, er lüpft eroeng öer Finger, öer Hebel felber loßt nit luch! oerfolgt öer Muuüg ihre Tach €r chennt öer Weg no uf un nieöer un fait: „W er Finge cha, hets ringer, uf Huufe über ö'Wiefebruch. er loßt no 's Chätjlf ufem Sach. Dort Ftoht fy Heimethuus im Tälf, Zrooohunöert Johr - 100 Fin Fie ane? un 's trait am Älter no nit fchroer. Neu fchiint mer ö'W elt, roohii i lueg — Im Maie fiirt me 's Hebelmähli, Gliichrooh! — roas ö'Menfche alls no plane, öört chert er ii fyt alteroher. fo möcht i hütte nomol mahne: 's git äneöra 110 Sache gnueg!"

Heörolg Salm Kandern zu Hebels Zeit alter Stahlstich

Kandern und das Rebland zur Zeit Johann Peter Hebels

Von A lbert Eisele, Kandern Eines der bekanntesten Gedichte Johann war der Begriff auf den vorderösterreichi­ Peter Hebels ist „Der Schwarzwälder im schen Breisgau beschränkt. Daher schrieb er Breisgau“, zuerst 1807 im Freiburger all­ im selben Jahre 1807 an Gustave Fecht in gemeinen Intelligenz- und Wochenblatt unter Weil: „Ich gratuliere auch, daß Sie eine dem Titel „Der verliebte Hauensteiner“ Breisgauerinn worden sind, eine Freyburge­ erschienen, mit den oft gesungenen Strophen rinn, eine Landgräflerinn. Ich bin schon lang „z’Friburg in der Stadt“, dann „z’Mülle an einer wegen Hausen und Hertingen, so in der Post“ und „z’Bürgle uf der Höh“. Der der Landgrafschaft Sausenberg liegen.“ Und Begriff des „Breisgaues“ hat im Laufe der schon 1802 lesen wir in einem Brief an Jahrhunderte eine Verengung erfahren. In Gräter, dem eine Probe von Gedichten in den Zinsregistern des Klosters Lorsch er­ Mundart beiliegt, die Worte: „Der Dialekt scheint erstmals im 8. Jahrhundert der Name ist der aus der badischen Landgrafschaft des Ortes Kandern mit dem Zusatz „in pago Sausenberg zwischen der Schweiz und dem Brisgowe“. Als aber Hebels Gedicht erschien, Breisgau.“

139 Diese Landgrafschaft Sausenberg hat Besitz des Nikolaus Häußler in Basel, des­ ihren Namen von der Sausenburg unweit sen Papiermeister 1803 einen Sohn bekam, Kandern, die zwischen 1232 (mons qui dici- der als „Kaiser von Kalifornien“ bekannt tur Susinberc) und 1246 (ante portam wurde. Es ist Johann August Sutter. castri Susenberk extra fossatum) vom Mark­ Die günstige Lage zwischen Waldland und grafen Hermann dem Jüngeren von Hach- Rebland war wohl der Grund, daß in berg erbaut worden war. Die Markgrafen Kandern schon frühe Wochenmärkte und besaßen die Vogtei über das Kloster St. Bla­ ein Jahrmarkt am Tage der hl. Katharina im sien und die zu diesem gehörende Propstei November abgehalten wurden. 1756 verlieh Bürgeln. Um diese Burg bildete sich die der Markgraf einen weiteren Jahrmarkt im Herrschaft Sausenberg, und bei einer Tei­ Frühjahr; dazu kam seit 1801 allmonatlich lung der bisher gemeinsam verwalteten Gü­ ein Viehmarkt, der besonders im September ter im Jahre 1306 erhielt Markgraf Rudolf als Pferdemarkt für eine Reihe von Ge­ die Herrschaft Sausenberg und die Landgraf­ meinden als der Feiertag des Bauern gilt und schaft im Breisgau. Hauptort der Landgraf­ heute noch starken Besuch aufweist. Hebel schaft Sausenhart war Kandern, wo die hat diese Märkte gekannt und wohl auch Markgrafen vielerlei Interessen hatten. 1589 von Hertingen aus besucht. In dem Gedicht war für den Forstmeister ein Haus gebaut „Die Feldhüter“ sagt der Fritz zum Heiner: worden, das den Markgrafen als Jagdschloß „Chömme mer heim ins Dorf, o wüßt i, was diente. Und 1605 stiftete der Markgraf [der e Freud wär! Georg Friedrich „der Jägerei im Oberland zu Gell, de nimmsch mer’s ab? Vier neui tvelt- Ehren einen Willkomm“, eine goldene Sau, lichi Lieder dazu ein Buch, in das er selbst auf die erste von des Sultans Töchterlein, der Schreiber Seite schrieb: im Korbe, 1605 ’s dritt vom Dokter Faust, und ’s viert vom Virtute [Lämmlein im Grünen, Als mir das Waidwerk woll abgangen ’s isch nit lang, i ha sie neu am Chanderer und ich ein gutes Schwein gefangen, [Märt gehäuft.“ auch ich mit fraiden kam zu Haus Auch sonst finden wir mancherlei Hin­ tranck ich den willkhom erstlich aus. weise, daß Hebel sich in Kandern auskannte. Im „Mann im Mond“ schreibt er vom Georg Friedrich Markgraf von Baden Dieterli, der ein Nichtsnutz war, daß er Seither ist die goldene Sau manchmal im „ebe z’Chander ghockt isch und het d’Butelle Kreise hoher Gäste des Kanderner Forst­ gleert“. Und im „Gespenst an der Kanderer meisters geleert worden; die Willkommbücher Straße“ finden wir die Worte, die Julius geben davon Zeugnis. In Kandern besaßen Kibiger an die Wand des Gasthauses zur die Markgrafen zeitweise das Eisenwerk, das Weserei geschrieben hat: „Und wenn er sie 1512 den kaiserlichen Zeugwarten zu meint, er seyg jetz bald dehei, se stoht er Breisach verliehen haben. Genau so, wie das wieder vor der Weserey.“ Hebels Gedicht Eisenwerk zeitweise im Besitz der Mark­ „Der Schmelzofen“ wird auf seine Jugend­ grafen, dann wieder im Besitz von Basler erinnerungen in Hausen zurückgeführt. Man Herren war, genau so ging es mit der Papier­ könnte sich wohl denken, daß auch Kander­ fabrik, die 1564 erstmals genannt wird. Zu ner Erinnerungen mitspielten. War doch Wil­ Hebels Zeiten war die Papierfabrik im helm Engelhard Sonntag während Hebels

140 Lörracher Jahre in Kandern als Vikar und glücklich saß ich einst in Hertingen zwischen Präzeptor an der Lateinschule, jener Sonn­ denMilchkänsterlein und den nassen Strümp­ tag, an den er denkt, als ihm fast alle Freu­ fen und Handzwehlen am Ofenstänglein“, den an dem Geschäft in Karlsruhe entflohen schrieb er 1823 an Gustave Fecht. „Aber sind, weil sich seine Proteuskapelle in eine freilich 20 Jahre und 63 ist auch ein Unter­ Canzleistube verwandelt hat, und er des­ schied“, heißt es weiter in diesem Brief. Und halb an Hitzig (1811) jenen Brief schreibt, weiter fuhr der Postwagen den Schliengener in dem die Worte stehen: „Bin ich dazu Berg hinab und damit in den Hauptort der 9 Sommer lang in der Wiese gelegen, und bischöflich-baselischen Orte nach . Einmal mit dem Kanderer Sonntag im Gräb- Als er 1801 nach Karlsruhe zurückgekehrt lein?“ Schon 1802 hatte er Hitzig „eine war, war eine wehmütige Stimmung über Parthie Anzeigen auf das Wälderbüblein“ ihn gekommen, denn er hatte den Weg über gesandt mit der Bitte, dafür zu werben. Es Oetlingen, Egringen und Hertingen genom­ heißt dort: „Nimm doch Candern ein wenig men und am letzteren Orte festgestellt, daß in Betrachtung. Ich habe dort keinen Collek- er viele, die ihm einst wert waren, nicht teur aufgestellt, aber Scheuermann oder mehr fand, daß er wenige mehr kannte, Rieggert wird dir gerne an die Hand gehen“. und daß, was 20 Jahre und darunter war, Karl Martin Ludwig Scheuermann war seit nichts mehr von ihm wußte. Und an Freund 1801 Pfarrer in Kandern, wo er 1816 starb. Engler schrieb er: „ .. . fiel es mir schwer Sein Vorgänger war Pfarrer Fecht, der den auf’s Herz, daß trotz der Tendenz unseres Kandidaten Sonntag nicht mit Freuden be­ Geistes nach Oben hinauf unser aller irdi­ grüßte. Daß er ihm 50 fl von seinem Ein­ scher Gang und Wandel ein Gang in’s Unter­ kommen, freie Kost und Wohnung geben land ist, und daß wir alle nur dort enden solle, betrachte er bei seinen 8 Kindern als und Zusammenkommen.“ Strafe, schrieb er seinen Vorgesetzten. Freie Und weiter fuhr der Wagen durch das Kost entfiel daraufhin, aber 50 fl nebst Zim­ Rheintal nun wieder in altbadischem Land. mer, Holz, Licht und Bett mußte er ihm Von den Vorbergen des Blauen grüßte Bür­ weiterhin geben. Daß es dadurch zu dauern­ geln, das einst als Vermächtnis der Herren den Reibereien kam, ist verständlich. Johann von Kaltenbach an das Kloster St. Blasien Carl Rieggert aber war der Sohn des Ham­ gekommen war. Diese errichteten hier ein merschmieds am Kanderner Bergwerk. Er schönes Anwesen, das 1762 bis 1764 von den war Wundarzt und Physikus in Kandern und hatte als zweite Frau eine Schwester von beiden kunstsinnigen Fürstäbten Meinrad Hebels Freund, dem Schopfheimer Pfarrer Trogers und Martin Gerbert durch den Dreuttel. Propst Alois Mäder neu gebaut worden war. Zu Hebels Zeiten lebte hier oben von Der Hinweis oben in Hebels Brief an Gustave Fecht, daß sie nun eine Breisgauerin 1785 bis 1801 Franz Kreutter, der eine geworden sei, erinnert an die politischen Geschichte der vorderösterreichischen Staa­ Vorgänge jener Jahre, in denen nach dem ten geschrieben hat. Hermann Albrecht, der Willen Napoleons das spätere Land Baden Dichter-Pfarrer, hat in seiner Kleinkemser entstand. Wenn Hebel aus seinem geliebten Zeit (1878—1885) den „Präzeptoratsvikari“ Oberland landab fuhr, kam er mit dem geschrieben und darin auch dem Propst ein Postwagen an der alten Poststation „Kalte Denkmal gesetzt: „Dieser stand nämlich Herberge“ vorbei, vorbei an Hertingen, wo überlieferungsgemäß in sehr guten und er einst so glücklich gewesen war: „O, wie freundlichen Relationen zur evangelischen 141 Die Sausenburg alter Stahlstich, Heimatmuseum Kandern Markgrafschaft, obwohl ein Benediktiner z’Mülle an der Post Tausig Sappermost, isch aus dem gefürsteten Reichsstift Sankt Bläsi.“ sei nit e chospire Wi!“ Kreutter war der vorletzte Propst, denn 1797 hatte Hebel an Gustave Fecht ge­ 1805 fiel durch die Säkularisation Bürgeln schrieben: „Sie werden sich nun auch recht an Baden. herzlich des Friedens freuen, und der Ruhe, Und weiter ging die Fahrt am Bären in die so viel tausend geplagten Menschen end­ Auggen vorbei zum alten Postgasthaus von lich wieder erscheint. Gott gebe nun, daß Müllheim, das heute als Motel die Gäste die traurigen Spuren des Krieges allenthal­ aufnimmt, aber äußerlich noch die alte Ge­ ben bald vernichtet oder wenigstens gedeckt stalt zeigt. Georg Adolf Friedrich Heiden- werden mögen, und daß der Friede dauer­ reich hatte 1745 mit dem Bau dieses Fiauses haft bleibe; denn ein Krieg in jedem Men­ begonnen. 1746 erhielt er die Wirtschafts­ schenalter ist anzunehmen, und es darf sich erlaubnis. Er hatte den Nachrichterdienst niemand beschweren, einen überstehen zu und die Posthalterei nebeneinander. Etwa müssen; es gehört ein solches Müsterlein auch ein Jahrhundert blieb die Post in diesem in die Charte unserer Lebenserfahrungen, Hause; der Bau der Bahn bis Schliengen und es wird wohl auch seine Absicht und 1847 brachte neue Verhältnisse, wie auch seinen Nutzen haben, daß wirs kennen sol­ jetzt die neue Autobahn neue Verkehrs­ len. Aber zweymal wäre zuviel. Doch verhältnisse schafft. Bekannt wurde die Post weisern Rath Vorbehalten.“ Hebel hatte sich vor allem durch Hebels Gedicht, von dem getäuscht: die Kriegszeiten gingen weiter, oben schon die Rede war. Weniger bekannt bis 1814 die Verbündeten den Rhein über­ sind die Worte an Gysser in Müllheim: schritten. Inzwischen aber war aus dem „Ihr trinket urig Poesie in lange Züge, Markgrafen ein Kurfürst und dann 1806 ein

142 Schloß Bürgeln alter Stahlstich, Heimatmuseum Kandern

Großherzog geworden, dessen Land sich in lateinische und deutsche Schule, 7 Mahl­ vier Jahrzehnten um nicht weniger als das mühlen, 2 Sägemühlen“ und neben anderen Zwölffache vergrößert hatte. Nun war Gewerben „1 Ziegelhütte, 1 Apotheke, 3 Schliengen badisch geworden, und auf Bür­ Wundärzte, 9 Wirtschaften, 6 Metzger, die geln hatte der Propst nur noch als einfacher in 2 öffentlichen Boutiquen schlachten müs­ Geistlicher die Aufgabe, die Katholiken in sen, 12 Bäckermeister, berühmt durch vor­ der Umgegend zu pastorisieren. züglich schönes Brot und hauptsächlich durch Der Anfall dieser Gebiete erforderte eine die beliebten kleinen Brezeln, die weit ver­ neue Organisation im Innern des Landes, schickt werden, 3 beträchtliche Handels­ und so wurde Kandern 1810 Amtsstadt. häuser“ und eine Menge Handwerker. Aber schon 1820 wurde das Amt wieder Von der lateinischen Schule war oben schon aufgehoben. Kolb berichtet in seinem Histo­ die Rede. Die wirtschaftliche Lage des risch-statistisch-topographischen Lexicon 1813 Präzeptors Sonntag sollte dadurch gebessert über Candern, daß die Stadt 1320 Einwoh­ werden, daß nach einem Vorschlag des ner habe, 250 Bürger und 210 Häuser. Das Oberamts und des Spezialates die Filial- herrschaftliche Eisenhüttenwerk hat in den gemeinde Sitzenkirch mit dem lateinischen benachbarten Orten „einen beträchtlichen Präzeptorat in Kandern vereinigt werden Grubenbau mit 120 durchaus einheimischen sollte. Aber in Karlsruhe wollte man nichts und ansässigen Arbeitern, wodurch der davon wissen, daß Sitzenkirch von der umliegenden Gegend eine beträchtliche und Mutterkirche Obereggenen getrennt werde. wohltätige Na'hrungsquelle zugeht.“ Die Die Verhandlungen scheinen ziemlich weit Stadt hat weiter „eine seit mehreren Jahren gediehen zu sein, und ein Brief Hebels an bedeutend vergrößerte Papiermühle, eine Ringer vom März 1802 zeigt uns auch,

143 woher der Widerstand kam: „Wenn Sitzen­ St. Blasien auch besuchen konnte. Es wurde kirch wieder von Candern getrennt wird daselbst auf eigene Autorität hin Gottes­ und an Obereggenen zurückfällt, ist Sonntag dienst gehalten von dem exponierten Prie­ geneigt zu bleiben.“ Es handelt sich hier um ster. Der Vertrag zwischen diesseitiger Landes­ Karl Friedrich Sonntag, der 1757 in Kan­ herrschaft und dem Abt von St. Blasien von dern geboren war und mit Hebel zusammen 1718 zeigt auch, daß erstere Einsprache am Lörracher Pädagogium war. Karl Fried­ dagegen gemacht, endlich aber aus Gnaden rich war 1797 nach Obereggenen gekommen, es dabei belassen haben“, nämlich, daß der wo schon sein Großvater gewirkt hatte. Er Propst für sich und die Seinen Gottesdienst starb 1818 als Dekan in Auggen. hielt. Zum Bergbau zog man katholische Die politische Umgestaltung gab auch den Arbeiter aus dem Münstertal, zur Landwirt­ Plänen um die Besetzung der Stelle an der schaft Hilfe auch aus der Zeller und Schön­ Schule eine neue Richtung. Die katholische auer Gegend bei. Den katholischen Berg­ Kirche suchte einen neuen Platz für einen leuten wurde die Ehe mit lutherischen Mäd­ Geistlichen in der Herrschaft Sausenberg, chen gestattet, wenn die Kinder lutherisch und man kam auf den Gedanken, in Kan­ wurden und „erst bei den Unterscheidungs­ dern ein katholisches Vikariat zu errichten. jahren blieb es diesen Kindern frei, in der Noch war das Bistum in Konstanz. Von angeborenen Religion zu beharren oder die dort wurde folgender Vorschlag gemacht: des Vaters zu erwählen. „Wer freilich bürger­ die beabsichtigte Besoldung von 400 fl solle lich werden wollte, mußte die Ortsreligion halb in Geld, halb in Naturalien gegeben annehmen. Wir finden aber auch den Akten­ werden, dazu 50 fl für Aniversarien und dem vermerk „gegen den Willen der Bürgerschaft Honorar für das Pädagogium in Kandern, durch Regierungsbeschluß aufgenommen“. auch freie Wohnung mit Küchengarten. Wer diese Dinge von der ändern Seite her Damit der Vikar, der mit Abhaltung der sehen will, lese bei Eberhard Gothein in Gottesdienste und der Seelsorge der Katho­ „Der Breisgau unter Maria Theresia und liken in der Herrschaft Sausenberg keine Joseph II.“, Neujahrsblätter 1907 auf Seite genügsame Beschäftigung hätte, unter der 103, nach. Als Karl Mez, dessen Vorfahren Woche seine Talente zu verwenden und aus­ in Kandern am Marktplatz angefangen hat­ zubilden Gelegenheit fände, könnte ihm die ten, in Freiburg konfirmiert wurde im Jahre Verbindlichkeit, die zu Kandern gestiftete 1822, sollen dort nur drei Konfirmanden und zur Zeit unbesetzte Pädagogenstelle zu gewesen sein. versehen, aufgelegt werden. „Wir finden kei­ Im persönlichen Verkehr untereinander nen Anstand, daß der Vikar als Lehrer des machten sich in Kandern die Unterschiede Pädagogiums in Hinsicht des Lehrplans und der Konfession nicht bemerkbar. Da waren dessen Befolgung der Behörde untergeordnet an Katholiken der Bergwerksverwalter Leo­ werde.“ Der Plan zerschlug sich aber. pold Hug und seine Ehefrau, eine geborene Wer waren die Katholiken in der Herr­ Brenzinger. Durch ihn kam der Arzt Franz schaft Sausenburg, die seit 1556 evangelisch de Paula Josef Brenzinger hierher, der als war? Einem Gutachten aus dem Jahre 1813 wichtigste Persönlichkeit bei der Gründung entnehmen wir folgendes: „In der auf einem eines Gesangvereins in der Erinnerung fort­ hohen Berg befindlichen lieblichen Wohnung lebt. Durch ihn kam es auch zu musikalischen (Bürgeln) wurde die Vorrichtung zu einer Veranstaltungen, bei welchen neben dem gottesdienstlichen Kapelle gemacht und diese Lied die Instrumentalmusik gepflegt wurde, so eingerichtet, daß sie der Fürstabt von bei der neben den evangelischen Geistlichen

144 der Nachbarorte auch der katholische Geist­ Möge im Hebeljahr 1960 die Erinnerung liche von Bürgeln mitwirkte. Und in der an den großen Sohn des Markgräflerlandes anfangs des Jahrhunderts gegründeten Stadt­ vor allem in der Jugend dadurch geweckt musik spielten Mitglieder der hiesigen und werden, daß seine Gedichte und Erzählungen der Lieler Bergmusik einträchtig mitein­ wieder ins Volk kommen. Und daß man ander. lernt, zufrieden zu sein mit dem, was uns die Heute, da wir des Tages gedenken, an herrliche Natur an Freuden bietet; daß man dem vor 150 Jahren Kandern zur Stadt er­ lernt, zufrieden zu sein, auch wenn man sich hoben wurde, ist der Ort immer noch in ge­ nicht alle Wünsche erfüllen kann, wie Hebel wissem Sinne ein Mittelpunkt für eine wei­ es so schön in „Des Rheinländischen Haus­ tere Umgebung. Noch bestehen Eisenwerk freundes Danksagung an Pfarrer Jäck in und Papierfabrik, freilich mit ändern Auf­ Triberg“ sagt.-Er führt aus, daß er nichts zu gaben. Noch werden Ziegel hergestellt, und eigen hat, keinen eigenen Baum, „kei Chatz, noch kommen an den Markttagen alle kei Hüenli, menggmol au kei Geld, ’s macht Monate die Bauern nach Kandern. Nicht nüt. ’s isch doch im ganze Dorf kei Buur so umsonst trägt die Stadt im Wappen eine riich als ich. Der wüsset, wie me’s macht. Me Kanne. Die Erinnerung an die Zeit Hebels meint, me heig’s.“ Man meint, man hätte es aber wird wachgehalten durch den alljähr­ zu eigen. Und was ihm gehört, was er im lichen Hebelschoppen, den die Kanderner in Innern bewahrt hat alle die Jahre in Karls­ Hertingen am letzten Oktobersonntag durch­ ruhe, ist das, was in „Pfarrer Jäcks Antwort“ führen. Zuerst geht man in die Kirche und zu lesen ist: „Bin i nit au menggi hundertmol im Lieler Wald und z’Chander gsi? Jo wohl! gedenkt des großen Landsmannes. Dann Se han i denn i Freud und Leid en Gang uf kommen jetzt lebende Dichter in alemanni­ Hertige, uf Chaldeherberg gmacht und scher Mundart zu Wort. Wenn dann die menggmol bin i au durs Wiesetal.“ Unsere Orgel verklungen ist oder der Gesangverein schöne Heimat lebt in Hebel, und durch sein Lied vorgetragen hat, geht es ins „Rößle“ Hebel ist sie weithin bekannt geworden, wie zum freudigen Stündli, das seine Eigenart auch durch Hebel die Mundart der Heimat gewahrt hat, weil dort nur öffentlich reden überall bekannt wurde. Im Hebeljahr soll­ darf, wer alemannisch kann! Möge noch ten alle diese Dinge sichtbar werden dadurch, recht lange dieser Geist über unserem Ge­ daß weniger über Hebel und mehr von meinwesen walten! Hebel in alle Schichten kommt.

10 Badische Heimat 1960 145 Riehen vor der Tüllinger Höhe um 1752 Zeichg. E. Hüchel

Hebel und das Rebland

Von Hermann Schäfer, Steinen

Ein Wesenszug Hebels ist die Treue zur Besondere Zuneigung bewahrte Hebel Heimat und ihren Menschen. In Karlsruhe dem in einer idyllischen Mulde gelegenen befiel ihn immer wieder die Sehnsucht nach Rebdorf Hertingen, dem Orte seiner ersten der Heimat, „das Jahresfieber des Heim­ Wirksamkeit als Hauslehrer und Vikar bei wehs nach dem Oberland“, wie er es selbst Pfarrer Schlotterbeck. Noch mit 63 Jahren nannte. Er schrieb in seinen Briefen meist findet Hebel, als er seiner Freundin im „Oberland“, oft abgekürzt „O. L.“, seltener Weiler Pfarrhaus die neue komfortable „Rebland“, wie im Gedicht vom „Viertels­ Wohnung in Karlsruhe beschreibt, die weh­ vogt“ an Tobias Günttert, den Ältesten mütigen Worte: „O, wie glücklich saß ich des Proteuserkreises, wo es heißt: einst in Hertingen zwischen den Milchkän- Sust hani, wie ’ne Burgersma, sterlein und den nassen Strümpfen und mi Laubi und mi Lusti gha, Handzwehlen am Ofenstänglein“. und bi mit Holz und andre Waare In der Muse seiner Hertinger Jahre fand go Basel und ins Rebland gfahre1). er Zeit zu ernsten Studien. Von Hertingen 146 aus hat er sich aber auch das ganze Reb- der Dichter Heitersheim und Krozingen. land erwandert. Die Landstraße westlich des „Der Karfunkel“ erinnert an die Faust­ Dorfes führte nach Norden zur weinberühm­ sage und spielt wohl in der Nähe von ten „Post“ und nach Müllheim, nach Süden Staufen. Das „Gespenst an der Kanderer zur nicht weniger bekannten Post- und Vor­ Straße“ hat als Schauplatz die Straße spannstation „Kaltenberg“ mit der Gast­ zwischen Riedlingen und Kandern bis zur stätte zum „Lamm“. Der Pfad durch den Weserei. In der Gegend von Tannenkirch, Lieler Schlag war ihm ebenso vertraut wie in der „Herzkammer des Markgräflerlandes“ der Weg nach Riedlingen und seinem damals tritt uns Hebels Gedicht „Hephata, tue dich viel besuchten Gast- und Badhaus oder wei­ auf!“ wie unmittelbar entgegen (K. Seith). ter nach Kandern, wo man auf dem Markt An Hand eines Textes aus dem Markus­ neue Volkslieder kaufen konnte „von des evangelium gibt der Dichter eine Verbin­ Sultans Töchterlein, der Schreiber im Korbe, dung des wunderbaren Naturgeschehens mit vom Doktor Faust und vom Lämmlein im dem Wunder des Glaubens. „Die Markt­ Grünen“. Er kannte die „Weserei“ in Kan­ weiber in der Stadt“, die zwar nicht ge­ dern und das Schliengener Gasthaus »Basel­ nannt wird, gleichwohl aber nur Basel sein stab“, auch beim gastfreundlichen Propst auf kann, sind nach Altwegg „der Sprache nach Bürgeln kehrte er ein und besuchte die alten, wohl von Weil“. von Weinbergen umsäumten Städtchen Sulz­ Auch manche Hausfreundgeschichte geht burg und Staufen. Oft kam Hebel von Her­ auf die Hertinger Zeit zurück, als Hebel tingen über die Hochfläche des Isteiner dort eine alte Schwanksammlung las und Klotzen auf der „Alten Basler Straße“, diese später als Quelle für Kalendergeschich­ der heutigen Römerstraße nach dem gast­ ten benutzte, deren Schauplatz er nach lichen Efringen. Hertingen und Umgebung verlegte. In einer Die Hebelforscher W. Altwegg, K. Herb­ dieser Geschichten, dem „Einträglichen Rät­ ster und K. Seith haben auf die Bedeutung selhandel“, schildert er eine Rheinfahrt, die der Hertinger Jahre für Hebels dichterisches an Hüningen, der Schusterinsel bei Weil, an Schaffen hingewiesen. Im Rebland, nament­ Märkt, dem Isteiner Klotz und St. Veit, der lich aber in der Gegend um Hertingen, ist Kapelle an diesem Felsvorsprung, vorbei­ einer der Bereiche, in dem der Dichter führt, und einen hebräischen Reisenden, der etliche seiner alemannischen Gedichte be­ zwischen „Kleinen Kerns“ und „Schalampi“ heimatet. (heute Chalampe oder Eichwald, gegenüber Im Gedicht „Das Gewitter“ schildert er von Neuenburg) seinen gelangweilten Reise­ das vom Westen aufziehende Unwetter, das gefährten mit Rätseln die Zeit verkürzt. Echo des Donners vom Blauen her und das „Die Namen Hertingen, Schliengen, Kalte Betgeläut von Schliengen. Das Dörfchen Herberg, Müllheim, Schalampi, die uns in den aber, über dem sich Wolkenbruch und Hagel Erzählungen des Hausfreundes so oft begeg­ entlädt, ist Hertingen. „Der Mann im nen, rufen uns Bilder einfachen, trinklustigen Mond“ wird gedeutet als „Nütnutz“, der schalkhaften Lebens hervor“ (E. Strauß). einst den Sonntag entweihte durch Holz­ Bei seiner ersten Ferienreise ins Oberland frevel im Lieler Schlag, dem Wald oberhalb im Oktober 1796 geriet Hebel mitten hinein der Hertinger Reben. Im „Schwarzwälder in das Kriegsgeschehen des Moreau’schen im Breisgau“ werden u. a. Müllheim, Bür­ Rückzuges, war „fast die ganze Zeit in geln und Staufen gepriesen. Im Gedicht Lörrach blockiert“ und 14 Tage über seinen „Der Geist in der Neujahrsnacht“ erwähnt Termin weggewesen. Ausführlich berichtete

10* 147 er am 6. November von Karlsruhe aus seinem durch das Geschenk, welches du mir mit Freunde Karl Christian Gmelin über den Gerhards Mineralogie gemacht hast. Ich Rückzug der Franzosen auf Hüningen, von trage diesen Theil der (Natur)G(eschichte) der Plünderung von Dörfern zwischen Her­ nach seynem System wirklich vor“. Bei tingen und Eimeidingen und den Vorberei­ Hertingen und Schliengen fand Hebel im tungen der Kaiserlichen zur Belagerung der Gebiet der Bohnerzgruben den roten Jaspis, Festung Hüningen. „Auf der ganzen Reise von dem er ein besonders schönes Stück hinab fuhr ich über die Kampfplätze bei später in Karlsruhe schleifen ließ und es Schliengen, Crotzingen, Emendingen, sah seinem Freund Hitzig mit lustigen Versen überall Greuel der Verwüstung, hörte überall zuschickte2). Klagen und Jammer der Ausgeplünderten Mit dem bekannten Botaniker Karl Chri­ und Mißhandelten, im ganzen Breisgau.“ stian Gmelin, dem „Chrüterma vo Bade- Auf seinen Fahrten ins Unter- und Ober­ wiler“ und Verfasser der „Flora Badensis“, land ist Hebel oft in der „Post“, dem be­ war Hebel befreundet, und gemeinsam haben kannten Straßengasthof auf halbem Wege sie Exkursionen unternommen, die Hebels zwischen Basel und Freiburg, eingekehrt. Wissen und Herbar bereicherten. „Ich habe Zahlreiche Pferde standen damals in großen im Oberland einige Pflanzen gesehen, die Ställen. Während des Pferdewechsels der mir noch fehlen. Seit dem hab ich keine Landposten hielten die Fahrgäste der Kurs­ Ruhe mehr hier“, berichtet er seinem Freund wagen und Extraposten gemütliche Einkehr aus der Residenz. in der „Post“, deren Keller und Küche weit­ Im Pfarrhaus zu Kirchen lebte einige hin berühmt waren. Daran erinnern die Jahre bei der Pfarrfamilie Mylius Verena heiteren Verse an seinen Müllheimer Freund Geiger, die das „Urbild des Vreneli“ in Gysser: Hebels Gedicht „Hans und Verene“ ge­ Ihr trinket urig Poesie wesen sein soll. „Bei einem Besuch, den in lange Züge, z’ Müllen an der Post. J. P. Hebel im Kirchener Pfarrhaus machte, Tausig Sappermost, hat das „sufer, flink und dundersnett isch sei nit e chospire Wi! Meidli“ offenbar einen solch angenehmen Eindruck auf den Dichter gemacht, daß er Etliche Jahre später entstand das Gedicht in seiner guten Laune alsbald jene Verse „Der verliebte Hauensteiner“ mit der ähn­ niederschrieb, welche den Namen des Mark­ lich klingenden, für den Gasthof und die gräfler Meidli weit über seiner Heimat Markgräfler Weine werbenden ersten Strophe: Grenzen hinaus bekannt gemacht haben“ Z’ Müllen an der Post, (H. Weidner). Tausigsappermost! Ende Juli 1809 hatten Gustave Fecht und Trinkt me nit e guete Wi! Karoline Günttert den Dichter von Weil bis Goht er nit wie Baumöl i, Efringen begleitet. In Kleinkems ließ er sich Z’ Müllen an der Post! nach dem elsässischen Ufer übersetzen und Eine besondere Vorliebe hat Hebel zeit­ fuhr von Groß-Kembs weiter nach Straß­ lebens für Botanik und Mineralogie gezeigt. burg. Gustave Fecht gestand er in einem Pfarrer Hitzig in Rötteln unterstützte diese Brief: „Ich konnte nimmer lang in E(fringen) Neigung seines Freundes durch Übersendung bleiben, auch in K(lein) K(ems) war mir von Fachliteratur, für die sich Hebel herz­ nicht wohl. Ich macht mir unter uns gesagt, lich bedankte: „Ich fühle mich dir neuer­ ein Gewissen daraus, noch einen Tag bey- dings in einem hohen Grade verbunden . .. nahe für nichts und wieder nichts im O. L.

148 Müllheim, Alte Post zu Hebels Zeit Zeichg. von F. Lederle 1882

zu seyn, und so nahe bey Weil, biß der des Dienstes in der „Ostindischen Kompa­ Rhein zwischen uns lag und ich wieder gnie“ nach Förrach zurückkehrte und sich Passagier war“. dort als Industrieller betätigte. Aus Indien An J(ungfer) G(ustave) in den „Bädern hatte Gaupp einen jungen Eingeborenen von Pisa“ schrieb Hebel, als diese in dem namens Pascal mitgebracht. Beim ersten kleinen Bad in Riedlingen bei Kandern im Schneefall riß Pascal das Fenster auf und Sommer 1812 Erholung suchte: „Wenn es rief ins Zimmer zurück: „Kapitän, sieh doch, nur nicht so weit wäre, wo könnt ich iezt es regnet Baumwolle!“ Sicher, schreibt Herb­ meine Ferien lieblicher zubringen, als in ster, ist dieser Vorfall im Städtlein bekannt R(iedlingen) wenn Sie und die Ihrigen dort geworden, und er vermutet, daß der Prä- sind . . . Wie gut bin ich dem Riedlinger zeptoratsvikar Hebel später auch davon Bad, daß es Ihnen dort gefällt, und noch gehört habe und dadurch zu dem Vers mehr, daß es Ihnen gut zuschlägt“. „Isch echt do obe Bauwele feil?“ angeregt An Hand von Familienpapieren hat Karl worden sein könnte. Herbster das abenteuerliche Feben eines Auch in einem poetischen Gruß an Daniel weitgereisten Efringers geschildert, des „groß­ Schneegans anläßlich der „Korker Inselweih“ britannischen Hauptmannes“ Georg Friedrich vom Mai 1810 verwendet Hebel noch ein­ Gaupp (1719—1798), der nach langen Jahren mal einen ähnlichen Vergleich: 149 Zumal da ihr leichtes loses Volk, Heiße Tage in der Residenz entringen ihm Dahin zieht wie eine Frühlings Wolk den Seufzer: „Wenn ich nur auch eigene Die weiß und flockig am Himmel schwebt, Reben hätte.“ Als wär sie aus lauter Baumwoll gewebt. In der „landschaftlich kargen Residenz­ Auf seinen Reisen ins Oberland kehrte stadt“ waren Hebel alle Mitteilungen über Hebel stets bei seinen Vertrauten in Weil das geliebte Oberland doppelt wertvoll, und und Rötteln ein, und vergaß auch nie, er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich seinen ehemaligen Studienfreund, Pfarrer mit Reisenden aus der alten Heimat zu Johann Wilhelm Schmidt in Hügelheim zu unterhalten. Einmal ist es der Oberst Kolb besuchen, der sich sehr tatkräftig als Werber von Basel, ein alter Bekannter aus seinen für die „Alemannischen Gedichte“ einsetzte. Lörracher Jahren, mit dem er sich über die Die Reiseerlebnisse spiegeln sich, namentlich altehrwürdige Stadt am Rheinknie, Weil und in den Briefen an Gustave Fecht, wider8). das Wiesental, unterhielt, dann der Graveur Auf einen guten Markgräfler Tropfen im Hueber von Basel, zum ändern Herr Johann Keller war Hebel auch in Karlsruhe sehr Michael von Lörrach und Doktor Beck von bedacht, und seine Oberländer Freunde Heidelberg: „Da war auch von Weil die haben ihn gern damit versorgt, Der Hebel­ Rede und von der alten Zeit.“ Groß war kenner R. Nutzinger meint dazu: „Fraglos die Enttäuschung, daß Herr Hueber von hat dies edle Getränk für ihn die lebendige Weil nur die „Sonne“ kannte. Verbindung mit seiner Heimat bedeutet.“ Auch auf Reisen ergriff der Dichter jede Dies bezeugt wohl am schönsten ein Brief Möglichkeit, um Neuigkeiten auf dem Reb­ an seine Freundin im Weiler Pfarrhaus: land zu erfahren: „Vor einigen Wochen traf „Wenns an einem Sonntag schön Wetter ich in Rastadt auf der Rheinau Jgf. Kisling, ist, und ich nur halbwegs glaube, daß von der ich alles auspreßte, was sie mir von iemand von Lörrach nach Weil komme, so Weil sagen konnte.“ Mit August Welper, laß ich mirs nicht abkauffen, daß ich nicht dem„Bammert“aus der Proteuser Gemeinde, in den Keller gehe, und auch mein Gläslein ist Hebel in Karlsruhe wieder zusammen­ mittrinke.“ gekommen, auch nach der Versetzung Wel- Gern erkundigt sich Hebel bei seinen pers nach Mannheim wurde die Verbindung Weiler Freunden nach dem Stand der Reben. weiter gepflegt, denn Hebel kam alljährlich „Stehen die Reben schön?“ (Mai 1807), als Mitglied der Prüfungskommission dort­ „Stehn die Reben gut? Wie geht der Wein hin. „Hauptgesprächsgegenstand sind wohl ab?“ (Ende Januar 1819), „Wie steht es... die Erinnerungen an das Oberland und die um die Reben, wenn wir schon keine haben? alten Freunde gewesen“ (W. Zentner). Oder haben Sie sich ein Privat Rebstück- Als Hebel seiner Freundin Gustave über lein beigelegt. . . ?“ (24. 8.1825 an G. Fecht), seine Eindrücke von einer Reise in den Seinen Herzensfreund Hitzig ermuntert er: Rheingau berichtet, stellt er immer wieder „Bald wird euch für alle Drangsalen der Vergleiche mit dem Oberland an: „Hätte Witterung eine freuden- und traubenreiche die Gegend mehr Abwechslung, so könnte Weinlese trösten, ihr gesegneten des Herrn“, die Aussicht so schön als die Tüllinger seyn. und der „Frau Vögtin“, Karoline Günttert Segne Gott mein Tüllingen — und Weil in Weil, gelten die heiteren Verse: unten dran zwiefach und zehnfach. Bingen Gott segne Euer Haus ligt wie Basel nur näher und kleiner, die vom Mann bis zu der Maus, Nahe ist die Wiese, der Rhein ist der Rhein, Traube reif und süß da und dort unten am Berg ligt Rüdesheim Saftig das Gemüs . . . wie Weil und Tüllingen.“ 150 Mit dem Lebenswunsch Hebels' nach 2) Aus Brief (17) An Hitzig (Mitte—Ende Fe­ bruar 1794), gedruckt Zentner 1957 I S.24—26. einer Landpfarrei im Oberland ist das Diß als Prolog zum Jaspis hier. freundliche Rebdorf Grenzach am Fuß des Sechs gegen Eins! — Er schmeichelt dir. Grenzacher Horns verbunden, wo er einst So glatt ist er, so spiegelhell und rein, aushilfsweise gepredigt hatte. und ist doch nur ein Feuerstein, Wie sie dem Hertinger Bauern beym Pflügen Wehmütige Gedanken haben Hebel stets Zum Dutzend vor den Füßen liegen. beim Verlassen des Oberlandes befallen, be­ War er nicht nach K. Ruh spatzirt, sonders aber auf der Rückfahrt im Oktober Hätt’ ihn nicht der Steinschleifer Meyer 1801: „ ... als ich von der Höhe des Schlien- Um einen Zweyer oder Dreyer, Zum schönen Schaustück polirt, gener Berges herab aus der dichten Wolke, So lag er bey Schliengen rauh und eckigt, die auf ihm lag, und leider abermals an Unbesehn und dreckigt. Auggen vorbey, dem Unterland entgegen Jezt sucht er seines gleichen unter den Steinen. wallte, fiel es mir schwer auf’s Herz, daß Lieber! b’sieh dich drinn, wirst einen Gespahn erschaun, auf der Fläche glatt, trotz der Tendenz unseres Geistes nach Der mir schon lang nicht geschrieben hat. Oben hinauf unser aller irdischer Gang und 3) Aus Brief (63) An Gustave Fecht (25. Oktober Wandel ein Gang in’s Unterland ist.“ Auch 1801), gedr. Zentner 1957 I S. 117—119. in einem Brief an Karoline Günttert vom Ich habe, meine theuerste Freundinn, das Ober­ Ende des Monats Mai 1826 lebt noch der land und Weil dismal wie allemal gar weh­ Gedanke an das Wiedersehen mit dem Ober­ mütig verlassen, und die Sonne hätte gar land: „ . . . Ich weiß zwar nicht, wie bald nicht nöthig gehabt, als ich durch die Oet- linger Reben gieng so schön zu scheinen, und ich wieder in das Oberland kommen werde, die liebe Gegend, aus der ich weggieng, mir doch wird mich Gott auch wieder hinauf­ noch einmal zu bemahlen . . . Ich nahm den führen — wie gern möchte ich hinzusetzen, nächsten Weg über Oedingen, Rötteln, Egrin- für immer.“ Noch in einem der letzten gen und Hertingen, wo ich viele, die mir Briefe Hebels an Gustave Fecht vom 31. Juli einst werth waren, nimmer fand . . . Den ersten Halt machte ich dann am Sont. Mittags wieder 1826 ist von seinem Freunde August Welper in Hügelheim, gieng am Mont, mit Schmid die Rede: „Der Bammert ist auf einige Tage nach Laufen und blieb dort übernacht. Viel von Mannheim hier. Er ist noch der alte. ward von Weil und Lörrach gesprochen, und Wir denken auch miteinander an die guten denken Sie sich nur den freundschaftlichen Weiler, an die Lebenden und die Heim­ Spezial. Zu großem Staunen aller die sein eigenes Thun und Wesen kennen, verließ er gegangenen.“ die Trauben im Weinberg und den Most auf „Unverblaßt leuchtet seinem inneren Auge der Kelter. .. und führte mich mit seinem das Oberland, ungemindert blieb die Liebe zu eigenen Rößlein nach Badenweiler und Hüg. seiner Landschaft und zu seinen Menschen“, zurück und blieb bei uns über Mittag. . . schrieb Wilhelm Altwegg, der Biograph des Aber das Fuhrwerk hätten Sie sehen sollen, Dichters. Hr. Spec. kutschirte selbst, wenn wir nicht beide mit dem Roß selbdrit zu Fuß giengen, Anmerkungen: Rebberg auf und ab, durch dick und dünn, *) Laubi und Lusti: Namen für Zugochsen, vgl. durch Löcher und über Höcker, Hohlgaß ein „Geitligers Laubi“ in Hebels Gedicht „Die und aus. Meine arme Seele hatt’ ich Gott Häfnet-Jungfrau“. befolen.

151 „Hebel, der milde Schutzgeist unseres Landes"

Bekenntnisse zu Johann Peter Hebel, gesammelt von Emil Baader, Lahr Als lebendige Bekenntnisse zu dem vor schwingt von Nebentönen, Verwandtschaft 200 Jahren geborenen alemannischen Mei­ und Heimlichkeit, es trägt so kurz und so ster Johann Peter Hebel können die in den weit, wie es gerade will. Sein Sprachgefühl letzten Jahren entstandenen „Hebelstuben“ ist so durchgebildet und süßreif, daß es ihm unseres Landes bezeichnet werden: Jene in allein gelungen ist (denn es war ihm ein Schopfheim, eingerichtet von Karl Seith, Spiel), volkstümlich zu schreiben, ohne ge­ jene in der „Alten Post“ in Müllheim, ge­ sucht oder süßlich zu werden.“ meinsam geschaffen vom Hebelbund und Am 5. Juli 1950 schrieb Adolf von vom Landesverein Badische Heimat, die G r o 1 m a n dem Langenhard ins Stamm­ „Hanauer Hebelstube“ zu Odelshofen bei buch: „Hebels lichter Geist kümmerte sich , wo auch eine Linde gepflanzt wurde nicht um das Widerspiel von Klassik und an der Stelle der bekannten Hebelinsel von Romantik, seiner inneren Statik kam es auf Odelshofen, zumal auch die Langenharder Form und Gesetz der Menschen vor Gott Hebelstube, die vor 10 Jahren, am 190. an._ „ £C Geburtstag Hebels, im Bergwirtshaus zur Der zu Merzhausen bei Freiburg lebende „Schönen Aussicht“ hoch über Lahr eröffnet Erzähler Friedrich Franz von Unruh wurde. Hier treffen sich Jahr für Jahr im schrieb in einem Brief: „Ich weiß noch, Mai die Hebelfreunde der mittelbadischen wie ich in Königsberg, das jetzt eine rus­ Landschaft, sich im Geiste Hebels um einen sische Stadt ist, in der Schule zum ersten­ Dichter scharend. mal Hebel begegnete und über der Ge­ Eine Kostbarkeit der Langenharder schichte vom Kannitverstan ins Sinnieren kam. Hebelstube ist das in Leder gebundene Seitdem ist er mir, so wie diese Geschichte „Langenharder Hebelbuch“, das planmäßig in tiefere und tiefere Gründe führt, im Bekenntnisse zu Hebel und zu unserm ale­ Laufe meines Lebens immer vertrauter ge­ mannischen Lande sammelt. Einige davon worden; und immer, wenn ich etwas Gutes seien herausgegriffen. oder Kluges über ihn lese, meine ich, es sei Von seinem Haus „Sommerhalde“ zu noch nicht das Ganze. Das kommt wohl, Ludwigshafen am Bodensee sandte der weil jeder von uns ein so persönliches Ver­ inzwischen verstorbene Meister der Anek­ hältnis zu Hebel hat.“ dote, Wilhelm Schäfer, in seiner Wilhelm von Scholz, 1874 zu markanten Künstlerschrift folgende Worte Berlin geboren, schrieb am 10. Mai 1951 über Hebel: aus seinem Konstanzer „Seeheim“: „Wir „Seit meiner Jugend war mir der Kalen­ verehren in Hebel unseren größten badi­ dermann vertraut; daß er mein Erzieher schen Heimatdichter, den Meister der ale­ zur Epik wurde, bekenne ich gern und mit mannischen Sprache, den Bewahrer unseres ehrfürchtigem Dank: mit einem Gruß an die Volks- und Landescharakters, den Erzähler, Hebelstube auf dem Langenhard.“ der allen schlichten, einfachen Menschen Der Nestor der oberrheinischen Dichter, unseres Stammes Stimme gab. Dennoch kann Emil Strauß, sandte am 9. Juni 1950 und muß man Hebel auch wieder ganz folgende Sätze über Hebels Sprache: anders sehen: als einen der größten Prosa­ „Leicht und rasch, wie ein Blick aus dem isten deutscher Sprache, als einen der begna­ Auge, kommt ihm das Wort, es klingt und detsten Erzähler, die unser Volk hervor­ 152 gebracht. Wir Badener können mit Stolz aus und Schöpfung, die es umschließen. So tief Goethes Schiller-Epilog sagen ,Denn er war er auch das Untergründige und Unheilbare unser“; aber er w a r es. Er ist längst in den des Lebens erfahren hat, so ist die Kraft Olymp emporgestiegen, wo nach Stammes-, seines Geistes doch eine versöhnende, ver­ ja nach Volkszugehörigkeit nicht gefragt klärende; die Milde der Rheinebene, in der wird, wo allein das Menschheitswort gilt.“ sich die Dissonanzen lösen, das Licht der Aus Paris, wo er damals Botschafter und Rebberge, ist darübergebreitet — während Geschäftsträger der Bundesrepublik Deutsch­ das Fließen der Zeit, des Geschichtlichen, land war, schrieb Dr. Wilhelm Hau­ das wenige wie Hebel auszudrücken ver­ se n s t e i n, Träger des Hebelpreises 1950, mochten, immer vernehmlich ist. 1882 zu Hornberg geboren: In seinem Leben und Werk ist das Land »Mein Verhältnis zu Johann Peter Hebel Baden, die elegische Stimmung zwischen ist das der reinsten Ehrfurcht vor einem Ober- und Unterland, zur Einheit geworden. Mann, den ich zu den großen Gestalten Er ist der milde Schutzgeist der deutschen Literatur und der Welt­ dieses Landes, gegenwärtig auf seinen literatur zähle. Das „Schatzkästlein“ liegt Wanderstraßen, in seinen prunklos-redlichen immer auf meinem Nachttisch, und ich lese Städtchen, auf den Friedhöfen, vor den seit Jahren fast täglich darin. Einer der Kirchen, den Burgtrümmern, an den Ufern gescheitesten Männer, die ich in meinem des Rheins, der Hebel geformt hat. Hebel nun schon langen Leben kennengelernt habe, hat dieses Land gesegnet und segnet es, hat mir einmal gesagt, eine Anekdote von solange sein Wort in seinem Volke lebt.“ Hebel mute ihn an wie ein Stück Erzäh­ Rolf Gustav Haebler, der in lung von Herodot, oder umgekehrt, ein Baden-Baden lebende Schriftsteller, weilte erzählendes Stück Herodot mute ihn an wie am 4. Dezember 1954 in der Hebelstube. Dabei bekannte er: „Eins scheint mir die eine Anekdote von Hebel. Ich habe dieser größte Gabe Hebels gewesen zu sein: die großartigen Kennzeichnung nichts hinzuzu­ menschliche Heiterkeit in allen Dingen und fügen. Sie spricht wahrhaftig für sich selbst in den Menschen, die er gestaltete. Wer, und scheint mir unmittelbar überzeugend frage ich, wer unter den deutschen Dich­ zu sein.“ tern war so voll lächelnder Behutsamkeit Reinhold Schneider, am Oster­ und verstehend verzeihender Nachsicht wie sonntag 1958 an den Folgen eines Unfalls Hebel? Keiner!“ heimgegangen, schrieb am 21. Mai 1953 , der aus Meß- dem Langenhard ins Stammbuch: „Die kirch stammende Philosoph, sandte am großen alemannischen Dichter Hebel, Gott­ 30. November 1954 folgende Sätze über helf, Keller sind eins in der Liebe zum Volk; Hebel: „Die Mundart ist der geheimnis­ während aber diese Liebe in Gotthelfs Werk volle Quell jeder gewachsenen Sprache. Aus neben dem künstlerischen auch einen päda­ ihm strömt uns all das zu, was der Sprach- gogisch polemischen Ausdruck sucht und geist in sich birgt. Was jedoch in Hebels Keller, indem er die Umwelt ergreift, sich Schatzkästlein an Schätzen verborgen ist, zugleich in die Abgründe der Subjektivität haben bis heute nur wenige ganz ermessen. versenkt, ist Hebels Werk ausschließlich Die deutsche Schriftsprache, in der Hebels von Liebe getragen: zum Volk in allen Erzählungen und Betrachtungen sprechen, seinen Gestalten und besonders den Stillen ist die einfachste, hellste, zugleich bezau­ und den Verwegenen — und zu Landschaft berndste und besinnlichste, die je geschrieben

153 wurde. Die Sprache des Schatzkästleins Von den zahlreichen anderen Autoren, die bleibt die hohe Schule für jeden, der sich sich zu Hebel bekannten, seien genannt Ernst anschickt, maßgebend in dieser Sprache zu Bacmeister, H ubert Baum, Eberhard reden und zu schreiben.“ Meckel und Max B i 11 r i c h, H erm ann Am Weihnachtstag 1954 sandte Theo­ Burte, Friedrich Roth, Max Duffner- dor Heuss, damals noch Bundespräsi­ Greif und Ludwig Finckh, Richard Gäng, dent, aus seiner Lörracher Hebelrede vom Joachim von der Goltz, Ida Gulden­ Mai 1952 folgende Sätze: „Hebel blieb schuh, Paula Hollenweger und A l­ lebendig und zwar nicht bloß deshalb, weil fred Huggenberger, Lina K r o m e r es seit 1860 eine so schöne Sache gibt wie und Desiree Lutz, Traugott Meyer, der das „Hebel-Mähli“. Und nicht bloß deshalb, verstorbene Basler Hebelpreisträger Ernst weil die Dankbarkeit des alemannischen Niefenthaler, Richard Nutzinger Volkstums ihn trägt, die Dankbarkeit dafür, Franz Philipp, O tto Reinache r, daß er die Heimatsprache sozusagen druck­ Ida Preusch-Müller und M ax reif gemacht hat, sondern weil er in diesem R i e p 1 e, Paul und Karl S ä 11 e 1 e, Gott­ bewußten und begrenzten Provinzialismus fried Schafbuch und August Vetter, der Gedichte ein Weltgefühl umfaßt, und die Dichter der Baar, Emanuel Stickel- weil in diesen, mit sehr viel Zeitluft des berger, Karl Willi Straub, Fritz W olfs­ aktuellen Zeitgeschehens angefüllten Anek­ berger, Eugen Falk, Karl J ö r g e r, doten der Unterton des Bleibenden, des Rudolf Hagelstange, H ans Heid, Gültigen, des Ewigen, des Ewig-Mensch­ H ans Matt-Willmatt, Alois Bur­ lichen mitklingt.“ ger u. a.

Äue „G o tt fenöet einen Dichter"

Der rafche Winter ging oorbei, Unö langfam rouröe offenbar, Es harn ins Lanö öer liebe Mai: W as öiefem Kinö befchieöen roar: Da fdirie in einer Basler Stube Dem Volh zu geben, roas ihm fehlte, (fchmal, eng unö nieöer, aber rein) Ein Lieö, öas feine Art befeelte. Urhräftig ein gefunöer Bube! Unö fanö öas grüne Wiefental Ein echtes, rechtes Kinö uom Rhein. So fchön roie Gottes Himmelsfaal.

Die Mutter nahm ihn an öie Bruft Das roar öem Büblein eingetan Unö fäugtc ihn mit Mutterluft, Von Urahn nach öes Herren Plan: Der Vater fprach: Es ift ein Staat, Zu fchauen als ein Bauernlanö Der Bube roirö einmal Solöat! Die Welt bis an Öen Sternenranö Doch Gott oom Htmmel Iah öarein Unö jener hohen Heimat Schein Unö fprach: Es foll ein Dichter fein! Zu ziehen in öie W elt hinein. Hermann Burte

154 Stunden in Hebels Geist Zehn Jahre Langenharder Hebelschoppen

Von Hermann Wiedtemann, Lahr Am 6. Mai 1959 kamen auf dem Langen­ weiten Blick in die Ebene, zum Straßburger hard zum zehnten Mal die zahlreichen Hebel­ Münster und zu den Vogesen ein zweiter freunde aus Lahr und der Umgebung zu fruchtbarer Gedanke verwirklicht: Hebel­ ihrer Hebelfeierstunde zusammen. Es sang und Heimatfreunde im Mai um Hebels Ge­ zu Beginn Anneliese Nüßle-Wickertsheimer burtstag herum zum Hebelschoppen Hebels „Freude inEhren“ und zumAbschluß einzuladen. seinen „Wächterruf“. Es lasen Oberländer Zum ersten Male geschah’s auf den 13. Mai Schülerinnen des Aufbau-Gymnasiums aus 1950 zum 190. Und es kamen so viele her­ seinen alemannischen Gedichten die sein auf, daß sie das Hebelstüble nicht fassen Jugendland verklärenden Verse von der konnte. So fand der Hebelschoppen, wie Wiese, von der Häfnet-Jungfrau und sein allemal seither, in den vorderen Gasträumen schlicht-profundes Weistum „Der Wegweiser“. seinen Ort. Das Streichtrio Beyerle-Köchlin- Dazwischen standen die tiefsinnige Erzäh­ Fischer spielte Beethoven und Mozart, An­ lung vom „Kannitverstan“, die schelmisch­ neliese Nüßle-Wickertsheimer sang Lieder hintergründige vom „Wettermacher“ und von Franz Philipp, die Wiesentälerin Elisa­ Lebensweisheiten aus seinen „nützlichen Leh­ beth Müller und die Wirtin lasen Hebel- ren“. Hermann Burtes „Hymne an Hebel“ Gedichte, Studienrat Rudi würdigte des und „Distichen“ faßten Hebels Wesen und Dichters Werk und seine Bedeutung für die Bedeutung. Und im zweiten Teil des Abends Gegenwart. Das war der Anfang, und er las der herzlich begrüßte Dichter, Denker fand Anklang. und Essayist Dr. Ernst Bacmeister. Am 26. Mai 1951 folgte der zweite Hebel­ Geigenspiel von Aufbau-Gymnasiastinnen schoppen. Und er war noch stärker besucht. umrahmte seine Lesungen. Auch alemannische Dichtergäste waren ge­ Das Jubiläum dieser Treffen rechtfertigt kommen: Hubert Baum, Hans Matt-Will- einen Rückblick, der etwas von der Atmo­ matt. Stüdienrat Ruch und Emil Baader be­ sphäre dieser Stunden spürbar machen soll. grüßten. Wieder las Frau Elisabeth Müller Und da sei dies gesagt: und sang Anneliese Nüßle. Rosemarie Ruder Es war ein glücklicher und schöpferischer las Friedrich Roths beschwörende Verse „An Gedanke, daß in der „Schönen Aussicht“ auf Hebel 1951“. Mir oblag es damals, über demLangenharderBergrücken über der Stadt Hebel, J. V. v. Scheffel und Hermann Eris Lahr der Hebelverehrer Emil Baader und Busse zu sprechen, ihr Hoheslied auf die die Markgräfler Wirtin Marie Wingert Heimat zu würdigen. Anlaß war der das einzigartige und heimelige Hebel- 125. Geburtstag Scheffels und der 60. Busses stüble schufen: die holzgetäferte Stube in diesem Jahre. Oberbürgermeister Dr. Paul mit ihrem Schwarzwälder Kachelofen, den Waeldin bekannte sich in seiner Ansprache Wandbänken, Bauerntischen und -Stühlen, freudig zu dem, was hier auf dem Langen­ den von Emil Baader liebevoll zusammen­ hard seine Stätte und im Hebelschoppen sei­ getragenen Bildern von Hebel und seinem nen Ausdruck fand. Lebens- und Freundeskreis. Und dann wurde Ein Jahr später, am 3. Mai 1952, waren hier oben in diesem Bergwirtshaus mit seinem wir wieder beisammen. Und diesmal kam

155 Hermann Burte, und mit ihm kamen Max Roth, Ernst Niefenthaler von Bürchau Dufner-Greif, Friedrich Roth, Hubert Baum unterm Belchen, Richard Gäng, Hans Heid und der Maler Adolf Glattacker. Das war und Hermann Länderer. Es wurde ein Sän­ der Schritt nach vorne und in die Tiefe. Der gerwettstreit auf dem Langenhard und ein Hebelschoppen auf dem Langenhard war Abend ganz in Hebels Geist. Wilhelm damit zu einem Forum gemacht worden, auf Zentner sprach über das, was vier dem schöpferische Geister des oberrheinischen Frauen — die Mutter, die lebenslange Freun­ Raumes Hebel vor uns stellten, in seinem din Gustave Fecht, die Schauspielerin Hen­ Geiste sprachen und aus eigenen Werken riette Hendel-Schütz und die „Pflegetochter“ lasen. So an jenem Maitag 1952 Hermann Sofie Bögner-Haufe — in Hebels Leben und Burte. Und es war, wie es unser goldenes Schaffen bedeuteten. Einfühlend und fein­ Buch festhielt, „für alle Teilnehmer ein sinnig wurde das aufgezeigt und gedeutet. einzigartiges Erlebnis, den Worten Burtes zu Und auch dieser Hebelkenner rief wieder lauschen und dabei in die weite abendliche auf, an Hebel, dem begnadeten Finder und Landschaft mit der untergehenden Sonne zu Künder der kostbaren Einfachheit im Leben schauen . . . Mächtig stand der Dichter im und in der Kunst, als einem unendlichen Kreise seiner Zuhörer, seine Stimme, seine Schatz festzuhalten. Sprache bezwangen alle.“ Er sprach davon, Der 6. Hebelschoppen am 14. Mai 1955 wie Hebel einem lange literarisch stummen war dem Gedächtnis der drei großen Ale­ Volk in seiner Mundartdichtung seineSprache mannen J. P. Hebel, Hans Thoma und wiedergeschenkt habe. Damit sei es dieses Albert Schweitzer gewidmet. Es sprachen Schatzes erst inne geworden. Aus fast ver­ und lasen der gebürtige Friesenheimer Dr. schollener Tiefe habe Hebel Mundartlieder Oskar Köhler, Frau Bergmann-Küchler und voller Kraft und Gemüt geschaffen. Burte Georg Binder. Dem 7. Hebelschoppen am pries ihn als einen Einigmacher im Geist, 26. Mai 1955 gab Joachim von der Goltz als Finder und Bewahrer, und er würdigte sein Gepräge — der Dichter, dem unser Land ihn als Beispiel und Vorbild für Dichter­ zur Wahlheimat geworden und der in die­ generationen nach ihm. Burte las eigene ser Stunde von der Verbundenheit mit ihr Gedichte, Friedrich Roth und Hubert Baum und ihrem Genius Hebel her tiefschürfende steuerten Geschichten und Verse bei, und Worte über dessen Bedeutung und die heil­ humorvoll erzählte Adolf Glattacker die same Bindung an die Heimat fand und dann Entstehungsgeschichte seines Hebelbildes, das in der ihm eigenen, ausgewogen-plastischen hier jedesmal fliederbekränzt auf uns herab­ Weise eigene Dichtungen las, alles den Teil­ sieht. Und denkwürdig bleibt, daß dieser nehmern zu einem nachklingenden Erlebnis Hebelschoppen seinen dichterischen Nach- prägend. Frau Wagner sang Lieder von klang in Max Dufners Sonettenkranz ge­ Brahms und Richard Strauß, ein Quartett funden hat. Das war ein Höhepunkt, der ließ Mozarts „Kleine Nachtmusik“ erklin­ jedem im Gedächtnis bleibt, der ihn mit­ gen. Und den 8. Hebelschoppen am 18. Mai erlebte. 1957 zeichnete das Kommen der Hebelpreis­ Am 16. Mai 1953 sprach und las Eberhard trägerin Lina K r o m e r aus. Es war eine Meckel aus Freiburg, von Todtnau war erst­ der Hebel-nahsten Feierstunden, als diese mals Otto Heinrich Klingele gekommen. schlichte Frau, die Bauerntochter aus Ober- Und zum 5. Hebelschoppen am 22. Mai 1954 eggenen, ihre beseelten und so formsicheren kamen Dr. Wilhelm Zentner, der verdienst­ alemannischen Verse las. „Lautlose Stille volle Herausgeber der Hebelbriefe, Friedrich herrschte im Raum. Sie malte in zarten Wor­

156 ten das Bild ihres Heimattales und in holz- Es ist aber noch ein weiteres. Und dar­ schnitthafter Weise das Antlitz der Men­ über sei gesagt: Schon oft ist der Hebel­ schen ihres Dorfes. Unvergeßlich die Schil­ schoppen als ein „Familienfest der Hebel­ derung der ländlichen Beerdigung, großartig freunde“ bezeichnet worden. Das darf und ihr „Johannistag“ . . . Die Zuhörer standen soll er sein. Aber das als seinen einzigen im Bann einer außergewöhnlichen Persön­ Inhalt anzusehen, birgt eine Gefahr: — die lichkeit“, rühmt der Chronist. Umrahmt Gefahr von Familienfesten, sich in Senti­ war ihr Lesen von Liedern — Verse Lina mentalitäten oder flacher Unterhaltung zu Kromers, die Oskar Baumann vertonte und erschöpfen. Das darf mit dem Langenharder Anneliese Nüßle sang. Hebelschoppen nicht geschehen. Er muß Stil Anders wieder war der 9. Hebelschoppen und Niveau bewahren. Er ist nicht nur ein am 10. Mai 1958, als zum erstenmal ein schwereloses, heiteres „Stündli“, sondern Gast von jenseits des Rheines hier zu Wort muß immer auch ernste Stunde der Besin­ kam: der unterelsässische Arzt und Dichter nung und der gegenwartsbezogenen Aus­ Paul Berthololy. Seine Lesung führte einandersetzung sein und bleiben. Das ist zunächst tief in das mythische Wesen und seine kulturelle und kulturpolitische Sendung Weben der Landschaft, aus der er kam und in dieser Zeit der vielfachen kulturellen Ver­ der er mit Herz und Geist verbunden ist. antwortungslosigkeit und der intellektuali- Dann aber ließ er mit derber Realistik ein stisch-snobbistisch-abstrakten Anarchie, die buntes Kaleidoskop vom Jahrmarkt des mit allen ihren Nebenerscheinungen zur Lebens in Scherz, Ironie und tieferer Bedeu­ seelisch-geistigen Gefährdung unseres Volkes tung vor uns seine Bilder entrollen. und des Abendlandes geworden ist. Das ist der mir nötig erscheinende Rück­ Hier soll Hebels Wort und Geist Ausgangs­ blick auf die seitherigen Hebelschoppen auf ort und tragende Mitte sein. Das aber nicht dem Langenhard anläßlich der zehnten Wiederkehr. Es ist ihr Sinn und ihre Bedeu­ nur im Sinne musealer Liebe und der Über­ tung, daß Hebels heiterer und besinnlicher lieferung, sondern als fortwirkend lebendiger Geist aus seinen Gedichten und Erzählungen Anstoß zu echter Lebenswirksamkeit edler immer wieder aufs neue die daran Teil­ Kunst und zu persönlicher Besinnung auf nehmenden beseele und von da aus ihren die „Sachen ene dra“, von denen er sprach, Alltag begleite. Das ist das eine, wozu wir der die „rainsti Seel ab eusem beste Bode“ hierher kommen und einladen. (Burte) war und ist und bleibt. Johann Peter Hebel und seine Zeit Eine Karlsruher Ausstellung zum 200. Geburtstag des Dichters Von O tto Ernst Sutter, Gengenbach Es mag ein wenig überraschen, daß die schlossen hat, anläßlich der 200. Wiederkehr Gedenkausstellung für Johann Peter Hebel seines Geburtstages Johann Peter Hebel in anläßlich seines 200. Geburtstages in Karls­ einer Schau zu feiern, so einmal deshalb, weil ruhe veranstaltet wird. Nun, der Dichter gerade er unter dem Gesichtswinkel der Be­ hat beinahe zwei Drittel seiner Lebensjahre ziehungen zu seiner Zeit und seinem Land in der damaligen badischen Residenzstadt verstanden sein will und sich anschaulich verbracht, und in ihr sind alle seine unver­ schildern läßt, und weil er außerdem, wie gänglichen Werke, die „Alemannischen Ge­ vielleicht kein anderer Dichter, auch heute dichte“, das „Schatzkästlein des Rheinischen noch „lebt“, will besagen, in der Welt, der Hausfreundes“ und die „Biblischen Geschich­ er entstammt, den Menschen wirklich noch ten“ entstanden, nicht zuletzt aber auch die nahe und vertraut ist. Dies möchte nicht meisten seiner wundervollen Briefe geschrie­ zuletzt im Titel der Ausstellung anklingen: ben worden. Zu recht, so wird man sagen „Johann Peter Hebel und seine Zeit“ — dürfen, wird in einer mit Umsicht und zur Zeit Hebels gehört auch die Gegenwart. Liebe vorbereiteten, sorgsam gestalteten Den Gestaltern der Karlsruher Ausstellung Schau, die in Räumen des Sammlungsgebäu­ lag am Herzen, den ungekünstelten, gesun­ des am Friedrichsplatz untergebracht ist und den, so wohltuenden Wesenszug heiteren wie vom 7. Mai bis zum 22. September dauert, besinnlichen, volksnahen Menschentums fühl­ das Gedächtnis dieses unvergleichlichen Geistes bar zu machen, dessen Hauch einen umweht, gerade in Karlsruhe beschworen. wenn immer man mit Johann Peter Hebel Lebensläufe und Werke von Dichtern und in Berührung kommt. Dabei wurde freilich Denkern pflegen an sich, wenn gleich nicht bewußt versucht, den Dichter und Menschen völlig spröde, doch fast immer nur schwer der (irrtümlichen Voraussetzungen entsprin­ zu bewältigende Ausstellungsstoffe zu sein. genden) „Verniedlichung“ zu entreißen, in Poetische und geisteswissenschaftliche Schöp­ die er gelegentlich verstrickt wird. Der fungen wenden sich an den lesenden oder Dichter in unserer Ausstellung ist die über­ zuhörenden Menschen. Gewiß, Bildnisse einer ragendste Gestalt am Oberrhein im Zeitalter Persönlichkeit, der eine Schau zugedacht ist, der deutschen Klassik. wissen zu fesseln, Niederschriften ihrer Eine Ausstellung wie diese verlangt un- Hand, ihrer Dichtungen und Traktate die abweislich eine ausführliche, wenn man will, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Er­ liebevolle Beschriftung, die alle ihr zu Ge­ innerungsstücke aus ihrem Dasein unser Ge­ bote stehenden Register zieht. Der „Rhein­ müt zu bewegen — aber es läßt sich doch ländische Hausfreund“, der Briefeschreiber nicht übersehen, daß etwa Kunst- und vor Johann Peter Hebel versetzt in die be­ allem Industrie-Ausstellungen über attrak­ glückende Lage, ihm selbst immer wieder tivere Anziehungskräfte verfügen. das Wort zu geben. Nicht wenige Besucher Wenn sich nun die Stadt Karlsruhe, in werden in dieser Ausstellung unseren Dichter dankenswerter Gemeinschaft mit der Regie­ von neuer Sicht her sehen und erleben! Die rung des Landes Baden-Württemberg und angestrebte, erschöpfende Beschriftung — unterstützt von zahlreichen, dem Beginnen eine Beschriftung großen Stils und umfas­ wohlgesinnten Leihgebern, dennoch ent­ senden Inhalts — macht einen Ausstellungs­ 158 katalog der üblichen Form überflüssig, den hört zu den zeitgeschichtlich kennzeichnend­ man — in Händen haltend und in ihm sten Dokumenten der Ausstellung. Seine Zu­ blätternd — fortlaufend zu Rate ziehen gehörigkeit zum Rheinbund nötigte Baden, muß, um der Schau näher zu kommen. Napoleon Truppen in übergroßer Zahl zur Unsere Ausstellung will wie eine Wanderung Verfügung zu stellen. Unter den Fahnen durch Zeit und Land Johann Peter Hebels Frankreichs kämpften tapfere Badener in und durch sein irdisches Dasein genossen Spanien und in Rußland. Erinnert wird hier werden. u. a. daran, daß Hebel, darum gebeten, für In dem erfreulicherweise bereits weitest­ die badischen Soldaten zwei Lieder gedichtet gehend wiederaufgebauten Sammlungs­ hat. gebäude im Herzen von Karlsruhe stehen Ebenfalls auf Betreiben Napoleons kam es der Ausstellung drei Räume zur Verfügung: zur Ehe des Erbprinzen, späteren Groß­ Die große Eingangshalle, ein Zwischenzim­ herzogs Carl, der seinen Großvater Carl mer mit dem Gang davor und ein weiter, Friedrich auf dem Thron folgte, mit Ste­ heller, festlicher Saal. phanie Beauharnais, einer Nichte von Jose­ Der Besucher, der vom Friedrichsplatz aus phine, der Gemahlin Napoleons. Dem Hei­ die Ausstellung betritt, wird sich, so darf ratsplan widersetzte sich Carls Mutter, die man gewiß annehmen, freudig bewegt füh­ deutschgesinnte Markgräfin Amalie. Napo­ len, von der überlebensgroßen, stattlichen leon adoptierte Stephanie und erhob sie zur Figur des Dichters, auf die der erste Blick Prinzessin von Frankreich. Hebel begrüßte fällt! Der verehrte, betagte Meister, Pro­ den Einzug der jungen Erbgroßherzogin fessor Wilhelm Gerstel hat den Abguß seines ebenso freudig wie reizvoll. Nach dem frühen schönen Lörracher Denkmals ausstellungsreif Tod Carls (1818) erwarb sich Stephanie im gemacht. Die Gestalt des wandernden Dich­ ganzen Land aufrichtige Zuneigung. Als sie ters will als warm empfundene Ehrung ver­ im Januar 1860 heimging, trauerte Baden standen sein, vor allem aber auch den in aufrichtiger Verehrung um die Entschla­ „lebendigen Hebel“ versinnbildlichen. fene. Im Hinblick auf die hundertste Wieder­ Bildnisse, Büsten, Dokumente u. a. in der kehr ihres Todestages erfährt die Gestalt Eingangshalle führen in die Zeit um die dieser Fürstin, die viel zur Verständigung Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert zurück, zwischen ihrer Geburts- und ihrer Wahl­ in die „Hebel-Zeit“. Markgraf Carl Fried­ heimat beigetragen hat, eine besondere Wür­ rich, der spätere Kurfürst und erste Groß­ digung. herzog, förderte den jungen Hebel und be­ Die Schwiegermutter Stephanies, Mark­ rief ihn nach Karlsruhe, das ihm dann zum gräfin Amalie, wurde von ihrer Zeit gern Schicksal geworden ist. Farbig gehaltene als „Schwiegermutter Europas“ bezeichnet, Landkarten erinnern daran, aus welcher ver­ weil von ihren sechs Töchtern fünf mit regie­ wirrenden Vielzahl kleiner, weltlicher und renden Fürsten vermählt waren. Vor allem kirchlicher, „souveräner“ Staatsgebilde das die Verbindung ihrer Tochter Luise Marie, Großherzogtum entstanden ist. Die Grün­ die die Namen Elisabeth Alexejewna an­ dung Badens, die staatsmännisch und diplo­ nahm, mit dem Zaren Alexander I. von matisch vor allem von Sigmund Freiherrn Rußland kam dem Land Baden zugute. Als von Reitzenstein gemeistert wurde, geschah auf dem Wiener Kongreß und auch noch auf „Geheiß“ Napoleons, dessen Bild des­ danach Bayern die Pfalz und Österreich den halb in der Ausstellung nicht fehlen darf. Breisgau zurückverlangten, ließ Alexander Das Original der Akte des Rheinbundes ge­ den Bemühungen des Großherzogtums, seine

159 Auflösung zu verhüten, entscheidende Unter­ dieses Daseins und des Wirkens Johann Peter stützung angedeihen. Hebels kann sich erfreulicherweise auf eine Großherzog Carls Nachfolger war sein Fülle von Bildern und Dokumenten stützen, Onkel Großherzog Ludwig. Durch ihn wurde die mit Bedacht und gesammelter Aufmerk­ Hebel zum Prälaten der Evangelischen Lan­ samkeit betrachtet sein wollen. Die „Lebens­ deskirche und zum Mitglied der ersten schau“ gliedert sich in folgende Gruppen, Kammer ernannten der er mit dem Bistums­ die freilich, um alles Starre und Steife zu verweser, Freiherrn von Wessenberg, der vor vermeiden, nicht scharf gegeneinander ab­ 100 Jahren gestorben ist, freundschaftliche gegrenzt sind: Beziehungen anknüpfte. 1. Geburtsstadt Basel — Eltern — Kindheit Das von Friedrich Weinbrenner geformte Hausen — Schopfheim Gesicht der Residenzstadt, in der Hebel sich 2. Erste Karlsruher Zeit — Besuch des als Erzieher wie als Kirchenmann, als Dichter Gymnasiums der Residenz (1774—1778) wie als aufgeschlossener, vielseitig gebildeter 3. Studium in Erlangen (1778—1780) und Repräsentant seiner Zeit hohes, tragfähiges Theologieexamen (1780) Ansehen erwarb, findet in einer Reihe von 4. Hertingen — Hauslehrer und Vikar — Stichen und Darstellungen in der Eingangs­ Tannenkirch (1780—1783) halle beredten Ausdruck. 5. Lörrach: Präzeptoratsvikar(1783—1791) Im Zwischenzimmer nimmt der Schreib­ 6. Belchenkult — „Proteuserei“ tisch des Dichters als besonders geschätztes 7. Gustave Fecht, die Freundin liebenswertes Ausstellungsstück die Aufmerk­ 8. Hebel in Karlsruhe (1791—1826) samkeit der Gäste in Anspruch. Wer be­ 9. Der weitgespannte Freundeskreis trachtete ihn nicht mit stiller Andacht, fast 10. Die Dichtungen Hebels und Urteile der mit Scheu — den Schreibtisch, auf dem fast Zeitgenossen über sie alle seine Briefe und seine Dichtungen nie­ 11. Der Prälat — Mitglied der ersten dergeschrieben worden sind. Von den Wän­ Kammer den blicken Urkunden herab, so das Diplom 12. Heimgang des Dichters — Schwetzingen der Ernennung Hebels zum Ehrendoktor der Bildnisse und Dokumente an den Wänden Theologie der Universität Heidelberg und werden ergänzt durch zahlreiche Original­ viele andere ähnliche Begegnungen wissen­ manuskripte u. ä. in den Vitrinen. schaftlicher Gesellschaften. Zwei Vitrinen bergen früheste und spätere Drei besondere Einzelgruppen verdienen Ausgaben der Werke des Dichters und das hervorgehoben zu werden: Schrifttum über ihn. Musikfreunde werden I. Auf besonderen Wänden wird an die die Manuskripte von Vertonungen einiger schönsten Gedichte und Kalenderge­ Hebellieder mit Interesse betrachten, so die schichten Hebels erinnert, und zwar in vom zeitgenössischen Meister Franz Philipp. Verbindung mit der Wiedergabe von Der große eigentliche Hebel-Saal gilt nun Illustrationen verschiedener Künstler. ganz dem Leben und Schaffen des Dichters. II. Vor hundert Jahren entstand in Hausen Auf einer großen Landkarte sind die wich­ das „Hebelmähli“, eine Stiftung der tigsten Orte vermerkt, mit denen Hebel in Basler Hebelfreunde. Bekanntlich wurde Berührung gekommen ist. Flankiert wird dieses „Hebelmähli“, dessen Name zu­ diese Karte von zwei Tafeln, auf denen die rückgeht auf die Bewirtung der alten wesentlichsten Daten in seinem Dasein zu­ „Mannen“ und Frauen am Geburtstag sammengestellt sind. Die Sichtbarmachung des Dichters, zu dem alljährlich am

160 10. Mai mit hoher Begeisterung gefeier­ befunden haben, für unser Land ver­ ten Hebelfest. An dieses „Hebelmähli“ loren gegangen sind. Hätten sie nicht erinnert eine größere Zahl reizvoller für Baden erworben werden können? photographischer Aufnahmen. Auch der Nun, sie befinden sich im Eigentum von Lörracher Hebelbund mit seinem Schweizer Sammlern, sind also zum „Hebeldank“ kommt zu Wort. Im Jahre Glück in vertrauenswürdigen Händen. 1936 wurde der Staatliche Hebelpreis So viel in knappen Strichen über unsere gestiftet, der vom Land Baden-Würt­ Ausstellung. Man erlaube mir noch ein kur­ temberg übernommen worden ist. Man zes Nachwort. wird die Bildnisse aller bisherigen Es gibt keine beglückendere und sinn­ Hebelpreisträger, verbunden mit kurzen vollere Ehrung eines Dichters, als daß man Lebensdaten, betrachten können. von ihm sagen kann, er „lebe“, und als die III. Die Bildnisse des Dichters — leider frei­ Versenkung in seine Werke. Möge unsere lich zum großen Teil nur in photo­ Ausstellung dazu beitragen, daß vor allem graphischen Wiedergaben — sind auf auch die Heranwachsenden einsehen lernen, einer besonderen Wand zusammenge­ wie sehr es sich „lohnt“, in Hebels Dichtun­ faßt. Hier wird man mit Gefühlen der gen daheim zu sein, sich dem Verpflichten­ Enttäuschung, ja der Beschämung feststel­ den seines Menschentums zu überlassen. len, daß diebeiden ausdrucksvollsten Por­ Verneigen wir uns vor dem „lebendigen träts von Johann Peter Hebel, das von Hebel“! Er gehört zu den verläßlichsten Iwanow und das von Becker, die sich Tröstern in dieser Zeit unvorstellbarer 1907 noch in badischem Privatbesitz Irrnis und Wirrnis!

Hebel, öas „Maiechinö"

ln öer W elt regiert öer Sebel Aber eufe liebe Hebel Ifch e gfegnet Maiechinö, Jo, fy Seel chunnt urem Maie W ie öer Bluemeöuft an Raie, Ae me groiß hai befferi ftnöt.

H. Burte

11 Badische Heimat 1960 161 Ein norddeutscher Nachfolger Johann Peter Hebels Zu den „Allemannischen Liedern" Holifmanns von Fallersleben Von V o lk er Schupp, Freiburg Im Frühjahr 1803 übergab Johann Peter zurück und tröstete uns durch sie für die, Hebel seine „Alemannischen Gedichte“ der die uns der Sturm der Zeiten weggeführt Öffentlichkeit. Das Bändchen, das mit so hat?“2) ungewissen Aussichten seinen Weg antrat, Dieser Wunsch nach einem Nachfolger wurde ein Erfolg, mit dem der Dichter ging bald in Erfüllung, wenn auch anders, wohl zufrieden sein konnte: Schon bald als der sich vorgestellt hatte, der ihn getan: waren weitere Auflagen erforderlich; sogar Noch im selben Jahr wie Hebel veröffent­ die illegalen Nachdrucker, die „Raubvögel“, lichte der Freiburger Professor Ignaz Fell­ wie Hebel sie nannte, stürzten sich auf diese ner eine Sammlung „Neue Alemannische Beute, und bekannte Zeitgenossen wie Johann Gedichte“, die Hebel ziemlich verärgerte8). Georg Jacobi, Jean Paul und Goethe rezen­ „Meine stille Absicht war es mit“, so schreibt sierten das Werkchen mit größtem Wohl­ er an Freund Hitzig, seine eigenen Worte wollen. Von Goethe wissen wir auch, .daß wiederaufnehmend, „durch die neuen Töne er damals gern Bekannten alemannische hie und da eine Harfe zu wecken. Aber die Gedichte vorlas1). Fellnerische meinte ich nicht“4). — In der Aber so sehr ihn der Erfolg freute, Hebel Folgezeit hätte sich Hebel wohl noch öfters hatte noch andere Ziele im Auge gehabt. ärgern müssen; hie und da hätte er sicher­ Dem bekannten Sprachforscher Friedrich lich auch seine stille Freude gehabt. Viele David Gräter hatte er in selbstbewußter jedenfalls fühlten sich in den anderthalb Bescheidenheit die „Probe einer vaterlän­ Jahrhunderten von ihm angesprochen und dischen Dichtungsart, die in einem nicht ganz kamen, aus seiner Quelle zu schöpfen, Be­ werthlosen Dialekt unserer Sprache . .. ver­ rufene und Unberufene. Die Harfe abgenom­ sucht worden“ ist, übersandt und dabei pro­ men hat ihm keiner von ihnen. grammatisch ausgesprochen: „Meine erste Die überraschendste Dichtergestalt in der Absicht ist die, auf meine Landsleute zu Hebelnachfolge ist sicherlich August Hein­ wirken, ihre moralischen Gefühle anzuregen, rich Hoffmann, den man nach seinem und ihren Sinn für die schöne Natur um sie Geburtsort im damaligen Kurfürstentum her theils zu nähren und zu veredele(n), Hannover Hoffmann von Fallersleben zu theils auch zu wecken. Sollte die alte und nennen sich gewöhnt hat, der Dichter des bekannte Frage der glücklichen Überraschung: Deutschlandliedes. Zu seinen fast ganz ver­ ,wie hören wir ein ieglicher die Sprache, in gessenen Werken zählt auch eine Sammlung der wir gebohren sind* nicht noch einmal „Allemannische Lieder nebst Worterklärung ein kleines Wunder thun können? Und wie, und einer allemannischen Grammatik“. Die wenn irgend wo am Schwarzwalde oder an Entstehungsgeschichte dieses seltsamen Bänd­ den Alpen, im dunklen Tannenhain oder chens erzählt der Autor selbst in der Vorrede. auf der lachenden Trift der schlummernde „Ostern 1821 verließ ich die Universität Dichtergeist eines reingestimmten Natur­ Bonn und begab mich nach Holland, um sohnes geweckt würde durch diese heimischen dort die altniederländische Literatur näher Töne, er nähme mir die Harfe ab, und kennen zu lernen. Ich fand in Leiden die zauberte uns durch reiner geschöpfte Natur­ gastfreundlichste Aufnahme . . . Während gesänge in die verwehten Tage der Vorzeit mich die niederländischen Sprachdenkmäler 162 und Volkslieder fast ausschließlich beschäf­ Herbst und Abschied kreisenden Gedicht­ tigten, lernte ich zuerst Hebel’s alleman- zyklen. nische Gedichte kennen. Ich ward bald mit An Meieli ihrer Form und ihrem Inhalte vertraut; je I ha so tusigmol an Di gidacht, mehr ich in das Verständnis eindrang, je Mir isch der Tag nit lang, nit lang die Nacht. größer ward der Genuß; ich freute mich O Meieli, was solli echt biginne? bald nicht mehr allein daran, ich wußte auch Du hesch umfangen alli mini Sinne. meine Leidener Freundinnen dafür zu ge­ winnen. Die Sprache wurde mir nach und Und eb der Morgestern vo danne goht nach so geläufig, daß ich nun selbst anfing, Und dort die Sunn am heitre Himmel stoht, mich darin poetisch zu versuchen. Der Ein­ Se sitzi still, as thäti schier verlange: druck, den Hebel’s liebliche Dichtungen auf Wien isch es echt mi’m Meieli ergange? mich machten, war ein gewaltiger und nach­ haltiger, so daß ich eine lange Zeit Alles was Und wenn die liebi Sunne nidersinkt, mein Gemüth am meisten bewegte, am lieb­ Der Obestern scho us der Ferni blinkt, sten in der Hebel’schen Sprache wieder zu Denn chunnt mi altes Sehnen und mi Bange: geben suchte. Es schien mir, als ob ich gewisse Wien isch es echt mi’m Meieli ergange? Gefühle, die ich nicht offenbaren wollte und durfte, nur in dieser Sprache aussprechen So hani tusigmol und tusigmol gidacht. könnte und dürfte. Ich liebte, und fand Was isch mi Denke, wenn Di Engli wacht? keine schönere Sprache, worin ich Meieli Die Engli wacht, des wirdi schon eninne, besingen konnte, als eben die des nie ge­ Drum willi fröhli Allis nur biginne. sehen Wiesenthals. Mich störte gar wenig, Werfen wir, statt uns mit der konventio­ daß mir als Norddeutschen von Jugend auf nellen Thematik zu befassen, einen Blick auf diese Sprache völlig fremd gewesen war, die Technik: Ein von Hoffmann angewandtes daß ich sie von Niemand lernen und vor­ Kunstmittel, durch die Wiederholung der läufig nur aus Hebel schöpfen konnte. Meine Reime der ersten in der letzten Strophe Freunde fanden es wunderlich, daß ich in das Ende wieder in den Anfang münden zu einer fremden Mundart dichtete . . . ich ließ lassen, legt einen starken Akzent auf die mich nicht irre machen und studierte, seit ich Reimwörter „gidacht“ und „biginne“, die wieder im Vaterlande war, nur noch eifriger so jedem Dialektkundigen sofort ihre den Hebel . . . Mitten in meinen ernsten Fremdheit offenbaren müssen. Tatsächlich Beschäftigungen suchte mich die Liebe von kennt die Mundart die Form „gidacht“ neuem heim. Ich konnte Meieli nicht ver­ nicht — Hebel gebraucht stattdessen „denkt“ gessen, und was ich von ihr gesungen hatte, — und „biginne“ ist ebenfalls nicht geläufig. sang ich nun von einer neuen — ich nannte „Gidacht“ ist aber die althochdeutsche Form sie Rosegilge . . . Ich wußte dieses wunder­ des Partizips von denken. Hier öffnet sich bare heimliche Liebesglück nicht anders aus­ der Blick in die Entstehungsbedingungen der zusprechen als eben wieder in allemannischer „Allemannischen Lieder“. Sprache . . . So entstanden im Verlaufe etwa Wie so mancher mittellose Student hatte dreier Jahre die meisten meiner Lieder, die auch A. H. Hoffmann 1816 das Studium ich im Allemannischen dichtete." der Theologie begonnen, sich aber bald ent­ „Meieli“ und „Rosegilge“ heißen denn täuscht der klassischen Altertumswissenschaft auch die beiden um Frühling und Liebe, zugewandt. Sein eigentliches Lebensziel jedoch

11 163 erkannte er erst, als er auf einer Studienreise bar sich in ihm die alte alemannische Volks­ in Kassel gegenübertrat und sprache erhalten haben möge“9). Daß Hoff­ dieser die für Hoffmann so folgenschweren mann seinen alemannischen Liedern eine Worte sprach: „Liegt Ihnen Ihr Vaterland kurze Grammatik mitgab, bestätigt diese nicht näher?“5) Die aufblühende Germa­ Haltung des Poeta philologus. nistik mit ihrem vaterländischen Elan hatte Auch die „Allemannischen Lieder“ sind damit den schwankenden Studenten end­ nämlich Antworten auf die Verlockungen gültig in ihren Bann gezogen. Mit Feuer­ des alten Sprachzustandes, in mancher Hin­ eifer ging er von nun an in alten Hand­ sicht sogar Imitationen volkhafter Dichtung schriften auf Schatzsuche, und noch dem und müssen stets vor dem aufgezeigten Studenten glückte ein bedeutsamer Fund: Hintergrund gesehen werden. Im hölzernen Einbanddeckel einer Hand­ Ob wir nun gleich in dem oben zitierten schrift der Summa Theologiae des Thomas Gedicht das gesamte Repertoire Hebelscher von Aquin entdeckte er drei schön geschrie­ Kosmologie vorfinden, ist der Unterschied bene Pergamentblätter, die er als zu Otfrids doch unverkennbar. Wir brauchen uns nur von Weißenburg Evangelienbuch gehörig an Hebels „Morgenstern“ zu erinnern. Die identifizieren und veröffentlichen konnte6). ganz besondere Korrespondenz von Mensch Das Finderglück war ihm übrigens noch öfter und Natur, die dort entsteht, indem einer­ zur Seite: Jahre später stieß er in der Für- seits — nach Goethes Worten — „auf die stenbergischen Bibliothek zu Prag auf das naivste, anmutigste Weise .. . das Universum Fragment einer poetischen Erdbeschreibung verbauert“10) wird, andrerseits die Menschen des 11. Jahrhunderts, der er den Titel „Meri- sich unbefangen im kosmischen Rahmen be­ garto“ gab. Heute ist dieses Blatt eines der wegen; die lebendige Wechselbeziehung kostbarsten Stücke der Donaueschinger Hand­ zwischen beiden, die den Menschen ihre schriftensammlung. Würde, der Welt ihre „Heimeligkeit“ ver­ Die alten Dichtungen waren für Hoff­ leiht — diese Korrespondenz verflacht bei mann jedoch nichts Totes, nur noch für den Hoffmann zu lyrischer Staffage, zu schwäch­ philologischen Seziertisch Verwendbares. Sie licher Paraphrase direkter Zeitangabe. Die stellten sich ihm dar als lebendige Wesen­ Verse huschen denn auch in blasser All­ heiten, ihn zur Nachahmung, zu eigener gemeinheit eindruckslos vorüber. Produktion herausfordernd. Dabei war Hoff- manns Einfühlungsvermögen so stark, daß Rosegilge seine Imitationen mittelalterlicher Volks­ Nummen Eini, dichtung oft von Kennern für echt gehalten Anderst keini, wurden7). Er schrieb auch 16 althochdeutsche Jo, Di meini, Gedichte, die dann — der Kuriosität halber Rosegilge, mit dem Früehlig Diner Wange! sei es vermerkt — der Germanist Moritz Und afange Haupt ins Mittellateinische übertrug8). Goht der chalte Winter mines Lebes abe — Im alemannischen Dialekt trat nun Hoff­ Usern Grabe mann eine noch lebende Sprachform ent­ Miner Hoffnig blüeiht e Bluem die schöni, gegen, die sehr viele Eigentümlichkeiten des Nummen Eini, [feini — alten Deutsch bewahrt hatte, und er wußte Anderst keini, wie auch schon Hebel, „wie nahe dieser Jo, Di meini. (Dialekt) an das Alterthum unserer dunk­ Dieses Gedicht zeigt einen klaren Kunst­ leren Jahrhunderte gränze, und wie kenn­ verstand am Werke. Der feine Wechsel 164 zwischen zwei- und sechshebigen Versen ihrer großen Dichtung scheint uns hiermit mit dem raffinierten Spiel der Klangwir­ ausgesprochen. Wie soll aber die Seele ihren kung im Kontrast der hellen, heiteren Atem schöpfen in fremdem Element? — Reime auf eini (am Anfang und Schluß) „Das Alemannische wurde nun die Sprache mit den dunklen auf abe (in der Mittel­ meines Herzens“13), meinte Hoffmann; es achse des Gedichts) zeugt von beachtlicher blieb aber eine angenommene Sprache, die Virtuosität. Und doch spüren wir selbst Geheimsprache seines Herzens vielleicht, die hier noch, wenn auch weniger als in den seine Gefühle umhüllte, aber nicht gestaltete. meisten ändern Gedichten, die Kluft zwi­ Hebels Worte drängen sich auf: schen den gleichsam vorgefaßten Gefühlen „Nei, in der Stube chunnt’s eim nit, und den künstlich aufgesetzten, oft abgegrif­ Und in de Büechere lehrt me’s nit.“14) fenen Worten. Der Ausdruckswert ist gering. Gefühl wird in Wort übersetzt wie ein Ein weiteres Gedicht möge dies verdeut­ schon vorhandenes Gedicht in eine fremde lichen: Sprache. Diese Verse entbehren so der letz­ Im Frühlinge zu B. ten Notwendigkeit und Selbstverständlich­ Was solli doch scho mit de Blueme? keit, die wirklicher Dialektdichtung ihren Jez hani ke Chränzeli noth. Rang verleihen. Went ihr sie mer öbbe verwahre, J. G. Jacobi hatte in seiner Rezension von No sibe Johr thüent sie mir spare, Hebels Gedichten eine Übertragung vor­ Denn bini todt. geschlagen, weil er meinte, auch in der hoch­ Denn pflanzet mer an mi Hügel deutschen Übersetzung müsse der Stempel Zuem Haupt e Röseli roth, des echten Dichtergeistes noch an den Ge­ E Gilge denn au zue de Füeße, dichten erkannt werden. Wie Jacobi selbst Die zwei die müen si denn grüeße hatte es auch Hebel versucht; er bemerkte So früeih as spot. aber dann später, eine Übersetzung ins Hoch­ deutsche komme ihm vor, „wie wenn man Und wenn die Lüt nu froge: ein hübsches, naives Bauernmädchen in Wer schlofet denn dort, wer hie? städtischen Putz kleide und in die vornehme Rosegilge Du liebi, bidüte, Gesellschaft einführe“11). — Hier ist das Rosegilge, verchünd es de Lüte: Umgekehrte geschehen: Das Stadtfräulein „E r isch es gsi.“ bekam eine nagelneue Bauerntracht ange­ zogen, wurde „Salonbäuerin“. Hoffmann Wie bezeichnend ist schon die Überschrift: gebraucht denn auch einmal — offenbar Im Frühlinge zu B. Es handelt sich zwar um einen Vorwurf von unbekannter Seite auf­ einen realen Ort, aber wir kennen ihn nicht, nehmend — den Ausdruck „Salongedichte“ er gewinnt auch keine dichterische Wirklich­ von seinen Liedern. keit; Ortsnamen und Individualbegriffe tre­ Etwa ein Jahrzehnt vor Hoffmanns ten erst ganz spät und schüchtern in den Dialektdichtung hatte Goethe im Rückblick Liedern auf. Wie weit sind wir entfernt von auf den Anstoß, den man einst in Leipzig der bunten Welt Hebelscher Landschaft, wo an seinem Dialekt genommen hatte, die jeder Name eine Fülle von Eindrücken her­ Worte geschrieben: „Jede Provinz liebt ihren vorruft: Bürglen und Schopf heim, Kandern Dialekt: denn er ist doch eigentlich das und Herrischried im Wald! Liebt es die dia­ Element, in welchem die Seele ihren Atem logische Natur Hebels, in einer höheren schöpft.“12) Das Wesen der Mundart und Naivität mit der Phantasie des Lesers zu

165 spielen, so bleibt diese bei Hoffmann bei­ Uhli und Chüngi nahe sich selbst überlassen. Trotz seines Heimatgefühles für das Markgräflerland Die Sunn isch nidsi gange konnte der Norddeutsche doch nicht zur Und d’ Sternli glitzere scho. sinnlichen Fülle und Anschaulichkeit des Was chlopft echt dussen am Husthor, sehnsüchtig nach der Heimat schauenden Wer mag so spot no cho? Alemannen gelangen, der sich überdies immer bewußt war, „daß schöne gereinigte Sinn­ „Frau Muetter, i bi’s, der Uehli, lichkeit in der Darstellung die Blüthe der Mi Wanderen isch verbei. Popularität und das wirksamste Vehikel für Jez frogi no lange drü Johre: den Eingang ins Herz sey“15). Isch ’s Chüngi no dehei?“ Hatte man Hebel vielfach als harmlos­ naiv unterschätzt und ihm andererseits aber Mi Töchterli, mi Chüngi, auch den Vorwurf schwermütiger Stimmung Seil schloft scho mengi Stund. gemacht, so hat Hoffmann, wie dieses Ge­ „Stand uf, stand uf, mi Schätzli, dicht zeigt, sein Vorbild hierin besser ver­ Di treue Uehli chunnt.“ standen. Er empfand offenbar sehr stark das Zugleich von Hell und Dunkel, Schmerz Verweck mer nit mi Chindli, und Freude und den Versuch, beide ins Seil schloft scho mengi Stund; rechte Verhältnis zu bringen, wenn nötig Mi Töchterli, mi Chüngi durch nachträgliches Zurücknehmen (wie etwa Lit dussen im chüele Grund. im „Karfunkel“), sollte einmal die Negativ­ seite zu stark hervortreten. Allerdings konnte „Und isch es au sieder vermodert, es nicht ausbleiben, daß Hoffmanns helle Si Herz isch doch no g’sund: Farbtöne matter und seine Schattenzüge we­ Stand uf, stand uf, mi Schätzli, niger tief gerieten. Di treue Uehli chunnt.“ — Kaum Vergleichbares bei Hebel allerdings findet Hoffmanns Tendenz, das Gedicht an Und ’s lüpft si us der Erde das Volkslied und die Volksballade an­ Und ’s luegt en fründli a: zulehnen. Auch Hebel hat zwar seinen De hesch mi nit liebe solle, Gedichten zum Teil Melodien mitgegeben Jez chumm, jez chasch mi ha. und sich über Vertonungen immer gefreut. Hoffmann aber als Volksliedforscher im Gefolge der Heidelberger Romantiker be­ Als Hoffmann sich durch seine „Unpoli­ müht sich, den Liedton zu treffen und selbst tischen Lieder“ politisch unliebsam gemacht eine Melodie zu finden. „Ich sang so lange, hatte und er 1843 von seiner Professur in bis ich die Melodie einigen Freunden mit­ Breslau abgesetzt und des Landes verwiesen theilen konnte, und diese waren dann immer wurde, kam er am Anfang eines jahrelangen bereitwillig, mir in Noten zu setzen was ich Wanderlebens auch über Basel ins Wiesental sang, denn ich kannte damals wie heute und hörte so zum ersten Mal den Dialekt, keine Note“16). Die Folge dieses Verfahrens in dem er seit über zwanzig Jahren Verse war eine sehr genaue metrische Durchfor­ schrieb. „Ich fand die bereitwilligste Unter­ mung der Strophen, die vor allem die vielen stützung. Herr Rechtsanwalt Euler war so Tanzlieder des Bändchens geprägt hat. Aber gütig, mir über die Aussprache und Formen­ auch die Balladen tragen dieses Siegel. lehre, und die Bedeutung der Wörter ge­ 166 nügende Auskunft zu ertheilen und selbst strahlkräftigen Wirkung des — wie Goethe meine früheren und einige neueren allem. ihn nannte — unschätzbaren Hebel. Gedichte streng durchzugehen, um ihnen ein mundartliches Gepräge zu geben, das kein Anmerkungen Sprachforscher noch ein Eingeborener hin­ 4) Goethes Gespräche, hg. von Flodoard Frei­ herr von Biedermann 1909, 1380; 1477 fort anfechten kann“17). 2) J. P. Hebel, Briefe hg. von W. Zentner, Karlsruhe 1957, S. 121 Damals besuchte der vertriebene Dichter 3) W. Altwegg, Johann Peter Hebel, Frauen­ auch in Lörrach Hebels alten Freund Hitzig, feld/Leipzig 1935, S. 131 f. 4) Hebel, Briefe, S. 169 der noch viel von diesem zu erzählen wußte. 3) Ploffmann von Fallersleben, Auswahl in Und in dieser Zeit gewann die Gedichtsamm­ 3 Teilen, hg. von Augusta Weldler-Stein- berg, Berlin o. J., 3. Teil „Mein Leben“, lung, deren Grundstock Hoffmann 1826 in S. 47f. 140 Exemplaren auf eigene Kosten hatte

W o ifch öer Weg zue Frleö unö Ehr, öer Weg zuem gueten Alter echt? Graö fürli goht's in Mäßigkeit mit ftillem Sinn in Pflicht unö Recht.

Unö roenn öe amme Chrütjroeg ftohfch, unö nümme roeifch, roo's ane goht, halt ftill, unö frog öi Groifle z'erft, h cha Dütfch, gottlob, unö folg fim Rot.

J. P. Hebel

167 Johann Peter Hebel, mein Großvater, meine Mutter und ich Ein Gedenkbiatt zum 200. Geburtstag des alemannischen Dichters Von Heinz ßischoff, Der Samstig het zuem Sunntig gseit: liest es in alemannischer Sprache vor. Wie „Jetzt han i alli schlofe gleit; sie sin vom Schaffe her und hi leicht, wie munter hört sich nun alles an. gar sölli müed und schlöfrig gsi; Man meint gerade, der „Sunntig mit’m und’s goht mer schier gar selber so, i dia fast uf ke Bei meh stoh.“ Meien uf’m Huet, mit sinen Augen mild und guet“ schaut zum Fenster herein. Ja, so Als frischgebackener Sextaner sitze ich am möchte auch ich die Sonntagsfrühe vortragen Tisch und buchstabiere mühsam Johann können! Ich schluchze vor Rührung und Peter Hebels Spruchweisheiten. Es will mir voller Verzweiflung. schwer über die Zunge dieses alemannische Dies macht auf Mutter einen großen Ein­ Gedicht von der Sonntagsfrühe. Freilich, in druck. Sie legt das Buch weg und meint in einem Lehrerhaus steht das Hochdeutsche ihrer warmen, verstehenden Sprache: „Bübli, in größerem Ansehen als die niedere Sprache wein’ net. Ich hab die Sprach’ ja auch erst des Volkes, die Mundart. Doch die Gedichte lerne’ müsse. Doch will ich dir einmal er­ Johann Peter Hebels zählen schon zu den zählen, wie ich diesen Johann Peter Hebel Perlen der Dichtkunst; sie stünden ja sonst kennen und lieben gelernt habe!“ nicht in unserem Lesebuch. Wenn Mutter zu erzählen anfängt, ist alles Und so sitze ich ratlos und verzweifelt am Leid schnell vergessen. Ich wische die Tränen Tisch, weil mir die herbe und zungen­ der Verzweiflung aus dem Gesicht. brecherische Hausarbeit heute so gar nicht „Als dein Großvater, mein Vater, lange gelingen will. O, wie grolle ich meinem Zeit Dammeister am Rhein gewesen war, gestrengen Herrn Professor des Gym­ wurde er in den Innendienst nach Karlsruhe nasiums, wie bin ich dem Dichter und seiner berufen. Wir wohnten zuvor in Breisach. Sprache böse. Mutlos, weil mir auch gar Großvater war anfänglich sehr unglücklich nichts gelingen mag, lege ich das Lesebuch darüber. Das Leben hinter den staubigen weg. Wie ich, dem Vers entsprechend, „gar Akten wollte ihm in jenem Haus neben der still und heimli bschließt er d’Tür“, auf evangelischen Stadtkirche am Marktplatz zu die Gasse hinauswitschen will, ruft Mutter Karlsruhe auch gar nicht Zusagen. Da waren aus der Küche. Sie möchte das Ergebnis mei­ ihm die Tage in Wind und Wetter, bei nes Lerneifers gerne wissen. Ach, wenn sie Sonnenschein und grauverhangenem Regen­ nur etwas von meiner Qual ahnen würde. himmel am Rhein schon lieber. Doch uns Beinahe wäre mir die Notlüge über die Kindern war das Leben in der großen Stadt Lippen gesprungen, welche im Gedicht das nun auf einmal viel interessanter geworden. „Vögeli seit: ,Frili jo! Potz tusig, jo, ich Ein Festtag für uns Kleinen aber war es, chan es scho!‘“ Doch verdrücke ich meinen wenn die Geschwister uns zum Amt mit- Kummer still und werbe mit Tränen in den nahmen. Wir durften Vater dann den Weg Augen um mütterliches Mitleid. durch den Schloßgarten heimbegleiten. Ich In der Küche nimmt Mutter mich zur war gerade ABC-Schülerin zu jener Zeit. Seite. Sie hat die Not ihres Sohnes wohl Und überall, wo es etwas Lesbares zu ent­ verstanden. Ohne ein Wort zu sagen, holt sie ziffern gab, da probierte ich die neu erwor­ das Lesebuch, schlägt das Gedicht auf und benen Künste des Buchstabierens.

168 Die Inschrift auf der Pyramide am Markt sicher und geborgen. Und als wir in die hatte ich meinem Gedächtnis schon lange Hirschstraße eingebogen waren, meinte ich, einverleibt. Nun aber ging es an jene mar­ alle Leute würden nur auf uns zwei schauen. morne Tafel, welche über dem Eingang zu So stolz und froh war ich. Vaters Dienststelle angebracht war. „In Später, als ich Lehrerin geworden war, diesem Hause wohnte Johann Peter Hebel, wurden mir viele Gedichte dieses Mannes 1808 bis 1812“. erst bekannt. Ich habe sie meinen Kindern Mühsam entzifferte ich kleiner Wicht diese in der Schule gerne vorgetragen und ihnen Worte. Viel anfangen konnte ich freilich mit der Mundart gar viel Freude bereiten damit nicht. Ich war aber stolz, dieses lesen können. Drum sei still, Bübli, und fleißig. zu können. Und ebenso stolz verriet ich Du wirst die Sprache meiner oberrheinischen meinen neuen Wissenserwerb auch meiner Heimat gar bald verstehen . . M utter. Als wir am nächsten Samstag Vater vom Mutter lupft mich von ihrem Schoß. Mit Büro abholten, machte er mit uns zuerst einem aufmunternden Blick drückt sie mir einen kleinen Spaziergang durch den Schloß­ das Lesebuch wieder in die Hand. Ich setze garten. Vater lächelte, schaute uns gütig an mich an den Platz, den ich so „still und und meinte: heimli“ verlassen wollte, und druckse Ale­ „Kann mir denn auch eines von euch mannisches in mein fränkisches Dickschädel- sagen, was dort an meinem Büro über der chen ein. „ . .. ,Guete Tag!“ und ,Dank der Eingangstüre geschrieben steht?“ Gott!“ und ,’s gitt gottlob e schöne Tag!“ Verdutzt wurden die Gesichter meiner Ge­ isch alles, was me höre mag . . .“ schwister. Mir aber fiel urplötzlich dieser Was Wunder! Es geht auf einmal viel Spruch ein. Wie in der Schule streckte idi das leichter. Freilich, etwas holperig noch, doch Zeigefingerchen. Vater tippte mit seinem schon viel verständlicher. Als mich der Stöckchen auf mich, und dann rasselte ich wie gestrenge Professor Neumeister anderntags am Schnürchen mein Sprüchlein herunter, das in der Sexta examiniert, meint er: „Büble, ich vor ein paar Tagen erst mühsam buch­ beinah’ wie ’en echter Schwarzwälder hesch stabiert und mir erworben hatte. des gseit . . . !“ Vater strahlte. „Fein, Paula.“ Sagte er Seither habe ich oft an diese Geschichte lobend. „Hast gut aufgepaßt in der Schule. denken müssen, seit mich das Schicksal näher Und weil du das Sprüchlein so gut gelernt an die Heimat Johann Peter Hebels ver­ hast, darfst du mich heute nach Hause schlagen hat. Fast möchte ich sagen: führen.“ Vater reichte mir seine Rechte. Mein „ .. . drum isch es au so lisli cho, Patschhändchen lag in der großen Hand drum stoht es au so liebli do!“

169 Johann Peter Hebel auf allen Wegen

Von Franz Schneller, Freiburg Die Typographen hatten einen Stamm­ ich sie lesen lernte. Merkwürdig, daß keins tisch. Und mein Vater war einer. Ihr Lohn davon im Unterricht der Volksschule dran war nicht üppig. So konnten sie nicht alles kam. Ich wartete immer darauf. Aber in feiern. Also legten sie ihre Anlässe sinnvoll der Quarta kam ich mit dem „Schwarz­ zusammen. Was sie an Festen feierlich be­ wälder im Breisgau“ zum Zug. Der Professor gingen, weiß ich nicht mehr. Nur daß sie richtete an die Klasse die Frage, ob einer den Mai und Hebels Geburtstag koppelten, da wäre, der ein Gedicht aufsagen könne, wie die Kirche Peter und Paul, dies habe das nicht im Lesebuch stehe? Ich meldete ich nie vergessen. Denn jedesmal kam dann mich. Staunend blickten meine Kameraden der Vater in der Morgendämmerung heim, zu mir auf. Als ich mich wieder setzte, ein Sträußchen am Hut, über die Schulter fragte mich der Lehrer, ob bei uns zu seinen Stock, an dem eine mächtige Brezel Hause „denn niemand Deutsch spräche“. Die hing, die er, beim Bäcker vorbestellt, holte Schamröte durchglühte mein Gesicht. Ich und noch warm auf den Tisch legte. Dazu hätte ihn erdolchen mögen. Was ich ihm wollte er Kaffee haben. Heraus aus dem antwortete, weiß ich nicht mehr. Es muß Bett mit der Mutter. Wir hüpften nach. Es sehr temperamentvoll gewesen sein, denn war jedesmal ein lustiges Hemdglunker- von nun an rief er midi nie anders als Frühstück. Der Vater sang das Hebellied. „Savonarola“ auf. Der Text nicht ganz leicht mehr zu ver­ * stehen, so geläufig uns auch die Mundart In Basel lebte mein Freund. Karlsruhe war. stets abgewandt, empfand ich, hier, am Es war aber nicht der einzige Verein, dem Rhein, Basel sei unsere Hauptstadt. Später mein Vater angehörte und in dem das erst erhielt ich durch Hans Thoma die Rich­ Hebellied gesungen wurde. Auf allen Fami­ tigkeit meiner Annahme bestätigt, als ich lienfesten dieser Vereine wurde sommers vom Umkreis seines Zirkels erfuhr, der das gesungen. Und nachdem in einem Lied der alemannische Land umschrieb. O, wie lernte liebe Gott durch den Wald geschickt worden ich diese Stadt lieben. War ich in den Ferien war, kam jedesmal der Hebel dran, der ja dort, verging kein Tag, an dem ich nicht vor ein Geistlicher war, wenn auch nicht katho­ dem Hebel auf seinem Denkmal in Ehr­ lisch. Ich liebte diese Sangesrunden gar nicht, erbietung den Hut gezogen hätte, selbst in denn ich blieb stets allein unter Bäumen auf den Jahren, in denen die Standbilder von dem wippenden, langen Sitzbrett, und weil Baudelaire und Rimbaud in meinem heiligen der Gesang mich langweilte und ich mich Hain der Dichtung standen. Nein, J. P. H. beschäftigen wollte, sorgte ich dafür, daß blieb meinem Herzen eintätowiert. Eine das Getränk in den Gläsern rechts und Initiale, die mit dem Wachstum des Herzens links von mir nicht lack wurde. Die Mutter sich nur vergrößern konnte. blickte unverwandt nach den Sängern in der Jahre, Jahre, entlang dem Kraterrand von Lichtung. Das seelische Herzwasser stand ihr Katastrophen, die mal mehr, mal weniger in den Augen. Lava uns bescherten. Soviel, daß ich vor Der Hebel war ihr Hausgott. Sie brachte 1914 meinem Vater, der wollte, daß ich mir einige seiner Gedichte bei, noch bevor mich zum Reserveoffizier stellte, antwor­

170 tete: „keine Gefahr, die Anfangsverluste eine Sekretärin war alles, was mir blieb. werden so groß sein, daß ich automatisch Und ich mußte sofort den Apparat in Gang nach wenigen Wochen eine Kompagnie halten. Gegenüber im Cafe Bauer, bedeutete haben werde.“ So kam es auch. Noch im mir der Kellner, daß jedes Übersitzen, nach­ August 1914 schrieb ich auf offener Karte mittags um 3 Uhr, entfiele. Ich trank die meinem Freund A. M. aus dem Feld: „ich Tasse und ging wieder hinüber. Rumänische habe durchaus nicht den Ehrgeiz, ein Eiser­ Gefangene bauten Schneemauern entlang der nes Kreuz an meinen Stelzfuß zu nageln.“ Randsteine des Gehsteiges. Ich mußte Wolffs Wie oft, seitdem, hat er midi an diese Karte Telegraphenbüro Futter für die Presse lie­ der glorreichen Feldpost erinnert! Ich führte fern. Da ich mich aber als Lyriker fühlte, in diesem Kriege an Gedrucktem nur das fielen die Berichte lyrisch aus. Ein Novum, tief Erregende in Maß und Klang im Tor­ das Aufsehen erregte. nister als eiserne, geistige Ration mit. Also Gegen Abend, es schneite, klopfte es an Johann Peter Hebel. meiner Tür, und es erschien Professor Kurt Als „unbequemer Untergebener, wenn auch Sachs, der Gründer des Instrumentenmuseums, guter Kamerad“, wurde ich treppauf gelobt Charlottenburg, um mich zu fragen, ob ich und erhielt im Dezember 1917 in Weilburg nicht Weihnachten in seiner Familie feiern an der Lahn, als Dolmetschoffizier eines wolle, da ich hier doch fremd sei? Die Ein­ Gefangenenlagers für Offiziere, vom stell­ ladung durchwirbelte wie Danziger Gold vertretenden Generalstab in Berlin das Tele­ meine Seele. Und als es dunkelte, holte er gramm: „zur Unterstützung des Militär­ mich ab. Er bewohnte eine Villa im Tier­ attaches Bern hier melden.“ Ich meldete garten, ein sehr gepflegtes Haus, mit Samm­ mich im Gebäude des Generalstabs in Berlin, lungen von höchstem Rang. Seine Frau, beim künftigen Reorganisator der chinesi­ rosig rundum, war eine Tochter des Gelehr­ schen Armee, einem Mann mit quittegelber, ten Toffe, des ersten Kenners der Gifte aller ledriger Gesichtshaut und tiefbraunen Augen. W elt. „Sie werden in Genf ein sehr bequemes Wer wüßte, woher, hatten sie ein Mahl Leben haben. Geld spielt keine Rolle. Sie zusammen gebracht, das Zunge und Wolfs­ sind uns für diese Rolle der Abwehr bestens hunger befriedigte, um so mehr, da sie nobel empfohlen.“ Usw. Ich dankte mit dem Ein­ sich zurückhielten, um mich zum Zugreifen wand, hierzu reichten meine Talente nicht zu ermuntern. Dann der Christbaum, unter aus. Ich landete unter den Linden 44, in dem ein Geschenk für mich stand: eine einem Amt, das vom Auswärtigen Amt als Empiretasse der Berliner Manufaktur. Und Blinddarm behandelt wurde. Dort wurde die ich? Von mir erbaten sie lediglich, ich möchte gesamte „Genietruppe“ deutscher Intelligenz ihnen ein Gedicht von J. P. Hebel vorlesen. gehortet. Mein Büro lag neben dem Gun- Ich kletterte in derBibliothek dieRolleiter hoch dolfs und dem ändern des Böries von Münch­ bis zum Regal, in dem die alemannischen Ge­ hausen. dichte von Hebel standen. Andächtig vernah­ Rein sachlich, wie Barras arbeitet, mußte men sie das Gedicht von der Mutter am Christ­ ich am 24. Dezember meinen Dienst antre- abend. Alle Gedichte des Bändchens mußte ten. Ich stieg in einem Hotel ab, zu einem ich lesen, zwei, dreimal. Und ich las sie. Und Preis über meinen Verhältnissen. Durch die ich saß vor ihnen als der Verkündigungs­ Pforte, durch die ich das Amt betrat, ver­ engel des Wortes meiner Heimat, und sie ließen alle ändern gleichzeitig den Dienst, erglühten zutiefst. Vor Wonne und Innig­ um Urlaub zu feiern. Ein Fernschreiber und keit. Juden. Nach Monaten wieder daheim,

171 Mutter am Christabend Illustration der Schweizer Ausgabe Aarau 1820. war vieles anders. Eine Revolution war ein­ tung,“ der mit Fränkli mir unter die Arme gesackt wie Haut von kochender Milch. Der griff, mit Krücken aus purem Gold. Einzige, der sogleich sich meiner annahm, Mit Zumtobel war ich erstmalig in Hau­ war Reinhold Zumtobel, Redakteur der sen beim Hebelmähli, an einem 10. Mai, Volkswacht. Ein Hausener mit Hebelblut. lernte den Bürgermeister Hauser kennen, Ich half ihm, zu Urlaub zu kommen, um im der beim Einmarsch der Franzosen so un­ Wiesental die Matten zu mähen, er mir, um verdient wie elendiglich ums Leben kam. zu Brot zu kommen. Fand sich zudem der Es war ein Volksfest alten Stils im Freien. Chefredakteur der „Basler Nationalzei­ Wie in den Meistersingern von Nürnberg

172 traten die Kinder hervor, um ihre Gedichte Hause seines Freundes, des Schloßgarten­ aufzusagen. Und die Lehrlinge nahmen es direktors Zeyher, starb? sehr ernst mit ihrem Geschenk der Basler Aber weder Erwachsene noch Kinder wuß­ Herren, denen sie gelobten, keinen Pfennig ten, wo das Denkmal wäre, in dessen Nähe für Zigaretten zu vergeuden. Und die ich schon stand. Hier war Heimat. Hier Bräute waren für den Zuschuß zur Aus­ wehte die Luft, die ich brauchte. Das Atmen steuer dankbar. Es war rührend, Zeuge wurde mir leichter. Nun in einem Alter, ihrer Unschuld zu sein. in dem der Mensch wieder liest und nach dem Als der Wagen mich abends vor der Poli­ greift, was für seine Münze Edelmetall be­ zeiwache Ecke Basler und Günterstalstraße deutet, aus dem seine Leitbilder gestanzt absetzte, mußte ich bei offener Tür noch sind, griff ich nach Hebel. Spontan. Die da­ den Bericht des Abgeordneten Nußbaum an­ mals sehr bedrängte „Frankfurter Zeitung“, hören, der uns von drei Mördern erzählte, Schmugglerinstinkte entwickelnd, um unter die er in ihrer Zelle besucht hatte. Er, der dem Strich dem Leser in unantastbarer Form am Morgen der „Nationalen Erhebung“ selbst zu bieten, was eigentlich gegen den Strich zwei Polizisten niederschoß, die ihn verhaf­ lief, besann sich auf die großen Erzähler ten wollten. Nußbaum, ein Elsässer, Freund unter Ausweitung der Grenzen, soweit die Rene Schickeies, und, wie dieser, Johann Politik dies zuließ. Sie brachte Meisterer­ Peter Hebels. zählungen von Tolstoj, von Tschechow, und * sie brachte den Schneider von Pensa J. P. Hebels. Noch nach seinem Tode dafür Wil­ Und wieder ein Krieg. Verflucht; und ich helm Hausenstein unseren Dank! So ent­ dabei, obwohl „politisch unzuverlässig“. stand noch ein Import von geistigen Gütern An einem Posten, mehr „zur Repräsen­ über Grenzen weg. So wurden unauffällig tation“, wie mir gesagt wurde. Als Bahn­ Zusammengehörigkeiten hergestellt, durch hofsoffizier, was einer alten Tante unge­ Herz und Geist bestimmt. Herrlich. Denn heuren Eindruck machte, da ich in ihren ein alemannisches Herz schlägt immer höher, Augen von nun an (wie die Engländer wenn eine Brücke geschlagen wird, die Völ­ sagen) plötzlich ein Mann mit Adresse war. ker und Menschen verbindet. Alles, worum Nie adressierte sie Post an mich anders, als es in diesen Geschichten ging, war ohne an den „Herrn Eisenbahnoffizier No. 28“. weiteres verständlich, wiewohl schon von Ich begann meine Laufbahn in Offenburg, Gefahr umdroht, die eine böse Politik ins­ wo Tag und Nacht eine Maschine unter geheim braute. Dampf stand, die mich nach Basel bringen Das Unmittelbare des Lebens, das sich in sollte, falls man mich dorthin, was glück­ diesen Geschichten anbot, sprach sogar den licherweise unterblieb, versetzen sollte. Feldwebel an, der nie im Leben ein Buch Als die Matten blühten, zog ich nach Hei­ gelesen, der sich aber dieses Feuilleton aus- delberg und nach Mannheim. Immer in den schnitt, um es in Ruhe immer und immer Kleidern, und auf allen Bahnhöfen dienst­ wieder zu lesen. lich ringsum, fand ich zwischen Truppenver­ So verschiedenartig diese Männer waren, ladungen Zeit, Schwetzingen kennen zu lebten sie jetzt doch, durch Zufall, in klas­ lernen. Wo hätte es mich am stärksten hin­ sischer Luft. Und zum erstenmal spürten sie gezogen, wenn nicht zum Grabe des Dichters in ihrem Leben, daß sie beim Lesen Meistern Johann Peter Hebel, der hier am 22. Sep­ gegenüberstanden, die vielen Geschlechtern tember 1826, auf einer Dienstreise, im die Grundlage ihrer geistigen und mora­

173 lischen Bildung geboten hatten. Dies waren hatte. Was hätte der „Rheinische Haus­ für sie Begegnungen, wertvoller als die am freund“ dazu gesagt? Schalter geschlossenen. Denn beim Lesen er­ hielten sie Antworten von Entscheidung und * sie lernten Menschen kennen, denen sie so Eines Tages kam für midi wieder ein gern in Fleisch und Blut begegnet wären. 10. Mai. Und ich stand vor dem Hebel­ Unsere Einheit feierte in Heidelberg sicher­ denkmal in Hausen, unter blühenden Kasta­ lich als einzige, am zehnten Mai, den Ge­ nien. Leo Wohieb, der Staatspräsident burtstag Hebels, nachdem wir erst Blumen Alemanniens, war zur Überzeugung gelangt, an seinem Denkmal in Schwetzingen nieder­ daß nur der eines Hebelpreises würdig wäre, gelegt hatten. der sich zum Herz ihrer Landschaft mache, Der Feldwebel, der Ansicht, daß nur gutes die sich ja selbst nicht spürt. Mir fehlten Essen und Trinken Leib und Seele Zusam­ die Worte, mich dafür gebührend zu bedan­ menhalte, steuerte eine riesige Mortadella ken. Wenn nur meine Basler Freunde damit bei, die er beim „Durchfilzen“ eines Urlau­ einverstanden wären, wünschte ich. Sie berzuges als „herrenlos“ an sich genommen waren es.

J. P. Hebel Alabasterreliefmedaillon von L. Ohmacht, Terrakotta, Bes. W. Osterrieth

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' ut ü 6 vc iy M Cvpf « v* . klvau t’ct> £ . ?>\. 8 «*Ut'lanbov. 1820.

Titelblatt der ersten Schweizer Ausgabe

Unvergänglicher Johann Peter Hebel Zu neuen Auflagen seiner Werke

von Richard Gang, Freiburg

Rudolf Hagelstange hat über die Bücher- dieser Flut auch ein Buch von Johann Peter messe berichtet, die Inflation literarischer Hebel, dem Meister der kurzen Erzählung, Werke beängstige, überfordere den Leser. dem größten Mundartdichter mitschwamm. Nun darf die Frage erhoben werden, ob in Die Antwort wird nicht verheißungsvoll

175 sein. Heute drängen so viele zum Neuen, brechen und der Gelehrte in seinem Geäst zum Schlager. Avantgardisten wollen alle Wunder entdecken. Hebel ist die Seele, der sein: die Schreibenden, die Verleger, die Atem, der Hausgott seines Volkes. Wenn Herausgeber, die Dozenten, die Schriftleiter. man sagt, die Mundart sei tausendjähriges Und dann dieser Lauf, diese Gier nach der Volksleben, so muß man von Hebels Mund­ ausländischen Literatur! Vor mir liegt ein art, dem Alemannischen bekennen, daß sie neuer, großer Buchkatalog. Ich blättere das vieltausendjährige Leben der Deutschen darin, mache eine Stichprobe, um genaue ist, denn das Alemannische steht von allen Zahlen zu gewinnen, schlage Seite 10 auf, deutschen Mundarten der Wurzel unserer 10 als die erste runde Zahl, und finde, daß jetzigen Hochsprache am nächsten, dem hier unter 8 angepriesenen Büchern 7 Aus­ Mittel- und Althochdeutschen. Ja, Hebel ist länder sind, d. h. 87,5 °/o. So bietet sich die in seinen hochalemannischen Gedichten das Bücherflut: Viel Ausland, aber kein Hebel. gestaltete vieltausendjährige deutsche Volks­ Es wäre fesselnd zu erleben, wie viele leben. • dieser kreierten Publizisten noch in 10, 20 J. P. Hebel wird noch weitere 125 Jahre oder gar 50 Jahren nach ihrem Tode ge­ und noch länger gelesen werden. Er wird druckt werden, wieviele noch mit all ihren den Deutschen und der Welt ein „Weg­ Werken 125 Jahre nach ihrem Tode so jung weiser“ und die duftvolle „Sonntagsfrühe“, und so gültig sind, wie man dies heute von der „Wächterruf“, der „Kluge Richter“, der dem 1826 verstorbenen J. P. Hebel sagen „Hausfreund“ bleiben. Er wird gelesen wer­ darf. Es ist doch in der Tat so, wie es z. B. den, wenn andere den Scheiterhaufen der die „Stuttgarter Nachrichten“ vor Jahren Zeit nicht überlebt haben, denn die Zeit einmal deutlich formuliert haben: „Was an allein wiegt gerecht. dichterischem Reichtum und uralter bäuer­ Auch Goethe wog unseren Hebel gerecht. licher Weisheit in J. P. Hebel geborgen ist, Es darf an dieser Stelle auf Goethes Stellung wiegt hunderte von prätentiöseren Schriften zu Hebel kurz eingegangen werden. Goethe, neueren Datums auf.“ der Erzieher der Deutschen, veröffentlichte Die Kenner wissen, daß unser Wiesentäler, eine ausführliche, anerkennende Beurteilung obschon er bewußt in der heimischen Tracht der alemannischen Gedichte und dazu als und im heimischen Idiom daher schreitet Musterstück „Die Sonntagsfrühe“. Ist schon und er alle vorgetragenen Geschehnisse bei die Tatsache, daß Hebel bei dem Vielbe­ sich zuhause ansiedelt, ein zeit- und ortloser schäftigten, Wählerischen überhaupt Beach­ Dichter ist. Hebel steht mit tiefsten Wurzeln tung fand, eine Bevorzugung, so muß die in seiner Oberrheinheimat, ragt aber mit der liebevolle Würdigung umso höher angeschla­ Stirne in die Sterne. Er stellt wie jede Kunst gen werden. Dabei sind noch die Umstände immer das allgemein Menschliche dar. Seine zu beachten, unter denen sie entstand. Schöpfungen wenden sich nie an eine be­ Goethe hatte seine Rezension nach der ersten stimmte Volksschicht, sie gehören jedermann. Auflage von 1803 verfaßt, war aber dann Sie sind so umfassend groß und zugleich nach der 2. von 1804 nicht mehr damit zu­ schlicht, daß zu allen Zeiten und allen Orten frieden und schrieb sogleich eine neue für Arbeiter und Gelehrter, Mann und Frau, dieselbe Zeitung. Und wie entzückt war er Greis und Kind sein gesundes Brot essen, von den Gedichten! Heinrich Voß, der Sohn seinen reinen Bergquell trinken. Hebel des bekannten Homerübersetzers, berichtete gleicht einem blühenden Baum: Der einfache darüber ausführlich seinem Freunde: „Ich Mensch kann sich daran ein Sträußlein wollte, Du hättest Goethe den Abend ge­ 176 sehen, als er Hebels Gedichte gelesen. Nach in der Tat das Unheimliche der Natur ähn­ 9 Uhr abends lud er mich noch ein. „Und lich seinem „Erlkönig“ ergreifend gestaltet. wenn Sie im Schlafrock wären“, sagte der Johanna Schopenhauer hat über eine solche Bediente, „Sie sollen nur so zu meinem gnä­ Lesung einmal berichtet. Vom „Unverhoff­ digen Herrn kommen; er muß Sie noch ten Wiedersehen“ aus dem „Schatzkästlein“ sprechen.“ Als ich hinkam, sprudelte ein Er­ gesteht er in jenen Jahren, es sei die beste guß über die Gedichte, der am ändern Mor­ Geschichte aus den 42 Taschenbüchern, die gen schon um sieben Uhr Rezension war.“ damals zur Herbstmesse erschienen seien. Tags drauf fuhr er fort: „Gestern abend war Goethe gebührt ein großes Verdienst an ich bei Goethe bis 11 Uhr, und er las mir Hebels Berühmtheit in Deutschland. Noch aus den alemannischen Gedichten vor, was im hohen Alter gedenkt er des nun schon vor nun aus seinem Munde gar herzig klingt.“ Jahren verschiedenen alemannischen Lyrikers Diese Beurteilung erschien denn auch am und schreibt: „Wünschen wir sodann dem 13. 2. 1805 in der Jenaer Allgemeinen Lite­ Oberrhein Glück, daß er des seltenen Vor­ raturzeitung. Damit war Goethe einer der zugs genießt, in Herrn Hebel einen Provin- ersten, der das Echte und Reine, das Unzer­ zialdichter zu besitzen, der von der höchsten störbare und Gültige in Hebel erkannte und Stufe der Kultur seine Umgebungen über­ es auch aussprach. Und später? Im Jahre schaut . . .“ 1810 bestellte er bei Cotta alle früheren Überall nur Anerkennung und Förderung, Jahrgänge des „Rheinischen Hausfreundes“, nirgends auch nur ein Wort des Vorbehaltes, um Hebels Beiträge nachträglich noch lesen der Schädigung. So wog Goethe unsern Wie­ zu können. Ein Jahr später erbat er sich über sentäler. Diese Anerkennungen und Förde­ Cotta von Hebel ein mit seiner Hand ge­ rungen Hebels durch Goethe sind noch umso schriebenes Mundartgedicht, um es seiner höher einzustufen, als Hebel sich aus ihnen großen Handschriftensammlung einverlei­ nichts machte. Nirgends spricht oder schreibt ben zu können. In den folgenden Jahren dieser ein Wort dazu. Nur einmal stellt er schrieb er im 11. Buch seiner Biographie, als fest, er hätte lieber eine Rezension von Voß er von seinem Zusammensein im Elsaß mit als von Goethe gehabt. Friederike Brion erzählt: „Ich genoß die Die Reihe der Bewunderer nach Goethe herrliche Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie bis heute reißt nie ab. Wenn auch auf der sie uns der unschätzbare Hebel vergegen­ vergangenen Herbstmesse in der Bücherflut wärtigt hat.“ Hier heißt doch „unschätzbar“ kaum ein Buch von Hebel mitschwamm, so so viel wie „nicht hoch genug einschätzbar“. sagt das über seine Bedeutung wenig aus. Welch eine hohe Einstufung durch Goethe! Die Werke, zumeist Neuauflagen, erschienen Bald darauf im Oktober 1815 traf Goethe nachher, als Einzelgänger, eben alle zum mit Hebel persönlich in Karlsruhe zusam­ Hebeljahr. Hier sind sie, soweit sie dem men und spendete ihm mancherlei Aner­ Rezensenten Vorlagen. kennung. Auch sonst tat Goethe viel, im Einzelnen nicht Bekanntes, zur Verbreitung Wilhelm Zentner: der alemannischen Gedichte, „da sie auf alle Johann Peter Hebels Briefe Fälle verdienten, unter unsere deutschen Werke gerechnet zu werden“, ja, er las sie 2 Bde., Gesamtausgabe, C. F. Müller-Verlag da und dort vor, wobei ihn manchmal ein Karlsruhe, 948 Seiten, 19.— DM. Schweizer unterstützte. Er bevorzugte dabei An drei Stellen müssen wir Deutsche, und „Das Gespenst an der Kandererstraße“, das wir Alemannen im besondern, uns für das

12 Badische Heimat 1960 177 neue Werk aufs Nachdrücklichste bedanken: hat und er uns dieses geistige Brot gebacken Beim Verlag, der es gediegen, in Honanseide und zugerichtet hat, das uns so nottut. mit Golddruck, mit Photos, Faksimiles, Denn darüber wird man sich bei der Lek­ Stichen, bestem Papier, Umschlag und Kas­ türe dieser zwei Bände mit tiefem Staunen sette, würdig und wert des Inhaltes ausge­ bewußt: Unser Hebel ist, zumal dort, wo stattet, künstlerisch gestaltet und ihm schon die Briefe in Mundart geschrieben sind oder damit äußerlich den Platz eines Klassikers sich mit seiner Heimat oder seinen aleman­ eingeräumt hat. Diese bibliophilen Meister­ nischen Intentionen befassen, ein Briefe­ bände erfreuen Auge und Hand. Die nächste schreiber von größtem, geistigem Format. Er Stelle, der unser Dank gilt, ist das Werbe­ gehört in die Reihe von Goethe, Lessing, komitee, das die Finanzierung durchführte Rilke, v. Hofmannsthal, Benn, Musil. Aus und dadurch erreichte, daß das imposante seinen Briefen, die an Freunde und die Werk zu einem verhältnismäßig niederen Freundin, Verwandte und Amtsbrüder, hoch Preis herausgebracht und in weite Volks­ und nieder, arm und reich, gerichtet sind, kreise gelangen konnte. Besonders ist das steigt Hebels menschliches Bild, rundet, klärt Regierungspräsidium (Ministerialrat Prof. und festigt sich seine persönliche Existenz Dr. Asal), der Südwestfunk, die Basler He­ und zwar in der Weise, wie wir sie von den belschaft, an ihrer Spitze Prof. Wilh. Alt­ Abbildungen her kennen. Wir erleben hier wegg und manche andere Persönlichkeit aus seine Pflichten, Sorgen, Heimattreue, Gewis­ Kunst, Verwaltung, Industrie, Beamten­ senhaftigkeit, seinen Humor und Schalk, die schaft, Handwerkertum und Volk zu munteren Sprünge seines alemannischen nennen. Sie alle haben mit großen und klei­ Flügelrosses durchs Wiesental und die nen Spenden das für unsere harte und rea­ Schwarzwaldberge und sehen den wunder­ listische Zeit so notwendige Werk ermöglicht bar reinen Quell, den unversehrten Mutter­ grund und Herzensboden, an dem sich sein und ihm den vordersten Platz bereitet, den Pegasus nährt. Hebels Briefe — mein lieb­ es in jeder badischen Bücherei einnehmen stes Buch der Gegenwart! sollte. Die dritte Stelle aber ist der Bearbei­ Nur eine kleine Anmerkung: „hurnigle“ ter des weitverzweigten und schwierigen (Seite 767) bedeutet nicht „graupeln“ son­ Stoffes, der durch ähnliche Veröffentlichun­ dern frieren; es ist verwandt mit „Hornung“ gen bekannte Hebelforscher Dr. Wilh. Zent­ = kalter Monat. „Sterbet“ (Seite 804) hat ner. Mit Bienenfleiß, mit verzehrender Hin­ nur indirekt etwas mit sterben zu tun; es ist gabe, mit bewundernswerter Umsicht, mit die alte, verlorene Bezeichnung für die Jah­ vorzüglicher Sachkenntnis in der lokalen reszeit „Herbst“, so wie „Blüeihet“ der alte und weltpolitischen Geschichte, in der Bio­ Ausdruck für „Frühling“ ist. — „Brast“ logie und Zoologie, in der Orthographie, in (Seite 832) bedeutet nicht „Kummer“, viel­ der Kirchengeschichte, in den persönlichen mehr „Bresten“ verwandt mit hd. „Ge­ Dingen usw. hat er an die 600 Briefe ge­ bresten“. sammelt, geordnet, mit 200 Seiten Erläute­ rungen versehen und uns aufs bequemste zu­ 'Wilhelm. Altwegg: gänglich gemacht. Es ist ein Glück, daß wir Johann Peter Hebels Werke diesen Forscher, diesen Kenner, diesen „Pro­ 2 Bde., Atlantis-Verlag Freiburg i. Br., 560 fessor der Hebelkunde“, wie ich ihn nach und 554 Seiten, 24.— DM. dieser Leistung nennen muß, haben, daß die Im 1. Band finden wir ein 30seitiges, Vorsehung in ihm diese Hebelliebe erweckt dichtes, umfassendes „Lebensbild“, das den 178 äußeren so erfolgreichen Lebenslauf unseres mannischen Gedichte“ und des „Schatzkäst- Dichters vom unscheinbaren Bauernbüblein leins“. in Hausen bis zum Prälaten in der Landes­ „Wenn nach Goethes Wort das Fruchtbare hauptstadt, aber auch sein Inneres, sein wahr ist und wenn zur Bedeutung eines dichterisches Ingenium, sein Schöpfertum Mannes das Fortleben seines Werkes und in mancherlei Weise darstellt. Eine meister­ sein weiterzeugendes Fortwirken gehört, so hafte Hebelbiographie des berühmten For­ darf Hebel, dem Bescheidenen und seiner schers in Basel! Es folgen die alemannischen Schranken stets Bewußten, in seiner Art auch Gedichte nach Hebels letzter Hand, 15 Sei­ wahre Größe zuerkannt werden. Die „Ale­ ten Erläuterungen der alemannischen Aus­ mannischen Gedichte“ haben über alle Vor­ drücke, Titelseite und Widmungsblatt der läufer hinaus der Mundartpoesie erst ihren ersten Auflage, die Vorreden Hebels zu den Adel und ihre Vollgültigkeit gegeben. Klaus fünf Auflagen, einige spätere alemannische Groth, von dem die ganze niederdeutsche Gedichte, die Fragmente und Gelegenheits­ Dialektdichtung ausgegangen ist, hat sich gedichte, die hochdeutschen und lateinischen dankbar als Hebels Schüler bekannt, und in Gedichte, die Rätsel. Nun fügen sich aus Hebels Gefolge stehen alle hochdeutschen Hebels Prosa vermischte, kleinere Arbeiten Mundartdichter bis hin zu Meinrad Lienert an, deutsche und lateinische Stilübungen, mit seinem urwüchsigen „Schwäbelpfiffli“, Aphorismen, Gutachten, Aufrufe, die Ideen zu Hermann Burte, dem Schöpfer des herr­ bei der Lektüre der Apostelgeschichte, die lichen Madleebandes, und bis zur langen religiösen liturgischen und pastoraltheolo- Reihe der noch jüngeren. Am „Schatzkäst­ gischen Beiträge und einige Predigten, dar­ lein“ haben neuere Meister der Erzählung unter die Abschiedspredigt von Lörrach wie , Wilhelm Schäfer und (1791). Der 2. Band bringt alle Erzählungen sogar gelernt. Mit Goethes „Faust“ und Meyers „Hutten“ hat es den und Betrachtungen, chronologisch in ihrer deutschen Soldaten in den ersten Weltkrieg Erscheinungsweise, und endet mit einigen begleitet. Sein „Kannitverstan“ ist bis ins Veröffentlichungen aus dem Nachlaß und Innere von Afrika gedrungen, und immer einem zwanzigseitigen Nachwort des Her­ wieder taucht da und dort eine Anekdote ausgebers. Ein stattlicher, reichhaltiger Band, auf, die neu sein will und doch einzig vom ebenbürtig dem ersten! Obschon in diesem alten Hausfreund stammt.“ Gesamtwerk die biblischen Geschichten feh­ len und abgesehen davon, daß auf die Auf­ Wilhelm Zentner: nahme der Briefe verzichtet wurde, ist diese Johann Peter Hebel, Biblische Geschichten Altwegg-Ausgabe wegen ihrer erstaunlichen Vollständigkeit doch für Wissenschaftler und C. F. Müller Verlag, Karlsruhe, 260 Seiten, Forscher die geeignetste; aber auch für den Leinen mit Goldaufdruck, 7.50 DM. Laien bildet sie eine Standardausgabe. Die Im Jahre 1818 begann Hebel im Aufträge Bände sind hervorragend ausgestattet, wie seiner Behörde sein letztes Werk, die Nach­ der wertvollste Klassiker, viel schöner auch erzählung der biblischen Geschichten. Einige als ehemals die grobleinene, einbändige, erste Jahre später, aber noch vor seinem Tode Auflage. So ist’s recht! Das hat unser Hebel erschienen, blieben sie bis 1855 beim Reli­ verdient! Hier nun aus dem vorzüglichen gionsunterricht in Gebrauch. Dieses letzte Werk als Leseprobe ein Abschnitt aus dem literarische Vermächtnis aus der Hand un­ „Lebensbild“ über die Wirkung der „Ale­ seres geliebten Dichters ist uns nicht weniger 12* 179 teuer als die Gedichte oder die Erzählungen. Ich will euch geben, was recht ist.“ Ein Otto Frommei sagte von ihnen: „Wer Hebel Gleiches tat er um die sechste und um die wirklich kennen lernen will, kann an seinen neunte Stunde. Endlich um die elfte Stunde Biblischen Geschichten nidht vorüber gehen.“ des Tages ging er aus und fand noch einige Diese Nacherzählungen, mit echt Hebelschen müßig stehen. Er fragte sie: „Was stehet ihr Zutaten, Erläuterungen, Deutungen und hier den ganzen Tag müßig?“ Sie antworte­ Vertiefungen, wie wir sie aus seinen Erzäh­ ten ihm: „Es hat uns niemand gedinget.“ lungen und vor allem aus seinen Gedichten Auch zu diesen sprach er: „Gehet in meinen kennen, bedeuten die Summe eines Lebens, Weinberg, und was recht ist, soll euch wer­ die reife und abgeklärte Schau eines erfah­ den.“ Am Abend um die zwölfte Stunde des renen Volksmannes, Dichters, Pfarrers und Tages ließ er sämtliche Arbeiter ausbezahlen Kalenderverfassers. Mit großem Können, und ließ anfangen bei den letzten. Diese reichem Wissen und einer einmaligen Ein­ kamen und empfingen ein jeglicher einen fühlungsgabe erzählt er die Geschichten des Groschen. Als die ersten kamen, meinten sie, Buches der Bücher für alt und jung, bekannte sie würden mehr erhalten, aber sie empfin­ Begebenheiten des Alten und Neuen Testa­ gen auch ein jeglicher einen Groschen. Dar­ mentes. Es entstand ein Band voll tiefer über murrten sie und sprachen: „Diese christlicher Gotteserkenntnis und geläuterter haben nur eine Stunde gearbeitet, und du Lebensweisheit, keine Dichtung, sondern ein hast sie uns gleichgemacht, die wir des Tages Religionsbudi mit goldenen Worten eines Last und Hitze ertragen haben.“ Da sagte Dichters. Der Verlag hat zum Hebeljahr zu einem von ihnen der Hausvater: „Mein 1960 diese Biblischen Geschichten äußerlich Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du dem Geschmack unserer Zeit angenähert, ist nicht mit mir eins geworden um einen aber auch zugleich in gewissem Sinne der Groschen? Nimm, was dein ist! Oder habe von Hebel selbst mitgestalteten Originalaus­ ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit den gabe treu geblieben. Eine ansprechende solide Meinigen? Siehest du darum scheel, daß ich und handliche Form des gut gebundenen so gütig bin?“ Das sagte der Hausvater. Bändchens soll dafür sorgen, daß es in jede Bewahre mich, o Gott, vor Mißgunst, Hausbücherei aufgenommen wird. Durch wenn du gegen andere gütig bist. Ich will Unterstützung des Kultusministeriums in nicht um Lohn fromm sein und deinen Wil­ Baden-Württemberg wurde ein erträglicher len tun, mein Gott, von dem ich alles habe! Preis ermöglicht. Anbei die schwer zu deutende Geschichte Otto Kleiber: von den Arbeitern im Weinberg, wie Hebel Johann Peter Hebels Werke sie erzählt. 3 Bde., Birkhäuser-Verlag, Basel, er. 850 Seiten Hin. 20.25 DM, Gin. 27.— DM, Von den Arbeitern im Weinberg Hleder 48.— DM, mit Zeichnungen. Es ging ein Hausvater am Morgen aus, Der durch seine rühmlich bekannten Klas­ daß er Arbeiter mietete in seinen Weinberg, siker-Ausgaben angesehene Birkhäuser-Ver­ und ward mit ihnen eins um einen Groschen lag legt zum Hebeljahr ausgewählte Werke zum Taglohn und sandte sie also in den in 3 Bänden vor. Alles Äußere an diesem Weinberg. Er ging wieder aus um die dritte Werk wie Einband, Umschlag, Goldprägung, Stunde des Tages und sah andere auf dem Papier, Schrift, Druckanordnung wirkt ganz Marktplatz müßig stehen. Zu denen sprach besonders geschmackvoll, dezent und reprä­ er: „Gehet ihr auch hin in den Weinberg! sentativ. Eine wahrhaft erfreuende Ausgabe, ein bibliophiles Kunstwerk! Mit Recht gerecht. Doch sind es ihrer wenige, und sie stattet man unser alemannisches Dichteridol vermögen den glänzenden Gesamteindruck so würdig aus. Mit seinen besten Idyllen nicht zu vermindern. „Die Wiese“ und „Die Vergänglichkeit“ ragt Hebel in homerische Größe und mit Hebel-Brevier dem Gedicht „Die Sonntagsfrühe“ in die Verlag Herder, Freiburg i. Br., Auswahl und Spitzenleistungen der Lyrik. Der Basler Vorwort von Curt Winterhalter, Leinen, Historiker und Hebelinterpret Carl J. 272 Seiten. (Mit 3 Klischees als Proben.) Burckhardt regt darum sogar an, die aleman­ nischen Gedichte ins Englische, Homerische Der Verlag Herder gehört seit eh und je und Theokritische zu übersetzen. — Der zu den deutschen Hebel-Verlegern. Immer erste Band bringt die 32 Gedichte der Erst­ hat er sich um das gestaltete Wort unseres ausgabe und 23 weitere späterer Ausgaben, Dichters aus dem Wiesental verdient ge­ alle in der alten, von Hebel selbst gewähl­ macht, so wie er sich trotz weltweiter Auf­ ten Schreibweise mit ihren Willkürlichkeiten gaben grundsätzlich und immer der land­ und Inkonsequenzen. (Goethe hatte Hebel schaftsgebundenen Dichtung, sofern sie nicht angeregt, das Alemannische in der Schreib­ im vordergründig Provinziellen oder im weise dem Hochdeutschen etwas anzuglei­ Zeitgeist haften blieb, verpflichtet fühlte. Es chen.) 5 hochdeutsche Gedichte fügen sich als braucht nur an seine Veröffentlichungen von Probe an. Wichtiger sind die folgenden 15 Heinrich Hansjakob und Franz Schneller er­ Seiten Worterläuterungen, die dem Nicht­ innert zu werden. Unvergessen ist vor allem alemannen alles Unverständliche übersetzen seine Hebelausgabe von Philipp Witkop im und auch dem Etymologen mancherlei An­ Jahre 1926, in der der bedeutungsvolle Satz regung und Berichtigung geben, ein vorzüg­ zu finden ist: „Hebel ist der größte, volks­ liches alemannisches Idiotikon, so fehlerlos, unmittelbare Dichter Deutschlands.“ Welch wie man es sonst nirgends antrifft. Der 2. ein gewaltiges Urteil des Literaturprofessors und 3. Band bringen, Hebels Intensionen der Freiburger Universität! Welch ein gol­ folgend, die Kalenderbeiträge, das „Schatz- dener Lichtstrahl in die Räume der deut­ kästlein“, das mit seinen Perlen und Dia­ schen Dichtung! Die Zeit hat es bestätigt. manten mittlerweile die ganze Kulturwelt Hebel rückt immer mehr in der Reihe der bis zum fernen Osten erorberte, glücklicher­ großen deutschen Dichter auf. Die Zeit klärt, weise in moderner Rechtschreibung. Weg richtet, scheidet unbarmherzig aus, die Zeit fielen demnach die Gelegenheitsschöpfungen, arbeitet für Hebel. die Briefe, Predigten und Bibelübersetzun­ In dieser moralischen Gebundenheit zu gen, all das, was aus der Feder des Prälaten Hebel durfte man mit Recht von Herder hervorging. Diese Auswahl und Beschrän­ einen bedeutenden Beitrag zum 200. Ge­ burtstag, zum Hebeljahr, erwarten. Das nun kung ist zu begrüßen, sie bietet das Beste vorliegende Brevier bietet eine Auswahl: von Hebel, die Kunst. Weniger sagten einige vom Guten das Beste. Das Weniger ist hier der modernen Zeichnungen von Felix Hoff­ zum Mehr geworden. Ein wertvoller, kleiner mann zu; sie sind ein wenig fahrig und Volks-Hebel ist entstanden. brüchig. Hebel aber, der Erzieher, Mahner, Indessen ist man es gewohnt, gedrängten Christ und Prälat, trug eine wohlgefugte, Auszügen zu begegnen. Was dieses Buch geschlossene, unangreifbare Welt in sich, aber vor allen ändern auszeichnet und es ge­ nichts ist bei ihm fragwürdig. So werden radezu zu einer Festgabe erhebt, ist die neu­ einige Illustrationen dem Text nicht immer artige, zeitgemäße Illustrierung. Während 181 Wie sich der Zundelfrieder beritten gemacht Zeichg. Fritz Fischer

Der Zahnarzt Zeichg. Fritz Fischer 182 noch die Witkopsche Ausgabe mit Bildern verniedlichen möchte, er ist trotz seiner ale­ von Hebels Illustrator Ludwig Richter ge­ mannischen Zunge und seiner Heimatbeses­ schmückt ist und als Titelzeichnung der be­ senheit ein zeitloser und reiner Dichter der kannte Steindruck von Adolf Glattacker ge­ Menschheit und des Menschlichen, und eben wählt wurde, zwei Künstler, die dem Idyl­ dieses Gültige, auch in uns Modernen Wir­ lischen, Romantischen, Verträumten nahe­ kende, hält die Tusche des neuen Illustrators stehen und damit, unbewußt oder nicht, fest. Fritz Fischer hat den sicheren Blick für Hebel in gewisser Weise einordnen, dem das Bleibende, Allgemeine, hat in seiner Art fortschreitenden Zeitgeschmack entziehen, manches Verwandte mit dem monumentalen schlägt die neue Ausgabe unbeschrittene Daumier und hat darum schon manches Wege ein. Doch lesen wir, was der Heraus­ Werk der Weltliteratur (Balzac) illustriert. geber selbst zu seinen Beweggründen und Durch ihn entstand jetzt bei Herder der neu­ zum gewählten Zeichner sagt! zeitlich bebilderte, kleine Volks-Hebel. „Von Kindeszeiten waren wir gewohnt, die Geschichten und Gedichte des Kalender­ Johann Peter Hebel, Alemannische Gedichte manns und Poeten vor dem Hintergrund der hrsg. von Karl Friedrich Müller kleinbürgerlichen Idylle der innigen Bilder Ludwig Richters zu sehen. Damit allein M. Schauenburg Verlag, Lahr. Silberdistel­ würde sich uns jedoch Hebels Botschaft allzu reihe Nr. 35/36. 176 Seiten, Gl. 3.80 DM, sehr ins Unverbindliche einer entschwun­ kart. 2.40 DM. denen Zeit verflüchtigen. So lag es nahe, In der bekannten oberrheinischen Dichter­ einen lebenden Künstler mit einer neuen reihe, unter dem Wappenzeichen der ge­ Illustrierung zu betrauen, durch die uns schützten Schwarzwald-Distel bringt der Hebel und seine Gestalten wieder näher rührige, um die alemannische Literatur seit rücken sollen. Fritz Fischer, seit vielen Jah­ eh und jeh bestens bemühte Univ.-Prof. Dr. ren in Süddeutschland zuhause und dem Karl Friedrich Müller die alemannischen Fabulierer Hebel in Wahlverwandtschaft Gedichte Hebels heraus. Das Buch, gut aus­ verbunden, ist ein zeichnender Leser und zu­ gestattet, mit dem Lichtbild nach der zeit­ gleich ein lesender Zeichner. Seine ge­ genössischen Kreidezeichnung von F. Iwanow schwinde und temperamentvolle Feder aus der Basler Universitätsbibliothek ge­ schreibt nieder, was seine Phantasie aus den schmückt, bringt die 48 alemannischen Ge­ Erzählungen des Rheinischen Hausfreundes dichte, Ausgabe letzter Hand von 1820. Das und den Alemannischen Gedichten heraus­ Buch eignet sich seines Taschenbuchformates, schaut; man könnte auch sagen: was er in sie klaren Druckes und niederen Preises wegen hineinschaut. Diese Zeichnungen sind aus besonders auch als Schul- und Klassenlese­ dem einmaligen Erlebnis des Lesers geboren stoff. und halten etwas Schwebendes und Fließen­ Johann Peter Hebels Mundartgedichte des fest, das sich im nächsten Augenblick mit neuen Übertragungen ins Hochdeutsche schon wieder verändern wird . . . selbst die sachlichen Worterklärungen sind in ihr Spiel von Richard Gang einbezogen.“ Reclam-Verlag, Stuttgart, Univ. Bibi. Nr. In der Tat! Hebel ist für uns kein „ur­ 8294/95, 208 Seiten, brosch. 1.30 DM, geb. gemütlicher, schöppleintrinkender, harm­ 3.50 DM. loser Philister“, wozu ihn manchmal einer Reclam, der schon im Jahre 1868 unter des „Jahrhunderts der entfesselten Physik“ Nr. 24 die alemannischen Gedichte heraus­

183 brachte, legt sie diesmal in Verbindung mit weggeführt. Um immer dicht am Original neuen Übertragungen ins Hochdeutsche vor. zu bleiben, wurden auch Metrum und Stro­ Ein zweisprachiger Hebel ist eine Neuheit in phenbau, die so wesentlich zum künstleri­ Deutschland und vielleicht der unerwartetste schen Organismus gehören, genau nachge­ Beitrag zum Hebeljahr. In einem Nachwort bildet. Wenn einige Male in den Idyllen das setzt sich der Übersetzer mit dem Für und Metrum des Hexameters nicht streng einge­ Wider eines solchen Unternehmens ausein­ halten und ein Trochäus statt eines Spondeus ander. Er schreibt dort: gewählt wurde, so geschah dies aus Treue Die Prosawerke Hebels wurden in viele zur Vorlage, so wie auch Hebel selbst, der Sprachen des Abend- und Morgenlandes Reinheit und Echtheit der Mundart zuliebe, übertragen, die Mundartlyrik in mehrere sich über das Metrum des Hexameters hin­ deutsche Mundarten, ins Französische, Latei­ wegsetzte, das er als Altphilolöge bewun­ nische u. a. Um so notwendiger erscheint der derte. Ebenso wurden einige alemannische Versuch, die Mundartgedichte ins Hochdeut­ Wörter und Redewendungen, soweit sie sich sche umzudichten, zumal Hebel selbst damit mit dem hochdeutschen Sprachgefühl noch begonnen hatte. Höchstes Gebot dabei ist, vereinbaren ließen, beibehalten (nit, hand- Eigenart und Struktur der Sprache nicht zu umkehr usw.). verletzen. Diese Gefahr besteht aber, wenn Reim und Wortlängen bereiteten die größ­ man die Übersetzungen zum Selbstzweck ten Schwierigkeiten. Was sich im Alemanni­ erhebt und sie für sich veröffentlicht. schen reimt, reimt sich im Hochdeutschen oft Meine Umdichtungen werden deshalb nicht, und ein Wort, das hier ein- oder mehr­ synoptisch mit dem Originaltext dargeboten silbig ist, hat dort zumeist eine andere Sil­ und sind nur als eine Brücke zu diesem zu benzahl. Dem einsilbigen „glo“ beispielweise verstehen. Sie sind eine ,bedingte Über­ entspricht das dreisilbige „gelassen“. So setzung', gewissermaßen nur das Spiegelbild mußten oft Reim, Wörter und Redewendun­ zum Urbild, ohne das sie nicht bestehen wol­ gen der Vorlage aufgegeben und durch an­ len. Ihre Aufgabe ist es, den nichtalemanni­ dere ersetzt werden. schen Leser zu den großartigen Schatzkam­ Die Schönheit und Größe des Urbildes zu mern von Hebels Mundartpoesie zu führen. erreichen, gelang nicht, konnte nicht, wird Nicht zuletzt aber wollen sie den eigenen nie gelingen. „Übersetzen ist das Aller­ Landsleuten Hebel und unsere Mundart, die schwerste“, sagt C. J. Burckhardt, und Rilke in einer Zeit der Sprachnivellierung vom bestätigt es. Der Übersetzer tröstet sich mit Untergang bedroht ist, wieder näherbringen. dem Dichterwort, daß es bei einem hohen Es waren Neuübersetzungen notwendig, Ziel genüge, es erstrebt zu haben. Properz: denn selbst die beste unter den vorliegenden, In magnis et voluisse sat est. Er glaubt, von einem Nicht-Alemannen geschaffen und daß sich das große Kunstwerk, das sich mit den Schwächen erster Versuche behaftet, nebenan in seiner Innigkeit und Vielfalt er­ wird im Hebeljahr 1960 schon 109 Jahre alt hebt, mit Hilfe dieser Übertragung vom und genügt nicht mehr. Leser erarbeiten läßt. Damit diese Übertragung ihre Aufgabe Die zwei folgenden Musterstücke, die nicht erfüllt, wurde eine Wort-für-Wort-Über- mehr im Reclamband untergebracht werden setzung, eine Art Interlinearversion ange­ konnten, mögen Zeugnis von der Art des strebt. Eine freie Nachdichtung hätte für sich Übertragens geben. Sie wurden für die betrachtet vielleicht eindrucksvollere Ge­ „Badische Heimat“ gewählt, weil sie, in den bilde ergeben. Doch hätten sie von Hebel meisten Ausgaben weggelassen, wahrschein- 184 lieh in der Heimat Hebels ein besonders und schön, ist voll Tiefe und Gemüt, ist voll offenes Ohr finden. Das eine, „Hephata“, Lebenssicherheit und innerer Stärke, beides liegt in zwei verschiedenen Fragmenten vor, unverkennbar echte Hebelsche Werke. Sie das andere, „Dank“, ist ein Gelegenheits- werden nun im neuen Kleid zum erstenmal gedieht. Der Kern aber, der nur übertragen als ein kleiner Beitrag zum Hebeljahr der und auch abgerundet wurde, ist zeitlos, groß Öffentlichkeit vorgelegt. Hephata, tue dich auf! (Fragment, gekürzt) In der Früh eines Sonntags ging ich still in Gedanken auf der Straße spazieren, und wie es kann sich so geben, kam ich weiter, als ich wußte und als ich es wollte. So geschah’s: Es war heimelig, und der Sonnenschein prallte rechts und links auf die Dörfer und auf die geweißelten Kirchtürm. Und die Kirchtürm stehn und beschauen einander von weitem über das Weizenfeld und über die duftigen Wiesen, wollte aber keiner beginnen. „Nachbar, fang du an! Bist du nicht der älteste und hast die kräftigsten Glocken?“ — „Noch nicht hörte ich neun Uhr schlagen“, sagt er zum Nachbarn. „Tränken sie nicht auch an allen Brunnen die Kühe und holen noch beim Metzger das Fleisch und flechten den Kindern die Zöpfe?“ Weiter ging ich und vernahm, wie die Vögelein sangen, weil es Sonntag und weil alleine im Felde sie waren. Meinen Morgenpsalm pfiff auch ich, und die Vögelein lauschten, schauten einander an und dachten: Das ist ein Lehrbub, sei er, wer er wolle, in seinen plüschenen Hosen. Nun, ich gehe den Rebberg hinauf in meinen Gedanken, — weiche Trauben hingen schon da mit zeitigen Beeren, — als es zusammenläutete rings umher in den Orten über die Stoppelfelder und über die grasigen Wiesen. Das erhob mich, und Wasser schoß mir jäh in die Augen: „Gehst du in keine Kirche, und geht dich der Sonntag denn nichts an?“ sagte ich mir und eilte und kam zur letzten Minute in die Kirche und setzte mich, wo gerade noch Platz war. Höret jetzt, was der Pfarrer in seiner Predigt uns sagte! Kann ich’s nicht sagen wie er, so will ich’s sagen, wie ich’s kann. — Wie bei uns hier so haben sie gebetet, georgelt. Nach dem Singen dann stieg der Pfarrer hinauf auf die Kanzel, drehte das Stundenglas um und klopfte daran ein wenig, weil der Sand nicht floß, und als die Orgel verbrummt hat, da begann er die Predigt von jenem Tauben und Stummen, dem ein fremder Mann vom galiläischen Meere, wo er gewandelt, ins Ohr den Finger habe gehalten und auf die Lippen und wie er Hephata hilfreich gerufen. Hephata, tue dich auf! Da sei dem Kranken auf einmal Wasser in die Augen geschossen. „Was brausen die Wellen!“ 185 hab er gesagt. „Wie pfeift der Wind so lieblich am Ufer!“ Vater und Mutter seien fast vergangen vor Freude. „Welch ein kräftiges Wort vom Hümmel, dies Hephata!“ sprach er. „Nicht ein Arzt tut es nach, und kein Apotheker.“ Und tönt es nicht audi uns, wo man lauscht an allen Enden und Orten, auf den Wiesen und in allen menschlichen Herzen? Am Dreikönigstag ist mit Schnee bedeckt noch der Boden, hart und kalt, voll Reste und Würmern, ein wirklicher Friedhof. Nirgends ein Gräslein, nicht eine Blume! Keimt denn ein Körnlein? Wir bedauern die armen Vögel, die Spatzen und Finken und die armen Leute in ihren zerrissenen Kleidern. Woche um Woche vergeht. Schon feiern wir Pauli Bekehrung; nicht wird es besser, nur die Not wird größer und herber. Lichtmeß kommt, die Fastenzeit; es ist noch wie immer. Vogt und Gericht, der Kaiser mit allen seinen Soldaten zwingen es nicht. Kein Menschenwort dringt herab in den Boden, bis im März ein anderer kommt und Hephata ausspricht. Hephata tue dich auf! „Wie weht der Tauwind so lieblich“, sagt der Vater zum Sohn, wenn sie miteinander zum Wald gehn, und er knüpft auf das Brusttuch, — „wie wird der Boden so locker! Höre, wie’s rieselt und tropft und schau, wie alles schon grünet!“ Und daheim sagt die Mutter: „Geh, Tochter, eilig ans Fenster! Laß mir den Frühling herein mit seinen heiteren Augen! Laß die Schafe heraus! Der Hirt fährt soeben durchs Dorf hin!“ Alles kommt nun ins Treiben und schießt in heimliche Knospen in den Gärten, im Felde, an allen Bäumen und Hecken. Und der Vogel, der nicht vor kurzem die Wegsteuer hatte, ist ein reicher Bauer. Er hat in allen Revieren Würmlein auf der Weide, von jedem Landstück den Zehnten, ja, er hat Haus und Hof zu eigen. Die fleißige Hausfrau baut ein Bettlein darin, und wenn man irgend dazu kommt, nein, so behüt uns Gott! was liegt im Bette verborgen? Goldene Eilein, rund und klein, mit Tupfen gesprenkelt. Was ist in den Knospen, was in den Eiern verborgen? Niemand weiß es und schaut, und niemand könnte sie öffnen. Tage um Tage vergehen, Ostermontag und -dienstag, bis die Stimme vom Himmel ertönt und Hephata ausspricht. Jetzt aber ruft es Tag und Nacht und sonntags und werktags: Hephata, tue dich auf! Und alle hören und folgen, und man hat nicht Augen genug zum frohen Betrachten. Knospen springen auf. O schau den blühenden Flieder! Von dem Nest fliegt der Vogel. O schau das Stüblein voll Kinder! Wo man nur hört und wohin man sieht, ist Leben und Leben. Ja, es währt vom Ostertag an ein freudiger Festtag bis zu Pfingsten, Tag und Nacht, am Sonntag und Werktag. Ringsum glitzert alles wie Silber, Gold und Demanten. Blütendüfte wehen von allen Bäumen und Hecken, und es tönt, man weiß nicht wie, in Gärten und Wiesen wie Klavier- und Harfenton und silberne Glöcklein. Wo man nur hört und wohin man sieht, ist Leben und Leben. Geht nicht die Glucke zu zwölfen? Die Lämmer weiden im Grünen, Halme schießen, Ähren schwanken, die Sense erklingt schon, und man sagt „Gottlob und Dank“ und wartet allmählich auf den warmen Regen. Das Barometer was sagt es? Oben hinaus fast will es. Das Rütteln zwingt es nicht abwärts, und der Himmel ist zu wie einst in den Zeiten Eliä, zweites Buch der Könige, Kapitel das siebzehnt. —

Der Dank Wahr ist’s Herr Jäck, hab keinen eignen Baum! Ich hab kein Haus, ich hab kein Schaf im Stall, kein Roß im Feld, kein Bienenvolk im Hof, kein Huhn, kein Häslein und auch oft kein Geld. Macht nichts! Und doch, kein Bauer ist im Dorf so reich wie ich. Ihr wißt es, wie man’s macht: Man denkt, man habe es. So denk ich auch im süßen Wahn, und wo ein Bäumlein blüht, gehört es mir. Und wo die Ähre schwankt, gehört sie mir. Und wo Eicheln frißt ein Säulein, frißt’s in meinem Wald. So bin ich reich. Doch reicher bin ich noch im Heuet, in der Ernte und im Herbst. Ich sag: Nun kommt, ihr Leut, wer will und mag und heuet, schneidet, nehmt die Trauben ab! Ich hatte meine Freud; es labte sich mein Herz an allen Düften und an allem Schönen satt. Was übrig bleibt, ist euer. Tragt es heim! Herr Jäck, mir ist’s, ihr schüttelt euern Kopf und saget zu euch selbst: „Mein guter Freund, so lebt man im Schlaraffenland. „Ach ja, so leb ich im Schlaraffenland, ’s ist wahr! Doch, mancher Kirschbaum hängt voll Kirschen schwer, und trägt nicht manches Bienlein Honig heim? Herr Jäck, viel Süßes wohnt im Blumenkelch, viel Würze auch im Kirschenkern, ’s ist wahr. Doch was in frommen Menschenherzen sprießt und aufgeht und in schönen Liedern blüht wie euer Lied, geht über Zuckerbrot und Zimmetgeist. Das trägt kein Bienlein heim, das destilliert im Sommer nie ein Baum. Drum dank ich Gott für alles Liebs und Guts. Drum dank ich dreifach Gott für sein Geschenk. Huldigung des Malers Olattacker dem Dichter Hebel Mein Weg zu Johann Peter Hebel

Von A d o lf Glattacker, Lörrach-Tüllingen Mit 18 Jahren kaufte ich mir J. P. Hebels er hielt dieselbe mit beiden Händen empor alemannische Gedichte für 20 Pfennig. Ich und rief aus: Lueget emol, Buebe, das isch legte mir mit jeden übrigen zwanzig Pfen­ jo der reinscht Lieberherrgott! Auf seine Art nigen eine kleine Bibliothek von Reclam- machte er uns öfters solche Gleichnisse. Er bändchen an, nach eigener Wahl. Aber das trug sogar die ganze Hebelpoesie in sich, Hebelbüechli trug ich stets mit mir, bis ich ohne vielleicht seine Gedichte gekannt zu alle seine Gedichte genau kannte. Dann kam haben. Hebels Schatzkästlein des Rheinländischen Als ich mit 19 Jahren meine Lithographie­ Hausfreundes dran, in dem ich mich in lehrzeit abschloß, führte ich meine erste Karlsruhe wie in meiner Heimat fühlte. Ich selbständige Arbeit in Lithographie aus: eine träumte damals als Lithographenlehrling, Postkarte zu dem Gedicht „Ne Gsang in einmal Genremaler zu werden, und interes­ Ehre“, die bei Gutsch in Lörrach gedruckt sierte midi besonders für die badischen wurde. Im Oktober 1897 trat ich auf der Volkstrachten und für das Schwarzwälder Karlsruher Kunstgewerbeschule meine Volksleben. Malerlaufbahn an und dachte nichts anderes, In der Karlsruher Gemäldegalerie suchte als ein guter Illustrator zu werden. Natür­ ich mir die Bilder dieser Genremaler aus, die lich verfolgte mich weiterhin der Stoff aus das ländliche Leben der Bauern darstellten der ganzen Hebelpoesie zu Bildern aller Art, wie Hasemann, Liebich, Hoff, Knaus, Def­ aber auch die Gedichte von Goethe, Mörike, regger, Vautier, Kirner usw. Von Fritz Reiß Hebbel, Brentano und die Grimmschen kaufte ich mir sämtliche Postkarten von den Volksmärchen zogen mich an, sie zu illustrie­ Schwarzwälder Volkstrachten. Aber bei mei­ ren. Nach Verlassen der Kunstgewerbeschule nem dauernden Lesen der Hebelgedichte versuchte ich, mit Entwürfen aller Art bei trug ich mit mir Ideen zu Bildern zu diesen verschiedenen Verlaganstalten Aufträge zu Gedichten herum, die mich nicht mehr los­ erhalten, aber ohne Erfolg. Meistens bekam ließen. Dazu kamen meine eigenen Erleb­ ich meine Zeichnungen nicht mehr zurück. nisse in meiner Heimat, die zu diesen Vor­ Endlich erreichte mich von der Elchlepp- stellungen ganz parallel gingen. schen Verlagsbuchhandlung in Emmendingen Von meinem Großvater mütterlicherseits der Auftrag, sechs fertige Zeichnungen zu bekam ich meine phantastischen Vorstellun­ Hebels Gedichten einzusenden. Ich führte gen von Naturgeistern schon bei Zeiten ein­ dieselben in Federstrichen aus, in Wasser­ geimpft. Meine eigenen Jugenderlebnisse farben leicht koloriert. Diese ersten Bilder bildeten mich für die Hebelsche Welt, sodaß zu Hebel wurden gedruckt und als Post­ ich eigentlich im Hebelgeist aufgewachsen karten verkauft. Leider besitze ich nur noch bin. Meine ersten Zeichnungen zu Hebels eine einzige Karte davon. Im Jahre 1902 Gedichten sind in Karlsruhe aus Heimweh malte ich bei meinen Eltern in Weil mein entstanden, als ich um die zwanzig herum erstes größeres Bild in Aquarell zu Hebels war. Mein Großvater war ein großer Er­ Gedicht „Das Hexlein“. Rechts im Bildraum zähler und Naturbeobachter. Z. B. als wir schrieb ich den Text vollständig hinein. Das drei Brüder einmal mit unserem Großvater Bild wurde im Basler Kunstverein ausge­ Kartoffeln ausmachten, grub er eine ganz stellt und wanderte noch 11 Monate mit große vielgestaltige Kartoffel heraus, und einer Wanderausstellung in elf deutschen 189 Siehsch dort vorne’s Röttler Schloß — verfallni Muure? Städten herum und kam nach einem Jahr Buchhändler und Verleger Ernst Ackermann wieder unverkauft in meinen Besitz. Dieser den schönen Auftrag, Hebels Schatzkästlein Mißerfolg entmutigte mich aber nicht. Ich zu illustrieren. Ich führte diesen Auftrag mit zeichnete instinktiv weiterhin neben meinen Freuden aus und schuf in 6 Monaten 85 Brotarbeiten Studien aller Art, die mich mit Federzeichnungen zu diesen Geschichten. Sie der Zeit befähigten, fast jedes Bild zu Hebel wurden im gleichen Jahre gedruckt, und das späterhin ohne Modell aus dem Kopf auszu­ neu illustrierte Schatzkästlein bahnte mir führen. Ich zeichnete dann für zwei Verleger den Weg in die Öffentlichkeit. Leider ist das eine Anzahl Entwürfe zu verschiedenen Buch schon lange vergriffen. Serien Postkarten, die aber mit Hebel keine Es kamen Aufträge von mehreren Seiten Beziehung hatten und hauptsächlich humo­ für Illustrationen zu Kalendergeschichten ristisch waren ohne besonderen Wert und für berühmter Männer und Frauen, sowie Er­ mich ohne Bedeutung. So mußte ich in zählungen aus der Geschichte. Ich ging nun meinen besten Jahren meine Zeit mit un­ im Jahre 1907 mit einigen Aufträgen dieser nützen Brotarbeiten vergeuden. Ich griff nun Art nach Paris und wollte neben diesen illu­ zu einer besseren Art, mich vorwärts zu strativen Arbeiten doch ein freier Maler bringen. Das war das Porträt. Ich zeichnete werden. Meine erste Zuflucht zur Erreichung viele Köpfe für wenig Geld in Wirtschaften, der altmeisterlichen Malerei war in Paris das bei Vereinsfesten und auch auf öffentlichen Louvremuseum. Dort kopierte ich eine An­ Vergnügungsplätzen, manchmal bis zu zahl berühmter Meisterwerke von italieni­ zwanzig Menschen im Tag für 50 Pfennig schen, flämischen, französischen und altdeut­ oder Centimes. Einmal zeichnete ich eine schen Malern, alles innerhalb von drei Jah­ Stammtischgesellschaft von 8—10 Mann für ren meines dortigen Aufenthaltes. Zu glei­ 5 Fr. pro Kopf. Damit machte ich einen cher Zeit zeichnete ich viele Illustrationen Schlager. Aber ich wollte nicht nur zeichnen, für einen Basler und Hamburger Verlag. sondern auch malen, und weil ich vorder­ Aber meine stetigen Bildgedanken zu Hebels hand noch keinen Auftrag für ein Porträt in Werken verließen mich nicht, und ich führte Farben bekam, stürzte ich mich auf das einige meiner Illustrationen aus Hebels Kopieren berühmter Altmeister. Ich fing Schatzkästlein vergrößert in Aquarell und gleich mit dem schwierigsten an und kopierte Oeltechnik aus, sowie ein ganz im Hebel- in Basel die Lais Corinthiaca von Hans Hol- schen Geist gemaltes Bild in Aquarell: Weih­ bein d. J. Diese erste Kopie existiert heute nachten im Walde. Nach meinem Abschied noch in Privatbesitz. Mein stetiger Drang, von Paris im Frühjahr 1910 in meine Hei­ eigene Werke zu schaffen, verließ mich aber mat zurückgekehrt, war meine erste Arbeit: nie, und ich fing an, in den Jahren 1904 bis mein erstes Porträt von J. P. H^bel zu 1905 eine Serie von 10 schönen Zeichnungen seinem 150. Geburtstag in Lithographie aus­ zu schaffen, die von einem Freiburger Kurz­ zuführen. Dies geschah im April 1910. Ich warenhändler und Postkartenverleger ge­ ließ von dieser Steinzeichnung auf eigene kauft und in den Handel gebracht wurden. Faust etwa 550 Abzüge drucken und ver­ Leider wurden die Originale, fein in Tusch­ kaufte sie in meiner engeren Heimat durch manier ausgeführt, vom Verleger verschleu­ Kolporteure von Haus zu Haus. Dies gut dert. Sie wurden von einem namhaften gelungene Bild kam in Bauernhäuser, Rat­ Kunstfreund später vergeblich gesucht. Das häuser und Volksschulen und war rasch ver­ Jahr 1906 rückte heran, und ich bekam mit griffen, ohne mir einen materiellen Gewinn Hilfe eines Freundes von dem Konstanzer einzutragen. Das Bild mähte mich aber be-

191 Lueg mer e wenig uufe, wer stoht dort oben am, Fenster ? kannt und gab mir den Namen: „Der und es hat mich bekannt gemacht. Ich Hebelmaler“ in meiner Heimat. Ich fing kopierte 1927 das in Basel befindliche jetzt an, kleine Bilder in Aquarell zu malen, Hebelbildnis von Fedor Iwanow in Original­ die ganz freie Schöpfungen waren, ohne illu­ größe in schwarzer Kreide mit weiß erhöht strativ zu sein; ich möchte sie Idyllen auf braunes Papier originalgetreu mit vier nennen. von mir entworfenen Ecken. Diese Arbeit Illustrationsaufträge folgten weiter für wurde mir von einem Hertinger Herrn be­ Kalender und kleine Geschichten und Erzäh­ stellt und hängt im Gasthaus zum „Rößle“ lungen für die Verlagshäuser Rauhes Haus, in Hertingen, wo der Dichter eine Zeitlang Hamburg, Friedrich Reinhardt, Basel, Her­ als Pfarrer wirkte. der, Freiburg, Aber die Gedichte und Erzäh­ In den folgenden Jahren entstanden von lungen Hebels drangen immer wieder in den mir noch eine Anzahl Bilder in Aquarell Vordergrund, und ich führte in meinen und ö l zu verschiedenen Hebelgedichten. Die freien Tagen ein Bildchen um das andere aus Häfnetjungfer habe ich vier- oder fünfmal als freie Illustration zu Hebel, das waren in verschiedenen Auffassungen gemalt. Sie die Aufträge, die ich mir selber gab. Wenn befinden sich alle in Privatbesitz. Dengeli- ich nicht auf Aufträge angewiesen gewesen geistbilder existieren ebenso viele. Das größte wäre, hätte ich viel mehr Bilder zu Hebel von 1940 ging leider durch den Krieg ver­ gemalt in den Jahren von 1910 bis 1940. In loren. In den letzten zwanzig Jahren hörte den Jahren 1935 bis 1938 raffte ich mich ich ebenfalls nicht auf, Zeichnungen und auf, Hebels schönstes alemannisches Gedicht gemalte Bilder zu Hebel, sowie solche ganz „Die Wiese“ mit 21 Bildern zu illustrieren. frei, aber doch im Hebelgeist zu schaffen. Es gab ein hübsches Buch im Selbstverlag mit Schon Jahre trachte ich darnach, Hebels Text und Illustration mit einem Vorwort alemannische Gedichte als Prachtausgabe von Hans Uhl in Lörrach. Es erschien zu reich zu illustrieren. Ein Auftrag dazu würde meinem 60. Geburtstag 1938 in 550 nume­ diese Arbeit beschleunigen. Vorarbeiten sind rierten Exemplaren, von mir signiert. Die in Skizzen schon seit Jahren entstanden. Originale besitzt Wilhelm Schöpflin Wwe. Hebel ist mein dauernder Begleiter, nicht in Brombach. nur in meinen Bildern, sondern auch in Im Jahre 1925 bekam ich vom Landes­ meinem alemannischen Sprachinteresse und verein Badische Heimat durch Hermann Eris in der Wahrung der Volkssitten. Ich könnte Busse den Auftrag, ein Hebelbild zu schaffen, jedes alemannische Wort illustrieren, z. B. das zu Hebels 100. Todestag gedruckt her­ „Was chlüsperlisch wieder“? In diesem Wort auskommen sollte. Diesen Auftrag führte ich sehe ich zwei Kinder, die sich etwas in das zur Zufriedenheit des Vereins aus in öl auf Ohr flüstern. Ich habe eine Sammlung Leinwand. Der Vierfarbendruck als original­ alemannischer Wörter, von welchen man getreue Reproduktion wurde von der Kunst­ viele selten oder garnicht mehr spricht. Seit druckerei Bruckmann in München ausgeführt dem Jahre 1940 führte ich zwischen meinen für die „Badische Heimat“ in 2500 Exem­ Porträts und freien Kompositionen eine plaren und von dieser an die Liebhaber ver­ weitere Anzahl von Bildern zu Hebels Ge­ kauft. Seit 1941 waren die Bilder vergriffen, dichten aus, teils in öl, teils in Aquarell, die und seither hat die Nachfrage nicht auf­ alle in Privatbesitz sind. Eine Darstellung gehört. Ich betrachte dieses farbige Hebel­ von Hebel in ganzer Figur in seiner heimat­ bild als das schönste meiner Bilder zu Hebel, lichen Landschaft. Eine Häfnetjungfer mit

13 Badische Heimat 1960 193 Bhüet di Gott der Heer, un folg mer, was i der gseit ha! dem Steinener Schlößli und größeres Ölbild zeitsbild der Wiese“ mit dem Rhein in Alt­ „Der Dengeligeist“ mit freien Zutaten, von weil und „Die Irrlichter“. Herrn Wilhelm Schöpflin in Hagen bestellt. Auf Hebels 200jährigen Geburtstag plane Dieses Bild ist aber leider in der Besatzungs­ ich ein neues Hebelbildnis mit Umrandung zeit verschwunden. In den letzten fünf als Festgabe, ausgeführt in lithographischer Jahren entstanden wieder Entwürfe zu Steinzeichnung. Und so hoffe ich, auch Hebelillustrationen und einige Bilder in meinerseits eine festliche Überraschung zu öl „Der Mann im Mond“, „Der Dengeli­ bringen — eben als Hebelillustrator, der ich geist mit dem füürigen Marcher“, das „Hoch­ immer war und bleiben werde.

Der Rheinsprung Zeichg. Glattacker

195 Abb. 1. Hebels letzte Fahrt auf Rhein-Neckar nach der Abiturprüfung 1826 Zeichg. Br. Schley

Bruno Schley und seine Markgräfler Blätter

Von Robert Feger, Freiburg Der Freiburger Graphiker Bruno Schley Auge unter dem milden Himmel des Ober­ ist am 6. Oktober 1895 in Rastatt geboren landes zu schauen anbot. Die Ergebnisse und hat in Lahr das Gymnasium besucht, eines solchen tätigen Verweilens in der doch er ist blutsmäßig ein Markgräfler: Einer Heimat seines Stammes und seiner Seele seiner beiden Großväter zog aus dem Mark­ liegen vor in vielen Mappen großformatiger gräflerland 1848 mit den Revolutionstrup­ Zeichnungen, die in sparsamer, aber kraft­ pen nach Mittelbaden, geriet in die Gefangen­ voller Liniatur sichtbares Außen und wesen- schaft der Regierungstruppen und sollte in haftes Innen von Landschaft und Menschen Heidelberg erschossen werden, kam aber des Markgräflerlandes mit seltener Treue, durch Vermittlung des österreischen Kaisers künstlerischer Erfühlung und technischer frei. Im Markgräflerland, in Haltingen und Vollkommenheit zu schildern verstehen. Frei­ anderswo, sitzt heute noch Schleys Verwandt­ lich muß dazu gesagt werden, daß Schley schaft. In die Dörfer und Reben, zu den trotzdem nicht auf das Markgräflerland Menschen des Markgräflerlandes hat es festgelegt ist. Seit 1910 in Freiburg ansässig, Schley schon seit je gezogen, und er hat hat er als Graphiker eine Fülle von Schrift­ manchen Tag dort verbracht, — nicht aus­ sätzen, Urkunden, Druckvorlagen, Illu­ ruhend, sondern mit Zeichenblock, Tusche, strationen und heraldischen Zeichnungen ge­ Pinsel und Feder festhaltend, was sich seinem schaffen, die seinen Namen bekannt gemacht

196 ^466. 2. J. P. Hebel unter seinen Landsleuten Zeichg. B. Schley haben; auch Freiburger Ansichten hat Bruno zeichnet; da sind ferner symbolisch-zeitlose Schley im Laufe der Jahre viele gezeichnet, Kompositionen, die in anachronistischer Zu­ — es sei nur an die Folge von zartfarbigen sammenschau der Kulturepochen — hie Ansichten aus dem zerstörten Freiburg des Hebelzeit, hie Neuzeit — ganz eindringlich Jahres 1945 erinnert. davon sprechen, daß Hebels Person und Bruno Schleys Blätter aus dem Markgräf­ Werk jenseits aller Jubiläumsbegeisterung lerland haben vielerlei zum Inhalt. Einige auch heute noch gegenwärtig und wirksam Porträts finden sich neben viel Figürlichem, dort sind, wo der Sinn für das Natürliche, das die alte, ausgehende Tracht des Land­ für Bescheidenheit und Redlichkeit noch strichs ebenso wahr wiedergibt wie den lebt. Körperbau der Menschen dort. Im Gegen­ Mit dem historischen Hebel beschäftigt überstellen von Trachtenleuten und modern sich unser erstes Blatt „J. P. Hebels Rhein­ Gekleideten tritt spürbar ein kulturkritisches fahrt“ (Abb. 1.) (im Besitz des Regierungs­ Moment zutage. Einige Blätter befassen sich präsidiums Südbaden), ein Bild aus Hebels mit der Person und der Wirkung Johann letzten Lebenstagen. Wir wissen aus dem Peter Hebels: da sind Porträts des großen Bericht seines Freundes Nüßlin, der Profes­ Mannes, aber auch Szenen aus seinem sor am Lyzeum in Mannheim war, daß Leben, nach zeitgenössischen Berichten ge­ Hebel Mitte September 1826 an den Lyzeen Abb. 3. Sonntäglicher Kirchgang in Oellingen Zeichg. Bruno Schley

198 von Heidelberg und Mannheim Prüfungen abhielt, obwohl er schon vor Antritt der Reise dorthin sehr leidend gewesen war. In Mannheim wollten ihm die Schüler eine Freude machen; einen Fackelzug lehnte Hebel jedoch ab. So luden sie ihn zu einer Kahnfahrt auf dem Rhein ein. Auf dieser Fahrt sei dem leidenden Prälaten nun noch einmal die alte Heiterkeit wiedergekehrt, so daß er diesen Tag für einen der frohesten seines Lebens erklärte. Den Höhepunkt er­ reichte das kleine Wasserfest, als ein zweites Schiff unter den Uferbäumen hervor dem ersten entgegenfuhr und seine Insassen das andere, das Hebel an Bord hatte, mit Ge­ sang, Musik und Hochrufen begrüßte. Indes kam rascher, als man wünschte, die Nacht, und Hebel selbst verglich ahnungsvoll sein Schiff mit Charons Nachen und die rhein- entlang aufgereihten Zuschauer mit den am Ufer des Styx harrenden Schatten; fünf Tage später, am 21. September 1826, war Hebel tot. — Diese Szene beschwört der Pinsel Bruno Schleys: Hebel sitzt am Rand des Kahns, vor ihm hat man eine Tischplatte quer über den Bord gelegt und Brot und Wein darauf gestellt, — neben ihm sitzen, wie er selbst in Mantel und Hut, die Freunde, Nüßlin und andere; im Hintergrund stehen oder rudern die Schüler. Alle sind dem ge­ alterten kranken Gast ehrfürchtig und be­ sorgt zugewandt. Uber den Personen ver­ suchen Laternen und Lampions die schwer sinkende Nacht vom Schiff zu verbannen. Ein schwebender Augenblick, dieser Herbst­ abend auf den Wassern des Rheines, nüch­ tern geschildert und doch voll menschlicher Wärme und verhaltener Größe, wie es Hebel und seinem Gedächtnis ansteht. Das zweite Blatt, „J. P. Hebel im Kreis seiner Landsleute“ (Abb. 2), eine symbolische Darstellung, zeigt Hebel inmitten seines Volkes, seiner Gemeinde, die ihm zuhört.

Abb. 4. Markgräflerin mit Korb Zeichg. B. Schley Abb. 5. Die drei Lebensalter Zeichg. B. Schley Bürger und Bauern, Bäuerinnen mit der rheinlandschaft, die mit blitzenden, pappel­ Flügelhaube des Markgräflerlandes, viele gesäumten Rheinschlingen, sanft gewellter, Kinder, alles Leute von heute, sind in bürgen- und kirchenbestandener Vorberg­ lockerem Kreis um die Gestalt Hebels an­ zone und blasser Kontur der Schwarzwald­ geordnet. An Haltung und Gesichtern der berge zu Seiten des sonnenheißen Aufgangs Umstehenden ist eine ganze Skala von Ge­ liegt. Die Vergangenheit ist in Turm, Burg fühlen abzulesen: Ehrfurcht, Staunen, Ver­ und Zinnengiebel da, aber von den insich- wunderung, Skepsis. Ihnen allen tritt Hebel gekehrten Frauen kaum beachtet. Trotzdem im altväterlichen Rock mit weisenden Gesten ist sie wirksam: in der steifen Verschlossen­ gegenüber, — die Vergangenheit, die sich heit und in der überkommenen Tracht der mahnend und lehrend an die Gegenwart Schreitenden. Schley hat in diesem Bild das wendet. schwerblütige Element des Markgräfler Das dritte Blatt nennt sich „Sonntäglicher Volkstums eindrucksvoll herausgearbeitet. Kirchgang nach Oetlingen“ (Abb. 3). Zur Die „Markgräflerin mit Korb“ (Abb. 4) hochgelegenen Kirche steigen einen schatten­ ist eine groß gesehene, statuarische Gestalt losen Weg durch die Rebberge vier Frauen in der alten, verschwindenden Tracht mit der empor, — archaisch steif im Schreiten, streng ausladenden Flügelhaube, clem fransen­ jn der Haltung, sehr herb im Umriß. Sie besetzten Schultertuch und der Schürze. Im haben keinen Blick für die leuchtende Ober­ edelgeschnittenen Gesicht lebt bäuerlicher

200 Sinn. Eine jugendfrische, gescheite, ein wenig und Mädchen selbst sind das, was die Greisin spöttische, liebenswerte Frau, hart ein­ als Lebensleistung aufzuweisen hat. gespannt in den strengen Rahmen ihres Eine andere, menschliche, alltägliche Seite Daseins, der durch grüne Flächen belebte der bäuerlichen Welt des Markgräflerlandes Hintergrund mildert die fast mythische zeigt „Der Kuhhandel“ (Abb. 6), eine ganz Herbheit des Bildes. prachtvoll unkonventionell aufgebaute Stellt Schley in der „Markgräflerin mit Gruppe. In dem Hochformat des Blattes Korb“ einen Jungfrauentypus vor, so in dem dominiert der wagrechte Leib der Kuh; es Bild „Die drei Lebensalter“ (Abb. 5) eine ist ein nicht mehr ganz junges, aber noch Variation des Themas „Markgräfler Frau“ kräftiges Tier, wie der gerade Rüchen aus­ in drei Sätzen. Dreimal die Markgräflerin, weist. Rechts unten im Vordergrund handeln jedesmal in der strengen Flügelhaubentracht, um dieses Tier die Männer. Der eine zählt und jedesmal doch anders: Links mit weichen Vorzüge oder Fehler auf, der andere macht Formen und Gebärden und vollem rosigem mit großer Arbeitshand Einwendungen. In­ Gesicht (das Original des Blattes ist zurück­ dessen ist das, was die beiden in ihrem haltend koloriert) das Mädchen, noch im Vordergrundsdasein vorstellen und aushan­ Hintergrund des Lebens, das aber bereits deln nur die Fassade des Vorgangs. Hinter mit Arbeit und Gehorchen ihren Träumen dem handelnden Männerpaar baut sich in den Weg verstellt, naiv vertrauend und fast den Hintergrund hinein eine kunstvolle zutraulich; sie bietet Blumen an, — ganz Komposition von vier Frauengestalten: die rechts — groß in den Vordergrund gerückt, erste, untere, nimmt die Argumentation des mit einem Kleid von klassisch schönem Mannes mit dem Stock leichter und zügiger Faltenwurf, in gemessener bäuerlicher wieder auf, die zweite — sie hält die Kuh — Hoheit, bewußt und tätig, voll Behauptungs­ verharrt wie diese sozusagen abwartend auf und Schaffenswillen, über all dem und dem der Stelle; nur ihr kluges, verschmitztes Ge­ Schaffenmüssen auch hart geworden, ohne sicht verrät, daß auch sie bereit zum Ein­ aber den Edelsinn des Antlitzes verloren greifen in den Handel ist. Über der Kuh zu haben, — bietet die Frau einen Korb endlich, dem Geschehen einigermaßen ent­ Früchte an; die Mitte des markgräflerischen rückt, aber doch noch darauf bezogen, zwei Lebenstags ist von Arbeit erfüllt. Endlich Frauen — nennen wir sie Nachbarinnen —, zwischen diesen beiden Gestalten, noch die ihrerseits vielleicht die Beweisführung näher bei der rechtsstehenden reifen Frau, der Hauptpersonen wiederholen, vielleicht aber im Sitzen schon weggewandt von Welt eigene Argumente widereinandersetzen. und täglicher Arbeit, mit zerfurchtem Ge­ Allen geht es um die Kuh. Und dieses Thema sicht, in sich gekehrt, sitzt die Alte da, in Kuh wurde von Schley bewußt oder un­ den müden Händen die kargen Früchte bewußt durchkomponiert wie das Thema eines Lebens; sind es die einzigen, die er­ einer rustikalen Symphonie: Während es rungen werden konnten? Nein: in der selbst in unerschütterlicher Ruhe beharrt und Demut der Haltung dieser Frau ist ein heim­ dem Auge, das die Gestaltenfolge aufwärts licher Stolz verborgen; die wenigen Früchte durchwandelt, durch die Querlagerung des im müden Schoß sind zufällig, die wahren Motivs immer wiederkehrt, erlebt es in den Früchte leben, von der Greisin weiter­ Figuren eine eindrucksvolle Entwicklung. gegeben, in den Gestalten zu Seiten der Der rechts und tiefer stehende Bauer — sozu­ Alten: der Schaffensmut der Frau, die hof­ sagen der erste Satz — mag das Allegro dar­ fende Gläubigkeit des Mädchens; ja, Frau stellen; der zweite antwortet als retar-

201 Abb. 6. Der Kuhhandel Zeichg. B. Schley

202 dierendes Adagio, die beiden Frauen in der erdhafte Thematik durch schmunzelnde Mitte vermögen in der fast als Tanzhaltung Ironie erhoben und leichter gemacht. Schley zu bezeichnenden Gebärde der unteren und ist in dieser Zeichnung mit ihrem anspruchs­ in der stillen Pfiffigkeit der oberen ein scher- losen Vorwurf ein ganz köstliches Blatt ge­ zandes Menuett glaubhaft zu machen; die lungen, das seiner Haltung nach gut und beiden oberen Frauen, wieder ins Allegro gern als treffende und gemäße Illustration oder Presto fallend, haben in der Beinahe- zu einem jener Hebelschen Schwänke gelten Parallelität der Gebärde ausgesprochen könnte, die zwar lächelnd hinerzählt wer­ Fugen- oder Variationscharakter, so wie ihn den und voller Schlitzohrigkeit stecken, aber eine rechtschaffene Symphonie an dieser dennoch kunst- und spannungsvoll gebaut Stelle haben muß. Alles ist schlicht instru­ sind und Grundwahrheiten des Menschen­ mentiert, aber überzeugend vorgetragen, die daseins in sich bergen.

W a s Hebel roar...

W a s Hebel roar, roer hann es roahrhaft fchilöern? W er malt Öen Mann in alemannifchem Korn? Wer hann roie er öes Lebens Härten milöern? W er fchöpft roie er fo tief am Lebens Born? In roeften Herz goß in fo reinen Bilöern Je öle Natur öas Gute aus öem Horn? Er hörte Winöe, Wälöer, Wellen raufchen Unö roußte öas Geheimnis abzulaufchen.

Treu ift er, roahr unö rein in jeöem Zuge, Unö nie betört er öurch öer Worte Glanz, Von frommem Wefen, frei non Lug unö Truge, Erfüllt er jeöe gleiche Seele ganz - So ham öem Genius im ftülen Fluge Faft unbegehrt öer fchönfte Dichterhranz - Er hat öie Kraft öes Stillen unö öes Leifen Noch Enhel roeröen feine Lieöer preifen! Hermann Burte als Abiturient öer Oberrealfchule Freiburg

203 Gustav Friedrich Nicolaus Sonntag1* Amtsnachfolger Johann Peter Hebels Von Engelbert Strobel, Karlsruhe Gustav Friedrich Nicolaus Sonntag ent­ Teil im Freiburger Wochenblatt erschien. stammte einer altansässigen Familie des Verschiedene in alemannischer Mundart ver­ Markgräflerlandes. Der Großvater väter­ faßte Gedichte kamen als Einzeldrucke her­ licherseits bekleidete das Amt eines mark­ aus; einige von diesen befinden sich noch in gräflichen Burgvogts (Rechnungsbeamten) in der Universitätsbibliothek Basel. Als im Lörrach. Der Vater, Wilhelm Engelhard Jahre 1825 die Stadtpfarrei Müllheim frei Sonntag, geboren 1762 in Kandern, war wurde, betraute man Sonntag mit der Stelle. nach dem Studium der evangelischen Theo­ logie 1784—1790 Vikar und Präzeptor in Im neuen Amt war allerdings seine Tätig­ Kandern und anschließend von 1791 bis zu keit nicht von langer Dauer. Nach dem Tode seinem frühen Tode 1799 Pfarrer in Bötzin- des Prälaten Johann Peter Hebel wurde gen. Während der Kanderner Tätigkeit seines Sonntag am 1. November 1826 dessen Nach­ Vaters wurde Gustav Sonntag dort am folger als Kirchen- und Ministerialrat bei 19. Mai 1788 geboren. der evangelischen Kirchensektion des Mini­ Nach dem vorzeitigen Ableben des Vaters steriums des Innern in Karlsruhe. Eine wei­ nahmen sich Verwandte in Buggingen des tere verantwortungsvolle Aufgabe übertrug Knaben an. Anfänglicher Privatunterricht man Sonntag am 16. April 1828, als er an bereitete ihn auf den Besuch der Lateinschule Stelle des verstorbenen Prälaten Bähr Mit­ in Müllheim vor. 1803—1806 nahm er an glied des Oberzensurkollegiums wurde, das einem Kurs der Exemten am Gymnasium damals unter der Leitung des Staatsrats von Karlsruhe bis zur Reifeprüfung teil. Im An­ Gulat amtierte. Damit nicht genug, war schluß daran bezog Sonntag als Student der Sonntag außerdem 1836—1838 Mitglied der evangelischen Theologie die Universität Hei­ Kultusbehörde des Oberstudienrats. Von delberg, wobei er sich nebenbei auch den kirchlicher Seite erwählte man ihn 1830 bis klassischen und orientalischen Sprachen zu­ 1834 zum Vorstand der Badischen Landes­ wandte. Die gelungene Lösung einer theo­ bibelgesellschaft. Im Jahre 1843 erhielt der logischen Aufgabe trug ihm im Herbst 1808 Vielbeschäftigte den Rang eines Oberkirchen- einen Preis der Hochschule ein. Nach bestan­ rates. denem Examen wurde der junge Sonntag am Sonntag, der 1834 und 1843 Mitglied der 22. Februar 1809 unter die Kandidaten des Generalsynoden war, beschäftigte sich von evangelischen Pfarramtes aufgenommen und nun an überwiegend mit rein theologischen ihm zugleich die Lehrbefähigung erteilt. Studien. So wurde ihm die Schlußredaktion Seine erste Dienststelle erhielt er noch im eines neuen Gesangbuches, die Neubearbei­ gleichen Jahre als Vikar in Buggingen. Da tung von Hebels Biblischen Geschichten und seine pädagogischen Fähigkeiten offensicht­ die Neufassung des als Predigtunterlage lich waren, wurde Sonntag bereits im Jahre dienenden Perikopenbüchleins übertragen, 1812 zum Diakonus und Vorstand der nach deren geglückter Fertigstellung ihm die Lateinschule in Müllheim befördert. Vor­ Universität Heidelberg die theologische wiegend in der Müllheimer Zeit entstanden Doktorwürde ehrenhalber verlieh. Für eine mehrere Gedichte, von denen der größte 1834 in Karlsruhe herausgekommene Ge­ ') Sein Bildnis S. 40 samtausgabe der Werke Hebels verfaßte 204 Sonntag den einleitenden biographischen Beide Schwestern schenkten ihm je eine Toch­ Artikel, ebenso beteiligte er sich an einem ter. Hebelschen Erinnerungsbuch des Karlsruher Auf sein Ansuchen wurde Oberkirchenrat Liederkranzes, dessen Reinertrag für ein Sonntag, der mitunter auch in der Karls­ Grabmal des Dichters in Schwetzingen be­ ruher Hofkirche predigte, am 31. August 1853 stimmt war. Kurz nach seiner Übersiedlung in den wohlverdienten Ruhestand versetzt. nach Karlsruhe, wo der Alemanne Sonntag Wenige Jahre später schloß er am 18. Januar sich nicht sonderlich heimisch fühlte, starb 1858 — seinem Namen getreu an einem seine aus Müllheim stammende erste Frau Sonntag — in der badischen Residenzstadt Maria Barbara geb. Kallmann. 1829 ver­ die Augen für immer, während ihm seine mählte er sich in zweiter Ehe mit der jün­ zweite Gattin nicht lange danach am 28.März geren Schwester der Verstorbenen, Elisabeth. 1861 im Tode nachfolgte.

Hebels Äbfchieö oon Lörrach

Er ift oon Herzen reölich, recht unö rein, Ein Geiftlicher unö Lehrer ooller Liebe Zu Gott unö Menfch unö Tier. Ererbte Triebe Gefunöer Eltern blieben alle fein.

Er (itzt am Tifch unö fchafft am Nieöerfchriebe Der Äbfchieöspreöigt: Freuöe, Angft unö Pein Sinö roach in feiner Seele, Ja unö Nein - Ach, roenn ich öoeh in meiner Heimat bliebe!

Warum, fo fchreibt er, finö fo Diele Leiöen Dem Lauf öee Menfchenlebens beigemifcht? Schroanht nicht öer Befte ftänöig zroifchen Beiöen,

Dem Leiö, öer Luft? - Der Mutter öenht er, roifcht Ein Tränlein ab. Genug! Es gilt zu fcheiöen! Der Marhgraf foröert mich. Das Licht erlifcht.

Hermann Burte

205 Dr. Carl Christian Cmelin, Croßh. Bad.Ceheimrat 1762

Dr. Carl Christian Gmelin

Hebels,/Chrüterma vo ßadewiler"

Von E n g e lb e r t S t ro b e I, Karlsruhe Wenn die botanische und geologische Er­ samen Gelehrten dar, die sich mit Leib und forschung Badens zu Beginn des vorigen Seele dem einmal gesetzten wissenschaft­ Jahrhunderts beachtliche Fortschritte machte, lichen Ziele verschworen haben. Erhoben sich so war es vorwiegend das Verdienst des allerdings bei verschiedenen Gelegenheiten Direktors des landesfürstlichen Naturalien­ größere Schwierigkeiten, konnte er — zum kabinetts und Leiters des Botanischen Gar­ Mißlieben seiner Vorgesetzten Dienststelle — tens Karl Christian Gmelin; als Professor eine leichte Neigung zum Querulieren nicht der Naturgeschichte am Karlsruher Gym­ ganz verbergen. nasium zugleich Kollege seines Freundes Als fünftes von zehn Kindern kam Karl Johann Peter Hebel. Von umfassendem Wis­ Christian Gmelin am 17. März 1762 in sen auf naturwissenschaftlichem und medi­ Badenweiler als Sohn des evangelischen zinischem Gebiete, stellte Gmelin in der Pfarrers Isaak Gmelin und dessen zweiter Hauptsache einen der stillen und arbeits­ Gemahlin Regine Salome, geb. Müller, zur

206 Welt. Einer seiner älteren Brüder war der gen das Naturalienkabinett und weitere bekannte Kupferstecher Wilhelm Friedrich wertvolle Teile der markgräflichen Samm­ Gmelin. lungen nach Ansbach in Sicherheit zu brin­ Väterlicher Unterricht und der Besuch der gen. Er benutzte diese günstige Gelegenheit, Lateinschule im benachbarten Müllheim er­ um bis zum Sommer 1797 im nahegelegenen möglichten es ihm, 1778 zu naturwissen­ Erlangen an der dortigen Universität seine schaftlichem und medizinischem Studium sich botanischen Studien fortzusetzen. Während auf der Straßburger Hochschule immatriku­ seiner Abwesenheit von Karlsruhe über­ lieren zu lassen. Über die vorgeschriebenen nahm sein Freund Hebel, der Gmelin auch Pflichtvorlesungen hinaus besuchte er an­ öfters auf Exkursionen zu begleiten pflegte schließend bis zum Jahre 1784 die Universi­ und ihm in seinen alemannischen Gedichten tät Erlangen, an der er auch im Frühjahr als „Chrüterma vo Badewiler“ ein Denkmal dieses Jahres mit seiner Arbeit über die setzte, für ihn den naturgeschichtlichen Farnkräuter den Doktorgrad erwarb. Unterricht am Gymnasium. Noch im gleichen Jahre erhielt er in Karls­ 1803 ernannte man Gmelin zum Mitglied ruhe die Lizenz als praktischer Arzt und der neu errichteten Sanitätskommission. kurz danach eine Anstellung als Lehrer für Das Jahr 1814 sah ihn außerdem als tätigen Naturgeschichte am dortigen Gymnasium, Mitarbeiter der Bergwerkskommission, die ein Amt, das er ein Halbjahrhundert bis zum sich später vor allem um die Erschließung Jahre 1834 bekleidete. Im Jahre 1786 über­ der staatlichen Salinen in Dürrheim und trug man Gmelin zusätzlich den Posten eines Rappenau große Verdienste erwarb. Direktors des Naturalienkabinetts und die Aufsicht über den Botanischen Garten. Beide Literarisch trat Gmelin — als Frucht all­ Stellungen behielt er bis zu seinem Lebens­ jährlicher Landesexkursionen — mit einer ende bei. eingehenden Darstellung der badischen und Als 1789 der „Kammerauditor“ Volz von elsässischen Flora hervor, deren erste drei der badischen Regierung nach Spanien ge­ Bände 1805—1808 erschienen, während der schickt wurde, um dort Merinoschafe an­ vierte nach Überwindung mancher Schwierig­ zukaufen, erhielt Gmelin die Erlaubnis, sich keiten erst 1826 herauskam, und der fünfte diesem zur Durchführung botanischer Stu­ sieben Jahre später nur eine teilweise Druck­ dien anzuschließen. Schon hatte ihn im Mai legung erlebte. In seiner 1809 herausgebrach­ des gleichen Jahres Markgraf Karl Friedrich ten Schrift: „Über den Einfluß der Natur­ — auf Bitten Gmelins von Spanien aus — wissenschaften auf das Staatswohl“ setzte zu einer dreijährigen Weltreise mit spani­ sich Gmelin vor allem für den Gedanken schen Naturwissenschaftlern beurlaubt, als ein, an mehreren Stellen des Landes nach der Ausbruch der Französischen Revolution Steinsalz zu bohren. Neben verschiedenen den Forscher zwang, unter Mitnahme von lateinischen Katalogverzeichnissen der bota­ mehreren Tausend in Südwestdeutschland nischen Gärten und einer zwischen den bisher kaum bekannter Pflanzen- und Jahren 1809 und 1818 in Mannheim er­ Samenarten, in die Heimat zurückzukehren. schienenen mehrbändigen naturkundlichen Gmelin, der sich wenige Jahre später, am Abhandlung über die Wirbeltiere veröffent­ 23. Februar 1794, mit der Pfarrerstochter lichte er im Hungerjahr 1817 eine Unter­ Christiane Elisabeth Herbst verheiratet hatte, suchung, inwieweit wildwachsende Pflanzen erhielt im gleichen Jahre den Auftrag, wegen der menschlichen Nahrung nutzbar gemacht der bedrohlichen kriegerischen Verwicklun­ werden könnten. Eine kleinere, 1825 heraus-

207 > V. K‘'< • " '

gegebene Abhandlung befaßte sich mit den es dem verdienstvollen Naturforscher nicht Milchblätterschwämmen in Baden. fehlen, wurde er doch 1797 zum Hofrat, 1808 zum Geheimen Hofrat und 1830 In Fachkreisen erfreute sich Gmelin eines — nach dem Regierungsantritt Großherzog guten Rufes. Als Goethe am 4. Oktober 1815 Leopolds — zum Geheimen Rat 2. Klasse zum dritten Male in Karlsruhe weilte, ver­ befördert. säumte er nicht, Karl Christian Gmelin auf­ Nachdem ihm bereits seine Frau und seine zusuchen und dem Naturalienkabinett sowie einzige Tochter im Tode vorausgegangen dem Botanischen Garten einen Besuch ab­ waren, starb Karl Christian Gmelin am zustatten. Auch an äußeren Ehrungen sollte 26. Juni 1837 an Altersschwäche.

Aus Hebels letzten Tagen, erzählt von H. Vortisch

Da war ein Brief seiner Freundin Gustave Fecht, den er noch in Mannheim erhalten hatte; sie hatte von seinem häufigen Unwohlsein in letzter Zeit gehört und schrieb ihm u. a.: „ . . . kommen Sie doch auf einige Wochen zu uns; Sie wissen doch, wie willkommen Sie sind und wie wir Sie mütterlich und schwesterlich pflegen werden. Seit 14 Jahren waren Sie nicht mehr hier. So wie ich Sie kenne, können Sie sich ja doch nur im Oberland recht erholen. Oder geht Ihr Heimweh schon mehr nach dem ändern „Oberland“, nach der ewigen Heimat? Einmal wird ja auch Ihnen wie uns allen Ihr liebes Verslein gelten: Wo mag der Weg zum Chilchhof sy? Was frogsch no lang? Gang wo de witt! Zuem stille Grab im chuele Grund Füehrt jede Weg, un ’s fehlt sie nit Doch wandle du in Gottesfurcht, I root dr, was i roote dia. Seil Plätzli het e gheimi Tür Un ’s sinn no Sachen ehne dra.“ Aus H. Vortisch, vom Peterli zum Prälaten Gasthaus z. Hirschen in Lörrach

Erinnerungen an den „Hirschen" in Lörrach und seine Geschichte

Von Hermann Pflüger, Fieiburg Als ich hörte, daß das Gasthaus zum Hir­ dem Schwanen in Weil gebürtig, im Wochen­ schen in Lörrach, das Geburtshaus meines bett gestorben war), den „Hirschen“ in Vaters und Großvaters, einem Neubau Lörrach am 23. 4. 1823 kaufte, war das da­ weichen und eine andere Verwendung finden malige zweistöckige Eckhaus schon durch sollte, wurden viele Erinnerungen wach: verschiedene Hände gegangen. Lörrach war Häuser haben ihre Geschichte; aber nicht damals noch ein kleines Städtchen, zählte um nur die Vergangenheit der Familie Pflüger 1750 nur etwa 1000 Einwohner, hatte aber ist mit diesem alten Gasthaus verknüpft, wegen des starken Durchgangsverkehrs von sondern auch die Geschichte der Stadt Basel ins Wiesental bereits 11 Wirtschaften; Lörrach, insbesondere durch die denk­ 100 Jahre zuvor gab es nur eine Wirtschaft würdigen Ereignisse des Revolutionsjahres in Lörrach, „die Stube“, als deren „Würth“ 1848/49. 1645 Hans Brödlin bezeugt ist. Um 1730 Als mein Urgroßvater Markus Pflüger, wird Sebastian Hagist als erster „Hirzen­ der einzige Sohn aus erster Ehe des Schopf- wirt“ genannt. Die Hagist gehörten zu den heimer Pflugwirtes und Bleicheninhabers größten und ältesten Geschlechtern des Ortes. Bartlin Pflüger (geb. 5.6.1765), (dessen Ehe­ Sein Nachfolger war Adam Hagist, Sohn frau Euphrosine geb. Raup (Rubin), aus des Jerg Hagist und auch sein Sohn Seba-

14 Badische Heimat 1960 209 Bürgerstöchtern auf einem „Freiheitsball“ in der Hirschenstube. Am 1. Dezember 1813 zogen bei der Ver­ folgung Napoleons die verbündeten öster­ reichischen und russischen Truppen in Lörrach ein, wo sich vorübergehend das Hauptquar­ tier der Armee des Fürsten Schwarzenberg befand. Alle Gasthäuser waren mit Soldaten belegt. Im „Hirschen“ trafen sich die Herr­ scher von Rußland, Österreich und Preußen, die Kaiser Alexander I., Franz I. und König Friedrich Wilhelm III. In einem Zimmer des Gasthauses lagen 14 Generäle auf Stroh, andere Räume waren mit kranken Soldaten gefüllt. Eduard Kaiser, der bekannte Lörracher Arzt, erwähnt in seine Erinnerungen „Aus alten Tagen“ den großen Eindruck, den die Melodien aus dem 1821 entstandenen „Frei­ schütz“ auf die Lörracher Bevölkerung machten: Marcus Pflüger 1798— 1846, Postlialter und Hirschwirt in Lörrach „Etwa im Jahre 1826 kam eine wan­ dernde Bande von böhmischen Musikanten stian ist noch 1756 Hirschenwirt. 1770 er­ hierher und gab im „Hirschen“, dem später scheint wieder ein Adam Hagist, nachdem so weitberühmten ersten Gasthof, in der 1763 der Schreiner Johann Knoderer die geräumigen Bauernstube zu ebener Erde ihre Schildgerechtigkeit zum „Hirsch“ erworben Stücke zum besten. Wir Knaben, von den hatte. Dann zog 1792 der Sohn des Adler­ Klängen der braven Musik angezogen, stan­ wirts Samuel Vest als Wirt auf, bis dann den um die Fenster und auf dem Hausflur, 1800 bis 1819 Fritz Senn aus Kandern, der als auf einmal der „Jägerchor“ ertönte. Es Onkel meiner Urgroßmutter, als Besitzer ist unglaublich, welch eine Wirkung dieser den Hirschen übernahm. Vorübergehend war Chor sofort im Ort anrichtete. Es war, als von Juni 1819 ab Joh. Jak. Sorg von ob eine Feuersbrunst ausgebrochen wäre und Obereggenen auf dem Hirschen. alles löschen und helfen wollte. Was Leben Im 18. Jahrhundert waren der „Schwa­ und Odem hatte, die halbe Gemeinde, sang nen“ und die „Sonne“ in Lörrach die bevor­ wie verrückt mit und ein ewiges „da capo“ zugten Gasthäuser, dort brachte man 1738 tyrannisierte die Böhmen, die das Unglück die Ehrengäste anläßlich der Huldigungen hatten, uns mit dem „Freischütz“ bekannt zu für den neuen Regenten der Markgrafschaft machen.“ unter. Als mit den Truppen Moreaus die Der Urgroßvater Markus Pflüger kaufte freiheitlichen Ideen der französischen Revo­ also 1823 den „Hirschen“ samt der dazu­ lution 1796 über den Rhein in das Wiesen­ gehörigen „Mezig“ zum Preis von 12 000 tal drangen, wurde auch in Lörrach ein Gulden nebst 1 000 Gulden Trinkgeld. Mit Freiheitsbaum gepflanzt, und die Jacobiner dem damals 25jährigen Wirt, dessen Vater aus Hüningen tanzten mit den Lörracher das Geld vorgestreckt hatte, zog seine junge,

210 21jährige Ehefrau, das „Lieseli“, geb. 3. Febr. 1802, Tochter des Ochsenwirts Johann Senn aus Kandern, als guter Geist in das Haus. Sie verstand es, die Gäste durch freundliches Wesen zu fesseln. Das Bild der Urgroßmutter spiegelt sich in den „Erinnerungen eines badischen Beam­ ten“, hinter denen sich der damalige Rechts­ praktikant beim Bezirksamt Lörrach, Joseph Freiherr von Reichlin-Meldegg verbirgt, aus dem Jahre 1829 wider, die er 1872 ver­ öffentlichte. Er kam damals in einer Lohn­ kutsche nach fast zwölfstündiger Fahrt von Freiburg in Lörrach bei Dunkelheit an, wo er „wegen des schlechten Pflasters und der herrschenden Dunkelheit“ nur im Schritt fahren konnte. „An einer Straßenecke hal­ tend, eröffnete uns der Kutscher, daß wir aussteigen möchten, wir seien vor der Post oder dem Gasthaus „zum Hirschen“. Wenn der geneigte Leser jemals nach einer langen Fahrt auf holprigen Wegen, bei Elisabeth Pfliiqer geb. Senn 1802 schneidender Kälte und in dunkler Nacht endlich das Ziel seiner Reise erreicht hat, so sie noch immer das Aussehen eines jungen wird er mit uns das Vergüngen kennengelernt Mädchens, und die kleidsame Markgräfler­ haben, das wir empfanden, als uns die tracht stand ihr allerliebst.“ freundliche Wirtin entgegentrat und die Bereits nach 5 Jahren konnte man daran Thüren öffnete, durch die wir in das wohl­ denken, das Haus durch Umbau zu erwei­ durchwärmte und beleuchtete „Honora- tern. Es war damals eine glückliche Bau­ tioren-Zimmer“ einzutreten eingeladen periode, als der Weinbrenner-Stil vielen w urden.“ Städten in Baden das für jene Zeit so „Obschon Lörrach 1829 bereits ein be­ charakteristische Gepräge vornehmer Behag­ kannter Fabrikort war, der einige hundert lichkeit gab. Arnold Pfister hat den Fein­ Arbeiter beschäftigte, so waren Reisende heiten der Weinbrennerfassaden in Lörrach dort noch eine Seltenheit, und das für eine liebevolle Studie gewidmet (Verlag Fremde und als Speisesaal dienende Lokal Rob. Reinhard, Lörrach 1938) und auf den würde sich wohl nicht in dem behaglichen „Hirschen“ besonders aufmerksam gemacht. Zustand befunden haben, wenn nicht die Den Namen des Baumeisters kennen wir Honoratioren der Stadt dasselbe zu ihren leider nicht, aber wenn wir hören, daß in abendlichen gesellschaftlichen Zusammen­ der Stadt Schopfheim, der Heimat des Bau­ künften erwählt hätten. Bei dieser Wahl herrn, fast gleichzeitig mit dem „Hirschen“ mochte wohl die liebliche und stets freund­ eine Reihe von Bauten von dem Architekten liche Wirtin, ,s Liesele', wie man sie Fenzig, einem Weinbrennerschüler, ent­ nannte, den Ausschlag gegeben haben; ob­ worfen wurden, so geht man wohl nicht schon seit einigen Jahren verehelicht, hatte fehl, in ihm den Baukünstler zu vermuten.

211 war. Die Vorfahren waren ein schon früh in der Gegend bezeugtes und begütertes Ge­ schlecht, das der Stadt Schopfheim im 17. und 18. Jahrhundert viermal das verant­ wortungsvolle Amt des Statthalters stellte. Durch 200 Jahre blieben die Pflüger Besitzer der weithin bekannten Gaststätte zum „Pflug“ in Schopfheim. Der Urgroßvater Markus Pflüger starb schon im Alter von 48 Jahren an Pfingsten 1846, und sein einziger Sohn Markus, geb. 5. Mai 1824, sollte noch einige Lehrjahre „in der Fremde“ verbringen, bevor er den väterlichen Betrieb übernahm. Seine einzige Schwester Elisabeth, geb 18. Sept. 1827, war in erster Ehe mit Christian Vortisch, in 2. Ehe mit Friedrich Vortisch in Lörrach verheiratet. Das „Mütterle“ regierte also alleine im „Hirzen“ und hoffte, an ihrem Sohn bald eine Stütze zu haben. Zuerst Elisabeth Pflüger 1827—1871 Aqu. Grether wurde der Sohn zur Lehre in den berühmten Gasthof „zum Schwan“ nach Frankfurt a.M. Vor dem breitgelagerten stattlichen Haus geschickt, wo er als „Stift“ das Mißgeschick wurde nach dem Muster der Basler Stadt­ hatte, einer hübschen Dame einen Teller mit brunnen der „Hirschenbrunnen“ aus weißem Nudelsuppe beim Servieren über die Perücke Jurakalkstein errichtet. Die große Wirts­ zu schütten. Dann ging es nach und stube im Erdgeschoß mit der hölzernen Säule Frankreick zur Ausbildung in den Sprachen. in der Mitte, dem Ofentisch, der Chunscht Auf dem Pädagogium in Lörrach, wo früher und dem Schanktisch blieb mit der eigentüm­ Johann Peter Hebel als Präzeptoratsvikar lichen Fenstereinteilung wohl in ihrem gelehrt hatte, war er in humanistischen barodcen Kern aus der Zeit vor dem Umbau Fächern unterrichtet worden. erhalten — es ist die heutige Markus- Als er mit 24 Jahren aus dem Ausland Pflügerstube. Es kam der Speisesaal und der zurückkam, wurde er von der freiheitlichen sog. kleine Saal hinzu, durch Aufstocken Bewegung der „Achtundvierziger“ mitgeris­ wurden weitere Gastzimmer gewonnen. Als sen, deren Anhänger sich im „Hirschen“ die Posthalterei etwa 1840 dazu kam, wurde sammelten. Er führte am 9. April 1848 in der große Pferdestall im Hof gebaut. Die einer erregten Versammlung in Röttlerweiler badische Postverbindung von Karlsruhe den Vorsitz. Kurz zuvor war unter Führung endete damals in der „Kaltenherberge“, der des Mannheimer Advokaten Friedrich Verkehr mit dem Wiesental wurde durch die Hecker in Konstanz die „Deutsche Repu­ Posthaltereien Lörrach und Schopfheim auf­ blik“ proklamiert worden. Hecker zog von rechterhalten. Der Schopfheimer Posthalter Konstanz mit seinen Freischärlern über war seit 1840 der Stiefbruder Bartlin Pflü­ Bonndorf, Bernau, Schönau, Schopfheim ger (1802—1889), der gleichzeitig „Pflug­ nach Kandern in der Hoffnung, durch diese wirt“ in Schopfheim und Bleicheninhaber „Schilderhebung“ die Republikaner mitzu­

212 reißen. Unterdessen ging eine Abordnung mit Markus Pflüger nach Karlsruhe, um die Regierung „über die neue Lage“ zu verstän­ digen. Heckers Zug endete am 20. April an der Scheidegg bei Kandern, Struves Haufen wurden bei Steinen zersprengt, der Rest der „Deutschen Legion“ bei Dossenbach am 27. April aufgerieben. Struve und Hecker flohen nach der mißglückten „Demonstration“ in die Schweiz, wo es bald von deutschen Flüchtlingen wimmelte. Der militärische Be­ lagerungszustand unterdrückte bald jede freiheitliche Regung. Die Enttäuschung über das Versagen der Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a. M., die seit dem 18. Mai 1848 tagte und über die Erörterung der „Grundrechte“ des deutschen Volkes nicht hinauskam, ließ bald jede Hoffnung auf Einigung der deutschen Länder zu Schanden werden. Noch einmal versuchte es Struve Marhus Pflüger 1824—1907 Aqu. Grether am 21. September 1848 mit einem „Putsch“ von Lörrach aus. Er war mit etwa zehn Ge­ mingen, der zum „Zivilkommissar“ ernannt treuen in Begleitung seiner hübschen und wurde. Von ihm wird noch die Rede sein. mutigen Frau Amalie bei Riehen über die Am übernächsten Tag wurde die bewaff­ Grenze gekommen, besetzte das Rathaus in nete Mannschaft der Freischärler, es mögen Lörrach und proklamierte die „Deutsche 3000 oder mehr gewesen sein, in zwei Ko­ Republik“ mit der Devise: „Wohlstand, lonnen in Richtung auf Freiburg in Marsch Bildung, Freiheit für alle“. Die Lörracher gesetzt. Die Lörracher Bürgerwehr zog unter Bürgerwehr, die den jugendlichen Markus Markus Pflüger über Kandern, Müllheim, Pflüger zum Hauptmann gewählt hatte, Heitersheim nach Staufen. Struve folgte und empfing ihn mit Jubel und stellte sich auf zog mit Neef unterwegs in Müllheim und seine Seite. Die Fahne „schwarz-rot-gold“, Sulzburg aus öffentlichen und privaten die heute noch im Heimatmuseum in Lörrach Kassen Kontributionen ein. Unterdessen zu sehen ist, wurde entrollt. In einem ge­ waren badische Truppen unter General druckten Aufruf aus dem „Hauptquartier Hoffmann, ein Bataillon Infanterie, eine Lörrach“, am ersten Tag der deutschen Re­ Batterie mit 4 Geschützen und eine Schwa­ publik am 21. September 1848, wurden die dron Dragoner von Heitersheim her im Männer zwischen 18 und 40 Jahren zu den Anmarsch. Die Aufständischen verbarrika­ Waffen gerufen, Steuern und Lasten wurden dierten in Staufen die Ausgänge der Stadt, aufgehoben. Die Sturmglocken läuteten. Die Struve und Blind hielten vom Rathaus herab großherzogliche Beamtenschaft wurde ver­ Reden an die Bevölkerung. Mittags 1 Uhr haftet, die öffentlichen Kassen wurden mit begann der Angriff unter General Hoff­ Beschlag belegt. Das war der Sonderauftrag mann mit einem Bataillon Scharfschützen, für den jungen Friedrich Neff aus Rüm- 2 Haubitzen und einer Dragonerschwadron

213 wohl 100 Mann zugleich auf ihn als den „Hauptmann“ geschossen. Die Kugeln seien vorbeigeflogen, aber der brave Postschimmel sei kerzengerade in die Höhe gestiegen und sei dann pfeilschnell mit ihm davongerannt, wodurch er seinen Reiter gerettet habe.“ Der Postschimmel namens „Moreau“ er­ hielt später das Gnadenbrot, und mein Vater durfte als Bub noch auf seinem Rücken sitzen. Wer nicht mehr aus Staufen fliehen konnte, wurde gefangen. Das siegreiche Militär erbeutete 60 Gefangene, 8 Pferde und die Kasse mit 16 700 Gulden. Struve floh mit seiner Frau in einem Dreispänner, tauschte im „Neuhof“ seine Kleidung mit Bauerngewändern, wurde dann aber auf der Flucht in Wehr erkannt und festgenommen. Nach seiner Verurteilung durch das Schwur­ gericht Freiburg — er war zu 5 Jahren und Öl J. F. Grether 2 Monaten Einzelhaft verurteilt worden — Markus Pflüger 1824—1907, kam er in das Zellengefängnis in Rastatt, Posthalter und H irschenwirt zu Lörrach wo er aber bereits am 13. Mai 1849 durch die Aufständischen befreit wurde. von Süden, während General von Gayling Schlimmer ging es dem „Zivilkommissär“ mit einem Bataillon und 2 Sechspfündern Friedrich Neef aus Rümmingen, der vom von der anderen Richtung angriff. Die Standgericht in Freiburg zum Tod verurteilt Büchsenschützen der Freischärler hatten die und erschossen wurde. Ich fand im Nachlaß Häuser und Gärten der Umfassung besetzt meines Großvaters die Abschrift seines Ab­ und eröffneten das Feuer. Die Granatschüsse schiedsbriefes vom 8. August 1849 an seine auf die Barrikaden am Stadteingang an der Mutter, ein Dokument des Zeitgeistes in der Neumagenbrücke hatten keinen Erfolg, die Sprache des Revolutionärs: „nur durch Schrek- Angreifer mußten die Barrikade im Sturm ken und Ströme Bluts kann nach diesen nehmen und drangen über zwei weitere Barrikaden bis zum Rathausmarkt vor. Vorgängen die Republik gegründet werden. Wer aber diesen Weg des Schreckens will, Wilhelm Bios berichtet in seinen „badi­ schen Revolutionsgeschichten“: Die Aufstän­ der darf sein Leben nicht höher achten als dischen verteidigten sich auf das Tapferste ein Pfifferling und das Leben der Feinde zwei Stunden lang; als aber das Militär in nicht höher als Gras. Er muß sich als eine die Stadt eindrang, wurden sie in die Flucht Kraft betrachten, die ohne Herz und Gefühl geworfen und hinterließen 11 Tote. Markus und ohne eigenes Leben nur zum Wohl von Pflüger, der auf einem Postschimmel an der Tausenden Einzelne zermalmt, wie ein Mühl­ Spitze seiner Kompagnie Lörracher Bürger­ stein die Weizenkörner.“ wehr ausgezogen war, erzählte mir, beim Erschütternd sind die Zeilen, die er vor Eindringen des Militärs in die Stadt hätten seiner Hinrichtung an seine Mutter richtete: 214 „Liebe theure Mutter Ich habe Euch hier mit einigen Kleinig­ keiten zu belästigen, das muß alles in Ord­ nung sein, so viel in diesen paar Minuten möglich ist . . . Soviel im allgemeinen über diese irdische Rumpelkammer. Vor 3 Tagen wurde ich von den Inzlingern hinweggenom­ men, einsam in der Kaserne in ein Gefängnis geworfen und von zwei Soldaten inwendig bewacht. Heute morgen um 5 Uhr nahm man mich heraus und brachte mich in das Gebäude des Standgericht, um 9 Uhr stellte man mich vor das Standgericht und um 12 Uhr wurde das Urteil gegen mich aus­ gesprochen wegen Teilnahme an der Mai­ revolution, welches lautete auf Tod durch Erschießen. Von da wurde ich in den Thurm geführt, wo man mir kein Papier gab bis erst spät abends, weshalb ich noch bis spät in die Nacht an diesem Brief schreibe. Sie schickten mir auch einen Geistlichen, welcher Johanna Magdalena Müller 1825—1915 mich bekehren wollte; aber es half alles Öl Joh. Friedr. Grether nichts. Wir tranken dann miteinander noch ein Glas Wein und sprachen und unterhiel­ und Entwürfe für sein Volk die Brust er­ ten uns über den Staat und die Philosophie. füllt. Doch das Opfer ist darum nicht kleiner, Eines noch, theure und heißgeliebte Mutter, eher größer. Aber auch groß und klein ver­ sei fest und standhaft bei dieser Unglücks­ schwinden vor den Augen des freien Geistes. botschaft. Was mich betrifft, so werde ich so Liebe theure Mutter! Es gibt keine Unsterb­ ruhig morgen in den Tod gehen, als ich einst lichkeit. Mein Andenken soll nur in Euerm in unseren Garten ging. Beweiset durch Herzen und in den Herzen weniger treuen Standhaftigkeit, daß Ihr die Mutter eines Freunde ruhen, das ist für mich genug. Auch Republikaners seid. Seid stolz darauf, daß gibt es keinen Gott, der gerecht und all­ Ihr Eueren einzigen Sohn geboren habt, um mächtig ist; wie könnte er sonst eine Welt ihn der Freiheit opfern zu können. Kein voll Unrecht geschehen lassen. Der Mensch Schritt, den ich getan habe in meinem Leben, ist das Größte im Universum, er mag das reuet mich, und wenn ich noch zehn Leben Leben benützen zum Wohle des Volkes, der Menschheit, zu der er ja auch gehört. Thut hätte, ich würde alle zehn der Freiheit daher den Armen Gutes und wirkt nach weihen. Allerdings muß es dem Jüngling, Euern Kräften für die Freiheit. Was meinen der noch nichts von Belang getan hat für Augen noch Thränen entlockt, das ist der das Volk, schwerer zu fallen als dem Mann, Gedanke an Euch, an Eure treue Liebe und dessen Tod ein großes Leben krönt, dem Sorgfalt, mit der Ihr mich gepflegt, mit der Jüngling, dem sich die geheimen Kammern Ihr um meinetwegen so viel des Kummers der Natur und des Geistes allmälig vor getragen habt. Darum nehmt meine letzten seinen Augen zu öffnen beginnen, dem Thränen als Abschiedsgruß zum Dank für Jüngling, dem noch eine Welt voll Pläne Eure Liebe.

215 listendebatten aufflammten und die Rede­ glut zurückschlug in die Zeit der badischen Erhebung von 1848, dann war die zweite Kammer jedesmal Zeuge des gleichen Schau­ spiels, das auf der Bank der Regierung wie auf denen der Abgeordneten ein seltsames Verstummen hervorrief. Es war als ob Tote auferstünden und mahnten. In dieser Stille packte der ehrwürdige Alterspräsident Mar­ kus Pflüger mit dem weißen Knebelbart immer seine Akten zusammen und ver­ schwand still von seinem Platz: Er, der anno 48 ernstlich mit dabei gewesen, konnte nicht ertragen, daß die badische Revolution von den Sozialdemokraten in den Himmel gehoben und von den protestantischen Kon­ servativen und dem Zentrum als Verbrechen gebrandmarkt wurde.“ Wie er aber als junger Mensch darüber dachte und welchen Anstoß jene Zeit für seine spätere politische Tätigkeit und für die ihm vorschwebenden demokratischen Ziele gab, geht aus einem an seine Mutter, die Emil Pflüger, Lörrach 1858-1942 Hirschwirt 1928 Frau Posthalter Pflüger, gerichteten Brief phot. Marga Minder, Oberweiler i. B. hervor, den er ein halbes Jahr nach diesen Das war ein kurzes Leben für die Freiheit. Vorgängen am 18. April 1849 aus dem Exil Doch je mehr der vaterländische Boden mit in Bern schrieb: reinem Blut getränkt wird, desto schöner Liebe Mutter! Ich war eben im Begriff wird die Blume der Freiheit erblühen. Euch zu schreiben, da ich fürchtete, der Es lebe die Freiheit, es lebe die soziale Grund Eures ungewöhnlich langen Still­ Republik. schweigens liege in irgendwelchen unangeneh­ Euer getreuer Sohn Fr. Neff men Vorkommnissen. Ich . . . beklage sehr, Euch und besonders Dir liebe Mutter, nicht PS. Behaltet diesen Brief zum letzten An­ etwas von Deiner Mühe und Sorgen ab­ gedenken, doch eine Abschrift schicket so­ nehmen zu können . . . mein Herz dachte bald als möglich meinem Freunde Dr. Gihr nicht daran, daß es so bald wieder in Lörrach in Dörnach bei Basel. zu vergnügten Tagen kommen werde . . . Gruß an alle guten Republikaner!! Du hast in Deinem letzten lieben Brief recht wahr gesagt, daß man eigenes Unglück Mein Großvater Markus Pflüger sprach mit mehr Resignation und Ergebung tragen nicht gerne über diese Ereignisse und Anton lerne, wenn man beim Umschauen andere Fendrich schrieb bezeichnenderweise in einem befreundete Familien ebenfalls heimgesucht Aufsatz über „die Achtundvierziger“: „Wenn sähe. Ich bin wie Du weit entfernt, einen im badischen Landtag vor und nach der derartigen Trost herbeizuwünschen; aber Jahrhundertwende die sogenannten Sozia­ jeder Mensch meint immer, er sei am schlimm­

216 sten daran . . . bis . . . So gerne ich wohl jetzt schon in Lörrach wäre, ist mir Bern doch sehr lieb geworden. Ich bin hier in deutschen Landen der Heimat wieder um so viel näher gerückt und empfinde jeden Pulsschlag, der unser großes Vaterland durchzuckt, auf das Lebhafteste. Ich habe hier liebe Freunde und Landsleute, bei denen ich mein Herz, wenn es voll ist, ausschütte und bei denen ich sicher bin, Sympathie und Mitgefühl zu finden, was alles in Lausanne, wo sich schon alle Blicke nach Frankreich richten, nicht der Fall war. Dann habe ich alle Nachrichten, die mich interessieren, bei­ nahe so schnell wie Ihr selbst. — Wenn Du nach Lausanne schreiben solltest, so bemerke beiläufig, daß Ihr mein Heimkommen von Tag zu Tag erwartet . . . Wenn mich schon jedesmal die Nachricht freut, daß meine früheren Untergebenen und Kampfgefähr­ ten mein Andenken in Ehren halten und mit Anna Pflüger-Kraft [mit 21 J.~\ 1866-1925 (1887) Liebe an mir hängen, so bin ich doch zu 21. Febr. -10. M ai geb. 25. 2. 66 gest. 23. 11. 1925 sehr durch Erfahrung gewitzigt, als daß ich aber einstweilen unbesorgt sein für mein allzu viel auf meine Popularität oder auf Verhalten hier. Ich werde mir keinen un- die Volksgunst überhaupt hielte „wie ge­ wonnen, so zerronnen“. überlegten Schritt zu Schulden kommen lassen, der Dich in Angst versetzen könnte. Mein Ich werde die Bahn schreiten, die ich mir Wirken ist nicht hier, sondern daheim unter für mein ferneres Leben vorgezeichnet habe den Augen meiner Landsleute. Die Frei- und wegen des Beifall oder Hohn der schärlereien waren gut, ja notwendig zu Menge keinen Zoll davon abweichen. Ich Demonstrationen, wie Struve ganz richtig in werde, so viel in meinen Kräften steht, dazu seiner Verteidigungsrede gesagt hat, um beitragen, unser Volk auf die Stufe von Bil­ dung und Wohlsein zu heben, die ihm, dem Deutschland zu bilden, jetzt aber muß man bravsten und tüchtigsten Volke des Erden­ sie zu dem alten Kram in die Rumpelkammer rundes,von Rechts wegen gebührt. Ich werde werfen, wie ein verrostetes, unbrauchbares alles aufbieten seine Rechte gegen die W erkzeug — alles zu seiner Zeit. . . Großen und Mächtigen zu verteidigen, so­ Seit einigen Tagen bin ich von hiesigen wie aber auch Übergriffen entgegentreten, und durchreisenden Flüchtlingen, denen mein welche dasselbe zu seiner späteren Schande Wohnort bekannt wurde, stark in Anspruch in dem Siegesräusche zu Schulden lassen genommen worden. Die armen Teufel haben kommen könnte. mich zu sehr gedauert und ich konnte nicht Ich bin fest davon überzeugt, daß Du als anders als ihnen mit Geld unter die Arme intelligente Frau, die etwas weiter sieht. .., zu greifen. Die meisten wollen nach Sizilien mich in diesem meinem Vorhaben aufrecht und waren auch schon angeworben, 150,000 halten und unterstützen wirst. Du brauchst Frcs lagen für sie in Genf bereit, aber

217 Frankreich lässt sie nicht durch und hat Unrecht) mit seinem in der Schweiz befind­ sogar ihren Führer Willich auf das Schmäh­ lichen Schwager Müller in dieser Beziehung lichste behandelt. Der „Volksfreund“ kommt sehr tätig und wirksam zu seyn. Glauben jetzt in Lörrach bei Reuss heraus, schickt mir Sic mir, liebste Frau Pfl., ein solches denselben . . . Lasst mich nicht mehr so lange Geschäft bringt nichts ein als Schaden und auf Nachrichten warten . . . Schickt mir Zei­ Reue; die Freiheit und Wohlfahrt Deutsch­ tungen. Herzliche Grüsse an Liesele und lands muß uns auf anderen Wegen kommen, Christian. Dein treuer Sohn wenn sie Segen und Bestand haben soll. . . M. Pflüger (gez. B. Weber) PS. Sind neue Briefe an Becker Karl, Feld­ In der guten Stube der Großeltern, die kirchner und Vogelbach angelangt? über der früheren Kreishypothekenbank wohnten, hing über dem Sofa das be­ Die Frau Posthalter in Lörrach wird wohl kannte Bild des Lörracher Malers Friedrich diesen Brief mit einigen Bedenken wegen Kaiser (1815—1889) vom Einzug der Frei­ der Zukunft des Sohnes gelesen haben. Erst schärler in Lörrach, das der Großvater im Ende des Jahres 1849 konnte dieser aus dem Atelier des damals in Berlin ansässigen Malers Exil nach Hause zurückkehren, um sich dann gekauft hatte. Fritz Kaiser, der Bruder des am 22. Januar 1850 mit Johanna Magdalena Arztes Dr. Eduard Kaiser, der die Erinne­ Müller aus dem „Ziel“ in Grenzach zu ver­ rungen eines Markgräflers „aus alten Tagen“ heiraten. Aber auch dann wurde das „Muet- schrieb, war ursprünglich Steindrucker und terli“ durch wohlmeinende Warnungen we­ Lithograph, kam dann durch Horace Vernet gen politischer Verbindungen des Sohnes in in Paris zur Malerei, studierte in München Schrecken versetzt, so schrieb z. B. ein frü­ und Karlsruhe, wo eine Reihe von Aqua­ herer Gast des Hirschen am 12. November rellen und Lithographien aus der Zeit der 1850 aus Freiburg: badischen Revolution von 1848 entstanden. Eine Reihe dieser Werke findet sich noch Verehrte theure Frau und Freundin im Städt. Archiv und in der Gemälde­ Ich hoffte die Freude zu haben, Sie noch galerie in Karlsruhe. Der nachmalige Kaiser in dieser Woche in Lörrach zu besuchen . . . Wilhelm I., damals noch Prinz von Preußen, ich freute mich darauf wie ein Chindli uf „entdeckte“ den Wiesentäler Maler der ba­ de Wienacht.. . aber ich muss morgen in dischen Revolutionszeit in Karlsruhe und aller früh von hier abreisen und wahr­ veranlaßte ihn, nach Berlin zu ziehen, wo scheinlich sehr bald Ihr schönes Land ver­ er ihn mit Aufträgen von Schlachtenbildern lassen. Daß ich Sie, meine treffliche, herzige im Krieg gegen Dänemark 1864 und im Frau Pflüger habe näher kennen lernen und Gefolge des Generalstabes im Krieg 1866 lieb gewonnen habe, betrachte ich für einen an den Kampfhandlungen teilnehmen ließ. Gewinn meines hiesigen Aufenthaltes und Das wohl jedem Wiesentäler bekannte werde Ihrer stets mit freundlicher Gesinnung Gemälde, das sich jetzt im Besitz von Herrn und Anhänglichkeit gedenken. Bewahren Sie Rechtsanwalt Friedrich Vortisch in Lörrach mir ein liebevolles Andenken. Ihren An­ befindet, schildert aber nicht die für Lörrachs gehörigen meine besten Grüsse und Wünsche Geschichte naheliegende Episode des Aus­ für Ihr Wohlergehen. Bewahren Sie Ihren zugs der Freischärler aus Lörrach nach dem Sohn vor allen geheimen und offenen poli­ Struveputsch am 21. September 1848, wobei tischen Verbindungen, er ist wieder im Ver­ Struve vom Fenster des Rathauses in Lörrach dacht (ich will hoffen und wünschen mit die „Deutsche Republik“ ausrief. Vielmehr

218 Durchzug der Freischärler 1848 durch Lörrach Ölgemälde Fr. Kaiser ist der Durchzug der Freischärler durch Zeit. Es zeigt den von der Rheinfelder Straße Lörrach am 18. April 1848 dargestellt, als herab durch die Wallbrunnstraße marschie­ eine Gruppe des von im renden Zug, dessen Spitze den Lörracher Seekreis um Konstanz in Marsch gesetzten Marktplatz zwischen den Gasthäusern „Wil­ Kolonnen, es waren etwa 1000 Mann unter der Mann“ und der „Sonne“ eben erreicht. dem Befehl des „Obersten“ Weishaar, dem Den Hintergrund bildet der Schädelberg als Adlerwirt aus Lotstetten, über Lörrach in Abschluß. Vorab sprengt ein Reiter, es der Richtung nach Todtnau marschieren folgen drei Reihen schmucker Schützen, hinter sollten. Es kam dann am 19. April 1848 zu denen drei diskutierende Männer schreiten, dem Treffen Heckers mit dem hessischen von denen der mittlere mit hohem Filzhut General von Gagern an der Scheidegg bei und kleiner Statur ein Manifest in Händen Kandern, wobei von Gagern durch die Kugel hält. Sollte es Struve sein? Seitwärts gehen eines Konstanzer Schützen fiel, was dann nun zwei stolze Häuptlinge mit Pistolen, die Auflösung der Freischaren zur Folge Schleppsäbeln und Reitstiefeln, vielleicht die hatte. Die Abteilung Weishaar gelangte nur Anführer der Lörracher Bürgerwehr, der bis Steinen, wo sie von General Hinkeldey, jugendliche Markus Pflüger und der mar­ dem Nachfolger von Gagerns, zersprengt tialische Meisinger. Hinter diesen Beiden wurde. geht im Zug ein „Zivilkommissar" mit brei­ Der Maler Kaiser war offenbar Augen­ tem Filzhut, Schärpe und Mappe unter dem zeuge des Einzugs der Freischaren und gibt Arm, ein jüdisch aussehender Mann steht in dem auch in künstlerischer Hinsicht be­ ihm zur Seite. Nun folgt ein Reiter auf merkenswerten und vorzüglich komponierten tänzelndem Schimmel mit hohem Hut — Bild ein lebendiges Sittenbild der damaligen aber wer könnte die zwergenhafte Gestalt 219 neben dem Pferd sein? Sicher eine bekannte aus dem „Wilden Mann“, wo sein Vater Lörracher Figur der damaligen Zeit. Eine (wohl rechts vom Eingang) und seine Mutter Musikkapelle von sechs Mann, der Tromm­ am Fenster sichtbar werden.. Am letzten ler, der Klarinettist und ein Hornist im Fenster erscheint noch ein Frauenkopf mit Vordergrund, der Dirigent schwingt den Baby. Auch der Apotheker Eisenlohr und Säbel, leitet zu den beiden eindrucksvollen der Gastwirt „zur Sonne“, der spätere Ab­ Reitergestalten über, welche den Mittelpunkt geordnete Vogelbach-Däublin, sind zu er­ des Bildes durch imponierende Haltung mar­ kennen. Am linken Bildrand, nur zur Hälfte kieren und gleichzeitig die Verbindung zu sichtbar ist der Landwirt Rupp mit hellem den am Marktbrunnen gaffenden Bürgern Zylinderhut, vor ihm der „lange Calame“, vermitteln. Der säbelschwingende Reiter, der späterer Bürgermeister. Vermutlich könnte sein Pferd auf der Hinterhand gedreht hat ein Zeitgenosse noch viele bekannte Gestal­ und sich nun an die Zuschauer wendet, ist ten herausfinden. der bärtige „Oberst Weishaar“"'). Hinter Besonders vielfältig zeigt sich die Mode den Reitern tauchen nun die in Achterreihen der Kleinstadt Lörrach in den Männer- und marschierende Freischaren auf, die bajonett­ Frauentrachten. Eine besonders hübsche bewehrten Flinten auf der Schulter, den Markgräflerin in hellem Kleid und dunkler gerollten Mantel umgelegt, mit Sträußen Schürze zeigt sich vor dem Brunnen, ältere an den Filzhüten. Drei Fahnen werden mit­ Frauen trugen dunkle Markgräflertracht mit geführt, vorn eine wallende weiße Fahne kürzeren Schleifen, die städtisch gekleideten vor einem seitwärts stehenden Wagen, auf Frauen haben helle Hauben und weite Fal­ dem ein Mann mit Hellebarde lehnt. In tenröcke. Die Männer tragen Gehröcke mit der Höhe des Rathauses, das sich mit heller Zylinder oder Jacobiner-Mützen, ältere Män­ Front und barockem Glockentürmchen von ner haben noch Kniehosen. Zwei junge der dunklen Straßenfront abhebt, sieht man Knechte in Hotzenwälder Tracht leuchten eine Revolutionsfahne mit Schwarzrotgold. mit roten Westen in der Mitte des Vorder­ Das Ende des Zuges ist in der Gegend der grundes. Die zahlreichen Kinder spiegeln die „Ufhabi“ sichtbar. Offenbar sind die Ge­ Mode der Erwachsenen. Alle erkennbaren bäude genau nach dem Stand der damaligen Gesichter scheinen Porträts der damaligen Zeit abgebildet. Aber auch viele Bürger und Zeitgenossen in Lörrach zu sein. Zuschauer sind porträtähnlich. Der Maler Der Großvater Markus Pflüger, der im Kaiser hat sich vermutlich in der Figur des Exil Zeit hatte, über die Pflichten und Auf­ eleganten Mannes mit schwarzem Zylinder, gaben des Bürgers im Staat nachzudenken, weißer Weste, langen Beinkleidern und einer machte seine guten Vorsätze wahr und ver­ Reitgerte in der Hand rechts vom „Oberst wirklichte sie im freiwilligen Dienst für seine Weishaar“ selbst dargestellt — hinter dem Vaterstadt und für sein Land als Politiker. weißen Pudel ist die Jungfer Judith Vor­ 29 Jahre lang war er in dem Gemeinde­ tisch in weinrotem Kleid und mit der „Vre- rat Lörrach, 40 Jahre im Kreisausschuß nelichappe“ abgebildet — sie ist mir als Lörrach, er setzte sich für den Ausbau des „Tante Judith“ in dem behaglich vornehmen Straßennetzes, für die Errichtung einer Kreis­ Haus an der Basler Straße noch bestens in pflegeanstalt ein, 1859 gründete er die frei­ Erinnerung. In der linken Bildecke ist der willige Feuerwehr und war ihr erster Kom­ Bürgermeister Carl Georg Wenner mit seiner mandant. Er war die treibende Kraft für anmutigen Frau Anna Magdalena geb. Stahl den Bau der Wiesentalbahn von Basel nach mit ihren Kindern dargestellt — er stammte Schopfheim, die am 5. Juni 1862 dem Ver­ 220 Hirschenbrunnen mit Hans z. d. Drei Königen kehr übergeben werden konnte — die Regie­ Roggenbach aus Fahrnau, dem badischen rung hatte sich geweigert, mit öffentlichen Liberalismus an, der sich zunächst im Mitteln die Bahn zu bauen — nun mußten „Deutschen Nationalverein“, dann im linken private Mittel für den Bau flüssig gemacht Flügel der nationalliberalen Partei zusam­ werden. Er leitete das Unternehmen bis zur menfand, bis es 1879/80 zur sog. Secession Verstaatlichung der Wiesentalbahn im Jahre kam, bei der seine Parteifreunde wie Eduard 1888. Die Kreditnöte der Landwirte und Lasker, Rickert, von Forkenbeck, von Gewerbetreibenden veranlaßten ihn zur Stauffenberg, Bamberger, Braun-Wiesbaden Gründung der Kreishypothekenbank Lörrach u. a. die nationalliberale Fraktion verließen, (1868), die in einem Anbau des „Hirschen“ um sich dann 1884 mit der Deutschen Fort­ Unterkunft fand. Auch an der Gründung schrittspartei zur „Deutschen freisinnigen der Rheinischen Hypothekenbank in Mann­ Partei“ zu vereinigen. Er sah nach der von heim (1871) und der Pfälzer Hypotheken­ ihm freudigen Herzens begrüßten Errich­ bank in Ludwigshafen, denen er dann als tung des neuen Deutschen Reiches in der Aufsichtsratsmitglied angehörte, war er be­ freiheitlichen Ausgestaltung des Kaiser­ teiligt. Das Salzwerk Wyhlen, das später reiches eine der vornehmsten Aufgaben des von den Solvaywerken übernommen und ein Liberalismus. Als zu Beginn des Krieges blühendes Unternehmen wurde, brachte den 1870 am Oberrhein die Gefahr eines fran­ Gründern zunächst große Verluste ein, und zösischen Vorstoßes bestand, organisierte er er gehörte auch zu den Leidtragenden. mit seinem Freund Rottra von Kirchen In seiner politischen Tätigkeit schloß er eine Bürgerwehr von 2000 Freiwilligen, sich mit seinem Freund, dem Freiherrn von welche die „Wacht am Rhein“ übernahmen.

221 Der Landbezirk Lörrach wählte ihn 1871 Säule in der Mitte der Wirtsstube gestellt, in den badischen Landtag, wo er das wich­ um die Größenzunahme mit den früheren tige Referat über das Eisenbahnbudget über­ Einkerbungen zu vergleichen. Wenn man nahm. 1874 kam er als Abgeordneter des den Großvater vor dem Essen suchte, stand Wahlkreises Lörrach-Müllheim in den Reichs­ er im „Leszimmer“ und studierte die tag nach Berlin, wo er bis zur Ablehnung „Frankfurter Zeitung“. Er ging mit uns auf der Militärvorlage im Jahre 1887 mit seinen die Matten am Bärenfels, sah nach den Steil­ freisinnigen Parteifreunden gegen wirtschaft­ fallen und dem „Wuhr“, im Herbst in die liche Sonderinteressen, Sozialistengesetz und Reben nach Weil und Grenzach, die er 1878 Kulturkampf focht. Nach der Auflösung des an den Hängen des Grenzacherhorn auf dem Reichstages kam er 1890 als Abgeordneter Gelände eines zwei Hektar großen Kalk­ des Wahlkreises Karlsruhe-Bruchsal wieder steinbruches mit kostspieligen Terrassen an- in den Reichstag und siegte auch 1893 im legen ließ. Er hielt streng darauf, seine Wahlkampf über seinen Gegner. Er blieb Äcker eigenhändig anzusäen und scheute zu bis zum 77. Lebensjahr Reichstags- und Land­ diesem Zweck nicht die weite Reise von tagsabgeordneter und trug diese Bürde in Berlin ins Wiesental. Dann kletterte er geistiger Frische bis zu dem schlagartigen hemdsärmlig und verschwitzt zum Entsetzen Zusammenbruch in Berlin am 15. Dezember meiner Großmutter umständlich und alters­ 1901. Nach diesem Schlaganfall war er bis steif vom Leiterwagen herab, während er zu seinem Tod am 5. September 1907 ge­ seiner Gewohnheit gemäß leise vor sich hin­ lähmt und erblindet ans Bett gefesselt. pfiff. Er pfiff auch bei ganz unpassenden Meine eigenen Erinnerungen an den „Hir­ Gelegenheiten z. B. bei Leichenfeiern, ohne schen“ und an die Persönlichkeit des Groß­ sich dessen bewußt zu werden. Die Pflege vaters gehen in das letzte Jahrzehnt des der Reben und des Weines war seine Haupt­ vorigen Jahrhunderts zurück. Es ging da­ sorge. Der Anbau des großen Hirschensaals mals in der großen Wirtsstube, der heutigen verdankt auch nur dem Umstand seine Ent­ „Markus-Pflüger-Stube“ ganz patriarcha­ stehung, daß er für seinen „Grenzacher“ lisch zu. Der Großvater saß als Gastgeber am einen großen Keller und einen Trottschopf oberen Ende der langen Wirtstafel, die Groß­ brauchte. Für die „Basler Herren“ war der mutter in der Markgräflertracht neben ihm, „Hirzen“ in Lörrach ein beliebtes Ziel auch die Gäste und das Gesinde, denen er allen für winterliche Schlittenfahrten, die elegan­ freundlich zunickte, reihten sich an der Tafel ten und phantasievollen Formen der Pferde­ an. Die Frühschöppler saßen auf der Ofen­ schlitten kann man heute noch im „Kirsch­ bank. An Festtagen ging es in der Wirts­ gartenmuseum“ in Basel bewundern. stube hoch her, an Markttagen stand das Unter den Stammtischgästen haben der Vieh enggedrängt auf dem Hof und in den Basler Kunsthistoriker Jacob Burckhardt großen Gaststallungen, wo früher die Post­ und der Lörracher Amtmann Friedrich von pferde standen. An Sonntagnachmittagen Preen, die sich dort kennenlernten und oft waren alle Tische mit Zegospielern besetzt. trafen, durch ihren Briefwechsel in den Der Wein wurde in „Gütterle“ ausgeschenkt, Jahren 1864—1893, der 1922 veröffentlicht der „Grenzacher“ aus eigenem Gewächs war wurde, manches Bemerkenswerte vom Hir­ begehrt. In der Zeit der Bohnenernte betei­ schen und seinen Wirtsleuten dem Gedächt­ ligten sich alle Gäste der Wirtsstube am nis erhalten. Bohnenhobeln. „Die Oberländer Wirtshäuser und die an­ Wenn wir 6 Enkelkinder aus Freiburg zu gemessene Bewirtung“, auf die man „bei Besuch kamen, wurden wir an die hölzerne wachsenden Jahren nicht genug achten kann, 222 Der Brunnen vorm ,,Hirschen“ in Lörrach wenn man so bummelt“ spielten im Leben läßlich einer ehelichen Verbindung von Jacob Burckhardts eine große Rolle. Auch Wirtskindern meint er in einem Brief vom Nietzsche wurde auf diese Fahrten mit­ 3. Dezember 1880: „Diese Verbindungen genommen. Zwischen Jacob Burckhardt und unter Wirtsleuten verlangen so viel dyna­ Markus Pflüger entwickelte sich eine freund­ stische Politik wie manche fürstliche.“ In schaftliche Vertraulichkeit, die auch in den einem Neujahrsbrief von 1873 schreibt er Briefen an v. Preen ihren Niederschlag fand. nach der Verpachtung des Hirschens: „Der Burckhardt hatte 1872 etwas Sorge, daß cervus machte mir neulich einen elegischen der mit anderen Geschäften überlastete Eindruck. Der neue Beständer und seine Freund den Hirschen losschlagen könnte Frau sind charmante Leute, die Bewirtung und schreibt an v. Preen: „Kommen Sie wie unter Pflüger, aber die Frequenz schien bald in unsere Gaue, solange Markus noch mir geringer, und ich träumte, wie schön es den Hirschen hat. Denn ich fürchte, unsere wäre, wenn der untere Saal wieder zu einem dortigen guten Tage werden nur noch so Futtergang einschrumpfte, wissen Sie, wie lange dauern, bis man einen Käufer hat.“ in jenen Zeiten, da man an besuchten Im selben Jahr schreibt er am3. Oktober: „Die Abenden den Tabaksdampf mit dem Messer Frau Posthalterin verjüngt sich jetzt förm­ schneiden konnte.“ Aber nach der Verpach­ lich, da in 14 Tagen ihre Mühe und Arbeit tung hörten die guten Beziehungen mit Mar­ aufhören soll; freilich mit den Jahren wer­ kus Pflüger nicht auf, denn der frühere Wirt den auch wir ausbleiben, und ist’s Gottes saß nun oft als Gast in der Stube und hielt Wille, so sterben wir alli, sagt Hebel.“ An­ mit dem Basler Professor einen „langen 223 und gemütlichen Diskurs“, worüber dieser Krafft aus der Mühle in Fahrnau hat er als dann an v. Preen berichtete und meinte, liebenswürdiger Wirt von 1887 bis zum „daß Pflüger sich merkwürdig gleich bleibe, Ersten Weltkrieg gewirkt und zog dann in nur sich um etliche Grade verfeinert habe“. das Haus Asal „zum Schwanen“. Als Pächter Der ehemalige Hirschenwirt, „dessen gei­ führten die Herren Otto Fischer, Otto stiges Streben über den Horizont seiner Saenger und zuletzt C. Walliser das Haus, Durchschnittskollegen hinausging“, saß da­ bis es durch Kauf am 1. 4. 1940 in die mals meist in Berlin im Reichstag. Es war Hände von Robert König überging. natürlich der ersehnte Wunsch meiner Groß­ Nach dem Zweiten Weltkrieg verwahr­ mutter, auch einmal nach Berlin zu fahren loste das Haus unter der Besatzungs­ und an dem Leben ihres Mannes teilzuneh­ macht, bis dann Herr Fritz Binoth als neuer men. Jacob Burckhardt schreibt über das Besitzer das Haus durch Umbau wieder in Dilemma dieser Reise und warum es nie Stand setzte. Im Gelände des Hirschen- dazu kam: „Der Posthalter hat seine Frau gartens war ein Lichtspielhaus errichtet noch immer nicht nach Berlin mitgenommen, worden, und bei dieser Gelegenheit fand und zwar unter ausdrücklicher Angabe des man die Reste und Gräber eines Alemannen­ Grundes: Sie mag nicht für die Zeit auf friedhofes, über dem wir als Kinder geschau­ den Letsch (d. h. auf die Markgräflertracht) kelt hatten. verzichten; zu Berlin aber auf der Straße Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat Lör­ damit zu erscheinen, wäre beim Frevelmut rach das charakteristische Gesicht eines badi­ der dortigen sogenannten Menschen bedenk­ schen Landstädtchens verloren. Neue große lich.“ Zum letzten Mal erwähnt Burckhardt Gebäude fallen durch unförmige Verhältnisse den „Marcus arator“ in seinen Briefen aus dem alten Gefüge der Stadt. Ein Blick Ende 1893, als die Kirche in Grenzach er­ auf die Ecke beim Hirschen zeigt die Folgen neuert worden und Markus Pflüger gewis­ solcher ohne Rücksichtnahme auf das Stadt­ sermaßen als Weihgeschenk „auf den reichen bild in die Höhe geschossener Bauten. Arnold Herbst hin“ zu den Altargefäßen ein Pfister schreibt in seinem 1939 vom Lörracher silbernes Plateau stiftete. Es gab neben dem Museumsverein herausgegebenen Buch über Hirschen in Lörrach noch einen anderen „Lörracher Bauten“: Ein Ort wie Lörrach, Anziehungspunkt für Jacob Burckhardt, das wo in den Jahren der historisierenden Stile war das „Bäbeli“, die Lerchenwirtin Senn, so viel Gutes zerstört und so viel Bedenk­ die Tochter des Kronenwirts von Grenzach. liches errichtet worden ist, kann sich auf „Wenn ich Geld nach Belieben hätte, ich dem Gebiet älterer Baukunst keine wesent­ kaufte Frau Senn von Lörrach los und be­ lichen Verluste mehr gestatten. Und es ist zöge hier ein nettes Haus und ließ mich ver­ auch allenthalben die Einsicht im Wachsen, pflegen bis an mein Ende — dies aber was man an Bauten wie . . . dem Gasthaus ganz unter uns.“ zum Hirschen besitzt. - . Wäre diese Einsicht Nach vorübergehender Verpachtung des nur schon etwa 25 Jahre, d. h. eine Gene­ „Hirschens“ übernahm der jüngere Bruder ration alt, so sähe das Zentrum der Stadt meines Vaters, der von uns Kindern hoch­ anders aus: die .monumentalen“ Waren­ geschätzte und geliebte „Onkel Emil“ (geb. häuser würden sich bescheidener ausnehmen 5. 3. 1858) das väterliche Anwesen. Aber im — zu ihrem Vorteil.“ Hintergrund dirigierte immer noch die Groß­ Für die Erhaltung des Hirschen spricht mutter, die erst am 25. 2. 1915 starb. Mit aber nicht nur der städtebauliche Anblick, seiner gütigen und zarten Frau Anna geb. sondern auch die Wahrung jener gastlichen 224 Tradition, welche dieses Haus zu Ehren der M. W. Löwenfels, Gustav Struves Leben. Verlag Helbig-Scherb, Basel, 1848/49. Stadt Lörrach auszeichnet. Amalie Struve, Erinnerungen aus den bad. Frei­ Es ist nicht nur der gute Wein, sondern heitskämpfen. , Die Volkserhebung in Baden. auch der behagliche Zug des gutgeführten Karl Heinzen, Einige Blicke in die Bad. Revolu­ Gasthauses, was die Leute von allen tion. Seiten über die Grenze zieht. Die Kultur Mierososlawski, Bericht über den Feldzug in Baden. Bonn 1849. des Gastwesens stammt dort aus jener Bekk, Über die Revolution in Baden. Epoche, in der Politik und Geschichte sich Häusser, Die bad. Revolution. „Gegenwart“, an alte Gasthäuser wie den „Hirschen“ in Bd. 3, 310. Karl Herbster, Wirtschaften und Wirtsleute im Lörrach knüpfte. Als Dokumente der lokalen alten Lörrach. Zeitschr. „Das Markgräfler­ Kultur sollte die Stadt ihre schön gebauten land“. 1936, 7. Jahrg., H. 2, 52. Karl Seith, Die Anfänge der Schopfheimer Gasthäuser in der klassischen Form zu er­ Bleiche, do. S. 67. halten suchen. Karl Grether, Alte Schopfheimer Gastwirtschaf­ ten. Sonntagsbeilage des Markgräfler Tagblatt (1939, Nr. 34—48). Literatur Daniel Rees, Die zweite Schilderhebung der deut­ J. A. Beringer, Badische Malerei im 19. Jahrh. schen Republikaner im Bad. Oberland, cit. Karlsruhe 1913. Reichlin Meldegg, Aus den Erinnerungen eines A. Eberlin, Die Geschichte der Stadt Schopfheim bad. Beamten, Mannheim 1874, S. 231. 1878. W. Müller, Erlebnisse eines Schopfheimer Bürgers R. Wackernagel, Basel und die bad. Markgrafen­ 1948/49. Blätter aus der Markgrafschaft 1915. schaft. Bad. Heimat 1923, 34 ff. Aus den Erinnerungen eines badischen Beamten. H. Kayser, Baugeschichte von Lörrach. Bad. Verlag J. Scheuble, Freiburg 1872, S.2. Heimat 1923, 50 ff. Ed. Kaiser, Aus alten Tagen. Erinnerungen R. Faisst, Beitrag zur Baugeschichte von Schopf­ eines Markgräflers 1815—1875. heim. Bad. Heimat 1923, 61. Wilhelm Bios, Badische Revolutionsgeschichten, Arnold Pfister, Lörracher Bauten, Lörrach 1939. Mannheim 1910. Jacob Burckhardt, Briefe an seinen Freund Friedr. Karl Poltier, Ein Gang durch 230 Jahre Lör­ v. Preen 1864—1893. Stuttgart u. Berlin 1922. racher Geschichte. Oberbad. Volksblatt 1950. M. W. Löwenfels, Der II. republikanische Auf­ Markus Pflüger in Bad. Biographien, VI. Teil stand in Baden. Basel 1848. 1901— 1910, S. 504.

Erste Ansichtskarte des Hirschen

15 Badische Heimat 1960 225 Der Wächterruf

Eine Hebelerzählung

von Reinhold Schneider

Im Nachlaß unseres so früh verschiedenen der hochgestapelten, schmalen und spitzen, der oberrheinischen Dichters Reinhold Schneider fan­ kugeligen oder flach-runden Krautköpfe, der den sich mehrere, unbekannte Erzählungen und Skizzen. Auch sie sind beredte Zeugen von der vielgestalteten Rettiche und quellenden Herbst­ Sprach- und Gestaltungskraft, von der Tiefe und früchte, den Tau auf den Trauben, die schwer Weite der Aussage des großen Dichters. Selbst und durchglutet waren wie in vielen Jahren die Skizzen gleichen Tautropfen, in denen sich nicht, den Schimmer der hellen und dunklen, glanzvoll die Welt bricht. Der Verlag Herder in Freiburg i. Br. gab sie unter dem Titel „Der von schwarzen Samtbändern umfaßten Haare ferne König“ heraus: Oktav, 298 Seiten, in Lei­ der Frauen und Mädchen und die satten Farben nen geb. 15.80 DM. Wir bringen daraus mit ihrer Tücher und Mieder, das Licht der satteren freundlicher Erlaubnis des Verlages zum H ebel­ und verglühenden Sonnenräder, den Duft, der jahr die folgende Erzählung. von den Honigständen und von dem auf reinen Der Tag hatte sich besser angelassen, als der Tüchern aufgebauten Brot herüberzog, den Reisende erwartet hatte. Er war am Vortage in Schlag und das emsige Ticken der Uhren, den der Kirche gewesen, wo er predigen sollte, hatte feinen Klang der von den Verkäufern angeprie­ auch das Pfarrhaus angesehen, das ihm bereit­ senen Gläser aus den hochgelegenen Glashütten stand — es hatte helle, behagliche Räume und und den Sonnenblitz, der aus den Kelchen schoß, einen von alten Häusern umschlossenen Garten, den Schmelz altertümlidt-einheimischen Steinguts, in dem es sich gut sitzen, plaudern oder sinnen den Silberschein der zinnenen Teller und Krüge, ließ, abends, wenn der kühle, vom Heuduft der in die Monogramme und Symbole eingeritzt hohen Matten und dem Atmen der Wälder ge­ waren. Er bekam Lust einzukaufen. Hier einen schwängerte Wind über die Stadt hinfloß; auch Beutel, dort einen Pf.eifenkopf und ein schön das Schulhaus hatte er besichtigt — und er hatte bemaltes Fläschchen für Kirsch- oder Zwetschgen­ den Knaben und Mädchen in die Augen geschaut, wasser, ein elsässisches Tuch, ein Holztäfelchen denen er das Wort verkünden, das rechte Leben mit der Ansicht der Stadt. Denn schon sah er würde lehren dürfen. Fast hätte er in freudiger sich unter der Freundesrunde in Karlsruhe die Aufwallung sofort ja gesagt und den Tag seines Geschenke aus dem Oberlande verteilen; da gab Einzugs bestimmt; denn er sah wohl, daß sich es ihm einen Stich ins Herz, weil es ja Abschieds­ die Freiburger glücklich fühlten, den rheinlän­ geschenke waren. Nein! Er nahm noch ein paar dischen Hausfreund als Pfarrer in ihrer Mitte hellbraune Laugenbrezeln mit, die er Kindern an zu haben. Aber dann hatte Johann Peter Hebel der Straße unversehens zuzuschieben pflegte. doch wieder gezögert: er habe das letzte noch Dann beugte er sich zu einem schüchternen, halb­ nicht mit dem Großherzog und seinen Vor­ wüchsigen Mädchen herab, das zwischen großen gesetzten in Karlsruhe besprochen; alles wolle Blumensträußen saß, und ließ sich ein Sträußchen an den Rock stecken — was mit zitternden ins reine gebracht werden; er wolle nichts Un­ Fingern getan wurde. Aus der offenen Münster­ ausgeglichenes, keine Verstimmung; dann werde halle wehte Weihrauchduft, und es war ihm ein er schreiben. wenig unbehaglich, so daß er schnell durch eine Damit war ihm für den Augenblick eine Last der kaum mannsbreiten, von einem Rinnsal von der Seele gefallen; die Nacht war besser, als durchflossenen Gassen in die Stadt bog; hier er gehofft. Und nun, am frühen Morgen, stand schwankte er ein Weilchen zwischen dem und er auf dem Marktplatz unter dem Münsterturm, jenem Gasthausschild, bis er eine gute, aber schon von dem der Glockenschlag niederbebte, und erprobte Wahl tat. Im Halbschatten an. einem faßte die Fülle des Landes, die sich hier gesam­ umblühten Fenster der stilleren Gassenseite ließ melt hatte, mit allen Sinnen auf: das Leuchten er sich den Wein und die Forellen schmecken; er 226 konnte den Blick nicht lösen von all dem Segen, Häuser am geräumigen Markt gefielen ihm nicht der vorübergetragen wurde, von dem ernsten übel; besser, er rastete hier als in Offenburg; Frohsinn auf den Gesichtern, bis das Treiben sich durch alle Gassen grüßten Wald und Rebberge, verlor mit der Mittagsstunde. und der Gasthof an dem großen Platz bot alles, Aufatmend sah er unter der Gasthaustür zu was er sich wünschen konnte, ein hochgetürmtes, den Bergen empor, die in immer kühneren, sich breites Bett in reinlichem Zimmer und einen übersteigernden Linien, prangend in irisierenden mächtigen runden Tisch unter einem Herrgotts­ Herbstfarben des nahen Laubwaldes und dem winkel, an dem abends sich manch spaßhafte blauen Duft der Kuppen und Gipfel, hinter dem oder nachdenkliche Geschichte hören und auch Münsterturm sich aufwölbten: hier wollte er von erzählen ließ. nun an wohnen; hier sollte sein Herz sich sätti­ Ein Mädchen aus dem Oberland stellte ihm gen; nur wenige Stunden, die an Sonntagen, das leichtbeschlagene Glas hin; hier konnte er auch an einem Herbstnachmittag in Freiburg doch noch reden, wie er wollte. Sie hätte gerne leicht aufzubringen waren — und er würde dort seinen Namen herausgebracht, weil sie etwas sein, wohin es ihn immer zog, wo er hergekom­ Besonders oder Bekanntes vermutete. Aber er men war, im Bergschatten zwischen den Wein­ bog immer wieder mit einem geschickten Scherz hügeln des über alles geliebten Landes, im aus. Doch wurde der Abend nicht so freudig, wie Rheinknie. Zugvögel breiteten sich über die er es sich versprach. Der ratlose Hans-Peter saß Dächer hin, er fühlte den Schmerz der Sehn­ ihm trüben Gesichts mitten unter den Gästen sucht, mit der es einmal ein Ende haben mußte gegenüber und nahm ihm das Wort von den — und beherzter, als es seine Art war, ging er Lippen, das Lachen vom Herzen. Ungewöhn­ zum Wagen; wenigstens bis Offenburg wollte lich früh stand er auf, sich mit der morgigen er heute noch kommen. Weiterreise entschuldigend; das Mädchen ging Aber sobald er im Wagen saß, wurde ihm voraus und trug ihm das Licht, in dessen Schein wieder unbehaglich; jeder Hufschlag entfernte ihr Haar in einem gelben Glanze stand, während ihn vom Oberland; nicht allzu lange, und die die Schatten über die breite Treppe glitten. kühnen Höhenzüge würden zurücksinken und Morgen früh, wenn er reise, sagte er bei offen­ die Ebene aufgehen und mit ihr der sandige, an stehender Tür, erbitte er sich eine Gunst: sie solle Farben arme Wald. Und die Sprache würde ihre ihm das beste Glas Oberländer Weines in den tiefen Herzensklänge verlieren und auch ärmer, Wagen reichen, aber sie müsse zeitig aufstehen; viel ärmer an Farben werden, kein Weinstode er reise im Morgengrauen. Sie sah ihn überrascht mehr grünen am Wege, kein Wirtsschild mehr an; eine Feuchte kam in ihren Augen auf, und die Freude verheißen, die hier noch auf jedem nun zitterte seine Hand, als er das Licht ent­ Hause spiegelte. „Es ist das letztemal!“, sagte er gegennahm. Das Fenster war noch auf, und ein vor sich hin, „das soll der letzte Abschied sein.“ feuchter, föhniger Wind stieß durch den Vorhang Aber war es wirklich so? Sollte er wirklich das und wollte die Tür zuschlagen, aber der Reisende letztemal scheiden? Und nun begegnete Johann hielt sie; er verbeugte sich, nicht wie vor einem Peter Hebel dem anderen Johann Peter Hebel einfachen Mädchen in einem Gasthaus, sondern in sich, den er nur allzugut kannte, so schlecht fast wie vor einer Frau der höheren Stände, er sich mit ihm vertrug: Hans-Peter, dessen Herz aber mit natürlich-herzlicher Achtung. Schon und Leben gespalten war zwischen Oberland hörte er sie die Treppe hinuntereilen; er legte und Unterland, der Heimat und dem Amt, der sich nieder; der Schlaf wollte nicht kommen; in Liebe und der Flucht vor ihr. Hans-Peter, ein schmerzhaftem Streit standen sich die beiden weichmütiger Spielmann, der keinen Respekt Landschaften seines Lebens gegenüber, das groß­ bezeigte vor pädagogischen Ämtern und Würden, artige, ins Gebirge emporwogende Oberland, ein vor dem Ernste der Griechen, Römer und vielgliedriger, gesegneter Garten, reich an Frucht­ Hebräer. Er fühlte, daß Hans-Peter ihm einen speichern und weinschweren Kellern, an Höfen, Streich spielen, daß er es geschehen lassen werde, die mit Menschen, Vieh und Frucht wie Archen er vermochte nicht weiterzufahren; in Emmen­ zwischen den Ackerwellen lagen — und der dingen stieg er aus. Die behäbigen, farbigen nüchternen Fürstenstadt in der Ebene mit zier­

15 ' 227 lichsteifen Häusern, die Stätte seines Dienstes. gar noch die Gespenster am Kreuzweg oder Jahr für Jahr war er zwischen beiden auf und Großvater und Enkel, die als Fahrende auf der nieder gefahren; hier war die Grenze; die Sprache Straße vor dem Röttelner Schloß erschüttert klang ihm nur diesseits, und über den bekränzten wurden vom Geheimnis der Vergänglichkeit, Hügeln vor dem lichten Blau der Kuppen dem Untergang der Welt. schwebte ein Frauenbild, von dem das Mädchen Und nun war er ganz hilflos; für einen jeden einen Zug hatte, nur war dies Bild Jahr um Schritt vorwärts wollte er einen zurück tun. Das Jahr verklärt worden von der beständigen Kraft Haus war still geworden; alle Fahrzeuge hatten eines lauteren Herzens, das einem ebensolchen ihr Dach gefunden, nur der Wind blieb unstet, sich zuneigte und seiner sicher war. suchend wie er. Die Glocken schlugen weiter, ein Fern rief der Wächter durch die Stadt; der spärlicher, langsam fortschreitender Trost. Und Wind riß die Stimme weg; der Einsame spürte, wieder sagte er sich: was er liebte, konnte er daß das Wetter umschlug; morgen würde es nicht besitzen. Was er besaß, das Amt, erfüllte zu Ende sein mit dem Leuchten der Hügel und ihn wohl; mit den feinsten Fasern seines Herzens Berge, dem frohen Leben in den Rebdörfern, liebte er es nicht. Warum fand er nicht das und Regen würde über das Land fallen und Recht seiner Liebe? Half ihm keine Stimme zu es ihm frei lassen, bis Bäume und Weinstöcke diesem Recht? Nun gingen Schritte über den kahl vor dem entlaubten Walde standen. Das Platz — einer war in dieser Nacht ruhelos wie Jahr entschied sich zu seinem Ausklang; solche er; die Schritte hielten drüben an der Stelle, Nächte, das wußte er, waren dem Schlaf nicht wo die Straße einmündete, und nun hörte der günstig; sie mußten ausgetragen werden. Aber Verlassene Wort für Wort den Gesang — und er die Ungewißheit wurde beklemmender von sah im Geiste den Wächter stehen, einen fast Stunde zu Stunde. Was war er nun? Nichts von finster dreinschauenden Mann, in dessen Züge dem, was er in der Welt war und was er nicht die langen Nächte des Wartens und Wachens, ganz ungern die Welt von sich reden ließ, rat­ Wind und Regen eingegraben waren. Was er loser Pilger an der Straße, armer, unschlüssiger sang, waren Hebels eigene Worte — und doch Wanderer am Kreuzweg, überantwortet einem nicht mehr die seinen, sie waren eingegangen ins fast zu verletzlichen Gewissen. Er gestand es sich Volk und dessen Eigentum; aus dem Volk kamen wieder ein, daß er sich nicht entschließen, kein sie zu ihm zurück, Zuspruch des Volkes, dem er Ganzes aus seinem Leben machen konnte. Wo das Wort hatte geben dürfen und das sich dessen sein Herz war, da war er nicht; seltsamer noch: bediente, um ihm zu helfen, hier an der Grenze etwas in ihm verwehrte ihm, dort zu sein, wo zwischen Oberland und Unterland. er sein wollte, wo sein Wort aufwuchs und Be­ „Und wem scho wider, eh’s no tagt, stand hatte wie der Rebstock; er selber war’s, die schweri Sorg am Herze nagt, der über das geliebte Frauenbild — die Heimat du arme Tropf, dii Schloof isch hi! einen Schleier zog. Warum? Daß es ganz rein, Gott sorgt! Es wär nit nötig gsi.“ ganz Bild würde? Aber hatte er ein Recht dazu? Wäre es ihm nicht eher angestanden, zu er­ Da faltet er die Hände: „Dein Wille“, sagte greifen, was sein war, und sein Eigentum zu er leise; und dann kam der Friede auch über ihn. verantworten? Aber sein Eigentum? Er hatte Er erwachte vor dem Hause, ging leise hin­ keines; zwischen Basel und Hausen hatte er die unter und sorgte für den Wagen. Als er an der Kindheit verbracht, Dienst- und Wandersleute Gaststube vorüberkam, hörte er den leichten waren die Eltern, seine Mutter war auf dem Schritt des Mädchens; die Kellertüre knarrte; sie Wege zwischen Basel und Hausen gestorben, der mochte eben hinuntereilen. Ein Lächeln glitt über Vater hatte seine beste Kraft an ein fremdes sein Gesicht — ähnlich dem Lächeln vielleicht, Land vergeben. Wieder gestand er sich's ein: die das über die Gesichter seiner Spitzbuben ging, ihm am nächsten waren, das waren die Wan­ wenn sie fühlten, daß ihnen ein Streich gelingen dernden, die Kaufleute und Boten, die Schiffs­ werde; er legte ein Geldstück auf den Tisch knechte auf dem Rhein, Fuhrleute, die von der und sprang in den Wagen, schneller, als es seine Fremde erzählten, die Heimatlosen, Landstreicher, angehende Beleibtheit zuzulassen schien. „Es soll

2 28 dich nicht reuen, wenn du heute noch in Karls­ stadt rollte. Dort erwartete den Reisenden die ruhe bist“, rief er zum Schlag hinauf, indem er Nachricht, daß sein Fürst ihn in der Residenz die Tür zuwarf; die Pferdehufe schlugen Funken für ein besonderes hohes Amt zu erhalten beim Anziehen; bald wehte der Regen von den wünschte. Er empfing sie, indem er seine Pfeife Bergen und verhüllte den Wagen und das Land, ausklopfte und die Geschenke für die Freunde und sein Schleier lüftete sich nicht, bis das auspackte mit demselben Lächeln, mit dem er Gefährt in die nüchternen Straßen der Haupt­ den Gasthof so eilig verlassen hatte.

Zwei Hebelerzählungen Von Hermann Vortisch

Ein Vorwort zur Einführung lichkeit“ in dem ausgebreiteten Schrifttum über Diese Erzählungen sind mit freundlicher Erlaub­ Hebel vielleicht nicht immer scharf genug kennt­ nis des Verlages Eugen Salzer in Heilbronn demBuch lich gemacht sein dürfte. W. Osterrieth „Vom Peterli zum Prälaten — J. P. Hebels Leben in 12 Geschichten und Gedichten“ entnommen, das 1. Die Rätselakademie der Verfasser seiner Vaterstadt Lörrach zum Verdrießlich saß der Kirchenrat Hebel an 100. Gedenktag an den Heimgang Hebels (1926) einem Frühlingstage des Jahres 1808 in seiner widmete. Das Büchlein entstand in dem alten, Stube zu Karlsruhe. Weder der warme Sonnen­ sich damals auch noch nach der Landstraße zu in schein noch das frohe Gezwitscher der Vögelein, seinem schönen Hanauer Fachwerk zeigenden das aus dem nahen Garten durchs offene Fenster Doktorhaus, dem jetzigen Alters-Pflegeheim der hineinklang, wollte sein Gemüt erheitern. Der Korker Anstalten, deren Arzt Hermann Vor­ Kaffee schmeckte ihm nicht; denn immer noch tisch geworden war, nachdem Krankheit und waren infolge der Kontinentalsperre Napoleons Krieg es ihm und seiner Frau unmöglich ge­ Kaffee und Zucker gar zu teure Artikel und macht hatten, auf seine missionsärztliche Station man behalf sich mit Zichorienbrühe und Rüben­ in China zurückzukehren. Als Abkömmling alter saft als Süßmittel dazu. Wiesentäler und Basler Bürgergeschlechter — Da klopft es; der Diener des Großherzogs unter seinen Vorfahren begegnen wir den aus Karl Friedrich tritt ein und überreicht dem der Hebel-Biographie bekannten Namen Sing­ Kirchenrat und Professor einen großen Umschlag. eisen, Herbster und Jselin — war Vortisch von Was steht in dem Schreiben? In Anbetracht des­ Kindheit an mit Hebel vertraut. Doch kam es sen, daß Hebel vor anderthalb Jahren die Stelle ihm gerade in diesen Geschichten nicht auf die als Stadtpfarrer in Freiburg ausgeschlagen habe historische, sondern auf die poetische Wahrheit und zur Bezeugung besonderer Gunst und Gnade, an. Vortisch, der eine Reihe wissenschaftlicher aber auch auf Grund seiner wohlbekannten Bücher — Schriften medizinischen Inhalts und pädagogischen Vorzüge ernenne ihn sein Fürst Berichte über seine Tätigkeit und Erlebnisse als zum Direktor des Lyzeums, das an Stelle des Missionsarzt an der Goldküste und in China — bisherigen Gymnasiums treten sollte. geschrieben hatte, wollte hierüber selbst keinen Hebels Äuglein leuchteten auf: diese unerwar­ Zweifel lassen und schrieb daher in der Einfüh­ tete Beförderung und Anerkennung taten ihm rung seines Hebelbuches: „Traum, Phantasie wohl, vor allem aber freute ihn die Aussicht auf und Wirklichkeit vermengen sich dabei, um zu ein höheres Einkommen; denn fast allzu sparsam schildern, wie Peterli zum Prälaten wurde.“ hatte er bisher sein müssen, um durchzukommen, Wir heben das hier ausdrücklich hervor, weil die und eine Frau hätte er kaum auch noch ernäh­ Grenze zwischen „Traum, Phantasie und Wirk­ ren können. Offen und wahr, wie er immer

229 gegen andere so gegen sich stand, beschönigte er und daß man den Papst absetzen will?“ rief ihm diese Freude durch keine Einwände. Ja, er dachte der in Politik belesene Arzt zu. gleich daran, daß er jetzt die und jene Schuld, „Ach, verderben Sie mir mit Politik meinen die ihn schon lange drückte, abtragen könne Humor nicht“, entgegnete Hebel. „Haben Sie und daß er vorerst bei keinem Juden mehr ein übrigens schon gehört, daß der Großherzog Anleihen zu machen brauche. Jetzt auf einmal geruht, einen hiesigen armen Professor zum schmeckte der sogenannte Kaffee wieder vie^ Direktor zu ernennen? Spanien und Rom liegen besser und nachdem er sich gar noch ein Pfeif­ allzuweit ab, als daß sie mich groß interessieren.“ chen mit Hanauer Tabak angesteckt hatte, da war’s ihm „vögeliwohl“ und ausschweifende 2. Gedanken glücklicher Zukunft umgaukelten ihn Der Tisch füllte sich bald mehr und mehr; wie die Wolken aus seiner Pfeife. Kein Wunder, launige Reden gingen hin und wider und füllten daß ihm für den Inhalt seiner frohen Gedanken die Luft mit lauterem Frohsinn wie auch mit ein Reimspiel einfiel, so eine Art Trugrätsel, wie dicken Wolken der qualmenden Pfeifen. er sie gerne zu verfertigen pflegte. Er schrieb Bald wußten es alle, daß Hebel zum Direktor auf einen Zettel: ernannt worden sei und er hatte oft anzustoßen Holde, die ich meine, mit seinem Gläslein alten goldgelben Markgräf­ Niedliche und kleine, lers, bis alle gratuliert hatten. Ich liebe dich und ohne dich „Wissen Sie auch“, fragte ihn Medizinalrat Ist mir das Leben fürchterlich. Volz, „welches Tor die Buben am meisten Und mehr als zwanzig Jahre schon, fürchten?“ Nicht sieben erst wie Jakobs Sohn, Hebel besann sich und witterte gleich eine Dien’ ich um deiner Minne Lohn. Anspielung auf seine neue Würde. Er hatte die Auch gönnst du mir, Lösung bereits, aber er verriet sie selbst lieber Ich dank es dir, nicht. Gar manchen wonnigen Genuß. Und doch bekommst du Überdruß Sie meinen doch nicht den Hund des Schul- Und läufst zu meiner tiefen Schmach, dieners, den Vik-tor, der wie sein Herr alle Als feiles Mensch den Juden nach, anschnauzt?“ Und dennoch, Falsche, aus und ein „Vivat Rek-tor Hebel“, klang es nun von Hörst du nicht auf, mir lieb zu sein. allen Seiten und damit war der Glockenschlag Und mit hebräischen Buchstaben, damit’s nicht gegeben für die Rätselstunde und der Tauben­ jedermann lesen könnte, schrieb er die Lösung schlag geöffnet für die girrenden und schwirren­ dazu: Besoldung. den Wortspiele und Neckreden. Dies Rätsel sollte noch heute abend in der „Ich habe Sie, heilende Hand der leidenden „Charaden- und Rätselakademie“, wie er den Menschheit, auch etwas zu fragen“, intonierte Stammtisch und die Gesellschaft des Museums nun Hebel, der sich inzwischen auf Revanche damals nannte, nebst ein paar ändern, die ihm besonnen und eingerichtet hatte. seit der letzten Sitzung eingefallen waren, zur „Unter welchem Rad kommen die meisten allgemeinen Erheiterung dienen und zugleich als Leute um?“ Anspielung auf seine Beförderung. Der Arzt hob drohend, aber lächelnd den Fin­ Er brauchte nur um die Ecke zu gehen, um ger und sagte: „Der Medizinalrat ist immer noch von seinem Hause in Drechslers Kaffeehaus zu über dem Kirchenrat: wir bringen die Leute gelangen, wo seine Freunde ihn erwarteten. wenigstens ohne große Mühe, aber bestimmt auf Gleich nach dem Nachtessen machte er sich auf, den Gottesacker; ihr aber habt selten Erfolg, und da es kaum erst 8 Uhr war, so fand er nur einen auf den Acker Gottes zu bringen, daß er seinen eigenen Hauswirt, Medizinalrat Schweik- grüne und blühe und Frucht bringe.“ hard, am Stammtisch. Lauffer, ein Pastor emeritus, der fürchtete, „Haben Sie schon gehört, daß sich ganz das Gespräch könne eine etwas frivole Wendung Spanien gegen seinen neuen König erhoben hat nehmen — denn 'wenn die Herren lange tran­ 230 ken, kam’s wirklich manchmal dazu —, lenkte noch ein paar leichtere Nüsse ohne zu dicke grüne ab: und bittere Schalen uns aufzutischen.“ „Hebel, Sie haben gewiß große Freude emp­ „Mir hat, da ich Direktor bin, niemand mehr funden, als Sie sich zum Direktor berufen hörten. etwas zu befehlen“, sagte Hebel mit Würde. „Ich Geben Sie uns ein Rätsel auf, damit wir erraten dirigiere jetzt! Wenn je zwei von Ihnen ihre Rät­ können, was Ihnen am neuen Posten am meisten sel absolviert haben, so will ich meinetwegen je zusagt!“ als Dritter einspringen. Also bitte, meine Her­ „Ja, so aus dem Ärmel schütteln kann ich ren!“ weder Reim noch Rätsel“, entgegriete der Ge­ Hofapotheker Schrickel erhob sich und las von fragte. „Aber ich habe mich allerdings für heute einem Blatte: „Wenn dir’s gelingt, die Lacher auf abend vorgesehen. Hört also . . .“ Und damit las deiner Seite zu haben, hast du gewonnenes Spiel, er jene Verse vor, die er daheim aufgesetzt. stehest als Sieger du da! Nenne die Stätte mir Man riet hin und her; Hebel war als Schalk nun, wo sonder jeglicher Mühe du die Lacher bekannt und seine Rätsel bargen neben Witz oft stets hast bei der Seiten von dir!“ auch Spott in sich; da wollte man nicht zu viel „Das ist kein Kalauer von Kalau, sondern ein sagen. Dur-lacher von Karlsruhe“, rief prompt Hebel. „Es könnte Ihr Liebchen sein, das Sie jetzt als Metzger, vormals Präsident der kaiserlichen Direktor heiraten können, das Ihnen aber ein Behörde, stellenlos, aber stets von bester Laune, reicher Sohn Jakobs abspenstig machte“, meinte gab folgendes zum besten: einer. „Herr Kirchenrat und Kirchenlicht, „Falsch geraten“, rief Hebel. Er mußte sein Sag er mir, was die Bibel spricht Liedlein noch mehrmals hersagen. Die Herren Im Alten Testamente! Guck: rieben sich Stirne und Glatzen und kamen doch Wie heißt das Weib des Habakuk?“ nicht dahinter. „Wollen Sie’s beim Barte des Propheten nie­ Hebel kannte zufällig eine ähnliche Scherz­ manden weiter sagen, auch Ihren Frauen und frage und antwortete unter allgemeinem Lachen: Töchtern nicht?“ fragte Hebel, ernst und feierlich „Frau Habakuk! wie ein Oberlandesgerichtsrat, „denn wenn’s an Nun komme ich wieder dran. Was ist das: die große Glocke kommt, so zieht der Groß­ Ich helfe Kisten laden herzog mir die Berufung und Besoldung Und mache auch Charaden!“ zurück.“ „Hebel hoch, Hebel hoch!“ schrie man ihm zu. „Wir schweigen! Wir sagen nichts“, tönte es Jetzt zog einer ein Papierlein hervor, der sonst voll Ungeduld und Wißbegier von allen Seiten. nicht zu den Stammgästen gehörte, sondern nur „Dann schweige ich lieber auch und sage es zufällig in Karlsruhe weilte und als guter alter auch nicht“, erwiderte lachend Hebel, „sonst Freund von Hebel eingeladen worden war, Pfar­ wäre unsere Tafelrunde nicht einstimmig und rer Gottlieb Bernhard Fecht von Kork. harmonisch.“ „Darf ich auch was beisteuern?“ fragte er. „Es Sanitätsdirektor Maler wußte aber einen Aus­ ist ein kleines Rätsel, das der Arzt in Kork ein­ weg: „Wenn Sie’s nicht sagen wollen, so schreiben mal dort bei einer Gesellschaft zum besten gab. Sie’s uns auf!“ Es ist ein Dorf im Badnerland. „Ich hab’ euch die Lösung vorhin bereits an Wer Flaschen öffnet, hat’s in Hand, den Kopf geworfen“, entgegnete Hebel. „Aber Und wirft er’s in die tiefste Flut, ihr habt so harte Schädel, daß ihr so was nicht Habt keine Angst: es geht ihm gut; merkt.“ ’s schwimmt obenauf! Ihr werdet sehn, Jetzt kam aber doch einigen die nötige Erleuch­ Niemalen wird es untergehn.“ tung. Stadtpfarrer Gockel gewann den Vor­ Man freute sich des artigen Rätsels und seiner sprung: Lösung „Kork“ und bat dann Hebel von neuem, „Besoldung ist die Lösung! Nun aber gebieten mit seinen goldenen Knacknüssen nicht zu kar­ wir Ihnen, Herr gutbesoldeter Herr Direktor, gen.

231 Hebel hatte es gerne, wenn man ihm einen ten und sich um die großen Weltereignisse, die „Stupf“ gab, in kleinen wie in großen Dingen, in Europa geschahen, herzlich wenig kümmerten, und langte ein paar Zettel aus der Tasche. so sehr war ihnen das Wohl und Weh ihrer „Also, noch eins“, sagte er. „Das errät aber Vaterstadt angelegen und sie gaben gerne alle keiner! Gemütlichkeit und Geselligkeit hin, wenn es ’s ist größer als ein Fdefant, galt, dem nächsten Nachbarn beizuspringen. Hat Flügel wie ein Schwan, Fast jeder der auseinandergesprengten Tafel­ Frißt Fliegen, Mensch und Teufel gar. runde trug noch ein oder zwei Rätsel als un­ Was ist das: saget an.“ gebrochene Nüsse bei sich und hätte sie zum „Ihr alemannischer Pegasus vielleicht?“ riet besten gegeben, wenn man sitzen geblieben wäre. einer. Der Dichter schüttelte den Kopf: „Ein Denn wir kennen jene Herren fast alle bei Schwan mag er sein, ein Elefant aber doch nicht!“ Namen und wissen von vielen, was und wieviel „Wir sind faul“, rief man ihm zu. „Wir bezah­ an Reimspielen sie beisteuerten. Von Hebel allein len Ihnen einen Schoppen, wenn Sie uns nicht kennen wir über hundert Rätsel, die er in Briefen länger zappeln lassen! Wie heißt die Lösung?“ und im Kalender des Rheinländischen Haus­ „Idi weiß sie auch nicht“, sagte nun Hebel, freundes weitergab und von seinen Stammtisch­ herzhaft lachend. „Ich habe es Ihnen ja gesagt, genossen sind noch zweihundert bekannt. daß keiner das Rätsel errät! Wie sagt schon der Hebel sah nicht mehr viel vom Brand. Als er weise Shakespeare? hinkam, hatte bereits die Feuerwehr eingegriffen ,Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf und die Flammen gelöscht. Es war gegen Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.’ 11 Uhr, als er daheim anlangte, und er setzte Mein nächstes Rätsel ist leicht zu lösen, wenn sich noch ein Weilchen an seinen Schreibtisch. Da man über die nötige Säure und Witz verfügt: gewahrte er, daß ihm aus der offenen Dose auf Mit zweien fährt der Bürgersmann, dem Tische ein Biskuit verschleppt worden war; Der Edelmann spannt viere an, es lag angenagt daneben und als Visitenkarte ein Die Hottentotten lieben kleiner schwarzer „Mausdrude“ dabei. Das gab Das reichgeschmückte Sechsgespann. ihm den Einfall zu einem neuen Nedcrätsel: Nun sagt, wer fährt mit sieben?“ Ihr schlaft oft kaum, Und es besucht euch auf dem weichen Flaum Die Nuß, die Hebel seinen Freunden zwischen Mein Erstes bald: die Zähne schob, wollte lange nicht knacken. Umgaukelt euch in lieblicher Gestalt; Endlich ging Herrn Mörstadt, der zufällig heute Ein leis Geräusch und ihr erwacht; mit einem Mehlsieb etwas zu tun gehabt hatte, Verschwunden ist es, einsam ist die Nacht. ein Licht auf und er rief die Lösung: „Die Das Zweite kommt im Druck ans Licht Siebmacher“ mit singender Stimme in den Lärm Und wird verlegt von Jahr zu Jahr. der Tischgenossen hinein. Vom Ganzen gibt’s manch Exemplar. 3. Ihr meint, ihr habt’s? Ein Traumbuch ist es nicht. Man tribulierte Hebel nicht wenig, noch mehr Wenn nicht ein Sprichwort lügt, herauszurücken, als plötzlich die Sturmglocke So soll es in des Krämers Nischen durdi die Nacht dröhnte; die Fenster wurden auf­ Sich öfters mit dem Pfeffer mischen gerissen, vor denen eilende und springende Men­ Und manchmal sein auf eines Dichters Tischen. schen vorüberhuschten. Nun war’s aber mit Rätselmachen und -lösen „Brennt’s? Wo brennt’s?“ für heute genug! Es schlug Mitternacht und mit „In einem Haus am Mühlburger Tor!“ Dank gegen Gott, daß er ihm einen trostreichen Die ganze Gesellschaft stob auseinander, nicht Tag geschenkt, und mit der kindlichen Bitte, ihn nur etwa das grandiose Schauspiel eines Bran­ einen Direktor von Gottesgnaden sein zu lassen des in tiefer Nacht anzusehen, sondern auch um in seinem neuen Amt, schlief er, von keinen etwa helfen zu können. Denn so wenig die mei­ Träumen und Mäusen gestört, dem kommenden sten unter ihnen etwas von Politik wissen woll­ Tage entgegen. 232 2. Heimweh Pfingsten kam und Hebel war nicht mehr zu Hebel bekam mit der Zeit in Karlsruhe fast halten; am ersten Tag der Ferien stieg er in die übermenschlich viel Arbeit; waren seine Dienst­ Post und reiste rheinaufwärts, Basel zu ins pflichten als Direktor des Lyzeums nicht genug, Markgräflerland, wo er sich bei verschiedenen mußte er auch noch Mitglied der evangelischen Freunden zum voraus angemeldet hatte. Kirchen- und Prüfungskommission werden? Und Er war gespannt, was er alles erleben würde hatte er nicht noch die Herausgabe des Kalen­ in der alten lieben Heimat und es kostete ihm ders, des „Rheinischen Hausfreundes“, aufge­ diesmal keine große Mühe, in Baden-Baden nicht halst bekommen? Wenn aber die Frühlings­ anzukehren und etwa ein Spielchen zu wagen sonne alles zum Knospen und Blühen brachte, wie vor einem Jahr, wo er einmal viel Geld dann plagte ihn noch mehr als alle Schulstunden, gewonnen und damit einen Tag lang den splen­ Prüfungen, Büroarbeit und Kalendermachen das diden Grafen von Asmannshausen und Kaub Heimweh nach seinen Freunden und nach der gespielt hatte. Diesmal wollte er der Hans Schönheit von Wald und Flur in seinem lieben Peter von Hausen sein und als solcher wurde Markgräflerland. er auch wirklich erkannt, wie wir bald sehen So war’s auch im Mai 1812. Mit den Händen werden. auf dem Rücken sehen wir ihn nachdenksam Nicht nur Baden-Baden lockte ihn nicht, das durch den Hardtwald wandeln; seine Augen ganze Unter- und Mittelbaden samt Straßburg sehen kaum das frische Grün der Bäume und und Kork war ihm gleichgültig; auf dem Heim­ und die Anemonen und Leberblümchen zwischen weg, wenn noch Zeit war, vielleicht! Die dem feuchten Moose; seine Augen sind nach Freunde im Bühlertal, im Erlenbad bei Sasbach, innen gekehrt oder vielmehr weit, weit in die auf der Hub, in Peterstal und Griesbach, in Ferne, nämlich ins Wiesental. Emmendingen und sogar in Freiburg warteten „Es ist höchste Zeit, daß ich in den Pfingst- vergeblich auf seinen Besuch; der Breisgau war ferien hinaufreise,“ denkt er. „Höchste, aller­ immer noch nicht Heimat. Erst in Müllheim, höchste Zeit. Wer weiß, was man mir hier noch als er an der Post ausstieg, hüpfte ihm das Herz alles aufbürdet! Und dann ade, Heimat! Dann vor Freude und löste sich die Sehnsucht in kann ich mich nicht mehr losmachen und schließ­ Erfüllung. Hier wollte er über Nacht bleiben, lich wird alles Heimweh erdrückt und erstickt; inkognito wie er meinte! Aber er war früher gar zu oft hier eingekehrt, als daß man ihn nicht dies verwünschte Welschkornland und diese san­ sofort erkannt hätte. Der Knecht, der ihm seine dige Hardt! Mein alemannischer Pegasus Sachen in die Stube trug, hatte kaum sein krepiert noch ganz bei seiner unterländischen Gesicht gesehen, als er auch schon, so laut als Stallfütterung! Seit acht Jahren ist mir kein möglich, in den Hausgang hineinbrüllte: „Der Oberländerlied mehr eingefallen! Wenn ich Herr Hebel isch cho!“ Wer hätte ihn da nicht nicht zum geistlosesten Hardtbewohner ermat­ bewillkommt und gekannt, sei’s von früheren ten soll, muß ich wieder einmal den Wind Besuchen her, sei’s aus seinem Gedichtbüchlein. husten hören im Schwarzwald und die Sprünge der Wiese mitmachen und die Geister im Und hing nicht an der Wand im Wirtszimmer Röttierschloß besuchen, in Lörrach einen Schop­ eine große Tafel mit seinem Vers: „Z’Müllen pen trinken und in Weil der Jungfer Gustave an der Post“ usw.? helfen Baumwolle winden und spinnen! So war es ihm denn unmöglich, allein sich Ich wollt’, ich wär ein Bettler, der wie ein sein Nachtessen schmecken zu lassen und damit Spatz alle Abend auf einem ändern Aste sitzen sein Schöpplein Markgräflerwein zu trinken. kann. Ich habe diese Glücklichen schon oft benei­ Nicht nur die biederen Wirtsleute setzten sich det und gebe ihnen gerne was, wenn sie es zu ihm, sondern auch Knecht und Magd und ein aus Grundsatz sind. Es wäre herrlich, so etwas guter Teil der Fuhrleute und Reisenden, die Vagabundisches in das Leben zu mischen; es gern an den Tisch kamen, wo es so laut und ist wie der Fluß im Tal: man fühlt doch wieder lustig zuging. Und es war noch ganz wie in einmal, daß man der Erde nicht angehört und alter Zeit: behäbige Gastlichkeit, gemütliche daß man ein freier Mensch ist.“ Vertraulichkeit, Fremde und Einheimische, 233 Reiche und Arme. Was uns jetzt die vielen ben ist, der Frosch, so kann man ihn heute noch Tageszeitungen berichten, das erfuhr man damals lebend in der Müllheimer Post sehen, schloß in solchen Gasthäusern an der großen Land­ Hebel gewöhnlich seine Geschichte. straße, die wie jene bei der Post von Müllheim von Frankfurt nach Basel und weiter nach 2. Italien führte. Auch Gauner, Tag- und andere Ändern Tages, nach einem erquickenden Diebe waren unter den Gästen und Hebel be­ Schlaf in der Heimat Maienluft, die durchs kam manches zu hören, was er nachher zu einer offene Fenster mit Nachtigallensang einströmte, Kalendergeschichte machen konnte. An jenem fuhr Hebel weiter nach Hertingen und stieg dort Abend erlebte er sogar eine, die er später noch ab. Er betrat zwar das Pfarrhaus nicht, worin oft gern erzählte. er vor bald 30 Jahren Lehrer und Vikar ge­ Unter den Gästen saß auch ein gutgekleideter wesen war, da er sich dem jetzigen Pfarrer nicht Herr, der lebhaft am Gespräche teilnahm. Er vorstellen wollte, aber er schlich ums Haus brachte die Unterhaltung auf Zauberkunst und herum, schaute nach dem Fenster, aus dem er Hexerei und behauptete schließlich, einen Frosch so oft gegen den Blauen und Belchen und gegen zu besitzen, den er so magnetisieren und hypno­ Lörrach zu geblickt; er wanderte durch die Dorf- tisieren könne, daß er die Tagesstunden quakend straße, die immer noch denselben Geruch hatte anzusagen vermöge. Alles staunte und bat ihn, wie dazumal; er fand zum Teil die Misthaufen sein Tier vorzuführen. Da holte er aus seinem an der gleichen Stelle in den Bauerngehöften, Zimmer ein Kästlein, eine Art kleinen Käfigs, und er stieg die Rebberge hinan, wo er mit der worinnen ein Laubfrosch residierte. Pfarrfamilie Schlotterbeck „Trübeli gunne un „Nun, meine Herrschaften,“ sagte er, „bitte gherbschtet het“. ich um eine Taschenuhr; wir richten sie auf Von Hertingen wanderte er über Riedlingen 2 Minuten vor 9 Uhr; ich werde damit vor nach Kandern; von dort über die Scheideck die Türe gehen und den Frosch hier lassen. So­ am alten Kloster Weitenau vorbei nach Wies- bald der Zeiger auf 9 steht, werde ich’s meinem leth und bekam eben noch vor Nacht Schopf- Fröschlein telepathisch und hypnotisch zu wissen heim in Sicht, wo er sich bei einem alten Schul­ tun und er wird neunmal quaken. Bitte richten kameraden eingeladen hatte. Als er mit diesem Sie alle Ihre Uhren auf 2 Minuten vor neun.“ nach dem Nachtessen gemütlich zusammensaß, Alle zogen, soviele eben eine Taschenuhr trat alle zwei Minuten ein neuer Bekannter besaßen, ihre Zwiebeln heraus! der Tierpsycho­ ein, bis die Stube voll war . .. Der Gastgeber loge schaute sie an und erbat sich die eine zum hatte sie alle eingeladen und mit ihnen ver­ Experiment — es war zufällig eine goldene und abredet, daß sie einer nach dem ändern er­ gehörte einem reichen Frankfurter Handels­ scheinen sollten. Es wurde spät, bis man Hebel herrn, der sie lachend aushändigte. genügend ausgepreßt, genossen, hochleben lassen Nun große Stille um den Frosch; alle ge­ und schließlich verabschiedet hatte. Als aber spannt mit der Uhr in den Händen drum herum. Hebel ändern Tags um 10 Uhr, wie er aus­ Der Froschbändiger mit der kostbaren Uhr geplaudert hatte, sich auf den Weg nach Hau­ draußen. Als der Frosch quaken sollte, hörte sen machen wollte, da stunden alle diese alten man gerade draußen ein Fuhrwerk abfahren! Bekannten schon vor der Türe, sangen ihm sein Aber ein Quaken hörte man nicht. eigenes Lied „Freude in Ehren“ und „Der Mor­ Als der Frosch zehn Minuten lang stumm genstern“ vor und begleiteten ihn; das freute blieb, wollte man seinen Herrn hereinholen; ihn wohl, aber beengte ihn auch; denn es war spurlos verschwunden in der Dunkelheit der ihm, als ob er zum letzten Mal im Leben seine Nacht! — Die Uhr behielt der Gauner und Heimat sähe und mit jedem „Hürstli“ noch den Frosch behielt der Wirt und stellte ihn von sprechen, mit jedem Bächli Zwiesprache halten, nun an täglich auf einen Wirtstisch, wo ihn die jeden Baum grüßen müsse. Hatte er doch diese Gäste mit Fliegen und Bier fütterten; an seinem Nacht geträumt, „’s Eiermaidli“ sei zu ihm Käfig war ein Zettel angebracht: „Vor Dieben gekommen und habe ihm befohlen, zwischen wird gewarnt.“ Und wenn er noch nicht gestor­ zwei Reihen Eiern durchzulaufen, wie es auf 234 manchen Dörfern am Ostermontag Spiel und schließlich machte Hebel doch Schluß: „I bi biim Sitte ist unter der Jugend. „Wenn du aber eins Bergwerchdirektor Herbster iglade; zaig mer, vertrittst, so ist’s dein letztes!“ hatte es gesagt; wo er jetzt wohnt.“ und richtig hatte er eins kaput getreten. Sollte Sein Freund, dem er vor neun Jahren seine er bald sterben müssen? alemannischen Gedichte gewidmet hatte und von So wäre er denn am liebsten allein gewesen jeher treu verbunden war, erwartete ihn mit mit seinen Gedanken und kurz vor Fahrnau Ungeduld und hatte noch eine große Über­ schickte er denn auch alle zurück, da er im raschung: Sander, Hebels lieber und anhäng­ Dorf einen Besuch machen wolle und sie nicht licher Kollege aus Karlsruhe, ebenfalls Kirchen­ mitnehmen könne. rat und Professor, war von Herbster in Zell Als er nämlich in dem gesungenen Liede „Der unverhofft aufgegabelt und hergeschleppt wor­ Morgenstern“ den Namen Anne-Meili hörte, da den, damit sie zu dritt einen fröhlichen Abend erinnerte er sich, daß diese hübsche Jungfer in feiern könnten. Fahrnau als Frau Kraft verheiratet sei und er Jetzt waren die drei rechten Brüder bei­ ihr ein Besüchli. machen könnte. Sie war eine sammen, jeder übersprudelnd von guter Laune Tochter des Ochsenwirts Fluri in Lörrach und und schlechten Witzen. Hebel hatte alle pessi­ war dem Präzeptoratsvikar Hebel als munteres, mistischen Gedanken und Weltschmerzgefühle, liebliches Mädchen von zwölf Jahren ans Herz die ihn am Vormittag noch geplagt hatten, gewachsen, da er oft im Ochsen verkehrte. verloren und er scherzte selber: „Am traurigsten Anne-Meili erkannte ihren Freund sofort wie­ ist doch das Alleinsein. Zuzweit geht’s schon der; wie wenig hatte er sich verändert; immer besser durchs Leben und ’s ist von Gott weise noch war er meist schlecht rasiert, immer noch eingerichtet, daß wir Kirchenräte nicht wie die hatte er die freundlichen, klugen Augen und Kardinäle ledig bleiben müssen. Aber als ich immer noch hielt er den Kopf etwas zur Seite heiraten wollte, konnte ich nicht; und als ich geneigt und hatte eine tiefe, wohlklingende konnte, wollte ich nicht. So bin ich auf gute Baßstimme. Wie fühlte sie sich durch seinen Freunde angewiesen und da sind mir zwei Besuch geehrt und wieviel liebe alte Erinnerun­ immer lieber als nur einer! gen an Lörrach tauschten sie aus! Er mußte zum Und merkwürdig genug ist’s mir all diese Mittagessen bleiben und ihren Mann kennen Tage gegangen; ich wollte allein und inkognito lernen. meine Heimat sehen, aber jeder Gockel kräht mich Endlich um 3 Uhr gelang es ihm, sich loszu­ als alten Bekannten an, jeder Hase, der mir lösen und die letzte Strecke nach Hausen unter begegnet, macht sein Männlein vor mir, jeder die Füße zu nehmen. Eine halbe Stunde vor Knecht und Bauer redet mich gleich mit Herr dem Dorfe überholte er einen Bauern, der mit Hebel an, alle Buchen und Bächlein kennen dem Karst auf der Schulter heimtrottete. Hebel mich, auch etliche Wirtshäuser, und sogar der grüßte; der Mann schaute sich um, guckte ihn Mann im Mond grüßt mich wie einen seines­ scharf an und rief: „Was, du bisdi’s, der Hans gleichen.“ Peter! Gottwilche denn! Wo wottsch ane?“ Aber „So, so, inkognito wolltest du in deine Hei­ im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß er ja mat einziehen?“ sagte nun Herbster. „Da müßtest einen Kirchenrat aus der Residenz vor sich habe du erst des Feldbergs Töchterlein rückwärts und stotterte: „Verzeiht mer, daß i du zu Ihne fließen lassen und all’ deine Lieder einstampfen! gsait ha! J ha’s ganz vergässe gha!“ Dich kennt jeder Spatz auf dem Kirschbaum. Doch Hebel schüttelte ihm die Hand: „Mir Aber nett wär’s eigentlich doch, wenn du im sinn doch noo die Alte, du un ich! Mach doch eigenen Dorf wie Harun al Raschid unbekannt kaini Komödie! Du bisch mii guete Schul- dich herumtreiben könntest.“ chamerad, der Schangi, un i bi der Hans Peter! „Das machen wir“, rief Sander. „Herbster Wie goht’s der? Was läbsch un tribsch?“ Sie muß uns verkleiden und wir gehen dann doch waren längst mitten ins Dorf gelangt und vor ins Dorfwirtshaus; ’s ist erst Vs 10 Uhr.“ Hebels Vaterhaus stehen geblieben, ohne mit Herbster war nicht verlegen, sich und seine Fragen und Antworten fertig zu werden; aber Freunde unkenntlich zu machen, war er doch ein 235 eifriger Sammler nicht nur seltener Steine, son­ Kalendergeschichten! Und statt sich um seine dern auch von Kriegstrophäen und historischen Buben in der Schule und um seine Schäflein Andenken. Und er hatte in den letzten Kriegs­ anzunehmen, vagabundiert er im Land herum; lasten, wo so oft fremde Heere durchmarschiert auch jetzt soll er wieder einmal auf Reisen und einquartiert waren, genug Gelegenheit ge­ sein! Man hätte keinen schlechteren und schlim­ funden, sein Museum anzufüllen; denn seit 1792 meren zum Kirchenrat machen können!“ tobte eigentlich der europäische Krieg und „Überhaupt die Kirchenräte“, schrie der ver­ überflutete auch immer wieder das stille, schöne kappte Kirchenrat Sander, „die sitzen den Wiesental, wie wir es nachlesen können im ganzen Vormittag an ihrem Pult, lesen und „Tagebuch meines Urgroßvaters“ (von A.Schmitt- rauchen und nachmittags gehen sie ins Kaffee henner), des Pfarrers Herbst in Steinen. Der und geben sich Rätsel auf; etwa welches Rad am war auch ein Freund Hebels wie Herbster Kirchenwagen das fünfte sei; und dann sagen gewesen und hat zum Teil mit ihnen all’ die sie: Kirchenrat! und lachen dazu!“ schweren Nöte des Krieges erlebt; als Hebel „Uber den Hebel lasse ich nichts kommen“, 1796 seine Heimat besuchte, fand er kaum eine ereiferte sich der Wirt. „Der stammt von hier Unterkunft vor lauter Kriegsvolk; alle Straßen und hat sich vom Bauernbüble hinaufgearbeitet. waren unsicher und um die Festung Hüningen Und der Großherzog schätzt ihn hoch. Und über tobten donnernde Schlachten und noch tollere seine alemannischen Gedichte geht nichts; er ist Gerüchte. der erste und größte und beste Dichter von Doch jetzt, 1812, war hier im Lande Frieden, Baden. Alle ändern Kirchenräte mögen Faulen­ aber im Norden Deutschlands war ein endloses zer sein, er nicht!“ Hin und Her, da Napoleon mit Preußen und Österreich und den Truppen des Rheinbundes „Er hat immer dumme Possen im Kopf“, fuhr sich zum Einmarsch nach Rußland rüstete. der angebliche Franzos fort; „ich weiß das von Herbster brachte eine Panduren-, eine fran­ einem Straßburger Herrn. Er ist in- und aus­ zösische und russische Uniform herbei, Stiefel wendig kein Pfarrer und kann kaum gut Deutsch und Sporen, Husarentschako, Helm und Kosaken­ sprechen; er redet fast nur Alemannisch und mütze und verwandelte sich und seine zwei dichtet sogar in dieser Bauernsprache.“ Freunde in Kriegsgesellen. Falsche Bärte wurden „Oho“, begehrte der Wirt nun auf. „Aleman­ angeheftet, und furchtbar sahen sie aus, als sie nisch ist jedenfalls schöner als Französisch und mit rasselnden Säbeln durchs Dorf marschierten; vor allem gemütlicher und deutlicher. Ich will’s die Gäste im Wirtshaus stoben auseinander, als Ihnen gleich zeigen! Wenn er jetz nitt euer sähen sie Geister. Der Wirt wußte auch nicht, ungwäsche Muul haltet, ihr Chaibe un herglaufni ob er diese neueste Einquartierung der Gegen­ Schüürebürzler, so loß i der Nachtwächter choo wart oder der Vergangenheit zuschreiben sollte un euch uff d’Stroß setze oder in de Durn und ahnte erst, daß es sich um Scherz handle, nach Lörrach abfüehre vom Schandarm! Hänn als einer der drei Gesellen in urchigem Aleman­ er verstände?“ nisch eine Flasche alten Markgräfler bestellte; Aber die drei Männer schimpften und schwa­ wer aber diese Kriegsknechte waren, brachte dronierten weiter und ließen keinen guten Faden er nicht heraus, obwohl Herbster jeden Sonntag an Hausen und an allem, was da wohnte und seinen Schoppen bei ihm trank; aber sie schienen daher stammte, und an Staat und Kirche, bis doch aus der Gegend zu sein, denn der Pandur es dem Wirt doch zu bunt wurde und er ins­ schimpfte über den Bergwerksdirektor Herbster geheim einen Boten abschickte, den Nachtwächter und der Franzos über den alemannischen Dichter zu holen, daß er die drei frechen Kerle fortjage. Hebel und der Russe über die nichtsnutzigen Als der Mann mit Laterne, Horn und einem Kirchenräte. alten Spieß hereintrat, zückten die wüsten „Der Hebel ist ein Windbeutel“, sagte der Gesellen wie auf Verabredung ihre Schwerter, verkleidete Hebel selbst. „Statt sich in die drückten sich an dem erschrockenen Wächter Psalmen zu vertiefen, dichtet er lose Liedlein, vorbei und verdufteten ins Freie; kein Mensch und statt ernste Predigten macht er lustige hat sie je wieder gesehen und keine Chronik, 236 außer dieser hier, meldet ihre Namen und Immer wieder huschte die eine Frage hin und Herkunft. her, die Frage: Weißt du noch, Freund? Wissen 3. Sie noch, Herr Hans-Peter? Ändern Tages ließ sich Hebel bis Todtnau O ja, er wußte noch, wie er in den neunziger führen und stieg, alter Jugenderinnerungen voll, Jahren fast jeden Abend hierher gewandert am Wasserfall der Wiese hinauf und über­ war; hat er nicht immer noch einen roten Faden nachtete dann in Schönau. Leider reichte die aus Gustavens Nähkorb in seiner Brieftasche? Zeit nicht mehr, dem lieben guten Belchen Denn er half ihr — allerdings oft mehr mit einen Besuch zu machen, den er von Lörrach dem Mund als mit den Händen — nähen und aus so oft bestiegen und auf dessen Altar er stricken und spinnen und sogar bügeln; er hielt mit seinen Freunden Zenoides, Vogt und Bam- ihr das Garn zum Aufknäueln. Er hing mit ihr mert so oft Dank- und Lobopfer treuester Wäsche auf und sägte ihr Holz für die Küche. Freundschaft und fröhlichster Geselligkeit dar­ Er spielte Brett und Karten mit ihnen, auch gebracht hatte; nein, die Zeit reichte knapp, „blinde Kuh“ und Schneeballenschlachten. Und noch vor Abend, wie er fest versprochen hatte, sie machten in den Ferien Ausflüge nach Kan­ in Weil einzutreffen; war doch heute, am 10.Mai, dern, Bürgeln und Liel nach dem Belchen und sein 52. Geburtstag, den er mit seinen Liebsten St. Blasien. Und war je einmal niemand da­ auf Erden, der Pfarrfamilie in Weil, feiern heim, wenn Hebel ins Pfarrhaus kam, so durfte wollte. er in einem für ihn reservierten Stüblein warten; dort hing seine Weiler Freundschaftspfeife und Den weiten Weg von Schönau bis Lörrach, vor dem Fenster war ein Nägelistock, den an der Seite des gesprächigen, viel erzählenden Gustave für ihn zum Blühen brachte. und munter schwatzenden Jüngferleins, der Wiese, konnte er in der Postkutsche zurücklegen. Im Wußte er’s noch, wie lieb und schön alles Ochsen in Lörrach stieg er ab, brachte Anne- war? Heute erfuhr er’s von neuem und ein Meilis Grüße ihrer Mutter und da es erst 6 Uhr unstillbares Heimweh scheuchte ihm allen Schlaf war, wanderte er wie vor 22 Jahren der Wiese von den Augen, als endlich nach Mitternacht die entlang, am Wuhr und am Schlipf vorbei, nach Gesellschaft auseinanderging. dem Dörfchen, das unten am Tüllingerberg Zwei Tage konnte er bleiben und seinen liegt und nach dem nahen Basel herüberguckt. Freunden erzählen, wie unlösbar er bereits in Karlsruhe angebunden und angewurzelt sei, so Er wurde erwartet, das wußte er, und zwar daß er sogar bald seine eigenen alemannischen mit Sehnsucht! Gedichte nicht mehr verstehe, und wieviel Wür­ Hebel traf noch die ganze liebe, traute Gesell­ den und Bürden er zu tragen habe. schaft: den Pfarrer Günttert und seine Frau Den Heimweg nahm er über Basel; er be­ „Vögtin“, seine treue Gustave, die immer tätige, suchte vor allem Frau Major Iselins Grab, ging gescheite und heitere Schwester der Pfarrfrau, zum Münster und zu seinem Geburtshaus am und ihre Mutter, die verwitwete Frau Pfarrer Fecht; auch den treuen Knecht „Herrn Stefan“, Petersplatz und schaute durch den Staketenzaun der nächstes Jahr als Rekrut einrücken mußte in den Garten herein, wo einst Major Iselin und bestimmt hoffte, nach Karlsruhe in Hebels gewohnt und seine Eltern gedient hatten; jetzt Nähe und hilfreiche Hände zu kommen — was stand ein fremder Name an der Glocke und wirklich auch geschah! Er traf auch Bello noch, kein Mensch kannte und grüßte ihn in der den altersschwachen Spitz, der erst bellte, dann lieben Stadt. ihn beroch und schließlich vergnüglich mit seinem Und dann ging’s traurig und einsam in der haarlosen Schwanz wedelte, als er den alten Postkutsche wieder rheinabwärts bis Baden- Freund wiedererkannte. Und nach dem Nacht­ Baden, wo er zwei Tage blieb, und dann zu­ essen, auf Gustavens Botschaft hin, stellte sich rück nach Karlsruhe. Es war das letztemal der Pfarrer von Rötteln, Hitzig, und der von gewesen, daß er die Heimat wiedersah; das Tüllingen, Reinhard, ein. F.iermaideli im Traum hatte recht gehabt. gez. A. Glattacker An ßurte

ßifch öer Maifter, gifch üe Haltig, Tief ins ßilö oergobfch öy Gftaltig,

Urchig, alimannifch, frei! Echt un roohr in alle örei.

Riich im öütfche W o rt — un groaltig, Hubert Baum