Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude

Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude

6 Vorwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble

Hans Wilderotter

9 „Hier schlägt das Herz der Demokratie“ Struktur und Funktion des Deutschen Bundestages

10 „Forum der Nation“: der Deutsche Bundestag im Zentrum der Verfassung

14 „Vertreter des ganzen Volkes“: die Abgeordneten

22 „Der Präsident vertritt den Bundestag“: der Bundestagspräsident, das Präsidium und der Ältestenrat

32 „Ständige Gliederungen des Bundestages“: die Fraktionen

40 „Ein verkleinertes Abbild des Plenums“: die Ausschüsse

48 Konzepte und Kontrollen: Enquetekommissionen, ­Untersuchungsausschüsse, das Parlamentarische ­Kontrollgremium und der Wehrbeauftragte

54 „Der sichtbare Kern des parlamentarischen Wirkens“: das Plenum

62 „Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen“: ­Gesetzgebung und Gesetzgebungsverfahren

76 „Verwirklichung eines vereinten Europas“: die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der ­europäischen Integration

Inhalt Hans Wilderotter

83 Der lange Weg zur Demokratie Stationen deutscher Parlamentsgeschichte

84 „... die eigentliche Schule des vormärzlichen Liberalismus“: deutsche Parlamente vor 1848

88 „Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland“: die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in am Main

106 Eine „schriftliche Urkunde als Verfassung des Preußischen Reiches“: die Verfassunggebende Nationalversammlung und das Preußische Abgeordnetenhaus in

122 Demokratie ohne Parlamentarismus: der Reichstag im Deutschen Kaiserreich

138 „Das Deutsche Reich ist eine Republik“: die National­versammlung und die Verfassung von Weimar

160 Das vorläufige Ende der parlamentarischen Demokratie: der Reichstag und die Landesparlamente in der NS-Diktatur

164 „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“: Stationen der Erfolgsgeschichte des Deutschen Bundestages seit 1949 Hans Wilderotter

199 Architektur und Politik Das Reichstagsgebäude in Geschichte und Gegenwart

200 „Der Schlussstein der deutschen Einigung“: die Planung, ­Errichtung und Bedeutung des ­Reichstagsgebäudes 1871 bis 1918

238 Ein Forum für die Republik: das Reichstagsgebäude im Spreebogen 1919 bis 1933

250 Vom Reichstagsbrand zum Kriegsende: das Reichstags­gebäude 1933 bis 1945

256 „Ein bisschen Sinn für Geschichte“: Wiederaufbau und Umbau nach dem Zweiten Weltkrieg

262 „Wrapped Reichstag“: die Verhüllungsaktion von Christo und Jeanne-Claude

264 „Ein Symbol der Demokratie“: das Reichstagsgebäude seit 1991

Andreas Kaernbach

273 Kultur und Politik im Dialog Kunst im Reichstagsgebäude

274 Der Kunstbeirat

278 Die Künstler und ihre Kunstwerke

334 Künstlerregister

„Wir alle wissen doch, dass dort wahrscheinlich niemals mehr ein deutsches Parlament tagen wird.“ Als der Historiker Arnulf Baring Anfang 1987 diesen Satz über das Berliner Reichstags- gebäude äußerte, schien das tatsächlich für die meisten unvorstellbar. Das geschichtsträchtige Bauwerk im Schatten der Berliner Mauer also nur ein Symbol im „Märchenwald des deut- schen Gemüts“? Knapp drei Jahre später fiel die Mauer, und am 20. Dezember 1990 konstituier- te sich der erste gesamtdeutsche Bundestag – im Berliner Reichstagsgebäude!

Vorwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble Es gibt wohl keinen zweiten Ort, an dem die Höhen und Tiefen der jüngeren deutschen Ge- schichte in ähnlicher Wucht und Dramatik so eindrucksvoll sichtbar sind. Doch vor allem ist es ein Ort, an dem gearbeitet wird: Seit 1999 schlägt hier das Herz unserer parlamentarischen Demokratie. Hier – im wichtigsten Forum­ der Nation – wird um die besten Lösungen für die Dieses Buch zeichnet die wechselvolle Ge- komplexen Fragestellungen der Gegenwart­ ge- schichte der deutschen Demokratie und des rungen, hier werden die Weichen für die Zu- Parlamentarismus nach. Es lädt Sie ein, den kunft unseres Landes gestellt. Abgeordneten des Deutschen Bundestages über Es ist ein Ort der Volksvertretung und Volks­ die Schulter zu schauen, einen Blick hinter die begegnung – das Reichstagsgebäude gehört zu Kulissen zu werfen und damit einen Einblick den ­meistbesuchten Parlamentsbauten welt- in den parlamentarischen Alltag zu gewinnen. weit. Die gläserne Kuppel des Architekten Sie erfahren Wissenswertes über die Bundes- ­Norman Foster hat inzwischen­ Kultstatus tagsgremien und die komplexen parlamentari- bei Berlin-Reisenden. Dabei entdecken die schen Entscheidungsprozesse, aber auch über Be­sucherinnen und Besucher­ ein einzigartiges die spannungsvolle Wechselbeziehung von Ensemble aus alter Bausubstanz, moderner Kunst und Politik. Innenausstattung und renommierter zeitgenös- Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche sischer Kunst, ­einen Ort voller Symbolik, die ­Lektüre und freue mich, wenn das Buch Sie überrascht, zuweilen irritiert und zum Nach- zu einem Besuch im Reichstagsgebäude und denken anregt. Parlament anregt. 8 ((neu, aktuelles Motiv bitte wie altes, NICHT aus der Vogelperspektive)),

„Hier schlägt das Herz der Demokratie“ Struktur und Funktion des Deutschen Bundestages

9 Der Deutsche Bundestag besitzt im politischen System der Bundesrepublik Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal: Er ist das einzige Ver- fassungsorgan, das direkt demokratisch legiti- miert ist. Denn Artikel 20 des Grundgesetzes sagt knapp und klar: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, und es ist dieses Volk, das in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ die Mitglieder des Parlaments wählt. Aus dieser demokratischen Legitimation des Bundestages ergeben sich seine vier Haupt- funktionen: Wahl (beispielsweise des Bundes- kanzlers), Gesetzgebung, Kontrolle der Regie- rung und Kommunikation. Die Wahlfunktion des Bundestages wird zu Beginn der Wahlperiode sichtbar, wenn die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler ge- wählt wird. Im parlamentarischen Regierungs- system stellen eine oder mehrere Fraktionen, die eine Koalition bilden, als Mehrheit im ­Parlament die Bundesregierung. Der Bundes- präsident schlägt dem Bundestag eine Kandi­ datin oder einen Kandidaten für das Amt vor.

„Forum der Nation“: der Deutsche Bundestag im Zentrum der Verfassung

10 In der Regel findet dann die Wahl in der zwei- ten ­Sitzung des Bundestages statt, die auf die konstituierende erste Sitzung folgt, und zwar ohne Aussprache und mit „verdeckten Stimm- zetteln“, also geheim. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des ­offengelegt werden müssen. Mit der Beratung Bundes­tages, die sogenannte Kanzlermehrheit, und der jährlichen gesetzlichen Festlegung des bekommt. Die Regierung wird in Zukunft von Bundeshaushalts, aber auch mit der fortlaufen- dem Vertrauen und der Unterstützung der den Kontrolle des Haushaltsvollzugs durch den ­Re­gierungsfraktionen im Parlament getragen. Haushaltsausschuss ist die Hoheit der Volks- Grundsätzlich kann die Mehrheit diese Unter- vertretung über die Einnahmen und Ausgaben stützung entziehen und im Rahmen eines kon­ des Staates gesichert. struktiven Misstrauensvotums ein anderes Eine weitere Funktion ist die Kontrolle der Regierungsoberhaupt wählen. ­Regierung – eine Aufgabe, die im parlamenta­ Die Gesetzgebungsfunktion steht in der öffent­ rischen Regierungssystem vor allem von der lichen Wahrnehmung im Vordergrund. Zwar Opposition wahrgenommen wird. Für diese sind an der Gesetzgebung des Bundes auch der Kontrolle steht eine ganze Reihe von Instru- Bundesrat und die Bundesregierung beteiligt; menten zur Verfügung, von denen hier nur der Bundestag hat jedoch die Letztentschei- ­Untersuchungsausschüsse und Große Anfragen dungsfunktion, da im Bund kein Gesetz ohne genannt werden sollen. Damit die Opposition die Zustimmung des Bundestages verabschie- diese Instrumente einsetzen kann, gibt es in det werden und in Kraft treten kann. der Geschäftsordnung des Bundestages und Zentrale Bedeutung kommt auch im Rahmen der in der parlamentarischen Praxis verschiedene Gesetzgebung dem Budgetrecht zu. Artikel­ 110 Minderheitenrechte. Die Minderheit verfügt des Grundgesetzes besagt, dass der Bundestag über Verfahrensrechte, die es ihr erlauben, das Budgetrecht hat. Er legt den Haushaltsplan auch gegen die Mehrheit bestimmte verfah­ fest, in dem sämtliche Ausgaben des Bundes rensmäßige Entscheidungen durchzusetzen.

Seite 8/9: Blick in den Plenarsaal.

links: Wahl des Regierungsoberhaupts: Bundestagspräsident ­Wolfgang Schäuble (CDU / CSU) ­vereidigt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU / CSU).

11 Wichtig ist außerdem die Kommunikations- Darüber hinaus sind in der Geschäftsordnung funktion des Parlaments, das deshalb auch als die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Abge- „Forum der Nation“ bezeichnet wird. Der Deut- ordneten und der Organe des Parlaments fest­ sche Bundestag diskutiert immer wieder über gelegt. Dazu gehören zum einen die Leitungs­ Fragen von großem öffentlichen Interesse. Be- organe, allen voran der Bundestagspräsident, sonders in den großen Debatten geht es oft um der das Parlament repräsentiert. Der Bundes- Themenfelder, die weit über die Wahlperiode tagspräsident, seine Vizepräsidenten und die hinausreichen. In diesen öffentlichen Debatten Geschäftsordnung haben Verfassungsrang: Sie werden verschiedene Lösungsmodelle und sind im Artikel 40 des Grundgesetzes garantiert Zukunftsper­spektiven vorgestellt und kontro- und sind Instrumente und Symbole der Auto- vers diskutiert. nomie der Volksvertretung, ihrer Unabhängig- Um die mit diesen Hauptfunktionen verbunde- keit von der Exekutive. nen Aufgaben bewältigen zu können, gibt sich Dazu gehören zum anderen die Fraktionen der Bundestag eine Geschäftsordnung. In ihr und die Ausschüsse. Hier wird der Großteil sind beispielsweise die Verfahren geregelt, der parla­mentarischen Detailarbeit geleistet. nach denen der Bundestag zu sachlich ange- Die Fraktionen sind politische Gliederungen messenen und juristisch einwandfreien Ergeb- des Parlaments. Sie setzen sich aus den Abge- nissen kommt: Nach welchen Regeln laufen ordneten zusammen, die als Kandidaten je- Plenarsitzungen ab? Wie werden Gesetzent­ weils einer Partei ein Mandat erringen konnten. würfe und andere Vorlagen behandelt? Was Die Ausschüsse sind sachliche Gliederungen hat mit Petitionen zu geschehen? Wer hat das des Parlaments. Sie sind jeweils mit der Wahr- Recht, die Einsetzung einer Enquetekommission nehmung sachlich definierter Aufgaben betraut, oder die Durchführung einer Aktuellen Stunde überwiegend analog zu den Aufgaben der zu verlangen? ­Fachministerien.

Verfassungsrang: Der Bundestags­ präsident und seine Stellvertreter sind im Grundgesetz garantiert.

12 Diese Analogie zu den Fachministerien führte unter anderem in den ersten Monaten der 19. Wahlperiode zu einer vergleichsweise ­späten Bildung der ständigen Ausschüsse. Da die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament, in des­ gescheitert waren, anschließende Verhand­ sen Gremien spezialisierte Abgeordnete sich lungen zwischen der CDU/CSU und der SPD mit den oft komplizierten Einzelheiten vor ­allem erneut längere Zeit in Anspruch nahmen der Gesetzgebung befassen, damit das Plenum und die Regierungsbildung erst mit der Wahl eine Entscheidung treffen kann. Der Bundestag ­Angela Merkels (CDU/CSU) zur Bundeskanz­ ist aber auch ein Rede­parla­ment, das in den lerin am 14. März 2018 abgeschlossen war, Plenarversammlungen in öffentlicher Rede poli- wurde zur Überbrückung zum zweiten Mal in tische Probleme diskutiert und bewertet. Diese der Geschichte des Bundestages ein Hauptaus- Reden sind für die ­Öffentlichkeit bestimmt und schuss eingesetzt. Ihm gehörten 47 Mitglieder dienen der Information der Bürger über die alter- aller sechs Fraktionen entsprechend der Sitz- nativen politischen Programme und Konzepte verteilung im Parlament unter dem Vorsitz im Parlament. des nicht stimmberechtigten Bundestagsprä­ Der Bundestag ist das Zentrum der Demokratie sidenten oder eines Vizepräsidenten an. Das der Bundesrepublik Deutschland. „Hier“, Gremium sollte bis zur Bildung einer neuen so stellte der damalige Bundestagspräsident Regierung die Arbeit der Fachausschüsse­ erset- ­Norbert Lammert (CDU/CSU) nach seiner Wahl zen und Gesetzentwürfe und Anträge beraten. auf der konstituierenden Sitzung des 16. Deut- Mit der Konstituierung der Ausschüsse des schen Bundestages am 18. Oktober 2005 fest, 19. Deutschen Bundestages am 31. Januar 2018 „schlägt das Herz der Demokratie, oder es war der Hauptausschuss aufgelöst. schlägt nicht.“

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„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ So be- stimmt es das Grundgesetz in Artikel 38, und dem entspricht das Wahlrecht in der Bundes­ republik Deutschland. Das Wahlrecht, mit dem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewählt werden, ist eine Kombination aus Mehrheits- und Ver- hältniswahlrecht. Die Hälfte der Mitglieder des Bundestages, dem nach dem Wahlgesetz (vor- behaltlich gewisser Sonderregelungen) 598 Ab- geordnete angehören, wird in 299 Wahlkreisen mit relativer Mehrheit gewählt. Wer die meis- ten Erststimmen im Wahlkreis bekommt, über- nimmt ein Direktmandat. Über die andere ­Hälfte entscheiden die Wähler mit der Zweit- stimme, mit der nicht Personen, sondern Par- teien gewählt werden. Dafür stellen die Parteien in jedem Bundesland Landeslisten auf. Der pro- zentuale Anteil der Zweitstimmen, den eine Partei in einem Bundesland gewinnt, ist ent- scheidend für die Zahl der Abgeordneten, die die Partei aus dem jeweiligen Bundesland in den Bundestag entsendet. Die Mandate, die ­zusätzlich zu den Direktmandaten erworben werden, übernehmen Kandidaten nach der ­Reihenfolge auf der Landesliste.

„Vertreter des ganzen Volkes“: die Abgeordneten

14 Wenn die Zahl der Direktmandate, die eine ­Partei in einem Bundesland gewinnt, höher ist als die Zahl der Mandate, die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, ergeben sich Überhangmandate. Im Bundestag sitzen dann mehr als 598 Abgeordnete. Nach der 2013 Voraussetzung für das aktive und das passive ­beschlossenen Wahlrechtsänderung werden Wahlrecht sind die Volljährigkeit und die deut- diese Überhangmandate durch Ausgleichs­ sche Staatsbürgerschaft. Personen, die mindes- mandate für die anderen Parteien ausgeglichen, tens 18 Jahre alt sind und über die deutsche ­damit am Ende die Proportion der Mandats­ Staatsangehörigkeit verfügen, können nicht zahlen, die auf die einzelnen Parteien entfal-­ nur als Wählerinnen und Wähler an der Bundes- len, dem Zweitstimmenergebnis entspricht. tagswahl teilnehmen, sondern auch für einen Der 19. Deutsche ­Bundestag hat deshalb mit Sitz im Bundestag kandidieren, ohne einer Par- 46 Überhangmandaten und 65 Ausgleichs­ tei angehören zu müssen; benötigt werden nur mandaten insgesamt 709 Abgeordnete. 200 Unterschriften von Wahlberechtigten des Um zu verhindern, dass eine große Zahl kleiner Wahlkreises, in dem die Kandidatur erfolgen und kleinster Parteien die Entscheidungsfin- soll. Tatsächlich spielen solche Bewerber aller- dung im Parlament erheblich erschwert oder dings keine Rolle. Die Kandidaten gehören in gar verhindert, gibt es eine Sperrklausel, die der Regel einer Partei an und werden im jewei- ­sogenannte Fünfprozenthürde. Parteien, die ligen Wahlkreis von den lokalen und regiona- bundesweit weniger als fünf Prozent der Zweit- len Organisationen der Parteien auf Landeslis- stimmen erzielen, werden bei der Verteilung ten aufgestellt. Die meisten Kandidaten haben der Sitze nicht berücksichtigt. Wenn ein Kan­ sich oft jahrelang in den Gremien der Parteien didat, der einer solchen Partei angehört, in engagiert und parlamentarische Erfahrungen ­einem Wahlkreis ein Direktmandat gewinnt, als Mitglieder von Gemeinderäten oder Kreis- kann er dieses Mandat selbstverständlich aus- und Landtagen erworben. Die Reihenfolge auf üben. Gewinnen drei oder mehr Kandidaten der Landesliste legen die Landesverbände der dieser Partei ein Direktmandat, werden die Parteien in Wahlen fest. Diese faktische Bin- Zweitstimmen für die Zuweisung von Abge­ dung der Kandidaten und Abgeordneten an ordnetensitzen berücksichtigt, auch wenn die Parteien entspricht dem Artikel 21 des Grund- ­Partei bundesweit weniger als fünf Prozent gesetzes: „Die Parteien wirken bei der politi- der Zweitstimmen verbuchen konnte. schen Willensbildung des Volkes mit.“

Demokratie mitgestalten:­ Mit der Teil­nahme an der Bundestagswahl entscheiden die Wähler, welche ­Abgeordneten und Parteien ihre ­Interessen im Bundestag vertreten.

15 alter der Bundestagsabgeordneten bei knapp 50 Jahren. Die Mehrzahl der Bundestagsab­ Die Mitgliedschaft in einer Partei ändert nichts geordneten hat ein Hochschulstudium ab­ daran, dass die Abgeordneten „an Aufträge und geschlossen; in der Gesamtbevölkerung liegt Weisungen nicht gebunden sind“, wie Artikel 38 der Anteil der Hochschulabsolventen bei des Grundgesetzes festhält. Als Mitglied einer weniger als einem Fünftel. Viele Berufe sind Partei und der entsprechenden Fraktion im Par- im Par­la­ment vertreten, darunter Handwerker, lament macht der Abgeordnete für alle deutlich Journalistinnen, Hausfrauen und Winzer. Über- sichtbar, dass er ein politisches Programm ver- proportional vertreten sind Beamte, die fast tritt, das er mit anderen teilt. Er wird seine Ent- 25 Prozent der Abgeordneten stellen, sowie scheidung im Konsens mit den anderen Partei- Selbstständige und Freiberufler, deren Anteil und Fraktionsmitgliedern im Rahmen des ge- bei knapp 29,5 Prozent liegt, während im Bun- meinsamen politischen Programms in jedem desdurchschnitt nur etwa zwei Prozent der Einzelfall treffen. Er wird aber keine Aufträge Bevölkerung selbstständig oder freiberuflich von Interessenverbänden, Unternehmen oder tätig sind. Einzelpersonen entgegennehmen, die ihn zu ei- Angesichts der hohen Komplexität gesetzlicher ner bestimmten Entscheidung zu ihren Gunsten Regelungen aller Lebensbereiche sind sowohl verpflichten möchten. Zwar wird der Abgeord- Kenntnisse der juristischen Grundlagen und nete natürlich besonders die Interessen seines Feinheiten als auch der Überblick über die Wahlkreises im Blick haben. Er vertritt dann wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedin- aber nicht nur Einzelinteressen, sondern die gungen vieler Handlungs- und Tätigkeitsfelder ­Interessen aller Bewohner des Wahlkreises und in Staat und Gesellschaft für die erfolgreiche nicht nur seiner Wähler. Er bleibt, wie es Arti- Ausübung eines Abgeordnetenmandats fast kel 38 des Grundgesetzes sagt, „Vertreter des unabdingbar. Es ist deshalb folgerichtig, dass ganzen Volkes“. der Schwerpunkt der Studienfächer der Abge- Das bedeutet natürlich nicht, dass die Zusam- ordneten bei den Rechts-, Wirtschafts- und mensetzung des Bundestages die Sozial- und Sozialwissenschaften liegt. Vorausgesetzt ist Berufsstruktur der Bevölkerung der Bundesre- ­allerdings, dass diese politischen Profis, die na- publik Deutschland spiegeln muss. Die Sozial- türlich nicht die Interessen einzelner Verbände struktur des Bundestages weicht erheblich von vertreten, sondern dem ­Gemeinwohl verpflich- der Sozialstruktur der Bundesrepublik ab. Wäh- tet sind, ein offenes Ohr für die Detailkennt­ rend das Durchschnittsalter in Deutschland bei nisse der jeweiligen Fachleute haben und sich rund 44 Jahren liegt, liegt das Durchschnitts­ von Experten beraten ­lassen.

16 In einem zentralen Bereich besteht jedoch erhebliches Ungleichgewicht: Zwar ist in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil der weib­ lichen Abgeordneten fast kontinuierlich ge­ stiegen; nach einem Frauenanteil von zuletzt 37,3 ging er aber nun auf 30,9 Prozent zurück. das er für eine mögliche Wiederwahl angewie- Damit liegt er weit unter dem Anteil der Frauen sen ist. Behörden und Unternehmen, Vereine an der deutschen Bevölkerung, der bei über und Verbände, die Kirchen, Bürgerinitiativen 50 Prozent liegt. und die Lokalpresse möchten Kontakt zu ihrem Abgeordneten halten, der umgekehrt natürlich daran interessiert ist, die Kontakte zu pflegen, Mehr als ein „Fulltime-Job“: um die Vorschläge und Wünsche aus dem Wahl- zwischen Wahlkreis und Berlin kreis kennenzulernen, aber auch, um über seine Tätigkeit in Berlin zu informieren. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1975 in Kontaktpflege und Gedankenaustausch erfor- einem viel zitierten Urteil fest, dass die Wahr- dern erheblichen zeitlichen Aufwand und per- nehmung eines Bundestagsmandats ein „Full- sönlichen Einsatz. Die Teilnahme an Informa- time-Job“ sei. Es ist wohl mehr als das: Ver- tions- und Festveranstaltungen, auf denen vom schiedene Erhebungen und Schätzungen gehen Abgeordneten zumindest ein Grußwort erwar- von einer Wochenarbeitszeit von 60 Stunden tet wird, Betriebsbesichtigungen und verschie- im Wahlkreis und einer Wochenarbeitszeit von dene kulturelle Events stehen ebenso auf dem 70 Stunden in Berlin aus. Die Bundestagsabge- Programm wie Einzelgespräche und Wähler- ordneten haben nämlich gewissermaßen zwei sprechstunden im Wahlkreisbüro, wo außer- Arbeitsplätze: Während der 20 bis 22 Sitzungs- dem Anfragen und Zuschriften auf eine Beant- wochen pro Jahr arbeiten sie in Berlin, die an- wortung warten. All diese Aufgaben wären dere Zeit des Jahres in ihrem jeweiligen Wahl- kaum zu bewältigen, wenn nicht Mitarbeiter kreis. des Wahlkreisbüros die entsprechenden Vor- Die Arbeit im Wahlkreis dient grundlegend der und Zuarbeiten leisten würden. Rückbindung an die Wähler. Der Abgeordnete Natürlich wird der Abgeordnete auch an den muss und will das Vertrauen der Wähler recht- Sitzungen der lokalen und regionalen Partei­ fertigen, dem er das Mandat verdankt und auf gremien teilnehmen, den Vorständen der Orts-

Im Wahlkreis: Rund die Hälfte des Jahres kümmern sich die Ab­­ geordneten um ihren Wahlkreis; hier bringt Sven-Christian Kindler­ (Bündnis 90 / Die Grünen) den Kuchen zu einer Begegnung mit Menschen aus dem Wahlkreis mit.

17 Dazwischen finden informelle Gespräche statt, Treffen mit Journalisten werden anberaumt, Verbandsvertreter verlangen Gehör, Besucher und Kreisverbände, denen er in der Regel aus dem Wahlkreis werden empfangen, und ­bereits lange vor der Nominierung zum Kandi- schließlich werden die Anfragen beantwortet, daten und der Übernahme des Mandats ange- die in der sitzungsfreien Woche eingegangen hörte und wo man aus erster Hand über die sind. Zur Vorbereitung der Sitzungen der Ar- Entwicklungen in Berlin und in der Bundes­ beitsgruppen, der Fraktion, der Ausschüsse politik informiert werden möchte. Umgekehrt und des Plenums müssen selbstverständlich möchte der Abgeordnete natürlich die Wün- Bundestagsdrucksachen durchgearbeitet, Be- sche und Vorschläge seiner lokalen und regio- richte erstellt und Plenarreden vorbereitet wer- nalen Parteifreunde bei seiner Arbeit in Berlin den. Das funktioniert nur, weil auch in Berlin so weit wie möglich berücksichtigen. Mitarbeiter im Büro des Abgeordneten die Vor- Die Arbeit in Berlin beginnt mit der Anreise und Zuarbeiten leisten. aus dem Wahlkreis am Sonntagabend oder am „Die Mitglieder des Deutschen Bundestages“, Montagmorgen. Am Montagnachmittag finden heißt es in Paragraf 13, Absatz 2 der Geschäfts- Sitzungen der Fraktionsvorstände sowie Tref- ordnung, „sind verpflichtet, an den Arbeiten fen von Arbeitsgruppen, -kreisen oder -gemein- des Bundestages teilzunehmen.“ An jedem Tag schaften statt; am Abend kommen häufig die der Sitzungswoche wird eine Anwesenheits­ Landesgruppen zusammen. Am Dienstagvor- liste ausgelegt, in die sich der Abgeordnete mittag treffen sich erneut die Arbeitsgruppen ­eintragen muss. Wer sich nicht einträgt, aber und Arbeitskreise, am Nachmittag findet die auch nicht beurlaubt wurde, verliert pro Tag Fraktionsversammlung statt. Der Mittwoch­ 100 Euro der Kostenpauschale, an Plenarsit- vormittag gehört den Ausschusssitzungen; ab zungstagen 200 Euro; so ist es in Paragraf 14 Mittwochmittag tagt das Plenum. Der ganze des Abgeordnetengesetzes geregelt. Wenn der Donnerstag ist Plenarsitzungstag: Die Sitzung Abgeordnete sich in die Liste eingetragen hat, beginnt um neun Uhr und dauert oft bis in aber bei namentlichen Abstimmungen fehlt, den späten Abend. Auch der Freitag ist bis wird ihm die Kosten­pauschale entsprechend in den frühen Nachmittag Plenarsitzungstag. gekürzt.

In Berlin: Der Arbeitstag der Abge­ ord­neten ist geprägt von Sitzungen, An­hörungen und ­Presseterminen, wie hier auf der Fraktionsebene am ­Rande einer Sitzung der SPD- Fraktion.

18 Natürlich müsse die Bezahlung sowohl der „Bezahlung für die im Parlament „Verantwortung und Belastung“ gerecht werden, geleistete ­Arbeit“: Aufwandsentschädigung, die der Beruf des Bundestagsabgeordneten mit Amtsausstattung und Nebentätigkeiten sich bringe, als auch der Bedeutung dieses Am- tes im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Die monatlichen „Diäten“, die die Abgeordne- Deutschland. Anders gesagt: Wer als demokra- ten beziehen, sind eine „Bezahlung für die im tisch gewählter Volksvertreter 60 bis 70 Stun- Parlament geleistete Arbeit“, wie das Bundes- den in der Woche arbeitet, muss angemessen verfassungsgericht in seinem „Diäten-Urteil“ bezahlt werden. Diesen Vorgaben des Bundes- 1975 feststellte. Diese Bezahlung wird „den Ab- verfassungsgerichts entspricht die Regelung, geordneten aus der Staatskasse zur Sicherung die im 1977 verabschiedeten Abgeordnetenge- ihrer Unabhängigkeit und zur wirtschaftlichen setz getroffen wurde. Zur Orientierung für die Existenzgrundlage für sie und ihre Familie auf Bemessung der Höhe der „Abgeordnetenent- die Dauer ihrer Mitgliedschaft im Parlament ge- schädigung“ werden die Bezüge von Richtern währt“. Diese Feststellung präzisiert die Aussage an Bundesgerichten und von Bürgermeistern des Artikels 48 im Grundgesetz: „Die Abgeord- und Oberbürgermeistern von Mittelstädten mit neten haben Anspruch auf eine angemessene,­ 50.000 bis 100.000 Einwohnern herangezogen. ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.“­ Da die Abgeordneten seit 1977 in mehreren Das Bundesverfassungsgericht sah sich zu die- „Nullrunden“ auf eine Erhöhung verzichteten, ser klaren Aussage veranlasst, um deutlich zu waren die „Diäten“ lange hinter der Einkom­ machen, dass die Wahrnehmung eines Bundes- mens­entwicklung der Vergleichsgruppen tagsmandats längst keine Nebentätigkeit mehr zurück­geblieben. Nach einigen Anpassungen ist: „Die Tätigkeit des Abgeordneten“, erklärte seit dem Jahr 2007 liegen sie seit dem 1. Juli das Gericht bereits in einem früheren Urteil, 2018 bei rund 9.780 Euro – ein Bruttoeinkom- „ist im Bund zu ­einem den vollen Einsatz der men, das wie andere Einkommen auch ver­ Arbeitskraft fordernden Beruf geworden.“ steuert werden muss.

19 2,5 Prozent. Der Höchstsatz, der nach 27 Jahren Wer ein Bundestagsmandat übernimmt und da- erreicht wird, beträgt 67,5 Prozent; der Anspruch mit einer Vollzeittätigkeit nachgeht, muss den auf Zahlung beginnt ab dem 67. Lebensjahr. bisher ausgeübten Beruf in der Regel für eine Neben diesen persönlichen Bezügen und Ver- Reihe von Jahren aufgeben. Abgeordnete, die sorgungsleistungen erhalten die Abgeordneten nach einer, zwei oder drei Wahlperioden in den eine Amtsausstattung, die aus Geld- und Sach- alten Beruf zurückkehren, werden nach jahre- leistungen besteht. Dazu gehört eine steuer­- langer Unterbrechung den Wiedereinstieg oder freie Kostenpauschale, mit der berufsbedingte gar die berufliche Neuorientierung oft nur Mehraufwendungen ebenso wie die Kosten für schrittweise bewältigen können. Deshalb erhal- die Einrichtung und Unterhaltung eines Wahl- ten Abgeordnete, die aus dem Bundestag aus- kreisbüros, die Miete für eine Zweitwohnung scheiden, ein Übergangsgeld als Absicherung in Berlin und weitere ­damit verbundene der beruflichen Wiedereingliederung. Für jedes Aus­gaben, Fahrtkosten im Wahlkreis, Reprä- Jahr der Zugehörigkeit zum Bundestag wird sentationskosten und andere mandatsbedingte eine Summe in Höhe der jeweils aktuellen mo- Aufwendungen abgegolten werden. Die Kosten- natlichen Abgeordnetenentschädigung gezahlt, pauschale wird jährlich dem Anstieg der all-­­ nach einer Wahlperiode also für vier Monate, ­ge­meinen Lebenshaltungskosten angepasst; ­ längstens für 18 Monate. Ab dem zweiten Mo- seit 1. Januar 2018 beträgt sie rund 4.300 Euro nat werden alle Einkünfte des ehemaligen Ab- monatlich. geordneten auf das Übergangsgeld angerechnet. Zur Amtsausstattung gehören eingerichtete Den Abgeordneten steht außerdem eine Alters- ­Büros für den Abgeordneten und seine Mitar- entschädigung zu. Diese Altersentschädigung soll beiter in Berlin, eine Freifahrkarte für die Bahn die Versorgungslücke füllen, die entsteht, wenn im gesamten Bundesgebiet, die Nutzung von sie für die Dauer des Mandats aus einer Berufs- Dienstfahrzeugen des Bundestages in Berlin tätigkeit ausscheiden und deshalb keine Ver­ und die Erstattung der Kosten von Inlandsflü- sorgungsansprüche erwerben können. Anrecht gen. Darüber hinaus stehen zahlreiche Informa- auf eine Altersentschädigung besteht bereits tionsdienstleistungen des Bundestages zur Ver- nach einem Jahr Mitgliedschaft im Parlament; fügung, die von der Nutzung des gemeinsamen sie ­beträgt 2,5 Prozent der jeweils aktuellen Informations- und Kommunikationssystems monatlichen Abgeordnetenentschädigung und bis zur Beratung durch die Wissenschaftlichen erhöht sich mit jedem weiteren Jahr um jeweils­ Dienste reichen.

20 Aus Mitteln der sogenannten Mitarbeiterpau- schale kann jeder Abgeordnete in seinem ­Wahl- Veröffentlicht werden auch alle Tätigkeiten kreisbüro und in seinem Büro im Bundestag und Funktionen, die nicht mit Einkünften Mitarbeiter beschäftigen. Insgesamt stehen je- ­verbunden und von denen viele, besonders in dem Abgeordneten zurzeit rund 21.500 Euro Vereinen, Verbänden und Stiftungen, ehren­ monatlich zur Verfügung. Die Abrechnung der amtlich sind. Entscheidend ist, dass sich die Gehälter und anderer Aufwendungen für Mitar- Wählerinnen und Wähler ein Bild von den beiter erfolgt durch die Bundestagsverwaltung. ­Interessenverknüpfungen und den möglichen Diesen Leistungen stehen selbstverständlich Interessenkonflikten machen können, die bei Pflichten gegenüber. Die Bundestagsabgeordne- einem Abgeordneten zwischen der Ausübung ten müssen alle Tätigkeiten und Funktionen, des Mandats und den Tätigkeiten und Funk­ die sie neben ihrem Mandat ausüben, dem tionen neben dem Mandat entstehen können. Bundestagspräsidenten anzeigen. So schreibt Verletzt ein Abgeordneter seine Anzeigepflicht, es das Abgeordnetengesetz vor, und so ist es in indem er Tätigkeiten verschweigt oder unrich­ den „Verhaltensregeln für Abgeordnete“, die tige Angaben macht, kann das Bundestagsprä­ Teil der Geschäftsordnung sind, in allen Einzel- sidium nach sorgfältiger Prüfung ein Ordnungs- heiten geregelt. Diese Angaben werden im Amt- geld festsetzen, das bis zur Höhe der Hälfte der lichen Handbuch und auf der Internetseite des jährlichen Abgeordnetenentschädigung reichen Bundestages mit den Biografien der Abgeordne- kann. ten veröffentlicht und laufend aktualisiert. An- „Tätigkeiten beruflicher oder anderer Art neben zeigepflichtig sind alle beruflichen Tätigkeiten dem Mandat“ sind, wie es das Abgeordneten­ und alle Funktionen in Unternehmen, Körper- gesetz formuliert, „grundsätzlich zulässig.“ schaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, Sie können auch durchaus sinnvoll sein, ins­ in Vereinen, Verbänden und Stiftungen ebenso besondere wenn sie, vor allem bei Selbststän­ wie Beteiligungen an Kapital- oder Personen­ digen und Freiberuflern, die Rückkehr in den gesellschaften. Einkünfte, die aus diesen Tätig- Beruf nach dem Ende des Mandats erleichtern. keiten, Funktionen und Beteiligungen erzielt Entscheidend aber ist die Formulierung im Ab- werden, müssen in jedem Einzelfall angegeben geordnetengesetz: „Die Ausübung des Mandats werden, wenn sie 1.000 Euro im Monat oder steht im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Mit- 10.000 Euro im Jahr übersteigen. glieds des Bundestages.“

54 Quadratmeter Demokratie: Zur ­Amtsausstattung gehören auch ein­ ge­richtete Büros für die Ab­­geord­­ neten und ihre Mitarbeiter.

21 Der Bundestag wählt jeweils zu Beginn einer Wahlperiode in seiner ersten, konstituierenden Sitzung den Bundestagspräsidenten. Für die Wahl, die der Alterspräsident, also das an Dienstjahren älteste Mitglied des Parlaments, leitet, wird eine vorläufige Geschäftsordnung benötigt. In der Regel wird dafür die Geschäfts- ordnung der vorangegangenen Wahlperiode bestätigt, die dann im Verlauf der Sitzung auch zur endgültigen Geschäftsordnung der neuen Wahlperiode gemacht wird. Unterstützt wird der Alterspräsident von vorläufigen Schriftfüh- rern, die er benennt. Die letzte Amtshandlung des Alterspräsidenten ist die Frage an den neu gewählten Präsidenten des Bundestages, ob er die Wahl annimmt; anschließend übernimmt der Bundestagspräsident den Vorsitz und leitet die Wahl der Vizepräsidenten. Die Wahl des Präsidenten und der Vizepräsi- denten findet mit verdeckten Stimmzetteln, also geheim statt. „Gewählt ist“, so legt es die Geschäftsordnung fest, „wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages er- hält.“ Dass die Wahl des Bundestagspräsidenten fast immer unkompliziert verläuft, verdankt sich der ungeschriebenen Regel, dass nur die jeweils stärkste Fraktion einen Kandidaten vor-

„Der Präsident vertritt den Bundestag“: der Bundestagspräsident, das Präsidium und der Ältestenrat

22 schlägt. Dieser Parlamentsbrauch wurde im Reichstag der Weimarer Republik eingeführt. Die Fraktionen einigen sich im Vorfeld der konstituierenden Sitzung in interfraktionellen Gesprächen über die Abläufe im Einzelnen; in diese Vereinbarungen sind auch die Verfahren zur Wahl der Vizepräsidenten eingeschlossen. Seit 1994 hat jede Fraktion den Anspruch, mit mindestens einer Vizepräsidentin­ oder einem Der Bundestagspräsident ist der Repräsentant Vizepräsidenten im Prä­sidium vertreten zu des gesamten Parlaments. „Der Präsident“, sein; das gilt auch für die stärkste Fraktion, heißt es in der Geschäftsordnung, „vertritt den die den Präsidenten stellt. ­Einer der Vizepräsi- Bundestag.“ Diese Vertretung hat eine staats- denten der zweitstärksten Fraktion vertritt den rechtliche und eine politische Bedeutung. Präsidenten im Fall seiner Verhinderung. Staatsrechtlich handelt der Bundestagspräsi- Der Präsident und die Vizepräsidenten werden dent im Namen des Parlaments, wenn er den für die gesamte Wahlperiode gewählt und sind Bundespräsidenten, den Bundeskanzler und nicht abwählbar. Die Nichtabwählbarkeit trägt die Bundesminister vereidigt, aber auch, wenn zur Unparteilichkeit des Präsidenten in Sit- er den Bundestag in Rechtsstreitigkeiten ver- zungsleitung und Amtsführung bei. Es besteht tritt. Als Vertreter des Parlaments ist er der keine Gefahr, dass Fraktionen, die von Ord- ­Adressat und der Absender jeglichen Schrift- nungsmaßnahmen wie Wortentziehung oder verkehrs mit anderen obersten Bundesbehör- Sitzungsausschluss, aber auch von anderen un- den. Er fertigt die Beschlüsse des Bundestages bequemen Maßnahmen betroffen sind, den Prä- aus und leitet sie weiter. sidenten mit Abwahlforderungen unter Druck Politisch ist der Bundestagspräsident der setzen. Dies gilt besonders dann, wenn der Prä- ­Repräsentant des einzigen unmittelbar demo- sident die Rechte der Minderheit gegenüber der kratisch legitimierten obersten Verfassungs­ Mehrheit oder die Rechte der Gesamtheit des organs. Er ist, so sagt es das Bundesverfassungs­ Bundestages gegenüber der Regierung geltend gericht in einem Urteil, die „symbolische und macht. offizielle Personifikation des Parlaments“ in sei-

Zweiter Mann im Staat: Nach dem ­Bundespräsidenten nimmt Bundes- tagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) protokollarisch­ das zweithöchste Amt in der Bundes­ republik Deutschland ein.

23 die Mitglieder des Präsidiums lösen einander in der Regel im Zweistundentakt ab. Der Sit- zungsleiter wird als „amtierender Präsident“ bezeichnet; als amtierende Präsidenten haben die stellvertretenden Präsidentinnen und Präsi- ner Gesamtheit. Deshalb ist es nur folge­richtig, denten dieselben Befugnisse wie der Präsident. dass der Bundestagspräsident protokollarisch­ Der amtierende Präsident wird in der Sitzungs- an zweiter Stelle nach dem Bundespräsidenten leitung von zwei Schriftführern unterstützt, rangiert. Das Amt des Bundestagspräsidenten mit denen er den Sitzungsvorstand bildet. Die ist, wie ­Vizepräsident Carlo Schmid (SPD) Schriftführer, die einander während der Sit- 1954 bei der Amtsübernahme durch Eugen zung ebenfalls abwechseln, sitzen links und Gerstenmeier (CDU/CSU) sagte, „das zweite in rechts des Präsidenten; einer von ihnen gehört der Ämter­folge der Bundesrepu­blik“. Dieser den Mehrheitsfraktionen an, der andere der hohen protokollarischen Stellung und der Tat- Opposition. Sie nehmen Wortmeldungen entge- sache, dass der Bundestagspräsident berufen gen, führen Rednerlisten und stellen das Ergeb- ist, die „Würde des ­Hauses“ zu wahren, ent- nis von Abstimmungen fest. Schriftführer sind spricht es, dass sich die Anwesenden beim He- Abgeordnete, die zu Beginn der Wahlperiode reinkommen des Präsidenten in den Plenarsaal nach dem Verhältnis der Fraktionsstärke von erheben und stehen bleiben, bis der Präsident ihren Fraktionen benannt und in einer der ers- seinen Platz eingenommen hat. ten Sitzungen der Wahlperiode vom Plenum gewählt werden. In der 19. Wahlperiode teilen sich 62 Abgeordnete diese Aufgabe. „Gerecht und unparteiisch“: Der amtierende Präsident eröffnet und schließt der amtierende Präsident als Sitzungsleiter die Sitzung. Er ruft die Tagesordnungspunkte auf und erteilt das Wort. Er leitet die Wahlen Zu den zentralen und in der öffentlichen Auf- und Abstimmungen und stellt zusammen mit merksamkeit im Vordergrund stehenden Auf­ den Schriftführern das Ergebnis fest. Seine be- gaben des Präsidenten gehört die Leitung der sondere Aufmerksamkeit erfordern Wortmel- Plenarsitzungen des Parlaments. Der Präsident dungen von Abgeordneten, die einen Antrag teilt sich die Wahrnehmung dieser Aufgabe mit zur Geschäftsordnung stellen, eine Erklärung den Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten; zur Aussprache oder zur Abstimmung abgeben,

24 Sitzungsleitung: Der amtierende Präsident­ und die zwei Schriftführer­ ­bilden den Sitzungsvorstand in den Plenar­sitzun­­gen des Bundestages, hier (v. l.) Ulla Ihnen­ (FDP), Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) und Gülistan ­Yüksel (SPD); am Redepult Nicole Gohlke (Die Linke), davor die Bank der Stenografen.

25 eine Zwischenfrage stellen oder eine Zwischen- bemerkung machen möchten. Außerdem kon­ trolliert er die Einhaltung der Redezeiten. Er gibt dem Redner einen Hinweis, wenn sich die Der amtierende Präsident kann einen Redner, zur Verfügung stehende Redezeit ihrem Ende „der vom Verhandlungsgegenstand abschweift, zuneigt; im Extremfall kann er dem Redner zur Sache verweisen“. Er kann jeden Abgeord- das Wort entziehen. neten, der die Ordnung oder Würde des Bun- Die hohe Kunst der Sitzungsleitung ist jedoch destages verletzt, mit Nennung des Namens gefragt, wenn während der Debatte die Atta- zur Ordnung rufen. Dabei handelt es sich meist cken an Schärfe zunehmen. Der amtierende um Formulierungen, die geeignet sind, einen Präsident muss dann entscheiden, ob er zu- oder mehrere Abgeordnete, aber auch Vertreter gunsten einer ergiebigen politischen Auseinan- der Regierung herabzusetzen, zu verletzen oder dersetzung bereit ist, nicht jedes Wort auf die zu beleidigen. Wird ein Redner während einer Goldwaage zu legen; der Verzicht auf sachlich Rede dreimal zur Sache verwiesen oder zur berechtigte Ordnungsrufe kann in einer an­ Ordnung gerufen, muss ihm der Präsident, gespannten Situation deeskalierend wirken. nachdem er ihn beim zweiten Mal auf die Folge Er kann, wenn es der Sache dient, über Zwi- eines dritten Verweises oder Ordnungsrufs auf- schenrufe „bewusst hinweghören“, wie Bun- merksam gemacht hat, das Wort entziehen und destagspräsident Hermann Ehlers (CDU/CSU) darf es ihm in der weiteren Aussprache nicht im Februar 1954 unter dem Beifall des Hauses wieder erteilen. erklärte, als er um der Debatte willen auf einige Wegen einer „nicht nur geringfügigen“ Ver­ Ordnungsrufe verzichtete. Er kann natürlich letzung der Ordnung oder Würde ist ein Ord- auch im Rahmen seiner Ordnungsbefugnis nungsgeld von 1.000 Euro möglich. Bei „gröb­ ­verschiedene Maßnahmen ergreifen. Vor dem licher Verletzung der Ordnung“ schließlich Einsatz dieser Maßnahmen wird er jedoch kann der Präsident ein Mitglied des Bundes­ die Möglichkeit nutzen, den Redner oder Zwi- tages von der Sitzung ausschließen und des schenrufer moderierend auf die feine Linie Saales verweisen. Der Präsident kann sich vor- ­aufmerksam zu machen, die temperamentvolle behalten, diesen Ausschluss auf bis zu 30 Sit- von verletzenden oder gar beleidigenden Äuße- zungstage auszudehnen. Eine Verlängerung rungen trennt. des Ausschlusses droht insbesondere, wenn

26 der ­betroffene Abgeordnete der Aufforderung des Präsidenten, den Sitzungssaal zu verlassen, nicht ­sofort folgt. Wenn im Plenarsaal „stören- de Unruhe“ entsteht, kann der Präsident die Sitzung unterbrechen; wenn er sich kein Gehör verschaffen kann, verlässt er zum Zeichen der rungsbank aufhalten oder für die Regierung Unterbrechung den Präsidentenstuhl. sprechen, werden sie nicht dem Parlament In der Geschichte des Deutschen Bundestages zugerechnet. Zwar unterstellt die Geschäftsord- kam es bisher nur bei 18 Vorgängen zu Sit- nung auch diesen Personenkreis der Ordnungs- zungsausschlüssen (der letzte davon in der gewalt des Präsidenten; der Ausübung der Ord- 17. Wahlperiode), elfmal allein in der 1. Wahl- nungsgewalt sind aber in diesen Fällen enge periode; insgesamt fünfmal wurde die Sitzung Grenzen gesetzt. Denn zum einen gilt die Ge- wegen störender Unruhe ­unterbrochen, zuletzt schäftsordnung nur für diejenigen, die in ihrer in der 14. Wahlperiode. Eigenschaft als Mitglieder des Bundestages Gegen die erwähnten Ordnungsmaßnahmen an der ­Sitzung teilnehmen; noch wichtiger ist kann der betroffene Abgeordnete bis zum nächs- jedoch die Tatsache, dass sich die Mitglieder ten Plenarsitzungstag schriftlich Einspruch ein- sowohl der Bundesregierung als auch des legen, der begründet werden muss und über Bundesrats auf ihr im Grundgesetz verbrieftes den das Plenum ohne Aussprache entscheidet. Recht stützen können, „zu allen Sitzungen des Gegen fast alle Sitzungsausschlüsse wurde Bundes­tages und seiner Ausschüsse Zutritt“ zu Ein­spruch eingelegt, der jedoch in allen Fällen haben, und dass sie „jederzeit gehört werden“ ­zurückgewiesen wurde. müssen. Damit sind Verweise zur Sache, Wort- Es bedarf der besonderen Sensibilität des entziehungen und Sitzungsausschlüsse unmög- ­amtierenden Präsidenten, wenn Ordnungs­ lich. Allerdings kann der Präsident, gestützt maßnahmen erforderlich werden gegen „Sit- auf sein Leitungsrecht zur ordnungsgemäßen zungsteilnehmer, die nicht Mitglieder des Durchführung der Sitzung, einen Regierungs- Bundes­tages sind“. Diese Formulierung in der vertreter jederzeit unterbrechen und unpar­ Geschäftsordnung bezieht sich auf die Mitglie- lamentarische Äußerungen mit einer Art indi- der des Bundesrats und der Bundesregierung rektem Ordnungsruf belegen: „Herr Minister, sowie auf Zuhörer. In der Regel haben Mitglie- wenn Sie diese Äußerung als Abgeordneter ge- der der Bundesregierung ein Bundestagsman- tan hätten, so hätte ich Ihnen einen Ordnungs- dat inne; wenn sie sich jedoch auf der Regie- ruf erteilt.“

Tumult im Bundestag: Nachdem ­Alterspräsident Paul Löbe (SPD) am 13. Juni 1950 eine gemeinsame Erklärung aller Frak­tionen (mit Ausnahme der KPD) zur Ostgrenz- frage verlesen hat, versucht der ­Vorsitzende der KPD-Fraktion, Max Reimann, eine Aussprache zu erzwingen, indem er das Redner- pult nicht verlässt. Reimann wird daraufhin für 30 Sitzungstage aus- geschlossen.

27 Wenn Zuhörer, die die Plenarversammlungen auf den Tribünen verfolgen, durch ihr Verhal- Dieser Schutzfunktion dient auch die Immuni- ten die Würde des Parlaments verletzen, kann tät der Bundestagsabgeordneten, also der im der Präsident auf der Grundlage des Hausrechts Grundgesetz garantierte Schutz der Volksvertre- eingreifen, das ihm nach dem Grundgesetz in ter vor Strafverfolgungsmaßnahmen ohne Zu- allen Gebäuden des Bundestages zusteht. Er stimmung des Bundestages. Der Bundestag ge- kann Zuhörer aus dem Plenarsaal entfernen nehmigt generell für die gesamte Wahlperiode und in gravierenden Fällen störender Unruhe die Durchführung von Ermittlungsverfahren; die Tribüne räumen lassen. Im äußersten Fall die Staatsanwaltschaft muss jedoch mindestens kann er dabei auf seine ebenfalls im Grundge- 48 Stunden vor Beginn der Ermittlungen den setz verbriefte Polizeigewalt zurückgreifen. Der Bundestagspräsidenten über ihre Absichten un- Bundestagspräsident ist „Polizeichef im Poli- terrichten. Wenn im Rahmen der Ermittlungen zeibezirk Deutscher Bundestag“. Um diese Auf- Hausdurchsuchungen durchgeführt werden gabe der Aufrechterhaltung der öffentlichen sollen, wenn eine Verhaftung vorgenommen ­Sicherheit und Ordnung wahrzunehmen, steht oder Anklage erhoben werden soll, muss ihm der Polizei- und Sicherungsdienst des eine Entscheidung des Plenums herbeigeführt Deutschen Bundestages zur Verfügung. Der Prä- werden. sident kann bei Bedarf zusätzliche Polizeikräfte Von der Immunität ist die Indemnität zu unter- der Berliner Polizei anfordern, die dann im scheiden. Indemnität bedeutet, dass Abgeord- Polizeibezirk Deutscher Bundestag seinen Wei- nete für das, was sie im Ausschuss, in der Frak- sungen unterliegen; umgekehrt dürfen Polizei tion oder im Plenum sagen, weder dienstlich und Staatsanwaltschaft ihrerseits nur mit Zu- noch gerichtlich zur Verantwortung gezogen stimmung des Präsidenten in den Räumen des werden können; das gilt auch für das Verhalten Bundestages tätig werden. Diese Funktion des bei Abstimmungen. Wie soll auch das parla- Bundestagspräsidenten als Polizeichef könnte mentarische Leben ohne die freimütige Rede im ersten Augenblick irritierend sein; sie ist je- und ohne die Möglichkeit zu einer freien Ent- doch eine sinnvolle Maßnahme, um die Volks- scheidung funktionieren? Dass dies kein Frei- vertretung und die Volksvertreter vor Übergrif- brief für Beleidigungen und Verleumdungen ist, fen der Exekutive zu schützen. versteht sich von selbst.

Repräsentant des Parlaments: Bun- destagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU / CSU) empfängt eine italie­ nische Delegation im Reichstags­ gebäude.

28 Er „regelt seine Geschäfte“: der Bundestagspräsident als Behördenchef

Der Bundestagspräsident ist der Chef der Bun- destagsverwaltung, einer obersten Bundesbe- hörde. Er stellt die Beamten der Bundestags­ verwaltung ein, ernennt sie, befördert sie und versetzt sie in den Ruhestand; entsprechende men“ soll auch beim Abschluss von Verträgen Kompetenzen besitzt er natürlich auch für die hergestellt werden, die für den Bundestag von angestellten Mitarbeiter. Er trägt die Verantwor- erheblicher Bedeutung sind. Das Präsidium tung für die Aufstellung und Durchführung des fungiert hier als oberstes interfraktionelles jährlichen Haushalts des Bundestages und der ­Konsensgremium. Bundestagsverwaltung, der als Einzelplan 02 Die Bedeutung des Präsidiums geht weit über im jährlichen Bundeshaushaltsplan protokolla- diese und einige andere Mitwirkungsrechte hi- risch korrekt an zweiter Stelle nach dem Ein- naus, die die Einhaltung der Verhaltensregeln zelhaushalt des Bundespräsidenten und seines für Abgeordnete und die Verwendung rechts- Amtes und vor dem Bundeskanzleramt und widrig erlangter Parteispenden betreffen. Die den Bundesministerien rangiert. Die Leitung Mitglieder des Präsidiums kommen in den Sit- der Verwaltung übt „im Auftrage des Präsiden- zungswochen regelmäßig am Mittwochmorgen ten“ der Direktor beim Deutschen Bundestag zusammen, um sich über alle wichtigen Aufga- aus. Diese Übertragung der Leitung der Verwal- ben des parlamentarischen Betriebs und der tung ändert jedoch nichts an der Verantwortung Leitung des Hauses zu verständigen. Der Kreis des Bundestagspräsidenten für die Tätigkeit der Themen ist keineswegs auf die Koordination der Verwaltung. und Organisation der Sitzungsleitung begrenzt. Bei Personalentscheidungen, die Angehörige Behandelt werden Geschäftsordnungsfragen des höheren Dienstes betreffen, ist der Präsi- und Ordnungsmaßnahmen, die Genehmigung dent laut Geschäftsordnung gehalten, sich mit von Delegationsreisen ins Ausland und der den Vizepräsidenten „ins Benehmen“ zu setzen. Empfang ausländischer Delegationen, aber Im Fall von Leitungsstellen ist eine Zustim- auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Außen- mung des Präsidiums erforderlich. „Beneh- darstellung des Bundestages.

29 gen und die Gestaltung der Debatten.­ Im Ältes- tenrat verständigen sich das Präsidium und die Fraktionen darüber, ob und wann ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt wird und wie lan- „Verständigung der Fraktionen“: ge darüber beraten wird. Das ist eine Planungs- der Ältestenrat als Koordinations- und Koordinationsauf­gabe, die erhebliche poli- und Lenkungsgremium tische Bedeutung hat. Hatten alle Fraktionen genügend Zeit, sich auf die Debatte über einen Die zentrale Koordinations- und Steuerungs­ Antrag vorzubereiten, oder soll dieser Antrag instanz des Bundestages ist der Ältestenrat. erst in der nächsten Woche auf die Tagesord- Ihm gehören das Präsidium und 23 weitere nung gesetzt werden? Findet die Aussprache Mitglieder des Bundestages an, vorwiegend über ein Thema zur besten Sendezeit statt oder die Parlamentarischen Geschäftsführer der zu später Stunde? Mit diesen und ähnlichen Fraktionen. Hierbei handelt es sich nicht um die Fragen im Hintergrund werden die Sitzungen an Jahren ­ältesten Mitglieder des Bundes­tages, des Ältestenrats, die am Donnerstagmittag statt- sondern um Abgeordnete, die mit Leitungsauf- finden, in den Runden der Ersten Parlamentari- gaben im Bundestag und in den Fraktionen schen Geschäftsführer der Fraktionen am Mitt- ­vertraut sind. Im Ältestenrat oder auf interfrak- wochnachmittag vorbereitet. In diesen Runden tioneller Ebene wird jeweils zu Beginn­ der Wahl- werden die interfraktionellen Vereinbarungen periode die Vereinbarung über den Vorsitz in getroffen, die dem Ältestenrat am nächsten Tag den ­Ausschüssen getroffen. vorgeschlagen und in aller Regel zustimmend Die Hauptaufgabe des Ältestenrats ist die „Ver- zur Kenntnis genommen werden. Der amtieren- ständigung der Fraktionen über (…) den Ar- de Präsident trägt dann in der Plenarsitzung beitsplan des Bundestages“. Das sind die lang- diese Vereinbarung als Vorschlag des Ältesten- fristigen Planungen der Sitzungswochen des rats vor und stößt so gut wie nie auf Wider- ­jeweiligen Folgejahrs, vor allem­ aber Woche für spruch aus dem Plenum, dem die eigentliche Woche die Tagesordnungen der Plenarsitzun- Entscheidung zusteht.

Planungs- und Koordinations­- gremium: Der Ältestenrat unter- stützt den Präsidenten bei seiner Arbeit und sorgt für einen koordi- nierten und möglichst reibungs­ losen Arbeits­ablauf im Bundestag.

30 Darüber hinaus werden Ordnungsmaßnahmen, die der amtierende ­Präsident während der ­Plenarsitzung ergriffen hat, nachträglich kom- Es ist durchaus möglich, kommt aber sehr sel- mentiert und in einigen Fällen auch kritisiert. ten vor, dass ein Abgeordneter vor Eintritt in Kommt es während einer Plenarsitzung zu ei- die Tagesordnung eine Änderung der Tagesord- ner Situation, in der eine Fraktion glaubt, dass nung beantragt, über die das Plenum abstim- eine Lösung nur durch den Ältestenrat gefun- men muss. Dieser Änderungsantrag muss dem den werden kann, kann sie seine sofortige Ein- Präsidenten bis 18 Uhr des Vortags vorliegen. berufung verlangen. Der Präsident muss dann Der Präsident ist bei der Durchführung der Sit- die Plenarsitzung unterbrechen. zung an diese Vereinbarungen gebunden. Als Koordination und Beratung – damit sind die Vorsitzender des Ältestenrats, mit dem Gewicht Aufgaben des Ältestenrats keineswegs vollstän- seines Amtes und mit der Unterstützung des dig erfasst. Der Ältestenrat nimmt Selbstver- Präsidiums, hat er allerdings durchaus die Mög­ waltungsaufgaben wahr; er verfügt über die lichkeit, im Ältestenrat durch Vermittlungs- und wichtigsten materiellen Ressourcen, die dem Kompromissvorschläge seinerseits gestaltend Bundestag zur Verfügung stehen. Dazu gehören auf die Tagesordnung einzuwirken. die Haushaltsplanung und die Verteilung der Der Ältestenrat hat nicht nur Planungs-, sondern Räume, Baumaßnahmen, die Aufgabenvertei- auch Beratungsfunktion. Auf seinen Sitzungen lung der Bundestagsverwaltung, die Bibliothek kommen regelmäßig Geschäftsordnungsfragen und die Fahrbereitschaft – um nur einige zu zur Sprache, insbesondere wenn sich in der nennen. In diesen Angelegenheiten kann der laufenden Sitzungswoche Geschäftsordnungs- Ältestenrat nicht nur beraten, sondern auch probleme ergeben haben, die der amtierende ­beschließen. Um diese Beschlüsse angemessen Präsident zwar für den Einzelfall während der vorbereiten zu können, setzt der Ältestenrat Sitzung gelöst hat, die aber möglicherweise län- ­neben dem Gremium für den Haushalt regel­ gerfristig eine grundsätz­liche Lösung erfordern. mäßig Kommissionen ein.

31 Zu Beginn einer Wahlperiode schließen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu Fraktionen zusammen. Grundsätzlich müs- sen die Mitglieder einer Fraktion derselben Par- tei angehören. Die Geschäftsordnung lässt eine Ausnahme zu, die allerdings an Bedingungen geknüpft ist: Es können auch Abgeordnete von zwei und mehr Parteien eine Fraktion bilden, wenn die Parteien, für die sie in den Bundestag gewählt wurden, aufgrund „gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen“. Auf dieser Ausnahme- regelung beruht die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU. Über die Fraktionen sind die Parteien also im Bundestag vertreten. Die Fraktionen sind je- doch keineswegs Teile oder Gliederungen der Parteien. Es sind rechtlich selbstständige Verei- nigungen von Mitgliedern des Bundestages, die von ihrer jeweiligen Partei als Kandidaten auf- gestellt wurden und ein Mandat erworben ha- ben. Die Fraktionen sind effektive Instrumente,

„Ständige Gliederungen des Bundestages“: die Fraktionen

32 die von den Abgeordneten einer Partei genutzt werden, um die programmatischen Positionen und politischen Ziele, die sie und ihre jeweilige Partei vertreten, gemeinsam in die parlamenta- rische Praxis umzusetzen. Da diese Abgeordne- „Maßgebliche Faktoren der politischen ten gewählt wurden, weil sie die Programme, ­Willensbildung“: der Bundestag als Positionen und Ziele ihrer Partei vertreten, kann „Frak ­ tionenparlament“ man die Fraktionen als „Scharniere“ zwischen Wählerwillen und parlamentarischer Entschei- Der weit überwiegende Teil der Sachdebatten dungsfindung bezeichnen. wird deshalb in den Fraktionen geführt. Hier Die Fraktionen sind, wie das Bundesverfas- werden die Meinungsverschiedenheiten, die sungsgericht in einem Urteil formuliert hat, es selbstverständlich auch in einer Gruppe gibt, „ständige Gliederungen des Bundestages“. Sie deren Mitglieder sich über programmatische sind aber keine Organe des Parlaments wie das Positionen und politische Ziele einig sind, auf Präsidium, der Ältestenrat und die Ausschüsse, der Grundlage dieser gemeinsamen Überzeu- sondern politische Gliederungen, die, so das gungen auch kontrovers ausgetragen und zum Gericht weiter, „an der Erfüllung der Aufgaben Ausgleich gebracht. Nach Abschluss dieser oft des Deutschen Bundestages“ mitwirken. Wie komplizierten Konsensfindung kann die Frak­ aber machen sie das? Man kann diese Frage am tion in den Ausschüssen und im Plenum mit besten beantworten, wenn man sich vorstellt, einer Stimme sprechen; die Entscheidungspro- es gäbe keine Fraktionen. Dann müsste der zesse im Parlament werden dadurch entlastet Bundestag bei allen Verhandlungsgegenstän- und beschleunigt. „In den Parlamentsfraktio- den, ob Gesetzentwurf oder Große Anfrage, nen“, so sagt es das Bundesverfassungsgericht ob Regierungserklärung oder Aktuelle Stunde, in einem Urteil, „vollzieht sich ein erheblicher mit über 700 verschiedenen Meinungen und Teil der Meinungs- und Willensbildung der Stellungnahmen rechnen. Anders gesagt: Es ­Abgeordneten und dadurch des Parlaments im könnte nur ein Bruchteil der anfallenden Auf- Ganzen.“ Die Fraktionen sind „maßgebliche gaben erledigt werden. Faktoren der politischen Willensbildung“.

Schaltstelle der parlamentarischen ­Arbeit: Die Fraktionsebene im Reichstagsgebäude beherbergt die Versammlungs­säle und Vorstands- räume der Fraktionen.

33 Wenn eine Partei zwar nicht die Fünfprozent- hürde meistert, aber mindestens drei Direkt- mandate gewinnt, ist sie, wenn auch nicht in Fraktionsstärke, ebenfalls im Bundestag vertre- Sie spielen deshalb die Hauptrolle in den Ver- ten. Die Abgeordneten dieser Partei können als fahren der parlamentarischen Entscheidungs- Gruppe anerkannt werden, der durch gesonder- findung. Fast alle parlamentarischen Rechte, ten Beschluss viele, aber nicht alle Rechte zu- die der Bundestag seinen Mitgliedern bietet, gebilligt werden können, über die die Fraktio- sind Rechte der Fraktionen. Fraktionen können nen verfügen. Dazu gehört die Vertretung im Gesetzentwürfe einbringen und Vertagungen Ältestenrat und in den Ausschüssen, nicht aber beantragen, die Herbeirufung eines Mitglieds im Präsidium; dazu gehören auch Redezeiten der Bundesregierung fordern, Große und Kleine in Plenardebatten, die ebenso wie die Zahl Anfragen stellen sowie namentliche Abstim- der Mitglieder im Ältestenrat und in den Aus- mungen und Aktuelle Stunden verlangen. schüssen entsprechend der Stärke, also der Die Geschäftsordnung des Bundestages gibt Zahl der Mitglieder der Gruppen und Fraktio- alternativ diese Rechte auch einer Gruppe, die nen, anteilig vergeben werden. auf den ersten Blick eher unbestimmt wirkt, Angesichts der alles überragenden Bedeutung nämlich „fünf vom Hundert der Mitglieder des der Fraktionen für die Vorbereitung, den Ab- Bundestages“. Damit haben die Abgeordneten lauf und die Organisation der Entscheidungs- mehrerer Fraktionen die Möglichkeit, gemein- findung im Parlament bedarf die Aussage, sam die Initiative zu ergreifen, was gelegentlich der Bundestag sei ein „Fraktionenparlament“, auch geschieht. Dass sich dafür fünf Prozent keiner weiteren Erklärung. Erklärt werden der Abgeordneten zusammenfinden müssen, muss allerdings, welche Rolle die Abgeordne- bringt wieder die Fraktionen ins Spiel, da Frak­ ten spielen, die laut Artikel 38 des Grundgeset- tionen nur von mindestens fünf Prozent der zes als „Vertreter des ganzen Volkes“ gewählt Abgeordneten gebildet werden können. Diese wurden. Die Abgeordneten können die damit innerparlamentarische Fünfprozenthürde ist verbundenen Verpflichtungen nur erfüllen, grundsätzlich unproblematisch, da sie der wenn sie sich in Fraktionen organisieren, und Fünfprozenthürde des Bundeswahlgesetzes zwar nicht nur, weil die Stimme einer organi- entspricht, nach der eine Partei nur dann im sierten Gruppe größeres Gewicht hat als die Bundestag vertreten ist, wenn sie mindestens Stimme ­eines Einzelnen, sondern weil die Ein- fünf Prozent der Zweitstimmen und damit bindung in eine Fraktion den einzelnen Abge- ­mindestens fünf Prozent der Mandate erhält. ordneten entlastet und damit erst entschei-

34 dungsfähig macht. Gäbe es keine Fraktionen, müsste sich jeder Abgeordnete beispielsweise über alle beim Bundestag eingebrachten Ge­ Im Zusammenhang mit der Willensbildung in setzentwürfe so gründlich sachkundig machen, den Fraktionen ist immer wieder von Frakti- dass er guten Gewissens bei der Abstimmung onsdisziplin oder gar Fraktionszwang die Rede. weiß, worüber er entscheidet. Das ist ange- Natürlich wird es nicht immer einfach sein, sichts von rund 800 Gesetzesvorhaben pro ­gelegentlich zugunsten der Entscheidung der Wahlperiode schon quantitativ, angesichts Fraktion auf eigene, abweichende Positionen der Vielfalt und Komplexität der gesetzlich zu verzichten. Ein Fraktionsmitglied, das zu regelnden Materien vor allem aber auch glaubt, die Entscheidungen seiner Fraktion qualitativ unmöglich. auf Dauer nicht mittragen zu können, kann aus Der einzelne Abgeordnete könnte also nur bei der Fraktion austreten. Umgekehrt kann die ganz wenigen Gesetzen seinem Auftrag aus Fraktion ein Mitglied, das beispielsweise aus ­Artikel 38 des Grundgesetzes gerecht werden. der Partei ausgeschlossen wurde, auch aus der Die Lösung dieses Problems gelingt nur durch Fraktion ausschließen. Parteiausschlüsse sind Spezialisierung, Arbeitsteilung und Kooperation laut Paragraf 10 des Parteiengesetzes möglich, im organisatorischen und politischen Rahmen wenn ein Parteimitglied „vorsätzlich gegen die der Fraktion. Wenn sich jeder Abgeordnete auf Satzung oder erheblich gegen Grundsätze oder ein Spezialgebiet konzentriert, kann er genügend Ordnung der Partei verstößt und ihr damit gründliche Sachkenntnis erwerben, um nicht schweren Schaden zufügt“. Das ausgetretene nur eine eigene fundierte Entscheidung treffen, oder ausgeschlossene Fraktionsmitglied verliert sondern diese Entscheidung auch seinen Kolle- jedoch keineswegs sein Mandat, sondern kann gen empfehlen zu können; umgekehrt ist er da- als fraktionsloser Abgeordneter bis zum Ende rauf angewiesen, dass Kollegen sich in ein Ge- der Wahlperiode Mitglied des Bundestages biet eingearbeitet haben, das er selbst nicht im bleiben. Die Mitgliedschaft in einer Fraktion ist Detail beherrscht und auf dem er Entscheidun- durchaus freiwillig. Da fraktionslose Mitglieder gen nur auf Empfehlung der sachkundigen Kol- allerdings im Fraktionenparlament sehr viel legen treffen kann. Voraussetzung dafür ist das weniger Rechte in Anspruch nehmen können Vertrauen in die Sachkunde und die politische als Fraktionsmitglieder, tut jeder Abgeordnete Überzeugungen und Positionen der Kollegen. gut daran, nicht nur aus politischer Überzeu- Dieses Vertrauen ist in einer Fraktion, deren gung Mitglied einer Fraktion zu werden; gerade Mitglieder derselben politischen Partei ange­ als Mitglied einer Fraktion kann der einzelne hören, als selbstverständlich vorausgesetzt. Abgeordnete politische Wirksamkeit entfalten.

Fraktionslos: In der 15. Wahlperiode war die PDS nur mit Petra Pau und ­Gesine Lötzsch (v. l.) vertreten, die weder Fraktions- noch Gruppen­ status erhielten.

35 „Arbeitsintensive Basisorganisationen“: ­Arbeitsgruppen und Arbeitskreise der Fraktionen Innerhalb der Arbeitsgruppen und Arbeits­ Die innerfraktionelle Spezialisierung und Ar- kreise spezialisieren sich die Mitglieder auf be- beitsteilung stützen sich auf die Arbeitsgruppen. stimmte Sachgebiete, die sie in der Regel auch Diese Arbeitsgruppen korrespondieren mit den als Berichterstatter ihrer Fraktion im jeweiligen Fachausschüssen des Bundestages und setzen Bundestagsausschuss betreuen. Sie vertreten sich aus den Abgeordneten zusammen, die die im Ausschuss die Haltung ihrer Fraktion zu Fraktion im jeweiligen Bundestagsausschuss ­einem Vorhaben und unterrichten umgekehrt vertreten. Bei über 20 ständigen Ausschüssen die Fraktion fortlaufend über die Entwicklung fassen kleinere Fraktionen schon aus Gründen der Diskussion im Ausschuss. Die Sitzungen der personellen Kapazität die Fachgebiete meh- der Arbeitsgruppen leiten die Arbeitsgruppen- rerer Ausschüsse in Arbeitskreisen zusammen. vorsitzenden, die auch als die Sprecher ihrer Schwerpunkte der Arbeit in diesen Arbeits- ­Fraktion zum jeweiligen Sachgebiet fungieren. gruppen und Arbeitskreisen sind die Vorberei- Die Arbeitsgruppen und Arbeitskreise werden tung der nächsten Ausschusssitzung und die zu Recht auch als die „arbeitsintensiven Basis- Erarbeitung von Stellungnahmen zu Vorlagen organisationen“ der Fraktionen bezeichnet. der Regierung oder anderer Fraktionen. An den Hier arbeiten die Abgeordneten auf ihrem Spe- Sitzungen der Arbeitsgruppen und Arbeitskrei- zialgebiet im Detail an den Aufgaben, die ihnen se der Mehrheitsfraktionen nehmen regelmäßig als Mitgliedern des Parlaments gestellt sind, die Parlamentarischen Staatssekretäre­ der kor- und hier können sie als Experten den Prozess respondierenden Ministerien teil. Hier werden der politischen Willensbildung in ihrer Fraktion vor allem Pläne und Vorhaben der Regierung am stärksten mitbestimmen. In den Arbeits- besprochen, an deren Erarbeitung sie mitwir- gruppen und Arbeitskreisen hat die Bearbei- ken. Dagegen sind die Arbeitsgruppen und tung der politischen Probleme ihren Ausgangs- ­Arbeitskreise der Oppositionsfraktionen mit punkt, hier finden die Sachdiskussionen statt; Analyse und Kritik an Regierungsvorlagen sie sind gelegentlich auch die Endpunkte der und mit eigenen Gesetzentwürfen befasst. politischen Willensbildung der Fraktionen.

36 Vorbereitung der Ausschussarbeit: ­Monitore in der Halle des Paul-Löbe-­ Hauses zeigen die Sitzungen der ­Arbeitsgruppen der Fraktionen an.

37 Spitze stehen die Fraktionsvorsitzenden, die für die politische und organisatorische Führung der Fraktion verantwortlich sind, die Fraktions- sitzungen leiten und als Sprecher und „Wort- Das mag ein wenig überspitzt klingen. Man darf führer“ der Fraktion nach außen auftreten. jedoch nicht übersehen, dass die Fraktionsver- Zusätzlich werden stellvertretende Vorsitzende sammlung sich bei der Entscheidung über ihr gewählt, die jeweils für die Koordination der Votum zu einem Antrag, über den die Fraktion ­Aufgabenbereiche mehrerer Arbeitsgruppen in der Plenarsitzung geschlossen abstimmt, auf ­zuständig sind. die Empfehlungen der Arbeitsgruppen verlas- Für den reibungslosen Ablauf der parlamentari- sen können muss. Die letzte Entscheidung aber schen Arbeit in der Fraktion sorgen die Ersten hat die Fraktionsversammlung, also die Voll- Parlamentarischen Geschäftsführer, denen versammlung aller Mitglieder der Fraktion, die ­weitere Parlamentarische Geschäftsführer zur in Sitzungswochen in der Regel am Dienstag- Seite stehen. Sie werden nicht nur als „Frak­ nachmittag zusammentritt. tionsmanager“ bezeichnet, sondern auch als „Manager des Parlaments“, da ihre Tätigkeit über die Grenzen der Fraktion hinausgeht. „Wortführer“ und „Dirigenten der parlamen­ Sie treffen sich regelmäßig vor der Sitzung des tarischen Abläufe“: Leitungsorgane und Ältestenrats, dem sie angehören, um über alle Strukturen der Fraktionen Fragen der Tagesordnung und des Ablaufs der Plenarsitzungen einen Konsens herzustellen. Damit diese Informations-, Kommunikations- Die Empfehlungen des Ältestenrats an das und Entscheidungsprozesse überhaupt zustan- ­Plenum entsprechen in aller Regel den Verein- de kommen, bedürfen die Fraktionen der Struk- barungen, die die Parlamentarischen Geschäfts- tur und Organisation. Jede Fraktion hat eine führer untereinander getroffen haben. Die ehe- Geschäfts- oder Arbeitsordnung, in der die Ab- malige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth läufe geregelt sind; die Steuerung und Kontrol- (CDU/CSU) hat die Parlamentarischen Ge- le der Abläufe übernehmen die Leitungsorgane schäftsführer der Fraktionen einmal als „die der Fraktion, deren Mitglieder von der Frak­ entscheidenden ­Dirigenten der parlamentari- tionsversammlung gewählt werden. An der schen Abläufe“ ­bezeichnet.

38 Die Vorsitzenden und die Parlamentarischen Geschäftsführer bilden bei allen Fraktionen den Kern und die Spitze des geschäftsführenden Vorstands. Es gibt eine Reihe von Unterschie- den zwischen den Fraktionen, von denen hier die beiden wichtigsten genannt werden sollen: Querschnittsthemen wie „Rechtsextremismus“ In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gibt es und „Gleichstellungspolitik“ befasst sind, um einen Ersten Stellvertretenden Fraktionsvor­ ­- auch hier nur zwei zu nennen. Dazu kommen sit­zenden, der immer Vorsitzender der CSU- bei allen Fraktionen zeitlich befristete Arbeits- Landesgruppe in der Fraktion ist; die Frak­ gruppen, Unterarbeitsgruppen und Kommis­ tionen von AfD, Die Linke und Bündnis 90 / sionen zu Untersuchungsausschüssen und zu Die Grünen haben zwei gleichberech­ ­tigte ­Enquetekommissionen. Fraktionsvorsitzende. Die Vielfalt und Fülle der Aufgaben, die die In allen im Bundestag vertretenen Fraktionen Fraktionen des Bundestages übernehmen, wäre bilden die Abgeordneten nach ihren Herkunfts- ohne die Unterstützung durch qualifiziertes Per- ländern Landesgruppen, die allerdings bei den sonal nicht zu bewältigen. Jede Fraktion verfügt kleinen Fraktionen nicht allzu groß und wenig deshalb über eine Geschäftsstelle, in der, je nach formalisiert sind. Die größte Bedeutung hat die- Größe der Fraktion, 100 bis 300 Mitarbeiter tätig ses föderalistische Element in der Fraktion der sind: Referenten und Sachbearbeiter,­ Bürokräfte CDU/CSU, wobei der CSU-Landesgruppe eine und technische Dienste. Dass die Personalkosten besondere Stellung zukommt. Die CDU/CSU- der Fraktionen durch Zuschüsse aus dem Bun- Fraktion kennt außerdem fest institutionali­ deshaushalt gedeckt werden, hat einen ganz sierte „soziologische Gruppen“ wie den „Parla- einfachen Grund: Als politische Gliederungen mentskreis Mittelstand“ und die „Arbeitneh- des Bundestages erbringen die Fraktionen Leis- mergruppe“, um nur zwei der insgesamt sechs tungen, die im Interesse des ganzen Parlaments Gruppierungen zu nennen, die spezifische liegen; sie wirken, wie es das Abgeordnetenge- Gruppeninteressen vertreten. Die SPD-Fraktion setz for­muliert, „an der Erfüllung der Aufgaben hat eine Reihe von Arbeitsgruppen, die mit des Deutschen Bundestages mit“.

Fraktionschefs im Gespräch: Dietmar Bartsch (Die Linke) und ­Katrin Göring-Eckardt ­(Bündnis 90 / Die Grünen) am Rande einer Plenar- sitzung.

39 Zu Beginn jeder Wahlperiode setzt der Deut- sche Bundestag ständige Ausschüsse ein. Die Zahl der Ausschüsse ist nicht festgelegt; in der 19. Wahlperiode gibt es 24 ständige Ausschüs- se. Ganz frei in der Entscheidung, welche Aus- schüsse eingesetzt werden, ist der Bundestag nicht, da vier Ausschüsse vom Grundgesetz vorgeschrieben sind und sich eine Reihe weite- rer Ausschüsse aus den sachlichen Notwendig- keiten der Erledigung der parlamentarischen Aufgaben ergeben. Der Auswärtige Ausschuss, der Verteidigungs- ausschuss, der Petitionsausschuss und der ­Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro­ päischen Union sind vom Grundgesetz vorge- schrieben. Sachlich notwendig für die Gesetz- gebung und für die Kontrolle der Regierung sind Ausschüsse, deren Aufgabengebiet jeweils dem Fachgebiet eines Ministeriums entspricht. Darüber hinaus setzt der Bundestag eigene ­Akzente, indem er für bestimmte Themenfelder wie Sport, Kultur oder Tourismus weitere ­Ausschüsse einrichtet, die sich nicht an den Bundesministerien orientieren. So ist dem ­Innenministerium neben dem Innenausschuss noch der Sportausschuss zugeordnet, da der Sport zum Innenressort gehört. Seit der Ein- richtung des Amtes des/der Beauftragten der

„Ein verkleinertes Abbild des Plenums“: die Ausschüsse

40 Bundesregierung für Kultur und Medien im Jahr 1998, dessen Inhaber(in) ein(e) Staats­ minister(in) im Bundeskanzleramt ist, gibt es einen Ausschuss für Kultur und Medien. Der Ausschuss für Tourismus (seit 1991) ist dem Wirtschaftsministerium,­ der Ausschuss für Menschrechte und ­humanitäre Hilfe (seit 1998) dem Auswärtigen Amt zugeordnet. Der Haushaltsausschuss, der Europaausschuss und der Ausschuss ­Digitale Agenda sind Quer- Der Ausschuss für die Angelegenheiten der schnittsausschüsse. Zwar ist der Haushaltsaus- ­Europäischen Union hat in verschiedener schuss neben dem ­Finanzausschuss dem Fi- ­Hinsicht eine Sonderstellung. Er ist ein Quer- nanzministerium zu­geordnet. Er spielt jedoch schnittsausschuss, der sich mit allen Planun- eine zen­trale Rolle bei der Erstellung des jähr­ gen der EU-Gesetzgebung befasst, um die Mit- lichen Haushaltsplans und bei der Kontrolle wirkungs- und Kontrollrechte des Bundestages des Haushalts­vollzugs, wobei er sich mit den zu sichern. Er prüft die Informationen und Be- ­Finanzplänen jedes Ministeriums befasst. richte der Bundesregierung zu Vorhaben der ­Überdies muss der Haushaltsausschuss bei Europäischen Union und ist mitberatend bei ­allen Gesetzentwürfen und anderen Vorlagen der Behandlung von geplanten Rechtssetzungs- eingeschaltet werden, von denen zu erwarten akten der EU tätig, bei denen der jeweils zu- ist, dass sie erhebliche Auswirkungen auf die ständige Fachausschuss des Bundestages die öffentlichen Finanzen des Bundes oder der Federführung hat. Im Ergebnis dieser Beratun- Länder haben werden. ­Angesichts dieser gro- gen können dem Bundestag Vorschläge für Stel- ßen Bedeutung des Haushaltsausschusses ver- lungnahmen gemacht werden, die die Bundes- wundert es keineswegs, dass er in der Regel regierung nach Artikel 23 des Grundgesetzes einer der Ausschüsse mit den meisten Mitglie- bei den Verhandlungen in den Gremien der EU dern ist; in der 19. Wahl­periode gehören ihm berücksichtigen muss. In bestimmten Ausnah- 45 Abgeordnete an – größer­ sind nur der Innen­ mefällen kann der Ausschuss sogar anstelle des ausschuss und der Ausschuss für Arbeit und Plenums die Rechte des Bundestages gegenüber Soziales mit jeweils 46 Mitgliedern sowie der Bundesregierung oder EU-Organen wahr- der Ausschuss für Wirtschaft und Energie mit nehmen. Darüber hinaus ist der Ausschuss 49 Mitgliedern. auch Integrationsausschuss, da er mit allen

Königsrecht: Der Haushaltsaus­ schuss berät darüber, wie viel Geld der Bund ausgibt und wofür.

41 Die zweite Aufgabe des Ausschusses ist die Prüfung aller Fälle, bei denen es um die Aufhe- Vorgängen befasst ist, die die Entwicklung der bung der Immunität von Bundestagsabgeordne- europäischen Integration betreffen. Dazu gehö- ten geht. Wenn im Rahmen von Ermittlungen ren beispielsweise institutionelle Reformen der Hausdurchsuchungen, Verhaftungen oder An- Europäischen Union ebenso wie deren Erweite- klageerhebungen geplant sind, muss der Aus- rung. Die Sonderstellung dieses Ausschusses schuss eine Beschlussvorlage für das Plenum lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass erarbeiten, bei dem die letzte Entscheidung in ihm neben seinen 39 Mitgliedern auch liegt. 16 deutsche Abgeordnete des Europäischen Die dritte, vielleicht sogar wichtigste Aufgabe Parlaments mit beratender Funktion mitwirken. des Ausschusses ist die Auslegung und mög­ Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität liche Änderung der Geschäftsordnung des und Geschäftsordnung befasst sich mit inneren ­Bundestages. Die Geschäftsordnung regelt die Angelegenheiten des Bundestages. Auch dieser ­Verfahren für die Arbeit des Plenums und der sogenannte 1. Ausschuss besitzt in verschiede- Ausschüsse; sie legt außerdem die Rechte und ner Hinsicht eine Sonderstellung. Er besteht Pflichten der Mitglieder und der Organe des aus zwei Ausschüssen, da mit ihm eng verbun- Bundestages fest. Natürlich kommt es bei den, aber getrennt tagend ein Wahlprüfungs- der alltäglichen Arbeit des Parlaments immer ausschuss arbeitet, dem auch Abgeordnete wieder zu Meinungsverschiedenheiten über ­angehören, die nicht zwingend Mitglied im die Frage, welche Vorschrift in der konkreten 1. Ausschuss sind. Dieser Ausschuss prüft Si­tuation angewendet werden soll und wie alle Einsprüche gegen Wahlen zum Bundestag sie ­interpretiert werden muss. Entsteht dieses und zum Europäischen Parlament in Deutsch- ­Problem während der Plenarversammlung, land, die jeder Wahlberechtigte innerhalb von ­entscheidet der sitzungsleitende Präsident. zwei Monaten nach dem Wahltag vorbringen Sollte es sich ergeben, dass das Problem nicht kann. Nach Abschluss der Prüfung legt der auf diesen Einzelfall beschränkt ist, wird der Wahlprüfungsausschuss dem Plenum eine 1. Ausschuss beraten und eine Auslegungs­ ­Beschlussempfehlung vor. entscheidung treffen, um eine verbindliche

Orte der parlamentarischen ­Fach­arbeit: Jeder Ausschuss tagt in ­einem Sitzungssaal im Paul-Löbe-Haus.

42 ­Lösung des Problems in der Zukunft zu ermög­ lichen. Darüber hinaus ist der Ausschuss für die Beratung von Anträgen zur Änderung der Geschäftsordnung und für die Beratung von Stellungnahmen von Fachausschüssen anfor- ­Gesetzentwürfen zuständig, die den Status, dern, wenn deren Fachgebiet betroffen ist. Er die Rechte und die Pflichten des Bundestages, kann von der Bundesregierung und den ihr seiner Mitglieder und seiner Organe betreffen. nachgeordneten Behörden mündliche oder Für Änderungen der Geschäftsordnung kann schriftliche Auskünfte, Einsicht in die Akten der 1. Ausschuss sogar, anders als alle anderen und Zutritt zu den Einrichtungen fordern. Ausschüsse, selbst initiativ werden und dem Er kann die Petenten selbst und Sachverstän­ Plenum Vorschläge unterbreiten, ohne damit dige anhören. Da den Petitionsausschuss beauftragt worden zu sein. in den letzten Jahren durchschnittlich rund Der Petitionsausschuss prüft alle Bitten und 16.000 Eingaben pro Jahr erreichen, bedarf es Beschwerden, mit denen sich nach Artikel 17 der Unterstützung durch einen Mitarbeiterstab: des Grundgesetzes „jedermann“ an die Volks- die Unterabteilung „Petitionen und Eingaben“ vertretung wenden kann. Diese Eingaben müs- bei der Verwaltung des Deutschen Bundestages, sen schriftlich erfolgen; seit 2005 gibt es die die rund 80 Mitarbeiter hat. Möglichkeit, Petitionen auf elektronischem Nach Abschluss der Prüfungen legt der Aus- Weg einzureichen. Bei Bitten handelt es sich schuss dem Bundestag Sammelübersichten mit in der Regel um Vorschläge für die Änderung Beschlussempfehlungen vor, die ohne Ausspra- von Gesetzen und Verordnungen oder für neue che bestätigt werden. In Einzelfällen kann je- Gesetze und Verordnungen, bei Beschwerden doch auf Antrag einer Fraktion eine Plenarde- um Klagen über angebliches Fehlverhalten ver- batte über eine einzelne Petition stattfinden. schiedener Verwaltungsstellen. Jeder Petent hat In dieser Situation wird die Rückbindung der das Recht auf eine schriftliche Antwort; anony- Gewählten an die Wähler, das Prinzip der re- me Eingaben werden nicht berücksichtigt. Zur präsentativen parlamentarischen Demokratie, Prüfung der Petitionen kann der Ausschuss in aller Deutlichkeit sichtbar.

43 lungen und Beschlüsse des Plenums vor, ar­ beiten also stets auf die endgültige Beschluss- „Vorbereitende Beschlussorgane fassung durch das Plenum hin und nehmen des Bundes­tages“: die Ausschüsse im damit zugleich einen Teil des Entscheidungs- ­Arbeitsparlament prozesses entlastend vorweg.“ Deshalb, so das Ver­fassungsgericht weiter, seien die Aus- Die Ausschüsse, die als ständige Ausschüsse schüsse „in die Repräsentation des Volkes für die gesamte Wahlperiode eingesetzt wer- durch das Parlament einbezogen“, und des­halb den, sind im Arbeitsparlament Bundestag die müsse grundsätzlich jeder Ausschuss „ein Zentren der parlamentarischen Arbeit. Hier ­verkleinertes Abbild des Plenums sein und in werden alle Vorlagen, die im Plenum einer seiner ­Zusammensetzung die Zusammenset- ­Entscheidung zugeführt werden sollen, nach zung des Plenums widerspiegeln“. Diesem fachlichen und politischen Gesichtspunkten ­Urteil entspricht die Tatsache, dass in den Aus- geprüft, beraten, bewertet und in den meisten schüssen alle Fraktionen vertreten sind, und Fällen modifiziert. Mit dem Ergebnis dieser Ar- zwar entsprechend ihrem Stärkeverhältnis im beit kann sich das Plenum abschließend befas- Plenum. sen. Die Geschäftsordnung fasst diesen Tatbe- Die Mitglieder der Ausschüsse werden von stand in der knappen Formulierung zusammen: den Fraktionen benannt. Eine Obfrau oder ein „Zur Vorbereitung der Verhandlungen setzt der Obmann fungiert jeweils als Sprecherin oder Bundestag ständige Ausschüsse ein.“ Die Funk- Sprecher der Fraktionsmitglieder im Aus- tion der Ausschüsse geht jedoch über diese schuss. ­Zuvor muss der Bundestag eine Ent- Vorarbeit hinaus, denn sie haben, wie die Ge- scheidung über die Zahl, die Benennung und schäftsordnung ebenfalls sagt, „als vorbereiten- die Größe der Ausschüsse getroffen haben. de Beschlussorgane des Bundestages (…) die Die Größe der Ausschüsse, die in der 19. Wahl- Pflicht, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse periode zwischen 14 und 49 Mitglieder haben, zu empfehlen“. Dass diese Beschlussempfeh- hängt zum einen von dem zu erwartenden lungen faktisch zumeist die Entscheidung des ­Arbeitsaufwand ab, zum anderen von dem Bundestages vorwegnehmen, verdankt sich der Grundsatz, dass ­jeder Bundestagsabgeordnete einfachen Tatsache, dass nur so die Aufgabe in mindestens ­einem Ausschuss Mitglied und der Ausschüsse, das Parlament durch Arbeits- in einem anderen stellvertretendes Mitglied teilung zu entlasten, erfüllt werden kann. Ein sein sollte. Ausgenommen davon sind Mitglie- Urteil des Bundesverfassungsgerichts fasst zu- der der Regierung und, zumindest in den großen sammen: „Die Ausschüsse bereiten Verhand- Fraktionen, Mitglieder der Fraktionsführung.

44 Geballtes Fachwissen: Die ­Ausschüsse tagen in der Regel nicht öffentlich.

45 Der Vorsitzende lädt zu den Sitzungen ein und Im Vorfeld der Benennung der Ausschussmit- legt die Tagesordnung fest; er wird dabei von glieder müssen in den Fraktionen Verhandlun- den Obleuten beraten und vom Ausschuss­ gen über die Verteilung der Ausschusssitze sekretariat unterstützt, dem mehrere Mitarbeiter stattfinden. Zwar kann jeder Abgeordnete seine der Bundestagsverwaltung angehören. Der Vor- Wünsche anmelden; in der Praxis jedoch können sitzende leitet die ­Sitzungen, die in Sitzungs- nicht alle Wünsche berücksichtigt werden, da wochen regel­mäßig am Mittwoch stattfinden; sie sich überschneiden. Wer zum Zug kommt, wenn der Ausschuss ein großes Arbeitspensum hängt dann von der Dauer der Zugehörigkeit zu bewältigen hat, können zusätzliche Sitzun- zum Parlament, von der Zugehörigkeit zu einem gen während der ­Sitzungswoche anberaumt bestimmten Landesverband, von der Stellung werden. Sitzungen, die parallel zu den Plenar- in der Fraktion, aber auch der Attraktivität des sitzungen stattfinden, müssen vom Präsidenten jeweiligen Ausschusses ab. genehmigt werden. Von dem Vorsitzenden wird Auch die Verteilung der Ausschussvorsitze er- eine ausgleichende und moderierende Leitung folgt nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. der ­Sitzungen erwartet. Die oder der Vorsitzende wird auf der konsti­ Jeder Ausschuss hat das Recht, Unterausschüsse tuierenden Sitzung des Ausschusses, die vom einzusetzen, die während der gesamten Wahl- Präsidenten oder einem der Vizepräsidenten periode mit einem Teilgebiet des Aufgaben­ geleitet wird, nach den Vereinbarungen im bereichs des Fachausschusses befasst sind. Ältestenrat bestimmt, der sich auf die interfrak- Die Sitzungen der Ausschüsse sind grundsätz- tionellen Verabredungen der Parlamentarischen lich nicht öffentlich. Zwar hat der Ausschuss Geschäftsführer stützt. Nach ungeschriebenem die Möglichkeit, zu bestimmten Verhandlungs- Parlamentsbrauch übernimmt ein Mitglied der gegenständen die Öffentlichkeit zuzulassen; stärksten Oppositionsfraktion den Vorsitz im ­öffentliche Sitzungen finden jedoch eher selten Haushaltsausschuss. Der stellvertretende Vor- statt. Seit 1995 sieht die Geschäftsordnung zur sitzende eines Ausschusses gehört in der Regel Entlastung des Plenums sogenannte erweiterte einer anderen Fraktion an als der Vorsitzende. öffentliche Ausschussberatungen vor.

Die Öffentlichkeit teilhaben lassen: Der Petitionsausschuss erörtert die ­Eingaben von Petenten regelmäßig auch in öffentlichen Sitzungen.

46 Damit bietet sich den Ausschüssen die Mög- lichkeit, durch die Beschaffung zusätzlicher ­Informationen und die Erschließung weiterer Themenfelder aus dem Zuständigkeitsbereich des zugehörigen Ministeriums selbst tätig zu werden. Allerdings haben sie nicht das Recht, Ein wichtiges Instrument zur Beteiligung der daraus Vorlagen oder gar Beschlussempfehlungen ­Öffentlichkeit sind öffentliche Anhörungen, die für das Plenum zu entwickeln. Für öffentliche jeder Ausschuss zu allen Themen durchführen Anhörungen, die im Rahmen der Selbstbefas- kann, mit denen er befasst ist. Bei diesen An­ sungskompetenz stattfinden, muss allerdings hörungen, die auch Hearings genannt werden, eine Mehrheit im Ausschuss gefunden werden. kommen eingeladene Sachverständige und In- Die Ausschüsse können regelmäßige mündliche teressenvertreter zu Wort. Sie dienen nicht nur und schriftliche Sachstandsberichte zu aktuel- dem Informations- und Beratungsbedürfnis der len Themen und zu längerfristigen Planungen Abgeordneten, da Anhörungen auch in nicht aus den Ministerien anfordern. Es steht ihnen öffentlicher Ausschusssitzung durchgeführt sogar, wie dem Plenum, das im Artikel 43 des werden können, sondern auch der Transparenz Grundgesetzes verankerte Zitierrecht zu, also der parlamentarischen Arbeit, da die Öffent- das Recht, „die Anwesenheit jedes Mitglieds lichkeit entweder persönlich oder aber vor al- der Bundesregierung“ zu verlangen. Dieses lem durch die Medienberichterstattung tiefere Recht spielt in der Praxis jedoch nur eine kleine Einblicke in die komplexen und konkurrieren- Rolle, da ohnehin Vertreter der Bundesregierung, den Interessen hinter politischen Programmen vor allem Parlamentarische Staatssekretäre­ und Projekten erhält. oder Staatssekretäre, andere Beamte der Ministe- Öffentliche Anhörungen werden nicht nur bei rien und Mitglieder des Bundesrats regelmäßig­ Gesetzentwürfen, sondern auch im Rahmen an den Ausschusssitzungen teilnehmen und der sogenannten Selbstbefassungskompetenz befragt werden können – dies umso mehr, als durchgeführt. Die Geschäftsordnung stellt es in Umkehrung des Zitierrechts „die Mitglieder den Ausschüssen frei, sich nicht nur mit Vorla- des Bundesrates und der Bundesregierung gen zu befassen, die vom Plenum zur Beratung sowie ihre Beauftragten“ zu allen Ausschuss­ überwiesen worden sind, sondern auch mit sitzungen Zutritt haben und „jederzeit gehört ­anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich. werden“ müssen.

47 Neben den ständigen Fachausschüssen setzt der Deutsche Bundestag bei Bedarf Sonderaus- schüsse, Kommissionen und andere Gremien ein, die zeitlich und sachlich begrenzte Auf­ gaben übertragen bekommen. Dazu gehören ­Enquetekommissionen und Untersuchungs­ ausschüsse, die eingesetzt werden müssen, wenn mindestens ein Viertel der Mitglieder des ­Bundestages die Einsetzung beantragt.

Erkenntnisse für die Zukunft gewinnen: die Aufgabe der Enquetekommissionen

Enquetekommissionen haben den Auftrag, um- fangreiche und komplexe Sachverhalte und Entwicklungen in Wirtschaft, Technik und Ge- sellschaft zu untersuchen, um gesetzgeberische Weichenstellungen auf ein breites und sicheres Fundament an Informationen stellen zu können. In der Regel handelt es sich um die Analyse und Interpretation langfristiger und folgen­

Konzepte und Kontrollen: Enquetekommissionen, ­Untersuchungsausschüsse, das Parlamentarische ­Kontrollgremium und der Wehrbeauftragte

48 reicher Entwicklungen, die der gesetzlichen ­Regelung und Steuerung bedürfen. Im Vorder- grund stehen neue Technologien und ihre ­ökonomischen, sozialen und ökologischen Den Enquetekommissionen stehen zur Erfül- ­Auswirkungen; als Beispiel sollen hier die lung ihres Auftrags eine Reihe von Instrumen- ­Enquetekommissionen „Chancen und Risiken ten zur Verfügung. Dazu gehören Gutachten der Gentechnologie“ in der 10. Wahlperiode und Studien, die bei weiteren Sachverständi- (1983 bis 1987) und „Wachstum, Wohlstand, gen und wissenschaftlichen Instituten in Auf- Lebensqualität“ in der 17. Wahlperiode (2009 trag gegeben werden, öffentliche Anhörungen bis 2013) genannt werden. Erforscht werden und Informationsreisen im In- und Ausland. aber auch langfristige strukturelle Veränderun- Um das oft sehr große Aufgabengebiet bewäl­ gen wie der demografische Wandel und seine tigen zu können, bilden die Kommissionen Folgen für Gesellschaft und Politik, der Gegen- in der Regel Arbeitsgruppen für Teilgebiete. stand von Enquetekommissionen in drei auf­ Unterstützt werden die Kommissionen durch einanderfolgenden Wahlperioden war. Sekretariate. Anders als die Ausschüsse des Bundestages Die Enquetekommissionen schließen ihre werden Enquetekommissionen paritätisch mit ­Arbeit mit der Vorlage eines Berichts ab, der ­Abgeordneten und externen Sachverständigen nicht nur eine Bestandsaufnahme umfasst, besetzt. Die Abgeordneten, die in der Kommis- ­sondern auch zukünftige Entwicklungsmög- sion mitarbeiten, werden von den Fraktionen lichkeiten skizziert, die mit Vorschlägen und benannt; jede Fraktion sollte mit mindestens Empfehlungen an den Gesetzgeber verbunden ­einem Mitglied vertreten sein. Die Sachverstän- sein sollten. Die Kommissionen sind gehalten, digen werden entsprechend der Stärkeverhält- ihre Berichte so rechtzeitig vorzulegen, dass nisse im Plenum ebenfalls von den Fraktionen noch vor Ende der Wahlperiode eine Aus- benannt. sprache im Plenum stattfinden kann.

Abgeordnete und Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis: Sitzung der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens­ qualität“ der 17. Wahlperiode.

49 In der 19. Wahlperiode soll beispielsweise ein Untersuchungsausschuss zum Terror­ anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin vom 19. Dezember 2016 den Anschlag und Fehlentwicklungen aufklären: seine Hintergründe aufklären und sich ein Untersuchungsausschüsse bei der Arbeit Gesamtbild vom Handeln der zuständigen Behörden verschaffen. Die Aufgabe von Untersuchungsausschüssen Untersuchungsausschüsse des Bundestages ist die Untersuchung und Aufklärung mögli- werden wie alle Ausschüsse von allen Frak­ cher Fehlentwicklungen und Missstände in tionen nach dem Verhältnis ihrer Stärke im ­Bereichen, die in die Verantwortung von Bun- ­Plenum besetzt. desregierung und Verwaltung, aber auch des Der Arbeit der Ausschüsse liegt das Unter­ Bundestages selbst fallen. Da Untersuchungs- suchungsausschussgesetz aus dem Jahr 2001 ausschüsse ein öffentlichkeitswirksames Mittel ­zugrunde, in dem vor allem das Verfahren der Kontrolle und Kritik an der Regierung sind, ­ausführlich geregelt ist. Im Untersuchungsver- werden Anträge auf die Einsetzung von Unter- fahren werden in öffentlicher Sitzung Zeugen suchungsausschüssen in weit überwiegender vernommen und Sachverständige gehört; Zahl von der Opposition gestellt. Diese Anträge Falschaussagen sind mit Strafe bedroht. Mit- können zumeist von den Mehrheitsfraktionen glieder der Bundesregierung können als Zeugen nicht überstimmt werden, da im Rahmen des geladen werden; die Bundesregierung ist ver- parlamentarischen Minderheitenschutzes, der pflichtet, den Beamten und Angestellten der in diesem Fall durch den Artikel 44 des Grund- Ministerien bei Ladung durch den Untersu- gesetzes in der Verfassung verankert ist, ein chungsausschuss eine Aussage­genehmigung ­Untersuchungsausschuss eingesetzt werden zu erteilen. Darüber hinaus muss der Aus- muss, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bun- schuss die Möglichkeit haben, Akten, die für destages den Antrag stellt. den Untersuchungsgegenstand einschlägig

Mögliche Missstände und Fehl­ entwicklungen aufklären: konstituie- rende Sitzung­ des 1. Untersuchungs- ausschusses der 19. Wahl­pe­riode zum Thema „Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin“.

50 Nachrichtendienste im Blick: das Parlamentarische Kontrollgremium

Das Parlamentarische Kontrollgremium hat die Aufgabe, die Tätigkeit der drei Nachrichten- dienste – Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Ab- schirmdienst – zu kontrollieren. Dem Gremium, sind, anzufordern oder vor Ort einzusehen. das durch die Aufnahme des Artikels 45 d in Die Untersuchungsausschüsse schließen ihre das Grundgesetz seit 2009 Verfassungsrang hat, Arbeit mit einem Bericht an das Plenum ab. gehören zurzeit neun Abgeordnete an. Die Mit- Der Bericht muss, so sagt es das Untersuchungs- glieder des Gremiums werden zu Beginn der ausschussgesetz, „den Gang des Verfahrens, Wahlperiode vom Bundestag mit absoluter die ­ermittelten Tatsachen und das Ergebnis Mehrheit gewählt. Um die strukturelle Kontrol- der ­Untersuchung“ wiedergeben. „Kommt der le der Nachrichtendienste des Bundes durch Untersuchungsausschuss nicht zu einem einver- das Parlamentarische Kontrollgremium zu ver- nehmlichen Bericht, sind Sondervoten in den breitern, wurde außerdem das Amt eines Stän- Bericht aufzunehmen.“ Da Untersuchungsaus- digen Bevollmächtigten des Parlamentarischen schüsse wichtige Instrumente der Regierungs- Kontrollgremiums geschaffen, der erstmalig kritik durch die Opposition sind, kommt es in 2017 ernannt wurde. Seine Amtszeit beträgt den meisten Fällen zu solchen Sondervoten, fünf Jahre und kann einmalig um weitere fünf da Mehrheitsfraktionen und Oppositionsfrak­ Jahre verlängert werden. tionen im Ausschuss den untersuchten Sach- Die Bundesregierung ist nach dem Kontroll­ verhalt abschließend verschieden bewerten. gremiumsgesetz verpflichtet, das Gremium Manchmal werden im abschließenden Bericht ­umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Vorschläge gemacht, wie Defizite, die zu den Nachrichtendienste und über Vorgänge von be- beanstandeten Sachverhalten geführt oder bei- sonderer Bedeutung zu unterrichten. Das Gre- getragen haben, in Zukunft beseitigt werden mium kann von der Bundesregierung und von können; gelegentlich werden solche Vorschläge den Nachrichtendiensten die Herausgabe von bereits im Untersuchungsauftrag ausdrücklich Akten und gespeicherten Dateien fordern; seine gefordert. Mitglieder haben Zutritt zu allen Dienststellen

51 Anwalt der Soldaten und Hilfsorgan des ­Parlaments: der Wehrbeauftragte der Geheimdienste und können deren Mitarbei- ter befragen. Im Einzelfall kann das Gremium Der Wehrbeauftragte hat als „Anwalt der Sol­ nach Anhörung der Bundesregierung mit der daten“ den Auftrag, möglichen Verletzungen Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder der Grundrechte von Soldaten oder Verletzun- einen Sachverständigen damit beauftragen, gen der Grundsätze der Inneren Führung der ­besondere Untersuchungen durchzuführen. Bundeswehr nachzugehen. Er kann zur Erfül- Das Parlamentarische Kontrollgremium betei- lung dieses Auftrags nach eigenem Ermessen ligt sich auch an der alljährlichen Beratung selbstständig tätig werden, wenn ihm solche der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste. Verletzungen bekannt werden. Zu den Infor­ Das Kontrollgremium, das regulär vierteljähr- mationsinstrumenten, die ihm dafür zur Ver­ lich, tatsächlich aber häufiger tagt, erstattet fügung stehen, gehören unangemeldete Trup- dem Bundestag in der Mitte und am Ende der penbesuche, bei denen auch Gespräche mit Wahlperiode einen Bericht. Es bestellt eine Soldaten geführt werden. Er kann vom Bundes- Kommission, die Beschränkungen des Brief-, verteidigungsministerium und allen diesem Post- und Fernmeldegeheimnisses kontrolliert. Ministerium ­unterstehenden Dienststellen und Diese Kommission wird nach Artikel 10 des Personen Akteneinsicht und Auskunft fordern. Grundgesetzes als G-10-Kommission bezeich- Im Zentrum stehen jedoch Eingaben der Sol­ net. Im Artikel 10 ist nicht nur das Postgeheim- daten, die das Recht haben, „sich einzeln ohne nis garantiert, sondern auch festgelegt, dass Einhaltung des Dienstwegs unmittelbar an die Überprüfung von Beschränkungen durch den Wehrbeauftragten zu wenden“. Jährlich ein vom Parlament eingesetztes Gremium zu ­erreichen ihn und seine Dienststelle, die bei ­erfolgen hat. Dieser Kommission, die vier der Bundestagsverwaltung angesiedelt ist und ­Mitglieder hat, die nicht alle dem Parlament rund 50 Mitarbeiter hat, zwischen 5.000 und an­gehören, müssen monatlich alle geplanten 6.000 Beschwerden. Er hat aufgrund solcher Überwachungen zur Prüfung und Genehmi- Eingaben das Recht, Zeugen und Sachverstän- gung vorgelegt werden. dige zu ­befragen.

Anwalt der Soldaten: Der Wehr­ beauf­tragte Hans-Peter Bartels (SPD) kümmert sich um die Belange der Soldaten.

52 Der Wehrbeauftragte ist natürlich kein Aus- schuss und keine Kommission. Er übt sein Amt allerdings in enger Verbindung mit dem Vertei- Ausgenommen davon sind Vorgänge, die der digungsausschuss aus und hat in Bezug auf die Verteidigungsausschuss selbst zum Gegenstand Eingaben von Soldaten, die ihn erreichen, die- der Beratung gemacht hat. Der Verteidigungs- selben Befugnisse wie der Petitionsausschuss. ausschuss nämlich hat im Unterschied zu Der Wehrbeauftragte ist ein „Hilfsorgan des allen anderen Ausschüssen das im Grundgesetz Bundestages bei der parlamentarischen Kon­ garantierte Recht und auf Antrag eines Viertels trolle“ der Bundeswehr. Das Amt wurde 1956 seiner Mitglieder die Pflicht, sich selbst als im Artikel 45 b des Grundgesetzes mit Verfas- ­Untersuchungsausschuss für alle Angelegen- sungsrang ausgestattet. Der Wehrbeauftragte heiten einzusetzen, die in sein Fachgebiet wird für jeweils fünf Jahre vom Deutschen ­fallen. Bundestag mit absoluter Mehrheit gewählt; die Der Wehrbeauftragte kann bei gravierenden Wahl ist geheim. Alle bisherigen Amtsinhaber, Vorkommnissen dem Bundestag oder dem Ver- mit Ausnahme des ersten, waren zum Zeit- teidigungsausschuss jederzeit einen Bericht punkt ihrer Wahl Abgeordnete des Bundes­ vorlegen. Den Jahresbericht über seine Tätigkeit tages; sie gaben mit der Wahl ihr Mandat zu- für den Bundestag überweist der Bundestags- rück, da der Wehrbeauftragte kein weiteres präsident an den Verteidigungsausschuss, der Amt ausüben darf. darüber berät und im Plenum berichtet. An Im Übrigen handelt der Wehrbeauftragte, wenn ­diesen Bericht schließt sich in der Regel eine ihn der Bundestag oder der Verteidigungsaus- Plenardebatte an, bei der sowohl der Wehrbe- schuss mit der Prüfung von Vorgängen beauf- auftragte als auch die Bundesverteidigungs­ tragt, die zu seinem Aufgabengebiet gehören. ministerin zu Wort kommen.

53 Im Arbeitsparlament Deutscher Bundestag liegt der Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit in den Fraktionen und Ausschüssen. Aber wenn diese Arbeit getan ist, müssen Ent- scheidungen getroffen werden – und die trifft das Plenum, die Vollversammlung der Mitglie- der des Deutschen Bundestages. Ob die Bun- deskanzlerin oder der Bundeskanzler gewählt wird, ob ein Misstrauensantrag angenommen oder abgelehnt wird, ob ein Gesetzentwurf ver- abschiedet wird oder nicht: Immer entscheidet das Plenum des Bundestages. Das Plenum ist, so der ehemalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU/CSU), „der sichtbare Kern des parlamen­tarischen Wirkens“. Die Plenarsitzungen finden in den 20 bis 23 jähr- lichen Sitzungswochen statt, die jeweils im Vorjahr geplant und vom Ältestenrat vereinbart werden. Angestrebt wird, dass auf zwei Sitzungs- wochen zwei sitzungsfreie Wochen ­folgen; Feiertage, Ferientermine, aber auch wichtige politische Ereignisse tragen allerdings dazu bei, dass es während des Jahres wiederholt zu Ab- weichungen von diesem Rhythmus kommt.

„Der sichtbare Kern des parlamentarischen Wirkens“: das Plenum

54 In den Sitzungswochen arbeiten die Abgeord- neten von Montag bis Mittwoch in den Frak­ tionen und Ausschüssen; die Plenarsitzungen Der amtierende Präsident kann seit Anfang der finden am Mittwoch ab 13 Uhr, den ganzen 1990er-Jahre Abgeordneten das Wort für eine Donnerstag und am Freitag bis in den frühen Kurzintervention erteilen. Zu diesen Interven­ Nachmittag statt. Die bis zu 250 Plenarsitzun- tionen, die auf drei Minuten begrenzt sind, gen pro Wahlperiode dauern im Durchschnitt melden sich die Redner meist über eines der jeweils siebeneinhalb Stunden; dabei muss Saalmikrofone zu Wort. Der Redner, auf dessen ­berücksichtigt werden, dass die Sitzungen am Beitrag sich die Intervention bezieht, hat die Donnerstag oft erst nach mehr als zwölf Stun- Möglichkeit, darauf zu antworten, wofür ihm den am späten Abend enden. ebenfalls drei Minuten zur Verfügung stehen. Angesichts der Fülle der Beratungsgegenstände, Diese Kurzinterventionen können auch während die in jeder Sitzung behandelt werden müssen, des Beitrags als Zwischenbemerkung erfolgen; können die Aussprachen nicht beliebig lange der betroffene Redner muss dann allerdings dauern. Der Ältestenrat vereinbart deshalb bei ­zustimmen. der Planung der Tagesordnung für jeden Tages- Um das öffentliche Interesse an Plenardebatten ordnungspunkt, zu dem eine Aussprache vor- zu wichtigen Themen zu erhöhen, wurde 1995 gesehen ist, die Dauer der Aussprache. Dabei eine Plenarkernzeit eingeführt. In dieser Kern- wird die zur Verfügung stehende Zeit nach zeit, die meist donnerstags um 9 Uhr beginnt ­ihrer jeweiligen Stärke auf die Fraktionen ver- und bis 13 oder 14 Uhr dauern kann, werden­ teilt. zentrale Themen behandelt, die in der Öffent- Wer und wie lange innerhalb dieses Rahmens lichkeit auf besonderes Interesse stoßen. Dazu für die Fraktion spricht, teilen die Parlamenta- gehören Regierungserklärungen ebenso wie Aus- rischen Geschäftsführer der Fraktionen­ dem landseinsätze der Bundeswehr, aber auch die Präsidenten mit. Redebeiträge von Mitgliedern Abschlussberichte von Enquetekommissionen der Bundesregierung und des Bundesrats wer- oder das Jahresgutachten des Sachverständigen- den auf das Redekontingent der jeweiligen rats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Fraktion angerechnet. Dem amtierenden Präsi- Entwicklung („Wirtschaftsweisen“). Während denten obliegt es, im Rahmen der Vereinbarun- der Kernzeitdebatten, die unter anderem im gen des Ältestenrats die Reihenfolge der Red- Nachrichtenkanal „Phoenix“ übertragen werden, ner zu bestimmen. finden keine ­Sitzungen anderer Gremien statt.

Rede und Gegenrede: Die Rede­ zeiten der Fraktionen in einer ­Debatte sind genau festgelegt; hier die Vorsitzende der ­Fraktion ­Bündnis 90 / Die Grünen, Katrin ­Göring-Eckardt.

55 Besondere Bedeutung haben die sogenannten großen Debatten. Das ist keine festgelegte De- Kommunikationsfunktion des Plenums: battenform, sondern so werden vor allem die die Debatte Aussprachen bezeichnet, die sich an Regie- rungserklärungen anschließen, besonders einer Die wichtigste Aufgabe des Bundestages ist neu ins Amt gewählten Regierung. Diese Aus- ohne Zweifel die Gesetzgebung. Es wäre aber sprachen nach der Regierungsbildung, deren falsch, mit der Bezeichnung Legislative den zeitlicher Rahmen auf mehrere Tage ausgedehnt Bundestag auf diese Aufgabe zu reduzieren. wird, bieten Regierung, Regierungsfraktionen Er ist die gesetzgebende, also legislative Körper- und Opposition Gelegenheit, grundsätzliche schaft; er ist aber auch noch mehr. Der Bundes- und programmatische Positionen zur Zukunfts- tag, insbesondere die Plenarversammlung, ist gestaltung kontrovers zu diskutieren. Zu diesen der Ort, an dem die Fraktionen, die Regierung großen Debatten gehören aber auch die eben- und die Opposition öffentlich ihre politischen falls mehrtägigen Haushaltsberatungen, da die Ziele und Konzepte vortragen. Die Beiträge zur Zuweisung von Haushaltsmitteln nicht nur Aussprache sind weniger an die Kolleginnen ­finanzielle, sondern auch große politische Be- und Kollegen im Parlament gerichtet. Sie rich- deutung hat: Kürzungen oder Mehrzuweisungen ten sich vielmehr an die demokratische Öffent- im Bildungsetat liegen andere Zukunftsstrate­ ­ lichkeit, an die Wählerinnen und Wähler, die gien zugrunde als im Sozialetat oder im Haus- sich so ein genaueres und besseres Bild der halt der Bundeswehr. Zur großen Debatte wer- ­politischen Absichten und Ziele der Parteien den gelegentlich sogar die Aussprachen zur machen können, von denen sie im Parlament zweiten Lesung im Gesetzgebungsverfahren, vertreten werden. Sie sind Teil dessen, was als insbesondere wenn es sich um Gesetze handelt, die Kommunikationsfunktion des Bundestages die erhebliche Veränderungen nach sich ziehen bezeichnet wird. und die politisch besonders umstritten sind.

56 Öffentlich und transparent: ­Besucher und Medien­vertreter ­verfolgen die Debatten des Bundestages auf den Tribünen des ­Plenarsaals.

57 Kontrollfunktion des Plenums: Fragestunde, Aktuelle Stunde und Große Anfrage

Das Plenum des Deutschen Bundestages hat aber auch eine Kontrollfunktion. Natürlich ­findet die Kontrolle der Regierung in großem Umfang in den Ausschüssen statt, wo Mitglieder der Regierung zu vorliegenden Gesetzentwürfen Große Debatten waren und sind aber ohne befragt und wo mündliche oder schriftliche Zweifel auch solche, bei denen die Fraktionen Sachstandsberichte aus den Ressorts angefordert ihren Mitgliedern die Abstimmung freistellen. ­werden können. Die Kontrolle in den Plenar­ Bei diesen Debatten sind die Beiträge nicht sitzungen jedoch ist öffentliche Kontrolle. nur an die Öffentlichkeit, sondern auch an Hier können die Vertreter der Opposition ihre die Kolleginnen und Kollegen gerichtet, von kritischen Fragen zu Plänen und Maßnahmen denen sich viele erst während der Debatte von der Regierung stellen; Vertreter der Regierung dem ­einen oder anderen Beitrag überzeugen oder der Regierungsfraktionen geben Antwort. und in ihrem Abstimmungsverhalten leiten Den Wählerinnen und Wählern erschließt sich ­lassen. ­Genannt werden sollen hier nur die so, welche wichtige Funktion Koalition und ­De­batte über die Verlängerung der Verjährungs- Opposition für ein demokratisches Gemein­ frist von natio­nalsozialistischen Verbrechen im wesen haben. Jahr 1965 und die Debatte über die Verlegung Welche Bedeutung die Kontrollfunktion des des Parlaments- und Regierungssitzes der Bun- Plenums hat, wird an der Tatsache sichtbar, desrepublik Deutschland von Bonn nach Berlin dass die Befragung der Bundesregierung den im Jahr 1991. Bei diesen Debatten wurde bisher Auftakt der Plenarversammlungen in der nur eine kurze Zeit der Schlüssel zur Vertei- ­Sitzungswoche bildet. Jeweils am Mittwoch lung der Redezeit nach Fraktionsstärke ange- zwischen 13 und 13.35 Uhr berichtet zunächst wendet; im Anschluss daran konnten sich die ein Mitglied der Bundesregierung kurz über Abgeordneten in Fünf-Minuten-Beiträgen zu ein Thema der am Vormittag vorausgegangenen Wort melden, und zwar unabhängig von der Kabinettssitzung; anschließend können Fragen Fraktionszuge­hörigkeit. Die Reihenfolge dieser zu diesem Bericht, zu weiteren Themen der Kurzbeiträge folgte dem Prinzip von Rede und ­Kabinettssitzung, aber auch darüber hinaus Gegenrede. ­gestellt werden.

Lebendige Debatte: Zu den Frage- rechten im parlamentarischen Dialog gehört auch die Zwischenfrage, die im Jahr 1953 nach britischem Vorbild eingeführt wurde, hier ge- stellt von Alexander Müller (FDP).

58 Im Anschluss daran findet von 13.35 bis 15.35 Uhr die Fragestunde statt. Jeder Abge­ Seit 1980 gibt es die viel stärker genutzte ordnete hat das Recht, pro Fragestunde zwei ­Möglichkeit, eine Aktuelle Stunde völlig un­ Fragen zu stellen, die mündlich beantwortet abhängig von Fragestunden durchzuführen, werden müssen. Um den Regierungsvertretern und zwar entweder, wenn sie im Ältestenrat Gelegenheit zur Vorbereitung der Antwort zu vereinbart wurde oder wenn eine Fraktion oder geben, müssen diese Fragen bis spätestens fünf Prozent der Abgeordneten sie verlangt. 10 Uhr am Freitag vor der Sitzungswoche Das Spektrum der Themen ist breit. Zumeist­ beim Parlamentssekretariat eingereicht werden. werden aktuelle Vorfälle oder brisante Entwick- Nach der Antwort während der Fragestunde, lungen im In- und Ausland aufgegriffen, die die regelmäßig durch einen Parlamentarischen in der Öffentlichkeit ein breites Echo finden. Staatssekretär erfolgt, kann der Fragesteller So wurden Aktuelle Stunden über den Plan zwei Zusatzfragen und jeder weitere Abgeord- zur Einführung einer Pkw-Maut und über den nete eine Frage stellen. Darüber hinaus kann Missbrauch von Leiharbeit, zum geplanten ­jeder Abgeordnete bis zu vier Fragen­ monatlich Geheimdienst­abkommen mit den USA und schriftlich stellen, die nur schriftlich beant­ zur aktuellen Lage in Krisengebieten wie bei- wortet werden; Fragen und Antworten werden spielsweise in Mali durchgeführt. allerdings wöchentlich in einer Bundestags­ Das wichtigste Instrument der öffentlichen druck­sache veröffentlicht. ­parlamentarischen Regierungskontrolle ist Seit 1965 besteht die Möglichkeit, eine Aktuelle ­neben einem Untersuchungsausschuss die Stunde zu verlangen, wenn eine Antwort der ­Große Anfrage, die von einer Fraktion an die Bundesregierung in der Fragestunde zu weit Bundesregierung gestellt werden kann. Die von den Erwartungen des Fragestellers entfernt ­Anfrage sollte nach spätestens drei Wochen war. Die Forderung muss allerdings von einer schriftlich beantwortet werden. Lehnt die Bun- Fraktion oder von fünf Prozent der Mitglieder desregierung die Antwort überhaupt oder inner- des Bundestages erhoben werden, und zwar halb der Drei-Wochen-Frist ab, hat die frage- spätestens nach Abschluss der Fragestunde. stellende Fraktion das Recht, die Anfrage zur Die Aktuelle Stunde schließt sich sofort an. Beratung auf die ­Tagesordnung des Plenums Dieses Debattenformat weist zwei Besonderhei- setzen zu lassen. Große Anfragen betreffen in der ten auf: Die Aktuelle Stunde ist tatsächlich auf Regel politisch bedeutende Themenkomplexe eine Stunde begrenzt, und für jeden Redebei- und ganze Politikfelder wie Umweltpolitik, trag ­stehen nur fünf Minuten zur Verfügung. ­Bildungspolitik und Wirtschaftspolitik. Etwa

59 80 Prozent der Anfragen werden von Opposi­ tionsfraktionen gestellt, denen es darauf an- kommen muss, möglichst ins Einzelne gehende sogenannten Hammelsprung. Alle Abgeordne­ ­ Auskünfte der Regierung über deren Gesamt- ten verlassen den Plenarsaal. Auf ein Zeichen konzepte und politische Zielvorstellungen des Präsidenten betreten sie den Saal wieder,­ auf dem infrage stehenden Politikfeld zu be- und zwar durch eine von drei Türen. Die Ab­ge­ kommen, die im Verlauf der Debatte öffentlich- ordneten, die mit Ja stimmen möchten, kommen keitswirksam kritisiert werden können. Gele- durch die mit „Ja“ gekennzeichnete Tür, die gentlich werden solche Großen Anfragen, von Abgeordneten, die mit Nein stimmen­ wollen, denen in der 18. Wahlperiode insgesamt 15 (und durch die „Nein“-Tür und die Abgeordneten,­ die die allesamt von den Oppositionsfraktionen) sich enthalten wollen, durch die „Enthaltung“- ­gestellt worden waren, zu „großen Debatten“. Tür. An jeder Tür ­stehen zwei Schriftführer, die die Eintretenden zählen. Auf Verlangen einer Fraktion muss eine na- Zum Schluss: die Abstimmung mentliche Abstimmung durchgeführt werden. Dabei werfen die Abgeordneten eine von drei Am Ende vieler Tagesordnungspunkte der Ple- verschiedenfarbigen Stimmkarten, auf denen narsitzung steht die Abstimmung: Der amtieren- der Name und die Fraktion des Abgeordneten de Präsident formuliert den Beschluss, über den stehen, in eine Urne vor dem Tisch der Steno- zu befinden ist, und bittet um das Handzeichen. grafen. Die Stimmkarten werden von den Bei der Schlussabstimmung zu Gesetzentwürfen Schriftführern gezählt; die Liste der Namen am Ende der dritten Lesung erfolgt die Abstim- wird in den Sitzungsberichten gedruckt und mung durch Aufstehen. Ist sich der Sitzungs- auf der Internetseite des Bundestages veröffent- vorstand, der aus dem amtierenden Präsidenten licht. Namentliche Abstimmungen werden in und den beiden Schriftführern ­besteht, über die der Regel bei politisch bedeutenden Abstim- Mehrheitsverhältnisse einig, verkündet der Prä- mungen verlangt; ihre Zahl liegt bei mehr als sident das Ergebnis sofort. Widerspricht jedoch 100 pro Wahlperiode. einer der Schriftführer, weil er kein eindeutiges Geheime Wahlen gibt es nur, wenn Personen Ergebnis feststellen kann, müssen nach einer in Ämter gewählt werden, beispielsweise der ebenfalls ergebnis­losen Gegenprobe die Stim- Wehrbeauftragte, der Bundestagspräsident, men gezählt werden. die Vizepräsidenten und die Bundeskanzlerin In diesem Fall erfolgt die Zählung durch den oder der Bundeskanzler.

60 Ja, Nein, Enthaltung: Der Hammel- sprung ist eine besondere Form der ­Abstimmung.

61 Das Grundgesetz sagt im ersten Satz des Arti- kels 77: „Die Bundesgesetze werden vom Bun- destage beschlossen.“ Bevor der Bundestag jedoch ein Gesetz verabschieden kann, muss ihm ein Gesetzentwurf zur Beratung vorgelegt werden. Das Recht, dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorzulegen, das Recht der Gesetzesinitiative, ist im Grundgesetz ebenfalls klar geregelt. „Gesetzes- vorlagen“, heißt es im Artikel 76, „werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundes- rat eingebracht.“ Die Bundesregierung spielt bei der Einbringung von Gesetzentwürfen die Hauptrolle; mehr als die Hälfte aller Gesetzesvorhaben, die beim Bundestag eingebracht werden, stammt von ihr. Diese Tatsache mag dazu beitragen, dass man manchmal in den Nachrichten liest oder hört, die Bundesregierung habe ein Gesetz beschlos- sen. Gemeint ist natürlich, dass sie dem Bun- destag einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, den dieser dann behandelt. Denn die Bundesgesetze werden vom Bundestag beschlossen. Allerdings wirken die Länder über den Bundes- rat an der Gesetzgebung mit. Dieses Mitwir- kungsrecht hat einen guten Grund: Nach der Teilung der Aufgaben zwischen Bund und Län- dern, wie sie im Grundgesetz verankert ist, liegt die Verwaltungskompetenz fast ausschließlich bei den Ländern, die mit ihren Behörden den

„Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen“: Gesetzgebung und Gesetzgebungsverfahren

62 weit überwiegenden Teil der Bundesgesetze ausführen. Damit sind Verpflichtungen und Wird ein Gesetz aus der Mitte des Bundestages ­Belastungen verbunden, die ein Mitsprache- eingebracht, behandelt es der Bundestag zu- recht der Länder bei der Gesetzgebung des nächst selbst, ohne die Bundesregierung oder ­Bundes nahelegen. Der Bundestag muss des- den Bundesrat einzuschalten. Dieses Allein­ halb alle Gesetze nach ihrer Verabschiedung stellungsmerkmal des Bundestages im Rahmen dem Bundesrat zuleiten, der sich mit dem der Gesetzesinitiative macht trotz der starken ­Gesetz einverstanden erklären, aber auch sein Stellung der Bundesregierung und trotz der Veto einlegen kann. Mitwirkungsrechte des Bundesrats noch einmal Um die mit einem Veto verbundenen Reibungs- deutlich, dass der Bundestag in der Gesetzge- verluste und Verzögerungen bereits im Vorfeld bung das „Letztentscheidungsrecht“ hat. Zwar so weit wie möglich zu reduzieren, wird die kommt ein Gesetz, das vom Bundestag be- Ländervertretung in die Gesetzesinitiative der schlossen wurde, nur zustande, wenn andere Bundesregierung einbezogen, die alle Gesetz- oberste Verfassungsorgane kooperieren; ohne entwürfe vor der Einbringung beim Bundestag den Bundestag jedoch kann kein Verfassungs­ dem Bundesrat zuleiten muss. Nach der Prü- organ gesetzgebend tätig werden. fung durch die Ausschüsse des Bundesrats und dem Beschluss des Bundesratsplenums geht der Entwurf in der Regel innerhalb einer Frist Die Entstehung des Gesetzentwurfs von sechs Wochen mit einer Stellungnahme an die Bundesregierung, die ihn mit dieser Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung wer- Stellungnahme und einer möglichen eigenen den in den Bundesministerien ausgearbeitet; Gegenäußerung dazu an den Bundestag weiter- für die Ausarbeitung ist jeweils das Ministeri- gibt. Der Bundesrat macht von seiner Möglich- um zuständig, zu dessen Aufgabengebiet der keit, Änderungsvorschläge zu dem Gesetz­ent­ Bereich von Staat und Gesellschaft gehört, in wurf der Bundesregierung vorzutragen, sehr dem gesetzlicher Regelungsbedarf besteht. Die häufig Gebrauch. Umgekehrt muss der Bundes- Gliederung jedes Ministeriums in Abteilungen, rat, wenn er sein Recht zur Gesetzesinitiative Unterabteilungen und Referate sorgt für eine wahrnimmt, den Entwurf zuerst der Bundes­ Arbeitsteilung, die gewährleistet, dass für jeden regierung zuleiten, die ihn prüft und in der Teilbereich des Aufgabengebiets die Mitarbeiter ­Regel mit einer Stellungnahme dem Bundestag mit der entsprechenden Fachkompetenz und vorlegt. dem notwendigen Detailwissen optimal tätig

Vom Entwurf zum Gesetz: Gesetz­ ent­würfe können nur die Bundes­ regierung, der Bundesrat oder ­Fraktionen und ­Abgeordnete in ­Fraktions­stärke ­einbring­en.

63 die politische Leitung des Ministeriums so­ genannte Eckpunkte fest, innerhalb derer sich werden können. Die grundlegende Arbeit an der Referent bei der Erarbeitung des Entwurfs Gesetzentwürfen leisten die Referenten, die bewegt. Während dieser Arbeit ergibt sich er- Mitarbeiter in den Referaten, die von Politik- heblicher Informations-, Koordinierungs- und wissenschaftlern als „spezialisierte Basisein- Abstimmungsbedarf sowohl innerhalb des heiten“ bezeichnet werden. ­Ministeriums mit anderen Referaten und Ab­ Es gibt ein breites Spektrum von Anlässen und teilungen als auch mit anderen Ministerien, Gründen, die Arbeit an einem Gesetzentwurf ­deren Geschäftsbereiche vom geplanten Gesetz in Angriff zu nehmen. An erster Stelle stehen berührt werden. Regen Informationsaustausch politische Gründe, etwa die Umsetzung von Ziel- gibt es auch mit den entsprechenden Ministe­ vorgaben des Regierungsprogramms. Anregun- rien der Länder. gen und Empfehlungen, Wünsche, Vorschläge Spätestens nach Anfertigung eines Vorentwurfs und Forderungen können aber auch von dritter werden Fachkreise und Verbände, die die Inte­ Seite kommen, von Wirtschaftsverbänden und ressen von Bevölkerungsgruppen vertreten, die Gewerkschaften, von Kirchen, Wohlfahrtsver- von dem geplanten Gesetz betroffen sein wer- bänden und gemeinnützigen Vereinen, von den, über den Gesetzentwurf unterrichtet. Die Bürgerinitiativen, den Medien und aus wissen- Verbände werden versuchen, die weitere Arbeit schaftlichen Fachkreisen. Höchstrichterliche an dem Gesetzentwurf im Sinne der von ihnen Entscheidungen etwa des Bundesverfassungs- vertretenen Interessengruppen zu beeinflussen; gerichts können ebenso Anlass zur Erarbeitung das ist legitim, kann aber auch bedeuten, dass eines Gesetzentwurfs sein wie Vorgaben der sich für andere Interessengruppen, die von dem Europäischen Union. In jedem Fall erfordern Gesetz ebenfalls betroffen sein werden, Nach- Entwicklungen in Wirtschaft, Technologie und teile ergeben. Man kann jedoch davon ausgehen, Gesellschaft die kontinuierliche Anpassung dass die an der Gesetzgebung beteiligten Ak­ ­bereits bestehender gesetzlicher Regelungen teure in Politik und Verwaltung die Interessen an die veränderte Wirklichkeit. aller Betroffenen abwägen und ausgleichend Der Ministerialreferent beginnt mit der Arbeit berücksichtigen werden. Auf die Beteiligung der am Gesetzentwurf, wenn der Auftrag oder das Interessenverbände kann man nicht verzichten, Einverständnis der Leitung des Ministeriums da die Sachkenntnis der Verbandsvertreter vorliegt, die verpflichtet ist, das Bundeskanz- wertvolle, für die Ausarbeitung des Gesetzent- leramt über das Vorhaben zu benachrichtigen wurfs wichtige Informationen zur Verfügung und laufend zu informieren. In der Regel legt stellen kann.

Blick auf die Regierungsbank: Mehr als die Hälfte aller Gesetzes­vorlagen werden von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht.

64 Auf jeden Fall wird der Entwurf den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und den Unabhängig von diesen Kommunikations- Vertretungen der Länder beim Bund zugeleitet. und Konsultationsprozessen, von dieser Suche Dadurch können einerseits die Bedenken und nach Kompromiss und Konsens, müssen vor Vorschläge der Länder bei der Erstellung des Abschluss des Referentenentwurfs einige endgültigen Referentenentwurfs berücksichtigt Pflichtprüfungen vorgenommen werden. Das werden; andererseits können die Länder und Bundesministerium der Justiz prüft die Rechts- damit natürlich auch der Bundesrat bereits förmlichkeit des Entwurfs und, zusammen mit ­geraume Zeit vor der Zuleitung der Gesetzes- dem Bundesministerium des Innern, dessen vorlage durch die Bundesregierung mit der Vereinbarkeit mit der Rechtsordnung der Bun- ­Prüfung des Vorhabens beginnen. desrepublik Deutschland und mit dem Grundge- Diese Möglichkeit besteht auch für die Frak­ setz. Das Bundesministerium der Finanzen wird tionen des Bundestages, da die Entwürfe den eingeschaltet, wenn Einnahmen oder Ausgaben Geschäftsstellen der Fraktionen und auf Wunsch des Bundes, der Länder oder der Kommunen auch Mitgliedern des Bundestages zur Verfü- berührt sind; seit 2006 prüft der Nationale Nor- gung gestellt werden. Die Arbeitsgruppen der menkontrollrat, ein Gremium mit zehn ehren- Fraktionen, die mit dem Politikfeld befasst amtlichen Mitgliedern aus Wissenschaft und sind, auf das sich der Entwurf bezieht, können Wirtschaft, Politik und Verwaltung, den Auf- sich also frühzeitig auf die Einbringung der Ge- wand und die Folgekosten, die das geplante setzesvorlage vorbereiten und gegebenenfalls Gesetz für die Bürger, die Wirtschaft und die über die Ausschüsse Bedenken geltend machen Verwaltung mit sich bringen wird. Kontinuier- und Änderungswünsche formulieren. Das gilt lich beteiligt ist außerdem der beim Bundestag besonders für die Regierungsfraktionen, an ­angesiedelte Redaktionsstab der Gesellschaft ­deren Arbeitsgruppensitzungen die jeweiligen für deutsche Sprache, der Empfehlungen zur Parlamentarischen Staatssekretäre, meist meh- sprachlichen Richtigkeit und Verständlichkeit rere Ministerialbeamte und gelegentlich auch des Entwurfs gibt. der Minister teilnehmen und über die Arbeit Das federführende Ministerium schickt den am Gesetzentwurf informieren. Damit kann ­abgestimmten und geprüften Referentenent- sich die Regierung rechtzeitig über Vorbehalte wurf als Kabinettvorlage dem Chef des Bundes- und Bedenken in der Fraktion informieren; sie kanzleramts zu. Wenn der Entwurf alle Abstim- bindet die sie stützende Mehrheit im Parlament mungs- und Prüfprozesse durchlaufen hat, kann früh in die Vorbereitung der Gesetzgebung ein er zur Beschlussfassung auf die Tagesordnung und sichert sich deren Unterstützung. der nächsten Kabinettssitzung gesetzt werden.

65 Regierungsfraktionen aufgefordert wird, be- stimmte Gesetzentwürfe erarbeiten zu lassen Da diese Abstimmungen und Prüfungen in aller und dem Parlament vorzulegen. Diese Praxis Regel stattgefunden hatten und Meinungsver- verstößt keineswegs gegen das Prinzip der Ge- schiedenheiten zwischen den Ministerien im waltenteilung, sondern entspricht der Logik Planungsprozess ausgeräumt werden konnten, des parlamentarischen Regierungssystems. wird die Kabinettsvorlage einvernehmlich zum ­Anders als zum Beispiel im Deutschen Kaiser- Regierungsentwurf, der jetzt vom Bundeskanz- reich, in dem der Reichstag und die Regierung leramt dem Bundesrat zur Prüfung und zur einander gegenüberstanden, ist die Regierung Stellungnahme übergeben wird. im parlamentarischen Regierungssystem über Bei Gesetzesinitiativen „aus der Mitte des Bun- die sie tragende parlamentarische Mehrheit an destages“ gilt nach der Geschäftsordnung des die demokratisch legitimierte Volksvertretung Bundestages, dass der Gesetzentwurf von einer rückgebunden. Die Trennungslinie verläuft Fraktion oder von mindestens fünf Prozent der nicht, wie heute noch in präsidialen Regie- Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein rungssystemen in gewissem Umfang, zwischen muss, also einer Gruppe, deren Größe der Min- Parlament und Regierung, sondern zwischen destgröße einer Fraktion entspricht. Wer diese der Regierung und der sie tragenden parlamen- Gesetzentwürfe erarbeitet, hängt davon ab, ob tarischen Mehrheit einerseits und der parla- die Initiative von den Regierungsfraktionen mentarischen Opposition ­andererseits. oder von der Opposition ausgeht. Die Regie- Die Opposition wird, um sich als Alternative rungsfraktionen werden bei ihren Gesetzent- zur amtierenden Regierung zu präsentieren, würfen nach Absprache mit der Regierung von ebenfalls Gesetzentwürfe im Bundestag ein- den Fachleuten in den Ministerien unterstützt. bringen. Immerhin sind im Durchschnitt bisher Es ist durchaus üblich, dass die Bundesregie- etwas mehr als die Hälfte aller Gesetzentwürfe rung den Regierungsfraktionen eigene Gesetzes- aus der Mitte des Bundestages von der Opposi- vorhaben vorschlägt, die die Entwürfe dann „aus tion auf den Weg gebracht worden. Diese Vor­ der Mitte des Bundestages“ einbringen. Das ist lagen finden zwar ganz selten eine Mehrheit; immer dann sinnvoll, wenn der zeitraubende sie sichern aber die Möglichkeit, die Öffentlich- Weg der Prüfung durch den Bundesrat vermie- keit mit den von der Regierung abweichenden den werden soll. Umgekehrt kommt es immer Plänen und Zielen der Opposition bekannt zu wieder vor, dass die Bundesregierung von den machen. Da die Arbeitsgruppen der Oppositi-

Gesetzentwurf, Antrag oder Haus- haltsplan: Alle Vorlagen, die im Bundestag verhandelt werden, er- scheinen als Drucksachen – seit der 18. Wahlperiode werden sie aller- dings überwiegend elektronisch verteilt.

66 onsfraktionen sich natürlich nicht auf die ­Fachkompetenz der Mitarbeiter der Bundes- ministe­rien stützen können, sind sie auf For- mulierungshilfen von Beamten aus den Fach­ ministerien der Länder angewiesen, in denen Nachdem die Gesetzesvorlage beim Bundes- sie selbst die Regierung stellen. tagspräsidenten eingegangen ist, wird sie vom In den Landesministerien werden schließlich Parlamentssekretariat geprüft und dann als auch die Gesetzentwürfe des Bundesrats ausge- Bundestagsdrucksache in elektronischer Form arbeitet. Es handelt sich um Gesetzentwürfe, an die Mitglieder des Bundestages und des die von einem oder mehreren Ländern gemein- Bundesrats sowie an die Bundesministerien sam dem Bundesratsplenum vorgelegt werden verteilt. Im Ältestenrat wird vereinbart, wann und die nur dann über die Bundesregierung die Vorlage auf die Tagesordnung des Plenums beim Bundestag eingebracht werden, wenn sie gesetzt wird. Soweit nichts anderes vereinbart im Bundesrat eine absolute Mehrheit finden. wird, beginnen die Beratungen der Vorlagen Die Zahl der vom Bundesrat eingebrachten Ent- frühestens am dritten Tag nach Verteilung der würfe steigt immer dann, wenn die Parteien, Drucksachen. die im Bund in der Opposition stehen, über Die Fraktionen können sich in dieser sehr kur- die Landesregierungen im Bundesrat über eine zen Mindestfrist durchaus eine Meinung bil- Mehrheit verfügen. den, da die Arbeitsgruppen der Fraktionen und vor allem die Spezialisten in den Arbeitsgrup- pen den Referentenentwurf längst kennen, den Der Weg des Gesetzentwurfs durch sie analysiert und diskutiert haben. Für Gesetz- das Parlament­ entwürfe aus der Mitte des Bundestages gilt zu- sätzlich umgekehrt, dass drei Wochen nach der Der Bundestag behandelt alle Gesetzentwürfe, Verteilung der Drucksache die Vorlage auf die die ihm vorgelegt werden, nach einem Verfah- Tagesordnung der nächsten Plenarsitzung ge- ren, das in der Geschäftsordnung geregelt ist nommen werden muss, wenn die Antragsteller und das drei Beratungen, sogenannte Lesungen es verlangen. Diese präventive Maßnahme des vorsieht; zwischen der ersten und der zweiten Minderheitenschutzes soll verhindern, dass die Lesung ist der zuständige Fachausschuss mit Mehrheitsfraktionen Anträge der Opposition dem Entwurf befasst. über längere Zeit verschleppen.

67 Gesetzesinitiative Gesetzesinitiative Gesetzesinitiative durch durch durch Bundesregierung Bundestag Bundesrat

Gesetzesvorlage Gesetzesvorlage Gesetzesvorlage

Bundesrat Bundesregierung (fakultative ­ (regelmäßige ­ Stellungnahme) Stellungnahme)

Bundesregierung (Gegenäußerung)

Bundestag 1., 2. und 3. Lesung

Einspruchsgesetze Zustimmungsgesetze

Bundesrat 1) Antrag auf Beratung Billigung des Gesetzes Zustimmung

Bundesregierung Vermittlungs­ Antrag auf Beratung ausschuss Bundestag

Änderungs­ ohne Änderung 2) vorschlag 3) ohne Änderung 2)

4) 4) Bundesrat Bundestag Bundesrat

Billigung Einspruch keine Zustimmung Zustimmung

Bundestag Einspruch wird

über- nicht über- GESETZ stimmt stimmt

Bundesregierung

GESETZ GESETZ

Ausfertigung Ausfertigung Bundespräsident Verkündung Verkündung

68 Erste Lesung und Beratung im Ausschuss

Eine Plenardebatte findet bei der ersten Lesung nur statt, wenn das Gesetzesvorhaben beson­ dere politische Bedeutung besitzt und überdies ­jährliche Haushaltsgesetz berät, sondern sich vielleicht im Vorfeld in der Öffentlichkeit kon­ mit ­allen Gesetzentwürfen befassen muss, von trovers diskutiert wurde. Die Redebeiträge be- ­denen zu erwarten ist, dass sie erhebliche Aus- schränken sich regelmäßig auf die Erörterung wirkungen auf die öffentlichen Finanzen des der „Grundsätze der Vorlage“, ohne den Gesetz- Bundes oder der Länder haben werden. Der entwurf im Detail zu behandeln, da dies Sache Haushaltsausschuss erstattet in diesen Fällen der Ausschüsse ist. Eine Debatte während der seinen Bericht zusätzlich zu dem Bericht des ersten Lesung findet statt, wenn sie im Ältesten- federführenden Ausschusses direkt an das rat vereinbart oder von einer Fraktion gefordert ­Plenum. wurde. In den letzten Wahlperioden waren Die Hauptlast der Erarbeitung des Berichts liegt durchschnittlich 30 bis 40 Prozent aller ersten bei den Berichterstattern, die vom Ausschuss- Lesungen mit einer Plenardebatte verbunden. vorsitzenden auf Vorschlag der Fraktionen be- Alle Gesetzesvorlagen werden am Ende der nannt werden; bei wichtigen und möglicher- ­ersten Lesung zur Federführung an einen weise politisch kontroversen Gesetzen stellt ­Ausschuss überwiesen, in der Regel an den jede im Ausschuss vertretene Fraktion einen Ausschuss, dessen Fachgebiet mit dem des Berichterstatter. Sie sind mit den Einzelheiten ­federführenden Ministeriums korrespondiert, und den Feinheiten des jeweils vorliegenden in dem der Gesetzentwurf erarbeitet wurde. Gesetzentwurfs besonders vertraut und kennen Analog zur Beteiligung anderer Ministerien die Stellungnahmen aus Wissenschaft und während der Erarbeitung des Gesetzentwurfs ­Öffentlichkeit, die Erwartungen der Verbände befassen sich weitere Ausschüsse, deren Fach- und die Positionen der am Gesetzgebungspro- gebiete von dem Gesetz berührt werden, mit zess beteiligten Akteure. Die Berichterstatter der Vor­lage. Diese Ausschüsse haben mitbera- sind die Experten ihrer Fraktionen, deren tende Funktion; sie erarbeiten eine schriftliche Standpunkt sie im Ausschuss vertreten und Stellungnahme, die sie dem federführenden die sie wiederum kontinuierlich über den Ausschuss übermitteln. Eine Ausnahme bildet ­Fortgang der Ausschussberatungen unter­ der Haushaltsausschuss, der nicht nur das richten.

Der Weg der ­Gesetzgebung

1) bei sofortiger Ablehnung: Anrufung durch Bundestag oder ­Bundesrat möglich 2) Bestätigung des Gesetzesbe- schlusses oder kein Vorschlag 3) bei Ablehnung des Änderungs­ vorschlags: ursprünglicher ­Gesetzesbeschluss 4) bei vorgeschlagener Aufhebung: Stimmt Bundestag zu, ist das Gesetz gescheitert, andernfalls Weiter­ leitung an Bundesrat

69 Im Übrigen sind die Ausschusssitzungen nicht öffentlich. Das ist keineswegs Geheimnistuerei, sondern eine Form der Diskretion, die dem ­Vertrauensschutz dient. Ohne den Blick auf die ­öffentliche Wirkung können die Abgeordneten verschiedene Optionen und Alternativen zur Diskussion stellen und Kompromissvorschläge erörtern, die in der Öffentlichkeit vielleicht Der Ausschuss hat die Möglichkeit, bei Informa­ als Unentschlossenheit und Unsicherheit wahr- tions- und Beratungsbedarf zu grundsätzlichen genommen würden, tatsächlich jedoch zur Fragen, die den Gesetzentwurf betreffen, öffent- ­Versachlichung der Beratungen beitragen. liche Anhörungen zu veranstalten, zu denen­ Regelmäßig teilnehmende Vertreter der Bun-­­ Sachverständige und Interessenvertreter ein­ des­regierung, Beamte der Ministerien und Mit­ geladen werden. Diese Anhörungen dienen glieder des Bundesrats können die Fragen der dem Minderheitenschutz, denn sie müssen Abgeordneten zum Gesetzentwurf beantworten ­anberaumt werden, wenn ein Viertel der Aus- und die Stellungnahmen von Regierung und schussmitglieder die Forderung erhebt; die Bundesrat erläutern. ­Opposition im Ausschuss nutzt diese Möglich- Die Gesetzentwürfe werden in den Ausschuss- keit, um Sachverständige zu Wort kommen­ zu sitzungen Punkt für Punkt durchgesprochen. lassen, die dem geplanten Gesetz kritisch oder Zu jedem Punkt können aus dem Kreis der gar ablehnend gegenüberstehen. Sie dienen Ausschussmitglieder Änderungsvorschläge ge- aber auch der Transparenz der parlamentari- macht und Änderungsanträge gestellt werden, schen Arbeit, da bei diesen Anhörungen auch bei deren Formulierung die Abgeordneten von Sachverständige und Verbandsvertreter zu Wort den anwesenden Fachleuten der Ministerien, kommen, die bereits während der Bearbeitung die mit den Feinheiten der juristischen Termi- des Gesetzentwurfs konsultiert worden waren nologie vertraut sind, unterstützt werden. Über und deren möglicher Einfluss auf Buchstabe vorliegende Änderungsanträge zu einem Ein- und Geist des Gesetzes für die Öffentlichkeit zelpunkt wird jeweils am Ende der Beratung sichtbar gemacht wird. An diesen Anhörungen dieses Punktes abgestimmt. In dem Maße, in nehmen Vertreter der Presse und der Medien teil, dem diese Änderungsanträge angenommen die natürlich darüber berichten; die Anhörun- werden, entsteht eine neue, gegenüber dem ein- gen werden zudem live im Internet übertragen. gebrachten Gesetzentwurf veränderte Vorlage.

Namentliche Abstimmung: Über Gesetzentwürfe stimmen die ­Abgeordneten im Plenum ab.

70 Nach Abschluss der Beratungen erstellen die Berichterstatter den schriftlichen Bericht für das Plenum. In diesem Bericht werden der Ver- lauf der Beratungen im federführenden Aus- schuss und die Ergebnisse der mitberatenden Ausschüsse dargestellt. Wenn in den Aus- Zweite Lesung, dritte Lesung und schussberatungen Änderungen am Gesetzent- ­Schlussabstimmung wurf beschlossen wurden, was bei 90 Prozent aller Gesetzentwürfe der Fall ist, müssen diese Im Ältestenrat vereinbaren die Fraktionen nicht Änderungen begründet werden; es wird nicht nur den Termin, an dem die zweite Lesung des nur mitgeteilt, mit welcher Mehrheit der geän- Gesetzentwurfs auf die Tagesordnung des Ple- derte Gesetzentwurf vom Ausschuss angenom- nums genommen wird, sondern auch, ob eine men wurde, sondern auch, mit welchen Grün- Aussprache stattfinden soll. In der Regel finden den die Minderheit dagegen gestimmt hat. bei etwa 60 Prozent der zweiten Lesungen all- Da die Ausschüsse nicht nur die Verhandlun- gemeine Aussprachen statt. Auf solche Aus- gen des Bundestagsplenums vorbereiten, son- sprachen kann natürlich bei Anpassungsgeset- dern auch „vorbereitende Beschlussorgane des zen, mit denen bereits bestehende Gesetze auf Bundestages“ sind, „haben sie die Pflicht, dem den neuesten Stand gebracht werden, verzich- Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfeh- tet werden. len“, wie es in der Geschäftsordnung heißt. Die allgemeine Aussprache dient keineswegs Dem Bericht wird deshalb eine Beschlussemp- dazu, noch unentschlossene Abgeordnete zu fehlung vorangestellt, die dem Plenum in der überzeugen, da in den Sitzungen der Fraktions- Regel die Annahme des Gesetzentwurfs in der gremien die Haltung der jeweiligen Fraktionen vom Ausschuss verabschiedeten Fassung emp- zum vorliegenden Gesetzentwurf ausgiebig er- fiehlt, die der Beschlussempfehlung folgt. Übli- örtert wurde. Sie gibt der Bundesregierung und cherweise werden dabei die Ursprungsfassung den Fraktionen im Bundestag noch einmal Ge- und die Ausschussfassung gegenübergestellt. legenheit, ihre jeweiligen Argumente für oder Die Beschlussempfehlung und der Bericht wer- gegen das Gesetz vorzutragen. Die Redebeiträge den an die Mitglieder des Bundestages verteilt. sind weniger an die Kolleginnen und Kollegen Diese neue Bundestagsdrucksache liegt der im Parlament gerichtet als an die demokrati- zweiten Lesung des Gesetzentwurfs zugrunde. sche Öffentlichkeit, an die Wählerinnen und

71 lich, wenn zwei Drittel der anwesenden Abge- ordneten dem zustimmen. Wenn nicht, muss die in der zweiten Lesung geänderte Fassung Wähler, die sich so ein genaueres und besseres des Gesetzentwurfs verteilt werden; die dritte Bild der politischen Absichten und Ziele der Lesung kann dann frühestens am zweiten Tag Parteien machen können, von denen sie im nach der Verteilung stattfinden. In der dritten Bundestag vertreten werden. Sie sind Teil des- Lesung der Gesetzentwürfe, bei denen in der sen, was man die Kommunikationsfunktion zweiten Lesung Änderungen vorgenommen des Parlaments bezeichnet. wurden, können erneut Änderungsanträge ge- Im Anschluss an die allgemeine Aussprache stellt werden, aber nur zu den Bestimmungen, tritt der Bundestag in die Beschlussfassung zu denen in der zweiten Lesung Änderungen über den Gesetzentwurf ein. Regelmäßig findet beschlossen worden sind, und auch nur von nur eine einzige Abstimmung über den Gesetz- Fraktionen oder Gruppen von Abgeordneten entwurf insgesamt statt. Möglich ist es aber in Fraktionsstärke. auch, über einzelne Teile gesondert abzustim- Fast ausnahmslos schließt sich die dritte Lesung men. Gleiches gilt für Änderungsanträge. Sol- an die zweite Lesung an; da so gut wie nie wei- che Änderungsanträge können nicht nur Frak­ tere Änderungsanträge gestellt werden, besteht tionen und Gruppen in der Mindestgröße einer die dritte Lesung weitgehend aus der Schluss- Fraktion stellen, sondern auch einzelne Abge- abstimmung über den Gesetzentwurf. Aller- ordnete; diese Einzelanträge sind in der Regel dings erreichen etwa 25 Prozent der dem Bun- natürlich mit der Fraktion abgestimmt. Vor destag vorliegenden Gesetzentwürfe die dritte ­allem die Opposition nutzt Änderungsanträge, Lesung nicht, da sie in der zweiten Lesung die sie zumeist schon im Ausschuss gestellt ­abgelehnt wurden. Das sind vor allem die hatte, wo sie aber überstimmt wurde, um ihre Gesetzentwürfe der Opposition aus der Mitte abweichende Meinung noch einmal öffentlich des Bundestages oder aus dem Bundesrat. Da- zu dokumentieren. durch verschiebt sich die Bilanz zugunsten der Wenn das Gesetz in zweiter Lesung in der vom Bundesregierung, wenn man die eingebrachten Ausschuss empfohlenen Fassung angenommen mit den verabschiedeten Gesetzentwürfen ver- wurde, kann sich die dritte Lesung sofort an- gleicht. Bei der Zahl der beim Bundestag ein­ schließen. Auch wenn in der zweiten Lesung gebrachten Gesetzesvorlagen lag der Anteil der Änderungen vorgenommen wurden, ist eine Bundesregierung in der 18. Wahlperiode bei unmittelbar anschließende dritte Lesung mög- rund 70 Prozent, bei den vom Bundestag verab-

Suche nach Kompromissen: Sitzung des Vermittlungsausschusses.

72 Zustimmungspflichtig sind alle Gesetze, die nach näherer Maßgabe im Grundgesetz in ir- schiedeten Gesetzen bei knapp 88 Prozent. Ent- gendeiner Form die Interessen der Bundeslän- sprechend gilt, dass nur etwa ein Drittel aller der berühren. Das sind zum einen Finanz- und Gesetzentwürfe, die aus der Mitte des Bundes­ Steuergesetze, zum anderen Gesetze, die in die tages und vom Bundesrat eingebracht­ wurden, Verwaltungshoheit der Länder eingreifen. An- auch verabschiedet wurde. Dies darf jedoch gesichts der engen Verflechtung von Bund und keineswegs zu der Vermutung Anlass geben, Ländern im Bereich der öffentlichen Einnah- der Bundestag würde alle Gesetzentwürfe der men und Ausgaben und angesichts der Tatsa- Bundesregierung verabschieden. Es spricht che, dass im Rahmen der Aufgabenteilung des für die gewissenhafte Ausübung der Kontroll- „funktionalen“ Föderalismus in der Bundes­ funktion des Parlaments, dass der Bundestag republik die Durchführung der Bundesgesetze in jeder Wahlperiode bis zu zehn Prozent der fast ausschließlich den Ländern durch die lan- Gesetzentwürfe der Bundesregierung nicht deseigene Verwaltung obliegt, kann es nicht verabschiedet. Auf jeden Fall aber gilt die verwundern, dass bis zur Föderalismusreform Struck’sche Regel: Fast kein Gesetz kommt 2006 in der Regel mehr als 50 Prozent der aus dem Parlament so heraus, wie es einge- ­Gesetze zustimmungspflichtig gewesen sind; bracht worden ist. heute liegt ihr Anteil bei etwa 40 Prozent. Im Übrigen sind auch verfassungsändernde Ge­ setze Zustimmungsgesetze, die jedoch von je- Gesetze im Bundesrat und weils einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag im Vermittlungs­ausschuss und Bundesrat verabschiedet werden müssen. Bei Einspruchsgesetzen verfügt der Bundesrat Alle Gesetze, die der Deutsche Bundestag mit nur über ein aufschiebendes Veto. Zwar kann Mehrheit verabschiedet hat, sind, so sagt es er gegen ein solches Gesetz, das vom Bundestag das Grundgesetz, „durch den Präsidenten des beschlossen wurde, mit der absoluten Mehrheit Bundestages unverzüglich dem Bundesrate zu- seiner Stimmen Einspruch erheben; wenn aber zuleiten“. Das weitere Schicksal des Gesetzes der Bundestag, dem das Gesetz zur erneuten hängt wesentlich davon ab, ob es sich um ein Beschlussfassung zugeleitet wird, seinen ur- Einspruchsgesetz oder um ein Zustimmungs­ sprünglichen Beschluss mit absoluter Mehrheit gesetz handelt. bestätigt, gilt es als verabschiedet. Erfolgt der

73 Die Mitglieder der Bundesregierung haben das Recht und auf Beschluss des Ausschusses die Einspruch des Bundesrats mit einer Zweidrit- Pflicht, an den Sitzungen teilzunehmen. Der telmehrheit, muss der Bundestag ebenfalls mit Vermittlungsausschuss fasst seine Beschlüsse einer Zweidrittelmehrheit, mindestens aber mit mit der Mehrheit der Stimmen seiner anwesen- der Mehrheit seiner Mitglieder den Einspruch den Mitglieder. ablehnen. Bei Zustimmungsgesetzen dagegen Bevor der Bundesrat im Fall eines Einspruchs- kann der Bundesrat nicht vom Bundestag über- gesetzes Einspruch einlegen kann, muss er den stimmt werden. Vermittlungsausschuss anrufen, der dann zwei Wenn der Bundesrat gegen ein Gesetz, das Möglichkeiten hat. Er kann das Gesetz in der ihm vorliegt, Einspruch einlegen möchte oder vom Bundestag beschlossenen Fassung bestäti- wenn er ein Zustimmungsgesetz nicht anneh- gen; dann leitet er es dem Bundesrat erneut zu, men, im Ganzen aber auch nicht scheitern der die Möglichkeit hat, es entweder passieren ­lassen will, wird der Vermittlungsausschuss zu lassen oder aber Einspruch zu erheben. ­an­gerufen. Der Vermittlungsausschuss ist kein Macht der Vermittlungsausschuss einen Ände- Ausschuss des Deutschen Bundestages, son- rungsvorschlag, muss sich damit zunächst der dern ein gemeinsamer Ausschuss von Bundes- Bundestag befassen, der diesen Vorschlag an- tag und Bundesrat; er hat 32 Mitglieder, von nehmen oder ablehnen kann. Er leitet seinen ­denen jede der beiden gesetzgebenden Körper- Beschluss an den Bundesrat, der das geänderte schaften jeweils die Hälfte benennt. Während Gesetz verabschieden, aber auch Einspruch er- in die Bundesratshälfte jedes Land je einen heben kann, wenn die vorgeschlagenen Ände- ­Vertreter entsendet, entspricht die Zusammen- rungen seinen Wünschen nicht entsprechen. setzung der Bundestagshälfte den Mehrheits- Hat der Bundestag den Vorschlag des Vermitt- verhältnissen im Bundestag. lungsausschusses abgelehnt, wird der Bundes- Der Vermittlungsausschuss hat eine eigene, von rat mit großer Wahrscheinlichkeit gegen das Bundestag und Bundesrat einvernehmlich be- Gesetz, das ihm jetzt wieder in der Fassung schlossene Geschäftsordnung. Er wählt aus sei- vorliegt, die er nicht bereit war zu akzeptieren, ner Mitte je ein Mitglied des Bundestages und Einspruch erheben. Nach dem Einspruch des des Bundesrats zu Vorsitzenden, die einander Bundesrats kommt erneut der Bundestag zum im Vorsitz in einem Dreimonatsturnus ablösen Zug. Wenn er das Gesetz, gegen das der Bun- und die sich wechselseitig vertreten können. desrat Einspruch erhoben hat, je nach der

74 Da die Länder bereits bei der Erarbeitung der Gesetzentwürfe konsultiert wurden und im weiteren Verlauf der Beratung in ständigem ­Informationsaustausch sowohl mit den Bundes- Mehrheit, die den Einspruch im Bundesrat un- ministerien als auch mit den Fraktionen im terstützt hat, mit absoluter oder mit Zweidrit- Bundestag stehen, werden in der Regel etwa telmehrheit beschließt, ist das Gesetz zustande 95 Prozent aller Gesetze, die der Bundestag gekommen. dem Bundesrat zuleitet, vom Bundesrat auch Wenn der Bundesrat mit einem Zustimmungs- verabschiedet. In den übrigen Fällen gelingt gesetz in der ihm vorliegenden Fassung nicht es in aller Regel, nach einem Vermittlungsver- einverstanden ist, kann er innerhalb von drei fahren zu einer Einigung zu kommen. Wochen den Vermittlungsausschuss anrufen, dem er begründete Veränderungsvorschläge macht. Das Vermittlungsverfahren verläuft ana- Ausfertigung und Verkündung log zu dem Verfahren, das bei Einspruchsgeset- zen durchgeführt wird. Bleibt der Bundesrat Wenn das Gesetz im Bundesrat eine Mehrheit auch nach dem Abschluss des Verfahrens bei gefunden hat oder wenn ein Vermittlungsver- seiner Ablehnung, hat der Bundestag, anders fahren erfolgreich abgeschlossen werden konnte, als bei Einspruchsgesetzen, keine Möglichkeit wird es von der Bundeskanzlerin und von mehr, die Bundesratsentscheidung durch Mehr- ­einem oder mehreren der zuständigen Fach­ heitsbeschluss zu annullieren. minister durch Unterschrift gegengezeichnet. Ihm bleibt jedoch, ebenso wie der Bundesregie- Das Gesetz wird dann an den Bundespräsiden- rung, das Recht, bei abgelehnten Zustimmungs- ten weitergeleitet, der es mit seiner Unterschrift gesetzen seinerseits den Vermittlungsausschuss ausfertigt. Das Bundesprä­sidialamt leitet das einzuschalten, und zwar auch dann, wenn der ausgefertigte Gesetz dem Bundesministerium­ Bundesrat ein Zustimmungsgesetz abgelehnt der Justiz mit dem Auftrag zu, es im Bundes­ und auf die Durchführung eines Vermittlungs- gesetzblatt zu veröffentli­ chen.­ Mit der Veröffent- verfahrens verzichtet hat. Der Vermittlungsaus- lichung wird das Gesetz verkündet und tritt in schuss kann also, zumindest der Theorie nach, Kraft, und zwar (sofern im Gesetz nichts ande- mit einem Zustimmungsgesetz zwei oder sogar res geregelt ist) 14 Tage nach seiner Veröffent­ dreimal angerufen werden. lichung.

Verkündung: Mit der Veröffent­ lichung im Bundes­gesetzblatt tritt das Gesetz in Kraft.

75 Die Entwicklung der europäischen Integration hat für den Bundestag neue Aufgaben mit sich gebracht. Das Parlament ist, wie es im Grund­ gesetz ausdrücklich festgehalten wird, an der „Verwirklichung eines vereinten Europas“ betei- ligt. Wie aber sieht diese Beteiligung aus? Die europäische Gesetzgebung gewinnt für die EU-Bürger zunehmend an Bedeutung. Viele Ge- setze, die in Deutschland gelten, werden durch Rechtsetzungsakte der Europäischen Union be- stimmt. Das gilt für Verordnungen, die in den EU-Mitgliedstaaten wie Gesetze gelten, und für Richtlinien, die den europäischen Rahmen ab- stecken, in dem die nationalen Parlamente ge- setzgebend tätig werden müssen. Der Einfluss des europäischen Rechts auf die EU-Mitglied- staaten ist einerseits ein Hinweis auf die Tat­ sache, dass Europa auf dem Weg zur Einheit schon weit vorangekommen ist; andererseits ist durch diesen Einfluss die Gesetzgebungs- kompetenz der nationalen Parlamente, also auch des Bundestages, betroffen. Seine Beteiligungsrechte hat der Bundestag mit dem 2013 neu gefassten „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (EUZBBG) und dem „Gesetz über die Wahrnehmung der Integrati- onsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäi- schen Union“, kurz Integrationsverantwor-

„Verwirklichung eines vereinten Europas“: die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der europäischen­ Integration

76 tungsgesetz (IntVG), erheblich ausgebaut. Und auch wenn der Bundestag nicht direkt an der lassen. Das Parlament wird seit 1979 für jeweils EU-Gesetzgebung mitwirkt, so kann er doch fünf Jahre von den wahlberechtigten Bürgern über die Bundesregierung großen Einfluss auf der EU-Mitgliedstaaten gewählt. die europäische ­Gesetzgebung nehmen. In der Regel kann ein Gesetzgebungsakt auf Im Gesetzgebungsprozess der Europäischen ­europäischer Ebene nur abgeschlossen werden, Union spielen die Regierungen eine zentrale wenn die Vorlage in einer ersten Lesung im Rolle. Sie werden durch den Rat der Europäi- ­Europäischen Parlament eine Mehrheit gefun- schen Union repräsentiert, ohne dessen Zu- den hat. Hat das Parlament einer Vorlage der stimmung kein Gesetz verabschiedet werden Kommission zugestimmt, wird sie an den Rat kann. Der Rat tritt je nach dem Politikfeld, in weitergeleitet, der ebenfalls zustimmen muss, dem sich die Beratung und Beschlussfassung damit das Gesetz in Kraft treten kann. Hat das bewegt, als Ministerrat der jeweils zuständigen Parlament oder der Rat Änderungsvorschläge, Fachminister der Mitgliedstaaten zusammen; kann es zu einer zweiten Lesung kommen. jeder Mitgliedstaat ist mit einem Regierungs- Wenn sich Parlament und Rat nicht auf eine mitglied vertreten. ­geänderte Fassung einigen können, wird der Die Gesetzesinitiative, also das Recht, Gesetz- Vermittlungsausschuss angerufen, der sich aus entwürfe vorzulegen, steht der Europäischen den Mitgliedern des Rates und ebenso vielen Kommission zu. Sie ist das oberste Verwal- Mitgliedern des Europäischen Parlaments zu- tungsorgan der Europäischen Union, also die sammensetzt. Auch die Kommission nimmt an Exekutive. Ihre Mitglieder und der Kommissi- den Arbeiten des Vermittlungsausschusses teil. onspräsident werden für fünf Jahre vom Rat ­Innerhalb von sechs Wochen nach seiner Ein- und nach Zustimmung des Europäischen Par­ berufung soll der Vermittlungsausschuss in laments ernannt. Die fünfjährige Amtszeit der ­einem sogenannten formellen Trilog eine Eini- Kommission ist an die Wahlperiode des Euro- gung auf der Grundlage der Standpunkte des päischen Parlaments gebunden. Europäischen Parlaments und des Rates erzie- Das Europäische Parlament ist neben dem Rat len. Dafür werden die qualifizierte Mehrheit und der Kommission die dritte Instanz, die an der Mitglieder des Rates und die Mehrheit der EU-Gesetzgebung beteiligt ist. Zwar haben der Mitglieder, die das Europäische Parlament weder das Parlament noch der Rat das Recht vertreten, benötigt. Billigt der Vermittlungsaus- zur Gesetzesinitiative; sie können jedoch die schuss innerhalb von sechs Wochen nach Ein- Kommission auffordern, zu einem bestimmten berufung den Entwurf, können das Europäische Politikfeld einen Gesetzentwurf erarbeiten zu Parlament und der Rat den Rechtsakt in einer

Berlin und Brüssel: Der Bundestag arbeitet mit dem Europäischen ­Parlament zusammen.

77 terrichtungspflichten der Bundesregierung in EU-Angelegenheiten und Fragen der Mitwir- dritten Lesung erlassen. Kommt es zu keiner Ei- kung des Bundestages durch Stellungnahmen nigung, gilt der Gesetzgebungsakt als abgelehnt. gegenüber der Regierung geregelt sind. Die Häufig versuchen der Rat und das Europäische Bundes­regierung übermittelt alle entsprechen- Parlament, das Gesetzgebungsverfahren schon den Dokumente und Berichte an den Bundes- in erster Lesung abzuschließen. Dazu einigen tag, der bereits im Vorfeld und so rechtzeitig sie sich unter Mitwirkung der Kommission in informiert werden muss, dass er sich über den informellen Triloggesprächen auf eine gemein- Gegenstand von Sitzungen und die Position der same Position, die anschließend von beiden Bundesregierung eine Meinung bilden und auf Organen förmlich angenommen wird. Anders die Verhandlungslinie und das Abstimmungs- als das formelle Trilogverfahren sind informelle verhalten der Bundesregierung Einfluss neh- Triloge nicht in Verträgen geregelt und finden men kann. während der ersten und zweiten Lesung des Gibt der Bundestag auf der Grundlage der In­ Rechtsetzungsverfahrens statt. formationen eine Stellungnahme ab, muss die Bevor die Bundesregierung im Rat der Europäi- Bundesregierung diese zur Grundlage ihrer schen Union rechtsetzend tätig wird, muss sie ­Verhandlungen im Rat machen. Kann sie den dem Bundestag die Möglichkeit geben, Einfluss Beschluss des Bundestages in einem seiner auf die politische Position zu nehmen, die die wesentlichen Belange nicht im Rat durchsetzen, Regierung im Rat vertreten wird. „Die Bundes- muss sie einen Parlamentsvorbehalt einlegen. regierung“, sagt das Grundgesetz, „gibt dem Das bedeutet, dass die Bundesregierung vor Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor der abschließenden Entscheidung im Rat das ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Einvernehmen mit dem Bundestag herstellen Europäischen Union. Die Bundesregierung muss. Aus wichtigen integrations- und außen- berücksichtigt die Stellungnahme des Bundes- politischen Gründen kann die Bundesregierung tages bei den Verhandlungen.“ aber auch von der Stellungnahme des Bundes- Um eine Stellungnahme abgeben zu können, tages abweichen. muss der Bundestag natürlich rechtzeitig über Grundlage für eine Stellungnahme des Bundes- alle relevanten Informationen verfügen. Die tages zu EU-Vorhaben ist entweder eine Ent- Bundesregierung muss deshalb den Bundestag schließung im federführenden Ausschuss zu „umfassend und zum frühestmöglichen Zeit- ­einem überwiesenen Vorhaben oder ein selbst- punkt“ unterrichten. So steht es im Grund­ ständiger Antrag einer Fraktion; am Ende steht gesetz und im EUZBBG, in dem auch die Un- eine Beschlussempfehlung, über die dann das

Besuch des EU-Ausschusses des 18. Bundestages in Brüssel: Der Ausschuss für die ­Angelegenheiten der Europäischen ­Union ist ein wichtiger Akteur der Europapolitik.

78 Plenum entscheidet. Der Antrag kann allerdings auch direkt ins Plenum eingebracht und dort beraten werden, was in Eilfällen zu erheblicher ten übermittelt, der die Vorlagen in Abstim- Zeitersparnis führt. mung mit den Fraktionen an die vorgeschlage- Für jede Beschlussempfehlung müssen Doku- nen Ausschüsse überweist. Wird die Beratung mente gesichtet und geprüft werden. Da pro in den Ausschüssen mit einer Beschlussemp- Jahr rund 25.000 EU-Dokumente von der Bun- fehlung abgeschlossen, wird diese dem Plenum desregierung und von EU-Einrichtungen den vorgelegt, das sie zur Grundlage der Stellung- Bundestag erreichen, ist für diese Aufgabe ein nahme des Bundestages gegenüber der Bundes- hohes Maß an Fachkompetenz erforderlich. regierung macht. In Einzelfällen kann diese Diese Fachkompetenz ist in der Unterabteilung Stellungnahme des Bundestages gegenüber der Europa der Bundestagsverwaltung gebündelt. Bundesregierung auch vom EU-Ausschuss ab- Sie unterstützt die Ausschüsse und Fraktionen gegeben werden, der außerdem die Möglichkeit des Bundestages bei der parlamentarischen Be- hat, in der Plenarberatung Änderungsanträge ratung von EU-Angelegenheiten, beispielsweise zur Beschlussempfehlung des federführenden bei der Dokumentenrecherche, bei Überwei- Ausschusses einzubringen. sungsfragen und bei der Subsidiaritätskontrolle. Der Bundestag hat nicht nur ein Mitwirkungs- EU-Vorlagen, die die Mitwirkungsrechte des recht beim Sekundärrecht der EU, also den Bundestages berühren, sind von besonderer Rechtsvorschriften, die verschiedene Lebens­ ­Bedeutung. Hier wird zunächst geprüft, welche bereiche in den Mitgliedstaaten regeln, sondern Vorlagen für eine Beratung im Ausschuss in­ auch beim Primärrecht. Das sind vor allem die frage kommen. Für diese Vorlagen werden Verträge, auf denen die Europäische Union ­Priorisierungs- und Überweisungsvorschläge ­beruht, sowie das Integrationsverantwortungs- gemacht. Es wird knapp zusammengefasst er- gesetz (IntVG). Es legt die Beteiligung des läutert, worum es in der Vorlage geht, welche ­Bundestages bei Änderungen des europäischen Bedeutung sie hat, welches Ziel damit verbun- Primärrechts fest, die nicht den üblichen Rati­ den ist und welche Ausschüsse an der Bera- fikationsverfahren unterliegen, und in den tung beteiligt sein sollten. Fällen, in denen der Vertrag von Lissabon eine Wenn die Ausschüsse mit diesen Vorschlägen Kompetenzausweitung für die Union vorsieht. einverstanden sind, wird der Überweisungsvor- Wenn Vertragsänderungen geplant sind, weitere schlag vom Vorsitzenden des EU-Ausschusses Hoheitsrechte an die Europäische Union über- unterzeichnet und zusammen mit den Priori- tragen oder deren Kompetenzen erweitert sierungsvorschlägen dem Bundestagspräsiden- werden sollen, muss der Bundestag einen

79 ­ent­sprechenden Beschluss fassen und ein ­Gesetz verabschieden. Sollte durch die Verän- sind, dass mit diesem Vorhaben das Prinzip derung des EU-Primärrechts das Grundgesetz der Subsidiarität verletzt würde. Nach diesem berührt werden, ist ein Beschluss des Bundes- Prinzip darf die Europäische Union in den Be- tages mit Zweidrittelmehrheit notwendig. reichen, in denen sie sich mit den nationalen Weitere Mitwirkungs- und Kontrollrechte Parlamenten die legislative Zuständigkeit teilt, nimmt der Bundestag auf Grundlage des Geset- nur dann mit Rechtsvorschriften tätig werden, zes zur Übernahme von Gewährleistungen im wenn die Ziele der geplanten Rechtsvorschrift Rahmen eines europäischen Stabilisierungs­ von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler mechanismus (StabMechG) und des Gesetzes noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausrei- zur finanziellen Beteiligung am Europäischen chend verwirklicht werden können. Stabilitätsmechanismus (ESMFinG) wahr. Hin- Wenn Parlamente der Mitgliedstaaten zu dem tergrund dieser Regelungswerke sind die 2010 Ergebnis kommen, dass die Ziele eines von der gegründete Europäische Finanzstabilisierungs- Europäischen Union geplanten Gesetzes genau- fazilität (EFSF) und der 2012 entstandene Euro- so gut oder gar besser von den nationalen, regi- päische Stabilitätsmechanismus (ESM), die onalen oder lokalen Instanzen erreicht werden während der europäischen Finanzkrise gegrün- können, können sie bei den EU-Organen eine det wurden und durch Finanzhilfen an Euro- Subsidiaritätsrüge vortragen. In der Regel geben Mitgliedstaaten die Finanzstabilität der Euro- die Fachleute der Unterabteilung Europa bei Zone insgesamt schützen. Da die Gewährung der Erarbeitung der Priorisierungs- und Über- von Darlehen und Garantien seitens Deutsch- weisungsvorschläge Hinweise auf mögliche lands im Rahmen von EFSF und ESM die Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Empfehlungen für Prüfungen durch die Aus- Bundestages betrifft, bedürfen Entscheidungen schüsse. Kommen die beteiligten Ausschüsse zu solchen Maßnahmen der Zustimmung des zu dem Ergebnis, dass eine Subsidiaritätsrüge Plenums, des Bundestages oder des Haushalts- angebracht ist, wird der EU-Ausschuss infor- ausschusses. miert. Wenn er keine Einwände hat, legt der Ein wichtiges Instrument der parlamentari- ­federführende Ausschuss dem Plenum eine schen Kontrolle der Politik der EU-Organe ist ­Beschlussempfehlung vor. Das Plenum führt das Recht der Subsidiaritätskontrolle. Die Par- ­einen Beschluss herbei, den der Bundestags­ lamente der Mitgliedstaaten können bei einem präsident an die Präsidenten des Europäischen geplanten Rechtsetzungsakt der Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Union Einspruch erheben, wenn sie überzeugt übermittelt.

Bundestag und Europa: Nach dem Grundgesetz wirkt das deutsche Parlament in EU-­Angelegenheiten mit.

80 Wenn mindestens ein Drittel der Parlamente der Mitgliedstaaten Bedenken äußert, muss die Kommission den Entwurf überprüfen. Sie kann ihn verwerfen, ändern oder unverändert bei­behalten, muss diese Entscheidung jedoch begründen. Trägt mehr als die Hälfte der Par­ Die Kontakte der Parlamente untereinander lamente eine Subsidiaritätsrüge vor, muss die und mit dem Europäischen Parlament spielen Kommission bei einem unveränderten Entwurf eine wichtige Rolle im Rahmen einer demokra- genau erläutern, warum sie der Überzeugung tischen europäischen Integration. Seit Jahren ist, dass der Entwurf nicht gegen das Subsidia- finden in Brüssel Treffen der Vertreter der Par- ritätsprinzip verstößt. Kommt eine der beiden lamente der EU-Mitgliedstaaten mit Abgeord- gesetzgebenden europäischen Körperschaften, neten des Europäischen Parlaments statt. Eine also die Kommission oder der Rat, mit einer Interparlamentarische Konferenz tritt zweimal Mehrheit von 55 Prozent zu dem Ergebnis, im Jahr zusammen, um vor allem Themen der dass das Subsidiaritätsprinzip verletzt wird, Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist das ­Gesetz gescheitert. der Europäischen Union zu beraten. Darüber Der Bundestag kann auch direkten Kontakt mit hinaus tagen die Fachausschüsse der Parlamente den EU-Organen aufnehmen. Seit Anfang 2007 immer wieder gemeinsam in Brüssel, um be- unterhält er deshalb ein Verbindungsbüro in sondere Themen und Gesetzgebungsvorhaben Brüssel. In dieser Außenstelle des Bundestages zu besprechen. Besonders formalisiert ist das sind Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung und halbjährliche Treffen der Europaausschüsse der Mitarbeiter der Fraktionen tätig. Dank vielfäl­ Parlamente der EU-Mitgliedstaaten. Einmal im tiger Kontakte vor Ort können die Mitarbeiter Jahr treffen sich die Präsidenten der Parlamente des Büros Informationen über aktuelle politi- der EU-Mitgliedstaaten und der Präsident des sche Entwicklungen zusammentragen, die den Europäischen Parlaments zu einer Konferenz, Abgeordneten, Ausschüssen und Fraktionen die als Forum für den Austausch über europäi- des Bundestages zur Verfügung gestellt werden, sche Themen bezeichnet werden kann. etwa in der Form des „Berichts aus Brüssel“, Außerdem tagt in der Regel zweimal jährlich der in Sitzungswochen erscheint. Mitarbeiter der Europol-Kontrollausschuss, ein interparla- des Büros sind außerdem an der Vorbereitung mentarisches Gremium, das nicht nur beratend und Durchführung zahlreicher interparlamen- tätig ist, sondern darüber hinaus Kontrollauf­ tarischer Aktivitäten beteiligt. gaben wahrnimmt.

81 82 Der lange Weg zur Demokratie Stationen deutscher Parlamentsgeschichte

83 Die deutsche Parlamentsgeschichte begann vor 200 Jahren, als die drei süddeutschen Mittel- staaten Baden, Bayern und Württemberg 1818/1819 Verfassungen erhielten. Mit diesen Verfassungen wurden Parlamente eingerichtet, die den Untertanen des Großherzogs von Baden, des Königs von Bayern und des Königs von Württemberg die eingeschränkte Mitsprache an den staatlichen Entscheidungen ermöglichte. Dass diese Parlamente noch weit von dem ent- fernt waren, was wir heute unter einer Volks- vertretung verstehen, wird nicht nur am Wahl- recht, sondern auch an der Zusammensetzung und den Kompetenzen der sogenannten Stände- versammlungen sichtbar. Das Wahlrecht war keineswegs allgemein. Wahl- berechtigt waren nur Männer, die mindestens 25 Jahre alt waren und ein nicht geringes Ver- mögen oder ein hohes Einkommen nachweisen konnten. Noch höher lagen die Hürden beim passiven Wahlrecht. Während in Baden immer- hin 17 Prozent der Bevölkerung das aktive Wahlrecht besaßen, konnten nur ungefähr 6.000 Badener (0,7 Prozent der Bevölkerung)

„... die eigentliche Schule des vormärzlichen Liberalismus“: deutsche Parlamente vor 1848

84 daran denken, für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren. An solchen Beschränkungen waren nicht nur die monarchischen Regierungen in­ teressiert, die den Kreis derjenigen, die in Zu- kunft politische Mitspracherechte in Anspruch nahmen, so klein wie möglich halten wollten, sondern auch die Vertreter der liberalen Be­ wegung, die durch den Auf- und Ausbau des Rechts- und Verfassungsstaats aus Untertanen­ konnte. Die Zweite Kammer dagegen war eine Bürger machen wollten, die als Vertreter der Wahlkammer, deren Mitglieder nach relativem Gesellschaft im Staat mitbestimmen und deren Mehrheitswahlrecht gewählt wurden. Diese Rechte gegen den Staat gesichert werden sollten. Aussage gilt allerdings uneingeschränkt nur für Während die Regierungen überzeugt waren, die Zweite Kammer in Baden. Natürlich waren dass wohlhabende Bürger ihren Wohlstand den auch Bayern und Württemberg in Wahlbezirke bestehenden Zuständen verdankten und des- eingeteilt, in denen jeweils ein Mandat ver­ halb nur wenig an Veränderungen in­teressiert geben wurde. In den Zweiten Kammern der seien, sahen die Liberalen eben diesen Wohl- beiden Königreiche saßen aber außerdem Ver- stand in Gefahr, wenn die Besitzlosen das treter des grundbesitzenden Adels, der Kirchen Wahlrecht bekommen würden. und der Universitäten, die in Baden der Ersten Die Parlamente bestanden in der Regel aus einer Kammer angehörten. Das waren Abgeordnete, Ersten und einer Zweiten Kammer. Die Erste die ihr Mandat entweder von Amts wegen in- Kammer war eine Art Oberhaus oder Herren- nehatten, wie die zehn Vertreter der Kirchen in haus, die Zweite Kammer das Unterhaus oder Württemberg, oder Abgeordnete, die zwar ge- Abgeordnetenhaus. Der Ersten Kammer gehör- wählt worden waren, aber eine begrenzte und ten nur Mitglieder privilegierter Gruppen an. sehr kleine Sozialgruppe vertraten. Das moderne Den Kern bildeten Prinzen der regierenden Prinzip der parlamentarischen Repräsentation, Dynastie und Vertreter des Hochadels, die ihren bei dem Mandate weder von Amts wegen ver- Sitz ihrer Geburt verdankten und ebenso wenig geben noch für bestimmte Gruppen reserviert gewählt wurden wie die Herren, die der regie- werden, wurde konsequent nur für die Zweite rende Fürst nach freiem Ermessen ernennen badische Kammer verwirklicht.

Seite 82/83: Sitzung der Verfassunggebenden Nationalversammlung in der Frank- furter Paulskirche im Jahr 1848. Lithografie nach einer Zeichnung von Fritz Bamberger, 1848

links: Der Sitzungssaal der Zweiten Kammer im Karlsruher Ständehaus. Blick von der Besuchertribüne. Links im Bild die Nische mit dem Thronsessel hinter dem Präsidium. Der Thronsessel des Großherzogs war mit dem Rücken zur Versamm- lung gedreht, wenn der Großherzog nicht an der Sitzung teilnahm. Stahlstich, 1847

85 Trotz all dieser Beschränkungen war die Ge- schichte dieser drei Parlamente im Vormärz, Die Kompetenzen der süddeutschen Parlamen- den Jahrzehnten vor der Revolution 1848, eine te waren eng begrenzt. Zwar durften Gesetze Erfolgsgeschichte. In immer neuen Anläufen nur mit Zustimmung der beiden Kammern er- und im Rahmen oft heftiger Auseinanderset- lassen werden; sie bedurften jedoch auch der zungen mit den monarchischen Regierungen Zustimmung des regierenden Fürsten. Lehnte setzten die liberalen Abgeordneten, von denen er ein Gesetz ab, das in den beiden Kammern viele immer wieder starken Pressionen und eine Mehrheit gefunden hatte, war es geschei- Verfolgungen durch die Behörden ausgesetzt tert. Der Monarch war damit ein gleichberech- waren, die von der Inhaftierung bis zur Ver- tigtes Mitglied der Legislative und stand als nichtung der beruflichen Existenz reichten, Staatsoberhaupt zugleich an der Spitze der Schritt für Schritt den Aufbau des Rechts- Exekutive. Er berief und entließ die Mitglieder und Verfassungsstaats durch, ohne dieses der Regierung, auf deren Besetzung das Parla- Ziel vollständig erreichen zu können. ment keinen Einfluss hatte. Im Zentrum der Ge- Die Tätigkeit außerhalb und in den Parlamen- setzgebungstätigkeit der Parlamente stand die ten bot den Liberalen ein Exerzierfeld für die Zustimmung zur Erhebung von Steuern und politische Praxis. Insbesondere die Zweite zur staatlichen Kreditaufnahme; die Ausgaben badische Kammer, deren Zusammensetzung dagegen wurden von der fürstlichen Regierung ihr ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal ver- festgesetzt und mussten keineswegs von den schaffte, gilt bis heute als „die eigentliche Kammern gebilligt werden, die damit nicht Schule des vormärzlichen Liberalismus“, wie über das volle Haushaltsrecht verfügten. Das es der Historiker Franz Schnabel formulierte. Recht der Gesetzesinitiative blieb der Regie- Kein Wunder also, dass die Revolution 1848 rung vorbehalten; die Abgeordneten konnten in Deutschland zwar von den revolutionären nur auf dem Weg der Gesetzespetition Vor- Ereignissen in ­Paris angeregt wurde, aber von schläge unterbreiten. Baden ausging.

86 Der „Halbmondsaal“, Tagungsort des württembergischen Parlaments von 1819 bis 1933. Der Saal, der im Frühjahr 1819 durch den Architek- ten Gottlob Georg Barth in einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert eingerichtet wurde, war der erste deutsche Plenarsaal. Lithografie von Jakob Heinrich Renz, 1833

87 Als die Nachricht eintraf, der französische ­König Louis-Philippe I. habe nach zweitägigen Straßen- und Barrikadenkämpfen abgedankt, saß der Abgeordnete Friedrich Hecker mit Frak- tionskollegen im Gasthaus „Pariser Hof“ in Karlsruhe beim Abendessen. Ein Schauspieler des Karlsruher Theaters, so erinnert sich Hecker, habe „heftig“ den Raum betreten und die auf­ regende Information aus Paris, die er von einem Kurier bekommen haben will, der versammel- ten Politprominenz mitgeteilt. Diese habe enthusiastisch reagiert, sei von den Sitzen aufgesprungen und sich sofort einig gewesen, dass jetzt die Zeit zum Handeln gekommen sei. Wie aus einem Mund sei der Ruf ertönt: „Jetzt rasch ans Werk für Deutschlands Befreiung.“ Bereits am nächsten Tag, dem 27. Februar 1848, einem Sonntag, fand in Mannheim eine Volks- versammlung statt, die mehrere Tausend Teil- nehmer gehabt haben soll und auf der fast alle Führungsfiguren der badischen Opposition auf- traten. Die Versammlung verabschiedete eine Petition an die Zweite Kammer, in der vier ­Forderungen aufgestellt wurden, deren „unge- säumte“ Erfüllung mit Nachdruck verlangt

„Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland“: die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main

88 wurde: „1. Volksbewaffnung mit freier Wahl der Offiziere. 2. Unbedingte Pressefreiheit. 3. Schwurgerichte nach dem Vorbild Englands. 4. Sofortige Herstellung eines deutschen Par­ laments.“ Diese vier Forderungen fanden als „Mannheimer Forderungen“ in den nächsten Fast überall jedoch ging es so friedlich zu wie ­Tagen rasche und weite Verbreitung in anderen am 1. März 1848 in Karlsruhe, der ersten Groß- Städten des Landes, aber vor allem auch in kundgebung der Märzrevolution, die wie die den Hauptstädten der anderen Mitgliedstaaten „Mannheimer Forderungen“, die an diesem des Deutschen Bundes, wo sie ergänzt und er- Tag offiziell dem Präsidenten der Zweiten badi- weitert und schließlich zusammenfassend als schen Kammer übergeben werden sollten, in „Märzforderungen“ bezeichnet wurden. anderen Städten zum Vorbild wurde. Tausende Diese Forderungskataloge wurden auf zahlrei- waren dem Aufruf der Mannheimer Versamm- chen Versammlungen und Kundgebungen vor- lung gefolgt und, oft festlich gekleidet und mit getragen, per Akklamation verabschiedet und schwarz-rot-goldenen Kokarden an den Hüten, dann als Petition an Regierungen und parla- aus allen Landesteilen mit dem Zug in die ba- mentarische Körperschaften übergeben. Die dische Hauptstadt gekommen, um vor das Stän- ­Delegationen, die mit der Übergabe beauftragt dehaus zu ziehen und damit die Dringlichkeit waren, wurden von Großdemonstrationen be- der Forderungen zu unterstreichen. gleitet, die zu den Residenzen der Monarchen, Die Erfüllung von drei der vier Forderungen den Regierungs- und Parlamentsgebäuden der Petition war vor deren Übergabe bereits zogen und den Forderungen durch die unüber- ­zugesagt worden. Der badische Innenminister sehbare Präsenz von oft mehreren Tausend Johann Baptist Bekk hatte in der Sitzung Teilnehmern zusätzlich Nachdruck verliehen. am Vortag den Abgeordneten im Namen der Nur in ganz seltenen Fällen kam es zu Tumul- Regierung erklärt, ein Gesetz über die Einrich- ten oder spontanen Ausschreitungen. Die tung von Bürgerwehren, also die geforderte Hauptstädte der beiden deutschen Großmächte Volksbewaffnung, sei ebenso in Arbeit wie allerdings, Wien und Berlin, sahen ab Mitte ein Gesetz über die Einführung von Schwur­ März eine Eskalation der Gewalt, mit Straßen- gerichten; das sehr liberale Pressegesetz vom schlachten und Barrikadenkämpfen, mit dem 28. Dezember 1831, mit dem die Zensur fak- Einsatz des Militärs und mit vielen Verletzten tisch abgeschafft, das aber kurze Zeit später und zahlreichen Todesopfern. kassiert ­wurde, werde sofort wieder in Kraft

Zug von Teilnehmern am Hambacher Fest zum Hambacher Schloss bei Neustadt in der Rheinpfalz. Das Hambacher Fest, das vom 27. Mai bis 1. Juni 1832 stattfand und bis zu 30 .000 Teilnehmer gehabt ­haben soll, versammelte die Prominenz der liberalen und demokratischen Oppo- sition vor allem ­Süddeutschlands. Geplant als Feier zum Jahrestag der bayerischen ­Verfassung am 26. Mai, wurde die Veranstaltung nach ihrem Verbot zum Schauplatz einer ein- drucksvollen Kundgebung gegen die Verfolgung­ und Unterdrückung durch die monarchischen Regierungen. Die linksrheinische Pfalz, die zu ­Bayern gehörte, hatte sich in den ­Jahren zuvor bereits als Zentrum der liberalen Opposition profiliert. Gemälde von Joseph Weber, um 1840

89 treten. Die libe­rale Opposition nahm die Gele- genheit der großen Konzessionsbereitschaft der Regierung wahr und legte einen Antrag mit Das Großherzogtum Baden hatte ein vom Ver- sechs weiteren Forderungen vor. Dazu gehörten trauen der Mehrheit des Parlaments getragenes unter anderem die rechtliche Gleichstellung „Märzministerium“ und damit zwar nicht de aller Religions­ gemeinschaften­ und die Beseiti- jure, aber de facto eine parlamentarische Regie- gung noch bestehender Vorrechte einzelner So- rung. zialgruppen, die Aufhebung aller Feudallasten Ungeachtet zahlreicher lokaler und regionaler und die Einführung eines gerechten Steuersys- Besonderheiten waren die Entwicklungen in tems mit ­einer progressiven Einkommensteuer. den meisten anderen Staaten des Deutschen Die Kommis­sion, die den Antrag beriet, legte Bundes während der kommenden Wochen des auf der Sitzung am nächsten Tag eine Beschluss­ März 1848 im Ergebnis denen im Großherzog- vorlage vor, in der der Forderungskatalog prä­ tum Baden vergleichbar. In Württemberg und zisiert und erweitert wurde. Eine neue Forde- Bayern, in Hessen-Darmstadt und Hessen-­ rung war, dass „das Staatsministerium … nur , in Hannover und Sachsen, aber auch mit Männern besetzt werden“ solle, „welche in einer Reihe kleinerer Staaten in Mittel- und das allgemeine Vertrauen des Volks genießen“. Norddeutschland wurden liberale Politiker in Deut­licher gesagt: Alle Minister, deren politi- die Märzministerien berufen, am 29. März so- sche Überzeugung und Handlungen in Wider- gar in Preußen. Überall wurden die „Märzfor- spruch zum Programm der liberalen Mehrheit derungen“ mehr oder weniger schnell erfüllt. im Parlament standen, sollten sofort durch Mit- Die Forderung nach „sofortiger Herstellung ei- glieder dieser Mehrheit oder durch Personen nes deutschen Parlaments“ konnte jedoch von ersetzt werden, die ihr politisch nahestanden. keiner einzelstaatlichen Regierung erfüllt wer- Diese Forderung wurde wie die gesamte Be- den. Der erste Schritt auf dem Weg zu diesem schlussvorlage der Kommission fast einstimmig Ziel ging deshalb von einer Versammlung aus, an­genommen. Bereits zwei Tage danach, am die am 5. März im Gasthaus „Badischer Hof“ in 4. März 1848, konnten die Regierungsvertreter Heidelberg 51 prominente liberale Politiker zu- dem Parlament im Namen des Großherzogs die sammenführte. Die Teilnehmer veröffentlichten Erfüllung sämtlicher Forderungen zusagen; am nach kontroversen Debatten ein Manifest, das 7. März traten an die Stelle der Minister, auf die Wahl einer Verfassunggebenden National- die dieser Antrag zielte, liberale Amtsinhaber. versammlung in den Mittelpunkt stellte.

90 Zur Vorbereitung dieser Nationalversammlung sollte so bald wie möglich eine „Versammlung von Vertrauensmännern aller deutschen Volks- stämme“ zusammentreten. Die Einladung zu des Römers selbst zu tagen, der sich aber als zu dieser Versammlung übernahm ein Ausschuss klein erwies. Dass der Kaisersaal, in dem die von sieben Teilnehmern der Heidelberger Ver- Kaiserkrönungen stattzufinden pflegten, den- sammlung, der überdies den Auftrag hatte, un- noch für die Eröffnungssitzung genutzt wurde, ter der Federführung von Carl Theodor Welcker sollte ein deutliches Zeichen setzen, dass man Grundzüge einer „deutschen Parlamentsverfas- im Begriff stand, ein deutsches Reich zu errich- sung“ zu entwerfen. Nach der Fertigstellung ten, das in eine wie auch immer interpretierte diese Richtlinien am 12. März 1848 lud der Kontinuität zum mittelalterlichen Reich gestellt „Siebenerausschuss“ per Zeitungsanzeige und werden sollte. in persönlichen Briefen die „Vertrauensmän- Die Verhandlungen, an denen 574 aktive und ner“ am 30. März zur Versammlung in Frank- ehemalige Mitglieder einzelstaatlicher Stände- furt ein. versammlungen, aber auch einflussreiche libe- rale Politiker ohne Mandat wie Robert Blum aus Leipzig und Gustav von Struve aus Mann- „Versammlung von Vertrauensmännern heim teilnahmen, begannen mit einem Pauken- aller deutschen Volksstämme“: schlag. Struve stellte im Namen der Linken ei- das Frankfurter Vorparlament nen Antrag, der als „Gesamtantrag“ bezeichnet wurde, denn er „greift in das ganze künftige Am 31. März 1848, morgens um halb zehn, läu- Staatsleben ein“, wie der Präsident den Antrag teten alle Glocken der Stadt, die seit dem Vor- kommentierte. Struves Antrag, der eine Liste tag in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer von Forderungen enthielt, die seit Jahren wie- schwamm. Ehrenpforten aus Tannengrün wa- derholt gestellt worden waren und von denen ren aufgestellt, Salutschüsse wurden abgefeu- viele in den Grundrechten der Verfassung, die ert, und ein Spalier der Bürgergarden und der die Nationalversammlung erarbeiten wird, um- Turnvereine säumte den Weg, den die „Vertrau- gesetzt wurden, gipfelte in der Forderung nach ensmänner“ vom Römer in die Paulskirche „Aufhebung der erblichen Monarchie“, der Ein- nahmen. Zunächst war geplant, im Kaisersaal richtung „frei gewählter Parlamente“ und der

Einzug der Mitglieder des Frank­ furter Vorparlaments in die Pauls- kirche am 30. März 1848. Mitglieder von Turnvereinen bilden Spalier. Die Turnvereine galten neben den Gesangsvereinen als die wichtigsten­ Schrittmacher der konstitutionellen Nationalbewegung. Lithografie von Jean Nicolas Ventadour, 1848

91 Gründung eines Bundesstaats mit einem Präsi- denten nach amerikanischem Vorbild an der nische, demokratische, aber auch soziale Ziele Spitze. Überdies schlug Struve vor, das Vorpar- zu erreichen, versuchten die konstitutionellen lament bis zur Wahl und Einberufung der Nati- Liberalen zu bremsen. Gerade weil es mit der onalversammlung nicht aufzulösen; vielmehr weitgehend friedlichen Massenbewegung ge- solle es inzwischen gesetzgeberische Maßnah- lungen war, innerhalb von Wochen Ziele zu men für den Aufbau des neuen Staates ergrei- erreichen, für die man seit Jahren in den Parla- fen und durch einen Vollzugsausschuss ver- menten vergeblich gefochten hatte, wuchs die wirklichen lassen. Befürchtung, von dieser Bewegung überholt An diesem Antrag wurde deutlich sichtbar, wie und bedroht zu werden. Den konstitutionellen weit bereits die Spaltung der liberalen Bewe- Liberalen kam es deshalb vor allem darauf an, gung gediehen war. Die Differenzen zwischen die Revolution in legale und staatliche Bahnen einer demokratischen und zunehmend republi- zu lenken – ein Vorhaben, das durch die Ent- kanischen Linken auf der einen Seite und den wicklungen der letzten Wochen, durch die Be- sogenannten konstitutionellen Liberalen auf reitschaft der Regierungen, die Märzforderun- der anderen Seite, die die konstitutionelle gen zu akzeptieren, realistisch erschien. Dass Monarchie auf ihre Fahnen geschrieben hatten, diese Hoffnung trügerisch war, da die Regie­ waren seit Jahre durch die gemeinsame Front- rungen ihre Konzessionen weitgehend nur ge- stellung gegen die monarchischen Regierungen macht hatten, um Zeit für die Gegenrevolution in den Hintergrund getreten. Den Liberalen hatte zu gewinnen, haben nur wenige sehen wollen. die massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung Der Antrag Struves hatte wegen der klaren in den letzten Wochen, die politische Rechte Mehrheitsverhältnisse im Vorparlament keine forderte, deutlich gemacht, welche weitgehen- Chance, angenommen zu werden. Er wurde den Ziele auf diesem Wege erreicht werden nicht einmal diskutiert. Das Vorparlament konnten. Während die linken Liberalen diesen musste dann aber auch auf die Debatte über die Vorschub nutzen wollten, um neue republika- Vorlage des „Siebenerausschusses“ verzichten;

92 man beschloss, den Handlungsspielraum der Verfassunggebenden Nationalversammlung durch keine Vorentscheidungen zu begrenzen und sich deshalb auf die Verabschiedung der ne Rolle gespielt hatte. Wie diese nachträgliche Wahlrechtsbestimmungen für die Nationalver- und vom Vorparlament nicht autorisierte Ein- sammlung zu beschränken. schränkung in die ver­öffentlichten und damit Im Zentrum der Debatten über das Wahlrecht verbindlichen Richt­linien Eingang finden stand die Frage, ob indirekt oder direkt gewählt konnte, ist bis heute ungeklärt.­ werden solle. Vor allem Vertreter der linken Den Einzelstaaten, die mit der Durchführung Seite des Hauses traten mit Nachdruck für die der Wahl beauftragt waren, blieb ein erhebli- direkte Wahl ein, da mit der indirekten Wahl cher Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung der Volkswille nicht angemessen zum Ausdruck der Vorgaben für die Wahl. Entgegen der Emp- gebracht werden könne. Am 1. April 1848 ent- fehlung des Vorparlaments wurde in den meis- schied sich die Versammlung für die direkte ten Staaten indirekt gewählt; was unter Selbst- Wahl. Völlig unumstritten schienen die Allge- ständigkeit zu verstehen sei, definierte jeder meinheit und die Gleichheit des Wahlrechts Staat für sich und zwar meist anders als die zu sein. Dass das Wahlrecht in keiner Weise ­anderen. Dadurch waren die Angehörigen be- beschränkt werden dürfe, wurde deutlich zum stimmter Personengruppen in einem Land Ausdruck gebracht, als mit großer Mehrheit be- wahlberechtigt, in einem anderen aber nicht. schlossen wurde, dass „jeder volljährige Staats- Trotz der Unterschiede der einzelstaatlichen angehörige wahlberechtigt sein soll“. In der Regelungen kann man sagen, dass das Wahl- Zusammenstellung der Beschlüsse des Vorpar- recht für die erste deutsche Verfassunggebende laments, die am 4. April 1848, einen Tag nach Nationalversammlung, bei der im Durchschnitt dem Ende der Sitzungen, veröffentlicht wurde, etwa 80 Prozent aller volljährigen deutschen fand sich jedoch das Beiwort „selbstständig“, Männer wählen durften, außerordentlich demo- das in der Debatte und in der Abstimmung kei- kratisch war.

Sitzung des Vorparlaments in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 2. April 1848. Holzstich, 1848

93 zung der Amtszeit des Parlamentspräsidenten Zwischen „Donnersberg“, „Casino“ und eingeführt worden war, da man befürchtete, „Café Milani“: die Frankfurter National­ bei einer längerfristigen Besetzung des Amtes versammlung als Fraktionenparlament könne dessen Inhaber eine schwer kontrol­ lierbare Machtposition zuwachsen. Heinrich Am 18. Mai 1848 war die Stadt Frankfurt am von Gagern wurde bis zu seinem Rücktritt Main erneut festlich geschmückt. „Punkt 4 Uhr“, am 17. Dezember 1848 jedes Mal mit großer heißt es im Protokoll, „setzten sich die deut- Mehrheit wiedergewählt. schen Nationalvertreter in Bewegung“, um sich Im Verlauf der Sitzung, an deren Beginn der aus dem Kaisersaal des Römer, in dem die Eröff- Präsident gewählt wurde, stellte der Kölner nungssitzung mit der Wahl des Alterspräsiden- Abgeordnete Franz Raveaux einen Antrag, bei ten stattgefunden hatte, „in feierlichem Zuge“ dessen weiterer Behandlung ein grundsätzliches durch das Spalier der Frankfurter Stadtwehr, Problem parlamentarischer Entscheidungs­ „mit entblößtem Haupte in die Paulskirche zu findung zutage trat. Als die Kommission, an begeben“. die der Antrag überwiesen worden war, fünf Am nächsten Tag wurde Heinrich von Gagern Tage später ihren Bericht vorlegte, waren mehr zum Präsidenten der Nationalversammlung als 30 Amendments, also Abänderungs- oder ­gewählt. Der liberal-konstitutionelle Politiker ­Ergänzungsanträge, eingegangen; in die Red­ gehörte zu den führenden Teilnehmern des nerliste hatten sich mehr als 90 Abgeordnete Vorparlaments und der Heidelberger Versamm- ­eintragen lassen. Der Präsident befürchtete lung; noch am Abend des 5. März, als die Ver- ­angesichts dieses „Antragsfiebers“, dass die sammlung in Heidelberg auseinanderging, ­Diskussion eine ganze Woche in Anspruch neh- wurde von Gagern, der seit 1832 Mitglied der men werde, wenn nicht ein Weg gefunden wer- Zweiten Kammer in Hessen-Darmstadt war, den könne, die Prozedur zu straffen. Er schlug zum Ministerpräsidenten ernannt und war da- vor, die Amendments den insgesamt vier An- mit wohl der erste „Märzminister“ überhaupt. trägen, die die Kommission vorgelegt hatte, je Die Präsidentenwahlen mussten übrigens mo- nach Inhalt zuzuordnen, sodass nicht mehr 30, natlich wiederholt werden, da die Amtszeit sondern nur noch vier Anträge begründet und des Präsidenten auf vier Wochen begrenzt war. diskutiert werden müssten. „Es wird ein böses Diese Regelung verdankt sich der Orientierung Beispiel sein“, gab von Gagern zu bedenken, am Vorbild der Geschäftsordnung der französi- „wenn wir uns jetzt nicht unter bestimmte Füh- schen Nationalversammlung, wo diese Begren- rer und Meinungen zu organisieren wüssten.

94 Konstituierende Sitzung der Verfas- sunggebenden Nationalversamm- lung in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 18. Mai 1848. Im Hin- tergrund oben eine allegorische ­Darstellung der „Germania“. Das Gemälde von Philipp Veit verdeckte die Orgel. Lithografie, 1848

95 ihnen, die oft seit Jahren in einzelstaatlichen Parlamenten Mandate innehatten, wussten na- türlich, dass politische Ziele kaum von Einzel- kämpfern zu erreichen waren, sondern der Un- Wir müssen dies tun, denn wenn jeder seine terstützung durch Gleichgesinnte bedurften, eigene Ansicht, so unbedeutend auch die um im Plenum mehrheitsfähig zu sein. Solche Nuance sein mag, begründen wollte, würden Mehrheiten mussten organisiert werden. wir eine lange Zeit verschwenden.“ Die Ver- Eine Reihe von Abgeordneten, die bereits einige sammlung folgte diesem Vorschlag. Als vier Tage vor der Eröffnung der Nationalversamm- Wochen später das Problem erneut akut wurde, lung angereist waren, trafen sich mit politischen da am vierten Tag der Debatte erst 45 der ins­ Freunden und machten sich auf die Suche gesamt 189 Redner zu Wort gekommen waren, nach „Klublokalen“. Vor der Eröffnung der die sich in die Rednerliste hatten eintragen las- konstituierenden Sitzung wurden Handzettel sen, traf der Vorschlag auf breite Zustimmung, verteilt, mit denen Anhänger der konstitutio- sich auf neun statt der vorliegenden 49 Anträge nellen Monarchie für den nächsten Morgen zu ei­nigen, für die jeweils zwei Abgeordnete um 8.00 Uhr in die „Mainlust“, Anhänger der am nächsten Tag sprechen sollten. Der Präsi- republikanischen Staatsform noch am selben dent bat nach der Abstimmung „die Parteien, Abend um 21.00 Uhr in den „Holländischen sich nach diesen Kategorien die Redner heute Hof“ eingeladen wurden. Das Treffen am nächs- Abend auszuwählen“. ten Morgen in der „Mainlust“ hatte einen Kreis Der Präsident spielte hier auf die Entwicklung prominenter liberal-konstitutioneller Politiker zur Bildung politischer Organisationen an, die organisiert, um die Wahl Heinrich von Gagerns sich längst außerhalb der Versammlung ange- zum Präsidenten zu verabreden und durch die bahnt hatte. Die Abgeordneten waren ja nicht Verteilung von Stimmzetteln, auf denen der als Mitglieder von Parteien gewählt worden, Name ihres Favoriten gedruckt war, Wahlwer- die es in organisierter Form noch gar nicht gab, bung und Entscheidungshilfe zu betreiben. sondern als Honoratioren, als Persönlichkeiten, Die Mehrzahl der Abgeordneten, die nicht zu deren Stellung im gesellschaftlichen und wirt- den Netzwerkern gehörte, die seit Jahren mitei- schaftlichen, manchmal auch im politischen nander in Verbindung standen und sich von Leben ihrer Heimatregion die Vermutung nahe- Versammlungen oft auch persönlich kannten, legte, dass sie den Aufgaben eines Abgeordne- mussten zunächst einmal herausfinden, welche ten gewachsen wären. Erfahrene Politiker unter Gruppierung ihren eigenen politischen Ansich-

Mitglieder der Fraktion „Casino“ in der Frankfurter Nationalver- sammlung. Die Fraktionen der Nationalversammlung wurden nach ihren Tagungsorten benannt. Die „Casino“-Fraktion war die größte Fraktion der Nationalversammlung. In ihr sammelten sich die rechten Libera­len, die als „Erbkaiserliche“ eine konstitutionelle Monarchie anstrebten. In der Bildmitte am Tisch sitzt Carl Theodor Welcker. Lithografie von Friedrich Pecht, 1848

96 Im Spätsommer und Herbst hatte sich ein eini- germaßen stabiles Gerüst von insgesamt acht Klubs gebildet, die sich wiederum vier Gruppen zuordnen lassen: die Linke mit dem „Donners- berg“ und dem „Deutschen Haus“, das linke Zentrum mit der „Westendhall“ und dem ten am nächsten kam. „Die neuangekommenen „Württemberger Hof“, das rechte Zentrum mit Abgeordneten,“ erinnerte sich Karl Biedermann, dem „Augsburger Hof“, dem „Landsberg“ und Philosophieprofessor und linksliberaler Abge- dem „Casino“ und die Rechte mit dem „Café ordneter aus Leipzig, „liefen scharenweise von Milani“. Das „Casino“ hatte zeitweise mehr einem Club zum andern, um sich zu orientieren als 100 Mitglieder; als der mit Abstand größte und die ihren politischen Neigungen und An- Klub, dem die liberal-konstitutionelle politi- sichten entsprechende Stelle auszufinden.“ sche Prominenz von Friedrich Daniel Basser- Nach einigen Wochen mit großer Fluktuation mann bis Carl Theodor Welcker angehörte, war schienen sich die Selbstverständigungsprozesse das „Casino“ die führende Gruppe in der Natio- so weit entwickelt zu haben, dass sich feste nalversammlung, ohne deren Beteiligung kaum Kreise von Abgeordneten, die zentrale politi- eine Entscheidung getroffen werden konnte. sche Grundüberzeugungen teilten, regelmäßig Auch die beiden Präsidenten der Nationalver- am Abend in entsprechenden Räumen eines sammlung, Heinrich von Gagern und Eduard Frankfurter gastronomischen Betriebs trafen. Simson, der von Gagern im Dezember 1848 ab- Gleichwohl blieben die programmatischen löste, waren Mitglieder des „Casino“. Festlegungen durchweg sehr allgemein, und Wie zügig der Integrationsprozess der Klubs es gab zahlreiche Überschneidungen im Detail. verlief, wird deutlich sichtbar an der Tatsache, Da es deshalb fast aussichtslos war, für jeden dass im Laufe des Sommers Satzungen aufge- Klub einen Namen zu finden, der die eindeutige stellt wurden, deren Verbindlichkeit jedes Mit- Identifikation seiner politischen Spezifik und glied durch Unterschrift bestätigte und akzep- damit zugleich eine präzise Abgrenzung zu den tierte. Aus den geselligen Abendrunden, auf anderen Klubs erlaubt hätte, bot sich die Be- denen der Meinungsaustausch mit politischen nennung der Klubs nach den Namen der gastro- Freunden gepflegt und Verabredungen getroffen nomischen Betriebe an, in denen die Versamm- wurden, waren im Verlauf weniger Wochen lungen stattfanden. Parlamentsfraktionen entstanden.

Mitglieder der Fraktion „Casino“ in der Frankfurter Nationalver- sammlung. In der Bildmitte am Tisch steht Heinrich von Gagern. Lithografie von Friedrich Pecht, 1849

97 Dass die Nationalversammlung in Wirklichkeit längst ein Fraktionenparlament war, in dem die Fraktionen zunehmend zu wichtigen Akteuren des parlamentarischen Ablaufs wurden, wird indirekt an der Tatsache sichtbar, dass immer Damit war explizit nicht nur die Existenz von wieder Klagen laut wurden, mit den Reden im Fraktionen in der Nationalversammlung, son- Plenum keinen Abgeordneten mehr überzeugen dern auch ihre Rolle bei der Entscheidungsvor- zu können. „Da die Clubs“, so Friedrich von bereitung und der Entscheidungsfindung im Raumer, Historiker und liberaler Abgeordneter Parlament anerkannt. Von Parteien im moder- aus Berlin in einem Brief im Januar 1849, „ent- nen Sinne konnte natürlich keine Rede sein, scheiden, wie jeder stimmen soll, so ist alle Re- auch wenn dieser Begriff nicht nur in diesem derei in der Paulskirche eigentlich unnütz, und Zusammenhang benutzt wurde, um die Frak­ man sollte nur die Stimmzettel aus den Clubs tionen zu bezeichnen. Offizielle Anerkennung, hinschicken.“ Gleichwohl war von Raumer etwa durch Aufnahme in die Geschäftsord- Mitglied im „Casino“ und wusste die Vorteile nung, erhielten die Fraktionen der Frankfurter einer solchen Fraktionszugehörigkeit durchaus Nationalversammlung jedoch nie. Es wurde so- zu schätzen. gar ängstlich vermieden, sie ausdrücklich zu Einen weiteren Hinweis bietet die Sitzordnung erwähnen; wenn sich eine Bezugnahme nicht in der Paulskirche. Noch Anfang Juni 1848 saßen umgehen ließ, wurden neutrale Umschreibun- die Abgeordneten bunt durcheinander; bereits gen gewählt. Dieses Verhalten, das im Wider- Anfang Juli bildet sich jedoch Blöcke nach spruch zum Alltag der parlamentarischen Fraktionen aus, die dem aus der französischen ­Praxis stand, verdankte sich zum einen der Nationalversammlung stammenden Links-Rechts- T­atsache, dass kontinuierlich etwa 20 Prozent Schema folgten. der Abgeordneten fraktionslos blieben; auf die- Da keine Fraktion für sich allein eine Mehrheit se sogenannten Stegreifritter musste Rücksicht bilden konnte, mussten vor Abstimmungen ­genommen werden. Zum anderen hielt wohl Absprachen zwischen den Fraktionen getroffen die Mehrheit an dem Gedanken fest, es handle werden. Angesichts der sehr beengten räumli- sich bei der Nationalversammlung um eine chen Verhältnisse, unter denen die Nationalver- ­Versammlung von Honoratioren. sammlung arbeitete und die dazu führten, dass

98 „Herstellung eines deutschen Parlaments“: die Verfassung der Frankfurter Paulskirche

In der kurzen Dankesrede nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten erinnerte Heinrich von Gagern die Mitglieder der Nationalversamm- lung an den Hauptzweck der Versammlung in der Frankfurter Paulskirche. „Wir haben die Kommissions- und Ausschusssitzungen in an- große Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen gemieteten Privaträumen stattfinden mussten, eine Verfassung für Deutschland, für das ge- die über die Stadt verteilt waren, standen für samte Reich.“ Am 24. Mai wurde ein Verfas- interfraktionelle Besprechungen keine Räume sungsausschuss eingesetzt, dem 30 Abgeordne- zur Verfügung. Die Fraktionen waren deshalb te angehörten, die den Auftrag hatten, einen gezwungen, sich wechselseitig im jeweiligen Entwurf zu erarbeiten. Die Erfüllung dieser Gasthaus zu besuchen. Aufgabe war mit einer ganzen Reihe von Pro­ In der weiteren Entwicklung ging es allerdings blemen verbunden. Denn den Staat, der eine weniger öffentlich zu. Höhepunkt der Entwick- Verfassung erhalten sollte, gab es noch gar lung der Zusammenarbeit zwischen Fraktionen nicht. Die Gründung eines Verfassungsstaats der Nationalversammlung war sicher die Ein- musste zugleich die Gründung eines National- richtung der „Neunerkommission“ im Oktober, staats sein, der mehr war als ein Staatenbund in dem je drei Vertreter von „Casino“, „Lands- souveräner Einzelstaaten, wie es der Deutsche berg“ und „Augsburger Hof“ regelmäßig zur Bund war. Vorberatung aller wichtigen Verhandlungsge- Zunächst musste die Frage beantwortet wer- genstände zusammenkamen, um im Plenum den, ob dieser neue Staat ein Bundesstaat oder einheitlich auftreten zu können. Allerdings ein Einheitsstaat, eine Monarchie oder eine Re- konnten die Mitglieder dieses interfraktionel- publik werden sollte. Angesichts der Tatsache, len Ausschusses nur Empfehlungen geben, die dass 34 der 38 Mitgliedstaaten des Deutschen in der Klubversammlung angenommen werden Bundes von Monarchen regiert wurden, die mussten. Gab es dabei Probleme, wurden eben für ­einen Einheitsstaat ihre Herrschaft hätten Deputationen auf den Weg geschickt, denen aufgeben müssen, war ein Einheitsstaat ebenso man dann möglicherweise in den Gassen der wenig vorstellbar wie ein republikanischer Frankfurter Altstadt begegnen konnte. ­Gesamtstaat mit Monarchien als Einzelstaaten.

Mitglieder der Fraktion „Augsburger Hof“ in der Frankfurter National­ versammlung. Der „Augsburger Hof“ bildete mit dem „Casino“ und dem „Landsberg“ die informelle Mehrheitskoalition der rechten ­Mitte in der Nationalversammlung. In der Bildmitte sitzen und Wilhelm ­Beseler (v. l.). Lithografie von Friedrich Pecht, 1849

99 27. November deutlich, als der österreichische Ministerpräsident Felix Fürst zu Schwarzenberg Da sich ohnehin sowohl für den Einheitsstaat eine Erklärung abgab, nach der „Österreichs als auch für die Republik nur etwa 30 Prozent Fortbestand in staatlicher Einheit“ nicht zur der Mitglieder der Nationalversammlung auf Disposition stehe. der Linken starkmachten, war die Entschei- Noch bevor die Fragen der territorialen Abgren- dung für den monarchischen Bundesstaat fast zung, der Staats- und Regierungsform, die Fra- unausweichlich. gen der Staatsorganisation und der Verteilung Besonders schwierig war die Antwort auf die der Macht zwischen den Staatsorganen, vor scheinbar einfache Frage, wo denn die Grenzen ­allem aber die Frage, auf welche Weise die Bür- dieses Deutschland, das eine Verfassung be- ger dieses Staates über ein Parlament an dessen kommen sollte, verlaufen. Das alles überragende Entscheidungen beteiligt werden, die Forde- Hauptproblem war die Frage, wie Österreich in rung also nach „Herstellung eines deutschen einen deutschen Nationalstaat integriert wer- Parlaments“, die ja den Ausgangspunkt gebil- den könne. Dem Deutschen Bund gehörte das det hatte, ausführlich und oft kontrovers dis­ Habsburgerreich nur mit seinen deutschen Tei- kutiert wurden, widmete sich die National­ len an. Diese für einen Staatenbund praktikable versammlung den Grundrechten. Lösung war für einen Bundesstaat als National- Der Grundrechtskatalog der Verfassung der staat nicht geeignet. Aus dem Vorschlag des Ver- Paulskirche begründet als Abschnitt VI in fassungsausschusses, dem neuen Bundesstaat 14 Artikeln mit insgesamt 60 Paragrafen die die Grenzen des Deutschen Bundes zu ­geben, Gleichheit und die persönliche und politische ergab sich die folgerichtige Forderung nach Auf- Freiheit der Bürger des Verfassungsstaats. Das lösung der staatsrechtlichen Einheit der Habs- Spektrum reicht von der Aufhebung aller Stan- burgermonarchie, deren deutsche und nicht desunterschiede und der Gleichheit vor dem deutsche Teile in Zukunft nur noch durch die Gesetz bis zur Unabhängigkeit der Gerichte und Personalunion des Monarchen zusammengehö- der Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren, von ren sollten. Dass diese Lösung, die das Plenum der Freiheit der Person, der Unverletzlichkeit der Nationalversammlung am 27. Oktober 1848 der Wohnung und dem Briefgeheimnis bis mit überwältigender Mehrheit annahm, kaum zur Pressefreiheit und dem Recht auf freie Mei- Aussichten auf Verwirklichung hatte, wurde nungsäußerung, von der Glaubens- und Gewis- spätestens genau einen Monat später, am sensfreiheit bis zur Freiheit von Forschung und

Die Verfassunggebende National­ versammlung in der Frankfurter Paulskirche. Heinrich von Gagern auf dem Podium des Präsidenten. Stahlstich, 1848

100 Sitzung der Verfassunggebenden Nationalversammlung in der ­Frankfurter Paulskirche. Der amtierende Sitzungspräsident bei einem Ordnungsruf. Lithografie, 1851

101 diese Gewalt natürlich nur im Rahmen der ­Verfassung und nur durch von ihm ernannte Minister ausüben; alle Regierungshandlungen Lehre. Mit diesen Rechten ist nichts weniger des Reichsoberhaupts bedurften zu ihrer als der Übergang von der Ständegesellschaft Gültig­keit der Gegenzeichnung mindestens zur bürgerlichen Gesellschaft, vom Polizei- und ­eines ­Ministers, der damit die Verantwortung Überwachungsstaat zum Rechtsstaat in Angriff übernahm. genommen worden. Als der Berichterstatter am Der Reichstag sollte aus zwei Kammern beste- Ende seines Berichts ausrief, man wolle „das hen, dem Staatenhaus und dem Volkshaus. Das Gesetz für Jahrhunderte geben“, konnte er nicht Staatenhaus war eine Länderkammer, gedacht ahnen, dass dieser Grundrechtskatalog über als föderalistisches Gegengewicht zu der star- die Verfassung der Weimarer Republik bis zum ken Zentralgewalt. Es hatte 192 Mitglieder, von Grundgesetz der Bundesrepublik seine Wirkung denen die Hälfte von den Landesregierungen, entfalten würde. die andere Hälfte von den Landesparlamenten Die erste Lesung der Grundrechte war am benannt wurde. 12. Oktober 1848 abgeschlossen; am 19. Okto- Beide Häuser des Reichstags hatten ebenso wie ber begann die Nationalversammlung mit den die Reichsregierung die Gesetzesinitiative; aus- Beratungen über die Staatsorganisation. Der gabenwirksame Gesetze konnten jedoch nur neue Bundesstaat sollte mit einer starken Zen­ von der Regierung vorgelegt werden. Beide tralgewalt ausgestattet werden. Die „Reichsge- Häuser des Reichstags hatten das volle Budget­ walt“ des Gesamtstaats umfasste die auswärti- recht. Beide Häuser besaßen die Geschäftsord- gen Beziehungen und den Krieg, Wirtschaft, nungsautonomie und das Recht zur freien Wahl Verkehr und Kommunikation, das öffentliche des Präsidiums. Die Kompetenzen und die Recht, das Strafrecht und das Privatrecht. Die Rechte des Reichstags gingen damit weit über Ausführung der Reichsgesetze allerdings oblag die Kompetenzen und Rechte hinaus, die die den Verwaltungen der Länder. Ständeversammlungen der Einzelstaaten bisher Die Reichsgewalt sollten sich das Reichsober- hatten. Überraschend ist allerdings, dass das haupt, die Reichsregierung, der Reichstag Reichsoberhaupt das Recht zur Einberufung und das Reichsgericht als oberste Staatsorgane des Reichstags und das Recht zur Auflösung teilen. Das Reichsoberhaupt war als Träger des Volkshauses hatte; ein Selbstversamm- der ­Regierungsgewalt mit der Wahrnehmung lungsrecht und ein Selbstauflösungsrecht gab der Reichszuständigkeiten betraut. Er durfte es nicht.

102 Besonders umstritten waren drei Fragenkom- plexe. Die erste Frage war die, ob die Regierung ein absolutes oder ein suspensives Veto gegen- Der dritte und wohl umstrittenste Fragenkom- über den Beschlüssen des Reichstags zugespro- plex war der nach dem Wahlrecht, nach dem chen bekommen solle. Beschlossen wurde ein die Mitglieder des Volkshauses gewählt werden suspensives, also nur aufschiebendes Veto, das sollten. Am 15. Februar 1849 begann im Ple- der Regierung nur die Möglichkeit einräumte, num der Nationalversammlung die Debatte einen Beschluss des Reichstags zweimal abzu- über den vom Verfassungsausschuss vorgeleg- lehnen. Wenn der Reichstag diesen Beschluss ten Entwurf des „Reichsgesetzes über die Wahl nach den Ablehnungen erneut mit Mehrheit der Abgeordneten zum Volkshause“. Der Aus- fasste, musste das Reichsoberhaupt den Be- schuss hatte beschlossen, das Wahlrecht zum schluss ausfertigen und verkünden. Volkshaus aus der Verfassung herauszunehmen Die zweite Frage war die nach dem Reichsober- und in einem eigenen Wahlgesetz zu behan- haupt. Die Antwort auf diese Frage war zugleich deln. Der Entwurf hatte ein erheblich einge- die Antwort auf die Frage, ob der neue Staat schränktes Wahlrecht vorgesehen. Im Paragraf 1 eine Monarchie oder eine Republik werden sol- des ersten Artikels heißt es: „Wähler ist jeder le. Am Ende gab es eine Mehrheit für den vom selbständige, unbescholtene Deutsche, welcher Verfassungsausschuss vorgelegten Antrag, die das 25ste Lebensjahr zurückgelegt hat.“ Para- Würde des Reichsoberhaupts einem regieren- graf 2 führt als „nicht selbständig“ und deshalb den deutschen Fürsten zu übertragen, der, wie vom Wahlrecht ausgeschlossen „Dienstboten, in einer gesonderten Abstimmung beschlossen Gewerbegehilfen und diejenigen, welche für wurde, den Titel „Kaiser der Deutschen“ füh- Tagelohn, Wochenlohn oder Monatslohn arbei- ren sollte. Unbeantwortet blieb allerdings nicht ten“ auf, also Personengruppen, die einen nicht nur die Frage, ob es sich um einen Wahlmonar- unerheblichen Teil der erwachsenen Bevölke- chen oder einen Erbmonarchen handeln solle, rung ausmachten; in Preußen wären damit etwa sondern auch, wer wohl dieser regierende deut- 50 Prozent der Personen ausgeschlossen wor- sche Fürst sei, den man zum Reichsoberhaupt den, die bei der Wahl zur Nationalversamm- machen wollte. lung stimmberechtigt waren.

Der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann („Casino“) am Tisch als Redner. Im Vordergrund­ in der Mitte der Dreiergruppe Carl Theodor Welcker. Holzstich, 1848

103 bis zu dem Problem, wie man denn mit gebil- deten, aber vermögenslosen Personen verfah­- ren solle, die wie zahlreiche Beamte von ihrem Die Bindung des Wahlrechts an Besitzkriterien Dienstherren abhängig seien. Wiederholt wurde war das Kernstück einer Immunisierungsstrate- mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass man gie gegen vermeintliche Bedrohungen der bür- bereits im Dezember 1848 ein „Gesetz betref- gerlichen und liberalen Besitzstände, die unter fend die Grundrechte des deutschen Volkes“ der Formel „Herrschaft der Vermögenslosen“ beschlossen und veröffentlicht habe, in dem immer wieder beschworen wurden. Heinrich alle Standesvorrechte abgeschafft und alle von Gagern zögerte in seinem Beitrag zur Wahl- Deutschen vor dem Gesetz gleichgestellt wor- rechtsdebatte im Frankfurter Plenum nicht zu den seien; jetzt aber plane man offenbar, neue erklären, dass man das Wahlrecht so gestalten Ungleichheiten einzuführen. müsse, „dass es auch dem Besitzer wohl sei in Die Argumente der Gegner der Ausschussvor­ seinem Besitz“. Deutlicher konnte man den lage waren so überzeugend, dass bei der Ab- „Egoismus der vielbesitzenden Klasse“, den der stimmung über Paragraf 1 des Wahlgesetzes in Abgeordnete Wilhelm Loewe von der Fraktion der ersten Lesung am 20. Februar 1849 die For- „Deutscher Hof“ hinter dieser Argumentation mulierung: „Wähler ist jeder unbescholtene sah, nicht zum Ausdruck bringen. Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt Die Mehrheit der 42 Abgeordneten, die sich in hat“ mit der knappen Mehrheit von 237 zu der Wahlrechtsdebatte der Frankfurter Natio- 224 Stimmen angenommen wurde. Am 1. März nalversammlung zu Wort meldeten, sprachen 1849 wurde über das Wahlverfahren abge- gegen den Entwurf des Gesetzes, darunter nicht stimmt, wobei sich jeweils eine Mehrheit für nur entschiedene Parteigänger der Demokratie. die direkte und für die geheime Wahl ergab. Die Argumente gegen die Beschränkung des Am nächsten Tag wurde dann das Wahlgesetz Wahlrechts reichten von der Frage, wer wirk- als Ganzes in erster Lesung mit der allgemei- lich selbstständig sei und ob nicht auch der nen, direkten und geheimen Wahl mit 256 zu vermögende Unternehmer von seinen Ge- 194 Stimmen verabschiedet; die Gleichheit schäftspartnern und seinen Kunden abhänge, der Wahl stand nie zur Diskussion.

104 Am nächsten Tag wählten 290 Abgeordnete Dass am 12. April 1849 ein Reichswahlgesetz der Deutschen Nationalversammlung den preu- mit dem allgemeinen, geheimen und direkten ßischen König zum „Kaiser der Deutschen“; die Wahlrecht veröffentlicht wurde und dass das übrigen 248 Abgeordneten übten Stimmenthal- Reichsoberhaupt der preußische König als tung. Am 2. April kam die „Kaiserdeputation“ ­Erbkaiser sein würde, verdankte sich am Ende mit 32 Mitgliedern der Nationalversammlung, allerdings einem Kompromiss. Als endgültig an deren Spitze der Präsident der Versammlung, klar wurde, dass nur eine kleindeutsche Lö- Eduard Simson, stand, in Berlin an, um Fried- sung mit dem preußischen König als „Kaiser rich Wilhelm IV. die Krone anzutragen. Der der Deutschen“ realisierbar sein würde, sahen preußische König machte der Deputation, die sich die Fraktionen des linken und des rechten er am nächsten Tag um 12.00 Uhr im Rittersaal Zentrums, die diese Lösung favorisierten, da-­ des Berliner Schlosses in Audienz empfing, für aber nicht mehr als ungefähr 230 Stimmen ­unmissverständlich klar, dass er das Angebot mobilisieren konnten, gezwungen, eine Verein­ „ohne das freie Einverständnis der gekrönten barung mit den Anhängern des allgemeinen Häupter, der Fürsten und der freien Städte Wahlrechts zu treffen, die damit rechnen muss- Deutschlands“ ablehnen müsse. Zwar erklärten ten, in der Schlussabstimmung in die Minder- 28 deutsche Regierungen am 14. April 1849, heit zu geraten; denn die Entscheidung für das die Verfassung annehmen zu wollen; Öster- allgemeine Wahlrecht war in der ersten Lesung reich, Bayern, Sachsen, Württemberg und Han- mit 13 Stimmen Vorsprung denkbar knapp ge- nover lehnten ab. Am 28. April kam schließlich wesen. Wie eng es am Ende trotz der wechsel- auch noch die endgültige Absage Preußens, die seitigen Unterstützung war, wurde sichtbar, nach der Weigerung des Königs am Anfang des als die Nationalversammlung die Verfassung­ in Monats abzusehen war. Damit war der Versuch dieser Form am 27. März 1849 mit der hauch- gescheitert, auf demokratischer und parlamen- dünnen Mehrheit von 267 zu 263 Stimmen tarischer Grundlage einen deutschen Bundes- ­annahm. staat als Verfassungsstaat zu gründen.

Der Empfang der „Kaiserdeputation“ durch König Friedrich Wilhelm IV. im Rittersaal des Berliner Schlosses am 3. April 1849. Links im Vorder- grund steht Eduard Simson, der seit dem 18. Dezember 1848 als Nach- folger Heinrich von Gagerns Präsi- dent der Nationalversammlung war. Rechts sitzt der ­König, der mit einer abwehrenden Geste auf das Ansin- nen der „Kaiserdeputation“ reagiert. Stahlstich, 1861

105 Am 22. Mai 1848, vier Tage nach der Eröff- nungssitzung des Parlaments in der Paulskir- che, trat in Berlin die Preußische Nationalver- sammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Sie hatte den Auftrag, eine Verfas- sung für Preußen zu beraten und zu verabschie- den. Anders als die Mehrzahl der Mitgliedstaa- ten des Deutschen Bundes, die, wenn auch auf höchst verschiedene Weise, der Vorgabe des Artikels 13 der Bundesakte des Deutschen Bun- des gefolgt waren und „landständische Verfas- sungen“ eingeführt hatten, blieben die beiden Großmächte Österreich und Preußen an der Schwelle zum Verfassungsstaat stehen. Zwar waren 1810 und 1815 königliche Erklärungen abgegeben worden, die die Ausarbeitung einer „schriftlichen Urkunde als Verfassung des ­Preußischen Reiches“ und die Bildung einer „Repräsentation des Volkes“ für die nahe Zu- kunft ankündigten; diese Zusagen blieben ­allerdings bis 1848 unerfüllt. In Preußen gehörte deshalb die Erfüllung dieser Versprechungen zu den Märzforderungen. Seit dem 7. März 1848 hatten in der preußischen Hauptstadt täglich Volksversammlungen statt- gefunden. Als Truppen eingesetzt wurden, um die Versammlungen aufzulösen, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die am 15. März in Barrikadenkämpfe übergingen. Am 18. März erklärte sich der König schließlich an- gesichts einer Massendemonstration vor dem

Eine „schriftliche Urkunde als Verfassung des Preußischen Reiches“: die Verfassunggebende Nationalversammlung und das Preußische Abgeordnetenhaus in Berlin

106 Schloss bereit, die wiederholten Verfassungs- versprechen einzulösen. Die friedliche Ver- sammlung vor dem Schloss wurde zum Aus- gangspunkt der gewalttätigsten und blutigsten Auseinandersetzungen der Revolution in Preu- Die Urwahlen zur Preußischen Nationalver- ßen. Als Forderungen nach Abzug der in großer sammlung fanden am 1. Mai statt; da die Wahl Zahl in und um das Schloss aufmarschierten indirekt erfolgte, gab es einen zweiten Wahlgang Truppen laut wurden, fielen Schüsse, denen am 8. Mai. Wahlberechtigt war jeder männliche der bewaffnete Angriff des Militärs auf die Ver- Preuße, der das 24. Lebensjahr vollendet hatte; sammlung folgte. Innerhalb kurzer Zeit wurden für die Wählbarkeit galten dieselben Bestim- überall in der Stadt Barrikaden errichtet, an mungen, mit dem Unterschied, dass der passiv ­denen sich die Revolutionäre erbitterte Kämpfe Wahlberechtigte das 30. Lebensjahr vollendet mit den Soldaten lieferten. Am Ende dieser haben musste. In Urwahlbezirken mit 500 Ein- Kämpfe, die bis tief in die Nacht andauerten, wohnern wurde jeweils ein Wahlmann gewählt; gab es mehr als 230 Tote. die Wahlmänner wählten ihrerseits jeweils­ ei- Am Morgen des 19. März befahl der König den nen Abgeordneten in jedem der 402 Wahlkreise, Rückzug der Truppen, die im Laufe des Tages die etwa den Landkreisen und den kreisfreien vollständig aus Berlin abrückten. Symbolischer Städten entsprachen. Dieses Wahlrecht war für Höhepunkt der Revolution in Berlin war die seine Zeit ungewöhnlich demokratisch, da un- Bereitschaft des Königs, noch am selben Tag gefähr 95 Prozent der erwachsenen männlichen den Toten der Kämpfe des Vortags, den soge- Bevölkerung stimmberechtigt waren. Nach fast nannten Märzgefallenen, die im Trauerzug vor genau demselben Wahlrecht fanden am 1. Mai das Schloss geführt wurden, durch Abnahme in Preußen die Urwahlen zur Deutschen Natio- der Kopfbedeckung die Ehre zu erweisen. Am nalversammlung in Frankfurt statt. 22. März erklärte Friedrich Wilhelm IV. in einer Bereits auf der konstituierenden Sitzung am Proklamation erneut seine Bereitschaft, alle 22. Mai legte die Regierung der Nationalver- „Märzforderungen“ zu erfüllen. Dazu gehörte sammlung einen Verfassungsentwurf vor. Nach auch die Vorbereitung eines „volkstümlichen“ ausführlicher Beratung im Plenum wurde am Wahlgesetzes zu einer Verfassunggebenden 15. Juni eine Verfassungskommission einge- ­Nationalversammlung, die „eine auf Urwahlen setzt, die den Entwurf im Detail überarbeiten begründete, alle Interessen des Volkes ohne sollte. Nach einer grundlegenden Revision der Unterschied der religiösen Glaubensbekennt- Vorlage stand am 26. Juli ein Kommissionsent- nisse umfassende Vertretung“ sein werde. wurf zur Verfügung, der sich in einigen wesent-

Revolution in Berlin. Barrikaden- kämpfe am Alexanderplatz in der Nacht vom 18. auf den 19. März 1848. Lithografie, 1849

107 königlichen Prinzen noch vom König ernannte Mitglieder vor. Gewählt werden sollten die lichen Punkten vom Regierungsentwurf unter- ­Mitglieder der Ersten Kammer von den Vertre- schied. Beide sahen ein Zweikammersystem tungskörperschaften der Bezirke und Kreise, vor, und beide wollten bei der Wahl zur Zwei- und wählbar war ohne ein bestimmtes Mindest­ ten Kammer, der eigentlichen Volksvertretung, einkommen jeder 40-jährige Preuße. zunächst an dem sehr fortschrittlichen Wahl­ Entscheidend war jedoch, dass die beiden Ent- gesetz festhalten, nach dem die Nationalver- würfe die Rolle des Königs bei der Gesetzge- sammlung gewählt worden war. Während der bung verschieden konzipierten. In beiden Ent- Regierungsentwurf sich jedoch ausdrücklich würfen hatte der König nicht nur die exekutive die Revision dieses Wahlgesetzes vorbehielt, Gewalt, sondern war auch neben den beiden legte der Kommissionsentwurf eine weitere Kammern die dritte legislative Instanz. Wäh- ­Demokratisierung des Wahlrechts fest, da nach rend nach dem Regierungsentwurf Gesetze nur zwei Wahlperioden die direkte an die Stelle erlassen werden konnten, wenn alle drei In­ der indirekten Wahl treten sollte. stanzen ihre Zustimmung gegeben hatten, dem Bei der Wahl und Zusammensetzung der Ersten König also ein absolutes Veto zukam, beließ Kammer gingen die Vorschläge weit auseinander. ihm der Kommissionsentwurf nur ein suspensi- Im Regierungsentwurf war diese Kammer ein ves Veto. Danach musste der König ein Gesetz Oberhaus, dem sämtliche Prinzen des könig­ auch dann erlassen, wenn er seine Zustimmung lichen Hauses angehören sollten. Weitere Mit- zwar verweigert hatte, die beiden Kammern glieder sollten vom König nach freiem Ermessen aber das Gesetz unverändert dreimal mit Mehr- ernannt werden und ihre Mitgliedschaft erblich heit verabschiedet hatten. weitergeben können. Die übrigen 180 Mitglieder Nachdem die Nationalversammlung mit großer sollten von denselben Wahlmännern gewählt Mehrheit am 12. Oktober beschlossen hatte, werden, die auch die Abgeordneten der Zwei- die Formel „von Gottes Gnaden“ im Titel des ten Kammer wählten; Voraussetzung für die ­preußischen Königs aus den Präambeln der bei- Wählbarkeit war ein Mindesteinkommen von den Verfassungsentwürfe zu streichen, und am 2.500 Talern und die Vollendung des 40. Lebens- 31. Oktober schließlich die Abschaffung des jahrs. Nach dem Entwurf der Kommission wurde Adels in die Verfassung aufnahm, waren von- dagegen die Zahl der Mitglieder der ersten seiten des Königs und seiner Berater die Brü- Kammer auf 175 reduziert und sah weder die cken zur Konstituante endgültig abgebrochen.

108 Sitzung der Preußischen National- versammlung im Juli 1848 in der Berliner Singakademie. Die Natio- nalversammlung tagte von Mai bis Ende August in der Singakademie, dem heutigen Maxim Gorki Theater, wo in aller Eile die Theaterbestuh- lung durch Bänke ersetzt wurde. Holzstich, 1848

109 Ein „widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz ist nicht in irgendeinem Staate ausgedacht Da es überdies im Oktober zu Unruhen und be- worden“: das preußische Dreiklassenwahlrecht waffneten Auseinandersetzungen kam, wurden Truppen unter Befehl des Generals Friedrich Am selben 5. Dezember, an dem die Preußische von Wrangel in Berlin zusammengezogen; Ende Nationalversammlung aufgelöst wurde, erließ Oktober wurde General Friedrich Wilhelm Graf der König eine oktroyierte, also einseitig aufge- Brandenburg, ein hochkonservatives Mitglied zwungene Verfassung, die eine ganze Reihe von der Militärpartei, zum Ministerpräsidenten er- Gemeinsamkeiten mit dem Entwurf der Verfas- nannt; er teilte am 9. November der National- sungskommission der Nationalversammlung versammlung mit, sie sei auf den 27. November aufwies. Natürlich wurde die Abschaffung des vertagt, ihre Sitzungen würden nach Branden- Adels gestrichen und die Formel „von Gottes burg an der Havel verlegt. Die Nationalversamm­ ­ Gnaden“ für den König wieder eingeführt, der lung erklärte mit der Mehrheit ihrer Mitglieder, statt des suspensiven das absolute Veto erhielt. die Vertagung und Verlegung seien ungesetz- Die Beibehaltung des demokratischen Wahl- lich, da dem König das Recht dazu nicht zuste- rechts für die Zweite Kammer, die auf große he; sie werde deshalb ihre Verhandlungen fort- Überraschung in der Öffentlichkeit stieß, war setzen. Als die Versammlung am Vormittag des nichts weiter als eine vorläufige Konzession, 10. November ihre Sitzungen wieder aufnahm, um die allgemeine politische Unzufriedenheit erschien General von Wrangel mit seinen Trup- nach dem Staatsstreich von oben nicht weiter pen und drohte der Versammlung die Auflösung zu vergrößern. unter Anwendung von Gewalt an. Der Versuch Die Wahl zur Zweiten Kammer fand erneut, wie der konservativen Minderheit, in den letzten bei der Nationalversammlung, eine linke und November- und den ersten Dezembertagen eine liberale Mehrheit. Um die Revision der Verfas- Plenarsitzung im Dom zu Brandenburg durch- sung in Angriff nehmen zu können, musste die zuführen, scheiterte an der Verweigerung der Kammer zunächst die oktroyierte Verfassung liberalen Mehrheit; die Versammlung blieb be- akzeptieren, da sie anders ihre eigene Verfas- schlussunfähig. Mit der Auflösung der Preu­ sungsgrundlage infrage gestellt hätte. Sie war ßischen Nationalversammlung am 5. Dezember jedoch nicht bereit, die umfangreichen Not­ 1848 war der Versuch, Preußen durch eine verordnungen der Regierung zu genehmigen, ­Nationalversammlung eine Verfassung zu ge- die in der Zwischenzeit erlassen worden ben, durch den Staatsstreich von oben abge- waren und die sich auf den Artikel 105 der schlossen. oktroyierten Verfassung stützten, der allerdings

110 Auflösung der Preußischen Natio- nalversammlung durch bewaffnete Truppen am 10. November 1848. Die Nationalversammlung tagte seit September 1848 im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt. Lithografie (Neuruppiner Bilder­ bogen), 1848

111 die nachträgliche Genehmigung durch das ­Parlament forderte. Als die Zweite Kammer am Anders als im alten Wahlrecht war die Wahl 21. April 1849 über die Paulskirchenverfassung nicht geheim, sondern öffentlich. Die Wahlbe- diskutierte und mit Mehrheit einen Antrag rechtigten eines Urwahlbezirks versammelten annahm, der diese Verfassung als rechtsgültig sich am Wahltag im Wahllokal. Jeder Wähler ­anerkannte, löste der König die Kammer auf. musste dem Vorsitzenden der Wahlkommission Am 30. Mai 1849 wurde auf dem Verordnungs- unter Anwesenheit der anderen Wahlberechtig- weg ein neues Wahlrecht erlassen, das als „Drei- ten laut sagen, auf welchen Wahlmann seine klassenwahlrecht“ berühmt und berüchtigt Wahl gefallen war. Diese Regelung öffnete der wurde. Der Kreis der wahlberechtigten Perso- Wahlbeeinflussung durch sozialen und wirt- nen blieb derselbe; das Dreiklassenwahlrecht schaftlichen Druck natürlich Tür und Tor. Dies war also ein allgemeines Wahlrecht. Die ent- umso mehr, als die Angehörigen der dritten scheidende Neuerung beim Dreiklassenwahl- Klasse, der in der Regeln die sozial und wirt- recht in Preußen war die Einteilung der Wähler schaftlich abhängigsten Wähler angehörten, zu- in drei Klassen nach Maßgabe ihres jeweiligen erst und das heißt in Anwesenheit der Wähler Beitrags zu den direkten Staatssteuern, wodurch der zweiten und der ersten Klasse ihre Ent- sich ein extrem ungleiches Wahlrecht ergab. scheidung bekannt geben und anschließend Wie groß die Ungleichheit war, wird schon das Wahllokal verlassen mussten. an den Zahlen der ersten Wahl nach dem neu- Führende Vertreter der Demokraten und der en Wahlrecht sichtbar, die am 17. Juli 1849 Linksliberalen, bei denen dieses Wahlrecht auf stattfand. Der ersten Klasse gehörten ganze scharfe Kritik und Ablehnung stieß, erklärten 153.000 Wähler an, das waren 4,7 Prozent am 14. Juni 1849, sich an der bevorstehenden aller Wahl­berechtigten; in der zweiten Klasse Wahl nicht beteiligen zu wollen. Für die ge­ wählten 409.000 Preußen, insgesamt 12,6 Pro- mäßigten, konstitutionellen Liberalen dagegen zent, und in der dritten Klasse drängten sich war das Dreiklassenwahlrecht mehr als akzep- 2.691.000 Urwähler, das waren insgesamt tabel. Das „besitzende Bürgertum“, erinnert 82,7 Prozent. Da jede Klasse die gleiche Zahl sich Rudolf von Gneist, Juraprofessor an der von Wahlmännern wählte, entsprach das Berliner Universität und liberaler Abgeordneter Stimmgewicht eines Wählers der ersten in Preußen und ab 1871 im Reichstag, habe die Klasse dem Stimmgewicht von 20 Wählern Einführung des Dreiklassenwahlrechts „mit der dritten Klasse. ­einem Gefühl der Beruhigung begrüßt“.

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„Die ‚Hebung‘ des Mittelstandes“. Karikatur von Franz Jüttner auf das Dreiklassenwahlrecht. Titelblatt der Zeitschrift „Lustige Blätter“, Nr. 45, 1893

113 Dass die Zusammensetzung der Zweiten Kam- mer, die im Juli gewählt wurde, stark nach rechts verschoben war, hat nicht nur mit der erreichen, sollten die Beamten der Provinz- Änderung des Wahlrechts zu tun. Nicht ohne und Kreisverwaltungen „alle Mittel des“ ihnen Einfluss war der Wahlboykott der Demokraten „zu Gebote stehenden Einflusses“ nutzen. An und Linksliberalen, aber auch die Tatsache, vorderster Front standen die Landräte, denen dass sich Teile der Wählerschaft der Liberalen man unmissverständlich klar gemacht hatte, stärker konservativ orientierten, da die Furcht dass man sie bei ungünstigen Wahlresultaten vor der Revolution oft größer war als der Wunsch „gegebenenfalls zur Verantwortung ziehen“ nach Verwirklichung des liberalen Rechts- und werde. Sie hatten geeignete Wahlmänner zu Verfassungsstaats. Die eigentlichen Konserva­ suchen, mögliche konservative Kandidaten tiven auf der Rechten konnten die Zahl ihrer für Mandate anzu­sprechen und so diskret wie Mandate gegenüber der Wahl im Januar mehr möglich den Wahlmännern die Entscheidung als verdoppeln; die Liberalen verschiedener für eben diese Kandidaten nahezulegen. Richtungen dagegen verloren mehr als die Bei den Wahlen im Herbst 1858 wendete sich ­Hälfte der Mandate. das Blatt. Die liberalen Fraktionen kamen Die Zusammensetzung der Zweiten Kammer ­zusammen auf 195 Mandate, während die Kon- verschob sich in den beiden folgenden Wahl­ servativen nur noch 45 Abgeordnete stellen perioden immer weiter nach rechts; die Konser- konnten. Diese vollständige Umkehrung der vativen erreichten 1855 mit 181 Mandaten die bisherigen Verhältnisse hatte zwei Ursachen. absolute Mehrheit, während die Liberalen zu- Am 9. Oktober 1858 hatte Prinz Wilhelm, sammen nur noch auf 48 Sitze kamen. Dieser der spätere Kaiser Wilhelm I., an Stelle seines überwältigende Erfolg verdankte sich allerdings erkrankten Bruders Friedrich Wilhelm IV. die vor allem der massiven „Wahlmache“ der Re- ­Regentschaft übernommen; bereits am Vor- gierung, die bereits im Juli 1849 eine (wenn abend entließ Wilhelm den Innenminister auch geringere) Rolle gespielt hatte, die jetzt ­Ferdinand von Westphalen, in dessen Ministe- aber in einem Umfang und mit einer Intensität rium Pläne zur Verfassungsrevision ausgearbei- betrieben wurde, die so noch nicht dagewesen tet worden waren, deren Verwirklichung die war. In einem Erlass an die Oberpräsidenten Beseitigung der trotz Dreiklassenwahlrechts erklärte der Innenminister, es käme „mehr modernen Volksvertretung bedeutet hätte. Am denn je“ darauf an, dass aus der Neuwahl 5. November entließ der Prinzregent auch die „eine starke Majorität wahrhaft konservativer übrigen Minister und ersetzte sie durch Mit- Abgeordneter“ hervorgehe; um dieses Ziel zu glieder der „Wochenblattpartei“, die sich 1853

114 aus Protest gegen die Pläne zur Verfassungs­ revision von den Kon­ser­vativen getrennt hatte und seither eine liberal-konservative Fraktion in beiden Kammern bildete. dann nicht, als sich im Juni 1861 eine linke Mit dieser moderaten liberalen Neuorientie- Gruppe gemäßigt liberaler Abgeordneter, die rung, die dem Reaktionsjahrzehnt in Preußen sich von ihrer Fraktion getrennt hatte, mit den eine Ende bereitete, war die Hoffnung auf eine Linksliberalen und Demokraten, die aus Protest „Neue Ära“ verknüpft, die jetzt beginne. Diese gegen das Dreiklassenwahlrecht zunächst Wahl- Hoffnung hat sicher zu der Entscheidung der abstinenz geübt hatten, die Deutsche Fortschritts­ Demokraten und der Linksliberalen beigetra- partei gründete, die erste organisierte Partei im gen, sich wieder an den Wahlen zu beteiligen. heute üblichen Sinn in Deutschland. Die Liberalen konnten in den nächsten zwei Die Vorteile, die das Dreiklassenwahlrecht den Jahrzehnten ihre Mehrheiten im Preußischen Liberalen bot, war Anlass zu Überlegungen Abgeordnetenhaus bewahren. Diese neue Be- aufseiten der preußischen Regierung, Wahl- zeichnung für die Zweite Kammer war 1855 rechtsänderungen vorzunehmen, die den Man- eingeführt worden, nachdem die Erste Kammer datsanteil der Liberalen reduzieren sollte. Das den Namen „Herrenhaus“ erhalten hatte. Die besondere Augenmerk galt der Mobilisierung neue Bezeichnung für die Erste Kammer war der Wähler der dritten Klasse auf dem Land, keineswegs willkürlich gewählt worden, denn die entweder aus eigenen Stücken oder aber, sie war jetzt wirklich ein Herrenhaus. Über weil sie von ihrem Gutsherren die Anweisung mehrere Schritte war durch eine Verfassungs- erhalten hatten, als königstreue und konser­ änderung im Oktober 1854 diese Kammer in ein vative Wähler galten. , der „Oberhaus“ transformiert worden, dem unter einmal erklärte, wenn er „von einem Gute anderem die königlichen Prinzen angehörten, 100 Arbeiter zur Wahlurne schicken könnte, Mitglieder von Familien des Hochadels, die so würden diese jede andere Meinung im Dorfe ­einen erblichen Anspruch auf einen Sitz hatten, totstimmen“, soll vorübergehend nicht nur die und Personen, die vom König auf Lebenszeit Einführung „ambulanter Wahlbüros“ geplant ernannt wurden. haben, um ­diese Klientel besser erreichen Die Liberalen verdankten ihre anhaltenden zu können, sondern auch die Ersetzung des Wahlerfolge in nicht geringem Umfang dem Dreiklassenwahlrechts durch das allgemeine Dreiklassenwahlrecht. Sie hatten deshalb kei- Wahlrecht. Als Bismarck im März 1867 im nen Anlass, dieses offensichtlich ungerechte Preu­ßischen Abgeordnetenhaus ausrief, ein Wahlsystem zu beseitigen – und zwar auch „widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz ist

„Es ist eine liberale Stimme abge­ geben worden. Der Schulmeister kriegt von heute ab keine Kartoffeln mehr.“ Karikatur von Eduard Thöny auf das Dreiklassenwahlrecht aus der Zeitschrift „Simplicissimus“, Januar 1912

115 zu Großdemonstrationen, bei denen bis zu 200.000 Teilnehmer gezählt wurden. Anlass für nicht in irgendeinem Staate ausgedacht wor- diese Demonstrationen waren jeweils Debatten den“, machte er seinem ganzen Ärger darüber über das Dreiklassenwahlrecht im Abgeordne- Luft, dass es dieses Dreiklassenwahlrecht sei- tenhaus, die allerdings zu keiner Veränderung nen liberalen Kontrahenten so lange ermöglicht führten. hatte, sich gegen ihn zu stellen. Der Erste Weltkrieg bot noch einmal einen Die Weigerung der Liberalen, am preußischen höchst dramatischen Anlass, um über eine Wahlrecht irgendetwas zu ändern, wurde schließ- grundsätzliche Reform des Wahlrechts nachzu- lich noch verstärkt, als sich zeigte, dass die denken. Die Tatsache, dass die preußischen ­Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen Bürger, die als Soldaten im Feld standen, alle mit dem allgemeinen Wahlrecht ab 1890 immer derselben Gefahr ausgesetzt waren, ließ den größere Stimmanteile erzielen konnten. Die ­Gedanken, die politische Mitbestimmung an SPD, die sich zunächst entschlossen hatte, die der Allgemeinheit der Wehrpflicht zu messen, preußischen Landtagswahlen zu boykottieren, als schwer abweisbar erscheinen. Verschiedene trat 1903 zum ersten Mal zur Wahl in Preußen Reformanläufe scheiterten an der mangelnden an. Die Partei konnte bereits in diesem ersten Flexibilität der Parteien. Am 9. November 1918 Anlauf 18,8 Prozent der Stimmen gewinnen, ging die Revolution über das Dreiklassenwahl- aber nicht ein einziges Mandat, während die recht hinweg und zur Tagesordnung über. Konservativen mit 19,5 Prozent auf 144 Sitze kamen. Bei der nächsten Wahl 1908 erhielt die SPD bei 23,9 Prozent der Stimmen gerade sie- „Die großen Fragen der Zeit“: ben Mandate, während die Konservativen mit der preußische Verfassungskonflikt 14,2 Prozent auf 153 Mandate kamen. Da bei ­einer so geringen Zahl von Abgeordneten par­ Der Prinzregent, der nach dem Tod seines Bru- lamentarische Initiativen gegen das Dreiklas- ders im Januar 1861 als König Wilhelm den senwahlrecht kaum Aussicht auf Erfolg hatten, Thron bestieg, hatte von Anfang an keinen unterstützte die SPD ihre Forderung nach Ein- Zweifel an seiner Absicht der Durchführung führung des Reichstagswahlrechts für das Ab- ­einer Heeresreform gelassen und war dabei auf geordnetenhaus durch außerparlamentarische­ die Kooperationsbereitschaft der Liberalen ge- Aktionen. Im Januar 1908 und im Februar 1910 stoßen. Die innere Organisation der Armee be- kam es in verschiedenen preußischen Städten ruhte nach wie vor auf Wehrgesetzen, die im

116 oben: Kundgebung der SPD gegen das Dreiklassenwahlrecht am 3. September 1911 im Treptower Park in Berlin. links: Wahlrechtsdemons­tration der SPD vor dem Preußischen Abgeord­netenhaus am 10. Januar 1908.

117 sich die Militärfachleute einig, dass eine zwei- jährige Dienstzeit völlig ausreichend sei; der Monarch jedoch beharrte auf der dreijährigen Zuge der preußischen Reformen zwischen 1814 Dienstzeit, da er der Überzeugung war, dass und 1819 erlassen worden waren. Darin war erst im dritten Jahr der Standesgeist entwickelt das jährliche Rekrutenaufgebot auf 40.000 werde, der aus dem Soldaten einen überzeug- Mann festgelegt, die auf die damalige preußi- ten Angehörigen des Militärs mache. sche Bevölkerungszahl von elf Millionen bezo- Im Februar 1860 legte die Regierung dem Par­ gen war. Inzwischen war diese Zahl auf 18 Mil- lament ein Gesetz zur Reorganisation und zur lionen gestiegen, die Zahl der Rekruten war Vermehrung des Heeres vor, das auch die um- dieser Bevölkerungszunahme aber nicht ange- strittenen Regelungen über Landwehr und passt worden, sodass viele Wehrpflichtige gar Dienstzeit enthielt. Zwar gab man sich in mili- nicht eingezogen werden konnten. Dieser Ver- tärischen Kreisen überzeugt, dass die gesamte stoß gegen die allgemeine Wehrpflicht, die zu Reorganisation im Rahmen der militärischen den Errungenschaften der preußischen Refor- „Kommandogewalt“ des Königs durchgeführt men zählte, musste auch den Liberalen ein werden könne, die der Mitsprache des Parla- Dorn im Auge sein. ments entzogen war. Das Parlament hielt ent­ Zwischen dem König und den führenden Mili- gegen, dass diese Reorganisation nur auf der tärs einerseits und der Volksvertretung anderer- Grundlage eines neuen Gesetzes verwirklicht seits gab es allerdings Meinungsverschieden- werden könne, das vom Abgeordnetenhaus ver- heiten in zwei Fragen. Der Reformplan sah die abschiedet werden müsse. Da diese Reorganisa- teilweise Auflösung und Umgruppierung der tion nur mit erheblichem finanziellen Aufwand Landwehrregimenter vor. Zwar wurde diese durchgeführt werden konnte, die Budgethoheit Maßnahme unter Effektivitätsgesichtspunkten aber ohne Zweifel beim Parlament lag, war des- von allen Militärsachverständigen empfohlen; sen Zustimmung ohne Verfassungsbruch nicht die Liberalen sahen darin jedoch einen Angriff zu umgehen. auf das Volksheer, die neben der allgemeinen Der mit der Beratung der Vorlage befasste Aus- Wehrpflicht wichtigste Errungenschaft der Mi- schuss erarbeitete eine Beschlussvorlage, in der litärreformen. Der Plan, die aktive Dienstzeit die Zustimmung zur Heeresvermehrung und von zwei auf drei Jahre zu verlängern, stieß die Bewilligung ihrer Finanzierung empfohlen, ebenfalls auf liberalen Widerstand. Zwar waren die Veränderung der Landwehr und die drei-

„Die verhängnisvolle Begegnung“. Der Ab­geordnete, der bergauf reitet, liest den Kommissionsbericht über das Militär­budget, während Bismarck ihm entgegenkommt und den Reorganisationsplan in der Hand hält. Karikatur aus der Zeitschrift „Kladderadatsch“, 1863

118 gründlichen Revision noch zu einer weiteren provisorischen Finanzierung der Reorganisati- on bereit. Der Antrag des Abgeordneten Adolf jährige Dienstzeit aber abgelehnt wurden. Noch Hagen, den Heeresetat im Detail aufzuschlüs- bevor das Plenum Beschluss fassen konnte, zog seln, wurde von der Regierung abgelehnt, da die Regierung die Gesetzesvorlage zurück, legte auf diese Weise deutlich geworden wäre, dass aber zugleich einen Nachtragshaushalt über die längst vollendete Tatsachen geschaffen worden neun Millionen Taler vor, die für den Ausbau waren. Als die Mehrheit des Parlaments den des Heeres verwendet werden sollten. Das Ab- „Antrag Hagen“ annahm, löste der König am geordnetenhaus war bereit, diese Forderung 11. März das Abgeordnetenhaus auf, bevor zu bewilligen – unter dem Vorbehalt, dass mit noch der Etat für das Jahr 1862 hatte verab- dieser Summe nur provisorische Maßnahmen schiedet werden können. finanziert werden sollten, solange kein neues Bei den Neuwahlen, die am 6. Mai stattfanden, Wehrgesetz definitiv verabschiedet sei. Zwar konnten die Liberalen die Zahl ihrer Mandate zeichnete sich ab, dass die Regierung es keines- erneut steigern; die Konservativen waren nur wegs bei provisorischen Maßnahmen belassen noch mit elf Abgeordneten vertreten. In den würde; doch die Mehrheit war im Januar des folgenden Wochen und Monaten war das Ab­ nächsten Jahres, als ein weiteres Finanzgesetz geordnetenhaus Schauplatz von Auseinander- zur Fortführung der Reorganisation, aber kein setzungen, bei denen beide Seiten wiederholt Wehrgesetz vorgelegt wurde, zur erneuten Zu- eine Annäherung versuchten. Am Ende war stimmung unter der Bedingung bereit, dass nur noch die Frage der Dienstzeit strittig; ein dem nächsten Landtag, dessen Wahl im Dezem- Kompromiss scheiterte jedoch am Widerstand ber 1861 bevorstand, sofort eine neues Wehrge- des Königs. setz vorgelegt werden würde. Die Lösung kam mit der Berufung Otto von Bis- Die Landtagswahlen im Dezember brachten den marcks zum preußischen Ministerpräsidenten Liberalen dramatische Gewinne; mit zusammen am 22. September 1862. Diese Berufung löste in über 240 Mandaten verfügten sie über die abso- der Öffentlichkeit breites Entsetzen aus, da Bis- lute Mehrheit. Im Januar 1862 wurde das zwei marck aus den Jahren der Revolution als Ultra- Jahre zuvor abgelehnte Wehrgesetz erneut vor- konservativer mit einem Hang zu „leichtfertiger gelegt. Das Parlament war jedoch weder zur Gewalttätigkeit“ bekannt war, wie er es selbst Verabschiedung dieses Gesetzes vor einer einmal im Vorfeld seiner Berufung formulierte.

Bismarck im Abgeordnetenhaus 1863. Die Haltung Otto von ­Bismarcks und die Gestik und ­Mimik des Redners lassen die Span- nung deutlich sichtbar werden. Holzstich nach einer Zeichnung von Hermann Lüders, 1863

119 begann eine fünf Jahre dauernde Periode ohne Budget, das verfassungsgemäß vom Abgeordne- tenhaus verabschiedet worden wäre. Als der neue Ministerpräsident bei seinem Ver- Aus dem Heereskonflikt war ein Verfassungs- such, doch noch eine Einigung mit dem Parla- konflikt geworden. Die preußische Verfassung ment herbeizuführen, in einer Sitzung des sah keine Regelung für den Fall vor, dass die Haushaltsausschusses erklärte, nicht „durch königliche Regierung einerseits und die Volks- Reden und Majoritätsbeschlüsse“ würden „die vertretung andererseits in einem Konflikt zu großen Fragen der Zeit entschieden“, sondern keiner Einigung fanden. Dieses Problem war „durch Eisen und Blut“, sahen die Abgeordne- keineswegs auf Preußen und den Heeres- und ten und die Öffentlichkeit ihre Befürchtungen Verfassungskonflikt beschränkt. Es war in allen bestätigt. Tatsächlich jedoch hatte Bismarck die Verfassungen der konstitutionellen Monarchien Notwendigkeit der Reformen für die Stärkung virulent, in denen dem König das absolute Veto des preußischen Heeres unterstreichen wollen, zustand. In den zeitgenössischen Verfassungs- seine Bedeutung als Instrument, um auf militä- interpretationen wurde als Lösungsweg die so- rischem Weg die nationalstaatliche Einigung genannte Appelltheorie entwickelt, die bei un- herbeizuführen. Dieser Gedanke lag den Libera- überbrückbaren Meinungsverschiedenheiten len durchaus nicht fern. den Appell an die Wähler vorsah. Solche Ap- Als das Parlament am 3. Oktober den Gesamt- pelle waren die Neuwahlen 1862 und 1863; haushaltsplan für das Jahr 1862 nur unter Strei- in beiden Fällen war die überwältigende Mehr- chung der Militärausgaben annahm, schloss der heit für die Liberalen ein eindeutiges Votum König die Sitzungsperiode mit einer Botschaft, für die Position des Parlaments. Da der König in der er ankündigte, „den Staatshaushalt ohne nicht bereit war, die damit getroffenen Entschei­ die in der Verfassung vorausgesetzte Grundlage“ dungen zu akzeptieren, nutzte sein Minister- zu führen. Der neue Ministerpräsident war be- präsident die „Lückentheorie“ zur Rechtferti­ ­ reit, diesen Verfassungsbruch zu begehen. Jetzt gung des Verfassungsbruchs. ­

120 Das Friedensangebot lag auf dem Tisch des Ab- Diese Theorie, die nicht neu, aber auch unter geordnetenhauses. Am 3. September 1866 ge- Juristen nicht akzeptiert war, besagte, dass bei nehmigte das Parlament mit 230 gegen 75 Stim- einer Lücke in der Verfassung die Entscheidung men die sogenannte Indemnitätsvorlage, mit bei der Seite liege, die faktisch die Macht in der nicht nur die Ausgaben nachträglich geneh- Händen halte. Wenn kein Etatgesetz in der von migt wurden, die die Regierung seit 1862 ohne der Verfassung vorgesehen Form zustande kom- Haushaltsgesetz getätigt hatte, sondern auch me, müsse die Regierung die Geschäfte ohne auf die Forderung nach Sanktionen für das ge- dieses Gesetz führen. In gewisser Weise konnte setzwidrige Verhalten der Regierung verzichtet man damit auf das Parlament ganz verzichten. wurde. Aber nicht alle Liberalen waren bereit, Das Ende dieser Konfrontation kam schließlich Bismarck zu folgen. Die Gegner der Indemni- 1866 und verdankte sich dramatischen Ent- tätsvorlage machten geltend, dass man damit wicklungen außerhalb des Parlaments. Der Sieg nur zum Status quo ante zurückkehre und dass Preußens und Österreichs über Dänemark 1864 man der Regierung die Möglichkeit offenlasse, und der Sieg Preußens über Österreich im Jahr jederzeit erneut Verfassungsbruch zu begehen. 1866 schienen eine glänzende Bestätigung der Die Deutsche Fortschrittspartei, die im Verfas- Militärpolitik der Regierung. Die Unterordnung sungskonflikt die Konfliktpartei par excellence verfassungspolitischer Ziele unter den macht- war, brach im Oktober 1866 mit der Sezession politischen Erfolg schien unvermeidbar ange- einer „nationalen Fraktion“ auseinander. sichts der Tatsache, dass der Sieg Preußens Diese Sezession führte später zur Gründung über Österreich mit einem Riesenschritt auf der „Nationalliberalen Partei“, die bis Ende der dem Weg zum deutschen Nationalstaat untrenn- 1870er-Jahre als Reichsgründungspartei zum bar verknüpft war. Es gab also gute Gründe, wichtigsten Kooperationspartner des Reichs- jetzt mit Bismarck zu kooperieren. kanzlers Bismarck wurde.

„Eine liebe ist der anderen werth“. Bismarck bietet dem im Konfliktkäfig gefangenen Parlament Lorbeerkränze mit Schleifen an, auf denen die Namen der Orte der entscheidenden Schlachten in den Kriegen 1864 und 1866 stehen. Das gefangene Parlament winkt mit der „Indem­ nität“. Karikatur aus „Kladderadatsch“, 1866

121 Am 25. Februar 1867 fand im Plenarsitzungs- saal des Preußischen Herrenhauses in der Leip- ziger Straße 3 die konstituierende Sitzung des Verfassunggebenden Norddeutschen Reichstags statt. Diese neue parlamentarische Körperschaft hatte den Auftrag, den Entwurf für die Verfas- sung des Norddeutschen Bundes zu beraten, dessen Gründung der vorläufige Abschluss ei- ner Entwicklung war, die mit den Verfassungs- beratungen in der Frankfurter Paulskirche 1848 begonnen hatte. Zwar war das Projekt der Na­ tionalstaatsgründung „von unten“, durch eine demokratisch gewählte Verfassunggebende ­Versammlung, gescheitert; gleichwohl gingen von Preußen wiederholt Initiativen zur Grün- dung eines kleindeutschen Nationalstaats unter ­preußischer Führung aus, die mit der Gründung des Norddeutschen Bundes als „Revolution­ von oben“ erfolgreich zum Abschluss gebracht wurden. Zunächst allerdings sah Preußen sich gezwun- gen, der Wiedererrichtung des Deutschen Bundes zuzustimmen. Trotz zaghafter Reformversuche kehrte man bald zum Status quo ante zurück, zum Staatenbund, in dem Österreich als Präsi- dialmacht die Führung innehatte. Dieser Zu- stand war natürlich nicht vereinbar mit den Machtansprüchen Preußens, das sich im Bund nicht länger mit der Rolle des Juniorpartners

Demokratie ohne Parlamentarismus: der Reichstag im Deutschen Kaiserreich

122 Konstituierende Sitzung des Norddeutschen Reichstags am 25. Februar 1867 im Sitzungssaal des Preußischen Herrenhauses in der Leipziger Straße 3 in Berlin. Das Herrenhaus bezog 1904 einen Neubau an derselben Stelle. Dieser Neubau ist heute das Gebäude des Bundesrats. Lithografie nach einem Gemälde von Carl Arnold, 1867

123 am 3. Juli 1866 mit dem Sieg der preußischen zufriedengeben wollte. Da die Rivalität zwi- über die österreichischen Truppen bei König- schen Preußen und Österreich innerhalb des grätz zu Ende sein würde, hatten viele erhofft, Bundes kaum zum Ausgleich zu bringen war, aber wenige erwartet. schien der Bruch des Bundes als Ergebnis eines Bereits drei Wochen später wurden im Vorfrie- abschließenden Konflikts zwischen den beiden den von Nikolsburg, den der Friedensvertrag deutschen Großmächten nur eine Frage der von Prag am 23. August bestätigte, die Weichen Zeit. gestellt. „Seine Majestät der Kaiser von Öster- Dieser Konflikt kam 1866. In der Zwischenzeit reich“, heißt es im Artikel II, „erkennt die Auf- waren die Rivalitäten zwischen Preußen und lösung des bisherigen deutschen Bundes an Österreich zunächst scheinbar in den Hinter- und gibt Seine Zustimmung zu einer neuen grund getreten; die beiden deutschen Groß- ­Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung mächte hatten 1864 gemeinsam den Deutsch- des österreichischen Kaiserstaates.“ Diese neue Dänischen Krieg geführt und die Verwaltung Gestaltung war Gegenstand des Bündnisver- der eroberten Herzogtümer Schleswig und Hol- trags, den Preußen am 18. August mit zunächst stein untereinander aufgeteilt. In dieser Lösung 13 anderen deutschen Staaten und drei Hanse- steckte allerdings ein Konfliktpotenzial, das mit städten abschloss und in dem vereinbart wur- der Besetzung des österreichisch verwalteten de, innerhalb eines Jahres einen Bundesstaat zu Herzogtums Holstein durch preußische Trup- bilden, der bereits im Nikolsburger Vorfrieden pen am 7. Juni 1866 aktuell wurde. Natürlich als Norddeutscher Bund bezeichnet wurde und war diese Entwicklung nicht das Ergebnis der dessen Südgrenze der Main bilden sollte; die- Verkettung unglücklicher Umstände, sondern sem Bündnisvertrag traten in den folgenden der Konfrontationsstrategie der preußischen Monaten fünf weitere Staaten bei, zuletzt am Außenpolitik, die das Ziel verfolgte, durch den 21. Oktober das Königreich Sachsen. Bruch mit Österreich und das Ende des Bundes Anders als die überwiegende Zahl der Unter- in seiner bisherigen Form für einen deutsch- zeichner des Bündnisvertrags, die während landpolitischen Neuanfang freie Hand zu be- des Krieges Alliierte Preußens waren, hatte das kommen. Diese Strategie war durchaus riskant, Königreich Sachsen auf der Seite Österreichs denn eine Garantie für einen preußischen Sieg gestanden. Ihm blieb jedoch das Schicksal des in der militärischen Auseinandersetzung, die Königreichs Hannover, des Kurfürstentums seit der Besetzung Holsteins kaum mehr zu ver- Hessen, des Herzogtums Nassau und der Freien meiden war, gab es nicht. Dass der Krieg bereits Stadt Frankfurt am Main erspart, die ebenfalls

124 dem allgemeinen, gleichen, direkten und ge­ mit Österreich verbündet gewesen waren und heimen Wahlrecht, das die Verfassunggebende die jetzt von Preußen annektiert wurden. Diese Versammlung der Frankfurter Paulskirche be- Annexionen schlossen eine Lücke im preußi- schlossen hatte, sorgte vollends für erhebliches schen Staatsgebiet zwischen den Kernprovin- Aufsehen in der politischen Öffentlichkeit. zen an und östlich der Elbe und den Gebieten Ganz unvorbereitet waren allerdings weder im Westen, entlang des Rheins, die Preußen auf die Initiative vom 10. Juni noch die Vertragsbe- dem Wiener Kongress 1815 zugesprochen wor- stimmungen vom 18. August gekommen. Bereits den waren. Dass überdies noch Schleswig und am 9. April hatte Preußen einen Antrag beim Holstein von Preußen einverleibt wurde, ver- Deutschen Bund eingebracht, in dem erklärt stand sich fast schon von selbst. wurde, dass „eine aus direkten Wahlen und all- Die Bündnispartner vereinbarten im Vertrag gemeinem Stimmrecht der ganzen Nation her- vom 18. August, die Verfassung des geplanten vorgehende Versammlung“ an der Reform des Bundesstaats auf der Grundlage eines Entwurfs Bundes beteiligt werden müsse. Die liberalen erarbeiten zu lassen, der von der preußischen Politiker und Publizisten deutschlandweit, vor Regierung am 10. Juni 1866 der Bundesver- allem aber in Preußen, dessen Ministerpräsident sammlung des Deutschen Bundes vorgelegt Bismarck seit Jahren die Rechte des Parlaments worden war. Diese „Grundzüge einer neuen missachtete, waren zunächst sprach- und ratlos: Bundesverfassung“ hatten im Artikel 2 eine „Wie reimt sich ‚deutsches Parlament‘“, fragte „Nationalvertretung“ vorgesehen, also ein Parla- der Philosoph und Abgeordnete Rudolf Haym, ment, das zusammen mit dem Bundestag des „mit extremstem Antiparlamentarismus im eige- Deutschen Bundes die gesetzgebende Gewalt nen Lande?“ ausüben sollte. Allein dieser Vorschlag, beim Dass dieser Vorschlag vor allem gegen Öster- Deutschen Bund eine Volksvertretung mit Ge- reich gerichtet war, wurde den meisten Beob- setzgebungskompetenz einzurichten, war inso- achtern sehr schnell klar. Der Parlamentsplan fern revolutionär, als er einer der zentralen war für das multinationale Reich der Habsbur- Märzforderungen der Liberalen aller Richtungen ger inakzeptabel, da seine Verwirklichung ent- des Jahres 1848 entsprach. Die Tatsache, dass weder die Auflösung der staatlichen Einheit die Wahlen zu diesem Parlament „nach den des Imperiums oder den Austritt Österreichs ­Bestimmungen des Reichswahlgesetzes vom aus dem Deutschen Bund zur Folge gehabt hätte. 12. April 1849“ durchgeführt werden sollten, Wenn das preußische Parlamentsprojekt aber

Verhandlungen zwischen der ­preußischen und der österreichi- schen Delegation am 16. Juli 1866 in ­Nikolsburg. In der Bildmitte steht der preußische Außenminister Otto von Bismarck. Mit dem Vorfrie- den, der an diesem Tag ­geschlossen wurde, war der Weg frei zur Grün- dung eines klein­deutschen Staates, also ohne die Beteiligung­ Österreichs. Holzstich, o. J.

125 Maßen und Gewichten die Entwicklung der nur ein Druckmittel des preußischen Minister- ­Industriegesellschaft erheblich beschleunigen präsidenten gewesen wäre, um leichter seine werde. In absehbarer Zukunft werde deshalb machtpolitischen Ziele zu erreichen, hätte es die bürgerlich-kapitalistische Industrie die im August von der Tagesordnung genommen wirtschaftlich stärkste Macht in Staat und Ge- werden können, nachdem diese Ziele erreicht sellschaft werden und die Großlandwirtschaft, waren. Dass der Parlamentsplan dennoch aktu- die ökonomische Basis der Machtstellung des ell blieb, ließ nur den Schluss zu, dass es sich Adels, in den Hintergrund drängen. Mit dieser auch um ein Angebot Bismarcks an die liberale­ wirtschaftlichen Führungsposition müsse den Nationalbewegung handelte. Vertretern des liberalen Bürgertums zwangsläu- Die Errichtung eines deutschen Nationalstaats fig die politische Führungsposition zufallen. gehörte seit Jahrzehnten zu den zentralen libe- „Die gesellschaftlich vorwiegenden Klassen“, ralen Forderungen. Dieser Forderung lag die ­erklärte der Jurist und Politiker Karl Twesten Annahme zugrunde, dass der Nationalstaat bereits 1861, „müssen unweigerlich auch die der Schauplatz der weiteren Entwicklung zum politisch herrschenden werden.“ Rechts- und Verfassungsstaat sein werde, die in Mit dieser theoretischen Absicherung, die eine den Einzelstaaten spätestens mit dem Scheitern fast automatische Entwicklung in Richtung der der Revolution zum Stillstand gekommen war. Verwirklichung der liberalen Ziele implizierte, Nur in einem Gesamtstaat, an den die Einzel- fiel es einer Mehrheit der Liberalen trotz aller staaten, die die Bastionen der Herrschaft der Vorbehalte gegen die Person und die Politik Dynastien und der Privilegien des Adels waren des preußischen Ministerpräsidenten nicht und blieben, ihre Souveränität und grundle­ schwer, das Angebot zur Kooperation bei der gende Kompetenzen abgegeben hatten, war an Errichtung des Nationalstaats anzunehmen. eine Ablösung der feudalen Mächte durch die Das Angebot hatte allerdings aus der Sicht der bürgerliche Gesellschaft zu denken. „Ist denn“, Liberalen einen Haken: Die Liberalen hatten aus fragte der Abgeordnete Ludwig Bamberger, ­ihrer Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts „die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?“ nie einen Hehl gemacht, und sie mussten die Diese Begründung wurde ergänzt durch ein öko- Tatsache, dass dieses Wahlrecht für das Parla- nomisches Argument: Der Nationalstaat werde ment des zukünftigen Bundestaats in Aussicht einen großen Wirtschaftsraum bilden, in dem genommen worden war, geradezu als Drohung sich durch die Geltung des gleichen Wirtschafts- wahrnehmen. Zuletzt hatte sich bei der Wahl- rechts, durch eine gemeinsame Währung und rechtsdebatte der Frankfurter Nationalversamm- durch die Vereinheitlichung von Tarifen, lung gezeigt, dass die Mehrheit der Liberalen­

126 Hoffnungen Bismarcks noch die schlimmsten Befürchtungen der Liberalen. Konservative und liberale Fraktionen kamen jeweils zusammen das allgemeine Wahlrecht für ein Instrument auf die gleiche Zahl von Mandaten. Im libera- hielt, das von den Inhabern wirtschaftlicher, len Lager behauptete sich die nationalliberale sozialer und vor allem politischer Macht be- Fraktion, die sich seit der Sezession aus der nutzt werden könnte, um große Teile der ab- Deutschen Fortschrittspartei jetzt zum ersten hängigen und politisch unmündigen Bevölke- Mal unter diesem Namen konstituierte, mit rung gegen den bürgerlichen Liberalismus und 81 Abgeordneten als die stärkste Fraktion des den weiteren Ausbau des Rechts- und Verfas- ganzen Hauses; im konservativen Lager muss- sungsstaats zu mobilisieren. Der Verdacht lag ten sich die Freikonservativen, die sich von nahe, dass Bismarck genau aus diesem Grund den Konservativen getrennt hatten, um, wie das allgemeine Wahlrecht in seine Parlaments- die Nationalliberalen im liberalen Lager, die pläne übernommen habe. politischen Ziel Bismarcks zu unterstützen, Die liberalen Skeptiker hatten offenbar recht. mit 39 Mandaten zufrieden geben. Diese beiden Bismarck hatte bereits seit Jahren wiederholt Fraktionen bildeten den Kern von wechselnden deutlich gemacht, dass er vom allgemeinen Mehrheiten, die sich fest vorgenommen hatten, Wahlrecht konservative Mehrheiten erwarte. die parlamentarischen Beratungen nicht ohne Im Umfeld des Antrags auf Bundesreform vom die Gründung eines National- und Verfassungs- 9. April 1866 heißt es etwa in einer Instruktion staats zu beenden. für den Gesandten Albrecht von Bernstorff: „In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler­ Gesinnung wird das allgemeine Im Vorhof der Macht: die Stellung des Stimmrecht, indem es die Einflüsse der liberalen ­Reichstags in der Verfassung Bourgeoisieklassen beseitigt, auch zu monarchi- schen Wahlen führen. … In Preußen aber sind Am 4. März 1867 legten die verbündeten Regie- neun Zehntel des Volkes dem Könige treu …“. rungen dem Parlament den Entwurf zur Verfas- Nach dem Wahlgesetz, das am 15. Oktober sung des Norddeutschen Bundes vor. Die über- 1866 in Kraft trat, wurde am 12. Februar 1867 wiegende Mehrheit der 61 Abgeordneten, die der konstituierende Reichstag gewählt. Das sich während der allgemeinen Vorberatungen Wahlergebnis bestätigte weder die kühnsten zu Wort gemeldet hatten, übte mehr oder weni-

Wahlen zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag am 12. Februar 1867. Szene in einem Wahllokal. Holzstich, 1867

127 Da geht es, um nur die wichtigsten zu nennen, um Wirtschaftspolitik in der Zoll- und Han- delsgesetzgebung ebenso wie in den Bestim- mungen für Banken und Gewerbebetriebe, um Verkehrspolitik auf dem Feld der Eisenbahnen­ und der Schifffahrt, den Land- und Wasser­ straßen, um Kommunikationsnetze im Post- ger scharfe Kritik an dem Entwurf. Im Zentrum und Telegrafenwesen, um Maße, Münzen und dieser stand die „Ausstattung des Reichstags“,­ Gewichte, um Patente und Urheberrechte, um dessen Rechte und Kompetenzen im vorlie­ ­ Straf- und Zivilrecht. Andererseits aber war genden Entwurf weit hinter den Rechten und die weitgehende Beschränkung der Aufgaben­ Kompetenzen zurückblieben, die den meisten des Parlaments auf die Gesetzgebung in diesen Parlamenten der Mitgliedsstaaten des Nord- Bereichen für den Abgeordneten Franz Leo deutschen Bundes, vor allem dem Preußischen ­Benedikt ­Waldeck von der linksliberalen­ Deut- Abgeordnetenhaus, zustanden. In der nächsten schen Fortschrittspartei Anlass genug zu der Beratungsrunde wurde deshalb eine ganze polemischen Aussage, es handle sich bei dem ­Reihe von Ergänzungen vorgenommen. Dazu im Verfassungsentwurf vorgesehenen­­ Parlament gehörte die im Entwurf nicht vorgesehene Im- um ein „Zoll-, Post- und Telegrafenparlament“.­ munität der Abgeordneten, mit der die Straf­ Was dem Reichstag im Verfassungsentwurf verfolgung von Mitgliedern des Parlaments von fehlte, war das volle Budgetrecht, die jährliche dessen Genehmigung abhängig gemacht wird. Festsetzung des Etats nach Einnahmen und Dass die Befürchtungen, das neue Parlament Ausgaben in einem Haushaltsgesetz. Im kon­- werde nur über eingeschränkte Rechte verfü- s­titutionellen Regierungssystem, in dem die gen, nicht aus der Luft gegriffen waren, wird ­Minister vom monarchischen Staatsoberhaupt am Katalog der Kompetenzen des zukünftigen ernannt werden und dem Parlament als fürstli- Reichstags sichtbar. Einerseits war zwar der che Regierung gegenüberstehen, war das Budget­ Umfang der Gesetzgebungsaufgaben, die dem recht das wichtigste Druckmittel der Parlamen- Reichstag auf den Politikfeldern zugewiesen te, um die Regierung zu Zugeständnissen und wurden, für die der Bund die Zuständigkeit Kompromissen zu zwingen. Das Budget­recht von den Einzelstaaten übernehmen sollte, galt deshalb als „die erste Bedingung und Not- nicht nur auf den ersten Blick beeindruckend. wendigkeit jedes parlamentarischen Einflusses“.

128 dem militärischen so niedrig war, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Kosten für die Verwaltung, und zwar auch der Politikfelder, Es war daher ein großer Schritt auf dem Weg auf denen die Gesetzgebung beim Bund lag, der Erweiterung der Parlamentskompetenzen, von den Einzelstaaten übernommen werden dass es der Mehrheit der konstituierenden Ver- mussten, da ähnlich wie heute in der Bundes- sammlung bei der Beratung und Abstimmung republik die Verwaltung Angelegenheit der über den Artikel 65 am 9. April 1867 gelang, Länder war. Während die Länder dafür über dem Reichstag das volle Budgetrecht, die jährli- die direkten Steuern verfügen konnten, war che Festsetzung aller Einnahmen und Ausgaben der Bund auf die Einnahmen aus Zöllen, Ver- des Bundes in einem Haushaltsgesetz zu sichern; brauchssteuern und die Erträge der Bundes­ im Entwurf war das Haushaltsgesetz auf die betriebe, vor allem der Post angewiesen. Bei Ausgaben beschränkt und sollte nur einmal für Mehrbedarf wurden sogenannte Matrikular­ die gesamte Wahlperiode beschlossen werden. beiträge erhoben, Zahlungen der Einzelstaaten Die Ausübung des Budgetrechts war allerdings an den Bund, deren Höhe jeweils mit der Ver- erheblich eingeschränkt, da die Militärausga- abschiedung des Etats festgestellt wurde und ben, der Haushalt des Bundesheers, der 90 Pro- die in den ersten Jahren 20 Prozent des gesam- zent des Gesamthaushalts in Anspruch nahm, ten Bundeshaushalts ausmachten, im Lauf der der Verfügung des Parlaments entzogen waren. weiteren Entwicklung jedoch bis auf fünf Pro- Für die Finanzierung dieses Bundesheers, das zent sanken. in Krieg und Frieden unter dem Kommando des In seinem Eröffnungsbeitrag zu der allgemeinen preußischen Königs als Bundesfeldherr stand, Vorberatung des Verfassungsentwurfs musste war eine feste Summe in die Verfassung aufge- Karl Twesten zu seiner Überraschung feststellen, nommen wurden, die sich aus der Präsenzstärke dass „keine Regierung definiert“ worden sei. des Heeres ergab, also der Zahl der diensttuen- An der Stelle, an der in den Verfassungen der den Soldaten, die auf ein Prozent der Gesamt- konstitutionellen Monarchien „von der könig­ bevölkerung festgelegt worden war; durch die lichen Regierung“ oder „vom Großherzoge und Multiplikation dieser Zahl mit 225 Talern pro seinen Ministern“ die Rede war, fand sich im Kopf kam für das erste Haushaltsjahr des Bun- Entwurf der Bundesrat, ein Gesandtenkongress des eine Summe von 69 Millionen zusammen aus Vertretern der Regierungen der Einzelstaa- bei einem Gesamtetat von 77 Millionen. Dass ten, der ganz am Vorbild des Bundestages des der zivile Etat des Bundes im Vergleich mit Deutschen Bundes orientiert war. Diese Orien-

„Zwei Veteranen“. Die beiden links- liberalen Abgeordneten Hermann Schulze-Delitzsch (l.) und Franz Leo Benedikt Waldeck während ­einer Sitzung des konstituierenden Norddeutschen Reichstags. Schulze-­ Delitzsch hatte der Frankfurter ­Nationalversammlung angehört, Waldeck der Preußischen National- versammlung. Holzstich, 1867

129 tierung ging bis ins Detail der Stimmverteilung und der Stimmabgabe. Die insgesamt 43 Stimmen Selbstverständlich nahm der preußische König waren nach demselben Schlüssel verteilt wie diese Aufgaben nicht persönlich wahr, sondern beim Deutschen Bund. Jeder Staat musste seine ernannte für das operative Geschäft einen Bun- Stimmen einheitlich abgeben; bei der Stimm­ deskanzler. Dieser Bundeskanzler hatte als abgabe waren die Gesandten beim Bundesrat stimmführender Bevollmächtigter der Präsidial- an die Weisungen ihrer Regierungen gebunden. macht Preußen den Vorsitz im Bundesrat und Der Bundesrat war eine Länderkammer, wie führte dessen Geschäfte. Alle Anordnungen, sie in Bundesstaaten für die Vertretung der die der Inhaber des Bundespräsidiums im Rah- ­Interessen der Einzelstaaten im Gesamtstaat men der Wahrnehmung seiner Kompetenzen ­üblich ist. Er war gleichberechtigt mit dem zu erlassen hatte, sollten vom Bundeskanzler Reichstag an der Gesetzgebung beteiligt; erst mitgezeichnet werden, der damit die sachliche wenn ein Gesetz in beiden Häusern mit abso­ Richtigkeit bestätigte. luter Mehrheit angenommen worden war, Dieser Bundeskanzler schien den Abgeordne- konnte es in Kraft treten. Die Ausfertigung ten einen Ansatzpunkt zu bieten, um am Ende und Verkündung der Gesetze kam ebenso wie doch noch eine Regierung dingfest machen zu die Überwachung ihrer Ausführung durch die können, die im Entwurf zwar „in verschiedenen ­Verwaltungen der Einzelstaaten dem Bundes- Formen, unter verschiedenen Benennungen“ präsidium zu. auftrete, wie Karl Twesten feststellte, die aber Inhaber des Bundespräsidiums war der preu­ nicht wirklich fassbar werde, da von einer ßische König, da Preußen im Norddeutschen ­Bundesregierung gar nicht die Rede sei. Am Bund die Präsidialmacht war, wie Österreich Ende der Beratung und der Abstimmung über es im Deutschen Bund gewesen war. Anders den entscheidenden Artikel der Verfassung als im Deutschen Bund übernahm die Präsidi- wurde der Antrag des Abgeordneten Rudolf von almacht im Norddeutschen Bund eine Reihe Bennigsen „mit großer Mehrheit“ angenommen, von Rechten für den Bund als Gesamtstaat. der aus der Mitzeichnung „die Gegenzeichnung Dazu ­gehörte die Außenpolitik, vor allem die des Bundeskanzlers“ machte, „der dadurch die völkerrechtliche Vertretung des Bundes und Verantwortlichkeit übernimmt“. Durch diese die Befugnis, Bündnisse und Verträge mit ande- Änderung des Entwurfs war aus dem Gesand- ren Staaten einzugehen, den Krieg zu erklären ten, der seine Weisungen vom preußischen und Frieden zu schließen, aber auch das Recht, ­Außenminister empfangen haben würde, ein den Bundesrat und den Reichstag einzuberu- Bundesminister geworden, der dem Parlament fen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen. Rede und Antwort zu stehen hatte, ein Amt,

Otto von Bismarck (M.) mit Mit­ gliedern des ­Bundesrats im Foyer d­­es Abge­ordnetenhauses in der Leipziger Straße im Jahr 1889. Links von ­Bismarck Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Köfering, der von 1880 bis 1918 bayerischer Be- vollmächtigter zum Bundesrat war.

130 das deshalb nur der preußische Außenminister selbst übernehmen konnte. Das war Otto von Bismarck, und es gibt eine ganze Reihe von ­Indizien, dass er eine Stellung, wie sie das Der Antrag Bennigsen war in seiner ersten Fas- Amt des Bundeskanzlers bot, angestrebt hatte, sung weiter gegangen und hatte auch die Ein- da dieses Amt seine persönliche Machtstellung führung von verantwortlichen „Vorständen der und seine Unabhängigkeit gegenüber den preu- Verwaltungszweige“ gefordert, also Bundesmi- ßischen Ministerkollegen erhöhte. nister für die einzelnen Fachressorts, die sich Es blieb allerdings unklar, was genau mit dieser aus den Aufgabenfeldern des Bundes ergaben. Verantwortlichkeit gemeint war. Man unter- Diesem Antrag war Bismarck, der als Präsident schied zwischen juristischer und parlamenta­ der Beauftragten der Einzelregierungen sprach, rischer Verantwortlichkeit. Wenn es um juris­ die als eine Art Proto-Bundesrat an den parla- tische Verantwortlichkeit gegangen wäre, also mentarischen Beratungen der Verfassung teil- um die Möglichkeit, den Minister im Fall von nahmen, mit aller Entschiedenheit entgegen­ Verstößen gegen die Verfassung oder Gesetze getreten. Es bedürfe keiner Bundesminister, strafrechtlich belangen zu können, hätte es eines die eine Regierung bilden, da der Bundesrat entsprechenden Gesetzes bedurft. Ein solches selbst ein „gewissermaßen gemeinschaftliches Gesetz war zwar geplant, wurde aber nie ver- Ministerium“ sei. Die Fachausschüsse des Bun- wirklicht. Eine parlamentarische Verantwort- desrats würden die Aufgaben von Ministern lichkeit dagegen hätte bedeutet, dass der Kanz- wahrnehmen. Diese Funktion des Bundesrats ler vom Vertrauen des Parlaments abhängig als ­Regierung ergebe sich aus der Tatsache, dass ist und zurücktreten muss, wenn er dieses Ver- die fürstlichen Regierungen der Einzelstaaten trauen verliert. Davon konnte aber überhaupt keineswegs Teile ihrer Hoheitsrechte an den keine Rede sein, denn die Berufung und Ent­ Bund abgegeben hätten, sondern dass sie diese lassung des Kanzlers blieb ganz allein der Ent- Bundessouveränität gemeinschaftlich durch scheidung des Inhabers des Bundespräsidiums den Bundesrat ausüben würden. Der Bundes- vorbehalten, von dessen Vertrauen allein er rat, so erläuterte Bismarck fast 20 Jahre später, abhängig war. Sehr viel war also mit der Ände- lange nach der Erweiterung des Norddeutschen rung durch den Antrag Bennigsen nicht gewon- Bundes zum Deutschen Reich, in einem Ge- nen. Rede und Antwort hätte der Kanzler dem spräch mit dem sächsischen Gesandten, sei die Parlament auch ohne diese Änderung immer „unverantwortliche Reichsregierung“, die eben dann stehen müssen, wenn er eine Mehrheit wegen dieser Unverantwortlichkeit der Kon­ für ein Gesetz brauchte. trolle des Parlaments entzogen war.

131 wurf einbauen zu müssen, die dazu bei­tragen sollten, die Zusammensetzung des Parlaments Die Abgeordneten nahmen diese Ausführungen regierungskonform zu steuern. Dass Bismarck des designierten Bundeskanzlers mit großer das allgemeine Wahlrecht seit Jahren favori­ Überraschung zur Kenntnis, da von einer Re- sierte, weil er sich von diesem Wahlrecht kon- gierung durch den Bundesrat im Entwurf der servative, regierungsfreundliche Mehrheiten Verfassung mit keinem Wort die Rede war. Es versprach, war kein Geheimnis. Er machte sich gab nur einige über den Entwurf verstreute deshalb auch in der Debatte des Wahlrechts­ ­Artikel, denen indirekte Hinweise entnommen artikels im Verfassungsentwurf, der das allge- werden konnten. Die Gesetzesvorlagen aus dem meine und direkte Wahlrecht vorsah, noch Bundesrat wurden „durch Mitglieder des Bun- ­einmal mit Nachdruck für dieses Wahlrecht desrats“ vor dem Reichstag vertreten, eine Auf- stark; seine Behauptung, er „kenne kein besse- gabe, die wie das Recht der Mitglieder des Bun- res Wahlgesetz“, fand beifälliges Echo in den desrats, „im Reichstage zu erscheinen“ und Debattenbeiträgen einiger konservativer Abge- dort „auf Verlangen jederzeit gehört werden“ zu ordneter, die im Übrigen das allgemeine Wahl- müssen, für Mitglieder von Regierungen üblich recht als typisch revolutionäre Forderung eher war und ist. Dem Zutritts- und An­hörungsrecht fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. des Bundesrats stand jedoch kein Zitierrecht Zwar hatten fast alle Liberalen, die zu diesem des Parlaments gegenüber; die Mitglieder des Tagesordnungspunkt sprachen, zu verstehen Bundesrats waren nicht verpflichtet, dem Parla- gegeben, dass sie dem entsprechenden Artikel ment für Fragen zur Verfügung zu stehen. Diese ihre Zustimmung nicht verweigern würden. Immunisierung der Regierung gegen parlamen- Kaum einer verzichtete jedoch darauf, Vorbe- tarische Ansprüche war Zweck der ganzen halte gegen das allgemeine Wahlrecht geltend Konstruktion. Die Weigerung, Fachminister zu machen und Befürchtungen über dessen einzuführen, hielt einen Graben offen, der den Folgen zu formulieren. „Meine Herren“, erklärte Reichstag von der Regierung auf Dauer trennte der nationalliberale Abgeordnete Adolf Weber und damit die staatliche Verwaltung dem parla- aus Stade, „das allgemeine directe Wahlrecht mentarischen Zugriff entzog. ist meine Liebe nie gewesen, es bringt und legt Dem Reichstag wurde die gesetzliche Regu­ die staatsbürgerlichen Rechte in die Hand einer lierung von Wirtschaft und Gesellschaft als Menge social wie geistig abhängiger Existenzen.“ ­Be­tätigungsfeld zugewiesen, dessen Bedeutung Diese „Existenzen“ würden von „denjenigen immerhin doch so groß war, dass die Verfas- Klassen und denjenigen Personen, die Einfluß“ sungsgeber glaubten, Sicherungen in den Ent­ auf sie hatten, politisch instrumentalisiert, um

132 aber auch in der Frankfurter Nationalversamm- „einen Gegendruck auszuüben gegen die Mittel- lung und im verfassungsberatenden Reichstag klassen, gegen das Bürgerthum“, also die soziale selbst im Durchschnitt die Hälfte der Abgeord- Gruppe, die durch die liberalen Parteien reprä- neten Beamte waren. Dass der Versuch über- sentiert wurde und die „der wahre Träger der haupt unternommen wurde, verdankte sich der freiheitlichen Ideen“ sei. Tatsache, dass vor allem Juristen, die als Rich- Um diesen Einfluss so weit wie möglich zu ter, Staatsanwälte und Professoren im Staats- ­reduzieren, sollte die Wahl wenigstens geheim dienst standen, in den Parlamenten zu den ent- stattfinden; im Wahlrechtsartikel des Verfas- schiedensten Regierungskritikern gehörten. Ein sungsentwurfs war nur das allgemeine und Par­lament ohne Beamte wäre auf jeden Fall ein ­direkte, nicht aber das geheime Wahlrecht vor- ­weniger regierungskritisches Parlament gewesen. gesehen. Zwar hatte die geheime Wahl vom In die endgültige Verfassung wurde dagegen der 12. Februar 1867 ein für die Regierung durch- Artikel übernommen, der den Abgeordneten aus zufriedenstellendes Ergebnis erbracht; ganz die Zahlung von Diäten vorenthielt. Die Wahr- sicher, dass das allgemeine Wahlrecht immer nehmung eines Abgeordnetenmandats war da- zu regierungstreuen Mehrheiten führen werde, mit nur Kandidaten möglich, die über genügend waren sich die Verfassungsgeber aber offenbar finanziellen Spielraum verfügten, um jährlich doch nicht. Da lag es durchaus nahe, die Ein- mehrere Monate auf eigene Kosten in Berlin flussmöglichkeiten, die mit der im preußischen verbringen zu können. Dieser indirekte Zensus Dreiklassenwahlrecht üblichen offenen Stimm- war als Sicherung gegen die unkalkulierbaren abgabe verbunden waren, als zusätzliche Siche- Folgen des allgemeinen Wahlrechts gedacht. rung zu nutzen. Am 28. März wurde jedoch Zwar entschied sich am 30. März 1867 eine der Antrag, die Formulierung „mit geheimer knappe Mehrheit für die Zahlung von Reisekos- Abstimmung“ in den Wahlrechtsartikel einzu- ten und Diäten und lehnte damit das Diätenver- fügen, mit großer Mehrheit angenommen. bot des Entwurfs ab; in der Schlussabstimmung Mit zwei weiteren Artikeln des Entwurfs war war die Mehrheit des Parlaments jedoch bereit, die Absicht verbunden, den Kreis der Perso- es bei dem Diätenverbot zu belassen; erst 1905 nen, die ein Parlamentsmandat wahrnehmen wurden Diäten für Mitglieder des Deutschen konnten, erheblich einzuschränken. Dass dem Reichstags eingeführt. Als Gegenleistung für Versuch, den Beamten das passive Wahlrecht die Zustimmung zum Diätenverbot waren die zu verweigern, kein Erfolg beschieden war, ver- verbündeten Regierungen bereit, die Frist für wundert keineswegs angesichts der Tatsache, das feste Militärbudget von zehn auf vier Jahre dass in allen Parlamenten der Einzelstaaten, zu reduzieren.

Reichstagspräsident Eduard Simson eröffnet eine Sitzung des Norddeut- schen Reichstags im Sitzungssaal des Preußischen Herrenhauses. Holzstich, 1867

133 etwas länger gedauert, als zunächst angenom- men worden war, und am Ende bedurfte es des Krieges mit Frankreich als Katalysator. Die Ver- Am 16. April 1867 fand im konstituierenden fassung dieses neuen Deutschen Bundes war Reichstag des Norddeutschen Bundes die weitgehend identisch mit der Verfassung, die im Schlussabstimmung über die Verfassung statt. April 1867 vom konstituierenden Reichstag des Die Erweiterungen und Verbesserungen der Norddeutschen Bundes verabschiedet worden Rechte und Kompetenzen des Parlaments, war. Der neue Bund erhielt den Namen Deut- die während der Beratungen im März und sches Reich, der preußische König führte als ­April 1867 in die Verfassung eingebracht wer- ­Inhaber des Bundespräsidiums jetzt den Titel den konnten, waren beachtlich; gleichwohl Deutscher Kaiser, und aus dem Bundeskanzler blieb ihre Reichweite durch andere Verfas- wurde der Reichskanzler. Der Bundesrat behielt sungsbestimmungen außerordentlich begrenzt. als föderale Einrichtung seinen Namen; die Zahl Abgesichert durch die Verfassung, bildeten seiner Mitglieder erhöhte sich auf 58. Das Par- die Bastionen staatlicher Macht einen extra- lament, das schon im Norddeutschen Bund als konstitutionellen Raum, in den vorzudringen Reichstag bezeichnet wurde, hatte jetzt 382 statt dem Parlament verwehrt blieb. wie bisher 297 Abgeordnete. Der erste Reichstag, der am 3. März 1871 ge- wählt wurde und am 14. April die Verfassung Abschluss der Gründung des Nationalstaats: in ihrer aktualisierten Form fast einstimmig vom Norddeutschen Bund zum Deutschen verabschiedete, setzte die liberale Reformpolitik, Reich die der Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 begonnen hatte, konsequent fort. Die Auf den Tag genau vier Jahre nach der Schluss- Reformmehrheit, die im Parlament von 1867 abstimmung über die Verfassung des Norddeut- durch die liberalen Fraktionen und die Frei- schen Bundes, am 16. April 1871, unterschrieb konservativen gebildet wurde, konnte im der preußische König das „Gesetz, betreffend Reichstag von 1871 ihre Politik zielstrebig wei- die Verfassung des Deutschen Reichs“. Damit ter verfolgen, da bereits die liberalen Fraktio- war ein Prozess abgeschlossen, der im Novem­ ­ nen allein zusammen auf eine knappe absolute ber des Vorjahrs begonnen hatte, als die süd- Mehrheit kamen; die Nationalliberalen als mit deutschen Staaten durch Verträge dem Nord- Abstand größte Fraktion stellten mit 125 Man- deutschen Bund beigetreten waren. Diese daten fast ein Drittel der Abgeordneten. Es ging ­Erweiterung des Norddeutschen Bundes hatte bei dieser Reformgesetzgebung vor allem um

134 Eröffnungssitzung des 1. Deutschen Reichstags am 21. März 1871 im ­Sitzungssaal des provisorischen Preußischen Abgeordnetenhauses. Die zum überwiegenden Teil im rechten Winkel zum Präsidiums- tisch und zum Rednerpult angeord- neten Bänke, an denen immerhin ­jeder Abgeordnete inzwischen über ein kleines Pult verfügte, zwangen die Abgeordneten, die in den Ecken saßen, sich in die Nähe der Redner- tribüne zu stellen, um den Reden folgen zu können. Holzstich, 1871

135 zender und Geschäftsführer des Bundesrats zu ­unterstützen, und das zu Anfang nur ein gutes die Vereinheitlichung und Liberalisierung der Dutzend Mitarbeiter hatte. Zum Präsidenten Wirtschaftsverfassung und den eng damit ver- dieser neuen Behörde wurde Rudolph von bundenen Ausbau des Rechtsstaats. Es ging ­Delbrück berufen, der seit Jahren als leitender um Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit, um Beamter im preußischen Handelsministerium Aktiengesellschaftsrecht und ein Reichspatent- die liberale Wirtschafts- und Handelspolitik gesetz, um die Einführung der Mark als einheit- Preußens verantwortete. Unter Delbrücks Lei- liche Reichswährung und die Gründung der tung wurden, in Absprache und enger Koope­ Reichsbank, es ging um Prozessrecht und Ge- ration mit der Reformmehrheit im Reichstag, in richtsverfassung, zu der auch die Einrichtung wachsender Zahl Gesetzentwürfe ausgearbeitet, des Reichsgerichts gehörte. die es verfassungsrechtlich eigentlich gar nicht Ein erheblicher Teil der Gesetzesvorlagen kam geben durfte und die als Präsidialvorlagen aus der Mitte des Parlaments. Der Bundesrat kaschiert dem Bundesrat zugeleitet wurden. dagegen hat nie wirklich eigene Gesetzesini­ Natürlich wäre diese enge Zusammenarbeit tiative entwickelt. Die Gesetzentwürfe, die des Kanzleramts mit den nationalliberalen und im ­Namen des Bundesrats zur Vorlage kamen, freikonservativen Fraktionen des Parlaments stammten aus den preußischen Ministerien ohne die Kenntnis und die Zustimmung und wurden dem Bundesrat oft so kurzfristig Bismarcks nicht möglich gewesen. Er teilte mit zugeleitet, dass für eine Beratung keine Zeit der Reformmehrheit die Modernisierungsziele. blieb. Die Bundesratsregierung war eine Fik­ Aber während die Liberalen davon langfristig tion, die nicht nur als Blockade gegen die Kon­ die Entstehung einer bürgerlichen Herrschaft trolle und den Zugriff des Parlaments auf die erwarteten, versprach sich Bismarck eine Sta­ Regierung diente, sondern auch die bundes- bilisierung der Vorherrschaft der alten Eliten, staatliche Fassade bildete, hinter der sich die deren Herrschaftsbereiche dem Parlament des- preußische Hegemonie verbarg. halb umso fester verschlossen bleiben mussten. Die Bedeutung der Regierungen der Einzel­ Als sich in den 1870er-Jahren aus den Abteilun­ ­­ staaten trat in dem Maße in den Hintergrund, gen des Kanzleramts eigenständige Reichsämter in dem sich eine eigene Reichsverwaltung ent­ entwickelten, waren de facto Fachministerien wickelte. Deren Kern bildete das Kanzleramt, entstanden, an deren Spitze aber vom Kanzler das 1867 gegründet wurde, um den Kanzler bei weisungsabhängige Staats­sekretäre standen, die der Wahrnehmung seiner Aufgaben als Vorsit- zu preußischen Bevollmächtigten zum Bundes-

Wahlen zum Deutschen Reichstag am 12. Januar 1912. Szene in einem Berliner Wahllokal. Die SPD errang bei dieser Wahl mit 34,8 Prozent der Stimmen ihr bis dahin bestes ­Ergebnis. Wegen der ungerechten Wahlkreiseinteilung, durch die die dünn besiedelten landwirtschaft­ lichen Regionen bevorzugt und die schnell wachsenden Industriestädte benachteiligt wurden, kam die ­Partei aber nur auf 27,7 Prozent der Mandate. Sie bildete dennoch mit 110 Abgeordneten die stärkste ­Fraktion.

136 rat ernannt werden mussten, damit sie Gesetz- entwürfe aus ihrem Haus im Reichstag vertre- ten konnten. Die antiparlamentarische Fiktion seit 1890 regelmäßig den größten prozentualen vom Bundesrat als unverantwortlicher Regie- Anteil der Stimmen erhielten und bis 1912, als rung wurde streng aufrechterhalten. Er blieb die SPD auf 34,8 Prozent kam und das Zentrum praktisch und sym­bolisch das monarchische mit 16,8 Prozent den zweiten Platz belegte, alle Gegengewicht zum ­demokratisch gewählten anderen Parteien weit hinter sich ließen. Diese Reichstag. Erfolge schlugen sich aber keineswegs in der Die langfristige Festlegung des Militäretats, mit Zahl der Mandate nieder. Die Wähler der Sozial­ der allzu neugierige Blicke bürgerlicher Parla- demokraten waren in urbanen Ballungsräumen mentarier in die Welt der bewaffneten Streit- konzentriert, die durch die Wahlkreiseinteilung kräfte reduziert werden sollten, diente demsel- besonders benachteiligt waren, da die Wahl- ben Ziel. Die Vierjahresfrist, auf die man sich kreise trotz rapider Industrialisierung, der da- im Kompromiss mit der Diätenfrage geeinigt mit verbundenen Binnenwanderung und der hatte, war 1870 im Umfeld des Krieges ohne Konzentration der Bevölkerung in den Städten großes Aufheben um drei Jahre verlängert nicht verändert wurden. Da die bevölkerungs- ­worden, sodass die zu erwartenden Konflikte armen Wahlkreise in den agrarischen Gebieten erst 1874 akut wurden. Während die Militärs des preußischen Osten lagen, profitierten von ein „Äternat“ forderten, eine unbegrenzte den ungleichen Wahlkreisgrößen vor allem ­Festlegung, beharrten die Abgeordneten auf die Konservativen, die bei der Wahl 1907 nur ­ihrem jährlichen Budgetrecht. Der Kompromiss, 17.700 Stimmen benötigten, um ein Mandat zu den man schließlich fand, war das „Septenat“, erringen, während die SPD dafür 75.800 Stim- eine Festlegung auf sieben Jahre, das bis in die men brauchte. 1890er-Jahre immer wieder erneuert und dann Der Reichstag des Deutschen Kaiserreichs war durch eine Festlegung auf fünf Jahre abgelöst eine moderne und einflussreiche Instanz, deren wurde. politische Bedeutung und Macht stetig wuchs. Das allgemeine Wahlrecht kam langfristig Andererseits blieb der Reichstag, behindert ­weder den Liberalen noch den Konservativen durch die Verfassung, aber auch wohl zu kon- zugute, sondern dank seiner massenmobilisie- servativ und vorsichtig in seiner Mehrheit, im renden Wirkung den Sozialdemokraten, die Vorhof der Macht.

Allegorie auf das allgemeine Wahl- recht: Die „Freiheit“ überreicht den Arbeitern den Lorbeerkranz. Am linken Bildrand sitzt Karl Marx. Holzstich, um 1870

137 Am 19. Januar 1919 fanden die Wahlen zur Ver- fassunggebenden Nationalversammlung statt, bei denen zum ersten Mal in der deutschen Ge- schichte nicht nur Männer, sondern auch Frauen das aktive und das passive Wahlrecht besaßen. Diese bahnbrechende Innovation war in der „Verordnung über die Wahlen zur verfassung­ gebenden deutschen Nationalversammlung“ vom 30. November 1918 festgelegt worden, die überdies, kaum weniger revolutionär, das bis- herige Mehrheitswahlrecht durch das Verhält- niswahlrecht ersetzte und das Wahlalter auf alle ausdehnte, die das 20. Lebensjahr voll­ endet hatten. Diese Verordnung hatte der Rat der Volksbeauf- tragten erlassen, der am 10. November 1918 als revolutionäre Übergangsregierung eingesetzt wor- den war. Der Amtsantritt der Volksbeauftragten war das vorläufige Ende der ersten Phase der Revolution, die am 29. Oktober in Wilhelms­ haven begonnen hatte, als Matrosen der Hoch- seeflotte den Plan der Seekriegsleitung, zu ei- ner letzten Schlacht gegen die britische Flotte

„Das Deutsche Reich ist eine Republik“: die National­versammlung und die Verfassung von Weimar

138 auszulaufen, mit Befehlsverweigerungen und Sabotageakten torpedierten. Am 3. November begann auf den Schiffen und in den Kasernen die Wahl von Soldatenräten, denen­ sich noch am selben Tag Arbeiterräte in den Kieler Groß- betrieben anschlossen. Seit 5. November war die politische Macht in Kiel in der Hand der Arbeiter- und Soldatenräte. In den folgenden An der Spitze der Delegation der SPD, die um Tagen weitete sich die Bewegung zunächst über 12.35 Uhr in der Reichskanzlei eintraf, stand die Küstenstädte an Nord- und Ostsee, dann der Parteivorsitzende Friedrich Ebert, der den aber auch auf Braunschweig, Köln, Frankfurt, Prinzen aufforderte, die Regierungsgewalt jetzt München und andere Städte in West-, Mittel- an Männer zu übergeben, die „das volle Ver- und Süddeutschland aus. trauen des Volkes“ besäßen. Der Reichskanzler, Am 9. November 1918 erreichte die Revolution der eine Stunde zuvor der Presse die Abdan- Berlin. Als sich seit dem frühen Morgen große kung Kaiser Wilhelms II. mitgeteilt hatte, die Demonstrationszüge in Richtung Innenstadt be- allerdings noch keineswegs erfolgt war, schlug wegten, sah die Führung der SPD die Zeit zum vor, dass „der Abgeordnete Ebert den Posten Handeln gekommen. Sie musste sich an die des Reichskanzlers annimmt“. Nach kurzem Spitze dieser revolutionären Bewegung stellen, Zögern sagte der SPD-Vorsitzende zu. wenn sie nicht von ihr überholt werden wollte. Die Reichskanzlerschaft Eberts währte nur Die Reichstagsfraktion nahm den Vorschlag ­einen Tag. Der Parteivorstand der SPD hatte des Parteivorstands einstimmig an, von der ­bereits am Morgen des 9. November Gespräche ­Regierung des Prinzen Max von Baden, der bis mit der Führung der USPD über eine gemein­ zu ­ihrem Rücktritt am Morgen des 9. November same Regierung aufgenommen. Diese Verhand- auch die beiden Sozialdemokraten Philipp lungen, die nach dem Besuch in der Reichs- Scheidemann und Gustav Bauer angehörten, kanzlei fortgesetzt wurden, kamen am frühen die Übergabe der Macht zu fordern. Nachmittag des nächsten Tages zum erfolg­

Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Wählerinnen und Wähler stehen an einem ­Berliner Wahllokal an.

139 reichen Abschluss. Die beiden verfeindeten Schwestern verabredeten die Einsetzung eines Rates der Volksbeauftragten, dem von der SPD Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und räte, die zu einer Vollversammlung aus dem Otto Landsberg angehörten, von den Unabhän- ganzen Reich alsbald zusammenzurufen sind.“ gigen Sozialdemokraten Hugo Haase, Wilhelm Dieser Vollversammlung sollte, analog zu den Dittmann und Emil Barth. Die sechs Volksbe- lokalen und regionalen Räten, die Aufgabe ­eines auftragten bildeten ein „politisches Kabinett“, Revolutionsparlaments übernehmen, die einst- das für die Richtlinien der Politik zuständig weilen von der lokalen Versammlung der Ber­ war; die Leitung der Reichsämter blieb, wie be- liner Arbeiter- und Soldatenräte wahrgenom- reits bei Übergabe des Amtes des Reichskanz- men werden musste, die mit der Bestätigung lers an Ebert vereinbart worden war, unter der des Rates der Volksbeauftragten am Abend des Leitung der bisherigen Staatssekretäre als Fach- 10. November das wahrnahm, was man heute leute. Zwar waren Friedrich Ebert und Hugo die Kreationsfunktion des Parlaments nennt. Haase gleichberechtigte Vorsitzende des Rates; Vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 fand die faktische Führung lag allerdings bei dem als „Vollversammlung aus dem ganzen Reich“ SPD-Parteivorsitzenden, dessen eintägige Kanz- in Berlin der Erste Allgemeine Kongress der lerschaft ihm in den Augen der Beamten, aber ­Arbeiter- und Soldatenräte statt, der im Plenar- auch der Öffentlichkeit das entscheidende saal des Preußischen Abgeordnetenhauses tag- Übergewicht verschaffte. te. Von den 518 Delegierten gehörten 288 der Die Einsetzung des Rates der Volksbeauftragten SPD und 98 der USPD an; alle anderen waren durch die Vorstände der beiden Parteien erhielt entweder linksliberal oder parteilos. Der Kon- mit der Bestätigung durch die Vollversamm- gress traf zwei folgenschwere Entscheidungen: lung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, Er lehnte einerseits mit 344 zu 98 Stimmen den die mit 3.000 Teilnehmern am späten Nachmit- Antrag ab, das Rätesystem zur Grundlage der tag des 10. November im Zirkus Busch statt- Verfassung einer sozialistischen deutschen Re- fand, ihre revolutionäre Legitimation. „Die publik zu machen; andererseits ergab sich eine ­politische Gewalt“, heißt es folgerichtig in der überwältigende Mehrheit von ungefähr 400 zu Vereinbarung, die SPD und USPD bei der Eta­ 50 Stimmen für die Anberaumung des Wahl­ blierung des Rates der Volksbeauftragten trafen, termins zur Verfassunggebenden Nationalver- „liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldaten- sammlung am 19. Januar 1919.

140 oben: Der Erste Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands tagt vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 im Plenarsaal des Preußischen Abgeordneten­hauses. links: Der Rat der Volksbeauftragten. Die USPD-Mitglieder Emil Barth (rechts unten), Hugo Haase (links oben) und Wilhelm Dittmann (links ­unten) sowie die SPD-Mitglieder Friedrich Ebert (rechts oben), Otto Landsberg (links in der Mitte) und Philipp Scheidemann (rechts in der Mitte).

141 sogenannte Spartakusgruppe, die sich unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Ende Dezember von der Partei löste An den Abstimmungsergebnissen des Rätekon- und die KPD gründete, die die Einführung des gresses wird deutlich sichtbar, dass die Arbeiter- Rätesystems nach sowjetischen Vorbild auf und Soldatenräte sich keineswegs als Repräsen- ihre Fahnen geschrieben hatte; diese Gruppe tanten einer Räteverfassung nach sowjetischem war auf dem Rätekongress nur mit zehn Dele- Vorbild verstanden. Die Räte waren Anfang gierten vertreten. ­November 1918 als spontane Selbsthilfegruppen­ Aus den Wahlen zur Nationalversammlung entstanden, die für eine Übergangszeit das in­ ging die SPD mit 37,9 Prozent der Stimmen stitutionelle Vakuum ausfüllten, das durch den und 165 Mandaten als klare Siegerin hervor. Kollaps des alten Regimes entstanden war. Un- So beeindruckend dieses Ergebnis war, es ter ihrer politischen Kontrolle und mit ihrer reichte nicht zu einer sozialistischen Mehrheit, Unterstützung konnten die Behörden, die von da die USPD nur auf 7,6 Prozent und 22 Sitze den Räten explizit dazu aufgerufen worden kam. Gewinner der Wahl waren zusammenge- waren, auf kommunaler, regionaler und Landes- nommen die bürgerlichen Parteien, von der ebene für die Aufrechterhaltung der Ordnung Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mit sorgen, die Demobilmachung organisieren und 18,5 Pro­zent und 75 Mandaten, dem Zentrum die Versorgung der Bevölkerung mit Lebens­ mit 19,7 Prozent und 91 Mandaten, der Deut- mitteln sicherstellen. Die weit überwiegende schen Volkspartei (DVP) mit 4,4 Prozent und Zahl der Mitglieder der Räte war bereits zuvor 19 Mandaten und schließlich der Deutschnatio- in Gewerkschaften und in sozialdemokratischen nalen Volkspartei (DNVP) mit 10,3 Prozent und Parteien aktiv. 44 Mandaten. Die DVP und die DNVP standen Die Entscheidung für eine Verfassunggebende als monarchistische Parteien der Republik und Nationalversammlung war also keineswegs ein der parlamentarischen Demokratie ablehnend Sieg der parlamentarischen Demokratie über gegenüber. Die drei Parteien SPD, DDP und den „Bolschewismus“, da es nur eine kleine Zentrum können als die Verfassungsparteien Minderheit am linken Rand der USPD war, die gelten, auf die sich die Republik stützen konnte.

Konstituierende Sitzung der Verfas- sunggebenden Nationalversamm- lung in Weimar am 6. Februar 1919. Der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, Friedrich Ebert, hält die Eröffnungsrede.

142 „… in Deutschland eine starke Demokratie zu verankern“: die Verfassunggebende ­Nationalversammlung in Weimar

Am 6. Februar 1919, pünktlich um 15.15 Uhr, eröffnete der Volksbeauftragte Friedrich Ebert im Nationaltheater von Weimar die Verfassung- gebende Nationalversammlung mit einer An- sprache. Am Ende dieser kurzen Rede formu- Mit dem Beschluss, die Wahlen zur National- lierte Ebert einen Appell an die Mitglieder versammlung bereits im Januar durchzuführen, der Versammlung; er wünschte, dass „der Geist wurde eine grundlegende Meinungsverschie- von Weimar, der Geist der großen Philosophen denheit im Rat der Volksbeauftragten beendet. und Dichter“, bei der Erfüllung der Aufgabe Die Volksbeauftragten beider Parteien waren sich Pate stehen solle, „in Deutschland eine starke einig, dass eine Verfassunggebende Versamm- Demokratie zu verankern“. lung über die politische Zukunft Deutschlands Die Entscheidung, die Verfassunggebende Nati- entscheiden müsse. Während die Vertreter der onalversammlung nicht in Berlin, sondern in SPD einen frühen Wahltermin anstrebten, um Weimar einzuberufen, hatte mehrere Gründe. die revolutionäre Übergangsphase so schnell wie Anfang Januar waren in Berlin die revolutionä- möglich zu beenden, kam es den Vertretern der ren Unruhen, die als „Spartakus­aufstand“ be- USPD darauf an, zunächst Prozesse der Demo- kannt wurden, blutig niedergeschlagen worden; kratisierung in Staat, Gesellschaft und Wirt- mit weiteren Unruhen, die möglicherweise schaft einzuleiten. Dass diese Prozesse nicht auch die Arbeit der Nationalversammlung in eingeleitet worden sind, dass der autoritäre Mitleidenschaft gezogen hätten, musste gerech- ­Obrigkeitsstaat nicht abgebaut wurde und die net werden. Überdies gab es in Süddeutschland alten Eliten in Verwaltung, ­Militär und Wirt- starke Vorbehalte gegen Berlin, das vor allem schaft ihre Machtposition behalten konnten, als Zentrale des preußischen Militarismus galt; hat allerdings nur in geringem Umfang mit die süddeutschen Regierungen ließen den Rat dem frühen Wahltermin zu tun. der Volksbeauftragten bereits im Dezember wis-

143 Kabinett Scheidemann als Reichsminister des Innern angehörte. Der Entwurf wurde nach sen, dass sie einen anderen Tagungsort bevor- ­einer Generaldebatte im Plenum einem Ver­ zugen würden. Dass die Wahl auf Weimar fiel, fassungsausschuss zur Beratung überwiesen. hatte auch mit dem Gedanken zu tun, dem Der Ausschuss legte den gründlich überarbei­ Ebert bei seiner Eröffnungsrede Ausdruck gab. teten Entwurf für die erste Verfassung einer Die erste Aufgabe der Nationalversammlung ­demokratischen Republik in der deutschen Ge- war die Konstituierung einer staatlichen Ge- schichte am 2. Juli dem Plenum der National- walt, die durch ihr Mandat den Mehrheitswil- versammlung vor. Artikel 1 der Verfassung len der deutschen Wähler erhielt. Das dafür macht diesen Tatbestand unzweideutig klar: notwendige Gesetz über die vorläufige Reichs- „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staats- gewalt wurde am 10. Februar mit großer Mehr- gewalt geht vom Volke aus.“ Das wichtigste heit angenommen. Diese „Übergangsverfassung“ ­Instrument der Volkssouveränität ist das Par­ sah vier oberste Staatsorgane vor: die National- lament, der Reichstag, der in der Verfassung versammlung als Parlament, das nicht nur die ­bewusst an erster Stelle, vor den anderen obers- Verfassung beraten und verabschieden, sondern ten Reichsorganen, dem Reichspräsidenten, der auch „dringende Reichgesetze“ beschließe Reichsregierung und dem Reichsrat, genannt konnte, einen Reichspräsidenten, ein Reichs­ wird. ministerium und einen Staatenausschuss als Der Reichstag wurde nach demselben Wahl- Vertretung der Länder. Am nächsten Tag wählte recht gewählt, nach dem bereits die National- die Nationalversammlung Friedrich Ebert zum versammlung gewählt worden war. Artikel 22 Reichspräsidenten, der Philipp Scheidemann der Verfassung lautete: „Die Abgeordneten wer- zum Reichsministerpräsidenten einer Koalitions- den in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und regierung aus SPD, DDP und Zentrum ernannte, geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten der später sogenannten Weimarer Koalition. Männern und Frauen nach den Grundsätzen Diese Regierung war dem Parlament gegenüber der Verhältniswahl gewählt.“ Dass an die Stelle verantwortlich. des absoluten Mehrheitswahlrechts das Ver- Am 24. Februar begann die Beratung des Ent- hältniswahlrecht trat, war bei allen Parteien wurfs der Reichsverfassung, der von Hugo Preuß unumstritten. Nach dem Wahlgesetz vom erstellt worden war, einem Berliner Professor 27. April 1920, das den Wahlrechtsartikel für Staatsrecht, der als Mitglied der linkslibe­ der Verfassung präzisierte, wurde für jeweils ralen DDP der Nationalversammlung und dem 60.000 Stimmen ein Mandat vergeben.

Mitglieder der Verfassunggebenden Nationalversammlung im Foyer des Nationaltheaters am 20. März 1919. Im Vordergrund , der Vorsitzende der DVP-Fraktion.

144 Konstituierende Sitzung der Verfas- sunggebenden Nationalversamm- lung in Weimar am 6. Februar 1919. Blick in den Plenarsaal. Die Bestuh- lung des Parterre des Theaters war ausgebaut und durch die Sitzreihen aus dem Reichstagsgebäude ersetzt worden.

145 Für die Beziehung zwischen Reichstag und Reichsregierung galt das Prinzip des Parla­ mentarismus. Die Regierung ging aus dem Die Reichsregierung bestand aus dem Reichs- ­Parlament hervor. Die im Reichstag vertretenen kanzler und den Reichsministern. Anders als Parteien hatten also das Recht und die Mög- im Kaiserreich gab es jetzt Ministerien, die von lichkeit, Regierungskoalitionen zu bilden, die Ministern selbstständig geleitet wurden; die Leitung der Ministerien anteilig zu besetzen Minister waren für ihre Amtsführung dem Par- und ein Regierungsprogramm zu vereinbaren, lament gegenüber verantwortlich. Sie mussten das im Parlament mit der Unterstützung der sich dafür jedoch in dem Rahmen bewegen, der Abgeordneten der Koalition rechnen konnte. vom Reichskanzler, der über die Richtlinien- Artikel 54 der Verfassung formuliert das Prin- kompetenz verfügte, vorgegeben wurde. zip der parlamentarischen Regierungsform: Eine besonders herausgehobene Stellung hatte „Der Reichskanzler und die Reichsminister in der Weimarer Reichsverfassung der Reichs- ­bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens präsident, der als Staatsoberhaupt mit einer des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurück­ Amtszeit von sieben Jahren direkt vom Volk treten, wenn ihm der Reichstag durch aus- gewählt werden sollte. Zu der Fülle der Kom- drücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“ petenzen, über die er verfügte, gehörten die In der Gesetzgebung hatte der Reichstag das völkerrechtliche Vertretung des Reiches, die Er- Recht der letzten Entscheidung. Zwar war der nennung der Beamten und Offiziere sowie der Reichsrat als Vertretung der Länder an der Oberbefehl über die Wehrmacht. Sein Anteil an Gesetzgebung beteiligt; ihm stand jedoch bei der Gesetzgebung beschränkte sich auf die Aus- Gesetzen, die vom Reichstag verabschiedet fertigung und Verkündung der Gesetze; von der worden waren, nur ein Einspruchsrecht zu. Möglichkeit, ein vom Reichstag verabschiede- Gesetze, gegen die der Reichsrat Einspruch er- tes Gesetz nicht zu verkünden, sondern einen hoben hatte, konnten im Anschluss an diesen Volksentscheid über dieses Gesetz herbeizu­ Einspruch vom Reichstag mit einer Zweidrit­ führen, hat der Reichspräsident nie Gebrauch telmehrheit endgültig verabschiedet werden. gemacht. Der Präsident verfügte allerdings Die Länder wurden im Reichsrat durch die über zwei Befugnisse in Bezug auf das Par­ Landesregierungen vertreten. lament, die einiges Konfliktpotenzial bargen:

Verfassunggebende Nationalver- sammlung in Weimar im Jahr 1919. Die Fraktion der Mehrheitssozialis- ten (SPD).

146 Bei den Debatten über die Verfassung im Ple- num der Nationalversammlung wurden erheb- liche Bedenken gegen einen Reichspräsidenten Er konnte den Reichstag auflösen, und er er- mit solchen umfassenden Rechten und Befug- nannte den Reichskanzler. Dass er dem Vor- nissen geltend gemacht. Der SPD-Abgeordnete schlag der Koalition, die die Regierung bilden Richard Fischer machte darauf aufmerksam, wollte, folgen würde, scheint als selbstver- dass es bei Ausstattung eines Amtes mit Rechten ständlich vorausgesetzt worden zu sein. und Kompetenzen auch darauf ankomme zu Zu den zentralen Befugnissen des Reichspräsi- bedenken, was Inhaber des Amtes daraus ma- denten zählte das im Artikel 48 der Verfassung chen könnten. „Wir müssen“, warnte Fischer fixierte Notverordnungsrecht. „Der Reichspräsi- unter Hinweis auf den Amtsinhaber Friedrich dent kann“, heißt es im zentralen Absatz 2 des Ebert, „mit der Tatsache rechnen, dass eines Ta- Artikels, „wenn im Deutschen Reiche die öffent- ges ein anderer Mann aus einer anderen Partei, liche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört vielleicht aus einer reaktionären, staatsstreich- oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung lüsternen Partei an dieser Stelle stehen wird.“ der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nöti- Trotz dieser Bedenken blieb es bei der unge- gen Maßnahmen treffen.“ Er konnte sich dafür wöhnlichen Machtfülle des Reichspräsidenten, auch der „bewaffneten Macht“ bedienen und wie sie im Verfassungsentwurf vorgesehen war. hatte die Möglichkeit, einige Grundrechte wie Alle sozialdemokratischen Änderungsanträge das Recht der Freiheit der Person, das Recht wurden im Verfassungsausschuss ebenso wie der Unverletzlichkeit der Wohnung, das Recht im Plenum von den bürgerlichen Parteien ge- auf Meinungsfreiheit und die Versammlungsfrei- schlossen abgelehnt, und zwar ungeachtet der heit außer Kraft zu setzen. Der Reichspräsident Tatsache, dass DDP und Zentrum der Regie- war ­allerdings gezwungen, alle Maßnahmen so- rungskoalition mit der SPD angehörten, wäh- fort außer Kraft zu setzen, wenn der Reichstag, rend DVP und DNVP nicht nur in der Oppositi- der unverzüglich informiert werden musste, on standen, sondern die Republik ohnehin als ­einen entsprechenden Beschluss fasste. unvermeidliches Übel sahen und grundsätzlich

147 ablehnten. Diese Einheitsfront verdankte sich verschiedenen, eng miteinander verbundenen Motiven. Der Kreis liberaler Berater um Hugo Preuß war sich einig in der Ablehnung einer Parteien Unterstützung finden würde, die hier übergroßen Machtfülle des Parlaments. Die Sor- einen ­Ansatzpunkt in der Verfassung sahen, ge, aus einer solchen Machtfülle könne etwas um die Verfassung selbst in ihrem Sinn zu entstehen, was man „Parlamentsabsolutismus“ trans­formieren, liegt auf der Hand. Am Ende nannte, bot Anlass für Überlegungen, das gab es zwar nie die befürchtete sozialistische ­parlamentarische System britischer Prägung Mehrheit, aber einen General im Amt des mit dem US-amerikanischen Präsidialsystem Reichs­präsidenten. zu kombinieren, damit zwei demokratisch Am 31. Juli 1919 verabschiedete die National- ­le­gitimierte Instanzen einander wechselseitig versammlung mit 262 Stimmen der Parteien der kon­trollieren. Das Rätsel, wieso ausgerechnet Regierungskoalition gegen 75 Nein-Stimmen links­liberale Theoretiker und Politiker für eine von USPD, DVP und DNVP die neue Verfas- ­Eindämmung parlamentarischer Herrschaft plä- sung, die der Reichspräsident am 11. August dierten, löst sich erst dann, wenn man bedenkt, unterzeichnete und die mit der Veröffentlichung dass hinter der Sorge vor dem Parlamentsab­ am 14. August 1919 in Kraft trat. solutismus die Befürchtung stand, das zukünf- Die Nationalversammlung trat am 21. August tige Parlament werde von sozialistischen Mehr- für die Vereidigung des Reichspräsidenten auf heiten beherrscht. die Verfassung zum letzten Mal in Weimar zu- Daneben wurden im selben Kreis Überlegungen sammen. Da natürlich nicht sofort nach der Ver- über das Vakuum angestellt, das durch das abschiedung der Verfassung ein neuer Reichs- Ende der monarchischen Herrschaft entstanden präsident gewählt werden konnte, war in den sei. Die Rolle der regierenden Fürsten, insbe- Schluss- und Übergangsbestimmungen geregelt sondere des Kaisers, glaubte man nicht unbe- worden: „Bis zum Amtsantritt des ersten Reichs- setzt lassen zu können. Dass die Rolle des präsidenten wird sein Amt von dem auf Grund Reichspräsidenten als „Ersatzkaiser“, als „ge- des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt wählter Monarch“ bei den monarchistischen gewählten Reichspräsidenten geführt.“

Verfassunggebende Nationalver- sammlung in Weimar im Jahr 1919. Die weiblichen Mitglieder der ­Fraktion der Mehrheitssozialisten (SPD).

148 „Auf dem Boden der bestehenden ­republikanischen Staatsform“: der schwierige Parlamentarismus eine Abwanderung der bürgerlichen Wähler der ­Weimarer Republik aus der ­liberalen Mitte zu den rechten, der Re- publik ablehnend gegenüberstehenden Parteien Die Nationalversammlung übernahm nach der stattgefunden. Die USPD hatte die Zahl ihrer Verabschiedung der Verfassung bis zur ersten Mandate von 22 auf 84 erhöhen können und regulären Reichstagswahl am 6. Juni 1920 die war damit die zweitstärkste Fraktion nach der Aufgaben, die der Reichstag in der neuen Ver- SPD, die um gerade noch 3,8 Prozent der Wäh- fassung hatte. In diesem Parlament verfügten lerstimmen vor ihrer linken Konkurrenz lag. die Parteien der Weimarer Koalition über eine Zahlreiche sozialdemokratische Wähler, deren komfortable Mehrheit. Sie konnten jedoch das Erwartungen an eine Fundamentaldemokrati- überwältigende Ergebnis, das sie bei der Wahl sierung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zur Nationalversammlung erzielt hatten, bei enttäuscht worden waren und die feststellen der Reichstagswahl im Juni 1920 und auch bei mussten, dass die alten Eliten in Bürokratie allen folgenden Wahlen nicht wiederholen. Die und Militär ihre Machtpositionen hatten be- drei Parteien hatten erhebliche Verluste zu ver- haupten können, gaben ihre Stimme der USPD, zeichnen und kamen zusammen nur noch auf die eine Fortsetzung der Revolution und die 47 Prozent der Stimmen. Die Zahl der Abgeord- Einführung einer „sozialistischen Demokratie“ neten des Zentrums sank von 91 auf 64, die der auf ihre Fahnen geschrieben hatte. DDP von 75 auf 39 und die Fraktion der SPD Die Fortsetzung der Weimarer Koalition, der hatte im neuen Reichstag nur noch 102 statt die Mehrheit im Parlament fehlte, war rechne- wie bisher 165 Mitglieder. Die großen Gewin- risch nur möglich durch eine Erweiterung nach ner waren die Parteien, die gegen die Verfas- links zur USPD oder eine Erweiterung nach sung gestimmt hatten. Auf der Rechten waren rechts zur DVP. Der bisherige Reichskanzler das die DNVP und die DVP, die zusammen ihre und SPD-Parteivorsitzende Hermann Müller, Stimmenanteile verdoppeln konnten; die DVP der als Vertreter der stärksten Fraktion zu- konnte ihre Anteile sogar verdreifachen, das nächst mit der Regierungsbildung beauftragt Zentrum knapp überholen und mit 65 Abgeord- wurde, nahm Kontakt zur USPD auf, die aber neten nach SPD, USPD und DNVP die viert- den Gedanken, einer Koalition mit bürgerli- stärkste Fraktion bilden. Offensichtlich hatte chen Parteien beizutreten, strikt zurückwies.

Verfassunggebende Nationalver- sammlung in Weimar im Jahr 1919. Mitglieder der DDP-Fraktion beim Mittagessen.

149 Von Mai 1921 bis November 1922 fand sich die Weimarer Koalition noch einmal als Minder- heitsregierung zusammen. Alle anderen Min- derheitskoalitionen waren Neuauflagen der Kombination DDP, Zentrum und DVP, deren Regierungen sich im Parlament wechselnde Mehrheiten suchen mussten, aber immer damit rechnen konnten, von der SPD vor allem bei den großen außenpolitischen Entscheidungen Eine Koalition mit der DVP dagegen war für unterstützt zu werden. Mit Recht wurde des- die SPD unannehmbar; sie war nicht bereit, halb wiederholt festgestellt, die SPD sei eine mit einer Partei zusammenzuarbeiten, die auf Regierungspartei in der Opposition. „offen monarchistischer und antidemokratischer Den insgesamt acht Minderheitskabinetten, die Grundlage“ stehe, wie es am 10. Mai 1920 im bis zum Ende der parlamentarischen Regierungs- Zentralorgan der SPD „Vorwärts“ hieß. Dass die bildung von 1920 bis 1930 geschlossen wurden, Sozialdemokraten auf eine Regierungsbeteili- standen fünf Mehrheitskabinette gegenüber. gung verzichteten, um die weitere Abwande- Grundsätzlich gab es zwei Möglichkeiten­ zur rung von Wählern, aber auch von Mitgliedern Bildung einer parlamentarischen Mehrheits­ zu stoppen, liegt auf der Hand. koalition: eine Erweiterung des ­bürgerlichen Drei Wochen nach der Wahl kam schließlich Minderheitskabinetts unter ­Einbeziehung der eine bürgerliche Minderheitskoalition aus DDP, DNVP, der sogenannte Bürgerblock, oder eine Zentrum und DVP zustande. Auf Wunsch der Große Koalition durch ­Erweiterung der Weima- DDP hatte die DVP schriftlich erklärt, dass sie rer Koalition unter Einbeziehung der DVP. Die „auf dem Boden der bestehenden republikani- Bereitschaft der DNVP, sich trotz ihrer Ableh- schen Staatsform“ stehe, ohne allerdings ihrer nung der Republik an den beiden Bürgerblock- monarchistischen Grundüberzeugung abzu- Regierungen 1925 und 1927/28 im Rahmen schwören. Die SPD hatte sich bereit erklärt, das des parlamentarischen Regierungssystems zu Kabinett, dem der Zentrumspolitiker Konstantin beteiligen, verdankte sich der taktischen Überle- Fehrenbach als Reichskanzler vorstand, zu tole­ ­ gung, dass die vor allem wirtschaftlichen Ziele rieren. Mit dem Kabinett Fehrenbach begann der hinter der Partei stehenden Interessengrup- eine Serie von Minderheitskabinetten, die wäh- pen, insbesondere der Großlandwirtschaft, bes- rend der folgenden Jahre zur Regel wurden. ser in der Regierung als in der Opposition zu

Verfassunggebende Nationalver- sammlung in Weimar im Jahr 1919. Die Fraktion der DNVP.

150 der Weimarer Koalition unter Reichskanzler ­ im Oktober 1922 zu einer Großen Koalition zu erweitern, öffentlich gefordert, für erreichen seien. Wie groß die Vorbehalte gegen zehn bis 15 Jahre die tägliche Arbeitszeit ohne die DNVP auch im bürgerlichen Lager waren, Lohnausgleich um zwei Stunden zu verlängern. lässt sich an der Tatsache ablesen, dass die DDP Dass die SPD und vor allem die eng mit ihr ver- den die Bürgerblock-Regierungen tragenden bundenen Gewerkschaften die Zusammenarbeit Koalitionen nicht beitrat; dass die Demokraten mit der „Stinnes-Partei“, wie der „Vorwärts“ mit Otto Geßler dennoch einen Minister in bei- die DVP polemisch bezeichnete, nicht erstre- den Regierungen hatte, wirft ein bezeichnendes benswert fanden, bedarf keiner Erläuterung. Licht auf die schwierigen Beziehungen, die Dass im August 1923 schließlich doch eine Parteien und Fraktionen, Parlament und Regie- Große Koalition zustande kam, verdankte sich rungen in der Weimarer Republik pflegten. vor allem der Tatsache, dass die Republik vor Die Bildung einer Großen Koalition war seit Problemen stand, deren Lösung nur auf einer der Reichstagswahl im Juni 1920 wiederholt im sehr breiten parlamentarischen Basis erfolgen Gespräch. Ihrer Verwirklichung stand jedoch konnte. Französische und belgische Truppen ein schwer lösbares wirtschafts- und sozialpoli- hatten im Januar das Ruhrgebiet besetzt, da tisches Problem im Weg. Es ging um die Frage, Deutschland mit der Lieferung der Güter, vor wer die Lasten zu tragen habe, die sich aus allem von Kohle, die im Rahmen der Reparati- den Reparationszahlungen, der Hyperinflation onsleistungen fällig waren, wie sie im Vertrag 1923 und der sich seit 1928 abzeichnenden Wirt- von Versailles festgehalten und in weiteren Ver- schaftskrise ergaben. Die DVP vertrat als Partei, einbarungen präzisiert worden waren, im Rück- hinter der die Verbände der Großindustrie, vor stand war. Die Besetzung stieß auf einhellige allem der Schwerindustrie standen, die Forde- Empörung über die Parteigrenzen hinweg. Die rung der Unternehmer, als Vorleistung zur Be- Regierung rief zum „passiven Widerstand“ auf, teiligung an diesen Lasten die sozialpolitischen was im Ergebnis bedeutete, dass die Mitarbeiter Errungenschaften abzubauen, die in der Anfangs- der Einrichtungen und Betriebe im besetzten phase der Republik zum Gründungskonsens Gebiet ihre Leistungen auf ein Minimum redu- ­gehörten und in deren Zentrum der Achtstun- zierten, wodurch die Reparationslieferungen dentag stand. Der reichste und einflussreichste fast ganz ausblieben. Als die Besatzungsmächte Unternehmer, Hugo Stinnes, der als Abgeord- dazu übergingen, die Betriebe stillzulegen, sah neter der DVP im Reichstag saß, hatte im Um- sich die Regierung gezwungen, die ausgesperrte feld von Initiativen, das Minderheitskabinett Belegschaft aus der Staatskasse zu bezahlen.

151 bedingung seiner politischen Arbeit anzuerken- Das Geld dafür konnte nur durch eine weitere nen. In einem Telegramm, das er im Februar Steigerung der Produktion von Papiergeld be- 1919 an einen Parteifreund schickte, heißt es, schafft werden, wodurch die seit 1914 anhal- dass „die Partei wohl an dem monarchischen tende inflationäre Entwertung der deutschen Gedanken festhält, … sich praktisch aber auf Währung auf Rekordhöhe stieg. Anfang August den Boden der gegebenen Tatsachen stellt“. 1923, wenige Tage bevor die Regierung der Stresemann teilte mit seinen Parteifreunden, ­Großen Koalition ihre Arbeit aufnahm, lag der aber auch mit den Deutschnationalen das Ziel Wechselkurs der Reichsmark zum Dollar bei der Wiedererrichtung des deutschen Macht- fast fünf Millionen zu eins. Dass der passive staats; anders als die DNVP und andere rechte Widerstand über kurz oder lang abgebrochen Gruppen war er jedoch überzeugt, dass nicht werden müsse, um weitere katastrophale Ent- Konfrontation, sondern nur Kooperation zu wicklungen zu vermeiden, war ebenso klar wie diesem Ziel führen könnte, dass eine Politik die Tatsache, dass im Anschluss an diesen Ab- der Verständigung zwischen den ehemaligen bruch eine Währungsreform als finanzpoliti- Kriegsgegnern betrieben werden müsse. Es lag sche Sanierungsmaßnahme notwendig werden deshalb auf der Hand, dass Stresemann auch würde. die Leitung des Außenministeriums übernahm, Die Große Koalition wurde möglich, da die bei- ein Amt, das er in allen folgenden Kabinetten den Flügelparteien SPD und DVP aus verschie- bis zu seinem Tod im Oktober 1929 behalten denen Motiven an der Beendigung des passiven sollte. Widerstands interessiert und deshalb bereit wa- Nach der offiziellen Beendigung des passiven ren, ihre grundlegenden Meinungsverschieden- Widerstands am 26. September 1923 wurde heiten für kurze Zeit in den Hintergrund treten deutlich, dass Stresemann mit seiner außenpo- zu lassen. Der Architekt dieser Koalition, der litischen, aber auch innenpolitischen Verständi- Par­tei- und Fraktionsvorsitzende der DVP, gungsbereitschaft in seiner eigenen Partei nicht ­Gustav Stresemann, übernahm das Amt des nur Anhänger hatte. In einer Parteiführerbe- Reichskanzlers. Der neue Reichskanzler hatte sprechung am 2. Oktober forderte Ernst Scholz, nie einen Zweifel daran gelassen, dass er die der Nachfolger Stresemanns als Fraktionsvor- Monarchie für die beste Staatsform hielt; gleich­ sitzender der DVP, die bedingungslose Abschaf- wohl war er bereit, die Republik nicht nur als fung des Achtstundentags und die Erweiterung notwendiges Übel, sondern als die faktisch exis- der Koalition um die DNVP. Beide Forderungen tierende und deshalb zu akzeptierende Rahmen- waren ernst gemeint, waren aber auch als Hebel

Sitzung des Deutschen Reichstags am 3. Juli 1928. Reichskanzler ­Hermann Müller (SPD) bei der Ab- gabe ­einer Regierungserklärung.

152 Fraktion stellte, war klar, dass ein sozialdemo- gedacht, um die SPD, die sich natürlich auf kratischer Politiker den Auftrag zur Regierungs- ­keine der beiden Forderungen einlassen konnte, bildung erhalten würde und dass rechnerisch aus der Koalition zu verdrängen, um, wie es nur eine Große Koalition eine Mehrheit haben in ­einer Fraktionssitzung der DVP wenige Tage würde. Der SPD-Vorsitzende Hermann Müller, zuvor formuliert worden war, ein „sozialisten- der den Auftrag zur Regierungsbildung hatte, freies Kabinett“ zu bekommen. In einem sol- konnte nach längeren Verhandlungen nur fest- chen Bürgerblock-Kabinett wären die Abschaf- stellen, dass eine Große Koalition nicht zustande fung des Achtstundentags und die Verwirkli- kommen könne, da sich ihr die DVP verweigerte. chung weiterer Forderungen der Unternehmer Stresemann machte ohne Absprache mit Partei möglich. Die dem Zentrum nahestehende Köl- und Fraktion den Vorschlag, ein Kabinett aus nische Volkszeitung brachte den ­Vorgang drei „Persönlichkeiten aus den Fraktionen“ zu bilden, Tage später auf die Schlagzeile: „Interessen­ ohne die Fraktionen in die Disziplin ­einer politiker der Schwerindustrie und des Land- ­Koalition einzubinden. Die Fraktion der DVP bundes wollten eine ‚Diktatur der Rechten‘.“ ließ schriftlich festhalten, dass sie sich nicht Die Provokation der DVP-Fraktion, die sich verpflichtet fühle, bei Misstrauensanträgen auch gegen den eigenen Parteivorsitzenden als die Regierung, der mit Gustav Stresemann und Reichskanzler richtete, war zumindest teilwei- zwei ihrer Mitglieder angehör- se erfolgreich. Das Kabinett Stresemann trat ten, zu unterstützen. Zwar wurde dieses „Kabi- am Tag nach diesem Eklat zurück, da alle Vor- nett der Persönlichkeiten“, das nach knapp schläge zu einem Kompromiss in der Arbeits- 21 Monaten auf die längste Amtszeit zurück­ zeitfrage, die in den beiden noch folgenden blicken konnte, die eine Regierung in der Wei- Kabinettssitzungen gemacht wurden, von den marer Republik hatte, im April 1929 mit einem Fraktionen der beiden Flügelparteien abgelehnt Koalitionsvertrag unterfüttert; gleichwohl wurden. konnte Gustav Stolper, Nationalökonom und Die nächste Große Koalition kam fünf Jahre ab 1930 Reichstagsabgeordneter der linkslibe­ später, und es war noch einmal Gustav Strese- ralen DDP, noch im Dezember 1929 schreiben: mann, der sie auf den Weg brachte. Als die „Was wir heute haben, ist eine Koalition von SPD bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 Ministern, nicht eine Koalition von Parteien. auf etwa 30 Prozent der Mandate kam und mit Es gibt überhaupt keine Regierungsparteien, 151 Abgeordneten die mit Abstand stärkste es gibt nur Oppositionsparteien.“

Sitzung des Deutschen Reichstags am 19. November 1928. Am Red- nerpult Außenminister Gustav ­Stresemann (DVP).

153 Diese Beobachtung trifft nicht nur auf das Ka­ binett Müller zu, sondern hätte so oder ähnlich bereits seit Jahren für die Vorgängerregierungen die Kompromissfindung bei der Bildung von formuliert werden können. Tatsächlich wech­ Regierungskoalitionen unvermeidlich ist, wurde selten insgesamt 20 Kabinette mit einer durch- schnell als Verrat an der Sache wahrgenommen schnittlichen Amtsdauer von etwa acht Mona- und mit Entzug der Unterstützung bestraft. ten einander ab, und fast alle scheiterten daran, Dieser Fundamentalismus konnte bis in die dass ein oder mehrere Partner der Koalition Führungsspitzen hinein umso leichter gepflegt die Zusammenarbeit aufkündigten. Die geringe werden, als die Parteien zwar jahrzehntelang Stabilität der Koalitionsregierungen wurde im Parlament vertreten, aber dank der ausge- meist schon während der schwierigen und bliebenen Parlamentarisierung nicht gezwun- langwierigen Verhandlungen zur Koalitions­ gen waren, die Vereinbarungen von Kompro- bildung sichtbar. Da die notwendigen Kompro- missen einzuüben. Dass durch die Einführung misse nicht bei allen Flügeln aller beteiligten des parlamentarischen Regierungssystems die Parteien auf Zustimmung stießen, mussten die Trennungslinie zwischen der die Regierung tra- Kabinette damit rechnen, dass ihnen in Plenar- genden Koalition einerseits und der Opposition debatten und Abstimmungen die Unterstützung andererseits quer durch das Parlament verlief aus den eigenen Reihen fehlte. und nicht länger, wie im Konstitutionalismus, Die Schwierigkeiten zur Bildung stabiler, von zwischen der Regierung und dem Parlament, den jeweiligen Fraktionen des Parlaments ge- das im Ganzen mehr oder weniger in der Oppo- tragener Regierungen hängt eng mit den Prä- sition stand, war eine Erkenntnis, der sich die gungen der fünf Parteien zusammen, die in Parteien lange verschlossen. Man blieb zumin- wechselnden Konstellationen die Regierung dest latent auch dann in der Opposition, wenn bildeten und die alle, wenn auch teilweise un- die Mitglieder der Regierung der eigenen Partei ter Wechsel des Namens, auf eine jahrzehnte- angehörten. lange Geschichte zurückblicken konnten, in de- Die Zurückhaltung der Parteien bei der Bildung ren Verlauf sich feste Programme entwickelten. von Koalitionen wurde noch durch den zuneh- Diese Programme machten die Parteien für Mit- menden Mangel an Koalitionsmöglichkeiten glieder, Anhänger und Wähler attraktiv; jede, verschärft. Die liberalen Parteien verloren kon- wenn auch nur temporäre oder taktische Ab- tinuierlich ihre Wähler. Die Zahl der Mandate weichung vom jeweiligen Programm, die für der DDP war von 75 in der Nationalversamm-

Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) leitet die Sitzung des Reichs- tags am 6. Dezember 1930. Während Vizepräsident Thomas ­Esser als Vertreter der Zentrumspartei spricht, steht Löbe mit der Hand an der Glocke, um die im Saal auf- kommende Unruhe zu beenden.

154 Sitzung des Deutschen Reichstags am 11. Februar 1930. Am Redner- pult der Fraktionsvorsitzende der DNVP, .

155 Eine große Koalition wäre aber auch politisch nicht mehr infrage gekommen. Nach dem Rück- tritt der Regierung Müller am 27. März 1930 wurde der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning lung auf 25 nach der Wahl des Jahres 1928 ohne Verhandlungen mit den Fraktionen und ­gesunken; nach der Wahl im September 1930 Parteien und ohne Rücksicht auf parlamentari- saßen nur noch 20 Abgeordnete der DDP, die sche Mehrheitsverhältnisse vom Reichspräsi- sich jetzt Deutsche Staatspartei nannte, im Par- denten mit der Regierungsbildung beauftragt; lament. Die DVP, die bei der ersten Reichstags- am 30. März stellte er ein Minderheitskabinett wahl 1920 mit 65 Abgeordneten ihr bestes aus Politikern bürgerlicher Parteien vor, an ­Ergebnis erreichen konnte, hatte 1928 noch dem die SPD, obwohl weitaus stärkste Reichs- 45 und 1930 nur noch 30 Mandate. Von diesen tagsfraktion, nicht beteiligt war. Diese schnelle Verlusten profitierte zunächst vor allem die Kabinettsbildung war nur möglich, weil die DNVP, die in der Nationalversammlung mit Bildung der Regierung Brüning in Gesprächen 44 Abgeordneten vertreten war und die Zahl zwischen Brüning und Personen aus der Umge- ­ih­rer Mandate bis zur Wahl im Dezember auf bung des Reichspräsidenten bereits seit Mona- 103 steigern konnte; danach ging diese Zahl ten vorbereitet worden war. Der Staatssekretär von 73 im Jahr 1928 auf 41 nach der Wahl von des Reichspräsidenten, Otto Meißner, hatte 1930 zurück. Parallel begann der Aufstieg einer Brüning in Gesprächen im Dezember 1929 und Konkurrenz weiter rechts, der NSDAP, die 1928 im Januar 1930 erklärt, der Präsident beabsich- auf gerade zwölf Mandate gekommen war, bei tige, das Kabinett der Großen Koalition so bald der Wahl von 1930 aber mit 107 Abgeordneten wie möglich durch eine Regierung zu ersetzen, im Parlament saß. Eine Große Koalition, die die „antiparlamentarisch“ und „antimarxis- nach der Wahl von 1928 politisch schwierig, tisch“ sein werde. aber immerhin möglich war und auch geschlos- Diese Politik gegen das Parlament wurde mög- sen wurde, kam nach der Wahl von 1930 schon lich, weil seit 1925 der ehemalige kaiserliche rechnerisch nicht mehr infrage, da auch die Feldmarschall Paul von Hindenburg das Amt SPD, auf der anderen Seite des politischen des Reichspräsidenten innehatte. Zwar hatte Spektrums, Stimmen verlor und der Aufstieg Hindenburg die Erwartungen der Personen, der KPD begann, die die Zahl ihrer Mandate Parteien und Verbände, die seine Wahl trugen auf 77 erhöhen konnte und damit zur dritt- und die sich eine schnelle Verfassungsrevision stärksten Fraktion wurde. erhofft hatten, zunächst enttäuscht, da er sich

156 Konstituierende Sitzung des Reichs- tags am 30. August 1932. Rechts oben Clara Zetkin (KPD), die die Sitzung als Alters­präsidentin leitet.

157 exekutive Maßnahmen zur Bewältigung des Ausnahmezustands in Fällen einer „erhebli- chen Störung oder Gefährdung der öffentlichen in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft Sicherheit und Ordnung“; er wurde aber schon mehr oder weniger streng an die Grenzen hielt, früh noch unter Reichspräsident Friedrich die die Verfassung der Ausübung seines Amtes Ebert für legislative Maßnahmen neben und an- zog. Spätestens ab 1929 jedoch war Hindenburg stelle der Gesetzgebung durch das Parlament die zentrale Figur einer systematisch und ziel- genutzt. Von 1922 bis 1925 wurden Dutzende strebig verfolgten politischen Strategie, „durch von Notverordnungen erlassen, mit denen vor Entmachtung des Parlaments und Ausschal- allem finanz- und wirtschaftspolitische Maßnah- tung der Sozialdemokratie aus der politischen men ergriffen, aber auch grundlegende Justiz­ Mitverantwortung und Mitgestaltung die par­ reformen auf den Weg gebracht wurden. Dass lamentarische Demokratie der Weimarer Repu­ das Parlament mit diesen Eingriffen in seine blik in einen von den politischen Rechtskräften Gesetzgebungskompetenz, die in der Regel von beherrschten autoritären Staat zu transformie- der Regierung erbeten und vom Präsidenten ren“, wie es der Historiker Eberhard Kolb for- ­gewährt wurden, einverstanden war, wird mulierte. Diese Strategie war am Ende erfolgrei- sichtbar an der Tatsache, dass nur in einem cher als der Kampf, den die Extremisten von ­einzigen Fall die Aufhebung einer Notverord- links und rechts auch auf der Straße gegen die nung verlangt wurde; dass diese Entlastung des parlamentarische Demokratie führten. Parlaments auch eine Entmachtung war und Heinrich Brüning hatte sich im Vorfeld seiner langfristig nicht ohne Folgen für den Parlamen- Ernennung von Hindenburg bestätigen lassen, tarismus bleiben konnte, wurde umso leichter dass ihm für die Durchsetzung seiner Politik übersehen, als Friedrich Ebert nie die Absicht das Notverordnungsrecht des Reichspräsiden- hatte, seine Kompetenzen als Reichspräsident ten nach Artikel 48 der Verfassung zur Verfü- zu nutzen, um die parlamentarische Demo­ gung stehe. Zwar bezog sich dieser Artikel auf kratie zu beseitigen.

158 Heinrich Brüning trat im Reichstag von Anfang an mit der versteckten, aber für alle Beteiligten klar verständlichen Drohung auf, sich bei par­ lamentarischen Niederlagen nicht nur auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten, sondern auch auf dessen Recht zur Auflösung Mit dieser Auflösung des Parlaments war die des Reichstags zu stützen. Der neue Reichs- erste Etappe eines Weges zu Ende, auf dem die kanzler konnte auf den Einsatz beider präsi­ Verfassung, die parlamentarische Demokratie dialer Machtmittel zunächst verzichten, da ein und die Republik schrittweise untergraben und Misstrauensantrag, den die SPD eingebracht schließlich beseitigt wurden. Die Kombination hatte, keine Mehrheit bekam und da in den des Rechtes des Reichspräsidenten zur Ernen- ­bei­den folgenden Sitzungen die Steuergesetze nung des Kanzlers, zum Einsatz des Artikels 48 und das Agrarprogramm der Regierung eine und zur Auflösung des Reichstags war das knappe Mehrheit fanden, weil der größte Teil ­verfassungsrechtliche Instrument, um die der DNVP-Fraktion für die Regierungsvorlage ­Verfassung außer Kraft zu setzen. Die Wahl, stimmte. Bei der Einbringung der Deckungsvor- die nach der Auflösung des Reichstags im lage zur Sanierung der Staatsfinanzen im Juli ­September 1930 stattfand, brachte der NSDAP war es dann soweit. Die Regierung glaubte, sich 102 Mandate; sie stieg damit vom Status einer sicher zu sein, erneut die Unterstützung der Splitterpartei zur zweitstärksten Fraktion nach DNVP ­gewinnen zu können; mit der SPD, die der SPD auf. Hindenburg beauftragte nach der Kompromissbereitschaft signalisiert hatte, wur- Wahl Heinrich Brüning erneut mit der Bildung de, ganz im Sinne des „antimarxistischen“ Auf- der Regierung, und zwar erneut ohne Rücksicht trags, nicht verhandelt. Die Vorlage wurde, da auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag. die DNVP in überwiegender Mehrheit dagegen Nach vier Präsidialkabinetten, die nicht mehr stimmte, mit 256 zu 193 Stimmen abgelehnt. nach den Regeln der parlamentarischen Demo- Der Reichspräsident setzte das abgelehnte Ge- kratie gebildet wurden, erhielt Adolf Hitler, der setz sofort als Notverordnung in Kraft. Als der Parteichef der NSDAP, die nach den Wahlen im Reichstag am 18. Juli 1930 von seinem verfas- Dezember 1932 mit 196 Mandaten die stärkste sungsmäßigen Recht Gebrauch machte und Fraktion stellte, am 30. Januar 1933 von Reichs- die Aufhebung dieser Notverordnung forderte, präsident Hindenburg den Auftrag, ein Präsi­ wurde der Reichstag aufgelöst. dialkabinett zu bilden.

„Zum 30. August 1932“. Diese ­Fotomontage von John Heartfield ­visualisiert die Tatsache, dass der Reichstag, der sich an diesem Tag konstituierte, durch das Präsidial­ regime auf der Grundlage des ­Artikels 48 der Weimarer Verfas- sung von ­Anfang an entmachtet war. Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, ­ 4. September 1932

159 Dem Kabinett Hitler gehörten neben Adolf Hitler selbst zwei weitere Nationalsozialisten und acht Minister an, die Mitglieder der Deutschnatio­ nalen Volkspartei waren oder ihr nahestanden. Dem neuen Reichskanzler gelang es, noch am Tag seiner Ernennung gegen das anfängliche Widerstreben seiner Koalitionspartner Neuwah- len durchzusetzen. Der erst im November 1932 gewählte Reichstag wurde deshalb am 2. Februar 1933 durch den Reichspräsidenten aufgelöst; Neuwahlen wurden für den 5. März ausge- schrieben. Dem Führer der NSDAP kam es natürlich nicht darauf an, auf der Grundlage einer parlamenta- rischen Mehrheit regieren zu können, da er, ebenso wie seine Koalitionspartner, das parla- mentarische Regierungssystem grundsätzlich ablehnte. Die Neuwahlen sollten einerseits der neuen Regierung eine breite populäre Zustim- mung sichern, ein Plebiszit für die Nationalso- zialisten und ihren Führer Adolf Hitler sein; andererseits sollten die linken Parteien, SPD und KPD, beiseitegedrängt und ausgeschaltet werden.

Das vorläufige Ende der parlamentarischen Demokratie: der Reichstag und die Landesparlamente in der NS-Diktatur

160 Die Bedingungen für den erhofften Wahltri- umph waren optimal: Ausgestattet mit dem Kanzlerbonus und ausreichend finanziellen Mitteln, die vor allem aus Spenden der Groß­ industrie stammten, konnten die Nationalsozia- nächsten Tag, die unter dem Titel „Zum Schutz listen einen aufwendigen und spektakulären von Volk und Staat“ die Grundrechte außer Wahlkampf führen, in dessen Mittelpunkt Kraft setzte. Auf der Grundlage dieser „Reichs- Adolf Hitler stand, der zum Retter und Erlöser tagsbrandverordnung“ wurden bereits in den stilisiert wurde. Auf der anderen Seite wurden wenigen Tagen vor der Wahl mehrere Tausend durch den massiven Einsatz staatlicher Macht- Mitglieder und Funktionäre der KPD, aber auch mittel die politischen Gegner behindert und der SPD verhaftet. ­bedroht. Am 4. Februar erließ der Reichspräsi- Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dent eine Notverordnung „Zum Schutz des dass die SPD am 5. März auf 18,3 Prozent und Deutschen Volkes“, die einen kommunisti- die KPD auf 12,3 Prozent der Wählerstimmen schen Aufruf zum Generalstreik zum faden- kamen. Zwar erzielte die NSDAP mit 43,9 Pro- scheinigen Vorwand nahm, massive Einschrän- zent einen Zugewinn von etwas mehr als zehn kungen der Presse- und Versammlungsfreiheit Prozent gegenüber ihrem Wahlergebnis im No- zu ermöglichen. Die zahlreichen Zeitungsbe- vember des Vorjahrs; die erwartete absolute schlagnahmungen und Versammlungsverbote Mehrheit wurde aber klar verfehlt. wurden ergänzt durch die Welle der Gewalt, Der neue Reichstag wurde am 21. März feier- mit der nationalsozialistische Schlägertrupps lich in Potsdam eröffnet. Diese Eröffnung, die bei Wahlkampfveranstaltungen von SPD und von den Nationalsozialisten und ihren konser- KPD auftraten. vativen Freunden als „Tag von Potsdam“ propa- Eine weitere Eskalationsstufe war nach dem gandistisch vermarktet wurde, vermittelte die Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar Botschaft, dass die junge nationalsozialistische 1933 erreicht, der von den Machthabern sofort Bewegung ganz in der Tradition preußischer als Startschuss für einen kommunistischen Größe stehe, wie an dem Händedruck Hitlers Aufstand dargestellt wurde, wofür nie ein Be- und Hindenburgs ebenso sichtbar werde wie weis erbracht werden konnte. Dieser angebli- der Besuch am Sarg Friedrichs des Großen in che kommunistische Aufstandsversuch bot den der Gruft der Garnisonkirche, die den zentralen ­Anlass zu einer weiteren Notverordnung am Schauplatz der Inszenierung bildete.

„Der Reichstag übergibt Adolf Hitler die Herrschaft“. Leitartikel im „Völkischen Beobachter“ zur An­ nahme des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag am 23. März 1933.

161 Zwei Tage später trat der Reichstag zu einer Sit- zung in der Kroll-Oper zusammen, auf der ein Ermächtigungsgesetz vorgelegt wurde. Dieses Ermächtigungsgesetz war grundlegend anders die 19 Abgeordneten der Bayerischen Volks­ als alle bisherigen Ermächtigungsgesetze. Es partei und die zwölf Abgeordneten verschiede- übertrug der Regierung die gesamte Gesetzge- ner Splitterparteien, zu denen inzwischen auch bungskompetenz unabhängig vom Parlament. die sieben Liberalen gehörten, ihre Zustimmung Da die Regierung ihre Gesetze, die sogar von gaben, verdankte sich der Überzeugung der je- der Verfassung abweichen konnten, auch aus- weiligen Fraktionsmehrheit, mit diesem Ermäch­ fertigen und verkünden durfte, war der Reichs- tigungsgesetz auf dem richtigen Weg zu sein präsident ausgeschaltet, auf dessen Notverord- und nur durch Beteiligung das Schlimmste ver- nungen in Zukunft überdies verzichtet werden hindern zu können. Die Angehörigen der Frak- konnte. tionsminderheiten, die das Gesetz ablehnen Da es nach der Weimarer Verfassung, die im- wollten, beugten sich nach den massiven Be- mer noch gültig war und offiziell nie abge- drohungen durch NS-Aktivisten­ der Fraktions- schafft wurde, für dieses verfassungsändernde disziplin. Die Ablehnung des ­Gesetzes durch Gesetz einer Zweidrittelmehrheit bedurfte, die 94 anwesenden Mitglieder der SPD-Frakti- gab es im Vorfeld der Sitzung einige Probleme. on, die durch den Parteivorsitzenden Otto Wels Obwohl die 81 Mandate der KPD bereits kurz in einer mutigen Rede begründet­ wurde, konn- nach der Wahl annulliert worden waren und te an der Tatsache nichts mehr ­ändern, dass 29 SPD-Abgeordnete an der Sitzung nicht teil- das Parlament mit der großen Mehrheit von nehmen konnten, konnte die NSDAP, die mit 444 Stimmen seine Entmachtung vollzog. der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, hinter der Parallel zu der gesteuerten Selbstausschaltung sich die Deutschnationale Volkspartei verbarg, des Reichstags verlief die Entmachtung der Par- zwar auf die absolute, aber nicht auf eine Zwei- lamente in den Einzelstaaten. Dem Preußischen drittelmehrheit kam, das Gesetz nur mit der Landtag lag am 4. Februar 1933 ein national­ Unterstützung der bürgerlichen Parteien verab- sozialistischer Antrag auf Selbstauflösung des schieden. Dass die 73 Zentrumsabgeordneten, Parlaments vor. Obwohl die NSDAP seit der

Hermann Göring als preußischer Ministerpräsident bei seiner Rede im Landtag vor der Verabschiedung des preußischen Ermächtigungs­ gesetzes am 18. Mai 1933.

162 wurden aufgelöst und nach dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März und ohne die Mandate der KPD neu zusammengesetzt. In ­einigen ­dieser Landtage, in Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden, wurden in den fol- genden Wochen besondere Ermächtigungs­ Wahl im April 1932 mit 162 Abgeordneten gesetze, jeweils gegen die Stimmen der Sozial- die stärkste Fraktion stellte, fand dieser Antrag demokraten verabschiedet. keine Mehrheit. Nach einer Reihe von Machen- Am 14. Oktober 1933 wurden alle Parlamente schaften, bei denen erneut eine Notverordnung einschließlich des am 5. März gewählten Reichs- des Reichspräsidenten hilfreich war, konnte tags durch eine Notverordnung des Reichsprä- der Landtag aufgelöst werden. Bei den Neu- sidenten aufgelöst. Für den Reichstag wurden wahlen, die am 5. März gleichzeitig mit den am 12. November Neuwahlen angesetzt, die Reichstagswahlen stattfanden, erhielt die allerdings nichts mit demokratischen Wahlen NSDAP 211 Mandate; die 61 Mandate der KPD zu tun hatten. Da alle Parteien im Sommer ver- wurden annulliert. Der neu gewählte Landtag boten worden waren oder sich selbst aufgelöst trat nur zwei Mal zusammen: am 22. März, um hatten und die Gründung neuer Parteien ohne- die rechtswidrige Absetzung der Regierung gut- hin verboten war, gab es nur Einheitslisten zuheißen, und am 18. Mai, um ein Ermächti- mit Kandidaten der NSDAP. Die Tatsache, dass gungsgesetz, auch in diesem Fall gegen die die Wahl zugleich ein Plebiszit über den längst Stimmen der SPD, zu verabschieden und sich vollzogenen Austritt des Deutschen Reiches damit, wie zuvor der Reichstag, selbst zu ent- aus dem Völkerbund war, macht hinreichend machten. deutlich, dass es jetzt nur noch um publikums- In den übrigen Ländern brachte das „Vorläufige wirksame Propaganda ging. Der Reichstag wurde (erste) Gesetz zur Gleichschaltung der Länder“ auf ähnliche Weise noch zweimal gewählt. vom 31. März 1933 das Ende der Volksvertre- Er trat bis Kriegsende 1945 insgesamt 19-mal tungen. Mit diesem Gesetz wurde nicht nur ­zusammen, in den meisten Fällen, um Hitlers den Landesregierungen die Ermächtigung zur Reden zu applaudieren, zweimal, um das Gesetzgebung erteilt, sondern die Landtage ­Ermächtigungsgesetz zu verlängern.

Sitzung des Reichstags in der Kroll-Oper am 19. Juli 1940. Adolf Hitler hält eine Rede zum Sieg über Frankreich.

163 Am 1. Juli 1948 überreichten der US-amerika- nische, der britische und der französische Mili- tärgouverneur den elf Ministerpräsidenten der Länder ihrer drei Besatzungszonen in Frankfurt am Main drei Dokumente mit Empfehlungen über die zukünftige staatliche Einheit Deutsch- lands. Das erste dieser sogenannten Frankfurter Dokumente, die das Ergebnis einer Konferenz waren, zu der sich die drei westlichen Sieger- mächte mit Vertretern der drei Beneluxstaaten im Sommer 1948 in London getroffen hatten, enthielt die entscheidende Weichenstellung für den Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutsch- land. Es erteilte den Ministerpräsidenten die Vollmacht zur Einberufung einer verfassung­ gebenden Versammlung, die spätestens am 1. September 1948 zusammentreten sollte. Diese Versammlung sollte „eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalisti- schen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen und die Rechte der beteiligten Länder schützt“. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie für das Nach- kriegsdeutschland der drei westlichen Besat- zungszonen schon einige Fortschritte gemacht.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“: Stationen der Erfolgsgeschichte des Deutschen Bundestages seit 1949

164 Insbesondere die beiden angelsächsischen ­Siegermächte begannen früh, in den Ländern schließen. Am 1. Januar 1947 trat die soge­ ihrer Zonen Selbstverwaltungskörperschaften nannte Bizone ins Leben, die aus der amerika- einzurichten. Diese Politik entsprach dem im nischen und der britischen Zone bestand; ab Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 for- Sommer 1948 beteiligten sich auch die Franzo- mulierten Grundsatz, man plane den „zukünf­ sen, wodurch aus der Bizone eine Trizone wur- tigen Wiederaufbau des deutschen politischen de. Das Vereinigte Wirtschaftsgebiet hatte als Lebens auf demokratischer Basis“; die dafür Zentralverwaltung ein Direktorium mit fünf, notwendigen Einrichtungen sollten „nach später sechs Direktoren, und es hatte ein Parla- ­demokratischen Grundsätzen und im beson­ ment, das den Namen Wirtschaftsrat trug. Die- deren durch Wahlen“ errichtet werden. Dabei ser Wirtschaftsrat hatte zunächst 52 Mitglieder, ­beschränkte man sich nicht auf die Lokal- und die von den Landesparlamenten nach Maßgabe Regionalebene, sondern begann bereits 1946 der jeweiligen Sitzverteilung in diesen Parlamen- mit der Wahl von Landtagen. ten gewählt wurden. Ab Februar 1948 wurde Den Anfang machte die amerikanische Besat- die Zahl der Mitglieder des Wirtschaftsrats, der zungszone und dort das Land Bayern, wo am jetzt auch Gesetzgebungskompetenz und Budget­ 26. Februar 1946 in der Aula der Universität hoheit erhielt, auf 104 verdoppelt. Der Wirt- München ein „beratender Landesausschuss“ schaftsrat bestand bis zur Konstituierung des als Vorparlament zusammentrat. Am 30. Juni 1. Deutschen Bundestages am 7. September 1949. 1946 wurde nach allgemeinem, freiem, glei- Sein erster und einziger Präsident war Erich chem, unmittelbarem und geheimem Wahlrecht Köhler (CDU), der anschließend zum ersten eine verfassunggebende Landesversammlung Präsidenten des Deutschen Bundestages ge- gewählt. Über die Verfassung stimmten die wählt wurde. Wahlberechtigten am 1. Dezember 1946 ab; Nach der Entgegennahme der Frankfurter Do- gleichzeitig damit fand die Wahl zum ersten kumente machten sich die Ministerpräsiden- ­ Landtag statt. ten unverzüglich an die Arbeit. Sie trafen sich Die Entwicklung ging jedoch schon früh über noch am selben Tag in Frankfurt und im weite- die Landesebene hinaus. Da bald sichtbar wur­ de,­­ ren Verlauf des Monats in Koblenz und Rüdes- dass die strenge Abgrenzung der Besatzungs­ heim, um die Einzelheiten der Umsetzung die- zonen gegeneinander zu wirtschaftlichen Pro­ ses Plans zu beraten. Um deutlich zu machen, blemen führt, wurde im Laufe des Sommers der dass diese Staatsgründung nur provisorischen Plan entwickelt, die Besatzungszonen zu einem­ Charakter habe, solange die fünf Länder der Vereinigten Wirtschaftsgebiet zusammenzu- sowjetischen Besatzungszone nicht beteiligt

Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder der drei westlichen Besatzungszonen mit dem US-­ amerikanischen, dem britischen und dem französischen Militärgou- verneur am 1. Juli 1948 in Frankfurt am Main zur Übergabe der „Frank- furter ­Dokumente“. Zu sehen sind Hans Ehard, Wilhelm Kaisen, Max Brauer, Christian Stock, Karl Arnold,­ Hinrich ­Wilhelm Kopf, ­Peter ­Altmeier, ­Hermann Lüdemann, Reinhold ­Maier und Lorenz Bock (v. r.).

165 Die 65 stimmberechtigten Mitglieder des Par­ lamentarischen Rates – zu denen noch die fünf nicht stimmberechtigten Vertreter ka- men – waren im August von den Landtagen ge- wählt worden nach einem Wahlgesetz, das die Ministerpräsidenten hatten ausarbeiten lassen und das von den Landtagen verabschiedet wur- seien, wurde der Vorschlag gemacht, die Verfas- de. Es sah, wie im Frankfurter Dokument Nr. 1 sung als „Grundgesetz“ zu bezeichnen und der vorgeschlagen, vor, dass jedes Land für jeweils verfassunggebenden Versammlung den Namen 750.000 Einwohner einen Vertreter für die Ver- „Parlamentarischer Rat“ zu geben. Dieser Vor- sammlung nominieren könne; man einigte sich schlag wurde nach einigem Zögern von den darauf, sich bei der Verteilung der Sitze an den ­Militärgouverneuren akzeptiert; unumstritten Fraktionsverhältnissen der Landesparlamente war unter allen Beteiligten angesichts der zen­ zu orientieren. tralistischen Machtexzesse des NS-Regimes, Der Rat trat am 1. September 1948 im Museum dass der neue Staat ein Bundesstaat sein werde. Koenig in Bonn zu seiner konstituierenden Sit- Zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs zung zusammen. Alle weiteren Sitzungen fan- setzten die Ministerpräsidenten einen „Sachver­ den in der Pädagogischen Akademie statt, dem ständigen-Ausschuss für Verfassungsfragen” ein, späteren Bundeshaus als Sitz des Deutschen der vom 10. bis 23. August auf Schloss Herren- Bundestages. Zum Präsidenten wurde Konrad chiemsee tagte und als Verfassungskonvent be- Adenauer (CDU) gewählt, der vermutlich auf kannt geworden ist. In diesem Ausschuss war die längste politische Erfahrung aller Teilneh- jedes Land durch einen Bevollmächtigten ver- mer zurückblicken konnte. Neben Adenauer treten. In der überwiegenden Zahl der zu klä- ­gehörte auch Paul Löbe (SPD), der langjährige renden Fragen konnte Einvernehmen erzielt Präsident des Weimarer Reichstags, dem Rat an; werden. Der Konvent legte zum Abschluss ei- Fraktionsvorsitzender der Liberalen war Theo- nen Bericht für den Parlamentarischen Rat vor, dor Heuss (FDP), der spätere Bundespräsident. in dem auch die kontroversen Punkte ausführ- Nach langen Diskussionen und zähen Verhand- lich erörtert und alternative, während der Ta- lungen, die jedoch durchgehend von der gro- gung diskutierte Lösungsmodelle angeboten ßen Bereitschaft der 61 Verfassungsväter und wurden. vier Verfassungsmütter zum Kompromiss be-

links: Abschlusssitzung des Verfassungs- konvents von Herrenchiemsee am 23. August 1948. Es spricht ­Anton Pfeiffer (CSU), Leiter­ der bayerischen Staatskanzlei und ­Vorsitzender des Konvents.

rechts: Feierliche Eröffnung des Parlamen- tarischen Rates am 1. September 1948 im Museum Koenig in Bonn. Am Rednerpult steht Christian Stock (SPD), Hessischer Minister- präsident 1946 bis 1950.

166 Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben das Parlament konsequent ins Zentrum der Ver- fassung gestellt. Der Bundestag ist das einzige stimmt waren, konnte der Parlamentarische direkt demokratisch legitimierte Verfassungsor- Rat das Grundgesetz am 8. Mai 1949 verab- gan, das in keiner Konkurrenz zu anderen direkt schieden. Nach der Genehmigung durch die demokratisch legitimierten Verfassungsorganen Militärgouverneure konnten die Mitglieder steht, wie es in Weimar der Reichspräsident war. des Parlamentarischen Rates, gemeinsam mit Anders als bei dem direkt vom Volk gewählten den Ministerpräsidenten der Länder und den Reichspräsidenten ist die demokratische Legiti- Präsidenten der Landtage, die Urschrift des mität des Bundespräsidenten vom Parlament Grundgesetzes unterzeichnen. abgeleitet. Dem Bundestag wurden deshalb auch drei Rechte gegeben, die in der Weimarer Republik „Bonn ist nicht Weimar“: das Parlament der Reichspräsident hatte und deren kombi- im Zentrum der Verfassung nierte Nutzung durch den Präsidenten in den letzten Jahren der Republik erheblich zur Un- Die Verfassungstheorie und die Verfassungs- terminierung der parlamentarischen Demokra- wirklichkeit der ersten deutschen Republik von tie, zur Errichtung autoritärer Präsidialregimes Weimar bildeten den Hintergrund sowohl der und zur Transformation in die Diktatur beige- Beratungen von Herrenchiemsee als auch des tragen hat. Der Reichspräsident ernannte und Parlamentarischen Rates in Bonn. Es waren entließ den Kanzler, ohne Rücksicht auf parla- nicht nur die positiven Erfahrungen, sondern mentarische Mehrheiten nehmen zu müssen; vor allem auch die Konstruktionsfehler der Ver- er konnte das Parlament jederzeit auflösen. Der fassung von Weimar, die zu ihrem Ende führten Bundespräsident kann hingegen den Kanzler und die zu erkennen und zu vermeiden ein Ge- nur ­ernennen, wenn dieser zuvor von der abso- bot politischer Klugheit war. Dass diese politi- luten Mehrheit des Bundestages in das Amt ge- sche Klugheit am Ende erfolgreich war, wird wählt wurde; er kann den Kanzler nur entlas- bereits 1956 deutlich sichtbar, als der Schwei- sen, wenn der Bundestag dem Kanzler zuvor zer Journalist Fritz René Allemann sein Buch das Vertrauen entzogen hat. Er kann den Bun- mit dem Titel „Bonn ist nicht Weimar“ veröf- destag nur mit dem Willen der Mehrheit des fentlichte. Parlaments auflösen.

167 wenn das Parlament innerhalb von 21 Tagen ­einen anderen Kandidaten mit absoluter Mehr- heit zum Bundeskanzler wählt. Der Bundes­ Das Recht zu entscheiden, ob ein Bundeskanz- präsident kann den Bundestag zum anderen ler entlassen wird, liegt beim Deutschen Bun- auflösen, wenn bei der Wahl des Bundeskanz- destag. Das Parlament kann dem amtierenden lers auch im dritten Wahlgang kein Kandidat Kanzler durch ein Misstrauensvotum das Ver- die absolute Mehrheit bekommen hat. trauen entziehen. Um zu verhindern, dass zu- Die Ausstattung des Deutschen Bundestages fällige negative Mehrheiten, die ihrerseits keine mit diesen Kompetenzen und Rechten verdankt gemeinsame Regierung tragen wollen oder kön- sich der konsequenten Verwirklichung des nen, eine Regierung stürzen, ohne eine andere, Prinzips der parlamentarischen Demokratie die die Unterstützung des Parlaments hat, an durch den Parlamentarischen Rat, der ebenso ihre Stelle zu setzen, wurde das Misstrauens­ konsequent das Prinzip der repräsentativen votum als konstruktives Misstrauensvotum Demokratie umsetzte. Er folgte ohne Einschrän- ­ausgestaltet: Der amtierende Kanzler wird ab­ kung einer Empfehlung des Verfassungskon- gewählt, indem ein anderer Kandidat mit abso- vents von Herrenchiemsee, auf alle Formen luter Mehrheit zum Kanzler gewählt wird. Der der plebiszitären Demokratie zu verzichten. Bundespräsident muss dann den amtierenden Die Erfahrungen, die mit dem in der Weimarer Kanzler entlassen und den gewählten Kanzler Verfassung fixierten Recht auf Volksbegehren ernennen. gemacht worden waren, ließen es geraten er- Der Bundespräsident kann den Bundestag nur scheinen, auf ein solches Instrument der direk- unter zwei genau definierten Bedingungen auf- ten neben der repräsentativen Demokratie zu lösen, die eng mit der Abhängigkeit des Bun- verzichten. deskanzlers vom Vertrauen der Mehrheit des Die erbittertste Kontroverse, die im Parlamen­ Parlaments verbunden sind. Zum einen auf tarischen Rat geführt wurde, drehte sich um Vorschlag des Bundeskanzlers, wenn der Bundes- die Antwort auf die Frage, nach welchem Wahl- kanzler zuvor dem Bundestag die Vertrauens- system die Mandate zum Deutschen Bundestag frage gestellt hat und keine Mehrheit findet, die vergeben werden sollten. Die Anhänger des ihm das Vertrauen in seine Amtsführung aus- Mehrheitswahlrechts und die Anhänger des spricht. Diese Auflösung lässt sich vermeiden, Verhältniswahlrechts standen einander lange

links: Sitzung des Parlamentarischen ­Rates am 10. Mai 1949. Auf dieser Sitzung fiel die Entscheidung für Bonn als provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik. In der vorde- ren Reihe (v. l.): die SPD-Politiker Walter Menzel, Carlo Schmid und Paul Löbe, Theodor Heuss von der FDP und Hans-Christoph Seebohm von der DP.

rechts: Die Pädagogische Akademie in Bonn am 23. Mai 1949, dem Tag der Gründung der Bundesrepublik. Rechts im Bild der Rohbau des ­zukünftigen Plenarsaals des ­Deutschen Bundestages.

168 fast unversöhnlich gegenüber. Die Vertreter des Mehrheitswahlrechts (vor allem die CDU- Fraktion), bei dem in jedem Wahlkreis nur der Kandidat ein Mandat erhält, der die Mehrheit genauso viele Parteien vertreten gewesen seien der Stimmen auf sich vereinigen kann, mach- wie im Reichstag der Weimarer Republik. Dort ten geltend, dass mit diesem System klare sei die Regierungsbildung nicht an den Splitter­ Mehrheiten im Parlament zu erzielen seien. parteien gescheitert, sondern an der mangeln- Da große Parteien größere Wahlchancen hätten, den Bereitschaft und Fähigkeit der großen­ wohne diesem System die Tendenz zum Zwei- ­Parteien zur Bildung von Koalitionen. parteiensystem inne, wie es im britischen Un- Buchstäblich in letzter Minute und nachdem terhaus verwirklicht sei, wo Regierung und eine ganze Reihe von Vorschlägen diskutiert ­Opposition einander eindeutig gegenüberstün- und verworfen worden waren, kam im Aus- den. Das Verhältniswahlrecht würde kleinen schuss für Wahlrechtsfragen des Parlamenta­ und kleinsten Parteien die Möglichkeit bieten, rischen Rates ein Kompromiss zustande, der Mandate zu gewinnen; deshalb sei im Parla- ­allerdings im Plenum nur eine einfache Mehr- ment der Weimarer Republik, in der das reine heit und nicht die notwendige Zweidrittelmehr­ Verhältniswahlrecht galt, eine Vielzahl von heit fand. Es stellte sich allerdings auch sofort ­Parteien vertreten gewesen. Diese Parteienzer- heraus, dass der Parlamentarische Rat mit splitterung aber habe zu den großen Schwierig- ­diesem Wahlgesetz seine Kompetenzen über- keiten der Regierungsbildung und damit erheb- schritten hatte. Die Militärgouverneure der lich zur Instabi­lität der Republik geführt. ­Besatzungsmächte, denen das Grundgesetz Die Anhänger des Verhältniswahlrechts (vor ebenso wie das Wahlgesetz zur Genehmigung ­allem die SPD und kleine Parteien) machten da- vorgelegt werden musste, machten darauf gegen auf die Tatsache aufmerksam, dass beim ­aufmerksam, dass der Parlamentarische Rat Mehrheitswahlrecht die Stimmen verloren gin- nur die Aufgabe gehabt habe, eine Verfassung gen, die für die jeweils unterlegenen Kandida- zu entwerfen und zu beschließen. Dort stehe ten abgegeben worden seien. Das Mehrheits- zwar zu Recht, dass die Abgeordneten des wahlrecht verzerre also den Wählerwillen und Deutschen Bundestages „in allgemeiner, un­ sei deshalb weitaus weniger repräsentativ als mittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl das Verhältniswahlrecht. Im Übrigen habe das gewählt“ werden; das ­Nähere aber bestimme relative Mehrheitswahlrecht nicht verhindern ein Gesetz, und dieses Wahlgesetz erwarte man können, dass im Reichstag des Kaiserreichs fast­ von der Konferenz der Ministerpräsidenten.

169 Für die nächste Bundestagswahl 1953 verab- schiedete der Deutsche Bundestag ein verän- dertes Wahlgesetz. Das Verhältnis der Direkt- mandate zu den Listenmandaten wurde durch Erhöhung der Zahl der Abgeordneten auf 484 Die Ministerpräsidenten, die diese heikle An­ auf 50:50 geändert, wie es heute noch gilt. Die gelegenheit gern dem Parlamentarischen Rat Fünfprozentsperrklausel wurde auf das gesamte überlassen hätten, übernahmen den Kompro- Bundesgebiet ausgedehnt. Eine Partei, die in miss, den sie aber noch erweiterten. Das Wahl- einem oder mehreren Bundesländern auf über gesetz, das am 15. Juni 1949 in Kraft trat und fünf Prozent der Stimmen kam, im gesamten das nur für die erste Bundestagswahl gelten Bundesgebiet aber darunter blieb, konnte kein sollte, war in seinem Kern bereits das bis heute Mandat in Anspruch nehmen; zuvor hätte sie in der Bundesrepublik geltende Wahlgesetz: aus den Bundesländern, in denen sie jeweils eine Kombination aus Mehrheitswahlrecht und mehr als fünf Prozent der Stimmen erzielte, Verhältniswahlrecht, das als personalisiertes Abgeordnete in den Bundestag entsenden kön- Verhältniswahlrecht bezeichnet wird. nen. Die vielleicht wichtigste Änderung war Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wurde die Einführung der Zweitstimme, womit die auf 400 festgelegt und die Bundesrepublik in Wähler bei der Entscheidung für eine Partei 242 Wahlkreise eingeteilt, in denen jeweils nicht an die Partei des Kandidaten gebunden ein Mandat nach relativer Mehrheit vergeben waren, dem sie die Stimme für das Direktman- wurde. Die übrigen 158 Sitze wurden nach dem dat gaben. prozentualen Anteil vergeben, den die Parteien Eine wichtige Änderung gab es noch einmal bei der Wahl auf Landesebene erzielten. Jeder 1956, als die Zahl der Direktmandate, die einer Wahlberechtigte hatte nur eine Stimme, womit Partei, die bundesweit unter fünf Prozent blieb, er sowohl den Kandidaten als auch dessen dennoch den Einzug ins Parlament ermöglicht, ­Partei wählte. Die Ministerpräsidenten hatten die sogenannten Grundmandate, auf drei er- außerdem eine Sperrklausel eingefügt, nach höht wurde. Seither gab es eine Vielzahl von der eine Partei nur in den Bundestag einziehen Änderungen des Bundeswahlgesetzes, aber konnte, wenn sie in einem Bundesland auf an den Grundlagen, die im Parlamentarischen mindestens fünf Prozent der Stimmen oder Rat nach langen Auseinandersetzungen und auf ein Direktmandat kam. dann von der Konferenz der Ministerpräsiden-

170 ten ­gefunden wurden, hat sich grundsätzlich nichts geändert. Das personalisierte Verhält­ als im Bundesrat des Kaiserreichs, in dem die niswahlrecht, das die Vorzüge der beiden ­Vertreter monarchischer Regierungen saßen, Wahlsysteme miteinander verbindet, hat sich sind die im Bundesrat der Bundesrepublik ver- glänzend bewährt. tretenen Regierungen demokratisch legitimiert. Eine letzte Frage, die bereits in Herrenchiemsee Anders auch als im Bundesrat des Kaiserreichs, kontrovers diskutiert wurde und für die der der ein absolutes Veto in allen Angelegenheiten Konvent dem Parlamentarischen Rat alternative der ­Gesetzgebung hatte, kann der Bundesrat sein Vorschläge zukommen ließ, war die Frage nach Veto gegen Entscheidungen des Bundestages­ nur der Beziehung zwischen dem Parlament des bei Zustimmungsgesetzen folgenreich­ geltend Gesamtstaats, also dem Bundestag, und der machen, viel weniger aber bei Einspruchs­ ­Vertretung der Interessen der Bundesländer. gesetzen. Hier standen zwei Modelle zur Diskussion, Der Bundestag ist also in der Ausübung der das Senatsmodell und das Bundesratsmodell. Macht, die ihm vom souveränen Volk durch die Das Senatsmodell, weitgehend am US-amerikani­ Wahl auf Zeit übertragen wird, nur im Bereich schen Vorbild orientiert, sah eine Vertretungs- der Gesetzgebung partiell eingeschränkt. Da körperschaft der Einzelstaaten vor, deren Mit- auch der Bundesrat indirekt demokratisch legi- glieder entweder von den Parlamenten der timiert ist, wird der demokratischen Legitimität Bundes­staaten oder direkt demokratisch ge- des obersten Verfassungsorgans der Bundesre- wählt ­werden. Das Bundesratsmodell dagegen publik kein Schaden zugefügt. ist an der deutschen Tradition orientiert, die auf den Bundestag des Deutschen Bundes und auf den Bundesrat des Kaiserreichs zurückgeht. Funktionierende parlamentarische ­Demokratie Am Ende fiel die Entscheidung für den Bundes- rat, da so die Interessen der Länder besser ver- Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum treten schienen. ersten Deutschen Bundestag statt, aus denen Man kann den Bundesrat der Bundesrepublik die CDU/CSU mit 31 Prozent der Stimmen durchaus mit dem Bundesrat des Kaiserreichs und 139 Mandaten als Siegerin hervorging, vergleichen: In beiden waren und sind die dicht gefolgt von der SPD mit 29,2 Prozent und ­Regierungen der Einzelstaaten vertreten, und 131 Mandaten; die FDP konnte mit 11,9 Prozent in beiden mussten und müssen die Stimmen der Stimmen 52 Sitze gewinnen. Von den insge- einheitlich abgegeben werden. Anders aber samt 16 Parteien, die zur Wahl angetreten waren,

Die vier Frauen im Parlamentari- schen Rat (v. l.): Helene Wessel (Zentrum), Helene Weber (CDU), Friederike Nadig (SPD) und ­Elisabeth Selbert (SPD).

171 ist überdies als fünfte Partei die PDS, seit 2007 konnten zehn mit Abgeordneten in den Bun- unter dem Namen Die Linke, kontinuierlich destag einziehen; von den 70 parteilosen Ein- im Bundestag vertreten. In der 18. Wahlperiode zelbewerbern schafften immerhin drei mit bestand der Bundestag wieder aus vier Frak­ ­Direktmandaten den Sprung ins Parlament. tionen, da die FDP den Sprung in das Parla- Diese erstaunliche­ Vielzahl von Parteien bildete ment nicht geschafft hatte. Mit der Wahl zum ­allerdings kein Hindernis für eine schnelle 19. Deutschen Bundestag kehrte sie jedoch ­Re­­gierungsbildung. Bereits am 15. September, in den Bundestag zurück; darüber hinaus zog eine Woche nach der konstituierenden Sitzung, erstmals die AfD ins Parlament ein, sodass konnte Konrad Adenauer (CDU/CSU), der sich im 19. Deutschen Bundestag insgesamt sechs auf eine Koalition seiner Partei mit der FDP Fraktionen vertreten sind. und der DP stützte, eine nationalkonservative Diese Konzentration auf wenige Parteien und Partei, die ihre Wahlerfolge vor allem in Nie- die Stetigkeit der parteipolitischen Zusammen- dersachsen hatte, wo sie fünf Direktmandate setzung des Deutschen Bundestages über Jahr- gewinnen konnte, zum ersten Bundeskanzler zehnte hinweg ist umso erstaunlicher, als sich gewählt werden. seit 1987 regelmäßig weit mehr als 20 Parteien Die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien um Bundestagsmandate bewerben. Selbstver- ging bei den folgenden zwei Wahlen deutlich ständlich wird die parteipolitische Zersplitte- zurück: während 1953 noch sechs von 16 Par- rung des Parlaments durch die Sperrklausel teien Mandate erringen konnten, schafften 1957 verhindert, die auch wahlpsychologisch wirkt. nur noch vier von 14 den Einzug ins Parlament. Die Wähler, die die Erfolgschancen ihrer Stim- Von 1961 bis 1983, vom 4. bis zum 9. Bundes- men gesichert sehen möchten, entscheiden sich tag, waren durchgehend nur CDU/CSU, SPD eher für Parteien, die mit großer Wahrschein- und FDP, die das Grundgerüst des Parteiensys- lichkeit im Parlament vertreten sein werden. tems der Bundesrepublik bildeten, im Bundes- Die überwiegende Zahl der erfolglosen Parteien tag vertreten; die Zahl der Parteien, die zu den bleibt deshalb in der Regel auch weit unter fünf Wahlen antraten, schwankte zwischen acht und Prozent. 17. Bei der Wahl zum 10. Deutschen Bundestag Dieser Kontinuität des Parteiensystems ent- 1983 kam die 1980 gegründete Partei Die Grü- spricht die Stabilität der Regierungskoalitionen. nen auf 5,6 Prozent der Stimmen und zog mit Nur zwei Mal in der Geschichte des Deutschen 27 Sitzen als vierte Partei in den Bundestag ein. Bundestages wurden Koalitionen vor Ablauf Seit der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag der Wahlperiode aufgekündigt. Im Oktober 1990, dem ersten gesamtdeutschen Bundestag, 1966 beendete die FDP die Koalition mit der

Alterspräsident Paul Löbe (SPD) ­eröffnet am 7. September 1949 die konstituierende Sitzung des 1. Deutschen Bundestages.

172 CDU/CSU, da die Koalitionspartner über die Frage, ob Haushaltslücken über Steuererhöhun- gen gedeckt werden sollten, keine Einigung er- zielen konnten; bereits im Dezember war die Bildung einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD abgeschlossen, die Kurt Georg Kiesin- Westbindung und Wirtschaftswunder: ger (CDU/CSU) zum Bundeskanzler wählte. Im der Deutsche Bundestag 1949 bis 1969 September 1982 nahm die FDP wegen unüber- brückbarer Differenzen mit ihrem Koalitions- Der 1. Deutsche Bundestag trat am 7. September partner SPD über Fragen der Haushalts- und 1949 in der ehemaligen Pädagogischen Akade- Wirtschaftspolitik Verhandlungen mit der mie in Bonn, die bereits dem Parlamentari- CDU/CSU auf, die zu einer neuen Koalition schen Rat als Tagungsstätte gedient und im führten. Am 1. Oktober 1982 wurde der Vor­ Sommer einen Plenarsaal als Anbau bekommen sitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, hatte, zu seiner konstituierenden Sitzung zu- ­Helmut Kohl, durch ein erfolgreiches­ Miss­ sammen. Die Sitzungsleitung als Alterspräsi- trauensvotum zum Bundeskanzler gewählt; dent hatte Paul Löbe (SPD), der von 1920 bis der Amtsinhaber (SPD) war 1932, mit einer kurzen Unterbrechung 1924, damit abgewählt. Präsident des Reichstags der Weimarer Repu­ In beiden Fällen verlief der Regierungswechsel, blik gewesen war. In seiner Rede dankte Löbe der Wechsel der großen Regierungspartei in die den Alliierten, dass sie diesen Neubeginn mög- Opposition und der bisherigen Opposition in lich gemacht hatten, gedachte der Opfer der die Regierung, reibungslos. Das gilt nicht nur Verbrechen des NS-Regimes, hoffte, dass „der für diese Koalitions- und Regierungswechsel Entwicklungsgang der deutschen Demokratie mitten in der Wahlperiode, sondern für alle nicht aufs Neue aufgehalten wird“, und freute Bundestagswahlen und Regierungsbildungen sich, dass an diesem Tag „zum ersten Male wie- in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- der freigewählte Abgeordnete eines erheblichen land. Das Votum der Wähler hat bei jeder Bun- Teils von Gesamtdeutschland zusammentreten, destagswahl den Parteien die Bildung von Koa- um eine deutsche Regierung einzusetzen und litionen und Regierungen möglich gemacht.­ Die eine neue Gesetzgebung zu beginnen“. Erfolgsgeschichte der parlamentarischen­ Demo- Schwerpunkte dieser Gesetzgebung benannte kratie in der Bundesrepublik Deutschland ist Paul Löbe, als er auf die Frage „Was erhofft sich vor allem auch eine Erfolgsgeschichte­ der mün- das deutsche Volk von der Arbeit des Bundes- digen Wähler. tages?“ gleich selbst die Antwort gab: „Dass wir

Erich Köhler (CDU/CSU) nach seiner Wahl zum Präsidenten des 1. Deutschen Bundestages am 7. September 1949.

173 eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicher- ten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand ent­ gegenführen.“ Damit war ein riesiges Programm Dem Aufbau demokratischer Wirtschaftsstruk- umrissen, dessen Verwirklichung der Deutsche turen diente das Betriebsverfassungsgesetz, das Bundestag in den folgenden Wahlperioden­ in die Mitwirkung der Interessenvertreter der Ar- Angriff nahm. beitnehmer durch gewählte Betriebsräte in den Der 1. Deutsche Bundestag stand vor immensen ­Unternehmen sicherstellte. Bereits ein Jahr zu- Herausforderungen. In Staat, Wirtschaft und vor, im April 1951, war das Gesetz zur „Montan- Gesellschaft der jungen Bundesrepublik muss- mitbestimmung“ verabschiedet worden, das die ten neue Einrichtungen aufgebaut und Struk­ paritätische Vertretung von Arbeitnehmern und turen entwickelt werden; gleichzeitig galt es, Unternehmern in den Aufsichtsräten der Unter- vielen Millionen Menschen, die durch das NS- nehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl Regime und den Krieg in Not geraten waren, erzeugenden Industrie einführte. möglichst schnell Unterstützung zukommen Paul Löbe hatte in seiner Ansprache wiederholt zu lassen. Dafür sorgten die Versorgungs- und betont, es sei auch eine Aufgabe des Deutschen Entschädigungsgesetze für Heimkehrer, Kriegs- Bundestages, dazu beizutragen, dass Deutsch- opfer, Schwerbeschädigte, Vertriebene und land „Glied eines geeinten Europa“ werde. Flüchtlinge, die zwischen 1950 und 1953 auf den ­Einen großen Schritt auf diesem Weg machte der Weg gebracht wurden. Um den dringend benö- Bundestag am 5. Juli 1957, als er die Römischen tigten Wohnraum schnell und bezahlbar zur Verträge ratifizierte, die am 25. März 1957 zwi- Verfügung stellen zu können, wurde im März schen Italien, Frankreich, den Beneluxländern 1950 das Erste Wohnungsbaugesetz verabschie- und der Bundesrepublik zur Gründung der det, das durch die Förderung von Wohnungs- ­Eu­ro­­päischen Wirtschafts­gemeinschaft (EWG) bauprogrammen mit staatlichen Zuschüssen die und der Europäischen Atomgemeinschaft Grundlage für den sozialen Wohnungsbau legte. ­(EURATOM) geschlossen worden waren, den Das Lastenausgleichsgesetz aus dem Jahr 1952 Grundsteinen zur Euro­päischen Union (EU). gewährte denen, die besonders große Verluste Die Ratifizierung er­folgte übrigens mit den erlitten hatten, Entschädigungen und Hilfen für Stimmen der großen Regierungsfraktion CDU/ Existenzgründungen, die aus einer­ Vermögens- CSU und der sozialdemokratischen Opposition; abgabe vor allem auf Grund­besitz und Immobi- die kleinere Regierungsfraktion FDP stimmte lien finanziert wurden. dagegen.

Konrad Adenauer (CDU/CSU) nach seiner Wahl zum Bundeskanzler am 15. September 1949.

174 Vorläufiger Abschluss dieser Politik der West- integration und der Aussöhnung mit den ehe- maligen Kriegsgegnern ist der deutsch-französi- Im Rahmen dieser politischen Westorientie- sche Freundschaftsvertrag, den der französische rung, die mit besonderem Nachdruck und Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundes- ­Erfolg von Bundeskanzler Konrad Adenauer kanzler Konrad Adenauer (CDU/CSU) am vertreten und betrieben wurde, war bereits 22. Januar 1963 unterzeichneten und den der zwei Jahre zuvor mit der Unterzeichnung der Bundestag am 16. Mai mit großer Mehrheit rati- Pariser Verträge, die am 27. Februar 1955 vom fizierte. Dieser Vertrag bildete die Grundlage für Bundestag ratifiziert wurden und am 5. Mai völlig neue Beziehungen zwischen den beiden in Kraft traten, der Beitritt der Bundesrepublik europäischen Nachbarn, die seit Jahrhunderten zur NATO erfolgt. Wichtiger Bestandteil dieser von Misstrauen und Feindschaft geprägt waren. Verträge war überdies der Deutschlandvertrag, Das Abkommen war auch ein krönender Ab- mit dem die drei westlichen Siegermächte mit schluss der langen Kanzlerschaft Konrad einigen Vorbehalten ihre Besatzungsherrschaft ­Adenauers, der wenige Monate später, im Ok­ in der Bundesrepublik beendeten. tober 1963 im Alter von 87 Jahren von seinem Die Mitgliedschaft in der Nato machte den Amt zurücktrat. Zu seinem Nachfolger wurde ­Aufbau deutscher Streitkräfte notwendig, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig der von Adenauer seit Jahren geplant, von der Erhard (CDU/CSU) gewählt. In Erhards Amts- ­Opposition aber vehement abgelehnt wurde. zeit in der zweiten Hälfte der 4. Wahlperiode, Nach der Ratifikation der Pariser Verträge gegen die bis ­September 1965 dauerte, fand eine der die Stimmen der SPD begann die Beratung der großen Debatten des Deutschen Bundestages Wehrgesetze, die erhebliche Zeit in Anspruch statt. nahm, da die Opposition, aber auch Abgeord- Anlass für diese Debatte war die Frage der nete der Regierungsfraktionen, eine starke ­Verjährbarkeit von Morden, die im Namen ­parlamentarische Kontrolle der Bundeswehr des NS-Regimes von Mitgliedern des Regimes forderten, die mit der Einrichtung des Amtes oder in deren Namen begangen wurden. Sollte des Wehrbeauftragten­ des Deutschen Bundes­ es, so war die Frage, möglich sein, dass Mas- tages und der Verankerung des Verteidigungs- senmörder 20 Jahre nach Kriegsende straffrei ausschusses im Grundgesetz verwirklicht wurde. ausgehen, da Mord nach den Gesetzen der Am 22. Mai 1956 trat die mit großer Mehrheit ­Bundesrepublik nach 20 Jahren verjährt und beschlossene Wehrverfassung als Ergänzung die Verjährungsfrist am 8. Mai 1945, also am des Grundgesetzes um Artikel 87 a in Kraft. Tag des Kriegsendes begann?

Erste Lesung der Pariser Verträge im Deutschen Bundestag am 16. Dezember 1954. Es spricht Erich Ollenhauer (SPD).

175 kontra hatten sich nicht grundsätzlich geän- dert, und wieder fanden sich die Befürworter Diese Frage wurde zum ersten Mal 1965 akut. und die Gegner der Verlängerung in allen Frak- In einer langen und eindrucksvollen Debatte tionen. Man einigte sich auf eine Verlängerung über den Antrag, die Verjährungsfrist für um zehn Jahre. In der Debatte, die 1979 deshalb ­Völkermord aufzuheben, wurden die grund- stattfinden musste, hielt der CDU-Abgeordnete sätzlichen Positionen abgesteckt. Gegen die Johann Baptist Gradl den Gegnern einer wei­ Aufhebung wurde vorgebracht, dass durch teren Verlängerung entgegen, dass es darauf ­diese Änderung die Rechtsordnung beeinträch- ­ankomme, „das Geschehen im Einzelnen zu tigt werde, da man im Nachhinein Strafbedin- ­ermitteln, klarzulegen und auszusprechen, gungen für Taten ändere, die zuvor begangen ­solange das noch möglich ist“. Gradl fand worden waren. Überdies seien die meisten Taten ­Unterstützung bei Vertretern aller anderen bereits aufgeklärt und die Täter, wenn man ihrer Fraktionen, und am Ende der Debatte wurde habhaft werden konnte, einer Strafe zugeführt.­ die Verjährungsfrist für Mord vollständig auf­ Eine solche Verlängerung wäre also kaum straf- gehoben. rechtlich ergiebig. Dagegen trugen die Befür- Damit hatte der Deutsche Bundestag deutlich worter der Verlängerung das Argument vor, dass gemacht, dass die Konfrontation mit dem Un- die Morde, um die es hier ging, eine Dimension recht, das in deutschem Namen während des angenommen hätten, die den Rahmen der rein NS-Regimes verübt wurde, ganz besonders im juristischen Behandlung sprenge. Der Rechts- Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines demo- frieden werde nicht durch eine Verlängerung kratischen deutschen Parlaments stehen muss. gestört, die im Übrigen juristisch unbedenklich­ Dass darüber hinaus auch die Wiedergutma- sei, sondern durch die Tatsache, dass Verbre- chung, soweit sie überhaupt möglich ist, mit chen, die im Auftrag des Staates verübt worden großer Offenheit auf Initiative des Parlaments seien, der doch gerade die Rechtsordnung betrieben werden muss, wurde bereits am schützen solle, nicht strafrechtlich verfolgt 18. März 1953 deutlich sichtbar, als der Deut- werden könnten. sche Bundestag den Vertrag von Luxemburg Am Ende der Debatte einigte man sich auf den einstimmig ratifizierte. Am 10. September 1952 Kompromiss, die Verjährungsfrist nicht 1945 war in Luxemburg ein Vertrag zwischen dem beginnen zu lassen, sondern mit der Gründung Staat Israel und der Bundesrepublik Deutsch- der Bundesrepublik. Das Problem wurde des- land unterzeichnet worden, mit dem die Zah- halb 1969 erneut akut. Die Argumente pro und lung von insgesamt drei Milliarden D-Mark an

Sitzung des Bundestages am 10. Februar 1965. Fritz Erler, ­Vorsitzender der SPD-Bundestags- fraktion, beteiligt sich an der ersten aktuellen Fragestunde. Jeder Redner verfügt über fünf Minuten Redezeit und soll seinen Text frei ohne Vor­ lage vortragen. Zwischenfragen sind nicht erlaubt.

176 Sitzung des Bundestages am 10. März 1965. Debatte über die Aufhebung der Verjährungsfrist für Morde, die im Auftrag und Namen des NS-Regimes begangen wurden.

177 den Staat Israel zur Unterstützung jüdischer Flüchtlinge aus den während des Krieges von Möglichkeit zur Einschränkung einiger Grund- Deutschland besetzten Gebieten und weiterer rechte wie das Briefgeheimnis und die Freizü- 450 Millionen an die Jewish Claims Conference gigkeit und für den Fall von Naturkatastrophen verabredet wurden. den Einsatz der Bundeswehr vor. Im Fall eines Der Beginn der 5. Wahlperiode im Oktober Notstands sollten die Kontrolle der Regierung 1965 stand ganz im Zeichen einer weltweiten und die ­Gesetzgebung von einem Gemeinsa- Rezession, die angesichts sinkender Steuerein- men Ausschuss übernommen werden, der zu nahmen zu einer Haushaltskrise führte, die mit zwei Dritteln aus Mitgliedern des Bundestages dem Rücktritt von Bundeskanzler Erhard im und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bun- November 1966 endete, nachdem im Oktober desrats zusammengesetzt ist, eine Art Notparla- die vier FDP-Minister zurückgetreten waren ment. und ein Kompromiss zwischen den Koalitions- Im Vor- und Umfeld der Beratungen hatte sich partnern nicht zustande kam. Am 1. Dezember eine breite, von den Gewerkschaften über die wurde Kurt Georg Kiesinger (CDU/CSU) zum Kirchen bis zu studentischen Organisationen Kanzler einer Großen Koalition aus CDU/CSU reichende Protestbewegung gegen die Not- und SPD gewählt; Vizekanzler und Außenmi- standsgesetze gebildet. Es war die Sorge um nister wurde (SPD). die Demokratie der Bundesrepublik, die diesen Zu den Schwerpunkten der Arbeit der großen Protest motivierte, da ja gerade der Notstands- Koalition gehörte der Versuch, Instrumente für artikel der Weimarer Verfassung ein zentrales die Steuerung der Wirtschaft angesichts aktuel- Instrument gewesen war, mit dem die Weimarer ler Konjunktureinbrüche zu entwickeln. Das Demokratie und Republik zerstört wurde. Der „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Deutsche Bundestag nahm diese „außerparla- Wachstums der Wirtschaft“ (Stabilitätsgesetz) mentarische Opposition“ durchaus ernst. Und aus dem Jahr 1967 sollte die Stabilität des zwar nicht nur, weil in der endgültigen Fas- Preisniveaus, die Vollbeschäftigung, außen­ sung der Gesetze diverse Punkte berücksichtigt wirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges wurden, die von den Kritikern angesprochen Wirtschaftswachstum miteinander verbinden. worden waren und zu denen beispielsweise Spektakulärer Höhepunkt der Tätigkeit von das Versammlungs-, das Koalitions- und das ­Parlament und Regierung in der Großen Koa­ Streikrecht der Arbeitnehmer gehörten, son- lition war ohne Zweifel die Verabschiedung dern weil sich der Bundestag auch in mehreren der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968. Diese Debatten mit den Protesten und ihren Motiven Gesetze sahen für den zivilen Notstand die befasste. Am 30. April 1968, nur wenige Wo-

178 chen vor der Verabschiedung der Notstandsge- setze, kam das Parlament wegen der oft von ge- gleichheit, zum Ausbau des Sozialstaats und walttätigen Auseinandersetzungen begleiteten zur Liberalisierung des Straf- und Zivilrechts Demonstrationen nach dem Attentat auf Rudi beitrugen. Dazu gehörten Gesetze zur Erweite- Dutschke zu einer Sondersitzung zusammen, rung der betrieblichen Mitbestimmung 1971 auf der Bundesinnenminister Ernst Benda und 1976, das Bundesausbildungsförderungs- (CDU/CSU) erklärte: „Eine leidenschaftliche gesetz (BAföG) 1971, das mehr Kindern aus so- außerparlamentarische Opposition kann auch zial schwachen Familien den Zugang zur höhe- darauf hindeuten, dass das Parlament drän­ ren Bildung ermöglichte, und die Beseitigung gende Fragen nicht genügend behandelt.“ veralteter Straftatbestände aus dem Sexual­ strafrecht 1973. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erregte „Wir wollen mehr Demokratie wagen“: aber die Reform des Paragrafen 218 des Straf­ die sozialliberale Ära 1969 bis 1982 gesetzbuchs, der in seiner am 26. April 1974 beschlossenen Neufassung den Schwanger- Mit der 6. Wahlperiode 1969 begann eine neue schaftsabbruch innerhalb der ersten drei Mo­ Ära in der Geschichte der Bundesrepublik. nate der Schwangerschaft freigab; nach der Ent- Nach 20 Jahren CDU/CSU-geführten Bundesre- scheidung des Bundesverfassungsgerichts über gierungen wurde mit Willy Brandt zum ersten die Unvereinbarkeit dieser „Fristenlösung“ mit Mal ein Sozialdemokrat zum Bundeskanzler dem Grundgesetz wurde das Gesetz im Februar ­gewählt. Zwar blieb die CDU/CSU mit 46,1 Pro- 1976 modifiziert; seither galt die Indikations­ zent der Stimmen knapp vor der SPD, die auf lösung, die den Schwangerschaftsabbruch in 42,7 Prozent kam, die aber mit der FDP eine den ersten drei Monaten nur bei bestimmten Koalition bilden konnte, die über eine Mehr- Notlagen zulässt. heit von zwölf Mandaten verfügte. Ganz neue Wege beschritten Willy Brandt und Das Programm der sozialliberalen Koalition seine Koalition in der Außenpolitik, die mit stand unter einem Leitmotiv, das Willy Brandt dem Ziel betrieben wurde, durch vertragliche in seiner ersten Regierungserklärung formulier- Vereinbarungen mit Staaten des Warschauer te, als er sagte: „Wir wollen mehr Demokratie Paktes zur Friedenssicherung und zur wechsel- wagen.“ Im Laufe der folgenden Jahre wurde seitigen Verständigung beizutragen. Höhepunk- eine Reihe von Gesetzesvorhaben verwirklicht, te dieser Bemühungen waren der Abschluss die zur Demokratisierung in Wirtschaft und des Moskauer Vertrags mit der UdSSR am ­Gesellschaft, zur Verbesserung der Chancen- 10. August 1970 und des Warschauer Vertrags

Sitzung des Bundestages am 28. Oktober 1969. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) gibt die Regie- rungserklärung ab.

179 mit Polen am 7. Dezember 1970, in deren Zen­ trum der wechselseitige Gewaltverzicht und die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Vertrauen aussprach. Bundespräsident Gustav ­bestehenden Grenzen standen. Beide Verträge Heinemann folgte der Bitte des Bundeskanzlers wurden nach kontroverser Debatte am 17. Mai nach Auflösung des Bundestages vor Ablauf 1972 durch den Deutschen Bundestag ratifi- der Wahlperiode und ordnete Neuwahlen für ziert, wobei die CDU/CSU-Opposition sich der den 19. November 1972 an. Stimme enthielt. Diese Neuwahlen wurden zu einem Triumph Ohne diese Enthaltung, zu der die Opposition für Willy Brandt und zu einer glänzenden bereit war, nachdem alle Fraktionen in einer ­Bestätigung seiner Politik. Die Wahlbeteiligung gemeinsamen Entschließung festgestellt hatten, erreichte mit 91,1 Prozent einen einmaligen dass sie an dem Ziel der Wiedervereinigung Höchstwert; zum ersten Mal konnte die festhalten und dass dieses Ziel von den Ver­ SPD mit 45,8 Prozent der Stimmen vor der trägen unberührt blieb, wäre die Ratifikation CDU/CSU, die 44,9 Prozent erreichte, als möglicherweise gescheitert. Da in den Monaten stärkste Fraktion in den Deutschen Bundestag zuvor einige Mitglieder der FDP-Fraktion und einziehen. Die FDP verbesserte sich von 5,8 auf zwei Mitglieder der SPD-Fraktion aus Protest 8,4 Prozent, sodass die Fortsetzung der sozial­ gegen die Verträge zur CDU/CSU gewechselt liberalen Koalition gesichert war. Die hohe waren, hatte die Regierungskoalition ihre ohne- Wahlbeteiligung ist umso bemerkenswerter, hin knappe Mehrheit verloren. Die Opposition als in der zu Ende gegangenen 6. Wahlperiode beantragte deshalb am 24. April 1972, Bundes- das Wahlalter für das aktive Wahlrecht von kanzler Brandt das Misstrauen auszusprechen 25 auf 21 Jahre gesenkt worden war, also ein und den Abgeordneten Rainer Barzel (CDU/CSU) größerer Kreis von Wahlberechtigten an der zu seinem Nachfolger zu wählen. Bei der Ab- Wahl von 1972 teilnahm. Der Bundestag der stimmung drei Tage später scheiterte der Miss- 7. Wahlperiode sah überdies eine doppelte trauensantrag, weil zwei Stimmen fehlten. ­Pre­miere: Mit Annemarie Renger wurde zum Da Regierungskoalition und Opposition einan- ersten Mal eine Frau auf den Stuhl des Parla­ der weiterhin in einer Pattsituation gegenüber- ments­präsidenten gewählt – und zum ersten standen, sah der Bundeskanzler keine andere Mal ein Mitglied der SPD. Möglichkeit, als die Vertrauensfrage zu stellen. Die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition Bei der Abstimmung am 22. September 1972 fand auch nach der Amtsübernahme Helmut ergab sich eine knappe Mehrheit, die mit Nein Schmidts (SPD) ihre Fortsetzung. Schmidt hatte stimmte, also dem Bundeskanzler nicht das im Mai 1974 Willy Brandt abgelöst, der vom

Sitzung des Bundestages am 27. April 1972. Rainer Barzel, ­Vorsitzender der CDU/CSU-Bundes- tagsfraktion (l.), gratuliert Bundes- kanzler Willy Brandt (SPD) zum überstandenen Misstrauensvotum.

180 Erhebliche innen- und koalitionspolitische Fol- gen hatte der Doppelbeschluss, den die Außen- Amt des Bundeskanzlers zurücktrat, nachdem und Verteidigungsminister der NATO-Mitglied- bekannt geworden war, dass ein Referent seiner staaten im Dezember 1979 gefasst hatten. Um nächsten Umgebung, Günter Guillaume, als das Übergewicht neuer sowjetischer, mit ato- Agent für die DDR-Staatssicherheit arbeitete. maren Sprengkörpern bestückter und auf Mit- Im Oktober 1974 verabschiedete der Deutsche tel- und Westeuropa gerichteter Mittelstrecken- Bundestag das Zweite Wohnraumkündigungs- raketen abzubauen, sollten in einem ersten schutzgesetz, mit dem die Vorschriften über den Schritt Abrüstungsverhandlungen geführt wer- Kündigungsschutz für gemieteten Wohnraum den; sollten diese Verhandlungen erfolglos verbessert und Bestandteile des Mietrechts des ­bleiben, würden ab 1983 zusätzliche US-ame­ Bürgerlichen Gesetzbuchs wurden. In der zwei- rikanische Mittelstreckenraketen und Marsch- ten Hälfte des Jahres 1975 wurde mit der Ein- flugkörper in Europa stationiert werden. Als in führung des Sozialgesetzbuchs das Sozialrecht der zweiten Hälfte des Jahres 1982 das Schei- vereinheitlicht. Besondere Bedeutung kam dem tern der Verhandlungen deutlich wurde, kam Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Famili- es zu einer breiten Front der Ablehnung der enrechts 1975/1976 zu. Dieses Gesetz zur Re- ­geplanten Aufstellung weiterer US-amerikani- form des Scheidungsrechts machte durch die scher Raketen, die bis in die Partei des Bundes- Abschaffung des Schuldprinzips und die Ver- kanzlers hineinreichte. Damit schien dem klei- änderung des Unterhaltsrechts zugunsten des nen Koalitionspartner die Durchsetzung des sozial schwächeren Ehepartners einen großen Beschlusses zur Nachrüstung im Rahmen der Schritt in die Richtung der Gleichberechtigung noch regierenden Koalition kaum mehr mög- der Frauen. lich. Als überdies die Folgen einer weltweiten Die sozialliberale Koalition wurde auch nach Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosig- den nächsten beiden Wahlen 1976 und 1980 keit, höherem Haushaltsdefizit und wirtschaft- mit Helmut Schmidt als Bundeskanzler fort­ lichem Minuswachstum in der Bundesrepublik gesetzt. Parlament und Regierung sahen sich sichtbar wurden, kam es zwischen den Part- in diesen Jahren vor eine Reihe großer innen-, nern der sozialliberalen Koalition zu grundle- ­außen- und wirtschaftspolitischer Herausfor­ genden Auseinandersetzungen über die Wirt- derungen gestellt. Mordanschläge und Ent­ schafts- und Haushaltspolitik, die schließlich führungen durch Mitglieder der sogenannten zum Bruch der Koalition führten, als die FDP ­Rote-Armee-Fraktion (RAF) brachten den im Oktober 1982 einen Koalitionswechsel zur Rechtsstaat an den Rand seiner Belastbarkeit. CDU/CSU vollzog.

Konstituierende Sitzung des 7. Deutschen Bundestages am 13. Dezember 1972. Annemarie Renger (SPD) nach ihrer Wahl zur ersten Bundestagspräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

181 die FDP verlor zwar Stimmanteile, war mit 7 Prozent aber im Bundestag vertreten. Die neue Koalition verfügte über die absolute Mehrheit,­ und sie behielt diese Mehrheit auch nach der nächsten Bundestagswahl 1987. Mit der Partei Die Grünen, die auf 5,8 Prozent der Stimmen „Das ist die Stunde der Parlamente“: kam, war zum ersten Mal seit über 20 Jahren der Bundestag auf dem Weg zur wieder eine vierte Partei im Deutschen Bundes- deutschen Einheit tag vertreten. Der Schwerpunkt der Arbeit von Parlament Am 1. Oktober 1982 wurde der Vorsitzende der und Regierung lag in der 10. Wahlperiode im CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Helmut Kohl, Bereich der Wirtschaftspolitik. Gesetzliche im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvo- Maßnahmen zur Steigerung des Wirtschafts- tums gegen den Amtsinhaber Helmut Schmidt wachstums durch Steuerentlastungen für Un- zum neuen Bundeskanzler gewählt. Bundes- ternehmer und zum Abbau der beginnenden kanzler Kohl strebte baldige Neuwahlen an, Massenarbeitslosigkeit durch die Flexibilisie- um der Koalition von CDU/CSU und FDP die rung des Arbeitsmarkts sorgten zwar für einen Unterstützung der Mehrheit der Wähler zu ver- Anstieg des Bruttoinlandprodukts; gleichzeitig schaffen; er stellte deshalb am 13. Dezember stiegen jedoch auch die Arbeitslosenzahlen die Vertrauensfrage. Da in der Abstimmung am weiter. 17. Dezember erwartungsgemäß die Opposition Neuland wurde mit der Einsetzung eines stän- dem Kanzler das Vertrauen verweigerte und digen Ausschusses für Umwelt, Naturschutz die übergroße Mehrheit der Abgeordneten der und Reaktorsicherheit und der Gründung eines Regierungskoalition sich der Stimme enthielt, gleichnamigen Bundesministeriums im Juni 1986 um den Weg für Neuwahlen freizumachen, löste betreten. Zwar war die Reaktorkatastrophe von Bundespräsident Karl Carstens am 6. Januar Tschernobyl wenige Wochen zuvor der unmit- 1983 den Bundestag vor Ablauf der Wahlperiode telbare Anlass für diese Maßnahmen; sie ent- auf und ordnete Neuwahlen für den 6. März an. sprachen aber durchaus auch der erheblich Die CDU/CSU ging aus dieser Wahl mit 48,8 Pro­ ­gestiegenen Sensibilität für Fragen des Um­ zent der Stimmen als eindeutiger Sieger hervor, weltschutzes in der Bevölkerung, die an dem gefolgt von der SPD, die auf 38,2 Prozent kam; Wahlerfolg der Partei Die Grünen ablesbar war.

Konstruktives Misstrauensvotum und Sitzung des Bundestages am 1. Oktober 1982. Der amtierende Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, r.) gratuliert dem Fraktions- vorsitzenden der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion und neuen Bundes- kanzler, Helmut Kohl, zu seiner Wahl.

182 Nach Erfolgen bei Landtagswahlen 1981 und 1982 gelingt den Grünen bei der Bundestagswahl 1983 auch der Sprung in den Bundestag; hier die Bundestagsabgeordneten der Grünen, Petra Kelly und Marieluise Beck-Oberdorf (v. l.), dahinter­ Otto Schily.

183 Die Volkskammer wurde seit der ersten Wahl am 15. Oktober 1950 für jeweils fünf Jahre ge- wählt. Nach der DDR-Verfassung handelte es sich bei der Volkskammer um die Inhaberin der souveränen Macht; faktisch jedoch war sie ein Herrschaftsinstrument der Sozialistischen Ein- heitspartei Deutschlands (SED). Die Tatsache, dass nur drei bis vier Plenarsitzungen pro Jahr Am frühen Abend des 9. November 1989 wur- stattfanden, in denen eine geringe Zahl von den die Abgeordneten des Deutschen Bundes- Gesetzen durchweg einstimmig beschlossen tages während einer Plenarsitzung von der wurde, macht deutlich sichtbar, dass es sich Nachricht überrascht, die Regierung der DDR um ein reines Akklamationsorgan ohne tatsäch­ ­ habe die Grenzen für Ausreisewillige geöffnet; liche Macht handelte. Gewählt wurde nach in kurzen Stellungnahmen waren sich die Vor- Einheitslisten, auf denen die zum sogenannten sitzenden der vier Fraktionen in der Erwartung ­Demokratischen Block (DB) zusammenge- einig, dass „insbesondere die Forderungen nach schlossenen Parteien aufgeführt waren; neben freien Wahlen in der DDR bald erfüllt“ sein der SED, die 1949 aus der Zwangsvereinigung werden, wie es Hans-Jochen Vogel (SPD) formu- von KPD und SPD hervorgegangen war, kandi- lierte. Zum Abschluss dieser Sitzung sangen dierten Parteien wie die Christlich Demokrati- die Abgeordneten spontan die Nationalhymne. sche Union (CDU) und die Liberal-Demokrati- An diesem 9. November kam eine Entwicklung sche Partei Deutschlands (LDPD), die eigens in Gang, die sich in den folgenden Monaten ­gegründet wurden, um den Anschein eines de- ­rasant beschleunigte und an deren Abschluss mokratischen Pluralismus zu erzeugen. Zusätz- die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 stand. lich kandidierten einige direkt von der SED Der Deutsche Bundestag spielte in dieser Ent- ­abhängige Massenorganisationen wie die Freie wicklung eine entscheidende Rolle; in enger Deutsche Jugend (FDJ), die mit dem DB zur Zusammenarbeit mit der am 18. März 1990 ­Nationalen Front zusammengeschlossen waren. zum ersten Mal frei gewählten Volkskammer Die Wahlergebnisse waren vorab festgelegt; die der DDR begleitete er jeden wichtigen Schritt kandidierenden Gruppierungen kamen immer im Vereinigungsprozess. auf dieselbe ­Anzahl der Mandate.

184 oben: Sitzung der Volkskammer der DDR am 23. August 1990. Abstimmung über den Beitritt der DDR zum ­Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. links: Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. November 1989 im Alten Wasserwerk in Bonn, das von 1986 bis 1992 als Provisorium für die ­Plenarsitzungen des Parlaments ­genutzt wurde. ­Bun­deskanzler ­Helmut Kohl (CDU/CSU) stellt wäh- rend der zwei­ten ­Lesung des Haus- haltsgesetzes 1990 das „10-Punkte- Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ vor.

185 Die Präsidentinnen der beiden Parlamente, Rita Süssmuth (Bundestag) und Sabine Bergmann- Pohl (Volkskammer), vereinbarten auf einem Treffen am 30. April eine „intensive Zusam- Aus der ersten und einzigen freien Wahl der menarbeit“. Als Steuerungsinstrument für diese Volkskammer 1990 ging die CDU mit 40,8 Pro- Zusammenarbeit setzten beide Häuser jeweils zent der Stimmen als klare Siegerin hervor; einen Ausschuss Deutsche Einheit mit jeweils die SPD kam auf 21,9 Prozent. Vor dem ersten 39 Mitgliedern ein. Die Bedeutung dieser bei- demokratischen Parlament der DDR lag ein den Ausschüsse lässt sich an der Tatsache ab­ ­gigantisches Arbeitspensum, das in den insge- lesen, dass die Parlamentspräsidentinnen den samt 38 Sitzungen, deren letzte am Vorabend Vorsitz übernahmen und dass ihnen nicht nur der deutschen Einheit, am 2. Oktober 1990 die Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten stattfand, bewältigt werden musste. Es waren angehörten, sondern auch die Spitzen der Frak- nicht nur der Staatsvertrag zur Währungs-, tionen. Beide Ausschüsse traten von Mitte Mai Wirtschafts- und Sozialunion, der Einigungs- bis Mitte September zu mehr als 20 Sitzungen vertrag und die jeweils dazu gehörenden Zu- zusammen; drei dieser Sitzungen waren ge- stimmungsgesetze zu beraten, sondern es muss- meinsame Sitzungen in Bonn und in Berlin. ten auch Änderungen der Verfassung der DDR Auf diesen Sitzungen wurden die für den Ver- beschlossen werden, um die im Zuge der Wäh- einigungsprozess notwendigen Verträge inten- rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion notwen­ siv beraten und in einer ganzen Reihe wichtiger digen Rechtsanpassungen zu ermöglichen; die Punkte modifiziert. Rechtsanpassungen mussten in Gesetzesform Bei der ersten Plenarberatung des Einigungs- gebracht werden. In sechs Monaten wurden vertrags am 5. September 1990 im Deutschen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und ­Bundestag sagte der damalige Bundesinnen­ verabschiedet. minister ­Wolfgang Schäuble (CDU/CSU), der

Sitzung der Volkskammer der DDR am 20. September 1990. Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung über das Zustim- mungsgesetz zum Einigungsvertrag spenden Mitglieder der Volkskam- mer Beifall.

186 Sitzung des Bundestages am 20. September 1990. Nach der ­Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung über das Zustim- mungsgesetz zum Einigungsvertrag durch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU/CSU) erheben sich die Ab­geordneten von ihren Plätzen, ­applaudieren und singen die ­Nationalhymne.

187 Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgeset- zes zum 3. Oktober 1990“ beschloss. Die Her- stellung der Einheit auf der Grundlage dieses Verhandlungsführer der Bundesregierung bei Artikels, der „anderen Teilen Deutschlands“, den Ver­hand­lungen über den Einigungsvertrag die bei der Gründung der Bundesrepublik noch war: „Ich glaube, dass das Parlament in der Ge- nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes schichte der Bundesrepublik Deutschland nie in gehörten, die Möglichkeit zum Beitritt zu die- einem solchen Maße in Vertragsverhandlungen sem Bereich eröffnete, war nicht unumstritten. einbezogen worden ist, wie es im Ausschuss Er bot jedoch die Möglichkeit, den Vereini- Deutsche Einheit der Fall gewesen ist.“ Am gungsprozess zu beschleunigen, und dürfte Ende der dritten und abschließenden Beratung, damit den Wünschen der überwältigenden die in beiden Parlamenten am 20. September Mehrheit der Bürger beider deutscher Staaten stattfand und die im Deutschen Bundestag acht entsprochen haben. Stunden dauerte, weil noch einmal die kontro- Am 4. Oktober 1990 kam im Reichstagsgebäude versen Positionen über die Frage des angemes- der erste gesamtdeutsche Bundestag zusam- senen Weges zur Einheit und über die zu erwar­ men. Er bestand aus den 519 Mitgliedern des tenden Folgen der Einheit vorgetragen wurden, Deutschen Bundestages der 11. Wahlperiode fand das Zustimmungsgesetz zum Vertrag in und 144 Mitgliedern der ehemaligen Volkskam- beiden Parlamenten eine Zweidrittelmehrheit, mer der DDR, die am 28. September auf den die notwendig war, da der Vertrag verfassungs- Vorschlag ihrer Fraktionen hin unter Berück- ändernde Folgen hatte. sichtigung der prozentualen Anteile der Frak­ Den Weg zum Einigungsvertrag hatte die Volks- tionen von der Volkskammer als Vertreter der kammer am 23. August 1990 frei gemacht, als neuen Bundesländer in den Bundestag gewählt sie am Ende einer turbulenten Nachtsitzung worden waren. Am nächsten Tag nahm dieser mit 294 Ja-Stimmen bei 62 Nein-Stimmen und Bundestag auf seiner ersten Arbeitssitzung in sechs Enthaltungen „den Beitritt der Deutschen Bonn den Zwei-plus-Vier-Vertrag an, mit dem Demokratischen Republik zum Geltungsbe-­ die neue Bundesrepublik ihre vollständige reich des Grundgesetzes der Bundesrepublik ­Souveränität erhielt.

188 Sitzung des Bundestages am 4. Oktober 1990 im Reichstags­ gebäude in Berlin.

189 Im Zentrum der Arbeit von Parlament und ­Regierung standen in beiden Wahlperioden die ­Folgeprobleme der Vereinigung, vor allem Aufbau Ost und europäische Integration: die finanziellen und wirtschaftlichen Probleme. der Deutsche Bundestag 1990 bis 1998 Die Frage, wie der Aufbau Ost bewältigt wer- den könnte, wurde nicht nur zwischen Regie- Am 2. Dezember 1990 fand die erste gesamt- rung und Opposition, sondern auch zwischen deutsche Bundestagswahl statt, aus der die Bund und Ländern kontrovers diskutiert. Zu- CDU/CSU als Siegerin hervorging. Sie setzte nächst wurde auf ein Jahr befristet seit dem ihre Regierungskoalition mit der FDP fort, und 1. Juli 1991 der Solidaritätszuschlag als Ergän- zwar auch nach der nächsten Bundestagswahl zungsabgabe auf die jeweilige Einkommensteuer 1994. Mit der PDS, der Nachfolgepartei der erhoben. Dieser Zuschlag wurde ab 1995 Teil SED, zog zum ersten Mal seit 1953 eine fünfte des Solidarpakts, der bis 2004 befristet gewaltige Partei in den Bundestag ein; die Partei erreichte Transferleistungen bereitstellte, um den Aufbau allerdings nur 17 Mandate und konnte deshalb in den neuen Bundesländern zu finanzieren. ebenso wie das Bündnis 90 / Die Grünen, das in Da dieser Aufbau auch 2004 noch nicht abge- dieser Konstellation nur in den neuen Bundes- schlossen war und noch erhebliche Zeit in ländern kandidierte und auf acht Mandate kam, ­Anspruch nehmen wird, wurde seit 2001 ein keine Fraktion, sondern nur eine Gruppe bil- zweiter Solidarpakt ausgehandelt, der bis 2019 den. Die Grünen in den alten Bundesländern befristet ist. erreichten nicht die Fünfprozenthürde. Bei der Im Rahmen der gesetzlichen Regelung der nächsten Bundestagswahl trat das Bündnis 90 / ­deut­schen Einheit stand im Jahr 1992 noch ein- Die Grünen nach der Fusion der ostdeutschen mal der Paragraf 218 zur Strafbarkeit des Schwan- mit den westdeutschen Grünen in allen Bun- gerschaftsabbruchs auf der Tagesordnung des desländern an, konnte mit 7,3 Prozent der Bundestages. Da in der DDR seit 1972 die Fris- Stimmen in den Bundestag einziehen und die tenlösung galt, in der Bundesrepublik aber die FDP als drittstärkste Fraktion ablösen. Zwar Indikationslösung, wurde der Gesetzgeber im kam die PDS 1994 nur auf 4,4 Prozent der Einigungsvertrag verpflichtet, bis Ende 1992 Stimmen, erhielt aber vier Direktmandate­ und eine einheitliche Regelung zu finden. Die am war deshalb mit 30 Abgeordneten­ erneut als 25. Juni 1992 vom Deutschen Bundestag verab- Gruppe im Bundestag vertreten. schiedete Neuregelung stieß auf die Ablehnung

Wahlkampf für die ersten gesamt- deutschen Wahlen im Dezember 1990.

190 Damit waren Belastungen der öffentlichen ­Kassen verbunden, die durch die wachsende Arbeitslosigkeit, die vor allem aus der Verlage- des Bundesverfassungsgerichts. Am 29. Juni rung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer 1995 beschloß der Bundestag eine Neufassung ­resultierte, noch vergrößert wurden. Die Regie- des Schwangeren- und Familienhilfeänderungs­ rungskoalition beschloss deshalb Kürzungen gesetzes, das eine Fristenlösung mit obligatori- in der Sozial- und Gesundheitspolitik, zu der scher Beratung einführte. Einschränkungen des Kündigungsschutzes und Parallel zum Ausbau der deutschen Einheit ver- der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gehör- lief der Prozess der europäischen Integration. ten. Diese Kürzungen, die scharfe Kritik nicht Am 2. Dezember 1992 ratifizierte der Deutsche nur bei der Opposition, sondern auch in der Bundestag den Vertrag von Maastricht, der mit Öffentlichkeit fanden, wurden vom Parlament der Gründung der Europäischen Union alle und von der Regierung der nächsten Wahlperi- ­bisherigen europäischen Zusammenschlüsse ode rückgängig gemacht. bündelte und damit das vereinte Europa auf Am 20. Juni 1991 wurde im Bundestag die Frage ganz neue Fundamente stellte. Im Zentrum entschieden, ob Parlament und Regierung des des Vertrags stand die Europäische Währungs- vereinigten Deutschlands ihren Sitz in Bonn und Wirtschaftsunion mit der Absichtserklä- oder Berlin haben würden. Für den Verbleib in rung, bis spätestens 1. Januar 2002 den Euro Bonn wurde die Tatsache angeführt, dass der als gemeinsame Währung einzuführen. Der Name der Stadt untrennbar mit der gelungenen Bundestag stimmte der Einführung des Euro am demokratischen Entwicklung nach dem Zwei- 23. April 1998 nach siebenstündiger kontrover- ten Weltkrieg verbunden sei. Bonn als Parla- ser ­Debatte mit überwältigender Mehrheit zu. ments- und Regierungssitz sei ein deutliches In der 13. Wahlperiode wurde zunehmend deut­ Signal an die Nachbarn und Verbündeten, dass lich, dass der Aufbau Ost noch größere Leistun- die neue und größere Bundesrepublik an dieser gen erfordern würde als bisher angenommen. ­politischen Grundorientierung festhalten werde.

Sitzung des Bundestages am 23. April 1998. Abgeordnete der Gruppe der PDS protestieren gegen die bisherigen Vereinbarungen zur Einführung des Euro in elf Mitglied- staaten der Europäischen Union.

191 Umweltschutz und Agenda 2010: die rot-grüne Koalition im Parlament 1998 bis 2005

Als Ergebnis der Bundestagswahl 1998 wurde die SPD zum ersten Mal seit 1972 mit 40,9 Pro- zent der Stimmen wieder stärkste Fraktion im Parlament, während die CDU/CSU mit 35,1 Pro- Die Berlin-Befürworter erinnerten daran, dass zent schwere Verluste hinnehmen musste. Zum seit der Gründung der Bundesrepublik gerade ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu­ vom Deutschen Bundestag immer wieder be- blik wurde eine Partei aus der Opposition in die tont worden sei, Berlin sei die Hauptstadt eines Regierung gewählt, die die SPD in einer Koali- vereinten Deutschland. Der Beschluss vom tion mit Bündnis 90 / Die Grünen bildete; zum 3. November 1949 gelte immer noch: „Die lei- Bundeskanzler wurde Gerhard Schröder (SPD) tenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in gewählt. Die PDS kam auf über fünf Prozent die Hauptstadt Deutschlands Berlin, sobald der Mandate und hatte in der 14. Wahlperiode allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte zum ersten Mal den Status einer Fraktion. Die Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen rot-grüne Koalition konnte trotz Stimmenein­ ­ Besatzungszone durchgeführt sind. Der Bun- bußen auch in der 15. Wahlperiode ihr Regie- destag versammelt sich alsdann in Berlin.“ rungsbündnis fortsetzen. Der neue Bundestag ­Berlin sei durch die Öffnung der Mauer am hatte nur noch 598 Abgeordnete statt 656 wie 9. November 1989 zum Inbegriff der Einheit bisher, da im Zuge einer Parlamentsreform be- Deutschlands geworden. Die Verlegung von reits 1996 die Zahl der Wahlkreise von 328 auf Parlament und Regierung vom Rhein an die 299 reduziert worden war. Spree sei deshalb auch ein Signal an die Be- Gleich zu Beginn der Wahlperiode musste das wohner der neuen Bundesländer, dass es ernst Parlament über Auslandseinsätze der Bundes- gemeint sei mit dieser Einheit. Am Ende wurde wehr im Kosovo, in Serbien und in Ost-Timor nach einer fast zehnstündigen Debatte der beschließen. Dass diese Einsätze nur mit der ­Antrag, den die Berlin-Befürworter unter dem Zustimmung des Bundestages möglich sind, Titel „Vollendung der Einheit Deutschlands“ geht auf eine Entscheidung des Bundesverfas- eingebracht hatten, mit 338 zu 320 Stimmen sungsgerichts 1994 zurück, mit dem die Bun- angenommen. deswehr noch stärker als zuvor zur Parlaments-

Sitzung des Bundestages am 15. April 1998. Der Abgeordnete Karl A. Lamers (CDU/CSU) ­während der Debatte zum Krieg im ­Kosovo.

192 Sitzung des Bundestages am 17. Oktober 2003. Namentliche ­Abstimmung über die „Arbeits- markt-Reformgesetze“ (Hartz III und Hartz IV).

193 armee wurde. Als die Entscheidung über die Unterstützung der US-Truppen im Afghanistan- Krieg 2001 akut wurde, verknüpfte der Bundes- kanzler die Abstimmung mit der Vertrauens­ frage, da er nicht sicher sein konnte, ob der Senkungen der Lohnnebenkosten, Streichungen ­pazifistische Flügel des kleinen Koalitionspart- von Leistungen der gesetzlichen Krankenver­ ners ihn unterstützte. Er gewann die Vertrau- sicherungen und die Einführung der „Praxis­ ensfrage gegen die Stimmen der Opposition. gebühr“; dazu gehörten aber vor allem die mit Die Verknüpfung einer Sachentscheidung dem Stichwort „Hartz IV“ verbundenen Neure- mit der Vertrauensfrage ist übrigens durchaus gelungen für den Bezug von Arbeitslosengeld, ­verfassungskonform. der verkürzt wird, und von Arbeitslosen- und Zu den zentralen Zielen der rot-grünen Koali­ ­ Sozialhilfe, die zusammengelegt werden, sowie tion gehörte beispielsweise die Optimierung Investitionsprogramme für die Bildung und für des Umweltschutzes. Ein Beitrag dazu war die die Kommunen. ökologische Steuerreform, die mit der steuer­ Die Agenda 2010 stieß nicht nur in der Öffent- lichen Belastung des Stromverbrauchs und lichkeit auf große Vorbehalte, sondern selbst der Reform der Mineralölsteuer begann. Dazu in der Partei des Bundeskanzlers, der sich gehört aber auch der Ausstieg aus der Atom-­­ ­deshalb mit der Gefahr konfrontiert glaubte, en­ergie, der mit einer Vereinbarung der Bundes­ ­angesichts der nur knappen Mehrheit bei zu- regierung mit den Energieversorgungsunterneh- künftigen Abstimmungen der Unterstützung men im Juni 2000 begann und in der Neufassung­ seiner Regierungskoalition nicht sicher sein des Atomgesetzes 2002 fixiert wurde. Im Kern zu können. Er strebte deshalb an, wie zuvor be- ging es darum, durch eine Begrenzung der reits Willy Brandt 1972 und Helmut Kohl 1982, Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke bis vorgezogene Neuwahlen durch den geplanten 2021 den vollstän­digen Ausstieg aus der Atom- Vertrauensentzug herbeiführen zu können. energie abzuschließen. Wie geplant fand er bei der Abstimmung am Die Ära der rot-grünen Koalition ist eng ver- 1. Juli 2005 keine Mehrheit in der Vertrauens- bunden mit der Agenda 2010, einer grundlegen- frage und schlug dem Bundespräsidenten des- den Reform der Sozialsysteme und des Arbeits- halb die Auflösung des Parlaments vor. Bundes- markts in Deutschland, die von 2003 bis 2005 präsident Horst Köhler folgte diesem Vorschlag schrittweise umgesetzt wurde. Dazu gehörten und setzte vorgezogene Neuwahlen für den Lockerungen des Kündigungsschutzes und 18. September 2005 an.

links: Sitzung des Bundestages am 1. Juli 2005. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der an diesem Tag die Vertrauensfrage stellte, verlässt den Plenarsaal.

rechts: Sitzung des Bundestages am 1. Juli 2005.

194 der Haushalte nur unter ganz bestimmten, ge- nau definierten Bedingungen aufzunehmen. Reformen und Globalisierung: Vor allem eine Maßnahme sorgte in der Öffent- CDU/CSU-geführte Regierungen unter lichkeit für Gesprächs- und Zündstoff: Im Rah- ­Bundeskanzlerin Angela Merkel seit 2005 men einer Rentenreform beschloß die Koalition im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter von bis- Die Wahl vom 18. September 2005 sah die bei- her 65 Jahren von 2012 bis 2029 schrittweise den großen Parteien in einem Kopf-an-Kopf- ­ auf 67 Jahre anzuheben, um die Finanzierbar- Rennen, das die CDU/CSU mit 35,2 Prozent der keit der umlagenbasierten Rente auch in Zu- Stimmen knapp für sich entscheiden konnte; kunft zu gewährleisten. die SPD landete mit 34,2 Prozent auf dem Zu den großen Herausforderungen dieser Wahl- zweiten Platz. Obwohl die FDP auf 9,8 Prozent, periode zählte ohne Zweifel die internationale die PDS auf 8,7 Prozent und Bündnis 90 / Finanzkrise, die auf ihrem Höhepunkt im Okto- Die Grünen auf 8,1 Prozent kamen und damit ber 2008 auch deutsche Banken und Versiche- alle Fraktionsstärke erreichten, konnte keine rungen in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. der beiden großen Parteien mit einem kleinen Mit breiter Zustimmung bis weit in die Reihen Koalitionspartner eine Regierung bilden; die der Opposition hinein wurde im Oktober 2008 Entscheidung fiel für eine Große Koalition. in Rekordzeit das „Finanzmarktstabilisierungs- Zur Bundeskanzlerin wurde am 22. November gesetz“ verabschiedet, das die Möglichkeit bie- Angela Merkel (CDU/CSU) mit 397 gegen tet, Finanzinstituten durch die Gewährung von 202 Stimmen bei zwölf Enthaltungen gewählt. Garantien die Weiterarbeit zu ermöglichen. Die- Mit der für eine Große Koalition charakteris­ ser sogenannte Bankenrettungsschirm erlaubt in tischen komfortablen Mehrheit im Parlament extremen Einzelfällen auch die Verstaatlichung konnten einige wichtige und nicht unumstrit­ von Unternehmen dieser Branche. tene Reformen in Angriff genommen werden. Nach der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag Dazu gehörte die Föderalismusreform, bei der, 2009 kam es wie in den Anfangsjahren der Bun­ schon lange vorbereitet, die Komplexität der desrepublik zu einer Koalition von CDU/CSU Verflechtung der Zuständigkeiten von Bund und FDP. Zwar verlor die CDU/CSU Stimmen- und Ländern und vor allem die Zahl der zu- anteile in der Höhe von 1,4 Prozent; die SPD stimmungspflichtigen Gesetze reduziert wurde. ­allerdings verlor dramatisch mehr als zehn Zu der zweiten Stufe der Reform gehörte die ­Prozent, während die FDP mit 14,6 Prozent ein sogenannte Schuldenbremse, die Bund und sehr gutes Ergebnis einfahren konnte, das für Länder verpflichtete, Kredite zur Finanzierung eine Koali­tion mit der CDU/CSU reichte.

195 Die neue Koalition stieß gleich am Anfang ihrer Tätigkeit auf einige Schwierigkeiten, als bei der Mehrwertsteuersenkung für das Hotel- und Gast­ Nach der Bundestagswahl 2013 zum 18. Deut- stättengewerbe von 19 auf sieben Prozent die schen Bundestag kam es zu einer Neuauflage der Parole von den Interessenparteien die Runde Großen Koalition. Die CDU/CSU konnte gegen- machte. Bundestag und Regierung waren weiter- über dem Ergebnis von 2009 zwar 7,7 Prozent hin mit der internationalen Finanzkrise befasst, der Stimmen hinzugewinnen und kam ­damit die seit 2010 zu einer Staatsschuldenkrise einiger auf 41,5 Prozent; ihr kam aber der bisherige Koa-­ EU-Mitgliedsländer und damit über kurz oder litionspartner abhanden, da die FDP 9,8 Prozent lang zur Eurokrise wurde. Erneut mussten „Ret- verlor, damit unter der Fünfprozenthürde blieb tungsschirme“, jetzt auf ­europäischer Ebene mit und nicht mehr im Deutschen Bundestag ver- deutscher Beteiligung, aufgespannt­ werden. Die treten war. Auch Die Linke und Bündnis 90 / hochkomplexe Materie beschäftigte die Bundes- Die Grünen verloren leicht, schafften aber mit tagsabgeordneten über alle Maßen und traf bis 8,6 und 8,4 Prozent den Einzug ins Parlament. in die Reihen der Regierungsfraktionen­ hinein Die Große Koalition brachte in ihrem ersten durchaus nicht nur auf Zustimmung. Regierungsjahr 2014 eine ganze Reihe von Maß- Eine besonders dramatische Entwicklung voll- nahmen auf den Weg. Am 3. Juli beschloss der zog die schwarz-gelbe Koalition im Bereich der Deutsche Bundestag mit 535 Stimmen bei fünf Energiepolitik. Der von Rot-Grün in Angriff ge- Gegenstimmen und 61 Ent­halt­ungen die Ein- nommene Ausstieg aus der Atomenergie wurde führung eines flächendeckenden Mindestlohns zunächst einer Revision unterzogen. Das im in Deutschland ab 1. Januar 2015. Diese Ent- Jahr 2002 novellierte Atomgesetz wurde im scheidung betraf fast vier Millionen Arbeitneh- Oktober­ 2010 neu gefasst mit der Verlängerung mer. Zwar wurden Anträge der Oppositionspar- der Laufzeit für Atomkraftwerke um acht und teien, alle im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen 14 Jahre. Nur wenige Tage nach Beginn der zu streichen und den Mindestlohnbetrag von ­Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 8,50 auf 10,00 Euro anzuheben, abgelehnt; die 2011 änderte die Bundesregierung ihre Haltung Tatsache jedoch, dass auch Abgeordnete der zur Atomenergie. Am 30. Juni wurde das Atom- Opposition für das Gesetz stimmten, macht gesetz erneut novelliert und die dauerhafte deutlich sichtbar, dass dieses Gesetz ein „Mei- Stilllegung der bereits abgeschalteten Atom- lenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der kraftwerke ebenso beschlossen wie der Ausstieg Bundesrepublik“ ist, wie die Bundesministerin aus der Atomenergie bis 2022. Die Novelle fand für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), eine fraktionsübergreifende Mehrheit. betonte.

196 Am 28. November 2014 beschloss der Bundes- tag das Haushaltsgesetz für das Jahr 2015, das Ausgaben in Höhe von 299,1 Milliarden Euro vorsah, eine Steigerung gegenüber dem Haus- Diese Bereitschaft der Regierungsmehrheit, halt 2014 um 2,6 Milliarden Euro. Gleichwohl den Schutz der Opposition zu stärken, ist der kam der Haushalt für das Jahr 2015 ohne vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die Netto-Neuverschuldung aus. Zum ersten Mal Rechte der parlamentarischen Minderheit im seit 45 Jahren war damit der Bundeshaushalt Rahmen von mehreren Parlamentsreformen vollständig durch Einnahmen gedeckt – unter seit 1960 schrittweise auszubauen und zu dem Strich stand die „schwarze Null“. erweitern. Eine für die Bedeutung und die Funktionsfähig- Mit der Bundestagswahl 2017 veränderte sich keit der parlamentarischen Demokratie in der die Zusammensetzung des Parlaments erheb- Bundesrepublik Deutschland zentrale Entschei- lich. Zwar kam es nach längeren Verhandlun- dung traf der Bundestag, als er am 3. April 2014 gen zu einer Neuauflage der Großen Koalition auf Antrag der beiden Regierungsparteien eine unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/ Änderung der Geschäftsordnung beschloss, die CSU). CDU/CSU und SPD verloren aber deut- die Rechte der parlamentarischen Minderheit lich gegenüber 2013 an Stimmen und erreichten betraf. Diese Änderung war geboten, da die bei- 33 (–8,6) Prozent beziehungsweise 20,5 (–5,2) den Oppositionsparteien zusammen nur über Prozent. Mit der AfD zog mit 12,6 Prozent als 127 Sitze verfügten; das entsprach einem An- drittstärkste Kraft eine neue Partei in das Parla- teil von etwa 20 Prozent der Gesamtzahl von ment ein. Die FDP kehrte mit 10,7 Prozent der 631 Abgeordneten zu Beginn der 18. Wahlperi- Stimmen in den Bundestag zurück. Mit 9,2 Pro- ode. Zahlreiche Rechte der parlamentarischen zent und 8,9 Prozent sind auch Die Linke und Minderheit, die vor der Änderung nur von min­ Bündnis 90 / Die Grünen wieder im Parlament destens 25 Prozent der Mitglieder des Bundes- vertreten. Insgesamt besteht der 19. Deutsche tages wahrgenommen werden konnten, wurden Bundestag aus 709 Abgeordneten: Mit einer mit dem neuen Paragrafen 126 a der Geschäfts- Mindestanzahl von 598 Sitzen sowie einer ordnung des Deutschen Bundestages für die größeren Zahl von Überhang- und Ausgleichs- Dauer der 18. Wahlperiode bereits bereits mandaten ist er in der Geschichte des Deut- 120 Mitgliedern des Parlaments eingeräumt. schen Bundestages der zahlenmäßig größte.

Seite 196: Sitzung des Bundestages am 7. Oktober 2008. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) gibt eine Regierungserklärung zur Finanz- marktkrise ab.

Seite 197: Sitzung des Bundestages am 3. Juli 2014. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), bei ihrer Rede.

197 198 Architektur und Politik Das Reichstagsgebäude in Geschichte und Gegenwart

199 Am 19. April 1871 gab „die sehr große Majori- tät“ der Abgeordneten zum Deutschen Reichs- tag eine Erklärung ab, in der es heißt: „Die Er- richtung eines den Aufgaben des deutschen Reichstags entsprechenden und der Vertretung des deutschen Volkes würdigen Reichstagshau- ses ist ein dringendes Bedürfnis“. Diese Erklä- rung war der erste Schritt auf einem langen Weg, der nach 23 Jahren, mit der ersten Sitzung des Reichstags am 6. Dezember 1894 im neuen Haus, an sein vorläufiges Ende kommen sollte. Von den 382 Abgeordneten, die dem Reichstag des Jahres 1871 angehörten, der diesen Be- schluss fasste, machten 21 den Einzug in das neue Reichstagsgebäude mit, unter ihnen parla- mentarische Urgesteine wie der Linksliberale , der Nationalliberale Rudolf von Bennigsen, Ernst Lieber vom Zentrum und der Sozialdemokrat August Bebel. Die Parlamentsmehrheit hatte die Feststellung des dringenden Bedürfnisses mit der Bitte an den Reichskanzler verknüpft, eine Kommission einzusetzen, die zur Vorbereitung eines Archi- tekturwettbewerbs ein Programm für den Neu- bau ausarbeiten und einen geeigneten Bauplatz finden sollte. Da abzusehen war, dass auch bei optimalen Bedingungen dieser Neubau erst in einigen Jahren bezugsfertig sein würde, wollte man überdies die „Mängel des gegenwärtigen provisorischen Zustandes“ beseitigt wissen.

„Der Schlussstein der deutschen Einigung“: die Planung, ­Errichtung und Bedeutung des ­Reichstagsgebäudes 1871 bis 1918

200 und Beleuchtung des Saales waren so, dass der konservative Abgeordnete Moritz von ­Blanckenburg feststellte, er sehe die Gesund- heit der Abgeordneten gefährdet, „wenn wir uns hier länger als irgend nöthig aufhalten“. Reichskanzler Otto von Bismarck schließlich, der nach Blanckenburg das Wort ergriff, brachte „Ein Ort der Qual“: die Sache mit der Formulierung auf den Punkt, provisorische Parlamentsgebäude der ­Sitzungssaal des Preußischen Abgeordne- tenhauses sei ein „Ort der Qual“. Die Kommission, die Anfang Juni ihre Arbeit Diese Kritik kam für eine große Zahl der Volks- aufnahm, befasste sich zunächst mit der Lö- vertreter keineswegs überraschend. Mehr als die sung der zuletzt genannten Aufgabe. Mehrere Hälfte der insgesamt 236 preußischen Reichs- Abgeordnete hatten während der Debatte am tagsabgeordneten hatte gleichzeitig ein Mandat 19. April 1871 die unzulänglichen Arbeitsbe- im Preußischen Abgeordnetenhaus; viele von dingungen beklagt, die der Plenarsaal des ihnen gehörten diesem Parlament seit einer oder ­Preußischen Abgeordnetenhauses bot, in dem seit mehreren Wahlperioden an. Zu den Altge- das neue Parlament seit seiner ersten Sitzung dienten zählte etwa Moritz von Blanckenburg, am 23. März Gastrecht genoss. Das Urteil des der seit 1852 ununterbrochen die Mängel die- nationalliberalen Abgeordneten August Braun, ses Plenarsaals hautnah hatte erfahren können. der sagte, die „ganze Anlage“ sei, „soweit sie Der Reichskanzler selbst hatte in diesem Ple- sich auf den Sitzungssaal bezieht, völlig ver- narsaal seit 1862 als preußischer Ministerpräsi- fehlt“, traf durchaus zu: Ein Teil der Abgeord- dent seine Kämpfe mit der liberalen Mehrheit neten musste mit Plätzen Vorlieb nehmen, die der preußischen Volksvertretung ausgetragen, sich gewissermaßen im Rücken des Präsidiums und er hatte diesem Parlament in dessen ersten befanden und auf denen man „weder hören beiden Wahlperioden seit 1849 angehört. Beide noch sehen kann“. Akustik, Belüftung, Heizung wussten also, wovon sie sprachen.

Seite 198 /199: Luftaufnahme des Reichstags­ gebäudes von Osten aus dem Jahr 1919.

links: Das Palais Hardenberg in der Leipziger ­Straße 75 in Berlin war von 1849 bis 1898 ­Tagungs­ort des ­Preußischen Abge­ordneten­hauses.

201 Ein Teil der Verwaltung war im kellerähnlichen Sockelgeschoss untergebracht, in dem nur bei Kunstlicht gearbeitet werden konnte; im Plenar- Das Gebäude, in dem sich der Plenarsaal be- saal stand jedem Abgeordneten etwa ein halber fand, war im Winter 1848/49 in etwas mehr als Quadratmeter Platz zur Verfügung, sodass auf zwei Monaten im Garten des Palais Hardenberg Schreibpulte an den Sitzen hatte verzichtet wer­ in der Leipziger Straße 75 in Berlin errichtet den müssen. worden, etwa da, wo sich heute die Spittel­ Obwohl die Unzulänglichkeiten des Gebäudes kolonnaden befinden. Obwohl während der offen zutage lagen, hatte die Kommission bei Bauarbeiten stark geheizt wurde, da dieser ihren Überlegungen auch die Möglichkeit in Winter sehr kalt war, scheint der Mörtel nicht ­Erwägung gezogen, das Gebäude des Abgeord- rechtzeitig trocken geworden zu sein; jedenfalls netenhauses durch Aus- und Umbau so zu opti- erinnerte sich der nationalliberale Abgeordnete mieren, dass es wenigstens ein paar Jahre lang Hans Victor von Unruh, noch jahrelang seien – man ging von fünf bis acht Jahren für die Fer- die Wände des Plenarsaals feucht gewesen: das tigstellung des Neubaus aus – beide Parlamente Parlament als Trockenwohner. Die wiederholt beherbergen könnte. aufgestellte Behauptung, die preußischen Diese Überlegungen wurden jedoch ziemlich Volksvertreter seien dadurch „einer nach dem schnell ad acta gelegt. Die Kommission schlug anderen von Krankheiten befallen“ worden stattdessen die Errichtung eines Neubaus vor, und „früh ins Grab“ gesunken, scheint ange- und zwar auf dem Gelände der Königlichen sichts dieser Tatsache doch ein bisschen mehr Porzellanmanufaktur (KPM) in der Leipziger als nur Parlamentsfolklore gewesen zu sein. Straße 4, direkt neben dem Preußischen Herren- Im Zentrum aller Klagen jedoch, die spätestens haus. Das Grundstück der Porzellanmanufaktur seit 1859 immer wieder vorgetragen wurden, war bereits Jahre zuvor für einen Neubau für stand die Tatsache, dass das Gebäude von An- das Preußische Abgeordnetenhaus im Gespräch, fang an zu klein war. Es gab nur wenige Räume der den so nachdrücklich beklagten Zuständen­ für Fraktions-, Ausschuss- und Kommissions- in der Leipziger Straße 75 ein Ende setzen sitzungen – nur die Budgetkommission, die ­sollte. Es war auch in der Reichstagsdebatte den ehemaligen Festsaal im Palais nutzte, hatte am 19. April 1871 wiederholt genannt worden, nicht nur genügend Platz, sondern dank einer und zwar zum einen für den endgültigen Neu- üppigen barocken Stuckdecke und Flügeltüren bau, zum anderen für das Provisorium, wie in Mahagoni auch ein ihrer Bedeutung entspre- es jetzt die Kommission beschlossen und am chendes Ambiente. 15. Juni dem Reichstagsplenum zur Entschei-

Die Sitzordnung im Plenarsaal des ­Preußischen Abgeordnetenhauses nach dem Umbau 1867. Dieser ­Umbau war notwendig, weil mit der Annexion verschiedener bis- her selbstständiger Länder durch Preußen nach dem Sieg im Krieg gegen ­Österreich 1866 nicht nur das ­preußische Staatsgebiet größer ­wurde, sondern auch die Zahl der Mitglieder des Preußischen ­Abgeordnetenhauses von 352 auf 432 wuchs.

202 ausreichen, schließlich habe man in Wien 1861 ein provisorisches Parlamentsgebäude aus Holz innerhalb von sechs Wochen errichtet. An die dung vorgelegt hatte. Das Gelände stand zur Adresse der Architekten in der Kommission Verfügung, da die mit der Herstellung des erklärte Bismarck, der Drohungen und subtile ­Porzellans verbundene Rauch-, Geruchs- und Erpressungen als legitime Mittel der Politik zu Lärmentwicklung nicht mehr so richtig in ein nutzen verstand, er werde notfalls ausländische städtisches Umfeld passte, das man heute als Architekten beauftragen. Selbstverständlich gehobene Wohnlage bezeichnen würde. Die wurden jetzt in aller Eile entsprechende Pläne KPM zog deshalb nach Charlottenburg, an den ausgearbeitet. Deren Verwirklichung, mit der Rand des Tiergartens. möglichst schnell begonnen werden musste, Die Kommission hatte zunächst einen Bau im wenn die Übergabe vier Monate später stattfin- Garten hinter dem Hofgebäude der Manufaktur den sollte, stand allerdings noch ein Hindernis in den Blick genommen. Dieses Gebäude aller- im Weg. Die Porzellanmanufaktur war zwar be- dings wäre nach Auskunft der beiden Fachleute reits im Umzug begriffen, hatte dafür aber noch in der Kommission frühestens im Sommer des einige Wochen eingeplant. Bismarck soll des- nächsten Jahres bezugsfertig gewesen und hätte halb erneut die Initiative ergriffen und den zu- damit eben nicht, wie allgemein erhofft und er- ständigen Mitarbeitern der Manufaktur gedroht wartet wurde, dem Reichstag bereits zur nächs- haben, er werde das gesamte noch nicht ab- ten, im Oktober beginnenden Sitzungsperiode­ transportierte Porzellan auf die Straße werfen zur Verfügung gestanden. Aus diesem ­Dilemma lassen, wenn das Haus nicht innerhalb von drei half der Kommission niemand Geringeres als Tagen geräumt sei. der Reichskanzler. Er erschien persönlich in ei- Nach diesem Husarenritt – bei Bismarck muss ner Sitzung der Kommission und erklärte mit man wohl eher von einem Kürassierritt sprechen, Nachdruck, der von der Kommission erwogene und er soll tatsächlich, wie in der Presse kol- Plan sei nicht akzeptabel; der Reichstag müsse portiert wurde, bei der KPM vorgeritten sein – bereits ab Oktober über einen neuen Sitzungs- konnte bereits am 26. Juni 1871 mit dem Bau saal verfügen, und deshalb käme nur die Über- begonnen werden. In den folgenden dreieinhalb dachung des Hofraums zwischen Vorderhaus, Monaten, allerdings wiederholt von Streiks im Quergebäude und Seitenflügel der Porzellan- Baugewerbe unterbrochen, sodass die Bauar­ manufaktur infrage. Für diese Baumaßnahme beiten etwa ein Drittel der Zeit fast vollständig würde die Sommerpause von vier Monaten gut ruhten, wurde rund um die Uhr ­gearbeitet. Die

203 die man mit den Feuchtigkeitsproblemen im Preußischen Abgeordnetenhaus gemacht hatte, wurde auf den Einsatz von Mörtel und Putz Baustelle wurde nachts von Fackeln­ und Gas- weitgehend verzichtet und im Trockenbauver- leuchten, vor allem aber von den völlig neuen fahren gearbeitet. „Es sind daher“, berichtet die elektrischen Bogenlampen in gleißende Hellig- Deutsche Bauzeitung, die auch den wesentlich keit getaucht und damit zur Attraktion­ für kleineren Sitzungssaal für den Bundesrat ein- Schaulustige. bezieht, für den ein Anbau an das Quergebäude Das Vorderhaus an der Leipziger Straße, das errichtet wurde, „in den beiden Sitzungssälen ­parallel dazu verlaufende Quergebäude und der Decke und Wände zum Teil mit hölzernem Tafel- an das Kriegsministerium, den östlichen Nach- werk bekleidet worden; im Übrigen wurden auf barn, angrenzende Seitenflügel blieben erhalten die rohen Wände Holzrahmen geheftet, diese und wurden im Inneren für den Parlamentsbe- mit Leinwand bespannt, und hierauf Tapeten trieb umgebaut. Im Vorderhaus befanden sich oder Malerei angebracht – ­allerdings eine etwas das Reichstagsrestaurant im Erdgeschoss und vergängliche und nach­theiligen Einwirkungen die Bibliothek mit Lese- und Schreibzimmern leicht ausgesetzte, ­immerhin aber die in diesem im Obergeschoss; es stand vor allem den Ab­ Falle einzig ­mögliche Konstruktion.“ geordneten zur Verfügung. Das Quergebäude Die insgesamt 400 Sitze der Abgeordneten wa- dagegen blieb dem Reichstagspräsidenten und ren amphitheatrisch, also in einem nach hinten dem Bundesrat vorbehalten; die Parlamentsste- leicht ansteigenden Halbkreis angeordnet. Diese nografen und die Verwaltung waren­ im Seiten- Sitzordnung war völlig neu in der deutschen flügel und in einigen Räumen des Vorderhauses Parlamentsgeschichte und verdankte sich ver- untergebracht. mutlich der Anregung durch die Sitzordnung In dem durch diese drei Gebäude umschlosse- der französischen Nationalversammlung im nen Hofraum wurde der Plenarsaal errichtet. ­Palais Bourbon. Durch radiale Quergänge wurde­ Man benutzte keineswegs die hofseitigen Außen- das Kreissegment der Sitze so unterteilt, dass wände dieser drei Gebäude, sondern stellte eine immer nur vier Abgeordnete nebeneinandersa- eigene architektonische Struktur, gewissermaßen ßen. Der Halbkreis war zu ­einer Längswand hin ein „Haus im Haus“, als Fachwerkbau in diesen geöffnet, in deren Mitte sich die Tribüne­ des Hof. Sicher­ auch belehrt durch die Erfahrungen, Präsidiums und das Rednerpult ­befanden.

Das provisorische Reichstags­ gebäude in der Leipziger Straße 4 mit der Fassade nach dem Umbau 1874, ­Tagungsort des Deutschen Reichstags vom 16. Oktober 1871 bis 5. Dezember 1894. Rechts im Bild das Preußische Herrenhaus; am linken Bildrand ein Teilstück der Fassade des preußischen ­Kriegsministeriums.

204 Kriegsministerium Herrenhaus

Grundriss des Hauptgeschosses des provisorischen Reichstagsgebäudes in der Leipziger Straße­ 4: 1. Vestibül 2. Foyer 3. Sitzungssaal 4. Korridore 5. Bundesrat und Reichskanzler 6. Präsident 7. Schriftführer 8. Stenografen 9. Garderobe 10. Restauration 11. Portier 12. Post und Telegrafie 13. Durchfahrten 14. Treppe zur Hofloge 15. Billet-Aus­gabe und Treppe zur Tribüne für das ­Publikum 16. Ställe etc. 17. Klosetts 18. Ventilationsschacht

205 Links und rechts davon, niedriger als das Präsi- dium, aber höher als die vorderen Reihen der Abgeordneten, standen je zwei Sitzreihen für Die Zufriedenheit über das neue Domizil wur- den Bundesrat. Die Sitze waren mit hellbrau- de allerdings bald ein wenig getrübt. Der Hin- nem Leder bezogen, und ­jeder Abgeordnete weis des Artikels in der Bauzeitung auf die Ver- hatte ein Schreibpult zur Verfügung. Kein Ab- gänglichkeit der Konstruktion erwies sich als geordneter saß mehr im ­Rücken von Präsidium Vorhersage. Am 27. Januar 1875 hielt das Proto- und Rednerpult. koll fest: „Ein Stück der Verzierung der Decke Als der Parlamentspräsident am 16. Oktober des Saales fällt mit lautem Gepolter auf das 1871 die erste Sitzung im neuen Plenarsaal er- Tischchen eines der Mitglieder herab. Allge- öffnete, fanden die Volksvertreter also Bedin- meiner Aufstand und andauernde Unruhe.“ gungen vor, die sich von den bisherigen doch Dass dieser Vorfall keineswegs einmalig war, erheblich unterschieden. Erst während der Er- sondern nur einer der Höhepunkte in einer un- öffnung der Sitzung am 20. Oktober allerdings regelmäßigen Serie, die bereits zuvor begonnen gab Reichstagspräsident hatte und sich auch in den folgenden Jahren der „Befriedigung Ausdruck“, „mit der wir uns fortsetzen sollte, wird ablesbar an der ironi- durch die Herstellung eines provisorischen schen Bemerkung des Abgeordneten Hermann Reichstagsgebäudes in den Stand gesetzt sehen, Römer. Er stellte in der Debatte über den Neu- unsere Geschäfte in diesen neuen, edlen, zweck- bau am 19. März 1873 fest, dass das Gebäude, entsprechenden Räumen, von mannigfachen das man eineinhalb Jahre zuvor mit so viel Zu- Unzuträglichkeiten der früheren Situation be- friedenheit bezogen hatte, „fast täglich durch freit, zu verfolgen“. Zugleich sprach er den kleine Zeichen zu erkennen gibt, daß es sich ­Architekten seinen Dank aus, und er bat die bereits in der Auflösung befindet“. Mitglieder des Hohen Hauses, sich zum Zei- Neben diesen vorzeitigen Alterserscheinungen chen der Zustimmung zu seinen Worten der des Plenarsaalgebäudes machten dem Parla- Befriedigung und des Dankes von ihren Sitzen ment Raumprobleme zu schaffen. Ziemlich zu erheben, was laut Protokoll auch geschah: bald wurde deutlich, dass vor allem zu wenig „Das Haus erhebt sich.“ Sitzungszimmer für Fraktionen, Kommissionen

Das provisorische Reichstags­ gebäude in der Leipziger Straße 4; Längsschnitt.

206 „Das Gebäude soll auf der östlichen Seite und Ausschüsse zur Verfügung standen. Um des Königsplatzes errichtet werden“: diesen Mangel zu beheben, wurde im Sommer der Bauplatz als Politikum 1874 das Vorderhaus aufgestockt. Im Rahmen des Umbaus erhielt das Vorderhaus eine neue Die Planungen zum Neubau waren inzwischen Fassade in Anlehnung an die florentinische keineswegs in Vergessenheit geraten. Bereits Frührenaissance. Mit dieser Gestaltung war fünf Wochen nach dem Einzug in den neuen wohl weniger der Wunsch verbunden, die Be- Plenarsaal, am 24. November 1871, legte die deutung des Gebäudes als Sitz des Parlaments Kommission dem Parlament den Entwurf des nach außen sichtbar zu machen, als vielmehr Programms für die Ausschreibung des Archi- die Anpassung an die Fassade des benachbar- tektenwettbewerbs vor. Nach einer längeren ten Kriegsministeriums, das 30 Jahre zuvor im Diskussion, in der es vor allem um die Fragen Zuge eines Um- und Erweiterungsbaus eine ging, ob die Ausschreibung international erfol- Fassade im „florentinischen Stil“ erhalten hatte, gen und wie die Jury zusammengesetzt sein den man für Bauten mit militärischer Zweck­ solle, wurde das Programm mit Mehrheit ange- bestimmung angemessen fand. Zur Bekrönung nommen und in der Woche vor Weihnachten der Fassade wurde eine Skulpturengruppe auf- veröffentlicht. Bis zum Ablauf der Ausschrei- gestellt, von der es weder eine Abbildung noch bungsfrist am 15. April 1872 waren Entwürfe eine Beschreibung gibt. Man kann auf den we- von 101 Architektenbüros eingegangen, darun- nigen Fotografien des Gebäudes, von dem das ter etwas mehr als 30 aus dem Ausland; man architektonische Image des Deutschen Reichs- hatte sich für einen internationalen Wettbewerb tags die gesamte Bismarckzeit und noch Jahre entschieden. Die Entwürfe wurden von Anfang darüber hinaus bestimmt wurde, eine Reichs- bis Ende Mai in den Räumen der Akademie krone erkennen. Die Vermutung liegt nahe, der Künste Unter den Linden öffentlich aus­ dass sie auf dem Kopf einer Germania-Figur saß, gestellt. In der ersten Juniwoche trat die Jury da der beauftragte Bildhauer Rudolf­ Siemering zusammen, deren Mitglieder sich natürlich als Germania-Spezialist gelten kann. Diese ebenso wie zahlreiche Abgeordnete während ­Germania würde eine Brücke zum endgültigen der Ausstellung im Mai einen Eindruck ver- Reichstagsgebäude bilden, dessen Fassade schafft hatten, um ihr abschließendes Urteil ebenfalls von einer Germania bekrönt wurde.­ zu fällen.

207 Den ersten Preis erhielt Ludwig Bohnstedt aus Gotha, jeweils ein zweiter Preis ging gleichran- forderlichen Bauplatz und dessen ­Erwerbung“, gig an vier Architekturbüros, darunter die Eng- denn „ehe wir zu einem definitiven Bauplan länder Scott & Scott. Der Prozess der Entschei- kommen können, müssen wir über den Bau- dungsfindung war kompliziert und langwierig; platz selbst vollständige Sicherheit haben“. offenbar hatte keiner der Beiträge die Jury rest- Das Plenum stimmte diesem Vorschlag­ per los begeistert. Zwar glaubte der Abgeordnete ­Akklamation zu. Franz Duncker, der Mitglied der Jury war, bei Diese vollständige Sicherheit war allerdings au- seinem Bericht vor dem Plenum am 12. Juni ßerordentlich schwer zu bekommen, da die Bau- versichern zu müssen, dass man mit dem Er- platzfrage weniger eine technische und ökono- gebnis des Wettbewerbs zufrieden sein könne, mische, sondern vielmehr eine politische Frage da für „gewisse Anordnungen im definitiven war. Die verschiedenen Antworten, die die im Gebäude sich jetzt schon ganz feststehende Reichstag vertretenen Parteien und Fraktionen, ­Resultate ergeben haben“. Allerdings hätte der aber auch die Regierung auf diese Frage gaben, Wettbewerb „für den Augenblick noch zu kei- hingen eng mit den Erwartungen an die Stellung nem definitiven Resultat“ geführt, da sämtliche und Bedeutung des Parlaments im ­Gefüge der Entwürfe „zu einer unveränderten Ausführung politischen Institutionen des neuen Staates zu- sich nicht eignen würden“. Das gelte auch für sammen. Und da gab es erhebliche Differenzen. den Entwurf des Siegers Bohnstedt. Duncker Diese Differenzen wurden in der Sitzung am bat seine Kollegen, das Mandat der Reichstags- 19. April 1871, an deren Ende der Beschluss abgeordneten in der Kommission, das mit dem zum Neubau stand, deutlich sichtbar. Der Ende des Wettbewerbs eigentlich abgelaufen ­Diskussion lag ein Antrag des Abgeordneten war, zu verlängern, um die notwendigen weite- ­August Braun zugrunde, in dem es heißt, „die ren Vorbereitungen für die Errichtung eines Errichtung eines monumentalen Parlaments- Reichstagsgebäudes in die Wege zu leiten. hauses“ sei „ein Bedürfnis der deutschen Nati- Dazu gehörte die „Herstellung eines definitiven on“. In seiner Begründung des Antrags erklärte Bauplans“, für den unter anderem ein zweiter Braun, „daß das Parlamentshaus, wenn ein Wettbewerb ins Auge gefasst wurde. An ihm neues gebaut wird, nicht bloß die nothdürftige sollten neben den Urhebern der fünf prämier- Unterkunft für den Reichstag“ sein solle, „son- ten Entwürfe des abgeschlossenen Wettbewerbs dern daß es überhaupt in einem großartigen, einige besonders eingeladene Architekten monumentalen Style ausgeführt wird, daß ­teilnehmen. Dazu gehörte aber auch, Klarheit er sozusagen der Schlussstein der deutschen zu bekommen über den „zu diesem Zwecke er- Einigung sein soll“.

208 Sitzung des Deutschen Reichstags im ­Sitzungssaal des provisorischen Reichstagsgebäudes in der Leipziger Straße 4. Holzstich, 1872

209 Diese Forderung Brauns war keineswegs unge- wöhnlich; sie entsprach vielmehr den zeitge- Die Sache ist komplizierter, als es auf den nössischen Architekturtheorien und den Erwar- ­ersten Blick scheint. Denn in der Tat war der tungen der Öffentlichkeit. „Monumental ist ein Machtanteil des Reichstags doch so begrenzt, Gebäude dann“, heißt es im Baulexikon von dass ein monumentales Gebäude weniger als Oscar Mothes aus dem Jahr 1866, „wenn in eine architektonische Verkörperung des beste- seinem Äußeren sich ausdrückt, daß es nicht henden Zustands und vielmehr als eine Forde- für den Privatgebrauch ... errichtet ist, sondern rung an die zukünftige Ausweitung der Kom­ daß es dem öffentlichen Leben dient ...“ Zur petenzen des Parlaments verstanden werden Präzisierung sei hier eine Formulierung aus konnte. Genau deshalb musste die Regierung, dem Kapitel „Gebäude für die Verwaltung“ des die eine solche Ausweitung verhindert sehen Standardwerks „Berlin und seine Bauten“ aus wollte, den Reichstag ins architektonische dem Jahr 1877 angeführt. Dort wird gesagt, dass ­Abseits drängen. in den letzten Jahren Gebäude für Einrichtun- Diese Strategie wurde in einer Stellungnahme gen des Deutschen Reiches „in monumentalen deutlich, die der Präsident des Reichskanzler- Ausführungen“ errichtet worden seien, da man amts, Rudolph von Delbrück, am 29. März 1871 jetzt Wert darauf lege, „durch die Gebäude in Beantwortung einer Anfrage des national­ auch die Würde und die Bedeutung der in ih- liberalen Abgeordneten Johannes von Miquel nen wohnenden Behörden zu repräsentieren“. gegeben hatte. In dieser Stellungnahme erklärte Was für Behörden recht war, musste für eine Delbrück, die Regierung habe bereits seit 1867 parlamentarische Körperschaft, die durch die Überlegungen über eine angemessene Unter- Gesetzgebung Anteil an der Regierungsgewalt bringung des Parlaments angestellt. Man habe hatte, mehr als billig sein. Die Parlamentsmehr- jetzt den Plan gefasst, hinter dem Gebäude in heit wollte ein monumentales Gebäude errich- der Wilhelmstraße 74, das im Vorjahr für die tet sehen, das die „Würde und Bedeutung“ des Büros des Bundeskanzleramts angekauft wor- Reichstags öffentlich sichtbar machen sollte. den war, einen Sitzungssaal zu errichten; der Dafür schien ihr das Beste gerade gut genug. Zugang werde über die Königgrätzer Straße er- Umgekehrt war die Regierung an einer solchen folgen, bis zu der das Grundstück reichte. Dort demonstrativen Selbstdarstellung des Parla- sei ein Gebäude geplant, in dessen Erdgeschoss ments umso weniger interessiert, als es ihr da­ das Parlamentsrestaurant untergebracht werden rauf ankam, die Rolle des Reichstags nicht in könne und in dessen Obergeschoss die Dienst- den Vordergrund zu stellen. wohnung des Reichstagspräsidenten Platz fände.

links: „Eine Sitzung des neuen Deutschen Reichstags“. Zeichnung, 1881

rechts: Sitzung des Deutschen Reichstags im ­Sitzungssaal des provisorischen Reichstagsgebäudes in der Leipziger Straße 4. Am Rednerpult der Abge- ordnete Hermann Schulze-Delitzsch, über ihm Reichstagspräsident Max von Forckenbeck; am ­linken Bildrand Reichskanzler Otto von Bismarck. Zahlreiche Abge­ordnete stehen um den Stenografentisch, um den Redner besser verstehen zu können. Holzschnitt, 1874

210 Gegen diesen Plan erhoben mehrere Abgeord- nete Widerspruch – mit größtem Nachdruck Hans Victor von Unruh, der hervorhob, dass Einrichtung entsprechend der Größe der Be- der Vorschlag der Regierung in keiner Weise deutung, die sie haben soll, ... würdig ausfalle“. der Bedeutung und dem Status des Reichstags Es stelle sich aber „die Frage: Soll den geschäft- gerecht werde. „Ein Gebäude hinter dem Bun- lichen oder soll den ornamentalen Rücksichten deskanzler-Amt wäre gewissermaßen versteckt, mehr gefolgt werden“. Angesichts dieser Alter- es bildete ein Hintergebäude mit der Haupt- native, vor der das Parlament ­angeblich stehe, front nach dem Thiergarten hin.“ Zwar könne habe er bei seiner Stellung „natürlich eine Vor- man sich ein schöne Fassade zur Königgrätzer liebe für die geschäftlichen Rücksichten“, und Straße vorstellen; früher oder später aber würde das heißt für ein Reichstagsgebäude­ in der Nähe dieses Eingangsgebäude zwischen anderen Ge- des Kanzleramts, des Auswärtigen Amtes und bäuden an dieser Straße stehen. „Ein Gebäude anderer oberster Staatsbehörden in der Wilhelm­ an einer Straßenfront, sie können ihm eine hüb- straße. Der Reichskanzler gab offen zu, dass sche oder eine schlechte Schürze vorbinden, er natürlich auch seine eigene Bequemlichkeit bleibt aber nur eine einfache Facade, nichts im Auge ­hatte; er wollte von seiner Dienst­ weiter.“ Es könne aber, so von Unruh weiter, wohnung und seinen Amtsräumen in der „ein Gebäude ... den monumentalen Charakter ­Wilhelmstraße einfach nicht zu weit laufen. nicht an den Tag legen, wenn es nicht mög- Wenn er allerdings das Schreckensbild von lichst frei steht“. ­Beamten entwirft, die täglich mehrere Male Die Wahl des Bauplatzes war also von zentraler zwischen ihren Amtsräumen und dem aus Bedeutung für die Frage, ob ein monumentales „ornamentalen Rücksichten“ weit entfernten Reichstagsgebäude überhaupt errichtet werden Reichstagsgebäude hin und her laufen und könnte, wie die Parlamentsmehrheit es wollte, ­Akten schleppen müssten, kann man nicht oder nicht, wie es sich die Regierung vorstellte. wirklich ernst bleiben. Denn es ging nicht um Es war der Kanzler selbst, der diesen Gegensatz weite Fußwege für Geheimräte, sondern um zwischen den Wünschen der Mehrheit des Par- die Tatsache, dass ein Gebäude, das aus „ge- laments und den Vorstellungen der Regierung schäftlichen Rücksichten“ in der Nähe des in seinem Beitrag zur Debatte am 19. April for- Reichskanzleramts und der Ministerien in mulierte, aber auch erheblich herunterspielte der Wilhelmstraße errichtet würde, wegen des und terminologisch entschärfte. Selbstverständ- Mangels eines ausreichend großen Grundstücks lich sei auch er der Meinung, dass „die neue eben nicht monumental sein könnte.

211 Die Konfliktlinien, die hier zutage treten, ver- liefen allerdings nicht nur zwischen dem Par­ ans Herz, „mit Rücksicht auf unsere Geschäfts- lament und der Regierung, sondern sie liefen verwaltung den Platz auszusuchen“; es war mitten durch das Parlament hindurch. Der nur konsequent, dass er über den Plan, den der Beschluss für einen Neubau war ja keineswegs Präsident des Reichskanzleramts drei Wochen einstimmig, sondern mit sehr großer Mehrheit zuvor skizziert hatte, nämlich das Reichstags­ erfolgt; es musste also eine Minderheit geben, gebäude im Garten dieses Amtes zu errichten, die glaubte, diesen Beschluss nicht unterstüt- meinte, „daß dies die allerglücklichste Lösung zen zu können. Wie viele Abgeordnete dazu wäre“. ­gehörten und wer genau sie waren, ist nicht Nicht ganz so überschwänglich formulierte ­bekannt; da die Mehrheitsverhältnisse für Franz von Hoverbeck für die Fortschrittsfrak­ ­Präsidium und Schriftführer eindeutig waren, tion seine Zustimmung zu diesem Plan, „der wurde auf eine namentliche Abstimmung ver- keineswegs zu verwerfen“ sei. Dieser linkslibe- zichtet. Ausdrücklich abgelehnt wurde die ralen Partei war das Maß der Beteiligung an Mehrheitsmeinung jedoch von Vertretern zweier der politischen Macht, das die Verfassung dem Fraktionen, die entgegengesetzte Extreme im Parlament zugestand, nicht groß genug. Offen- politischen Spektrum des Reichstags vertraten: bar bestand die Befürchtung, ein aufwendiges den Altkonservativen auf der äußersten Rech- und repräsentatives Reichstagsgebäude könnte ten und der Fortschrittspartei auf der Linken; dieses Machtdefizit verdecken und langfristig links von ihnen war nur noch August Bebel. vergessen lassen. Dass der Beschluss, der am Die Altkonservativen, eine rein preußische Ende dieser Debatte gefasst wurde, in seiner ent- ­Partei, die mit 50 Abgeordneten im Reichstag scheidenden Formulierung von dem Antrag des vertreten waren, lehnten als überzeugte Monar- Abgeordneten August Braun erheblich abwich, chisten die Verfassung ebenso ab wie das Par­ geht auf einen Zusatzantrag des linksliberalen lament. Diese Ablehnung hinderte sie jedoch Albert Hänel zurück. Aus dem „monumentalen keineswegs daran, zur Wahrnehmung ihrer In- Parlamentshaus“ wurde ein „der Vertretung des teressen beides zu nutzen. Dass sie nicht daran deutschen Volkes würdiges Reichstagshaus“; dachten, dem Parlament, von dem sie hofften, die „deutsche Nation“ verschwand und kehrte es werde ein Intermezzo bleiben, durch ein nur indirekt in ihren Vertretern wieder. So hätte ­repräsentatives Gebäude öffentliche Aufmerk- auch Bismarck den Beschluss unterschreiben samkeit und Prestige zu verschaffen, liegt auf können, und vielleicht war dieser Kompromiss der Hand. Ihr Wortführer, Moritz von Blancken- der einzige Weg, um zu einer „sehr großen burg, legte in seinem Beitrag der Kommission Majorität“ zu kommen.

Fotografie des Palais Raczynski auf der ­Ostseite des Königsplatzes aus dem Jahr 1876.

212 Die Kommission jedenfalls fasste den Auftrag, den sie mit diesem Beschluss bekommen hatte, so weit auf, dass wieder Platz für das „monu- mentale Parlamentshaus“ entstand. In den Aus- Plänen von Johann Heinrich Strack im Stil schreibungsunterlagen für den Architekturwett- des Berliner Spätklassizismus, beherbergte das bewerb, die der Reichstag am 24. November ­Palais eine öffentlich zugängliche Galerie, in 1871 angenommen hatte, war am Ende zu le- der die Kunstsammlung des Grafen ausgestellt sen: „Die Konkurrenzprojekte sollen nicht nur war, ­einige Künstlerateliers und eine Wohnung, die zweckmässigste Lösung der vorliegenden die der Graf während seiner Berlinaufenthalte­ Aufgabe versuchen, sondern zugleich die Idee nutzte. Es kam also jetzt auf die Bereitschaft­ eines Parlamentsgebäudes für Deutschland im des Grafen an, sein Palais zu verkaufen. monumentalen Sinne verkörpern.“ Wenn ein Der Graf, der als Mitglied des Preußischen Her- monumentales Gebäude aber möglichst frei renhauses und überzeugter Monarchist dem ­stehen muss, wie der Abgeordnete Hans Victor Parlament ohnehin ablehnend gegenüberstand, von Unruh am 29. März im Reichstag erklärt wollte aber nicht verkaufen. Er hatte seine hatte, kam nur ein Baugrundstück infrage, das ablehnende Haltung bereits im August 1871 diese Bedingungen erfüllte. Dass man es gefun- öffentlich bekannt gemacht, und zwar im Vor- den hatte, wurde den an der Ausschreibung wort eines Katalogs zu seiner Gemäldeausstel- ­interessierten Architekten gleich im ersten lung, aus dem der Abgeordnete Ernst Lieber in Satz der Ausschreibung mitgeteilt. Schließlich der Reichstagssitzung am 24. November 1871 mussten sie ja wissen, welchen Bauplatz sie vorlas. Lieber wollte seine Kollegen darauf auf- ­ihren Planungen zugrunde zu legen hatten. merksam machen, dass die Standortfestlegung „Das Gebäude soll auf der östlichen Seite des im ersten Satz des von der Kommission vorge- Königsplatzes errichtet werden ...“ legten Ausschreibungstexts nicht unproblema- Ungesagt blieb allerdings, dass dieses Grund- tisch sei. Die Zweifel an der Möglichkeit, das stück bereits bebaut war. Hier stand das Palais neue Reichstagsgebäude an der Ostseite des des Grafen Athanasius Raczynski, dem das ­Königsplatzes bauen zu können, wurden noch Grundstück am Ostrand des Königlichen Tier- verstärkt, als der Chef des Reichskanzleramts gartens von König Friedrich Wilhelm IV. 1842 anschließend das Plenum über ein Schreiben für die Verdienste, die er sich während seiner des Grafen vom 1. September an Wilhelm I. in- jahrzehntelangen Tätigkeit als preußischer Di­ formierte, in dem Raczynski seinen König da­ plomat erworben hatte, zur Verfügung gestellt rum bat, ihn zu schützen. Dass der Graf bereits worden war. Erbaut von 1844 bis 1847 nach Wochen und Monate vor der Entscheidung des

213 Reichstags von dem Plan wusste, das Reichs- tagsgebäude auf seinem Grundstück zu errich- ten, verdankt sich der Tatsache, dass der Ab­ geordnete von Unruh als Berichterstatter der Kommission bereits am 15. Juni, als das Provi- sorium auf der Tagesordnung stand, dem Ple- Als Franz Duncker am 12. Juni 1872 im Plenum num mitteilte, man habe auch bereits eine Ent- das Ergebnis des Architektenwettbewerbs be- scheidung über den Standort für den Neubau kannt gab und diese Bekanntgabe mit der Bitte getroffen. Diese Nachricht fand natürlich ihren verband, das Mandat der Reichstagsmitglieder Weg in die Presse und gelangte so nicht nur in der Kommission zu verlängern, hatte man in die allgemeine Öffentlichkeit, sondern auch weder einen brauchbaren Plan noch einen be- zur Kenntnis des Grafen. baubaren Platz. Alle Versuche, mit dem Grafen Natürlich waren der Kommission die Interven- doch noch zu einer einvernehmlichen Lösung tionen des Grafen nicht unbekannt geblieben; zu kommen, die das Reichskanzleramt in der sie hielt dennoch an diesem Bauplatz fest. Als zweiten Hälfte des Jahres 1872 auf Wunsch der Berichterstatter erklärte von Unruh in der Sit- Kommission unternahm, scheiterten; spätes- zung am 24. November, es sei „in Wirklichkeit tens zum Jahresende war klar, dass ein anderer gute Aussicht vorhanden, daß der Platz uns ge- Bauplatz gesucht werden musste. geben werden kann“. Offenbar rechnete man Man fand ihn ebenfalls am Königsplatz, dem fest damit, dass im Fall der Weigerung des Palais Raczynski gegenüber auf der Westseite ­Grafen zu verkaufen, eine Enteignung durch­ des Platzes in dem Grundstück des Kroll’schen geführt werde. Dieser Optimismus war völlig Eta­blissements. Es handelte sich um ein Aus­ unbegründet. Man hätte wissen müssen, dass flugs­lokal für die gehobenen Stände mit an­ unabhängig von allen damit verbundenen juris- spruchsvoller Erlebnisgastronomie, das der tischen Problemen Kaiser Wilhelm I. niemals­ Breslauer Gastronom Joseph Kroll auf Einladung eine Entscheidung seines Bruders rückgängig König Friedrich Wilhelms IV. 1844 eröffnet machen würde. Offenbar wusste Bismarck, der ­hatte. in der Sitzung am 19. April 1871 diesen Platz Die juristische Situation war der des Palais ins Gespräch brachte, was er sagte, als er von ­Raczynski ähnlich. Da das Unternehmen jedoch der Möglichkeit sprach, das Palais des Grafen seit Jahren mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten käuflich zu erwerben, über eineEnteignung ­ kämpfte, war der Eigentümer sofort bereit zu aber kein Wort verlor. verkaufen.

Das Kroll’sche Etablissement auf der Westseite des Königsplatzes. Lithografie, 1845

214 Mag sein, dass der eine oder andere ältere Herr tatsächlich um seine Gesundheit besorgt war. In Wirklichkeit ging es aber keineswegs um Der Reichstag wollte aber nicht kaufen. Als große Entfernungen und Erkältungen, auch die Kommission ihren Bericht mit diesem wenn man zugeben muss, dass der Königsplatz ­Vorschlag am 19. Mai 1873 im Plenum ein- damals mindestens ebenso unwirtlich war, brachte, entspann sich eine kontroverse De­ wie der Platz der Republik manchem heute batte. August Reichensperger, einer der Wort­ erscheint; in Wirk­lichkeit ging es auch keines- füh­rer der Zen­trumsfraktion, der bereits in wegs um Ästhetik, Städtebau und Sparsamkeit. den ­Sitzungen der Kommission gegen Kroll Es ging um einen politischen Protest im Gewand ­gestimmt hatte, machte ästhetische, städtebau­ eines Votums gegen einen Bauplatz. Natürlich­ liche und damit verbundene finanzielle Argu- waren unter denen, die gegen den Kommissions- mente geltend. Im Zentrum aller Vorbehalte vorschlag stimmten, nicht wenige Konservative ­gegen den Vorschlag der Kommission, das und Linksliberale, die einem monumentalen Reichstagsgebäude­ auf der Westseite des Königs- Gebäude weiterhin ablehnend gegenüberstan- platzes zu errichten, stand jedoch die Befürch- den. Die meisten Gegenstimmen aber kamen tung, der Weg dorthin könne zu weit sein, und aus der Zentrumsfraktion, von der man ver­ man werde sich auf diesem Weg leicht erkälten. muten darf, dass sie zwei Jahre zuvor noch zu Dass diese Bedenken die Grenzen der Skurrili- der großen Majorität gehört hatte. tät streiften, brachte der Abgeordnete Hermann Dass die Zentrumsfraktion jetzt gegen den Plan ­Römer zum Ausdruck, als er „das in den Kreisen stimmte, verdankt sich dem Kulturkampf, in der Reichstagsmitglieder umherschleichende dem der politische Katholizismus und seine Gespenst der großen Entfernung“ beschwor. Organisation, die Zentrumspartei, auf der einen Als am Ende der Debatte über den Vorschlag Seite standen, Bismarck und die Liberalen ge- namentlich abgestimmt­ wurde, nahmen 152 Ab- meinsam auf der Gegenseite. Die Liberalen geordnete einen Antrag an, in dem die Westseite­ glaubten, durch eine Reihe von Gesetzen, die des ­Königsplatzes abgelehnt und unter ande­ sie unterstützten, die Modernisierung der Ge- rem der Platz hinter der Porzellanmanufaktur sellschaft durch die Vollendung der Trennung vor­geschlagen wurde; gegen diesen Antrag und von Kirche und Staat gegen eine Partei durch- damit implizit für den Vorschlag der Kommis- setzen zu müssen, von der die Modernisierung sion stimmten 82 Abgeordnete. bekämpft und diese Trennung behindert werde;

215 das vorläufig letzte dieser Gesetze, der „Kanzel- paragraf“, der Geistlichen im Amt die Stellung- Die Kommission hatte die Aufgabe, die in dem nahme zu politischen Themen bei Strafe ver- Parlamentsbeschluss genannten möglichen bot, war wenige Tage vor der Debatte über das Bauplätze ebenso zu überprüfen wie insgesamt Reichstagsgebäude im Preußischen Abgeordne- mehr als 60 weitere Standorte, die von ver- tenhaus verabschiedet worden. Bismarck hin- schiedenen Seiten vorgeschlagen wurden. Sie gegen beschwor wiederholt die Gefahr, die für kam nach eingehender Prüfung zu dem Ergeb- die deutsche Einheit von der Zentrumspartei nis, dass sich eigentlich nur die Westseite des ausgehe, von der er behauptete, sie sei vom Aus- Königsplatzes für ein monumentales Gebäude land, vom Vatikan gesteuert. Mag sein, dass er eigne, und sie legte dieses Ergebnis dem Reichs- an diese Möglichkeit glaubte; die Wahrschein- tag am 25. Februar 1874 vor. Die Tatsache, dass lichkeit ist jedoch groß, dass es ihm mehr auf die Kommission erneut den Bauplatz vorschlug, die Ausgrenzung der Katholiken ankam, auf die der im vergangenen Jahr von einer erheblichen Konstruktion eines Feindbilds, gegen das ver- Mehrheit abgelehnt worden war, sorgte für ei­ schiedene politische Gruppen mit ganz hetero- nige Aufregung. Am Ende der Debatte erfolgte genen Interessen zu einer gemeinsamen Front eine namentliche Abstimmung, bei der der Vor- mobilisiert werden konnten. schlag der Kommission erneut abgelehnt und Die Zentrumspartei hatte also gar keinen Grund, der Platz hinter der Porzellanmanufaktur er- ein Lieblingsprojekt der Nationalliberalen mit- neut vorgeschlagen wurde. Bei dieser Abstim- zutragen. Sie hatte ihn umso weniger, als das mung waren die Mehrheitsverhältnisse aller- zukünftige Reichstagsgebäude immer wieder dings nicht mehr so deutlich wie im Vorjahr, und in immer neuen Wendungen als „Denkmal da 130 Abgeordnete gegen und 120 Abgeordne- der endlich errungenen Einheit“ beschworen te für den Vorschlag der Kommission stimmten. wurde. Von eben dieser Einheit aber war man Zu denen, die den Vorschlag ablehnten, gehör- in den Augen derjenigen, die als „Reichsfeinde“ ten dieses Mal nur 14 Konservative; mehr als ausgegrenzt wurden, weiter entfernt denn je. die Hälfte der Stimmen gegen den Vorschlag Kein Grund also, die Errichtung von Denkmä- kam von der Zentrumsfraktion, an deren Moti- lern der Einheit zu unterstützen. ven sich nichts geändert hatte.

Abgeordnete in der Wandelhalle des ­provisorischen Reichstagsge- bäudes in der Leipziger Straße 4. 1889

216 Dass offensichtlich bei dieser Abstimmung weniger Konservative den Vorschlag ablehnten, das Reichstagsgebäude auf dem Gelände des Kroll’schen Etablissements zu errichten, hat In den nächsten drei Jahren kam die Sache nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass die nicht voran. Am 10. Juli 1879 lag dem Parla- Konservativen bei der Reichstagswahl im ment ein Antrag vor, der nicht von der Kom- ­Januar 1874 erhebliche Stimmenverluste hatten mission, sondern von Preußen über den Bun- hinnehmen müssen, sondern sicher auch da- desrat eingebracht worden war. Das Gelände mit, dass all­gemein bekannt war, dass Kaiser auf der Ostseite des Königsplatzes, das acht Wilhelm I. diesen Platz favorisierte. Der Kaiser, Jahre zuvor die erste Wahl gewesen war, sollte der wohl nie verstand, wozu ein Parlament ei- zum Bauplatz für das Reichstagsgebäude be- gentlich notwendig ist, versteifte sich in dem stimmt werden. Die seit dem Tod des Grafen Maße auf diesen Platz, in dem der Reichstag Raczynski wiederholt unternommenen Versu- ihn beharrlich ablehnte. Es verwundert deshalb che, mit seinem Sohn und Erben zu einer Eini- keineswegs, dass im Februar 1876 dieser Platz gung zu kommen, konnten im April 1879 mit dem Reichstag erneut, zum dritten Mal vor­ der Bereitschaft des Grafen erfolgreich abge- geschlagen und erneut abgelehnt wurde. Die schlossen werden, das Gebäude am Königsplatz Wahrscheinlichkeit ist groß, dass bei dieser Ab- dem preußischen Fiskus gegen eine angemes­ stimmung, die nicht namentlich erfolgte, auch sene Entschädigung zu überlassen. Im Verlauf Abgeordnete eine Gegenstimme abgegeben hat- der Plenardebatte stellte sich jedoch heraus, ten, die eigentlich nichts gegen diesen Bauplatz dass offenbar eine Mehrheit des Parlaments einzuwenden hatten, die aber in einem Macht- diesem Antrag nicht zustimmen konnte und kampf mit dem Kaiser nicht klein beigeben wollte. Es war erneut der Zentrumsabgeordnete wollten, der im Inkognito der Suche nach dem August Reichensperger, der sich vehement Bauplatz für das Reichstagsgebäude ausgefoch- gegen den Antrag aussprach. Er stellte einen ten wurde. Am Ende nahm der Reichstag einen Gegenantrag, in dem der Reichskanzler ersucht Antrag des freikonservativen Abgeordneten wurde, Ermittlungen darüber anzustellen, ob ­Lucius von Ballhausen an, der keinen bestimm- sich der sogenannte Kleine Königsplatz oder ten Platz vorschlug, aber die Kommission be- Alsenplatz – das ist etwa die Fläche zwischen auftragte, ihre Suche fortzusetzen. Paul-Löbe-Haus und Bundeskanzleramt – für die

217 gebäude zur Verfügung zu stellen, war ein An- gebot Bismarcks, ein Geschenk an die National- Er­richtung des Reichstagsgebäudes eignete. liberalen gewissermaßen, mit dem er hoffte, Dieser Antrag wurde mit Mehrheit angenom- die Partei in Sachen Handels- und Steuergesetz­ men; die Mehrzahl der Abgeordneten, die gebung auf seine Seite ziehen zu können. Der diesem Antrag zustimmten, dürften gewusst Bundesratsbevollmächtigte von Braunschweig- haben, dass Kaiser Wilhelm I. zu diesem Platz Lüneburg jedenfalls sah ganz klar, dass dieser auf gar keinen Fall seine Zustimmung geben Plan „jetzt verfolgt wird, um dem Reichstage – würde. vielleicht nicht einmal allen Mitgliedern des- Dass dieses Mal die Front der Ablehnung erneut selben – etwas Angenehmes zu tun“. von der Zentrumsfraktion angeführt wurde, Im Sommer stellte sich heraus, dass zwar eine verdankt sich einer politischen Konstellation, ganze Reihe nationalliberaler Abgeordneter die gegenüber der Konstellation des Jahres schweren Herzens den neuen Steuergesetzen 1873 völlig verändert war. Die Regierung war zustimmen würde, dass deren Zahl aber kaum in diesem Frühjahr und Sommer 1879 dabei, für eine Mehrheit im Parlament ausreichen eine bereits länger vorbereitete grundsätzliche würde. Gleichzeitig wurde klar, dass die Zen­ wirtschaftspolitische Kehrtwendung vom Frei- trumsfraktion bereit wäre, zusammen mit den handel zum Schutzzoll zu vollziehen. Diese Konservativen die Gesetze zu unterstützen. Kehrtwendung konnten die Nationalliberalen, Diese Wende des Zentrums zur „Regierungs­ die seit der Reichsgründung kontinuierlich in partei“ hat mit der Tatsache zu tun, dass der Kooperation mit Bismarck die legislatorischen Kulturkampf seit zwei Jahren bereits reduziert Grundlagen des neuen Reiches geschaffen hat- wurde und seine Maßnahmen sukzessive be­ ten und zu deren Credo der Freihandel gehörte, seitigt wurden. Unabhängig von der Frage, ob natürlich nicht mitmachen. Gleichwohl ver- ­Bismarck je glaubte, dass die Zentrumspartei suchte der Reichskanzler, die Unterstützung von Rom gesteuert werde und eine Gefahr für dieser Partei zu bekommen, mit der er seit Jah- die deutsche Einheit sei, bleibt die Tatsache be- ren gut zusammenarbeitete. Das Angebot der stehen, dass die Fortsetzung des Kulturkampfs preußischen Regierung, das Grundstück auf der politisch nicht opportun war. Denn sie bewirkte Ostseite des Königsplatzes für das Reichstags- das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Der

Luftaufnahme des Reichstags­ gebäudes von Osten. In der Bild­ mitte der Königsplatz mit der Sieges­säule; im Hintergrund am oberen Bildrand die Kroll-Oper; rechts davon das ­Gebäude des ­Generalstabs, das zwischen 1867 und 1871 errichtet wurde und von 1919 bis 1945 das Reichsinnen­ minis­terium ­beherbergte. Auf dem Grundstück dieses Gebäudes, das im Zweiten Weltkrieg ­zerstört wur- de, steht heute das Bundeskanzler- amt. Rechts neben dem Reichstags- gebäude die Wohnbebauung des ­sogenannten Alsenviertels. Hier steht heute das Paul-Löbe-Haus. 1919

218 Druck von außen während des Kulturkampfs hatte zu einer Solidarisierung innerhalb des ­politischen Katholizismus geführt; die Zen­ Am 13. Dezember 1881, gut zehn Jahre nach trums­fraktion konnte ihren Stimmenanteil in den ersten Verhandlungen über den Neubau ei- der Reichstagswahl 1874 um fast zehn Prozent nes Reichstagsgebäudes, war es endlich soweit. steigern und war nach den Nationalliberalen Auf eine erneute Initiative des Bundesrats hin, die zweitstärkste Fraktion. Andererseits darf die nicht von Bismarck ausging, der sogar die nicht übersehen werden, dass nach anfängli- Unterschrift verweigerte, hinter der aber Kaiser chem Zögern auch die Interessenvertreter der Wilhelm gestanden haben soll, wurde der An- Landwirtschaft bereit waren, die Wendung zum trag, das Reichstagsgebäude auf der Ostseite Schutzzoll zu vollziehen. Da fast die Hälfte der des Königsplatzes, auf dem Gelände des Palais Reichstagsabgeordneten der Zentrumsfraktion Raczynski, zu errichten und alle dazu erforder- dem grundbesitzenden Adel aus den katholi- lichen Schritte in die Wege zu leiten, von einer schen Teilen des Reiches angehörte, gab es großen Mehrheit des Reichstags angenommen. auch ein direktes Interesse an der Unterstüt- Auch jetzt hatte August Reichensperger ver- zung dieser Gesetze. sucht, diesen Beschluss zu verhindern; nach Damit konnte das großzügige Angebot, das dramatischen Appellen einiger führender Par- ­Geschenk, das Bismarck den Nationalliberalen lamentarier, die deutlich machten, dass dies ­zugedacht hatte, zurückgezogen werden. Natür- die wohl letzte Möglichkeit auf lange Zeit sein lich konnte die Regierung das nicht selbst werde, zu einem definitiven Neubau für den ­machen, sondern suchte und fand in August Reichstag zu kommen, blieb seine Intervention ­Reichensperger und den neuen Bundesgenos- erfolglos. Der Bauplatz für das Reichstags­ sen aus der Zentrumsfraktion willkommene gebäude hatte aufgehört, ein Stein im Spiel ­Erfüllungsgehilfen. der Politik zu sein.

219 die von der Reichstagsbaukommission formu- liert wurden. Auch die Preußische Akademie des Bauwesens, die auf besonderen Wunsch des Reichskanzlers zur Begutachtung hinzuge- „Mannigfache Hindernisse“: zogen worden war, signalisierte grundsätzliche die Errichtung des Gebäudes 1882 bis 1894 Zustimmung. Daraufhin beschloss die Reichs- tagsbaukommission im Dezember, die Pläne Im Februar 1882 konnte ein zweiter Wettbe- dem Reichstag zur Annahme vorzuschlagen. werb ausgeschrieben werden. Anders als beim Im Januar 1883 wurden im Foyer des provisori- ersten Wettbewerb war die Ausschreibung schen Reichstagsgebäudes ein Modell und ein auf deutschsprachige Länder beschränkt; die Querschnitt durch das Gebäude ausgestellt, Preisträger des ersten Wettbewerbs wurden aus- um die Abgeordneten auf die Entscheidung drücklich zur Teilnahme eingeladen. Bis zum vorzubereiten. Abgabetermin am 10. Juni gingen 188 Beiträge Bevor jedoch der Punkt auf die Tagesordnung ein. Die Jury konnte ihre Entscheidung bereits gesetzt werden konnte, kam unerwarteter Ein- zwei Wochen später bekannt geben. Als Sieger spruch. Dem Reichskanzler lag der Sitzungssaal ging keiner der teilnehmenden Stararchitekten, zu hoch. Die 60 Treppenstufen, die zu bewälti- sondern der bisher wenig bekannte Frankfurter gen waren, um in den Saal zu kommen, waren Architekt Paul Wallot aus dem Wettbewerb ihm zu viel. Keine der bisher an der Prüfung ­hervor. Anders übrigens als beim ersten Wett- und Begutachtung beteiligten Instanzen hatte bewerb wurden die Entwürfe erst nach der Ent- daran etwas auszusetzen gehabt; die Vermutung scheidung der Jury öffentlich ausgestellt, um liegt nahe, dass es Bismarck weniger um seine publizistische Einflussnahme auf die Entschei- und der Abgeordneten Kurzatmigkeit ging, son- dung zu verhindern. dern vielmehr darum, wenigstens zu verzögern, Mit dem Wettbewerbssieg war keineswegs die was offenbar nicht mehr zu verhindern war. sofortige Beauftragung verbunden. Der Archi- Für diese Vermutung gibt es zwei Zeugen, tekt sah sich vielmehr veranlasst, zunächst vor deren Zeugnis umso glaubwürdiger ist, da sie allem die Grundrisse zu überarbeiten und dabei ­beide nicht als Bismarck-Gegner bezeichnet vor allem kritische Einwände und präzisierte werden können. „Das Neueste, das hier passiert­ Nutzungsanforderungen zu berücksichtigen, u. wiederum alle Gemüter aufregt“, schrieb

220 ten und deren Prüfung warten. Obwohl die Akademie des Bauwesens ihre Sitzung am Vor- tag abgehalten, aber noch kein Gutachten er- Karl Oldenburg, der Vertreter Mecklenburgs im stellt hatte, beschloss der Reichstag am 9. Juni Bundesrat, am 11. Februar an seine Frau, „ist 1883 auch ohne vollständig abgeschlossene der neueste Schlag, den Bismarck dem Bau des Prüfung „fast einstimmig“, „den Reichskanzler Reichstagsgebäudes versetzt hat. Es ist gerade- zu ersuchen, unter Mitwirkung der Parlaments- zu unglaublich: Straßen und Häuser im Werte Baukommission den Bau des neuen Reichs­ von 10 Millionen sind niedergerissen, die ganze tagsgebäudes bei möglichster Festhaltung Welt der Architekten hat mit Mühe und Kosten der Grundzüge des von dem Architekten zu den Plänen beigetragen, da fällt es mit einem Wallot entworfenen Planes zur Ausführung Male Jupiter Tonans ein – was bereits vor Jah- zu bringen“. resfrist bestimmt war – daß die neuen Sitzungs- Die Geduld des Parlaments war am Ende. Dass säle 50 Stufen hoch zu liegen kommen …“ der Reichstag „nach dreizehnjährigem Bestehen Und dabei waren es noch zehn Stufen mehr. jetzt erst an den Reichstagsbau“ gehen kann, Lucius von Ballhausen, der Bismarck nahe- verdanke sich, wie der Abgeordnete Ludwig stand und dessen Verzögerungstaktik in Sachen Bamberger in seinem Beitrag zu dieser Debatte Reichstag seit Jahren beobachten konnte, fasste wohl nicht nur mit Blick auf die jüngste „Sit- in ­seinem Kommentar zu dem Vorgang kurz zungssaal-Krise“ erklärte, „besonders ungüns­ und knapp zusammen: „Seit zehn Jahren be- tigen Umständen“, „gegen welche dieser Plan handelt er den Bau dilatorisch und scheint von Anfang an zu kämpfen hatte“. Zu diesen nicht abgeneigt, ihn weiter zu verschleppen.“ Umständen gehörte auch „die Ungunst, die Ein Einwand von dieser Stelle, der sofort auch der ganzen Sache von oben entgegengebracht offiziell als preußischer Antrag im Bundesrat ward … und es lag, möchte ich sagen, etwas aktenkundig wurde, musste selbstverständlich symbo­lisches darin, daß gerade die Herstel-­ berücksichtigt werden. Wallot war gezwungen, lung des Reichstagsgebäudes, der Ausbau der die Grundrisse noch einmal vollständig zu inneren Repräsentation der deutschen Nation, überarbeiten; der Reichstag musste mit seiner kühl behandelt ward und auf mannigfache Entscheidung bis zum Abschluss dieser Arbei- ­Hindernisse stieß“.

221 der Westseite befanden sich in der Nordhälfte – also wenn man vor der Hauptfassade steht: Die Grundrisse, die dieser Entscheidung zu- links des Portals – der Lese- und der Schreib- grunde lagen, auf die hin Paul Wallot wenige saal, in der Südhälfte das Reichstagsrestaurant. Tage später vertraglich mit der Bauausführung Zwischen Lesesaal, Westportal und Reichs­- beauftragt wurde, mussten allerdings noch ein- ­tags­restaurant auf der einen Seite und dem mal überarbeitet werden; das Ergebnis dieser Sitzung­ssaal und den beiden Innenhöfen auf Überarbeitung lag im Oktober 1883 vor. Das der anderen Seite befand sich die dreiteilige wichtigste Geschoss ist ohne Zweifel das Haupt- Wandelhalle. Ihre Größe war im Ausschrei- geschoss mit dem Sitzungssaal im Zentrum, bungsprogramm mit mindestens 500 Quadrat- der allerdings gegenüber dem Schnittpunkt metern angegeben – heute würden wir sie wohl der beiden Achsen etwas in Richtung Osten als Foyer oder besser als Lobby bezeichnen. verschoben ist. Er hat eine Fläche von rund Die eigenwillige Form dieser Halle mit zwei 600 Quadratmetern und Sitze für 400 Abgeord- langrechteckigen Raumteilen jeweils vor den nete. Die Anordnung der Sitze, des Präsidiums, Innenhöfen und einer gewaltigen Rotunde vor der Rednertribüne und der Bänke für den Bun- dem Sitzungssaal in der Mitte verdankt sich desrat folgt weitgehend dem Vorbild­ des Sit- ­einer Forderung, die von der Akademie des zungssaals im provisorischen Reichstagsgebäu- Bauwesens in ihrem Gutachten zu dem Grund- de; die Tribünen für Presse und Publikum, die rissentwurf Wallots geäußert worden war, der wie in diesem Gebäude den Sitzungssaal auf dem Beschluss des Reichstags und der Beauf- drei Seiten umgeben, befinden sich im Zwi- tragung des Architekten zugrunde lag. Die Aka- schengeschoss. Den Ausschreibungsunterlagen demie glaubte nicht nur, ein „Mißverhältnis hatte man drei Grundrisszeichnungen des pro- zwischen den Baumassen des Saales einerseits visorischen Reichstagsgebäudes zur Orientie- und des ihn deckenden, nur zur äußeren Reprä- rung für die Architekten beigelegt, von denen sentation dienenden Kuppelaufbaues anderer- die allerwenigsten schon einmal ein Parlaments- seits“ feststellen zu können. Sie fürchtete auch, gebäude geplant hatten. Wann macht man das der Saal könne wegen der Kuppel zu wenig schon? Licht bekommen, und schlug deshalb vor, auf Den Ostflügel des Gebäudes teilte sich der Bun- die Kuppel zu verzichten. Diese Kritik war desrat mit dem Reichstagspräsidium und der nicht erst im Gutachten, sondern bereits im Pro- Reichstagsverwaltung. Im Südostturm befand tokoll der Sitzung enthalten, das am Beginn der sich der Bundesratssitzungssaal, im Nordost- Reichstagssitzung am 9. Juni 1883 verlesen wor- turm der Bibliothekslesesaal. Gegenüber auf den war. Einige Teilnehmer der Debatte, unter­

Seite 220: „Das Deutsche Reichstagsgebäude zu ­Berlin“. Mit diesem Entwurf ­gewann Ludwig Bohnstedt den Reichstagsbau-Wettbewerb 1872. Stahlstich, 1872

Seite 221: Entwurf für das Gebäude des ­Deutschen Reichstags, mit dem Paul Wallot 1882 den zweiten ­Wettbewerb gewann. Holzstich, 1882

222 Gebäude für den Deutschen Reichs- tag; Grundriss vom Hauptgeschoss mit dem Sitzungssaal. Holzstich, 1894

223 der Architekt sich solche Eingriffe in seine ­Pläne energisch verbat, hat offensichtlich zu ihnen sogar August Reichensperger, der eigent- ­einer nachhaltigen Verstimmung Wilhelms II. lich ein grundsätzlicher Gegner von Kuppeln geführt. war, erklärten mit Entschiedenheit, dass das Gleichwohl fiel am 14. Januar 1890 in der Reichs­ Gebäude ohne Kuppel nicht denkbar sei. Die ­tagsbaukommission die Entscheidung zur Rück- Reichstagsbau­kommis­sion beschloss deshalb verlegung der Kuppel. Kaiser Wilhelm II. hätte folgerichtig, dem Einwand der Akademie nur diesen Beschluss ablehnen und die Rückver­ insoweit Rechnung zu tragen, dass sie die Kup- legung verhindern können, aber er hat es nicht pel vom Sitzungsaal weg über die Wandelhalle getan. Es ist kolportiert worden, Wilhelm habe in Richtung Westen verschob. Zu diesem Zweck vor allem in der Höhe der Kuppel ein Problem musste die bishe­rige rechteckige Wandelhalle gesehen – das Problem nämlich, dass sie höher um­geplant und mit einer zentralen Rotunde als die Kuppel des Schlosses sein könnte. Ver- ver­sehen werden. schiedene Berechnungen und Vergleiche, die in Es sieht so aus, als habe der Architekt spätes- diesem Zusammenhang auch von Wilhelm II. tens ab 1886 zunehmende ästhetische Beden- selbst angestellt wurden, verleihen dieser Ver- ken getragen; im Januar 1889 schrieb er an mutung ein gewisses Maß an Plausibilität. Die ­sei­nen Freund Friedrich Bluntschli, mit der Antwort auf die Frage, welche Kuppel am Ende Kuppel über der Wandelhallenrotunde hätte tatsächlich höher war, scheint bis heute nicht der Bau „ausgesehen wie ein ausgebranntes ganz eindeutig gegeben werden zu können. Schloß“. Die Bemühungen um eine Rückverle- Es könnte sein, dass Kaiser Wilhelm II. Anstoß gung der Kuppel über den Sitzungssaal waren an dem Material nahm, aus dem die Kuppel außerordentlich aufwendig, mit Entwürfen, Gut- ­bestand. Wallot musste bei seinen Planungen achten, Gegengutachten und wieder neuen Ent- der Rückverlegung natürlich den Einwänden würfen. Entscheidend war jedoch die Zustim- der Akademie Rechnung tragen, die ein Be- mung des Kaisers, seit 15. Juni 1888 Wilhelm II., leuchtungsproblem gesehen zu haben glaubte. ohne die ein solcher Eingriff in die Pläne nicht Er ­begegnete diesem Einwand mit der Idee, die denkbar war. Bei einem Besuch, den der junge ­Kuppel aus Eisen und Glas zu konstruieren – Kaiser Ende 1888 Wallot im Reichstagsbaubüro eine Idee, die auch in der Öffentlichkeit zu abstattete, scheint er keine Bedenken gehabt zu ­Irritationen geführt zu haben scheint, da man haben. Bei einer Audienz im Januar des folgen- gewohnt war, diese Materialien für Bahnhöfe den Jahres jedoch soll der Kaiser versucht ha- und Ausstellungshallen, reine Zweckbauten ben, selbst als Entwerfer tätig zu werden; dass also, zu benutzen, keineswegs jedoch für reprä-

224 sentative Gebäude. Es war bezeichnenderweise ein Fachmann des Reichseisenbahnamts, der Ingenieur Hermann Zimmermann, der die not- wendigen Berechnungen durchführte und die Konstruktionszeichnungen erstellte. Selbstverständlich waren Kuppeln Herrschafts- zeichen der traditionalen Mächte von Thron und Altar, gehörten zu Schlössern und sakralen Zentralbauten. Aber ebenso selbstverständlich hatten die bürgerlichen Institutionen für ihre Repräsentationsbauten diese Herrschaftszei- chen übernommen, um ihren Anspruch auf Teilhabe an der Macht zu demonstrieren. Man braucht nicht das Kapitol in Washington oder den Justizpalast in Brüssel anzuführen; auf ­einem Gebäude mit dieser Zweckbestimmung und Bedeutung war eine Kuppel so selbstver- ständlich, dass mit wenigen Ausnahmen alle Beiträge zu den beiden Wettbewerben eine Kuppel vorgeschlagen hatten. In der Regel waren diese Kuppeln Kugelseg- mente aus Stein; die Reichstagskuppel dagegen bestand aus Materialien moderner Ingenieurbau- kunst, die bei Geschäfts- und Verkehrsbauten üblich waren, die unzweideutig zur bürger­li­chen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörten. Diese Kuppel war damit eine Demonstration des An- spruchs auf politische Macht durch die Volks- vertretung gegen die Schlosskuppel – nicht,

oben: Die Kuppel des Reichstagshauses in ­Berlin; oben: Schnitt durch die ­Mittelachse von Norden nach ­Süden; unten: Oberansicht auf das halbe Eisengerippe des Kuppel­ dachs. Holzstich, 1897 links: Die Kuppel des Reichstagsgebäudes. ­Lithografie, 1897

225 habe ich diese Inschrift nicht gefunden, und ich zerbreche mir seitdem den Kopf …, was es weil sie überhaupt gebaut wurde, und auch eigentlich zu bedeuten hat, daß diese Inschrift nicht, weil sie eventuell höher war, sondern dort nicht steht.“ Payer vermutete, der Bundes- weil sie eine Bauform traditionaler politischer­ rat habe die Inschrift verhindert, und machte Macht mit modernen Materialien und einer unzweideutig klar, dass diese Entscheidung modernen Konstruktion verband. Sie war damit nicht dazu beitrage, den inneren Frieden zu einer der wenigen, unzweideutig nicht monar- fördern. chischen Züge, die dieses Gebäude aufzuwei- Es war aber nicht der Bundesrat, und es war sen hatte. auch nicht, wie in der Presse kolportiert wurde, Dieser Zug wäre vermutlich noch klarer hervor- der Kaiser, der die Inschrift verhindert hatte. Die getreten, wenn bei der Einweihung 1894 die Initiative lag vielmehr bei der Reichstagsbaukom­ ­Inschrift „Dem Deutschen Volke“ unter dem mission, die bereits 1893 die Frage wiederholt Giebelfeld zu lesen gewesen wäre. Da in zahl- diskutierte. Gegen den Wortlaut der geplanten reichen Darstellungen der Fassade, die in den Inschrift wurde vorgebracht, das deutsche Volk letzten Jahren vor der Fertigstellung veröffent- habe durch seine Volksvertretung die Mittel licht worden waren, diese Inschrift klar und zum Bau bewilligt und könne sich jetzt das Ge- deutlich zu lesen gewesen war, war die Irrita­ bäude nicht selbst widmen; sicherlich verbar- tion angesichts des leeren Textfelds natürlich gen sich hinter dieser und einer ­Reihe anderer groß. Der linksliberale Abgeordnete Friedrich Spitzfindigkeiten politische ­Motive. Payer nahm eine der ersten Sitzungen im neuen Da brauchbare Alternativen nicht gefunden Haus zum Anlass, die fehlende Inschrift als wurden, beschloss die Kommission mit den deutliches Zeichen für den Mangel politischen Stimmen ihrer Reichstagsmitglieder im Dezem- Vertrauens der Regierung zum Parlament zu ber 1893, auf die Inschrift ganz zu verzichten. ­beklagen: „In den illustrierten Zeitschriften, in Als das Gebäude ohne eine Inschrift eingeweiht den Abbildungen des neuen Hauses, wie man wurde und dieses Defizit in der Presse nicht sie uns zu unserer vorläufigen Information von mit der Kommission, sondern mit Schuldzu- künstlerischer Seite ins Haus, in unsere Heimat weisungen an den Kaiser verbunden wurde, gesandt hat, auf welchen das neue Reichstags- sah sich die Kommission genötigt, das Thema gebäude so abgebildet ist, wie es aussehen soll- erneut auf die Tagesordnung zu setzen. In einer te, nicht, wie es aussieht, da haben wir über Sitzung im Januar 1895 scheint erneut kein Mit- dem Hauptportal die Inschrift gefunden ‚Dem glied der Kommission für den ursprünglichen Deutschen Volke‘. Wie ich jedoch hierher kam, Vorschlag, der vermutlich von Paul Wallot

226 stammte, eingetreten zu sein. Stattdessen ­einigte man sich als Kompromiss auf die For- mel „Dem Deutschen Reich“. Als dieses Er­ gebnis dem Kaiser zur Zustimmung vorgelegt ­wurde, schrieb er als Alternativvorschlag „Der Peter Behrens entworfen worden und in der Deutschen Einigkeit“ an den Rand der Vorlage; Gießerei Loevy angeblich aus Bronze von Ge- anschließend verlief die Sache im Sand. schützen gegossen, die in den Befreiungskrie- Sie wurde erneut aktuell mit einem Artikel gen 1813 erbeutet worden waren. Als Reichs- in dem den Nationalliberalen nahestehenden tagspräsident Johannes Kaempf am Schluss der Leipziger Tageblatt, der pünktlich zum ersten Sitzung am 27. August 1915 die Entscheidung Jahrestag des Kriegsbeginns am 5. August 1915 bekannt gab, erhob sich, wie das Protokoll ver- erschien. Es war inzwischen klar, dass die Be- merkt, „lebhafter Beifall“. hauptung, der Krieg werde nicht lange dauern, Es sind über den Kaiser, Paul Wallot und das nicht stimmte und dass die Belastungen für Reichstagsgebäude einige Geschichten in Um- die Menschen an der Front und in der Heimat lauf gebracht worden. Mit Sicherheit fühlte größer waren, als je erwartet worden war. Diese Wilhelm II. sich durch den entschiedenen Entwicklung hatte in weiten Kreisen zu einem Widerspruch des Architekten in seiner Eitelkeit Verlust des Vertrauens in Regierung und Mo­ gekränkt; er hat ihn in der Folgezeit entspre- narchie geführt; hier könne doch, so das Leip­ chend schlecht behandelt. Mit großer Wahr- ziger Tageblatt, die Inschrift als Zeichen der scheinlichkeit hat dem Kaiser das Reichstags­ Versöhnung verstanden werden, als Beitrag gebäude gefallen; er konnte das jedoch weder zum inneren Frieden. vor anderen noch vor sich zugeben, und das Der Hinweis wurde in der ­Regierung sofort ver- nicht so sehr wegen des Architekten, sondern standen; als klargestellt war, dass der Kaiser vor allem wegen der Volksvertretung, für keine Einwände erheben würde, wenn die Aus- die das Gebäude errichtet wurde und für die schmückungskommission des Reichstags, die er grundsätzlich nur Verachtung hegte. Das ab 1898 an die Stelle der Reichstagsbaukom- ästhetische Urteil war sicher nur das Inkognito mission getreten war, beschließen würde, die eines politischen Urteils, als der Kaiser bei Inschrift anzubringen, nahmen die Dinge ihren einem Staatsbesuch in Rom 1893 das Reichs­ Lauf. Im Dezember 1916 konnte die Inschrift tags­gebäude öffentlich vor Künstlern einen angebracht werden; die Buchstaben waren von „Gipfel der Geschmack­losigkeit“ nannte.

Arbeiter bringen die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ am ­Reichstags­gebäude an. 1916

227 Fürsten und Dynastien im Vordergrund stan- den. Der Befund der eher konservativen­ Baro- „Nur fürstliche Bildwerke und heraldische nin deckt sich mit dem des „politischen Jour- ­Zierraten“: ein Parlamentsgebäude als Symbol­ nalisten“ August Stein, der für die ­liberale der Monarchie Frankfurter Zeitung schrieb und der 1898 kurz und bündig feststellte, das Haus sei „zwar für Als Hildegard Baronin Spitzemberg, die Witwe eine Volksvertretung bestimmt“, kenne jedoch des ehemaligen württembergischen Gesandten „nur fürstliche Bildwerke und heraldische Zier- beim Bundesrat, am 28. Mai 1894 mit einer raten“. Gruppe von Freunden und unter der Führung Diese beiden Urteile gelten für die Innenräume Wallots das Reichstagsgebäude besichtigte, war ebenso wie für die Fassaden. Unzweideutig sie einigermaßen überrascht: „Die Dimensionen monarchische Herrschaftszeichen wie Kronen sind kolossale, die einzelnen Räume schön, und Zepter sind nach allen vier Himmelsrich- aber das ganze macht doch einen Eindruck tungen außen, aber auch in den wichtigsten mehr des babylonisch Maßlosen als des harmo- ­Repräsentationsräumen des Inneren großzügig nisch Schönen; dazu das geradezu Lächerliche verteilt. Die Namen der zur Zeit der Reichs- der ungezählten Wappenschilder, Kronen, alle- gründung in den Einzelstaaten regierenden gorischen Figuren, und das für ein Haus, in dem Fürsten finden sich wiederholt in Stein gemei- 400 Leute tagen sollen, die zumeist liberal, frei- ßelt neben den Monogrammen der bisherigen sinnig oder sozialdemokratisch gesinnt sind, drei Kaiser. Dazu kamen die „ungezählten Wap- die all dieser heraldische Schmuck ärgert …“ penschilder“, die sich in einer solchen Flut Zwar hat sich die Baronin in Bezug auf die Man­ über das ganze Gebäude ergossen, dass ein zeit- datsverteilung des aktuellen Reichstags ein we- genössischer Kritiker schrieb, man habe „noch nig verschätzt, denn die Angehörigen der drei nie so viel Wappen auf einem Fleck zusammen von ihr genannten Gruppen kamen auf ­gerade gesehen“. Dazu gehörten Wappen von deut- mal 40 Prozent der Sitze; gleichwohl bleibt der schen Städten, vor allem aber die Wappen der Widerspruch zwischen der Tatsache, dass es Bundesstaaten. Da diese Bundesstaaten Monar- sich um ein Gebäude für ein Parlament handel- chien waren, müssen auch diese heraldischen te, das nach allgemeinem Wahlrecht gewählt­ Zierrate zu den monarchischen Herrschafts­ wurde, und einer Innenraumgestaltung, bei zeichen gerechnet werden. In dieser Wappen­ der nicht Parlament und Demokratie, sondern gesellschaft gab es eine zusätzliche Hierarchie,­

228 oben: Seite 230 links: Seite 231 links: Die Hauptfassade des Reichs­­- Standbilder vier deutscher Kaiser Treppenaufgang aus der Südein­ tags­gebäudes, Blick von der des Mittelalters in der Südeingangs- gangs­halle für Abgeordnete zur ­Sieges­säule. halle der Abgeordneten. Der Zweite Wandelhalle vor dem Plenarsaal. 1929 von rechts ist Otto der Große mit den Blick auf das ­Bayernportal. Gesichtszügen Otto von ­Bismarcks. Lithografie, 1897 Lithografie, 1897 Seite 231 rechts: Seite 230 rechts: Das Standbild Kaiser Wilhelms I. in Treppenaufgang aus der Südein­ der großen Rotunde der Wandelhalle. gangs­­halle für Abgeordnete zu den 1906 Vorräumen des Bundesrats. Blick auf das Preußenportal. Lithografie, 1897

229 Aber er übersah, dass der Gedanke durchaus da die Wappen der vier Königreiche – Preußen, weit verbreitet war, das neue deutsche Kaiser- Bayern, Sachsen und Württemberg – bevorzugt reich von 1871 sei in irgendeiner Weise mit behandelt wurden und manchmal sogar allein dem mittelalterlichen Reich verbunden. Da auftraten; und selbst in dieser exklusiven­ Grup- es eine staatsrechtliche Kontinuität nicht gab, pe genossen wiederum die Wappen Preußens mussten mythische Geschichtskonstruktionen und Bayerns noch einmal Privilegien gegen- die Brücken bilden, um diesen Spagat zu er- über denen Sachsens und Württembergs. möglichen. Eine dieser Konstruktionen stellte Um einen schwachen Eindruck von der über- eine Verbindung zwischen den Stauferkaisern wältigenden Bilder- und Zeichenfülle zu be- des Mittelalters und den Hohenzollern her, kommen, mit der alle konfrontiert wurden, die die Ausrufung des preußischen Königs zum das Reichstagsgebäude betraten, sollen hier nur deutschen Kaiser als eine moderne Version die wichtigsten Stationen des Weges verfolgt der ­Wiederauferstehung des schlafenden Barba- werden, die ein Reichstagsabgeordneter vom rossa. Formeln wie „Der Zoller ist der rechte Eingang zum Plenarsaal zurückzulegen hatte. Stauf“ und „Der Weißbart auf des Rotbarts Der Eingang für Abgeordnete war an der Süd- Thron“ waren geläufig. Sie fanden in Bild­ fassade, also dem Brandenburger Tor und der programmen öffentlicher Gebäude wie der Stadt am nächsten. Hatte der Abgeordnete das ­Kaiserpfalz zu Goslar, deren Ausmalung 1877 Gebäude betreten, durchschritt er das Spalier begonnen hatte und bei der Einweihung des von acht rund 2,50 Meter großen Bronzeskulp- Reichstagsgebäudes kurz vor der Fertigstellung turen mittelalterlicher deutscher Kaiser, deren stand, öffentlich sichtbare Visualisierung, die Kreis von Karl dem Großen bis zu Maximilian I., wiederum durch populäre Bildmedien in das dem „letzten Ritter“, reichte. August Stein ver- eindrangen, was man den Bildungsfundus auch mutete, dass diese „alten Kaiser … sich gewiß von Reichstagsabgeordneten nennen könnte. selbst wundern, wie sie in das Haus einer mo- Natürlich war Friedrich I. Barbarossa einer dernen Volksvertretung kommen“. Wenn er der acht „alten Herren“; ein anderer übrigens, ­unterstellte, dass die meisten Abgeordneten Otto I., der Große, trug eindeutig die Gesichts- „nicht viel von den bronzenen alten Herren“ züge eines zeitgenössischen großen Otto, des wussten, lag er sicher richtig. Reichskanzlers Bismarck.

230 dem jeweiligen Wappen in der Mitte über der Tür. Wenn er jetzt nach rechts ging, da er von Solche Anspielungen waren gewollt, und auf der großen Rotunde der Wandelhalle aus den Genauigkeit kam es nicht wirklich an, sondern Plenarsaal betreten wollte, passierte er die im eher auf Stimmung. Der Architekt selbst er­ Zentrum der Rotunde ­stehende, mehrere Meter läuterte in einem Vortrag im Jahr 1891, es sei hohe Skulptur Kaiser Wilhelms I., der in einen sein Ziel ­gewesen, „einen bis zur zulässigen Militärmantel gekleidet war und in der Hand Grenze kirchlichen Eindruck hervorzurufen ein Büchlein hielt: die Verfassung des Deut- und den das Haus Betretenden in eine geho­ schen Reiches von 1871. Die Botschaft ließ an bene weihevolle Stimmung zu versetzen“. Ob Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Die ­diese Stimmung bei Etatdebatten hilfreich war, Gründung des Deutschen Reiches war das muss offenbleiben. Erzeugt wurde diese Stim- Ergebnis dreier erfolgreicher Kriege unter der mung auch durch das Licht, das vom Hof durch Führung Preußens; die Verfassung dieses Rei- ein buntes Glasfenster fiel, auf das der Abgeord­ ches verdankte sich dem gnädigen Geschenk nete zuging, nachdem er sich seines Mantels des preußischen Königs. entledigt hatte und die Treppe hochstieg. Auf Wenn der Abgeordnete jetzt endlich den Plenar­ diesem Fenster sah er einen riesigen Reichs­ saal betrat, erwartete ihn eine Überraschung: adler, auf dessen Schwingen die Wappen der „Es gibt einen einzigen Raum im Reichstags­ Bundes­staaten angebracht waren. palast“, so August Stein, „der nicht imposant Wenn er sich auf dem Treppenabsatz nach wirkt, nicht einmal ernst und würdig, das ist rechts wendete, konnte er am Ende einer wei­ der einzige, bei dem das angezeigt wäre, näm- teren kurzen Treppe das Preußenportal sehen, lich der Sitzungssaal.“ Der Saal war aus akus­ durch das er in den Vorsaal der Räume für Re- tischen Gründen holzgetäfelt. Unterhalb der gierung und Bundesrat gelangt wäre. Er wandte Glasdecke zog sich an allen vier Seiten ein sich auf dem Weg zum Plenarsaal jedoch ver- Wappenfries entlang; darunter, an den Stützen mutlich nach links, wo ihn das Bayernportal der Tribünen, fanden sich Karyatiden. Diese erwartete, durch das er in den südlichen Teil insgesamt zehn Figuren verkörperten verschie- der Wandelhalle kam. Beide ­Portale waren über- dene Lebens- und Tätigkeitsbereiche, auf die dekoriert mit heraldischem Schmuck und mit sich die legislative Arbeit des Parlaments be-

231 zog. Diese Bereiche waren dank meist eindeu­ tiger Attribute der Figuren leicht zu identifizie- ren; die weibliche Figur, die das Verkehrswesen wunderbare Eigenschaften, und man wünscht darstellte, hielt einen Telefonhörer in der Hand. sich geradezu, die Mitglieder des Parlaments Solche Darstellungen fanden sich im und am würden sich bei ihrer Arbeit von ihnen leiten Haus an verschiedenen Stellen; sie waren ein lassen. Sie sind jedoch noch unspezifischer als schwacher Versuch, wenigstens einmal eine die Dame mit dem Telefonhörer in der Hand; ­Beziehung zur Tätigkeit des Parlaments herzu- an und in welchem öffentlichen Gebäude hätte stellen. Sie waren aber unspezifisch, denn eine man sie nicht anbringen können? Dame mit Telefonhörer hätte auch gut zu einem Entscheidend wohl auch für den Gesamtein- Fernsprechamt gepasst. druck, den August Stein hatte, waren die drei Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand natürlich leeren Wandfelder. Für diese Felder waren seit die Stirnwand über dem Präsidium und dem 1891 Wandgemälde als Fresko oder auf Lein- Bundesrat. Hier waren drei große leere Wand- wand mit Sujets aus der neueren deutschen flächen, begrenzt und voneinander getrennt Geschichte vorgesehen. Paul Wallot nahm 1895 durch vier Nischen, in denen, allerdings erst ab Kontakt mit auf, dessen Dar- 1916, Nischenfiguren standen, Allegorien­ auf stellung der „Kaiserproklamation in Versailles die Tugenden Tapferkeit, Gerechtigkeit, Weis- 1871“ zu den Bildikonen des neuen Kaiser- heit und Demut. Es sind vermutlich solche Per- reichs gehörte; da auf frühen Skizzen, die sonifikationen von Tugenden, die die Baronin Wallot vom Inneren des Sitzungssaals angefer- Spitzemberg im Auge hatte und die sie neben tigt hatte, im Mittelfeld eine Darstellung der Wappenschildern und Kronen aufzählte. Man Kaiserproklamation mit Kaiser Wilhelm I. im konnte überall im und am Haus Mäßigung und Zentrum zu sehen ist, lag diese Kontaktaufnah- Vorsicht, Begeisterung und Wahrhaftigkeit, me nahe. Flankiert werden sollte das Bild von Wohltätigkeit und Gerechtigkeit begegnen; die ­einer Darstellung der Grundsteinlegung des Weisheit dürfte es auf ein halbes Dutzend Dar- Reichstagsgebäudes und einer Darstellung der stellungen gebracht haben. Das sind alles ganz Schlusssteinlegung.

232 Der Plenarsaal des Deutschen Reichstags, Blick von der Presse­ tribüne. Rechts im Bild zwei der drei leeren Wandflächen über dem Präsidium und den Bänken des Bundesrats. 1895

233 Diese Motivwahl passte zum übrigen monar­ chischen Gepräge des Reichstagsgebäudes. Die Kaiserproklamation in Versailles war nicht nur Major nichts zu tun …, sondern nur der Prä­ eine imperiale, sondern auch eine militärische sident des Deutschen Reichstages, der freige- Angelegenheit; man hat von den „heerkaiser­ wählte Vertrauensmann der Volksvertretung, lichen“ Zügen dieser Zeremonie am 18. Januar und darum hätten wir gewünscht, er hätte 1871 gesprochen. Nicht minder monarchisch- ­diese hohe Würde auch durch das Gewand militärisch waren die Grundsteinlegung, die des freien Mannes angedeutet.“ von Kaiser Wilhelm I. am 9. Juni 1884 in der Der Auftrag an Anton von Werner kam aus offenen Baugrube vollzogen wurde, und die ­einer Reihe von Gründen nicht zustande. Die Schlusssteinlegung am 5. Dezember 1894, von Angelegenheit wurde erst wieder 1903 auf die Wilhelm II. an der Stelle in der Wandelhallen- Tagesordnung der Ausschmückungskommis­ rotunde vollzogen, an der 1905 die große sion gesetzt. Wie ernst solche Fragen gerade Skulptur Wilhelms I. aufgestellt wurde. Die von konservativer Seite genommen wurden, Reichstagsmitglieder traten bei beiden Gelegen- lässt sich an einer Äußerung des Grafen Hugo heiten in den Hintergrund; bei den Hammer- von und zu Lerchenfeld auf Köfering ablesen, schlägen auf den Grundstein kamen der Reichs- der bayerischer Gesandter zum Bundesrat tagspräsident und die Vizepräsidenten erst war und ­jahrelang in dieser Eigenschaft der nach den Kommandierenden Generalen an die Reichstagsbaukommission angehört hatte. Reihe. Bei der Schlusssteinlegung sah es nicht Der Reichstag beschloss 1898, diese Kommis­ anders aus. Ein Journalist der National-Zeitung sion aufzulösen und an ihre Stelle eine Aus- berichtete von dem „flimmernden Gold“ der schmückungskommission zu setzen, der nur militärischen Ehrenzeichen. Bezeichnend Mitglieder des Reichstags angehören sollten. für das Primat, das dem Militär beigemessen An ihr teilzunehmen, lud man aus reiner Höf- wurde, war die Tatsache, dass der konservative lichkeit auch den Bundesrat ein. Obwohl er Reichstagspräsident Albert von Levetzow in dieses Vorgehen des Parlaments als Affront be- der Uniform eines Landwehrmajors erschienen trachtete, war der Graf zur Teilnahme bereit, war. Nicht nur die Vossische Zeitung kritisierte um Einfluss nehmen zu können, da „die Wahl am nächsten Tag, dass dieser Auftritt völlig un- des Stoffes der auszuführenden Wandgemälde passend gewesen sei: „Aber gestern hatte der von gewisser politischer Bedeutung sein kann“.

234 Die Kommission brachte einen beschränkten Wettbewerb auf den Weg, zu dem fünf Maler eingeladen wurden. Da dieser Wettbewerb­ 1904 zu keinem Ergebnis geführt zu haben scheint, Als die Bilder im Herbst 1908 angebracht wur- kam es im folgenden Jahr zu einem weiteren den, erhob sich Kritik von mehreren Seiten. Den Wettbewerb, den der Maler Angelo Jank ge- Kritikern von rechts war das Mittelbild nicht wann. Die Themen waren von Anfang an durch heroisch genug, Wilhelm sehe nicht aus wie ein die Kommission vorgegeben, wie Lerchenfeld siegreicher Feldherr, sondern wie ein müder richtig vermutet hatte. Da die drei Bundesrats- Greis. Zahlreiche Beobachter machten kritisch mitglieder, wie er ebenso vermutete, leicht mit auf die Tatsache aufmerksam, dass eine französi- den konservativen Reichstagsmitgliedern in sche Trikolore auf dem Bild durch den Schmutz der Kommission eine Mehrheit bilden konnten, geschleift werde und dass sich der Kopf eines war klar, dass die ausgewählten ­Themen kon- getöteten französischen Soldaten in verdächti- servativen Erwartungen entsprechen würden. ger Nähe zum Huf des Pferdes des Kaisers be- Für das Hauptbild forderte man die Darstellung finde; man befürchtete diplomatische Verstim- einer historisch beglaubigten Szene nach der mungen. Eine ganze Reihe von Abgeordneten Schlacht bei Sedan, als König Wilhelm, beglei- schließlich vermochte nicht einzusehen, was tet vom Kronprinzen, von Bismarck­ und von dieses Gemälde im Plenarsaal einer Volksver- Helmuth von Moltke über das Schlachtfeld tretung zu suchen habe; die Darstellung einer ­geritten sein soll. Für die beiden Seitenbilder Szene aus der Geschichte des Parlamentarismus griff man wieder auf das Mittelalter­ zurück: sei doch weitaus angemessener. Der national­ Auf ­einer Seite sollte Karl der Große beim Emp- liberale Abgeordnete Gustav Strese­ mann­ dachte fang der Gesandten Harun ­Al-Raschids auf dem an eine Szene aus der Nationalversammlung­ Reichstag zu Paderborn im Jahr 777 gezeigt wer- 1848 in der Frankfurter Paulskirche. Bereits zwei den, auf der anderen Friedrich I. Barbarossa, dem Jahre zuvor, als die Festlegung der Bildthemen die Abgesandten der lombardischen Städte im durch die Kommission im Reichstag bekannt Jahr 1158 nach der Schlacht auf den roncalli­ ­ wurde, hatte der ­Abgeordnete Waldemar Graf schen Feldern huldigen. Oriola als Alternative eine Szene aus der Parla-

Feier zur Grundsteinlegung für das Reichstagsgebäude am 9. Juni 1884. ­Kaiser Wilhelm I. ­vollzieht die drei ­Hammerschläge.

235 mentsgeschichte vorgeschlagen; er dachte an die Deputation des Norddeutschen Reichstags, die am 18. Januar 1871 dem preußischen König Wilhelm den Wunsch des Parlaments vortrug, vollständig unterschlagen, dass diese Staats- die Kaiserwürde des Deutschen Reiches zu über­ gründung ohne die langjährigen Aktivitäten der nehmen. Diese zivile Zeremonie war gegenüber liberalen Nationalbewegung, auf die sie reagierte dem militärischen Spektakel in Vergessenheit und an die sie anknüpfte, gar nicht möglich geraten, das am selben Tag stattgefunden und gewesen wäre. Ausgerechnet in dem Gebäude, sich nicht nur durch Anton von Werners Bilder in dem diese Aktivitäten zu ihrem vorläufigen im Gedächtnis der Öffentlichkeit fest verankert Ziel gekommen waren, war von all dem nichts hatte. Angesichts der massiven Kritik von vielen zu sehen. Bereits wenige Wochen nach dem Ein­ Seiten beschloss der Reichstagspräsident, die zug in das neue Gebäude stellte Eugen Richter, Bilder in den Weihnachtsferien 1908 aus dem der anerkannte Wortführer der linksliberalen Sitzungssaal entfernen zu lassen. Die großen Freisinnigen Partei, fest: „Was bis jetzt an Em­ grauen Wandflächen blieben auf Dauer leer. blemen und Verzierungen hier eingerichtet ist, Diese im gesamten Gebäude vorhandene Ent­ paßt beinahe für jedes Residenzschloss und für faltung einer monarchischen und militärischen jede Ruhmeshalle. Vergeblich sieht man sich Symbolik entbehrt nicht der Grundlage ange- danach um, wo der individuelle Charakter die- sichts der Tatsache, dass sich die Gründung des ses Hauses als Werkstätte der Gesetzgebung, deutschen Nationalstaats preußischer Macht­ als Platz für die Volksvertretung eigentlich zum politik verdankte. Andererseits wurde jedoch Ausdruck gebracht ist.“

236 Die erste Sitzung des Deutschen Reichstags am 6. Dezember 1894 im neuen ­Gebäude am Königsplatz. Die Darstellung entspricht nicht der Wirklichkeit. Die drei Wandflächen über Präsidium und Bundesrat wa- ren und blieben leer bis auf einige Wochen im Herbst 1908. In den ­Nischen zwischen den Flächen standen erst ab 1916 Skulpturen. Der Künstler hat sich vermutlich an Skizzen orientiert, die Paul Wallot zur Planung der ­Gestaltung des ­Plenarsaals Ende der 1880er-Jahre angefertigt hatte. Im Zentrum die Szene der Ausrufung des preußi- schen Königs Wilhelm zum deut- schen Kaiser am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles. Holzstich, 1894

237 In den Diskussionen um die Frage, wo das Reichstagsgebäude seinen Standort finden solle, hat wohl nur der liberale Abgeordnete Ludwig Bamberger einen Gesichtspunkt ins Spiel ge- bracht, bei dem es nicht um lange Wege für Ab- geordnete, Kanzler und Geheimräte oder um die Frage ging, ob ein monumentales Gebäude freistehen müsse, sondern um die Frage, ob man die politische Bedeutung einer Einrich- tung nicht auch an der Nähe oder Entfernung zu anderen Zentralen der politischen Macht ablesen könne. „In keinem anderen Land der Welt“, klagte Bamberger in der Debatte am 7. Februar 1876, „würde man auf den Gedan- ken verfallen, den Mittelpunkt der Reichsge- setzgebung hinauszustellen vor die Haupt- stadt.“ Das Reichstagsgebäude war abgeschoben an die Peripherie der politischen Topografie. Besser hätte man das Defizit politischer Macht der Volksvertretung kaum zum Ausdruck brin- gen können.

Ein Forum für die Republik: das Reichstagsgebäude im Spreebogen 1919 bis 1933

238 Die von Bamberger beklagte exzentrische Lage des Reichstagsgebäudes in Bezug auf die Macht­ zentralen des kaiserlichen Deutschlands wurde allerdings nach dem Ende der Monarchie zum Ausgangspunkt aller weiteren Planungen für Der Vortrag Hugo Härings war Teil des Begleit- ein politisches Zentrum der Hauptstadt Berlin. programms zur „Großen Berliner Kunstaus­ Am entschiedensten hat diese neue Situation, stellung“, die von Mai bis September 1927 in einer inneren Umkehrung der Argumenta­ stattfand und in der eine kleine Architektur- tion Bambergers, kein Politiker analysiert, Sonderausstellung mit aktuellen Projekten der sondern der Architekt und Stadtplaner Hugo Berliner Stadtplanung gezeigt wurde. Dazu ge- Häring. Da der Reichstag, so Häring in einem hörten Überlegungen zur Um- und Neugestal- Vortrag im Juni 1927, „vom Schloß aus gesehen tung des Platzes der Republik, die von Peter … ein illegitimes Element in der Staatsstruk- Behrens, Hugo Häring und Hans Poelzig ange- tur“ gewesen sei, habe sich das Reichstagsge- stellt wurden. Poelzig schlug vor, den Alsen- bäude „schon nicht mehr in den Strukturplan platz ebenso wie den Nord- und den Südrand des alten kaiserlichen Berlin einfügen“ lassen. des Platzes der Republik mit langstreckten, Es sei nur folgerichtig gewesen, dass dieses Ge- sechsstöckigen Verwaltungsgebäuden für die bäude nicht in der Nähe des Schlosses errichtet Reichsministerien zu bebauen, die dieselbe worden sei, sondern dass ihm ein „Platz außer- Höhe wie das Reichstagsgebäude haben sollten. halb der alten Königsstadt vor dem Branden- In Poelzigs Entwurf, monierte der Architekt burger Tor“ zugewiesen wurde. Gerade deshalb und Architekturpublizist Max Berg in einem könne jetzt das Reichstagsgebäude zum „Kern Artikel über die Ausstellung, werde der Reichs- des neuen politischen Stadtraumes“ und der tag, dem in der Republik doch die entscheidende Platz der Republik, der bis 1926 noch Königs- Stellung zukomme, in den Hintergrund gedrängt, platz hieß, ein Forum für die Republik werden, da die Gebäude für „die Reichsbehörden,­ die das die Souveränität des Volkes sichtbar ver- Büro­kratie“ das Gebäude der Volks­vertretung körperte. erdrückten.

239 Dieser Freiraum vor dem Reichstagsgebäude solle vielmehr für politische Veranstaltungen Umgekehrt findet Berg lobende Worte für genutzt werden: „Es kommt ihm der Charakter Härings Vorschlag. Dessen Entwurf sieht eine eines riesenhaften Versammlungsraumes zu; „Achse der Republik“ vor, die vom Reichstags- eine terrassenmäßige Ausgestaltung, die Anlage gebäude in westlicher Richtung etwa zwei Kilo- von Galerien, liegt deshalb nahe.“ Zwei Jahre meter bis in den Park des Schlosses Bellevue später präzisierte Häring diesen Vorschlag, als verläuft. Dort trifft sie auf das Palais des Reichs­ er dem Reichstag gegenüber, auf der Ostseite präsidenten, das an dieser Stelle errichtet des Platzes, eine gigantische Tribüne plante, ­werden soll. Diese Achse sollte aus zwei Ab- die zusammen mit den inzwischen zu Hoch- schnitten bestehen. Der westliche Teil wird hausscheiben gewachsenen Ministeriumsbau- durch die begradigte Spree gebildet; der östli- ten den Reichstag in jeder Hinsicht in den che Teil, der ungefähr dort begonnen hätte, wo Schatten gestellt hätte. Gerade wenn man den sich heute das Haus der Kulturen der Welt be- entschlossenen, demokratischen Impetus die- findet, war als Straße gedacht, zu deren beiden ses Architekten sehr sympathisch findet, wird Seiten Gebäude für die Ministerien geplant man solchen Plänen nicht ohne Skepsis begeg- ­waren. Der Platz der Republik sollte bestehen nen. Zu groß sind die Ähnlichkeiten mit An­ ­bleiben, um genügend Freiraum für das Reichs- lagen für organisierte politische Massenveran- tagsgebäude zu haben, da „die gesetzgebende staltungen folgender Epochen, in denen die Körperschaft“, wie Häring in seinem Vortrag Volksvertretung schon deshalb kein Gegenüber ­erklärte, „einmalig“ ist und „kein Gegenüber“ mehr hatte, weil sie nur noch auf dem Papier duldete. existierte.

Seite 239: Hans Poelzig, Entwurf für die Neu- gestaltung des Platzes der Republik. Kohle auf Transparentpapier, 1927

links: Hugo Häring, Studie für ein Forum für die Republik im Spreebogen, 1927. Am linken Bildrand das geplante Palais des Reichspräsidenten im Park von Schloss Bellevue.

240 Fast gleichzeitig, aber völlig unabhängig von dieser Ausstellung wurde im Sommer 1927 ein Wettbewerb für einen Erweiterungsbau des Reichstagsgebäudes ausgeschrieben. Eine Er- Diese Sitzungsperioden, die Zeiträume also, weiterung war dringend notwendig, da die par- in denen das Parlament zusammenkam, dauer- lamentarische Arbeit bereits seit vielen Jahren ten in den ersten Jahren drei bis vier Monate, unter ständig zunehmender Raumnot litt. Es nahmen aber bald immer mehr Zeit in Anspruch. fehlte besonders an genügend Arbeitsräumen Die Sitzungsperiode, die mit dem Einzug ins für Abgeordnete, die im Raumprogramm nicht neue Haus im Dezember 1894 begann, endete vorgesehen waren und nach denen man des- nach sechs Monaten, die nächste erst nach halb im Reichstagsgebäude vergebens gesucht ­sieben Monaten; bis spätestens zur Jahrhun- hätte. Für die Vorbereitung von Fraktions-, dertwende war mit einem Dreivierteljahr das Kommissions-, Ausschuss- und Plenarsitzun- Maximum ­erreicht. Damit war zugleich die Ent- gen, die Lektüre von Drucksachen, Anträgen wicklung des Parlamentsmandats vom schein- und Gesetzesvorlagen, aber auch für die gesamte baren Teilzeit-Ehrenamt zum Vollzeit-Job voll- politische, private und geschäftliche Korres- zogen. Zwar trug die Einführung von Diäten pondenz waren die Abgeordneten, die 1894 das im Jahr 1906 dieser Entwicklung erst spät Rech- neue Gebäude bezogen, auf die beiden Lesesäle nung; sie bot jedoch zahlreichen Abgeordneten und den Schreibsaal angewiesen, wenn sie es die Möglichkeit, sich mit voller Kraft den Auf- nicht vorzogen, am heimischen Schreibtisch gaben des Mandats zu widmen. Dadurch nahm zu arbeiten. Dieser stand bei auswärtigen Ab-­­­­ wiederum der Bedarf an Räumen noch einmal ge­ordneten in der Regel in einer möblierten erheblich zu, in denen vor, zwischen und nach Wohnung, die während der Sitzungsperioden den Sitzungen im Parlamentsgebäude gearbei- in Berlin angemietet wurde. tet werden konnte.

Hugo Häring, Entwurf für ein Forum­ der Republik im Spreebogen, 1929. Dem Reichstagsgebäude gegenüber ­erhebt sich eine riesige Tribüne.

241 Das Defizit an Arbeitsräumen war inzwischen noch größer geworden, da mit dem Ende der Monarchie der Reichstag und sein Gebäude nicht nur topografisch und symbolisch, son- dern auch politisch ins Zentrum der Macht ge- rückt waren. Die zusätzlichen Aufgaben, die Der Haushaltsauschuss legte deshalb dem Ple- das Parlament als Vertretung des souveränen num am 2. Februar 1913 einen Plan zum Aus- Volkes mit der Einführung der Republik über- bau des Dachgeschosses des Reichstagsgebäu- nahm, stellten erhöhte Anforderungen an das des mit insgesamt 106 Arbeitsräumen für je Arbeitspensum der Abgeordneten, deren Zahl zwei bis vier Abgeordnete vor. Der Abgeordnete überdies um rund 100 gestiegen war. Diese bei- Kuno Graf von Westarp, der als Berichterstatter den Tatbestände führte der SPD-Abgeordnete fungierte, gab die Meinung der Kommission Paul Taubadel in der Reichstagssitzung am wieder, als er sagte, dass durch diesen Ausbau 9. Juli 1925 zur Begründung des Vorschlags der „den bestehenden Unbequemlichkeiten und Haushaltskommission an, endlich das Nachbar- Mißständen für den geschäftlichen Betrieb nicht grundstück zurückzukaufen und die Errichtung endgültig abgeholfen“ sei. Die Kommission eines Erweiterungsbaus zu planen. Das Parla- schlage deshalb vor, einen Neubau ins Auge zu ment folgte dieser Empfehlung. Das Grundstück fassen; sie bitte zu prüfen, ob zu diesem Zweck wurde zum Ende des Jahres 1925 erworben und nicht das Grundstück nördlich des Reichstags- der Platz, der für einen Neubau zur Verfügung gebäudes, das wenige Jahre zuvor verkauft stand, durch weitere Zukäufe im folgenden­ ­worden war, wieder zurückerworben werden Jahr erweitert. könne. Damit lag für die ­Ausschreibung im Sommer Der Dachausbau wurde im Laufe des Jahres 1927 ein Bauplatz fest, der die Form eines un- 1913 durchgeführt; weitergehende Pläne, die regelmäßigen Trapezes hatte und deshalb den während des Krieges und in den Jahren danach Wettbewerbsteilnehmern einige Schwierigkeiten nicht in Angriff genommen werden konnten, bot. Noch größere Probleme ergaben sich aller- standen erst wieder 1925 auf der Tagesordnung. dings aus der Tatsache, dass der Neubau als

242 Otto Kohtz, das Reichshaus am ­Königsplatz. In diesem Reichshaus sollten sämtliche Reichsministerien untergebracht werden. Otto Kohtz entwickelte in den folgenden Jahr- zehnten eine ganze Reihe solcher Projekte. Bleistift- und Federzeichnung, 1920/21

243 Rahmen eines Generalbebauungsplans für den Spreebogen anzustellen. Die Lösung der Auf­ gabe könne auch architektonisch nur gelingen, wenn sie von Anfang an als Teil eines Regie- rungsforums, eines „Forums für die Republik“ ­reiner Zweckbau mit dem Reichstagsgebäude begriffen werde, zu dessen Gestaltung die Bei- in der Dimension und im gestalterischen Auf- träge zur Kunstausstellung 1927 bereits Vor- wand nicht in Konkurrenz treten sollte und schläge gemacht hätten. Der Berliner Stadtbau- konnte. Darüber hinaus sollte der Bau mit dem rat Martin Wagner teilte diesen Wunsch im Reichstagsgebäude durch eine brückenartige ­Dezember 1928 brieflich dem Reichstagspräsi- Konstruktion über den 32 Meter breiten Reichs- denten Paul Löbe mit; er verband den Wunsch tagsplatz, die heutige Paul-Löbe-Allee, verbun- mit dem Appell, das Parlament müsse seine den werden und damit eine Baugruppe bilden, Verantwortung als Bauherr für die architekto­ die nur als Einheit wahrgenommen werden nische Selbstdarstellung der Demokratie wahr- konnte. Dass dieser Spagat keinem der 278 Wett- nehmen. Löbe äußerte in seiner Antwort Ver- bewerbsteilnehmern gelungen zu sein scheint, ständnis für diese Überlegungen, gab aber auch wird an der Tatsache sichtbar, dass die Jury zu bedenken, dass für die Entwicklung und auf die Verleihung eines ersten Preises verzich- Verwirklichung solch umfassender Pläne sehr tete und nur zwei zweite, zwei dritte und drei viel Zeit benötigt werde, die der Reichstag vierte Preise vergab. Die Jury erklärte in ihrem zur Lösung seiner drängenden Raumprobleme abschließenden Gutachten, dass „der von der nicht hätte. Reichstagsverwaltung für den Dienstbetrieb not- Als Kompromiss einigte man sich auf eine Art wendig erachtete Verbindungsgang über die Doppelwettbewerb, wobei die Pläne für einen Straße“ nicht ausgeführt werden sollte. Erweiterungsbau das übergeordnete Ziel blieben; Bevor die Reichstagsverwaltung einen neuen den Wettbewerbsteilnehmern wurde jedoch im Anlauf nehmen konnte, meldeten sich kritische Rahmen dessen, was man im Ausschreibungs- Stimmen aus Fachwelt und Publizistik zu Wort. programm einen „Ideenwettbewerb für die Aus- Im Zentrum der Veröffentlichungen stand die gestaltung des Platzes der Republik“ nannte, Forderung, zukünftige Pläne für einen Erwei­ ­­ „anheimgestellt, Vorschläge für die Gesamtplatz- terungsbau des Reichstagsgebäudes nur im gestaltung zu machen“.

244 Feierlichkeiten zum Volkstrauer­- tag 1928 im Plenarsaal des Reichs- tags. Am linken Bildrand auf der Ehrentri­büne sitzt Reichs­präsident Paul von Hindenburg. Bei solchen Anlässen wurden die leeren Wand- flächen als Schmuckflächen genutzt. Auf diesem Bild ist ein Trans­parent mit dem ersten Teil der Präambel der Verfassung der Republik von Weimar zu sehen – vermutlich ein Versuch, die Gestaltung durch repu- blikanische Elemente zu ergänzen.

245 Die Mehrzahl der Teilnehmer des Wettbewerbs, der nicht offen ausgeschrieben wurde, sondern zu dem neben den Preisträgern des ersten Wett- bewerbs acht weitere Architekten eingeladen des Platzes den richtigen ideellen Maßstab an- wurden, ließ sich diese Möglichkeit zur Ent- gelegt“ habe; der Architekturkritiker Erwin wicklung von „Visionen“ nicht entgehen. Dazu Gutkind erklärte in der Baugilde, Poelzigs Ent- gehörte die Gruppe Emil Fahrenkamp & H. de wurf „dürfte als einziger von allen das mitrei- Fries, die den ersten Preis gewann, ebenso wie ßende Gefühl für die architektonischen Notwen­ die Gruppe Georg Holzbauer & Franz Stamm, digkeiten haben“. Zugleich bedauerte er, dass die den zweiten Preis erhielt und die offen- dieser Entwurf „leider nicht mit einem ersten sichtlich Hugo Härings Idee einer „Achse der Preis ausgezeichnet“ worden sei. Er merkte aller- Republik“ aus der Ausstellung 1927 mit den dings auch kritisch an, dass Poelzig „mit außer- Entwürfen von Hans Poelzig aus derselben ordentlicher Großzügigkeit ein ganzes Stadt- Ausstellung kombinierten. viertel niederzureißen gedenkt“. Der Architekt Poelzig selbst wartete mit dem radikalsten Vor- und Architekturkritiker Gustav Lampmann schlag auf: Er machte aus der Not eine Tugend schließlich stellte im Zentralblatt der Bauver- und nahm den unregelmäßigen Zuschnitt des waltung fest, das Reichstagsgebäude wirke in Grundstücks für den Erweiterungsbau nicht diesem Entwurf „wie beiseite geschoben“. nur auf, sondern steigerte ihn noch, indem er Weder ein Erweiterungsbau für den Reichstag ein dreiseitiges Hochhaus mit konkaven Außen­ noch eine der Architekturvisionen für das Forum wän­den entwarf. Daran schlossen sich neun der Republik im Spreebogen wurde je verwirk- Hochhäuser für Ministerien an, die in radialer licht. Für beides fehlte es in den letzten zwei Anordnung den Bogen der Spree aufnahmen Jahren der Republik nicht nur an Geld, sondern und zusammen mit dem Erweiterungsbau einen auch an politischem Willen. Die „Demokratie Halbkreis bildeten. Martin Wagner fand, ­Poelzigs als Bauherr“ hat versäumt, sich eine architekto- Entwurf sei „der einzige, der für die Gestaltung nische Verkörperung zu suchen.

246 oben: Hans Poelzig, Entwurf für die Neu-­ ge­staltung des Platzes der Republik; ­Vogelschau von Südwesten. Kohlezeichnung, 1929

Seite 246 links: Georg Holzbauer / Franz Stamm, Entwurf für die Neugestaltung des Platzes der ­Republik, 1929.

Seite 246 rechts: Emil Fahrenkamp / H. de Fries, ­Entwurf für die Neugestaltung des Platzes der ­Republik, 1929.

247 restlos entfernt werden“. Reichsinnenminister Adolf Köster erklärte in seiner Antwort am 2. März 1922, die Regierung sei grundsätzlich Offenbar hat keiner der Kritiker und Publizis- bereit, wie in der Anfrage gefordert zu verfahren; ten, die sich in diesen Debatten um ein Forum Ausnahmen müssten jedoch „bei untrennbar für die Republik im Spreebogen zu Wort melde- mit den Baulichkeiten verbundenen Stücken“ ten, und keiner der architektonischen Visionäre,­ und dann gemacht werden, „wenn ihre Beseiti- die dazu Entwürfe lieferten, die Frage gestellt, gung wegen ihres eigenen künstlerischen Wertes ob sich das Reichstagsgebäude mit seiner oder wegen des künstlerischen Gesamteindrucks Überfülle monarchischer Symbole für die der Baulichkeiten untunlich“ sei. Mit anderen Bedeutungszuweisung des Zentrums und der Worten: Die Bauplastiken blieben an Ort und ­Dominante eines solchen Forums überhaupt Stelle. ­eigne. Es gab, allerdings völlig unabhängig Einige Wochen nach dieser Auskunft setzte der von den Debatten und Visionen um ein solches Reichstag am 12. Juli 1922 eine Subkommission Forum, Initiativen, die monarchischen Symbole ein, die sich mit Fragen der Beseitigung der zumindest zu reduzieren. Am 10. September ­Hoheitszeichen und Symbole am Reichstags­ 1921 richteten die beiden sozialdemokrati- gebäude zu befassen hatte. Dies stand im un- schen Abgeordneten Otto Wels und Hermann mittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Müller im Reichstag eine Anfrage an die Regie- Plenardebatten über das „Gesetz zum Schutz rung, ob diese bereit sei, „anzuordnen, daß die der Republik“, das aus Anlass der Ermordung Hoheitszeichen des früheren Regimes inner- von Reichsaußenminister Walther Rathenau auf halb einer kurz zu bemessenden Frist aus den den Weg gebracht worden war und in dem es Dienstsiegeln, Amtsschildern, Amtsräumen unter anderem auch um die Verwendung mo­ und Gebäuden der Reichsbehörden endlich narchischer Symbole und Hoheitszeichen ging.

Staatsakt für den von Rechtsradi­ kalen ermordeten Reichsaußen­ minister Walther Rathenau im ­Plenarsaal des Deutschen Reichs-­ tags am 28. Juni 1922.

248 Die Kommission erbat zu dieser Frage von Reichskunstwart Edwin Redslob ein Gutachten, das kurze Zeit später vorlag und in dem Reds- lob sich argumentativ den einschränkenden ­Bemerkungen anschloss, die bereits in der Ant- Der Schriftsteller Joseph Roth, der als Berliner wort an die Anfrage der beiden SPD-Abgeord- Korrespondent der linksliberalen Frankfurter neten formuliert worden war: „Es würde dem Zeitung tätig war, schrieb im Mai 1924 nach Geiste des Ganzen aufs gröblichste widerspre- dem Besuch der Eröffnungssitzung des kurzle- chen und die Gesamtwirkung des Baudenkmals bigen zweiten Reichstags: „Das große Kunstge- aufs schwerste beeinträchtigen, sollte man an bäude wird im Dezember dieses Jahres dreißig einzelnen Stellen diese Motive entfernen.“ Mit Jahre alt. Seit Jahrzehnten ärgert es Menschen Ausnahme der Kronen auf den Fahnenstangen, von Geschmack und demokratischer Gesin- die Anfang Dezember 1922 entfernt wurden, nung. An seinem Eingang findet sich die Wid- blieb alles so, wie es war. mung „Dem deutschen Volke“. Aber auf seiner Es gab durchaus Zeitgenossen, die den eigen­ Kuppel, fünfundsiebzig Meter über dem Stra- artigen Kontrast zwischen der demokratischen ßenniveau, erhebt sich die goldene Krone, Volksvertretung einerseits und der monarchi- breit, wuchtend, eine Last, die in keinem Ver- schen Erscheinungsform des Gebäudes anderer- hältnis zur Kuppel steht und jenen Widmungs- seits wahrnahmen, in dem diese Volksvertretung spruch desavouiert. … Es ist unendlich schwer, ihrer Aufgabe nachging, einem republikanischen hier kein Symbol aus der Zeit Kaiser Wilhelms II. Staat die gesetzlichen Grundlagen zu verschaffen. zu sehen.“

249 Am Abend des 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude. Am Brandort wurde der 24-jährige Niederländer Marinus van der Lubbe festgenommen, der gestand, den Brand gelegt zu haben. Die Machthaber des nationalsozialis- tischen Regimes unterstellten, van der Lubbe habe in kommunistischem Auftrag gehandelt, der Brand habe das Startsignal für einen kom- munistischen Umsturz sein sollen. Als angebli- che Anstifter wurden der ehemalige Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, und die drei bulgarischen Kommunisten Georgi ­Dimitrow, Blagoi Popow und Wassil Tanew ­verhaftet. Der Prozess gegen die fünf Beschul- digten begann am 21. September 1933 vor dem Reichsgericht in Leipzig. Er endete am 23. De- zember mit dem Freispruch der vier kommu- nistischen Politiker; Marinus van der Lubbe wurde wegen „Hochverrats in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung“ zum Tode verur- teilt und am 10. Januar 1934 hingerichtet.

Vom Reichstagsbrand zum Kriegsende: das Reichstags­gebäude 1933 bis 1945

250 oben: Das brennende Reichstagsgebäude am 27. Februar 1933. Die Fotografie wurde nachträglich bearbeitet und koloriert.

unten: Blick in den vom Feuer zerstörten ­Plenarsaal des Reichstagsgebäudes am 28. Februar 1933.

251 zahlreicher kommunistischer und anderer ­oppositioneller Politiker in den Tagen und ­Wochen nach dem Brand, sondern langfristig Dass die Behauptung, Marinus van der Lubbe auch die willkommene Möglichkeit, ohne jede habe in kommunistischem Auftrag gehandelt, rechtsstaatliche Kontrolle mit allen Mitteln jeder Grundlage entbehrt, ist heute unbestrit- ­gegen Kritiker des Regimes vorzugehen. ten. Die Frage, ob er als Einzeltäter handelte Diesem radikalen Schritt auf dem Weg zur Er- oder ob nationalsozialistische Drahtzieher und richtung der Diktatur folgte am 23. März 1933 Mittäter beteiligt waren, wurde lange erbittert das Ermächtigungsgesetz, mit dem das Parla- diskutiert; diese Diskussion ist noch immer zu ment, das am 5. März neu gewählt worden war, keinem Abschluss gekommen. sich selbst entmachtete. Es übertrug seine Kom- Die Behauptung, die Nationalsozialisten selbst petenzen auf die Reichsregierung unter dem stünden hinter dem Brandanschlag, wurde amtierenden Reichskanzler Adolf Hitler. Dieses schon kurz nach dem Ereignis aufgestellt und Gesetz wurde mit den Stimmen fast aller Par- verbreitet. Sie entbehrte natürlich nicht einer teien verabschiedet; dagegen stimmten nur die gewissen Plausibilität angesichts der Tatsache, SPD-Abgeordneten. Die Abgeordnetenmandate dass den Machthabern des nationalsozialisti- der KPD waren sofort nach der Wahl auf der schen Regimes der Brand mehr als gelegen Grundlage der Reichstagsbrandverordnung kam. Bereits am 28. Februar 1933 wurde, ge- ­annulliert worden. wissermaßen als Reaktion auf den angeblichen Das Parlament konnte seine Sitzungen natür- kommunistischen Putsch, mit der Unterschrift lich nicht im ausgebrannten Plenarsaal des des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg Reichstagsgebäudes durchführen. Nach der die Notverordnung zum Schutz von Volk und ­Eröffnungssitzung am Vormittag des 21. März, Staat erlassen. Mit ihr wurden die Grund- und des „Tages von Potsdam“, in der Potsdamer Freiheitsrechte der Verfassung außer Kraft ge- Garnisonkirche trat der neu gewählte Reichstag setzt. Diese Reichstagsbrandverordnung bot noch am Nachmittag desselben Tages in der nicht nur die Grundlage für die Verhaftung ­zuvor umgebauten Kroll-Oper zu seiner konsti-

links: Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring wird am 4. Novem­ ber 1933 während des Reichstags- brandprozesses als Zeuge vernom- men. Göring war zu der Zeit des Brandes Reichstagspräsident. Im Hintergrund Tafeln mit Grundrissen des Haupt- und Obergeschosses des Reichstagsgebäudes.

Seite 253 links: Aufmarsch vor dem Reichstagsge- bäude zur Eröffnung der Propaganda- Ausstellung „Bolschewismus ohne Maske“ am 6. November 1937.

Seite 253 rechts: Modelle der „Großen Halle“, des Reichstagsgebäudes und des Bran- denburger ­Tors zum Größenver- gleich.

252 tuierenden Sitzung zusammen. Dieses Gebäude, dem Reichstag gegenüber auf der Westseite des Platzes, der 1933 wieder in Königsplatz umbe- nannt wurde, blieb bis April 1942 Schauplatz der insgesamt 18 Veranstaltungen, die „Reichs- Mit den Planungen des Generalbauinspektors tagssitzungen“ genannt wurden. Von wirklichen für die Reichshauptstadt, zu dem der Architekt Parlamentssitzungen kann man nicht sprechen Albert Speer im Januar 1937 von Hitler ernannt angesichts der Tatsache, dass mit dem Ermäch- wurde, geriet das Reichstagsgebäude vorüber­ tigungsgesetz der Reichstag keine wirklichen gehend in den Fokus des Interesses. Im Zen­ Kompetenzen mehr hatte. Zwar wurden im De- trum der Pläne, Berlin zur Welthauptstadt zember 1933, im März 1936 und im April 1938 „Germania“ auszubauen, stand eine sieben Reichstagswahlen durchgeführt; diesen Wahlen Kilometer lange und 120 Meter breite Pracht- lagen jedoch NSDAP-­Einheitslisten zugrunde. straße, die Nord-Süd-Achse. Sie endete im Im Reichstagsgebäude konnten nach dem Spreebogen, wo sie auf eine „Große Halle“ traf, Brand keine Plenarsitzungen mehr stattfinden; ein quadratisches Gebäude mit einer Seitenlän- ein nicht unerheblicher Teil der Räume war ge von 315 Metern und einer Kuppel, die die allerdings unbeschädigt geblieben und konnte Höhe von 290 Metern erreichen sollte. Diese weiter genutzt werden. Die große, mehr als Halle beherrschte den zu einem riesigen Auf- 300.000 Bände zählende Bibliothek des Reichs- marschplatz erweiterten Königsplatz, an dessen tags blieb bis 1940 im Haus und konnte dort Westseite, genau dem Reichstagsgebäude ge- auch genutzt werden; die Mitarbeiter der Reichs- genüber, aber um ein Mehrfaches größer, ein tagsverwaltung behielten ihre Diensträume. „Führerpalast“ geplant war. Größere Räume, die intakt geblieben waren, Angesichts dieser Größenordnungen wäre das wurden für Veranstaltungen vermietet. Zu den Reichstagsgebäude völlig in den Hintergrund spektakulärsten Veranstaltungen gehörten­ die getreten. Gleichwohl scheint zunächst auf beiden Propaganda-Ausstellungen „Bolsche- Wunsch Hitlers der Plan gefasst worden zu wismus ohne Maske“ im Winter 1937 und „Der sein, das Gebäude instand zu setzen und auszu- ewige Jude“ im Winter 1938/1939, die jeweils bauen. Obwohl diese Überlegungen über den große Besuchermassen anzogen. Planungsstand nicht hinausgekommen sind,

253 Auch das Reichstagsgebäude, in dessen Luft- schutzkellern im Herbst 1943 eine Entbindungs- station der Charité untergebracht wurde, blieb von Bombenabwürfen nicht verschont. Die ­letzten Angriffe kamen jedoch von der Roten Armee, die am 29. April 1945 das Reichs­tags­ gebäude unter heftigen Artilleriebeschuss­ nahm. Das bekannteste Zeugnis dieses­ „Kampfes um musste das Gebäude für deren Verwirklichung den Reichstag“ ist ohne Zweifel die Fotografie von den bisherigen Nutzern geräumt werden. des sowjetischen Fotografen Jewgeni Chaldej. Ab Ende 1939 wurde stattdessen der Bau eines Sie zeigt einen Rotarmisten, der auf dem Dach neuen Reichstagsgebäudes geplant, das im des Reichstagsgebäudes als Zeichen des Sieges Norden an das jetzt alte Reichstagsgebäude die rote Fahne hisst, auch wenn diese Szene am anschließen, auf der anderen Seite mit der 2. Mai, nach Ende der Kampfhandlungen, nach- „Großen Halle“ verbunden werden und einen gestellt wurde. Dass diese Fotografie so weite Plenarsaal von über 2.000 Quadratmetern haben Verbreitung finden konnte, dass sie vielfältig sollte. Im Zusammenhang dieser Pläne soll nachgedruckt wurde und auch auf Briefmarken Hitler den Vorschlag Speers, das Reichstags­ Verwendung fand, hängt mit der Tatsache zu- gebäude abzureißen, mit der Begründung abge- sammen, dass das Reichstagsgebäude für die lehnt haben, es solle als Denkmal stehen blei- Rote Armee der Symbolort für die national- ben, weil in ihm die Nationalsozialisten gegen so­zialistische Dik­tatur par excellence war. die Republik gekämpft hätten und am Ende Dabei war nach der ­Beseitigung der parlamen- siegreich geblieben wären. Um mit der Verwirk- tarischen Demokratie durch diese Diktatur und lichung dieser Pläne beginnen zu können, wur- nach der Zerstörung durch Reichstagsbrand den seit 1938 umfangreiche Abrissarbeiten im und Krieg die Ruine dieses Gebäudes, dessen Alsenviertel durchgeführt, die bis 1942 fortge- Außenmauern standgehalten hatten, eine kaum setzt wurden; dann übernahmen britische Bom- überbietbare ­Vi­sualisierung des vorläufigen ber alles Weitere. Scheiterns der Demokratie.

254 Rotarmisten hissen am 2. Mai 1945 die rote Fahne auf dem Reichstags- gebäude. Fotografie von Jewgeni Chaldej

255 Im Januar 1946 meldete die Berliner Presse, Hans Scharoun, der in einem von den sowjeti- schen Besatzungsbehörden im Mai 1945 einge- setzten Berliner Magistrat als Stadtbaurat am- tierte, habe die Ruine des Reichstagsgebäudes auf eine Liste instandsetzungsfähiger Groß­ bauten setzen lassen. Natürlich war an eine ­Instandsetzung zunächst nicht zu denken, und niemand hätte wohl zu sagen gewusst, wofür das Gebäude wiederhergestellt werden sollte. Es sieht so aus, als hätten Politik und Verwal- tung im Laufe des folgenden Jahres ihre Mei- nung geändert. Im Dezember 1947 berichtete die Tägliche Rundschau, das Hauptamt für Bau- und Wohnungswesen plane, „den Reichstags- bau als das zu ­benutzen, was er in Wirklichkeit nur noch ist: als außerordentlich bequemen und reichhaltigen Steinbruch“. Damit war die Alternative ­formuliert, die über die nächsten Jahre hinweg die Diskussion über das Schick-­ sal des Reichstagsgebäudes bestimmen sollte: Wiederaufbau oder Abriss. In dem Maß, in dem die Konfrontation der ­politischen Machtblöcke zur Teilung Deutsch- lands und zur Spaltung der Viersektorenstadt Berlin führte, mehrten sich die Stimmen, die den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes aus politischen Gründen forderten. Nicht zuletzt dank der wiederholten Kundgebungen gegen Blockade und Spaltung, die seit Sommer 1948

„Ein bisschen Sinn für Geschichte“: Wiederaufbau und Umbau nach dem Zweiten Weltkrieg

256 Blick auf das zerstörte Reichstags­ gebäude im Jahr 1946.

257 deutsche Einheit zu schaffen“. Er stimmte da- mit seinem Vorredner, dem Berliner Bundes- tagsabgeordneten Willy Brandt zu, der erklärt auf dem Platz der Republik stattfanden, war hatte, dass „eine nationale Verpflichtung für die Ruine als Kulisse dieser Veranstaltungen jenes Gebäude gegeben sei, das als Arbeitsstätte zunehmend zur Verkörperung dieses Protests des Reichstages der Weimarer Republik von und der Hoffnung auf die Wiederherstellung den Nationalsozialisten angesteckt und dann der deutschen Einheit geworden. Jakob Kaiser, durch Kriegseinwirkungen schwer mitgenom- seit 1949 Bundesminister für gesamtdeutsche men wurde und vor dem – in unmittelbarer Fragen, formulierte diese Bedeutungszuwei- Nähe des sowjetischen Sektors – während der sung als einer der Ersten in der Rede, die er letzten Jahre einige der großartigen Freiheits- auf der Kundgebung am 1. Mai 1950 hielt; er kundgebungen stattgefunden haben“. verband sie mit der Forderung nach Wieder­ Der Minister für gesamtdeutsche Fragen er- aufbau: „Das Reichstagsgebäude vor uns ist in wähnte in seinem Beitrag zur Debatte, dass ge- den letzten Jahren zum Sinnbild der Solidarität gen den Wiederaufbau „sehr viele künstlerische ­aller Berliner geworden. Heute wird es klarer Einwände gemacht worden“ seien. Zwar sprach denn je: Dieses Haus der Deutschen muß mög- er diesen Einwänden die Berechtigung nicht lichst schnell wieder auf- und ausgebaut wer- ab, hielt aber fest, dass für ihn „der politische den, um Bundestag, Bundesrat und Bundes­ Gesichtspunkt maßgebend“ blieb. Dieser Ge- regierung aufzunehmen.“ gensatz von Ästhetik und Politik ist ebenso Jakob Kaiser forderte auch im folgenden Jahr wie die makellose demokratische Biografie, die wiederholt „den Wiederaufbau dieses Hauses, ­Willy Brandt dem Gebäude verschaffte, nicht in dem sich unser Streben nach Wiedervereini- ganz so eindeutig, wie Kaiser hier suggerierte. gung Deutschlands verkörpern könnte“. In ei- Künstlerische Einwände, oft verbunden mit ner Plenardebatte des Deutschen Bundestages der Forderung nach Abriss, waren wiederholt am 20. Juni 1951 über den Antrag, Sitzungen er­hoben worden: wenige Wochen vor dieser des Bundestages in Berlin abzuhalten, bekräf- ­Sitzung des Bundestages in Gesprächen, die tigte der Minister seine Forderung mit dem Ar- der Minister mit dem Vorstand des Deutschen gument, es käme darauf an, „ein Symbol mehr Werkbunds geführt hatte, aber auch noch für unseren zuversichtlichen Glauben an die Jahre später vom Bund Deutscher Architekten.

258 Der politische Hintergrund dieser ästhetischen Bedenken ist in der Tatsache zu suchen, dass das Gebäude so, wie es 1894 vom Parlament übernommen worden war, zwar einen demo- kratischen Inhalt hatte, in Form und Gestaltung aber die monarchischen Züge weitaus überwo- Verwendung“, wie Gerstenmaier zwei Monate gen. Dieser Widerspruch zwischen Form und zuvor gesagt hatte, blieb auch in den folgenden Inhalt erwies sich jetzt als Dilemma bei der Jahren ungeklärt. Klar schien jedoch, dass es ­Frage nach Abriss oder Wiederaufbau. wiederaufgebaut werden würde. Zur Lösung des Problems wurden in zahlrei- Diese Konsequenz brachte mit aller Deutlich- chen Stellungnahmen der folgenden Jahre zwei keit Willy Brandt zum Ausdruck, als er in einer einander ergänzende Strategien entwickelt. Plenardebatte am 26. Oktober 1955 erklärte: Zum einen wurde die Forderung nach Wieder- „Schließlich sollten wir dafür sorgen, dass das aufbau mit dem Vorschlag verknüpft, das Ge- jahrelange Gezerre und Gerede um die Reichs- bäude mit einem „einigermaßen zeitnahen Ge- tagsruine durch einen bescheidenen, aber prak- sicht“ wiederherzustellen, wie es die Berliner tischen Schritt abgelöst wird. Es geht gar nicht Senatsbauverwaltung 1952 formulierte. Bun- darum, ob die künftige Nationalversammlung destagspräsident Eugen Gerstenmaier sprach im wiederaufgebauten Reichstagsgebäude wür- sich zwischen 1956 und 1959 wiederholt für de arbeiten können oder ob es dazu neuer Bau- den Wiederaufbau aus, machte aber nach einer ten bedürfen würde, sondern es geht um ein Besichtigung der Ruine im März 1957 unzwei- bisschen Sinn für Geschichte und auch um die deutig klar, er sei nicht für „Kuppeln und Tür- Klärung der Frage, wie denn überhaupt prak- me und altes Brimborium“. Zum anderen bot tisch der Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes sich die Möglichkeit an, das Reichstagsgebäude für den einen oder den anderen nationalen wiederaufzubauen, es aber nicht als Plenarge- Zweck sinnvoll in die Wege geleitet werden bäude für den Deutschen Bundestag zu nutzen. soll.“ Ob das Reichstagsgebäude „für Zwecke der ge- Der bescheidene, aber praktische Schritt, von setzgebenden Körperschaften“ wiederaufgebaut dem Brandt hier spricht, war die Ausschrei- werden sollte, wie das Berliner Abgeordneten- bung des städtebaulichen Ideenwettbewerbs haus im Dezember 1956 beschlossen hatte, oder „Hauptstadt Berlin“ und des Wettbewerbs „grundsätzlich unabhängig von seiner späteren ­„Wiederherstellung des Reichstagsgebäudes“.

Kundgebung vor dem Reichstags­ gebäude am 9. September 1948. Bei dieser Kundgebung, zu der bis zu 300.000 Teilnehmer gekommen sein sollen, hielt der Berliner Oberbür- germeister die Rede mit den berühmten Worten: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Ame- rika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt …“ Solche Ver­anstaltungen trugen dazu bei, dass die Ruine des Reichstags- gebäudes zum ­Symbol der deutschen Einheit wurde.

259 Beide Wettbewerbe waren vom Senat von Berlin seit Jahren geplant worden. Der Debatte, in deren Rahmen Brandt den „Sinn für Geschichte“ mo- bilisiert hatte, lag ein Antrag der SPD-Fraktion zugrunde, zur Durchführung des Wettbewerbs „Hauptstadt Berlin“ 350.000 D-Mark und des Wettbewerbs „Wiederherstellung des Reichs­ tagsgebäudes“ 60.000 D-Mark zur Verfügung zu Der Wettbewerb „Wiederherstellung des Reichs- stellen. Der Antrag wurde nach langer Diskus­ tagsgebäudes“ war verschoben worden, um sion mit großer Mehrheit angenommen. die Antworten der Teilnehmer am Hauptstadt- Der Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ konnte Wettbewerb auf die Frage nach der ­Zukunft des im März 1957 international ausgeschrieben Reichstagsgebäudes nicht vorwegzunehmen. werden. Natürlich war dieser Wettbewerb auch Gleichwohl hatte der Bundestag finanzielle­ eine politische Geste, die deutlich machen soll- Mittel für die weitere Enttrümmerung, für Siche- te, dass die Politik der Bundesrepublik auch rungsmaßnahmen und für die Substanzerhal- nach NATO-Beitritt und verstärkter Westbin- tung des Reichstagsgebäudes zur Verfügung ge- dung an dem Gedanken der Wiedervereinigung stellt. Solche Arbeiten waren schon seit Jahren festhalte und schon jetzt für die Hauptstadt des wiederholt durchgeführt ­worden, wurden aber vereinigten Deutschlands plane. Die Teilnehmer ab Herbst 1957, als der Hauptstadt-Wettbewerb­ sollten unter anderem die Frage beantworten, noch nicht beendet war, in großem ­Umfang wie das im Spreebogen geplante Regierungs- fortgesetzt. Im Auftrag der Bundesbaudirektion, viertel aussehen und welche Rolle dabei das der für das Gebäude zuständigen ­Behörde, wurde Reichstagsgebäude spielen sollte. Nach Ende der südliche Teil der Haupt­fassade restauriert. des Wettbewerbs im Februar 1958 wurde deut- Diese Restaurierung erwies sich als Teilzerstö- lich, dass fast alle Teilnehmer und alle Preis­ rung: Fast der gesamte Bauschmuck wurde besei- träger das Reichstagsgebäude erhalten wissen tigt, sodass am Ende eine stilbereinigte Fassade wollten, dass aber keiner sich vorstellen konnte, übrigblieb, gegen die kaum noch „künstlerische“ dass dieses Gebäude der Sitz des Parlaments Einwände vorgebracht werden konnten. Die sein würde; die Nutzungsvorschläge reichten Kuppel war übrigens, nach jahrelanger Vorbe- von Bundesverfassungsgericht über Bibliothek­ reitung und aus Gründen der Sicherheit, bereits bis Museum. 1954 gesprengt worden.

Blick auf die Südhälfte der Haupt- fassade des Reichstagsgebäudes 1958 nach der Sanierung durch die Bundesbaudirektion.

260 wenn nicht zu entfernen, dann doch zu verklei- den; ein Besucher, der nicht wusste, dass er Erst am 1. Juli 1960 konnte der lange geplante sich in einem Gebäude des 19. Jahrhunderts be- Wettbewerb ausgelobt werden, und zwar als be- fand, konnte im Inneren leicht auf den Gedan- schränkter Wettbewerb, zu dem zehn Architek- ken kommen, in einem Neubau zu sein. ten eingeladen wurden; im Januar 1961 stand ­Insbesondere der Plenarsaal, dank der Teilent- Paul Baumgarten als Wettbewerbssieger fest. kernung des Gebäudes doppelt so groß wie der Zwar war in den Ausschreibungsunterlagen alte Plenarsaal, wirkte durch seine fast sparta- deutlich gemacht worden, dass das Gebäude nische Möblierung „bis zu seinem Ende immer nach Wiederherstellung parlamentarischen unfertig“, wie der Architekturhistoriker Dieter Zwecken dienen solle; man hatte jedoch die er- Bartetzko bemerkte. betenen Gestaltungsvorschläge auf die Haupt- Noch bevor Bundestagspräsidentin Annemarie eingangs- und Wandelhalle sowie auf die Re- Renger das Haus am 1. Juni 1973 offiziell für präsentationssäle im Westflügel beschränkt. den Bundestag übernehmen konnte, waren seit Dass Paul Baumgarten schließlich das gesamte 1971 wiederholt Ausschuss- und Fraktionssit- Gebäude umbauen und auch einen zunächst zungen im wiederaufgebauten Reichstagsge­ gar nicht vorgesehenen Plenarsaal gestalten bäude durchgeführt worden. Plenarsitzungen konnte, verdankte sich vor allem seiner Beharr- waren allerdings nicht mehr möglich, da die lichkeit in Verhandlungen mit den zuständigen Besatzungsmächte im sogenannten Viermächte- Behörden. abkommen 1971 den Viermächte-Status Berlins Das Ergebnis dieses Umbaus, der zehn Jahre bestätigt hatten, West-Berlin also weiterhin dauerte, ist viel diskutiert und sehr verschie- kein Bestandteil der Bundesrepublik war. Der den bewertet worden. Man hat Baumgarten Plenarsaal konnte seine eigentliche Funktion zugutegehalten, dass er durch den Einsatz von nur zwei Mal wahrnehmen: als am 4. Oktober viel Glas große Durchblicke geschaffen habe, 1990 der erste gesamtdeutsche Bundestag zu wie sie im Übrigen auch für das Gebäude heute seiner ersten Sitzung im Reichstagsgebäude zu- charakteristisch sind; so geht etwa die Öffnung sammentrat und wenige Wochen später, als am und Verglasung des großen Westportals auf 20. Dezember 1990 die konstituierende Sitzung Baumgarten zurück. Auf der anderen Seite ging des 12. Deutschen Bundestages stattfand, der der Architekt bei der Modernisierung so weit, am 2. Dezember in den ersten freien gesamt- so gut wie alle erhaltenen historischen Bauteile­ deutschen Wahlen gewählt worden war.

Blick in den nach Entwürfen Paul Baumgartens gestalteten Plenarsaal im Reichstagsgebäude im Jahr 1974.

261 Vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 war das Reichstagsgebäude verpackt. Es verschwand ­unter einer Hülle von rund 100.000 Quadrat­ metern silbergrauem Polypropylen. Damit war das Kunstprojekt „Wrapped Reichstag“ endlich verwirklicht worden, das von dem bulgarisch-­ französischen Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude seit 1971 mit oft längeren Unter- brechungen, aber großer Beharrlichkeit geplant worden war. Die erste Anregung soll auf den amerikanischen Journalisten und Galeristen Michael S. Cullen zurückgehen, der seit 1964 in Berlin lebt und der nach der Eröffnung der Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ Christo auf­ die Möglichkeit aufmerksam machte, das Reichstags­ gebäude zum Gegenstand eines Verpackungs- kunstwerks zu machen; der bulgarische Künstler hatte bereits seit einigen Jahren mit Projekten für die Verpackung von Gebäuden Aufmerksam­ keit erregt. In zahlreichen Kontakten mit deutschen Politi- kern zwischen 1976 und 1991, vor allem immer wieder mit den Präsidenten des Deutschen Bun- destages, stießen die beiden Künstler auf freund- liche Aufmerksamkeit, aber auch auf Ablehnung. Zwar setzten sich im Lauf der Jahre einzelne Politiker verschiedener Parteien, unter ihnen Willy Brandt und Richard von Weizsäcker, für die Verwirklichung des Projekts ein, das

„Wrapped Reichstag“: die Verhüllungsaktion von Christo und Jeanne-Claude

262 auch von privaten Initiativen unterstützt wur- de. An eine Verwirklichung war vor dem Ende der deutschen Teilung aber offensichtlich nicht zu denken. Im Zentrum aller Argumente,­ die gegen das Projekt vorgebracht wurden, stand die Befürchtung, die Verhüllung könne der deutlicht. Bevor die Umbauten des Reichstags Würde des Reichstagsgebäudes als Symbol der zum Bundestag beginnen, liegt in der Verhül- Einheit Deutschlands während der faktischen lung eine große Chance, die Zäsur in der Ge- Teilung schaden. schichte der Deutschen deutlich zu machen.“ Es war wohl schließlich Bundestagspräsidentin Anders als in den Jahren zuvor stehe hier der Rita Süssmuth, die mit ihrem Interesse an dem Gedanke im Vordergrund, die Würde des Ge- Projekt ab 1991 dazu beitrug, den Weg zur Ver- bäudes werde durch die Kunstaktion nicht wirklichung zu ebnen. Während mehrere Ver- ­verringert, sondern verstärkt. suche scheiterten, eine positive Entscheidung Der Antrag wurde am 25. Februar 1994 im Ple- im Ältestenrat herbeizuführen, empfahlen die num des Deutschen Bundestages lebhaft und Fachpreisrichter des Wettbewerbs „Umbau des kontrovers diskutiert. Nachdem die Gegner und Reichstagsgebäudes zum Deutschen Bundes- Befürworter ihre Argumente ausgetauscht hat- tag“ 1993, das Projekt vor dem Umbau durch- ten, ergab die Abstimmung 292 Stimmen für führen zu lassen. Damit werde das Gebäude die Verpackung und 223 Stimmen dagegen. Der nicht ab-, sondern aufgewertet. Zur Begrün- Weg für Christo und Jeanne-Claude war frei. dung wurde angeführt: „Mit der Enthüllung des Die zwei Wochen Ende Juni /Anfang Juli 1995 Reichstagsgebäudes vor dem Umbau zum Bun- bestätigten die Hoffnungen der Befürworter. deshaus wird der Neubeginn in der Geschichte Auch wenn es schwer nachzuweisen sein dürf- des Baus deutlich gemacht.“ te: Geschätzte fünf Millionen Besucher haben Diese Argumentation machte sich eine fraktions­ sich den verhüllten Reichstag nicht entgehen übergreifende Initiative zahlreicher Bundestags- lassen. Die internationale Resonanz war über- abgeordneter zu eigen, die am 3. Februar 1994 wältigend und gab im Nachhinein den Fach- ­einen Antrag zum Thema „Verhüllter Reichstag – preisrichtern recht, die ihre Empfehlung mit Projekt für Berlin“ einbrachte: „Das Reichstags- dem Satz abgeschlossen hatten: „Das Projekt gebäude ist ein würdevolles Symbol der deut- wird weltweit Aufmerksamkeit und Anerken- schen Geschichte und verdient großen Respekt.­ nung finden und als Zeichen für ein neues, Dies wird durch das Kunstwerk besonders ver- ­offenes Deutschland stehen.“

Das verhüllte Reichstagsgebäude im Juli 1995.

263 Manche hatten durchaus Bedenken. Zwar gab wohl die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Meinung der überwiegenden Mehrzahl der Ab- geordneten wieder, als sie am 18. September 1991 unter dem Titel „Der Reichstag, was sonst“ der Frage nachging, wo der Deutsche Bundestag in Berlin seine Plenarsitzungen ­abhalten werde; am 26. September wusste die Süddeutsche Zeitung allerdings zu berichten, dass der „Umzug in den Reichstag noch unge- wiß“ sei. Am 30. Oktober 1991 war die Ungewissheit vorbei. An diesem Tag beschloss der Ältesten- rat, „mit den Planungen für das Reichstagsge- bäude“ zu beginnen, „die von einer auf Dauer angelegten Nutzung für die Plenarsitzungen ausgehen sollten“. Damit waren Überlegungen, für den Plenarsaal des Deutschen Bundestages einen Neubau zu errichten, ad acta gelegt. Am 19. Juni 1992 konnte der Realisierungs- wettbewerb „Umbau des Reichstagsgebäudes für den Deutschen Bundestag“ ausgeschrieben werden. Die Entwürfe der drei Wettbewerbs­ teilnehmer, die von der Jury im Januar 1993 gleichrangig auf den ersten Platz gesetzt wur- den, gingen allerdings architektonisch und finanziell weit über den gesteckten Rahmen hinaus. Der Ältestenrat setzte im September 1991 eine Bau- und Konzeptkommission ein, um die grundsätzlichen Entscheidungen für die Planung und Organisation des Umzugs des Deutschen Bundestages nach Berlin zu treffen.

„Ein Symbol der Demokratie“: das Reichstagsgebäude seit 1991

264 wieder eine Kuppel bekommen solle oder nicht, noch einmal viele der Vorbehalte zutage, Die Kommission bat die drei Preisträger – die bereits vor der Entscheidung des Ältesten- ­Santiago Calatrava, Pi de Bruijn und Norman rats am 30. Oktober 1991 geäußert worden wa- Foster – am 12. April 1993, ihre Entwürfe noch ren und die der Süddeutsche Zeitung Anlass zu einmal zu überarbeiten. Nach der Präsentation der Vermutung gegeben hatten, der Umzug in der überarbeiteten Entwürfe beauftragte der das Reichstagsgebäude sei noch ungewiss. ­Ältestenrat am 1. Juli 1993 Norman Foster mit In Fraktions- und Kommissionssitzungen, im der Fortsetzung der Planungen. Plenum und im Ältestenrat, in einer Reihe von Der britische Architekt Foster überzeugte mit Presseveröffentlichungen, aber auch während seinem Konzept, den Anforderungen eines mo- eines Kolloquiums, das der Deutsche Bundes- dernen Arbeitsparlaments zu genügen, gleich- tag im Vorfeld der Ausschreibung des Wettbe- zeitig aber dieses hohe Maß an Funktionalität werbs am 14./15. Februar 1992 im Plenarsaal und Effektivität mit der behutsamen Erhaltung im Bonner Wasserwerk durchführte und auf der historischen Substanz zu verbinden. Zwar dem fast 400 Architekten, Stadtplaner, Histo­ fielen der Verwirklichung dieses Konzepts die riker, Denkmalpfleger und Abgeordnete über Ein- und Umbauten der Ära Paul Baumgarten „die bauliche Gestaltung und Nutzung des fast vollständig zum ­Opfer; eine Epoche des Reichstagsgebäudes“ diskutierten, wurde im- Reichstagsgebäudes verschwand. Doch war es mer wieder die Meinung vertreten, das Reichs- gerade dadurch möglich, die wenigen aus der tagsgebäude ­eigne sich nicht für die architekto- Bauzeit erhaltenen Schmuckelemente, die die nische Selbstdarstellung der parlamentarischen Kriegs- und Nachkriegszerstörungen hatten be- Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. stehen lassen und die ebenso wie die Graffiti Die „Imponierarchitektur“ des Gebäudes ent- sowjetischer Soldaten hinter Wandverkleidun- spreche sehr genau dem autoritären Obrigkeits- gen verschwunden waren, wieder ans Licht staat des wilhelminischen Kaiserreichs, für des Tages zu fördern. dessen Parlament es errichtet worden war. Da Vom Auftrag an den Architekten bis zum Be- dieses Parlament zwar am Gesetzgebungsver- ginn der Bauarbeiten Ende Juli 1995 war aller- fahren beteiligt gewesen sei, aber die Regierung dings noch ein hindernisreicher Weg zurückzu- weder bilden noch kontrollieren konnte, sei legen. Während der weiteren Entwurfsplanungen das Reichstagsgebäude das architektonische traten über die Frage, ob das Reichstagsgebäude Ebenbild eines parlamentarischen Machtdefi-

Im Rahmen des Umbaus des Reichs­ tags­gebäudes für den ­Bundestag wurde Bauschmuck aus dem 19. Jahrhundert wieder sichtbar ­gemacht.

265 ­bisher üblichen steinernen Halbkugeln, habe ­Wallots Kuppel einen quadratischen Grundriss erhalten, und sie war aus Stahl und Glas errich- zits. Dem wurde entgegengehalten, gerade die tet, den Materialien der modernen bürgerlichen­ aufwendige Architektur des Gebäudes sei nach Ingenieurbaukunst. Die Kuppel sei also eine dem Willen des Architekten Paul Wallot, der Verstärkung des bereits in der aufwendigen sich darin mit zahlreichen Reichstagsabgeord- ­Architektur sichtbar werdenden Machtanspruch neten einig gewesen sei, die eindeutige Demons- des Parlaments gewesen; sie sei, wie ein Vor- tration des parlamentarischen Machtanspruchs. kämpfer der Kuppellösung, der ehemalige Bun- Das beklagte Machtdefizit sei im Lauf der Jahre desbauminister Oscar Schneider, zugespitzt­ zwar nicht de jure, aber de facto zunehmend ­formulierte, „ein Symbol der Demokratie“.­ verringert worden. Überdies sei die Volksver- Diese Argumente waren sicherlich nicht allein tretung des Kaiserreichs nach einem für seine ausschlaggebend, als der Ältestenrat am 30. Juni Zeit außerordentlich demokratischen Wahl- 1994 beschloss, den Architekten mit dem Ent- recht gewählt worden. Das Gebäude verkörpere wurf einer Kuppel zu beauftragen. Foster, der also demokratische Traditionen, an die der weder in seinem Wettbewerbsbeitrag noch im Deutsche Bundestag guten Gewissens anknüp- überarbeiteten Entwurf eine Kuppel vorgesehen fen könne. hatte und eher ein gläsernes Flachdach, allen- Diese Frontstellungen traten in der Kuppel­ falls einen zylinderförmigen Dachaufbau favori­ diskussion erneut zutage, die ebenfalls nicht sierte, war von diesem Auftrag wenig begeistert. nur in der parlamentarischen Debatte, sondern Ebenso wenig begeistert waren natürlich die auch publizistisch ausgetragen wurde. Eine Kuppelgegner, aber auch die Befürworter. Denn Kuppel werde, so die Gegner, den Imponier­ keineswegs wurde, wie gefordert, die Wallot- gestus des Gebäudes nur noch verstärken, denn Kuppel rekonstruiert, sondern eine Hightech- schließlich seien Kuppeln architektonische Kuppel errichtet, auf die man sich unter den Herrschaftszeichen vordemokratischer politi- zahlreichen Entwurfsvarianten, die Foster vor- scher Systeme. Gerade deshalb, meinten die legte, schließlich einigte. Offensichtlich hatte Befürworter, müsse die Kuppel gebaut werden, die Frankfurter Allgemeine ins Schwarze ge- da sie so etwas wie die innere Umkehrung troffen, als sie bereits am 14. März 1994 einen des monarchischen Herrschaftsanspruchs zu- Artikel über die Kuppelfrage unter den Titel gunsten des Parlaments sei. Anders als die stellte: „Wie man baut, was niemand will“.

266 Das Reichstagsgebäude als Baustelle während des Umbaus für den Deutschen Bundestag am 10. Oktober 1996.

267 Der Kegel in der Kuppel ist Teil des innovati- Die Ironie dieser Geschichte ist, dass die Kup- ven und umweltfreundlichen Energiekonzepts, pel ein Riesenerfolg wurde und immer noch ist. das die Fachleute des Büros von Foster, der Der eigenwilligen Form wegen abwechselnd selbst ein leidenschaftliches „Bekenntnis zu mit einer Brathaube oder einem Bienenkorb Energieeffizienz und Umweltverträglichkeit“ verglichen, ist der „gläserne Lampion“, der ablegt, für das Reichstagsgebäude entwickelt nachts wie ein Leuchtfeuer über der Innenstadt haben. Im Zentrum stehen zwei Blockheizkraft- steht, neben das Brandenburger Tor als Wahr- werke, deren Antriebsmotoren mit Biodiesel zeichen Berlins getreten. Mag sein, dass die betrieben werden, dessen CO2-Emission weit Kuppel ein Symbol „für die neue Offenheit­ unter den Mengen konventioneller Brennstoffe und für die demokratische Renovierung“ des liegt. Ergänzt durch eine 310 Quadratmeter Reichstagsgebäudes ist, wie Bundeskanzler ­große Fotovoltaikanlage auf dem Dach werden Gerhard Schröder in seiner Regierungserklä- mehr als 80 Prozent des Bedarfs an elektri- rung am 10. November 1998 erklärte;­ auf jeden schem Strom für das Reichstagsgebäude als Fall ­stehen täglich Tausende Besucher an, um Ökostrom produziert. Gleichzeitig wird die der Volksvertretung in der Kuppel aufs Dach ­Abwärme der Motoren dieser Kraftwerke zum zu steigen. Heizen genutzt; überschüssige Abwärme, die In der zentralen Achse der Kuppel befindet im Sommer nicht benötigt wird, wird in einer sich das Lichtumlenkelement, das mit den wasserführenden Erdschicht und 300 Meter 360 Spiegeln seiner Außenverkleidung das ­unterhalb des Gebäudes gespeichert und ­Tageslicht, das durch die Glaskuppel einfällt, kann bei Bedarf im Winter wieder in den reflektiert und in den Plenarsaal lenkt, wo- ­Energiekreislauf des Gebäudes zurückgeführt durch erhebliche Einsparungen bei den Kosten werden. für die Beleuchtung möglich sind. Dank seiner Der Plenarsaal befindet sich im Hauptgeschoss, Kegelform wirkt das Lichtumlenkelement wie auf dem der Besucher das Gebäude betritt. ein Kamin, ein umgekehrter Trichter, mit dem ­Norman Foster hat den Saal, der mit 1.230 Qua- durch den natürlichen Auftrieb verbrauchte dratmetern doppelt so groß ist wie der Plenar- Warmluft aus dem Plenarsaal nach oben abge- saal von Wallot, soweit es möglich war, mit führt wird. Im Inneren des Kegels verbirgt sich ­gläsernen Wänden versehen. Er folgte damit der überdies die gesamte für die Entlüftung und Überzeugung, dass es darauf ankomme, „das Entrauchung des Plenarsaals notwendige Haus- Regieren für die Öffentlichkeit zugäng­licher zu technik. machen“.

268 Die Kuppel des Reichstagsgebäudes ist zu einem Besuchermagneten ­geworden; in der Mitte das Licht­ umlenkelement.

269 An der Nord- und der Südwand des Saales, die auf die zwei Lichthöfe gehen, die vom Wallot- Die Grundfarbe des Plenarsaals ist hellgrau. Ein Reichstag bestehen blieben, befinden sich hohe, sehr starker farbiger Akzent ergibt sich durch verglaste Bogenfenster mit ebenfalls verglasten die Stoffbespannung der Sitzgelegenheiten, ein großen Oberlichtern. Die West- und die Ost- ins Violett gehendes Blau, das Norman ­Foster wand dagegen bestehen vollständig aus Glas. als „Reichstags-Blue“ nach dem Farbkonzept Der Besucher, der aus der Eingangshalle kom- auswählte, das der von ihm beauftragte dänische mend die westliche Wandelhalle betritt, kann Designer Per Arnoldi entwickelte. den gesamten Plenarsaal überblicken. Auf der Plenarsaalebene, von den ringsum lau- Er sieht über dem Präsidium an der gegenüber- fenden Wandelhallen zugänglich, befinden sich liegenden Ostwand den Bundestagsadler, den weitere Räume, die von den Abgeordneten ge- Millionen Fernsehzuschauer von Übertragun- nutzt werden: vom Haupteingang aus rechts gen aus dem Plenarsaal kennen. Dieser Adler die Abgeordnetenlobby für Gespräche am Rand, nach einem Entwurf von Ludwig Gies erhielt daneben der Clubraum und an der Südseite der 1953 im Plenarsaal des Bonner Bundeshauses Andachtsraum; links vom Haupteingang das an der Stirnseite über dem Präsidium zum ers- Restaurant, ein Bistro im Eckturm und an der ten Mal seinen Platz. Der Adler aus dem Bun- Nordseite eine Cafeteria, außerdem eine Prä- deshaus, der aus Gips bestand, wurde 1987 senzbibliothek. beim Abriss des Plenarsaals zersägt; die Teile Nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind die werden heute im Haus der Geschichte der Bun- Präsidialebene und die Fraktionsebene darüber. desrepublik aufbewahrt. Der Adler, der jetzt Auf der Präsidialebene mit der Leitfarbe Bor- über dem Präsidium hängt, ist eine Replik deauxrot befinden sich die Büros des Präsiden- des Bonner Adlers aus Aluminium und etwas ten und der Leitung der Bundestagsverwaltung. größer als das Original. Rücken an Rücken Hier sind Räume wie der Protokollsaal, in denen mit ihm, nur getrennt durch die Glaswand der der Präsident Gäste empfängt, und der Sitzungs- ­Ostseite, hängt ein Adler, den Norman Foster saal des Ältestenrats. Die Wände dieses Sitzungs­­ entworfen hat und der seinen Blick zum Ost- saals umlaufen bis auf halbe Höhe kräftig dun- eingang richtet, der den Abgeordneten­ vor­ kelblaue Holzpaneele nach dem Entwurf von behalten ist. Per Arnoldi.

Lackierarbeiten am Bundestags­ adler für das Reichstagsgebäude, 1998.

270 Diese Art der farbigen Gestaltung ist auch cha- rakteristisch für die Ebene der Fraktionen. Die Räume für Fraktionssitzungen und für die Sit- zungen der Fraktionsvorstände weisen im obe- ren Wandbereich in der Regel weiß gestrichene Ziegel auf; im unteren Wandbereich wurden durch Arnoldi mit weiteren farbigen Holzpa- neelen dagegen kräftige Akzente gesetzt. Alle Räume, die sich in den denkmalgeschützten Von den Verbindungsstegen rund um den Ecktürmen und der ebenfalls denkmalgeschütz- Plenarsaal aus bieten sich nicht nur Einblicke ten Attika des Wallot-Baus befinden, werden in den Plenarsaal. Die Stege im Norden und durch Dachverglasung von oben belichtet. Im Süden verlaufen unterhalb der alten Sandstein- Innenbereich dieser Ebene, um die gläserne tonnengewölbe. Deren künstlerische Ausgestal- Zone zwischen Plenarsaal und Kuppel, befin- tung mit üppigen Ornamenten und Reliefs kam det sich die Presselobby. erst zum Vorschein, als die Verkleidungen aus Zwischen der Plenarsaalebene und der Präsi­ Gipskarton abgeschlagen wurden, die seit dem dialebene befindet sich die Besucherebene. Umbau durch Paul Baumgarten Anfang der Über den hinteren Sitzreihen der Abgeordneten 1970er-Jahre die Originalsubstanz verdeckten. ragen sechs Emporen in den Plenarsaal hinein, Gut zu erkennen sind auch die kyrillischen die für die Öffentlichkeit vorgesehen sind. Hier Inschriften, die nach der Eroberung des Reichs- sind 470 Plätze für Besucher der Plenarsitzun- tagsgebäudes am 27. April 1945 von Rotarmis- gen, aber auch für Vertreter der Presse, Gäste ten mit Holzkohle oder blauer Wachskreide auf des Bundestages und Diplomaten. Diese Empo- die Wände gekritzelt wurden. Von diesen Graf- ren werden von einer Galerie aus erschlossen, fiti etwa 200 zu erhalten und sie, ebenso wie die auf halber Höhe des Plenarsaals eingehängt die alten Ornamente, den Besuchern zugäng- wurde und auf der sich Informationsräume lich zu machen, lag Norman Foster besonders und Vortragssäle befinden. Die Leitfarbe dieser am Herzen. Damit, so der Architekt, sei „ein Ebene, mit der vor allem die Türen markiert ­lebendiges Museum der deutschen Geschichte“ wurden, ist Grün. entstanden.

Graffiti, die sowjetische Soldaten nach der Eroberung des Reichs-­ tags­gebäudes Ende April 1945 ­anbrachten.

271 272 Kultur und Politik im Dialog Kunst im Reichstagsgebäude

273 Mit der Bildung eines Kunstbeirats hat der Deutsche Bundestag ein Gremium geschaffen, das den Bundestagspräsidenten in Fragen der Förderung der bildenden Kunst berät. Dem Kunstbeirat gehören neben dem Bundestags­ präsidenten Wolfgang Schäuble als Vorsitzen- dem weitere Mitglieder des Bundestages an, die von den Fraktionen in den Kunstbeirat ent- sandt werden. Ihre Zahl richtet sich nach der Stärke der jeweiligen Fraktion. Zuständig für die Or­ganisation der Arbeit dieses Gremiums ist das ­Sekretariat des Kunstbeirats.

Der Kunstbeirat

274 Die Arbeit des Kunstbeirats erstreckt sich auf drei Aufgabenfelder: Erstens werden jährlich auf Ankaufssitzungen Kunstwerke für die Kunst- sammlung des Deutschen Bundestages erwor- Das Kunstkonzept für das Reichstagsgebäude ben – dies in Fortführung der Aufgabe der 1995 im Kunstbeirat aufgegangenen früheren Kunst- Bei der Entwicklung des Kunst-am-Bau-Konzepts kommission. Zweitens entwickelt er – in Ab- für die Parlamentsbauten in Berlin ließ sich der sprache mit den jeweiligen Architekten und Kunstbeirat von folgenden externen Kunstsach- dem Bundesamt für Bauwesen und Raumord- verständigen beraten: Götz Adriani und Karin nung (beim Umbau des Reichstagsgebäudes Stempel für das Reichstagsgebäude, Manfred noch mit der Bundesbaugesellschaft Berlin mbH) Schneckenburger und Evelyn Weiss für das – das Kunst-am-Bau-Konzept für die Parla­ ­Jakob-Kaiser-Haus sowie Armin Zweite und ments­bauten in Berlin; dabei wird er gegebe­ ­ Klaus Werner für das Paul-Löbe-Haus und das nen­falls von externen Kunstsachverständigen ­Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Diese Sachver- beraten. Drittens berät der Kunstbeirat über ständigen bildeten ein kollegiales Gremium, Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst im das seine Vorschläge im Kunstbeirat einbrach- Kunst-Raum und im Mauer-Mahnmal des Marie- te. Das Ergebnis der gemeinsamen Beratungen Elisabeth-Lüders-Hauses sowie im Verbindungs- sah ein Kunstkonzept vor, das alle drei Parla- büro des Bundestages in Brüssel. Diese Aus­ mentsbauten im Spreebogenbereich einbindet. stellungen und die inzwischen umfangreiche Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts wurde Kunstsammlung des Parlaments – die Artothek jedoch für jeden der drei Baukomplexe ein und die Kunst-am-Bau-Installationen – werden eigenes Konzept entwickelt, das von der vom Kurator der Kunstsammlung und Leiter parlamenta­rischen Nutzung des jeweiligen des Referats Kunst im Deutschen Bundestag ­ Baus, seiner Architektursprache und seiner ­betreut. ­historischen ­Bedeutung ausgeht.

Seite 272/273: Hans Haacke, „Der Bevölkerung“ Neonlicht, Erde, Webcam, 1999 / 2000 nördlicher Innenhof

links: Auf einer Sitzung des Kunstbeirats im Jahr 2018 stellt der Künstler Tony Cragg im Raum des Mauer- Mahnmals im Marie-Elisabeth- Lüders-Haus seinen Entwurf für eine Großskulptur vor.

275 Aufbau der Kunstsammlung in Bonn

Begonnen hatte das Engagement des Bundes­ tages für die bildende Kunst mit dem Bau des neuen Abgeordnetenhochhauses „Langer Eugen“ in Bonn. Der Architekt Egon Eiermann ließ Das von seiner parlamentarisch-historischen die Sitzungssäle von verschiedenen Künstlern Wertigkeit her zentrale Gebäude ist das Reichs- gestalten, darunter mit Installationen von Georg tagsgebäude, in dem das Parlament tagt. Das Meistermann, Günther Uecker und HAP Gries- Haus hat seit der Schlusssteinlegung im Jahr haber. Das ästhetische Ergebnis ihrer Gestal­ 1894 die Geschichte der Deutschen in ihren tungen war derart beeindruckend, dass der Höhen und Tiefen begleitet und verfügt trotz Ab­geordnete Gustav Stein, der zugleich einen aller Zerstörungen und Renovierungen über Lehrauftrag an der Kunstakademie Düsseldorf eine bedeutende historische Bausubstanz – im wahrnahm, ­anregte, auch für die Ausstattung Unterschied zu den anderen Parlamentsbauten der Abgeordnetenbüros Kunstwerke zu kaufen. im Bereich des Spreebogens, bei denen es sich Die hierauf folgenden Ankäufe der „Sammlung weitgehend um Neubauten handelt. Stein“ aus den Jahren 1968 und 1969 bilden bis Dem politisch und historisch herausgehobenen heute den Grundstock der Kunstsammlung des Rang des Reichstagsgebäudes entsprechend, Deutschen Bundestages. Auf Initiative von Bun- wurden dort für die Gestaltung der Kunst-am- destagspräsidentin Annemarie Renger wurde ab Bau-Projekte Künstler in die engere Auswahl dem Jahr 1976 der ­weitere Ankauf von Kunst- gezogen, die das Bild der deutschen Nach- werken durch die Gründung einer Kunstkom- kriegskunst international bestimmt haben. mission institutionell ­gesichert. In diesem Gre- Als Reverenz an den ehemaligen Viermächte­ mium waren zum Zeitpunkt seiner Gründung status von Berlin wurden auch Künstler aus entsprechend der damaligen Stärke der Fraktio- den USA, Frankreich und Russland mit Auf­ nen je zwei Ab­geordnete von CDU/CSU und trägen bedacht. Mit der Wiederherstellung des SPD ­sowie ein Abgeordneter der FDP vertreten. Gebäudes und den damit verbundenen Umbau- Die seither stetig erweiterte Kunstsammlung ten wurde Norman Foster, einer der bedeutends- steht den Abgeordneten als Artothek für ihre ten Architekten aus Großbritannien, betraut. Arbeitsräume zur Verfügung.

276 Zusätzlich wurden von der Kunstkommission (wie jetzt vom Kunstbeirat) – weitere Ad-hoc- Aufgaben wahrgenommen. Beispielsweise ­betreute die Kunstkommission in den Jahren 1991/92 den Kunstwettbewerb zur Gestaltung einer Gedenkstätte im Berliner Reichstags­ gebäude für die von den Nationalsozialisten Das seit dem Jahr 1968 kontinuierlich erweiter- ­verfolgten oder ermordeten Reichstagsabge­ te Engagement des Bundestages für den Dialog ordneten der Weimarer Republik. Auch die von Kunst und Politik im eigenen Haus ist von künstlerische­ Ausstattung des ehemaligen seinem Umfang sowie von seiner politischen ­Plenarsaalbereichs in Bonn (heute ein inter­na­ und ästhetischen Gewichtung her in der Ge- tionales Kongresszentrum) geht auf Entschei- schichte der Bundesrepublik Deutschland bis- dungen des Kunstbeirats zurück. Unter dem her einmalig. Mit dieser Wertschätzung der Vorsitz der damaligen Bundestagspräsidentin Kunst bekennt sich das Parlament zu ihrer För- Rita Süssmuth hatte der Kunstbeirat mit dem derung als eine der grundlegenden Verpflich- Architekten Günter Behnisch und mit Kunst- tungen eines Kulturstaats. Auf diese Weise ge- sachverständigen das Konzept für einen „Kranz staltet das Parlament nicht nur gesetzgeberisch von Kunstwerken“ um den Plenarsaal herum kulturpolitische Rahmenbedingungen, sondern ent­wickelt, von Mark di Suveros rotfarbiger ermöglicht seinen Mitgliedern und den Bürgern Stahlskulptur­ „L’ Allumé“ über Olaf Metzels die Begegnung mit Kunst in der alltäglichen elegant-filigrane Skulptur „Meistdeutigkeit“ Parlamentsarbeit: In den Räumen der Politik bis zu ­Nicola de Marias südländischer Farben- spiegelt die Kunst das Selbstverständnis dieses pracht im Restaurant oder Rebecca Horns alchi­ Kulturstaats wider und lädt zugleich ein zum mis­tischer Quecksilberinstallation „Mondfluß“. Dialog über dessen Grundlagen, Werte und Ziele.

Unter dem Vorsitz von Rita Süssmuth (CDU/CSU) besucht der Kunst­beirat im Jahr 1998 den Künstler (l.).

277 Gerhard Richter

In der Westeingangshalle wird der Besucher des Reichstagsgebäudes mit Arbeiten von Gerhard Richter empfangen. Der Künstler stand vor der schwierigen Aufgabe, sich mit seinen Werken gegen jeweils 30 Meter hohe Wände zu behaupten. Gerhard Richter hat an der einen Wand der Westeingangshalle ein Farbkunst- werk von 21 Metern Höhe und drei Metern Breite in den Farben Schwarz-Rot-Gold gestal- tet. Die Farben wurden auf die Rückseite großer Glastafeln aufgetragen und erinnern – nicht ohne Hintersinn – an die Farben der deutschen Bundesflagge. Aber das hochrechteckige For- mat und die spiegelnden Glasflächen, in denen sich von einem bestimmten Blickpunkt aus die reale Bundesflagge vor dem Reichstagsgebäude spiegelt, machen deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer Flagge handelt, son- dern um ein autonomes Farbkunstwerk und dass der Künstler durch die Wahl und die Zu- sammenstellung der Farben eine den Betrachter irritierende „Wahrnehmungsfalle“ aufgestellt hat.

Die Künstler und ihre Kunstwerke

278 Richter gelingt es, mit der auf die Wandpropor- tionen abgestimmten Größe seiner Arbeit und mit sparsamen Mitteln ein farbiges Gegenge- wicht zur Dominanz der Architektur in der Westeingangshalle zu schaffen und dem Auge abstrakte Vergrößerungen von Malstrukturen, des Betrachters einen Ruhepunkt in der beleb- monochrome Graubilder, Farbtafeln, Land- ten Halle zu bieten. Trotz ihrer Monumentalität schaften und Stillleben. Sein Werk „Schwarz, fehlt der Arbeit jedes Pathos. Vielmehr spiegelt Rot, Gold“ weist auf die zentrale Thematik sei- die Fragilität der Glasscheiben im materiellen nes Schaffens hin, die sich in der Vielfalt seiner und im übertragenen Sinne das stets gefähr­­- Techniken und Motive immer wieder spiegelt, dete und daher stets neu zu gestaltende und nämlich auf die Fragestellung, was in der zu schützende demokratische Gemeinwesen ­Moderne Bildgegenstand sein kann und wo­ wider. rüber eine Verständigung zwischen Maler Geboren 1932 in Dresden, studierte Gerhard und Betrachter möglich ist. Richter in der DDR zunächst an der Kunstaka- Gerhard Richter hat sich bereits früh in seinem demie in Dresden und siedelte 1961 in die künstlerischen Schaffen mit der Erinnerung an Bundesrepublik Deutschland über. Zusammen die Verbrechen des Nationalsozialismus aus­ mit Konrad Lueg und Sigmar Polke trat er 1963 einandergesetzt. Einen neuen Anlauf nahm er mit dem Happening einer „Demonstration für im Jahr 2014, initiiert durch Fotos, die Häftlinge den Kapitalistischen Realismus“ öffentlich in eines Sonderkommandos zur Leichenverbren- Erscheinung, die „erste Ausstellung deutscher nung im Lager Auschwitz-Birkenau heimlich Pop-Art“, mit der er sich gegen die vorherr- aufgenommen hatten. Ausgehend von diesen schende abstrakte Malerei der Zeit wandte. Fotos vollzog Richter eine radikale Wende: Er Zunächst ging er von zufällig entdeckten Fotos gab den Versuch einer abbildenden Wiedergabe und Zeitungsausschnitten aus, die er, schwarz- auf und entschloss sich, das Thema in abstrak- weiß und unscharf dargestellt, auf die Lein- ter Malweise darzustellen. So übertrug er die wand übertrug. In der Folge vermied er jede Fotos auf vier monumentale Leinwände und stilistische Festlegung und malte Porträtbilder, übermalte sie in mehreren Arbeitsvorgängen.

279 ten abstrakter Malerei ausgelöscht. Im Gegen- teil: So wie die Erinnerungen an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte im kollekti- ven Gedächtnis eingebrannt sind, bleiben die Dabei verwendete er die seit Jahren von ihm Fotografien, gerade indem sie die Vorstellung eingesetzte Rakeltechnik, bei der er zunächst des Schreckens hervorrufen, eindringlich mit Pinseln Farbe aufträgt und diese anschlie- präsent – unter den Schichten der Farbe wie ßend mit Rakeln verteilt, schabt oder wieder unter denen des Lebens und der Erinnerungen abkratzt. Die vier Leinwandgemälde reprodu- folgender Generationen. zierte Richter als Direktdruck auf Aluminium Indem der Deutsche Bundestag den „Birkenau“- für das Reichstagsgebäude. Die ursprünglichen Zyklus im Reichstagsgebäude ausstellt und ihn Fotos sind in unmittelbarer Nähe als Drucke dort mit der Installation „Schwarz, Rot, Gold“ ausgestellt, „nicht als Kunstwerk, sondern als konfrontiert, wird ein Spannungsbogen aufge- Dokument und Memento“, wie Gerhard Richter baut, der an diesem zentralen Ort deutscher De- festhält. mokratie die historische Dimension deutschen Richter wirft mit dem Gemäldezyklus einmal Selbstverständnisses aufzeigt. So wird ein be- mehr die Frage auf, ob und wie der Schrecken deutsamer Beitrag zur deutschen Erinnerungs- unaussprechlicher Verbrechen in der Kunst kultur geleistet, der umso wichtiger ist, je weni- thematisiert werden kann und darf. Diese Fra- ger Zeitzeugen noch leben und Zeugnis ablegen gestellung fügt sich in seinen künstlerischen können. Werdegang, da er sich zeitlebens mit der Frage Gerhard Richter wiederum präsentiert mit dem beschäftigt hat, was in der Malerei sichtbar, Zyklus „Birkenau“ seinen persönlichen Weg, abbildbar und kommunizierbar ist. Durch das dem Schicksal der Häftlinge im Medium der Übermalen der realistisch angefangenen Gemäl- Malerei ein Mahnmal zu widmen. Er gibt keine de, das erneute Abnehmen und Auftragen von eindeutigen Antworten, sondern vertraut dar- Farbschichten werden die ursprünglichen Mo- auf, dass der Betrachter das von Richters eige- tive weder verfremdet noch unter den Schich- nen Zweifeln getragene Bemühen aufgreift.

Seite 279: Gerhard Richter, „Schwarz, Rot, Gold“ farbemailliertes Glas, 1999 Westeingangshalle

rechts: Gerhard Richter, Fotoversion des Bilderzyklus „Birkenau“ Direktdruck auf Aluminium-­ Signicolorplatte, 2014/2017 Westeingangshalle

280 281 aufbringen. Auf diese Weise wird die Wirkung der optischen Überlagerungen und Überschnei- dungen seiner Motive noch gesteigert: Wenn Carlfriedrich Claus die Besucher an den frei im Raum hängenden Bildtafeln vorübergehen, schieben sich die Carlfriedrich Claus, ein in der DDR in die innere Bild­elemente der einzelnen Blätter oder Acryl- Emigration gedrängter Künstler, hat vor der platten übereinander und bilden in vier- und Abgeordnetenlobby auf der Höhe der Besucher­ sechsfacher Überlagerung eine neue Schrift- ebene seinen „Aurora-Experimentalraum“ reali­ Räumlichkeit, von der sich der Künstler einen siert. Der Künstler konnte noch kurz vor seinem noch eindrucksvolleren Bezug zu seinen „visu- Tod im Jahr 1998 die Installation dieser Arbeit ellen Spannungsfiguren“ erhofft. bestimmen. Geboren 1930 im sächsischen Annaberg, ver- Carlfriedrich Claus hat seine vom Mystizismus, stand Carlfriedrich Claus sich selbst als über- von der Kabbala und von marxistischer Philo- zeugten Kommunisten. Im Gegensatz zum dog- sophie geprägten Gedankengänge auf Pergament matischen Schulmarxismus beharrte er aber so oder Glastafeln auf deren Front- und Rück­ entschieden auf einem mystisch verstandenen fläche notiert. Diese Schriftzüge verengen und utopischen Charakter der Ideologie, dass er überschneiden sich fortlaufend zu Schriftge- sich die Gegnerschaft des SED-Regimes zuzog. stalten, eigenen Gestaltungen also, denen so- Mit dem „Aurora-Experimentalraum“, der das wohl Schrift- als auch Bildcharakter eigen ist. Morgendämmern der Utopie verkünden soll, Seine „Sprachblätter“ beispielsweise kristalli- will er seiner Sehnsucht „nach der Aufhebung sieren sich als Ergebnis eines philosophischen des Entfremdetseins von sich selbst, von der Gedankengangs heraus: Der Künstler notiert Welt und von den anderen Menschen“ Aus- auf der Vorderseite des Blattes mit der rechten druck verleihen. Auf Bildtafeln übertragen, Hand die These, auf der Rückseite mit der lin- ragen diese symbolhaften Zeichen einer „skrip- ken Hand die Antithese, und erst der Blick auf turalen Poesie“, erwachsen aus träumerischem das gegen das Licht gehaltene Pergamentpapier Grübeln und poetischem Philosophieren, in ergibt die Vereinigung zur Synthese. den Raum. So hat Carlfriedrich Claus einen Die kleinformatigen Arbeiten aus der Grafikfolge ganz eigenen und sich jeder kunsthistorischen „Aurora“, die auf der Plenarsaalebene in einer Einordnung entziehenden Weg zwischen Vitrine als Faksimile ausliegen, ließ er für das ­Poesie, Philosophie, Mystik und Schriftkunst Reichstagsgebäude als Fotofilm auf Acrylplatten gefunden.

282 Carlfriedrich Claus, „Aurora-­ Experimentalraum“ Fotofilm auf Klarsicht-­Acrylplatten, 1977/93 Abgeordnetenlobby

283 Gleichzeitig stellt das zentrale­ Motiv des Rück- grats positiv den Bezug zu den Mitgliedern des Reichstags her, zu denen, die wortwörtlich Katharina Sieverding Rückgrat bewiesen und sich dem Terror der Nationalsozialisten nicht gebeugt haben. Ihr Die Künstlerin Katharina Sieverding hat die Schicksal würdigen drei Gedenkbücher, die vor Gedenkstätte für die verfolgten Reichstagsab­ dem Mahnmal auf drei Holztischen ausliegen. geordneten der Weimarer Republik bereits im Im mittleren Gedenkbuch sind die Schicksale Jahr 1992 für das Reichstagsgebäude gestaltet. der 120 ermordeten Mitglieder des Reichstags Das fünfteilige Fotogemälde erweckt mit dem jeweils mit einem Porträtfoto und einer Lebens- Hintergrundmotiv der lodernden Sonnenkorona darstellung gewürdigt. Die beiden anderen er- Assoziationen sowohl an den Reichstagsbrand innern an die Ab­geordneten, die inhaftiert, in und den von den Nationalsozialisten ausge­ die Emigration ­getrieben wurden oder anderen lösten Weltenbrand als auch an die geläuterte Verfolgungen ausgesetzt waren. Der Düsseldor- ­Wiedergeburt des demokratischen Deutsch- fer Künstler Klaus Mettig entwarf die Gedenk- lands als Phönix aus der Asche. bücher auf der Grundlage eines Forschungspro- Katharina Sieverding wurde 1944 in Prag ge­ jekts, das der Deutsche Bundestag in Auftrag boren und studierte an der Kunstakademie gegeben hatte. Düsseldorf bei Joseph Beuys. Sie gehört zu den Katharina Sieverding schlug mit dem quasi-­ Pionieren einer Erweiterung der Ausdrucks- dokumentarischen Medium der Fotografie den möglichkeiten des Mediums Fotografie. Ihre Bogen zu den wissenschaftlichen Vorarbeiten, ­seriellen Fotofolgen, die mit Überblendungen die dem Projekt zugrunde liegen. Ihr Entwurf arbeiten, Selbstdarstellungen und Rollenspiele hatte überzeugt, weil sie den Rückblick auf die vorführen, sind Ausdruck von Reflexionen Gräuel des nationalsozialistischen Terrors mit zur eigenen Identität und Stellungnahme zu einer Würdigung der verfolgten Abgeordneten politisch-gesellschaftlichen Fragen. und einem freien assoziativen Blick auf Gegen- In dem Fotogemälde ist eine rechteckige Rönt- wart und Zukunft deutscher Geschichte zu ver- genaufnahme in Goldgelb vor das rote Flam- binden wusste. Die Künstlerin erläuterte ihr menmeer der Sonnenkorona gesetzt, die einen Entwurfskonzept mit den Worten: „Hier wird Weltenbrand vor Augen führt. Die Röntgenauf- gemahnt an die Vorgeschichte der schleichen- nahme zeigt in der Mitte ein Rückgrat, links den ‚Krise‘, ebenso der Blick für die zukünftige davon einen Krebstumor und erscheint wie Dimension verschärft.“ Die Röntgenaufnahme eine bedrohliche Tür in den Flammenofen. als Tor- oder Fenstermotiv – sowohl in den

284 Katharina Sieverding, „Den von 1933 bis 1945 verfolgten, ­ermordeten und ­verfemten Mitglie- dern des ­Reichstages der Weimarer Republik zum Gedenken“ Großfotos, ­Gedenktische und Gedenk­bücher, Kupfertafel, 1992 Abgeordnetenlobby

285 ren. Die Auseinandersetzung mit jener Zeit vor der Perestroika, als er dem ideologischen Druck Bildraum hinein als auch auf den Betrachter ­ eines totalitären Regimes ausgesetzt war, spie- zu – bietet ambivalent einen Blick auf die Ver- gelt sich in seiner Arbeit für den Clubraum des gangenheit und einen für die Zukunft, lässt Reichstagsgebäudes. Ausgangspunkt der Arbeit die deutlich durchschlagende Feuerlohe wie sind die Skulpturen „idealer Helden“, die in ein Menetekel an der Wand als Mahnung ver- Moskau auf Straßenkreuzungen, in Parks, an stehen, die Sicherung der Zukunft unserer Häuserwänden und auf Friedhöfen das Stadt- Demokratie als eine fortwährende Aufgabe bild prägen. Dieser Versuch, die Menschen und Herausforderung zu begreifen. auch bildnerisch zu indoktrinieren, verbindet die beiden totalitären Ideologien des 20. Jahr- hunderts, Kommunismus und Nationalsozialis- Grisha Bruskin mus, und stellt auch mit Blick auf die DDR eine enge Beziehung zwischen Russland und Der russische Künstler Grisha Bruskin ironi- Deutschland her. Daher schien dieses Thema siert im Clubraum in dem Triptychon „Leben dem Künstler besonders geeignet für die Arbeit über alles“, dessen Titel auf die Zeile „Deutsch- eines russischen Malers im deutschen Parla- land über alles“ anspielt, ideologische Mythen, ment: Der Betrachter soll im Spiegel russischer insbesondere die „Skulptur-Manie“ Sowjetruss- totalitärer Mythen ihm vertraute Details der lands. 115 Einzelbilder reihen sich aneinander, eigenen Geschichte entdecken. jeweils eine Person als weißlich-monochromer Bruskin reiht die Einzelbilder so aneinander, statuenhafter Schemen, der erst durch seine dass alle demselben Schema folgen und ohne farbigen Attribute als Individuum identifizier- jede Hierarchisierung, Entwicklung oder Be­ bar wird, sei es als Kolchosbäuerin mit übergro- wegung „gleichgeschaltet“ sind: Durch einen ßen Feldfrüchten oder als russischer Soldat mit identischen landschaftlichen Hintergrund, den Wappen der Bundesrepublik und der DDR. der vom Mond in Dämmerlicht getaucht wird, Geboren 1945 in Moskau, hatte Bruskin zu- werden alle Skulpturen in ihrem überzeitlichen nächst an der Kunstakademie in Moskau stu- Anspruch als heroische Idealentwürfe ironi- diert, musste jedoch erleben, dass seine Aus- siert. Eine Textzeile, in der die sowjetischen stellungen nicht genehmigt oder unmittelbar Bürger auf ein Leben im Dienst der Gesellschaft nach der Eröffnung von den sowjetischen Be- verpflichtet werden, schließt jedes Bild nach hörden geschlossen wurden. Er entschloss sich oben ab. Nur die Attribute, im Unterschied zu daher im Jahr 1988, nach New York zu emigrie- den Personen farbig und daher realer als diese,

286 Grisha Bruskin, „Leben über alles“ Öl auf Leinwand, 1999 Clubraum

287 verleihen ihnen Identität und machen sie be- nennbar, ähnlich wie die Attribute bei Heiligen­ figuren, eine Anspielung auf die Aneignung des religiösen Sprach- und Bildschatzes durch säku­ lare Ersatzreligionen wie den Kommunismus. Jede der Figuren erzählt auf diese Weise eine die er in einer leichten und transparenten Mal- Geschichte, mal ironisch, mal traurig, mal weise seiner künstlerischen Ausdrucksweise politisch. Ein sowjetischer Grenzsoldat trägt anverwandelt hat. Große Teile der Leinwand einen Grenzpfahl mit sich, in alle Ewigkeit ver- sind frei geblieben, die Farben wirken teilweise dammt, diesen an immer entfernteren Grenzen wie lasierend aufgebracht. So erscheinen die zu setzen, ein anderer russischer Grenzsoldat Gemälde von aquarellhafter Leichtigkeit und schützt sich mit einem deutschen Schäferhund, setzen sich durch diese Transparenz und durch eine Lehrerin hält dem Betrachter geradezu die expressiv-nervöse Pinselführung gegen drohend die Lenin’sche Losung „Lernen, lernen, die fest gefügten, massiven Steinquader der nochmals lernen“ entgegen. Architektur ab. Baselitz schlägt mit den moti­ vischen Anklängen an im Medium der traditionellen Leinwandmale- Georg Baselitz rei eine Brücke von der Gegenwart zu der für die Selbstfindung der Deutschen so bedeuten- In der Südeingangshalle greift Georg Baselitz den Epoche der Romantik. Die Motive und die in zwei großformatigen Leinwandgemälden, die Malweise legen nahe, dass der Künstler auf den Eingangsbereich zu beiden Seiten flankie- die Gefährdungen und die Abgründigkeit jener ren, Motive Caspar David Friedrichs auf, des Geistesepoche anspielt. Malers der Romantik. Auch in diesen Bildern Geboren 1938 als Hans-Georg Kern in Deutsch- hat er, wie er es seit Ende der 1960er-Jahre tut, baselitz, Sachsen, studierte Baselitz Malerei an seine Motive auf den Kopf gestellt, um die for- der Hochschule für bildende und angewandte male Gestaltung der Komposition in den Vor- Kunst in Ostberlin. Er war befreundet mit Ralf dergrund zu rücken. Als Vorlage haben ihm Winkler (A. R. Penck) und wurde bereits nach Holzschnitte nach Caspar David Friedrichs Bil- zwei Semestern wegen „gesellschaftspolitischer dern „Melancholie“, „Die Frau am Abgrund“ Unreife“ ausgeschlossen. Er setzte daraufhin ab und „Der schlafende Knabe am Grabe“ gedient, dem Jahr 1957 das Studium in Westberlin fort.

links: Georg Baselitz, „Friedrichs ­Melancholie“ Öl auf Leinwand, 1998 Südeingangshalle

rechts: Georg Baselitz, „Friedrichs Frau am ­Abgrund“ Öl auf Leinwand, 1998 Südeingangshalle

288 289 Ulrich Rückriem

Im südlichen Innenhof liegen zwei Boden- skulpturen von Ulrich Rückriem, die durch ihre Proportionen und durch ihre Konzeption die Architektur des Innenhofs kommentieren und gedanklich weiterentwickeln. Der Künstler Gegen das in Westdeutschland vorherrschende hat zwei Krusten von einem Granitrohblock aus Informel und den vielfach nur noch dekorativ der Normandie abtrennen lassen und jeweils sich wiederholenden abstrakten Expressionis- vertikal in fünf Teile geschnitten. Alle fünf mus wandte er sich 1961 mit dem 1. Pandämo- ­Teile wurden, dem Fugenraster des Innenhof- nium-Manifest. Baselitz bekannte sich zu einem bodens folgend, wieder zu ihrer ursprünglichen pathetischen, expressiv-figürlichen Malstil, der Form zusammengefügt, die mittlere Platte je- mit seinem dunklen Unterton des Künstlers doch gefräst, geschliffen und poliert. Sie zeigt existenzielles „Geworfensein“ zwischen Ost dadurch einen blaugrauen Ton und spiegelt wie und West zum Ausdruck brachte. Baselitz und Wasser, sodass die sie einfassenden rostfarben- seine Malerfreunde des „pathetischen Realis- grauen Teilstücke wie eine Brunnenfassung mus“ sprengten die malerischen Konventionen wirken. So setzt Rückriem dem aus bearbeiteten durch provokative Sujets und dadurch, dass Steinen gefügten Innenhof die Ursprünglichkeit Baselitz das Motiv auf den Kopf stellte und so einer unbearbeiteten Granitkruste entgegen und die Malerei an sich, die expressive Malgebärde, führt damit den Entwurf des Architekten des in den Vordergrund stellte. Die gegenständli- alten Reichstagsgebäudes, Paul Wallot, konse- chen Motive werden zum bloßen Anstoß für quent weiter. Wallot hatte das untere Geschoss einen freien, sich immer weiter verselbststän­ im Innenhof mit bossierten Steinen markiert, digenden expressiven Farbauftrag. deren unregelmäßige, scheinbar unbearbeitete In den Arbeiten ab den 1990er-Jahren wird Oberfläche wenigstens den Eindruck rustikaler schließlich die Auseinandersetzung mit dem Natürlichkeit erzeugen soll. Die unbearbeiteten eigenen Werdegang bedeutsam. In den „Remix“- Krusten der Granitplatte von Rückriem hingegen­ Bildern malt er seine Schlüsselwerke neu, denn verkörpern tatsächlich eine solche Ursprüng- er brauche das „Selbstgespräch“. So bleibt das lichkeit. Zugleich wird für den Betrachter der Interesse für die Malerei „an sich“ das entschei- Skulpturen der künstlerische Prozess der Bear- dende Charakteristikum des Schaffens von beitung des Naturmaterials Granit nachvoll- ­Georg Baselitz. ziehbar. So sind an den Außenrändern noch

Ulrich Rückriem, „Doppel- Skulptur-­Boden-Relief“ Granit „Bleu de Vire“ aus der ­Normandie, je in fünf Teile ­geschnitten und das Innenstück ­poliert, 1998 südlicher Innenhof

290 291 Reichstagsgebäudes eine der für ihn charakte- ristischen spröden und zurückhaltenden Arbei- die Reste der Spaltlöcher erkennbar, an denen ten geschaffen, die sich in bewusster Reduktion der Granitblock aus dem Fels getrennt wurde; auf die Proportionalität der Skulptur, die Wir- die Entgegensetzung von bearbeitetem und kung des Materials und die Veranschaulichung unbearbeitetem Material enthüllt die Material- des künstlerischen Werkprozesses beschränken. qualitäten des Granits. Geboren 1938 in Düsseldorf, absolvierte Ulrich Rückriem zunächst eine Steinmetzlehre, zuletzt Günther Uecker an den Kölner Werkschulen bei Ludwig Gies und an der Dombauhütte in Köln. In den 1960er- Mit dem Andachtsraum hat Günther Uecker und 1970er-Jahren errang er rasch Anerken- die umfassendste künstlerische Gestaltung im nung als einer der führenden und konsequen- Reichstagsgebäude vorgenommen. Ihm ist es testen deutschen Bildhauer. Bezog er anfangs gelungen, auf der Grundlage theologischer noch Stahl und Holz in seine künstlerische Überlieferungen mit sparsamen bildnerischen ­Arbeit ein, so beschränkt er sich seit 1980 aus- und architektonischen Ausdrucksmitteln einen schließlich auf Stein und zuletzt auf Granit. In Raum zu gestalten, der zu Meditation und inne- gleicher Weise konsequent ist seine Verweige- rer Einkehr anregt. Durch den Einbau einer zum rungshaltung gegenüber jeder inhaltlichen Innenraum hin offenen Zwischenwand vor den Vereinnahmung der Skulpturen. Vielmehr be- seitlichen Fenstern führt Uecker das Licht in­ kennt er sich ausdrücklich dazu, als „Formalist“ direkt in den Raum, der auf diese Weise – im zweckfreie Kunstwerke zu schaffen, die das Kontrast zu der lichtdurchfluteten Architektur Material und den handwerklichen Prozess in Fosters – die mystische Aura einer frühmittel- den Mittelpunkt stellen: „Das Material, seine alterlichen Krypta gewinnt. Eine Kante im Form, seine Eigenschaften und Ausmaße be­ Boden zeigt die Ostrichtung an und ermöglicht einflussen und begrenzen meine bildnerische dem Betrachter, im rechten Winkel zu ihr in Tätigkeit. Arbeitsprozesse müssen ablesbar sein Richtung Jerusalem und Mekka zu blicken. So und dürfen nicht von nachfolgenden verwischt wird der Andachtsraum in ein geistiges Koordi- werden. Die von mir am Material vorgenomme- natensystem mit bedeutenden Weltreligionen nen Bearbeitungen bestimmen das Objekt selbst eingebunden. Er ist als überkonfessioneller An- und dessen Beziehung zum neuen Standort.“ dachtsraum konzipiert, der sich dem Dialog mit So hat Rückriem mit seinen beiden Boden­ anderen Religionen öffnet, aber auch Menschen skulpturen für den südlichen Innenhof des ohne religiöse Bindung als Rückzugsraum zu

292 Günther Uecker, Andachtsraum, 1998/99 Plenarsaalebene

293 innerer Sammlung und Einkehr offen steht. In einer beleuchteten Wandvitrine im Vorraum Geboren 1930 im mecklenburgischen Wendorf, finden liturgische Gegenstände verschiedener studierte Günther Uecker an den Kunstakade- Religionen Platz. mien in Berlin und Düsseldorf. Er schloss sich Der zurückhaltend ausgestaltete Raum erhält Anfang der 1960er-Jahre der Gruppe „Zero“ seine Akzentuierung durch kraftvolle skulptu- an und gestaltete mit seinem kompositorischen rale Elemente wie den Altar aus sandgestrahl- Hauptelement, seriell eingeschlagenen Nägeln, tem Granit, durch eigens entworfene Stühle strenge Ordnungen auf Brettern oder rotieren- und Bänke sowie durch sieben hohe Holzbild- den Scheiben. Auf diese Weise gelangte er tafeln, die in leichter Schräge an die Wände ge- zu seriellen Strukturen und zu optisch-kineti- lehnt sind. Die Tafeln sind nicht befestigt, als schen Effekten mit einem differenzierten Licht- ob sie jederzeit wieder entfernt und auf eine Schatten-Spiel. Zunehmend setzte er sich in Reise mitgenommen werden könnten. So füh- seinen Arbeiten, Installationen und Aktionen ren sie sinnfällig die Unbehaustheit des Men- mit der existenziellen Bedrohung des Men- schen auf Erden vor Augen. Auf diesen Tafeln schen in der Moderne auseinander und ruft hat Günther Uecker mit Nägeln, Farbe, Sand, zur Bewahrung des Humanen auf. Asche und Steinen bildnerische Gestaltungen entstehen lassen, in denen die elementare menschliche Seinserfahrung thematisiert und Anselm Kiefer zu eindrucksvollen suggestiven Bildern ver- dichtet wird. Die beeindruckende Gestaltung In einem der Empfangsräume führt Anselm des Kreuzmotivs auf den Tafeln an der Stirn- Kiefer in einem Monumentalgemälde, das der wand beschwört durch Hunderte von Nägeln, Dichterin Ingeborg Bachmann gewidmet ist, die die die collagierte Kreuzform durchbohren, die geschichtliche Bedingtheit des Menschen vor Schmerzen, die Christus durch die Verletzung Augen. Zu der Gedichtzeile „Nur mit Wind mit seines Liebesgebots zugefügt werden. Zugleich Zeit und mit Klang“ öffnet er den Blick auf eine lässt der Künstler die Nägel wie eine Wolke Art archäologisches Grabungsfeld. Der Betrach- nach oben hin aufsteigen, sich vom Kreuz lösen, ter erblickt einen mächtigen Lehmziegelturm, und leitet damit zum Thema der Auferstehungs- der an einen babylonischen Tempelturm, einen tafel über, auf der alles Irdische in weißen und Zikkurat, erinnert. Zu den Rändern hin zerfällt nach außen drängenden dynamisch-bewegten er bereits und gleicht sich dem umgebenden Nagelstrukturen überwunden scheint. Boden an.

294 Anselm Kiefer, „Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang“ Mischtechnik auf Leinwand, 1998 Empfangsraum, Plenarsaalebene

295 Klang hineinschreibt, macht er sinnfällig, dass Der lehmfarben-monochrome Farbton des Ge- das scheinbar Feste und das Flüchtige vor der mäldes und seine schrundige Oberfläche mit Ewigkeit gleich sind. In diesem Sinn lebt auch ihren dunklen, wie Brandflecken wirkenden der Mensch auf Erden gleichsam im Exil. Seine Partien könnten glauben machen, dass das utopischen Entwürfe gleichen dem nicht fest- Werk aus dem Baumaterial des dargestellten zuhaltenden, unbeständigen Windhauch. Lehmziegelturms gefertigt ist. Der Eindruck Das Studium an der Düsseldorfer Kunstaka­ ­eines archäologischen Grabungsfelds, dessen demie bei Joseph Beuys hatte bestimmenden Darstellung zwischen Realitätsinszenierung ­Einfluss auf Anselm Kiefer (geboren 1945 in und Illusionscharakter wechselt, wird durch ­Donaueschingen), da durch Beuys sein Blick Bruchstücke von Keramikgefäßen und durch auf die geschichtliche Gebundenheit des Indi­ Schriftzettel, die im Bild befestigt sind, noch viduums gelenkt wurde. Kiefers Gemälde und verstärkt. Die Gedichtzeile von Ingeborg Bach- Installationen, die mit Fragmenten der Realität mann ist am oberen Rand des Gemäldes in ausgestaltet sind, sind konkrete historische die Malschicht hineingeschrieben. Die Zeile Ereignisse und mythologische Erzählungen. stammt aus dem Gedicht „Exil“ aus dem Jahr Das Gemälde in einem der Ecktürme des Reichs­ 1957. In ihm beschreibt die Dichterin die Situa- tagsgebäudes beschreibt mit dem Bild eines tion eines Exilierten, dem außer seiner deut- Zikkurats oder einer Pyramide den historisch schen Sprache keine spirituelle Geborgenheit nachweisbaren Urgrund der biblischen Mytho- geblieben ist: „Ein Toter bin ich der wandelt/ logien. Die künstlerische Vergegenwärtigung gemeldet nirgends mehr [...] abgetan lange dieses historisch-mythologischen Grabungs- schon/und mit nichts bedacht/Nur mit Wind felds appelliert, den Flüchtigkeitscharakter mit Zeit und mit Klang“. Der Immaterialität des eigenen Handelns und Planens zu erken- von Wind, Zeit und Klang stehen die scheinbar nen und das Schicksal der Vergänglichkeit fest gegründeten Türme gegenüber. Sie sind anzunehmen. Sinnbilder der Macht und wie der Turm von Babylon auch der Selbstüberhebung mensch­ licher Macht, wenn sie sich im Entwurf einer Christian Boltanski grenzenlosen Utopie anmaßt, es mit dem Gött­ lichen aufzunehmen. Indem der Maler in den Der französische Künstler Christian Boltanski Lehm der Überreste des Turmes, der im Verlauf (geboren 1944 in Paris) hat die Frage nach der vieler Jahrhunderte zerfallen ist, die flüchtigen Wahrnehmung von Vergangenheit zum Haupt- Augenblickserscheinungen Wind, Zeit und thema seines künstlerischen Schaffens gewählt.

Christian Boltanski, „Archiv der­ ­Deutschen Abgeordneten“ Metallkästen, 1999 Untergeschoss Osteingang

296 297 im Parlament gesessen oder die Geschicke Deutschlands maßgeblich geprägt haben – ­ihnen allen wird der gleiche Erinnerungsraum Für das Reichstagsgebäude hat er daher in orts- zuteil. Von diesem Prinzip weicht Boltanski bezogener Fortführung dieses Gedankens im nur in zweifacher Hinsicht ab. Die Kästen der Untergeschoss des Osteingangs das „Archiv der Abgeordneten, die von den Nationalsozialisten Deutschen Abgeordneten“ entworfen. Kästen ermordet wurden, sind mit einem schwarzen aus Metall sind mit den Namen derjenigen Ab- Streifen als Opfer des Nationalsozialismus geordneten beschriftet, die von 1919 bis 1999, gekennzeichnet, und in der Mitte des Ganges dem Jahr der Einweihung des Reichstagsgebäu- ­repräsentiert eine einzelne schwarze Box die des, demokratisch in das deutsche Parlament Jahre von 1933 bis 1945 beziehungsweise 1949, gewählt wurden. Die Kästen sind in zwei läng- als das deutsche Volk durch kein demokratisch lichen Blöcken bis zur Decke so übereinander- legitimiertes Parlament vertreten war. gestapelt, dass zwischen ihnen ein schmaler Christian Boltanski wandte sich in seinen In­ Gang entsteht, nur schwach durch Kohlefaden- stallationen zunächst der Spurensicherung der lampen erhellt. In diesem „Kellerarchiv“ entwi- eigenen Kindheit und den Lebensspuren frem- ckelt sich ein Gefühl von stiller Abgeschieden- der Personen zu. Später „rekonstruierte“ er heit, während die Rückseiten der angerosteten auch fiktive Lebensläufe mithilfe großformati- Metallkästen nach außen hin pittoreske Muster ger, grobkörniger Schwarz-Weiß-Fotos. So ent- bilden. standen Wandtafeln mit Porträtfotos – meist Unterhalb des Osteingangs ist so eine Mauer von Kindern, die anonym bleiben. Diese Porträt- entstanden, die wie ein tragendes Fundament tafeln arrangierte Boltanski mit Glühbirnen und des Parlamentsgebäudes wirkt und so die demo- Lampen zu Erinnerungsaltären, die zum Sinn- kratische Tradition Deutschlands eindrucksvoll bild der Vergänglichkeit werden. In der Gegen- versinnbildlicht. Der Gedanke der Gleichheit überstellung von vergangenem Leben und ge- aller angesichts der Endlichkeit der menschli- genwärtiger Erinnerung, in der Heraushebung chen Existenz kommt durch die serielle Fügung des menschlich Durchschnittlichen und All­ der Kästen bildkräftig zum Ausdruck: Ob Parla- gemeinen wird – besonders durch die Anony- mentarier nur zwei Jahre als „Hinterbänkler“ mität der Dargestellten – das Leben in seiner

298 A. R. Penck. Strawalde erwies sich darüber hi­na­us als eine der seltenen Doppelbegabungen im künstlerischen Bereich: Er hatte nicht nur als Maler Erfolg, sondern war auch als Regis- seur und Dokumentarfilmer wegweisend. Aber Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit im Ange- auch als Filmemacher geriet er in der DDR sicht der Zeit manifest. Mit der Installation ständig in Konflikt mit deren ästhetischen und „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ hat ideologischen Zensoren, und so wurden viele ­Boltanski diesen gedanklichen Ansatz auf das seiner Filme verboten, manche auch noch vor Reichstagsgebäude bezogen modifiziert. Jeder ihrer Aufführung vernichtet. Abgeordnete ist durch das Namensschild als Von Picasso, dem Vorbild seiner ersten Mal­ historische Person zu identifizieren, aber die versuche, hat sich Strawalde bald gelöst und gleichförmige Reihung stellt die Bedeutung des seinen noch bis heute sehr eigenwilligen Stil sozialen Gefüges als ein Gesamtkörper auch im entwickelt, der zwischen Abstraktion, freier Wandel der Generationen in den Vordergrund. Gestik, figürlichen und surrealen Elementen, pastosen Gemälden und zart-koloristischen Zeichnungen wechselt. „In freien Zeichen Strawalde pa­rallel zur Natur“ möchte der Künstler „Welt einfangen“. Schon die Gegenüberstellung der Jürgen Böttcher, der sich als Maler nach Strah- drei Werke, die für die Verfügungsräume der walde, dem Ort seiner Kindheit und Jugend in Bundeskanzlerin im Reichstagsgebäude aus­ der Oberlausitz, nennt, war in der DDR einer gewählt wurden, macht deutlich, dass sich der bedeutendsten oppositionellen Maler. Strawaldes Malerei aufgrund ihrer themati- ­Geboren 1931 in Frankenberg, versammelte er schen und stilistischen Variationsbreite einer in Dresden einen privaten Kreis von Künstlern herkömmlichen Kategorisierung entzieht. Die um sich, Maler wie Ralf Winkler (A. R. Penck), drei Arbeiten sind in der politisch unruhigen Peter Herrmann und Peter Graf, die von den Zeit des Jahres 1991 entstanden und spielen, DDR-Behörden verfolgt und an Ausstellungen beispielsweise im dunkelroten, mit Collage-­ ihrer Arbeiten gehindert wurden. In diesem Elementen angereicherten „Wendekreis“, Kreis wurde er zum künstlerischen „Ziehvater“ durchaus auf politische Entwicklungen an, des später in den Westen emigrierten Malers jedoch in freier, assoziativer Form, die jede

Strawalde, „Wendekreis“ Acryl, Öl, Tusche, Kreide und ­Assemblage auf Papier, 1991 Verfügungsräume der Bundes­ ­ kanzlerin, Plenarsaalebene

299 In der in den Verfügungsräumen der Bundes- kanzlerin gehängten Arbeit bildet der blaugraue begriffliche Festlegung erschwert. Das in dunk- Abdruck einer Kaltnadelplatte den Bildhinter- len, machtvollen Pinselschwüngen gemalte grund. Neben den Abdruck der Platte hat „Medea“-Bild bezieht eine koloristische Gegen- Stöhrer zunächst schwarze Schriftzeichen, position zum „Wendekreis“ und strahlt die Figurinen und schwungvolle Lineamente Kraft jener Frauengestalt aus. Der groteske Zug gezeichnet. Die Kaltnadelradierung überzieht surrealer Figurinen wiederum, der nur durch er dann in leidenschaftlicher Bewegtheit mit sein Entstehungsdatum, den 29.10.1991, beti- einem rotgelben Farbstrudel. So entsteht ein telt ist, lässt den Sinn des Künstlers für Komik kraftvolles Bekenntnis zur großen expressiven und versponnene Poesie spüren. Jede dieser Geste, das durch eine feinnervige Hinterzeich- Arbeiten ist eine so eigenlebendige Schöpfung nung diesen Gestus hinterfragt und rätselhaft des Malers, dass der Betrachter sie einzeln in Abgründiges hindurchscheinen lässt. sich aufnehmen und als Gebilde „ganz aus der Stöhrer hat bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Tra- Mitte des Lebens“, wie Strawalde es formuliert, ditionen des Informel fortgeführt, jedoch durch ernst nehmen muss. die leidenschaftliche Emotionalität seiner Farb­ eruptionen das Abgleiten in sich wiederholende dekorative Schönlinigkeit vermieden. Zugleich Walter Stöhrer hat er surreale Elemente und Anklänge an die „art brut“, an Kinderzeichnungen und Arbeiten Geboren 1937 in Stuttgart, war Walter Stöhrer von psychisch Kranken eingebunden, genauer ein Stuttgarter Schüler von HAP Grieshaber gesagt: seinen Farbbahnen unterlegt, sodass und siedelte im Jahr 1959 nach Berlin über. beunruhigende, auf gärende seelische Tiefen- Dort fand er zu seiner Malweise, die er als „in­ schichten verweisende Zeichen unter der de- trapsychisch realistisch“ bezeichnete. Hierbei monstrativ auftrumpfenden Farbvitalität sicht- geht der Künstler zunächst von Schriftzeichen bar werden. So erscheinen seine Arbeiten als und kalligrafischen Elementen aus, die er dann Akte psychischer Selbstbehauptung, als Proto- mit dynamischer Geste in expressiven Farb­ kolle eines lebenslangen Kampfes mit den Un- bahnen übermalt. geheuern, die der Schlaf der Vernunft gebiert.

300 Walter Stöhrer, ohne Titel Kaltnadel und Mischtechnik auf Papier, 1995 ­ Verfügungsräume der Bundes­ kanzlerin, Plenarsaalebene

301 wickelt. In der Gegenwart ist Floris Neusüss ihr bedeutendster Vertreter: Er begründete mit dem „Fotoforum Kassel“ eine „zweite Avant­ Floris Neusüss garde“ der Fotografie, die neue Ausdrucksmög- lichkeiten des Mediums erforschte. Geboren In der Cafeteria hat der Fotokünstler Floris 1937 in Remscheid, lehrte Neusüss zuletzt­ Neusüss eine Folge blaufarbiger Fotogramme an der Kunsthochschule Kassel experimentelle als sechs Meter langes Tableau installiert, auf Fotografie. dem, jeweils paarweise einander zugewandt, Ausgangspunkt seiner Gestaltung für die Cafe- Silhouetten von Büsten zu sehen sind. teria sind die Skulpturen auf dem Reichstagsge- Neusüss ist einer der Hauptvertreter der expe­ bäude: An der Fassade der vier Ecktürme des rimentellen Fotografie in Deutschland. Den Reichstagsgebäudes stehen über dem umlaufen- Schwerpunkt seiner Gestaltungen bildet das den Gesims auf Sockeln jeweils vier Skulptu- Fotogramm mit all seinen Spielarten. Ein Foto- ren. Die insgesamt 16 Figuren wurden von ver- gramm entsteht ohne Kamera: Der abzubilden- schiedenen Bildhauern geschaffen und sind de Gegenstand wird zwischen eine Lichtquelle ­Allegorien, die Aspekte des Staatswesens sowie und Fotopapier positioniert. Die Lichtquelle Industrie- und Berufszweige personifizieren. wirft ohne Zwischenmedium einen Schatten- Sie gehören zum Bestand der Reichstagsaus- riss auf das Fotopapier, und zwar als Negativ- schmückung, die noch von Paul Wallot, dem Bild: Der Schatten wird weiß abgebildet, da Architekten und Baumeister des Gebäudes, das Fotopapier an dieser Stelle nicht oder we- konzipiert ­wurde. nig belichtet wird, der Hintergrund hingegen Um die entsprechenden Fotogramme zu erhal- wird stark belichtet und infolgedessen schwarz. ten, wurde der Künstler mit seinen Mitarbei- Dieser Prozess kann auch umgekehrt vollzogen tern spätnachts mit zwei Hebekränen auf die werden, wenn fotografisches Umkehrpapier Höhe der Gesimsskulpturen des Reichstagsge- verwendet wird. In den 1920er-Jahren­ haben bäudes gefahren. Metergroße Fotopapierbögen Künstler wie Christian Schad, Man Ray, El wurden hinter die Skulpturen gehalten und ­Lissitzky oder László Moholy-Nagy mit dieser diese dann von vorn mit starken Blitzlichtge­ Technik experimentiert und sie weiterent­ räten angestrahlt. Für den Fries in der Cafeteria

Floris Neusüss, „Ferner Zeiten Gestalten“ acht Fotogramme nach Skulpturen an den vier Ecktürmen des Reichs- tagsgebäudes, digital überarbeitete Inkjetdrucke, 2012 Cafeteria, Plenarsaalebene

302 Der Ttitel „Ferner Zeiten Gestalten“ spielt auf das Höhlengleichnis des Plato an und lässt die Abbildungen dieser Skulpturen wie Schatten aus einer vergangenen Zeit in die politisch lebendige Gegenwart des Reichstagsgebäudes hat Neusüss jeweils zwei Skulpturen von je- fallen. Die künstlerische Vergegenwärtigung dem Turm ausgewählt, sodass jeder der betei- der Skulpturen, ihre bildliche Versetzung vom ligten Bildhauer einmal vertreten ist, und in Dach auf die Ebene des Plenarsaals, führt das der Rückwand der Cafeteria die Büsten der Staatsverständnis einer für uns heute noch Skulpturen jeweils paarweise einander gegen- ­bestimmenden Epoche deutscher Geschichte übergestellt, als ob sie in ein Zwiegespräch lebendig vor Augen und regt an, über Verbild­ vertieft wären. Von links nach rechts sind als lichung und Repräsentation der den Staat tra- allegorische Figuren zu sehen (in der Liste mit genden Werte in der Gegenwart nachzudenken. den Namen der Bildhauer): „Kunst“ (Nordostturm) von Christian Behrens, Bernhard Heisig „Unterricht“ (Nordostturm) von Friedrich Schierholz, In der Präsenzbibliothek hat der 1925 in Bres- „Klein- und Hausindustrie“ (Nordwestturm) lau geborene Maler Bernhard Heisig, einer der von Syrius Eberle, bedeutendsten Vertreter der „Leipziger Schule“ „Großindustrie“ (Nordwestturm) in der DDR, in seinem an die Tradition des von Gustav Eberlein, deutschen Expressionismus anknüpfenden „Weinbau“ (Südwestturm) Gemälde „Zeit und Leben“ ein aufwühlendes von Robert Diez, Pa­norama deutscher Geschichte entworfen. „Ackerbau“ (Südwestturm) Eine kaum überschaubare Fülle von Bildmoti- von Otto Lessing, ven kreist unter anderem um Themen aus der „Rechtspflege“ (Südostturm) Geschichte Friedrichs des Großen, entlarvt das von Hermann Volz und opportunistische Mitläufertum des „Pflichttä- „Wehrkraft zu Land“ (Südostturm) ters“ oder greift die für die Kunst in der DDR so von Rudolf Maison. bedeutende und bezeichnende Ikarus-Metapher

303 ­Szene zitiert Heisig das letzte Selbstporträt von auf. Eindrucksvoll verlebendigt Heisigs Gemälde­ Felix Nussbaum, „Selbstbildnis mit Judenpaß“ ­fries Täter, Opfer und Mitläufer und wirft die aus dem Jahr 1943, das kurz vor Nussbaums Frage nach der Selbstbehauptung des Einzel- Deportierung und Ermordung entstand. Die nen gegenüber staatlicher Gewalt und Bevor- zentrale Figur des Kriegsinvaliden, der als mundung auf, nach seiner Chance, ein ethisch opportunistischer „Pflichttäter“ entlarvt wird, verantwortetes, selbstbestimmtes Leben zu hebt rechthaberisch-belehrend den Zeigefinger, ­führen. während neben ihm eine rot leuchtende monu- Wie eine Abfolge von Filmschnitten sind die mentale Uhr fünf vor zwölf anzeigt. einzelnen Szenen aneinandergereiht, überla- Das grün gerahmte Storchenwappen vom Dom- gern und überschneiden sich jedoch vielfach. stift St. Petri in Bautzen, ein Liebespaar, die Am linken Bildrand eröffnen die schwarz-rot- Standfigur des Roland von Stendal mit dem goldenen Farben der Revolution von 1848 das brandenburgischen Adlerwappen und am unte- dramatische Geschehen. Hinter einem sterben- ren Rand des Gemäldes ein Selbstporträt des den Soldaten wird das Motiv des preußischen Malers leiten über zu dessen brandenburgischer Wappenadlers sichtbar, oberhalb der steinernen Heimat. Nur wenige Kilometer von Heisigs Büste Bismarcks schlägt eine große, altmodi- Atelier entfernt stürzte Otto Lilienthal ab. Sein sche Pendeluhr die Stunde. Ein menschliches Fluggerät in der rechten oberen Ecke des Ge- Skelett versucht, Friedrich den Großen zu er- mäldes erinnert an den Ikarus-Mythos, der für greifen und mit sich fortzuziehen, während viele Künstler in der DDR zum Sinnbild der der alte König den Totenschädel seines Jugend- gescheiterten Utopie und der Sehnsucht nach freunds Katte in der Hand hält. An diese trau- Freiheit wurde. Die bedrängende Abfolge trau- matische Erfahrung Friedrichs wird erneut matisierender Geschichtsbilder schließt den- durch die angrenzende Kerkertür erinnert, noch mit einem Bild der Hoffnung: Ein kleiner denn Friedrich wurde von seinem Vater ge- Junge hält seinen rosaroten Flugdrachen auf zwungen, aus dem Kerker heraus die Enthaup- grüner Wiese, dem Lied der DDR-Band „Puhdys“ tung seines Freundes mit anzuschauen. In die folgend „Lass deinen Drachen steigen“, Aus- Kerkertür eingezwängt ist die Rückenfigur ei- druck der Sehnsucht, dass die Irrungen und nes osteuropäischen Juden im Kaftan, dessen Wirrungen deutscher Geschichte nunmehr ausgestreckte Arme zum Doppelporträt Hitlers überwunden sein mögen. mit Totenkopf und bekrönenden Propaganda- Bernhard Heisig starb 2011 im brandenburgi- lautsprechern überleiten. Unterhalb dieser schen Strodehne.

304 Bernhard Heisig, „Zeit und Leben“ Öl auf Leinwand, 1998/99 Präsenzbibliothek, Plenarsaalebene

305 Die auf der Stele zur Deckenmitte hin aufstei- genden Parlamentsreden bilden symbolisch einen tragenden Pfeiler des Parlaments als des Hauses der politischen Rede (vom französischen Jenny Holzer „parler“ für reden). Besonders beeindruckend wirkt die Leuchtstele abends, wenn ihre Außen- Die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer begrenzung durch die Dunkelheit nicht mehr lässt in der Nordeingangshalle auf einer Stele sichtbar ist und daher nur noch die aufleuch- digitale Leuchtschriftbänder mit Reden von tenden Worte der Reden das Gewölbe zu tragen Reichstags- und Bundestagsabgeordneten ab- scheinen. Gleichzeitig spiegeln sie sich vielfach laufen. Parlamentarische Zwischenrufe werden gebrochen in den Glaswänden der Nordein- durch wiederholtes Aufblinken kenntlich ge- gangshalle. So reflektiert Jenny Holzer im wört- macht. Die Reden wurden von der Künstlerin lichen und im übertragenen Sinn bildkräftig ausgewählt und zu Themenblöcken zusammen- mit den ihr eigenen künstlerischen Ausdrucks- gestellt. Sie stammen aus einem Zeitraum, der mitteln Wesen und Geschichte des Parlamenta- vom Jahr 1871, dem Jahr der Reichsgründung, rismus in Deutschland. bis zum April 1999 reicht, als das Reichstags­ Geboren 1950 in Gallipolis, Ohio, begann die gebäude nach dem Umbau durch den britischen amerikanische Installationskünstlerin ihre Architekten Norman Foster wieder eröffnet künstlerische Laufbahn mit Texten und Essays. wurde. Die Künstlerin hat 447 Reden und Ab 1977 zeigte sie auf Plakaten, Hauswänden ­Rednerbeiträge aneinandergereiht, sodass die und mit Neonreklamen sogenannte Truisms Reden etwa 20 Tage lang ununterbrochen ohne (Binsenwahrheiten wie „Any surplus is immo- Wiederholung ablaufen. Es sind jeweils vier ral“ oder „Politik dient Privatinteressen“). Deren unterschiedliche Reden, die auf den vier Seiten lapidare Mitteilungen bewirken in einer von des Pfeilers erscheinen. Aber alle vier setzen Werbetexten und anderen optischen Signalen sich mit dem jeweils selben Themenbereich dominierten Umwelt ein Innehalten und Nach- ausei­nander: So findet in der nördlichen Ein­ denken. Diese Botschaften steigerte Jenny Holzer, gangs­halle des Parlaments eine nicht endende beispielsweise im amerikanischen Pavillon der Diskussion statt, die in der Gestaltung durch Biennale in Venedig 1990 oder in der Neuen Jenny Holzer unmittelbar anschaulich macht, Nationalgalerie Berlin seit dem Jahr 2001, zu dass es in einer parlamentarischen Demokratie einer komplexen Sprachinstallation, die archi- eben nicht nur die eine Seite, nicht nur einen tekturbezogene Gestaltung und gesellschafts­ Standpunkt gibt. politische Botschaften miteinander verknüpft.

Jenny Holzer, „Installation für das Reichstagsgebäude“ Stahlstele mit elektronisch ­gesteuerter Schriftabfolge, 1999 Nordeingangshalle

306 307 lichen Werbebotschaften nicht unreflektiert auf sich einwirken zu lassen. Auf der anderen Seite wirbt sie gleichzeitig für die Anerkennung neuer Bei weiteren Projekten wiederum wirft sie Kommunikationsformen, die sie als Künstlerin mit starken Xenonlampen-Projektoren ihre nutzt, um ihre eigenen Botschaften möglichst ­Botschaften auf historische Gebäude wie das effektiv zu übermitteln. Völkerschlachtdenkmal in Leipzig oder die ­Kaiserpfalz in Goslar. Die historischen Monu- mente werden von ihr wortwörtlich in ein neu- Hans Haacke es Licht gestellt; sie werden zu Trägern ihrer aktuellen Botschaften und gewinnen dadurch, Hans Haackes Installation „Der Bevölkerung“ dass sie angestrahlt werden, paradoxerweise wurde als letztes der Kunst-am-Bau-Projekte jene Ausstrahlung zurück, über die sie einst für das Reichstagsgebäude eingebracht. Auf als symbolisch-repräsentative Bauten ihrer Zeit Einladung des Kunstbeirats hatte der Künstler verfügten. Bei all diesen Projekten reagiert die für den nördlichen Innenhof einen Entwurf Künstlerin mit ihren Texten auf die besondere entwickelt, der vorsah, in diesem Innenhof eine historische und politische Situation des jewei- große, von Holzbohlen eingefasste Fläche an­ ligen Ortes ihrer Installationen. In vergleichba- zulegen. Die Abgeordneten sollten eingeladen rer Weise setzt sie sich im Reichstagsgebäude werden, auf dieser Fläche Erde aus ihren Wahl- mit der Geschichte des Monuments auseinan- kreisen auszustreuen. Der Künstler schlug vor, der und verleiht ihm zugleich durch das zeitge- in der Mitte des gärtnerisch nicht betreuten, nössische Medium der Lauf- und Leuchtschrift frei wuchernden Biotops die Inschrift „Der eine neue Aktualität. ­Bevölkerung“ in Neonlichtbuchstaben leuchten Mit diesem modernen Medium greift Jenny zu lassen, diese geformt in derselben, von Peter Holzer bewusst auf ein Kommunikationsmittel Behrens entworfenen Schrifttype wie die Buch- zurück, das den Menschen von heute aus ihrer staben der zentralen Giebelinschrift „Dem deut- täglichen Umgebung, von Bahnhöfen, von den schen Volke“ aus dem Jahr 1916. Börsennachrichten, aus Zügen und Bussen oder Haackes Entwurf löste innerhalb und außerhalb von der Werbung her vertraut ist. Jenny Holzers des Parlaments eine lebhafte Diskussion aus. Arbeit ist daher auf der einen Seite durchaus Die Kontroverse entzündete sich an der Frage, medienkritisch, indem sie auffordert, die täg­ ob mit der Neoninschrift eine Korrektur der

Hans Haacke, „Der Bevölkerung“ Neonlicht, Erde, Webcam, 1999 / 2000 nördlicher Innenhof

308 Sein künstlerisches Schaffen ist seit Beginn der 1960er-Jahre auf die Entwicklung spezifi- scher Formen einer „Prozesskunst“ gerichtet. zentralen Giebelinschrift „Dem deutschen Sein Ziel ist es, modellhaft physikalische, bio- ­Volke“ vorgenommen werde und somit Verfas- logische oder gesellschaftliche Prozesse vor sungsmaximen der Bundesrepublik Deutsch- Augen zu führen und so die ihnen zugrunde land infrage gestellt werden oder ob die Schrift liegenden Strukturen anschaulich werden zu im Innenhof eine legitime Ausweitung des lassen. ­Haackes Installationen beziehen sich ­Sinnes der Giebelinschrift bedeute und einen daher immer auf ihr konkretes politisches, Denkprozess in Gang setzen solle. Mit knapper ­soziales und kulturelles Umfeld und fordern Mehrheit setzten sich im Bundestag die Befür- den Dialog mit dem Betrachter heraus. Dieser worter der Installation Haackes durch, sodass Dialog ist Teil seines Kunstwerks, unabhängig diese im September 2000 dem Bundestag über- davon, ob es sich um ablehnende oder zustim- geben werden konnte. Seitdem bringen Abge- mende Stellungnahmen handelt. Entscheidend ordnete Erde aus ihrem Wahlkreis oder treffen ist, dass der Betrachter Stellung bezieht und sich mit Bürgerinnen und Bürgern ihres Wahl- sich mit Haackes Projekten gedanklich ausein- kreises, die zu Besuch im Parlament sind, andersetzt. ­füllen gemeinsam die Erde ein und tauschen In diesem Sinne wird zwischen der Innenhof­ dabei Informationen über die Herkunft der inschrift und der Giebelinschrift des Westportals Erde und ihre Rolle in der Geschichte und des Reichstagsgebäudes ein Spannungsverhält- der ­Wirtschaft des Wahlkreises aus. Die Be­ nis erzeugt, das zum Nachdenken und zu Dis­ sucher können unter der Internetadresse kus­sionen über die Rolle und das Selbstver- www.derbevoelkerung.de dank einer im Hof ständnis des Parlaments anregt. Darüber hinaus­ installierten Webcam verfolgen, was auf dem weist das Zusammentragen der Erde durch die Erdreich wächst und gedeiht. So steht allen Abgeordneten auf die Verantwortung des Men- ­Interessierten über diese Internetseite gleich- schen gegenüber der Umwelt hin. Erde erinnert sam ein Fenster zum Innenhof des Reichstags- an die Endlichkeit des Menschen und an die gebäudes offen. Gleichheit aller Menschen angesichts ihrer End­ Geboren 1936 in Köln, lebt Hans Haacke seit lichkeit. Zugleich mahnen der Umgang mit Erde den 1960er-Jahren in New York und lehrte dort und das aus ihr Erwachsende, nicht Vorherseh- an einer der bedeutendsten Kunsthochschulen bare der Vegetation, die Grenzen des technisch der Vereinigten Staaten, der Cooper Union. und politisch Machbaren zu erkennen. So wird

309 Hermann Glöckners Werk ist von seltener Strenge und Konsequenz. Von der Darstellung geometrischer Strukturen, wie sie Licht und durch dieses Biotop eine frei wuchernde­ Vege- Schatten aus Dächern, Fassaden, Schornsteinen tation im Innenhof des Hightech-Gebäudes von und elektrischen Masten formen, gelangte er Norman Foster im lebendigen und reizvollen Mitte der 1930er-Jahre zur Sicht- und Gestal- Gegensatz zum steinernen Innenhof geschaffen. tungsweise der Werkgruppe der „Faltungen“, Die Vermischung der Erde aus allen Wahlkrei- zur reinen, sich selbst genügenden Geometrie. sen bekräftigt zudem die Zusammengehörigkeit Seitdem erforschte er räumlich durch Plastiken aller Regionen und die Feststellung, dass die und zweidimensional auf Tafeln oder Blättern im Parlament verhandelten Fragen alle Bürger die unendliche Vielfalt von Faltungen und gleichermaßen betreffen. Brechungen, die geheime Harmonie von Flächen in ihrem sinnlichen Wechselspiel von Farbe, Linien und Materialität. Hermann Glöckner Ein derart sprödes Werk stand stets quer zu sei- ner Zeit. Weder Nationalsozialisten noch SED- Die drei Blätter von Hermann Glöckner in der Regime konnten dieses sich selbst genügende Vitrine vor dem Plenarsaal bilden keine Wirk- ästhetische Spiel ihren Zwecken dienstbar lichkeit außerhalb ihrer eigenen ab, vielmehr machen. Hermann Glöckner (geboren 1889 in sind sie selbst Abbild und Abgebildetes in Cotta bei Dresden, gestorben 1987 in Berlin) ­einem. Sie sind typische Werke der „konkreten blieb daher zeitlebens eine angemessene Wür- Kunst“, konkret in dem Sinn, dass die geome­ digung verwehrt. Der Bundestag hingegen hatte trischen Spuren der Faltungen der Blätter das Glöckners künstlerischen Rang bereits in Bonn Ergebnis eines konkreten, aus dem Bild er- dadurch gewürdigt, dass er vor dem Plenar­ schließbaren Ereignisses, nämlich des Faltvor- bereich eine Skulptur von Glöckner aufstellen gangs, sind. Durch ihre Existenz bezeugen die ließ als posthume Umsetzung eines der vielen Faltspuren diesen Vorgang und stellen ihn als eindrucksvollen, unverwirklicht gebliebenen Ergebnis selbst materiell dar. Entwürfe des Künstlers.

Hermann Glöckner, „Schwarzer ­Rhombus“ und „Schwarzer Keil“ Arbeiten auf Papier, 1969 /1980 Plenarsaalebene

310 Gerhard Altenbourg

Mit der aquarellierten Zeichnung „Große Land- schaft“ stellt sich der 1926 als Gerhard Ströch in Rödichen-Schnepfenthal bei Gotha geborene Thüringer Maler und Grafiker Gerhard Alten- In den 1950er-Jahren, als den bildenden Künst- bourg (gestorben 1989 in Meißen) in die Tradi- lern in der DDR im Rahmen der „Formalismus-­ tion der sen­­si­blen analytischen Zeichenkunst Debatte“ der „sozialistische Realismus“ aufge- eines Paul Klee oder Alfred Kubin. In Fort­ zwungen werden sollte, wurden Altenbourgs führung und Fortentwicklung ihrer grafischen versponnen-zarte Grafiken auf ersten kleinen Kunst legte Altenbourg in seinen frühen Arbei- Ausstellungen im Westen gezeigt. Bald er­ ten feine Liniennetze und zarte Aquarellflächen kannte die Kunstkritik in der Bundesrepublik Schicht um Schicht über- und nebeneinander.­ Deutschland die überragende Bedeutung seines So kontrastieren auf einem Blatt wie der „Großen Werkes, sodass er als einer der wichtigsten Landschaft“ Par­tien, die geradezu vegetabil Künstler aus der oppositionellen Kunstszene zuzuwuchern scheinen, mit offenen Flächen, der DDR angesehen wurde. Infolgedessen wur- deren zarte Kolorierung Weite und räumliche de er monatelang mit Verhören und Drohungen Tiefe andeutet. Diese poetischen und meditati- durch die Staatssicherheit verfolgt. Während ven Arbeiten waren für einen kleinen Kreis von er in der Bundesrepublik schon 1959 auf der Freunden und Sammlern bestimmt, Arbeiten, Kasseler „documenta II“ vertreten war, galt für die insofern auch die menschliche und künst­ ihn in der DDR praktisch ein Ausstellungsver- lerische Situation eines Nonkonformisten in bot, das nur selten von einem mutigen Muse- der DDR widerspiegeln. umsdirektor durchbrochen wurde. Erst in den Altenbourg gehörte zu den Künstlern in der 1980er-Jahren wurde er auch in der DDR an­ DDR, die sich aufgrund ihrer Unangepasstheit erkannt. Der Höhepunkt seiner öffentlichen an den staatlich überwachten Kunstbetrieb in ­Rehabilitierung war die Retrospektive in der die innere Emigration zurückziehen mussten. Ostberliner Nationalgalerie im Jahr 1987.

Gerhard Altenbourg, „Große ­Landschaft“ chinesische Tusche und Aquarell auf ­Papier, 1953 Vorraum der Abgeordnetenlobby, Plenarsaalebene

311 Dieses nicht eben realpolitische Welt- und Menschenbild hinderte Joseph Beuys nicht ­daran, im Jahr 1976 für den Bundestag zu kan- didieren. Daher war es dem Kunstbeirat – trotz Joseph Beuys der bekannten Vorbehalte von Beuys gegenüber der Parteiendemokratie – ein besonderes An­ Joseph Beuys (geboren 1921 in Krefeld, gestor- liegen, diesen Künstler durch eine Arbeit im ben 1986 in Düsseldorf) gilt als einer der be- Parlament vertreten zu wissen. deutendsten Künstler unserer Zeit. Die Einzig- In der Bronzeskulptur vor dem Plenarsaal des artigkeit von Werk und Wirkung dieses Künst- Bundestages fließen mehrere Linien des Werkes lers beruht darauf, dass er mit dem Mut des von Beuys zusammen. Der Tisch, die Batterie Außenseiters die Vision einer Synthese von und die Kugeln (ursprünglich aus Erde) sind Kunst und Leben entwickelte und in seinen Gegenstände und Material des täglichen Le- Werken Gestalt werden ließ. Über Studium und bens, „arme“ Materialien, die lange Zeit nicht Praxis der Bildhauerei gelangte der Visionär museums- und kunstwürdig waren. Ihre un­ ­Joseph Beuys zu seinem Weltmodell der „sozia- verbrauchte Aussagekraft, ihren Symbolgehalt len Plastik“, und dementsprechend engagierte nutzt Beuys, um seine Ideen vom Senden und er sich auch politisch. Allerdings verstand er Empfangen, vom Energiefluss und von Energie- Politik nur als Teil eines umfassenden Kunst­ speicherung aus der Skulptur heraus intuitiv begriffs. Diesen mit Leben zu erfüllen – und anschaulich werden zu lassen. Bei der Gestal- das war sein vornehmliches Anliegen – hieß, tung seiner Skulpturen wird Beuys von einem die kreativen Kräfte des Menschen freizuset- hohen Sendungsbewusstsein getragen: „Ich zen. Durch eine solche Befreiung seiner kreati- habe erlebt, (...) dass man mit Material ­etwas ven Kräfte sollte der Mensch mündig werden Ungeheures ausdrücken kann, was für die ganze für den verantwortlichen Umgang mit seiner Welt entscheidend ist (...). Oder sagen wir, dass Umwelt und der hiermit eng verknüpften die ganze Welt abhängt von der Konstellation Gestaltung seiner Geschichte. von ein Paar Brocken Material“, sagte er 1977.

312 Joseph Beuys, „Tisch mit Aggregat“ Bronze und Kupfer, Exemplar 1/4, Leihgabe, 1958 / 85 Plenarsaalebene

313 wo sich nicht zuletzt durch den Einfluss aus Osteuropa gegenläufige Kräfte zu formieren begannen. In Berlin beschritt er im Jahr 1962 seinen Weg zu einem „pathetischen Realismus“ mit der Proklamation der „dithyrambischen Markus Lüpertz Malerei“. Der Begriff „dithyrambisch“ stellt über die gedankliche Brücke der späten Ge- Ein weiteres Kunstwerk auf der Ebene des dichte Nietzsches den Bezug zum antiken Gott ­Plenarsaals schuf der Maler Markus Lüpertz. Dionysos her, dem Gott des Rausches und der Er hat sein Leinwandgemälde „1840“ bündig Ekstase. Lüpertz bedurfte dieses Pathos, um in die Stirnwand des Abgeordnetenrestaurants an den Erfolg des eigenen Aufbruchs gegen die eingelassen. In diesem Gemälde verweist er auf seinerzeit dominierende Kunst der Abstraktion die Rheinreise des englischen Malers William zu glauben. Es ist sicher kein Zufall, dass Turner, greift Motive aus eigenen früheren Wer- sich dieses Pathos auch in den verwandten ken auf und schlägt spielerisch eine gedankli- „pandämonischen“ Manifesten von Georg che Brücke von der Spree zum Rhein. Das Jahr Baselitz findet. In der Berliner Selbsthilfegalerie 1840 stellt nicht nur einen Bezug zur Rhein­ „Großgörschen 35“ fanden die ersten Ausstellun- reise William Turners her, sondern erinnert gen der beiden Malerrebellen statt. Lüpertz auch an eine entscheidende Phase der deut- stellte einfache, alltägliche Gegenstände mit schen ­Nationalstaatsgründung, als nämlich vitaler, plastischer Kraft und energischer Ex- in der deutsch-französischen Krise die Verant- pression dar. Doch blieb die Malerei als eigen- wortung für die Verteidigung Deutschlands am ständiges Element bestimmend, sodass das Rhein erstmals entscheidend bei Preußen lag. Inhaltliche nicht in den Vordergrund trat. Um Geboren 1941 im böhmischen Liberec, gehört 1970 wandte sich Lüpertz Motiven aus der un­­ ­Lüpertz zu der Generation von Malern, die mittelbar zurück­liegenden deutschen Geschichte zu einer Zeit ihren eigenen Weg suchten, als zu. In dem ­Gemäldezyklus „Schwarz-Rot-Gold- die abstrakte Kunst, von Paris und New York dithyrambisch“ wird das Motiv eines Wehr- kommend, die westeuropäische Kunstszene machtshelms in Verbindung mit einer Geschütz­ beherrschte. Früh verließ Lüpertz daher das lafette wie bei einer barocken Kriegsallegorie Rheinland und wandte sich nach Berlin, zu einer ­monumentalen Skulptur aufgebaut.

Markus Lüpertz, „1840“ Öl auf Leinwand, 1999 Abgeordnetenrestaurant, Plenarsaalebene

314 315 Für das Gemälde im Reichstagsgebäude hat ­Lüpertz Motive und malerische Ansätze aus früheren Werkphasen aufgenommen und wie collagiert übereinandergeblendet oder hinter der offiziellen Staatsdoktrin zu üben, sodass Rasterstrukturen versteckt. So ist ein vielschich- seine Kritik von den Bürgern in der DDR ver- tiges Gemälde entstanden, das aufschlussreiche standen werden konnte, aber den Funktionären Verweise auf die deutsche Geschichte und auf des Staatsapparats nicht offenkundig wurde. die Entwicklung der deutschen Malerei in ihrer Die für das Reichstagsgebäude angekauften Auseinandersetzung mit der Geschichte bietet. Gemälde greifen zwei für die Situation der Menschen in der DDR um 1989 charakteristi- sche Motive auf: „Der Eine und die Anderen I“ Wolfgang Mattheuer thematisiert die Isolation des Individuums, das mit seinem Willen zur freien Selbstbestimmung Wolfgang Mattheuer (geboren 1927 in Reichen- in Konflikt mit den Ansprüchen der Gemein- bach / Vogtland, gestorben 2004 in Leipzig) ge- schaft gerät, selbst wenn diese nicht der Legiti- hört neben Bernhard Heisig und Werner Tübke mität entbehren. In vergleichbarer Weise greift zu den führenden Vertretern der „Leipziger „Panik II“ diese Frage nach dem angemessenen Schule“ der DDR. Sein Stil vereint Elemente Verhalten gegenüber der Gemeinschaft auf. der Neuen Sachlichkeit mit surrealen Bildmoti- Wenngleich diese Motive unmittelbar zunächst ven, die sich trotz ihrer Subtilität als kritische auf die zeitgebundene Situation in der DDR um Kommentare zur politischen Realität in der 1989 anspielen mögen, so sind die aufgeworfe- DDR lesen lassen. Nur diese leise, nicht provo- nen Fragen nach dem Ausgleich der Ansprüche kante Hintergründigkeit ermöglichte es ihm, in von Individuum und Gesellschaft doch von der Sprache der Bilder Kritik am hohlen Pathos überzeitlicher Aktualität.

Wolfgang Mattheuer, „Der Eine und die Anderen I“, Öl auf Holz, 1989 Verfügungsräume des Bundesrats­ präsidenten, Plenarsaalebene

316 317 In den Jahren 1996 bis 1998 hat Andreas Gursky zahlreiche Fotoaufnahmen des Ple­narsaals in Bonn angefertigt – vom erhöhten Standpunkt einer Hebebühne aus in den Plenarsaal durch Andreas Gursky die diesen umrahmenden Glasscheiben hin- durch. Die für das Bild „Bundestag“ entschei- Der 1955 in Leipzig geborene Andreas Gursky denden Aufnahmen fertigte der Künstler im ist einer der führenden zeitgenössischen Foto- April 1998. Sie zeigen eine Abstimmung mit künstler aus der Schule der Düsseldorfer Kunst- Stimmkarten. Der Künstler hat den Moment akademieprofessoren Bernd und Hilla Becher.­ herausgegriffen, als viele Abgeordnete ihre Seine monumentalen Bildformate entstehen Plätze verlassen haben und sich um die Ab- durch digitale Zusammenfügung zahlreicher stimmungsurnen drängen. Bei genauem Hin­ Einzelaufnahmen, die dasselbe ­Motiv aus un- sehen erkennt man, dass das Bild aus vielen terschiedlichen Blickwinkeln oder zu unter- Einzelaufnahmen komponiert ist: Motive über- schiedlichen Tageszeiten zeigen. Aus diesen lagern sich oder brechen plötzlich ab, Spiege- Fotoversatzstücken entstehen somit keine foto- lungen oder Architekturelemente tauchen auf, grafischen Abbilder, sondern eigenständige die in der Realität nicht vorhanden sind. Kunstwerke, ähnlich frei komponiert wie Ge- Gurskys Komposition ist also kein Dokumen­ mälde. Eine seiner wichtigsten Werkgruppen tationsfoto einer Plenarsitzung. Der Künstler ist durch den Blick aus der Vogelperspektive hat vielmehr ein Sinnbild demokratischer auf Menschen, Häuser oder Landschaften ge- Kommunikation geschaffen. Er zeigt einen für kennzeichnet. Andreas Gursky gestaltet durch eine Demokratie typischen und entscheidenden den Blick aus großer Ferne auf Menschenan- Moment, jedoch bewusst keinen herausragen- sammlungen – an der Börse, in Fabriken oder den feierlichen Staatsakt, sondern alltägliches bei Konzerten – Sinnbilder sozialer Kommuni- Handeln und Arbeiten im Parlament: Abge­ kation. Die Individuen und die Strukturen ihrer ordnete drängen nach einer Debatte mit ihren Umgebung fügen sich in Gurskys Fotoarbeiten Stimmkarten zur Urne, einige haben ihre Plätze zu einem mosaikähnlichen Gesamtbild zusam- bereits wieder eingenommen, andere­ verharren men, sie bilden Muster und weichen doch stehend und diskutieren. Ein entspanntes ­wieder individuell ab, sie zeigen die überein- hierarchieloses­ Miteinander hat sich eingestellt. stimmenden Verhaltensmuster der Vielen und Gegliedert wird die Szenerie, einem Kirchen- das Abweichen und Ausbrechen Einzelner fenster vergleichbar, nur durch das Raster der aus einer Menge. Glasfenster.

Andreas Gursky, „Bundestag“ C-Print hinter Acrylglas, EA Leihgabe des Künstlers, 1998 Empfangsraum des Bundestags­ präsidenten, Präsidialebene

318 319 Rupprecht Geiger

Der Maler Rupprecht Geiger stand in einem der Protokollräume vor der Herausforderung, sich So hat Gursky aus einer alltäglichen Szene ein allein mit der Farbe gegen das bestimmende Historienbild geschaffen, ein dezidiert zeitgenös- Blau der Holzpaneele behaupten zu müssen, sisches und – in der Kunst noch ungewohnt – die zwei Drittel der Wandfläche einnehmen. zudem ein fotografisches. Es stellt eine Erinne- Während Georg Karl Pfahler seine Farbobjekte rung an die geschichtliche Bedeutung Bonns über die Fläche der Paneele ausgreifen lässt, dar und beleuchtet zugleich allgemeingültig drängt Geiger die blauen Paneele mit der Vita­ ­einen bedeutenden Vorgang demokratischen lität seines leuchtend orange-gelben Frieses Handelns. In solchem Verständnis präsentiert optisch in den Hintergrund. sich dieses Historienbild im Empfangs- und Auch Rupprecht Geiger (geboren 1908 in Mün- Besucherraum des Bundestagspräsidenten im chen, gestorben 2009 in München) gehört zu Reichstagsgebäude als eine Ikone demokratisch ­jenen Künstlern, die ihre eigene künstlerische verfasster Staatlichkeit, „ein Denkmal in Bild- Handschrift gegenüber der in den 1950er-Jahren gestalt“, wie es der Kunsthistoriker Michael so mächtigen Zeitströmung des Informel be- Diers nennt. Nicht weniger bedeutsam kompo- haupteten. Bereits vor 1945 hatte er sich der niert und bedachtsam ausgesucht ist auch der Farbe als einem „Grundelement der Malerei“ Ort der Hängung des Kunstwerks: Zur Linken zugewandt. Interessanterweise entdeckte er des Bildes geht der Blick durch ein Fenster die Elementarkraft der Farbe in der Natur, als er auf das Bundeskanzleramt, zur Rechten auf in Russland seine ersten Landschaftsaquarelle das Paul-Löbe-Haus mit den Sitzungssälen der anfertigte: „Das Farbenmeer, (das die reine kon- ­Ausschüsse des Parlaments. So schlägt dieses tinentale Luft dort hervorbringt,) die Morgen- Historienbild nicht nur eine Brücke der Erinne­ ­ und Abendstimmungen insbesondere, bei ­denen rung zwischen Bonn und Berlin, sondern ver- sich die Himmelstönungen in einer unglaubli- deutlicht auch die Kontinuität eines souverän- chen Breitenausdehnung von unten nach oben unaufgeregten bürgerlich-demokratischen ziehen, waren vielleicht die bestimmenden, Selbstverständnisses von der „Bonner“ zur nachwirkenden Erlebnisse“, sagte er 1963 in „Berliner Republik“. ­einem Interview über seine Zeit in Russland.

Rupprecht Geiger, „Rot 2000, 875 / 99“ Acryl auf Leinwand, 1999 Protokollraum, Präsidialebene

320 Aus diesen Erlebnissen erwuchsen seine ob­ sessiv betriebenen Studien zur Wirkkraft der Die Entmaterialisierung aller nicht farblichen Farbe – Studien, deren Zielsetzung Geiger in Elemente steigert Rupprecht Geiger durch den dem Satz zusammenfasste: „Es geht mir um die Einsatz von Tagesfluoreszenz-Farben. Weil sie ­Farbe, nur um die Farbe und deren Erkennbar- in der Natur nicht vorkommen, werden sie von keit.“ Für diese Studien musste er allerdings ihm als „abstrakte Farben“ wahrgenommen. So die ­Farbe aus ihrer Gegenstände beschreiben- lösen sich die Farben schließlich auch von der den Funktion lösen, damit sie als Farbe in ihrer Materialität des Bildträgers. Farbe ist nunmehr, ­Eigenwertigkeit wahrgenommen werden kann. wie im Bildfries des Protokollraums im Reichs- In diesem Sinn hat Geiger konsequent alle tagsgebäude, nur noch ein immaterieller, auf Möglichkeiten untersucht, die Farbe zu isolie- den Betrachter ausstrahlender Farbraum. ren und „von diesen äußeren Störungen fern­ zuhalten“. Er experimentierte mit der Gestalt der Leinwandbilder, die er sich nicht mehr als Gotthard Graubner rechteckiges Format vorgeben ließ, sondern die er an die dargestellte Form auf der Leinwand Der Raumeindruck der Protokoll- und Sitzungs- anpasste („shaped canvas“). Er spielte unter- räume im zweiten Obergeschoss wird von den schiedliche Motivreihen von surrealen Land- Holzpaneelen des Architekten und deren Farb- schaften bis zu abstrakten Gestaltungen durch konzeption durch den dänischen Designer Per und gelangte schließlich zu den Grundformen Arnoldi bestimmt. Für die Gestaltungen in die- seiner Farbstudien, zu Rechteck, Kreis oder sen Räumen wurden daher Künstler ausgewählt,­ Oval: „Die Vielfalt abstrakter Formen mit ihren die sich mit der Farbe als eigenständigem­ Aus- oft skurrilen Umgrenzungslinien lenkt von der drucksträger auseinandergesetzt haben.­ So spielt Farbe ab, während bei archetypischen Formen, Gotthard Graubner in seinem Kissenbild mit wie Rechteck und Kreis, die Farbe unbeein- den unterschiedlichen Farb­abstu­fung­en, wie flusst hervortreten kann.“ Ihre Erkennbarkeit sie sich aus dem Zusammen­wirken mit den als Form wird zudem durch die bewusste Ver- weich verlaufenden Lichtgradationen auf der wendung der Spritztechnik zurückgenommen. Wölbung des Farbraumkörpers bilden.

321 In den 1950er-Jahren stand die Kunstszene in Deutschland unter dem beherrschenden Ein- fluss des amerikanischen abstrakten Expres­ im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bun- sionismus und des französischen Informel. despräsidenten, die Stirnseiten des „Großen Gotthard Graubner (geboren 1930 in Erlbach, Saales“, der für Empfänge und Staatsbankette gestorben 2013 in Düsseldorf) gehört zu einer genutzt wird („Begegnungen“, 1988). Gruppe von Künstlern, die Anfang der 1960er- Mit seinen Arbeiten steht Gotthard Graubner Jahre auf die dekorativ gewordene Vielfarbig- in einer Tradition, die zurück zu den späten keit ­dieser Stilrichtungen mit der Rückkehr zur Seerosenbildern Monets aus dessen Garten ­Ursprünglichkeit der Farbe, zur Untersuchung in Giverny reicht. In dieser Entwicklung steht ihrer Eigenwertigkeit reagierten. Graubner trug auch der „Farbraumkörper“, den Graubner für damals die Farbe auf Leinwand oder Papier den Protokollraum im zweiten Obergeschoss nicht mit einem Pinsel auf, sondern mit einem des Reichstagsgebäudes entworfen und geschaf- Schwamm, um Farbschichten besser übereinan­ ­ fen hat. Das Eigenleben der Farbe, „die durch derlegen zu können. Dabei entdeckte er, dass ihre Nuance erfahrbar wird“, ist Graubners zen- die mit Farbe vollgesogenen Schwämme als ei- trales Thema. Sie drängt in den Raum, dessen genständige „Farbleiber“ räumlich nuancierte Größe eine solch farbvoluminöse Kraft gerade- Farbwirkungen entwickelten, sodass er diese zu herausfordert. Sie bleibt in ihrer Wirkung ursprünglichen Arbeitsmittel seit 1960 als ei- aber trotzdem subtil sowohl durch die aus genständige Farbkörper bearbeitete. Er entwi- der Tiefe des Körpers durchscheinenden Farb- ckelte die Kissenbilder, indem er Schaumstoff schichten als auch durch die differenzierten oder später Synthetikwatte auf einer Holzplatte Farbqualitäten, wie sie durch die jeweiligen oder Leinwand auflegte und mit Leinwand Lichtabstufungen auf der Wölbung des Farb­ überspannte. Graubner fand für sie die Bezeich- raumkörpers entstehen. Dieser Subtilität ent- nung „Farbraumkörper“ und gelangte, von spricht der vom griechischen Dichter Homer ­kleineren Formaten ausgehend, schließlich inspirierte poetische ­Titel, der eine festliche zu monumentalen Formaten. Mit zwei dieser Morgenstimmung verheißt: „... die rosenfin­ „Farbraumkörper“ gestaltete er beispielsweise­ grige Eos erwacht ...“.

322 Gotthard Graubner, „… die rosen- fingrige Eos erwacht …“ Farbraumkörper, Mischtechnik auf ­Leinwand über Synthetikwatte auf Leinwand, 1998/99 Protokoll- und Sitzungsraum, Präsidialebene

323 erkennbar ist. Die nun für ihn charakteristi- schen Arbeiten hingegen sind durch eine eigentüm­liche Verbindung geometrischer reiner Farb­flächen mit scheinbar tiefenräumlichen Georg Karl Pfahler ­­Illusionseffekten gekennzeichnet. So steht im Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit die in Den Sitzungssaal für den Ältestenrat, eines zahlreichen Serien vorgenommene Erforschung der wichtigsten parlamentarischen Gremien, der räumlichen Wirkungskraft von Farben. hat der Stuttgarter Künstler Georg Karl Pfahler Dieses räumliche Spannungsmoment erzeugt gestaltet. In Fortentwicklung seiner Serie der Pfahler in Grafiken und Gemälden oft dadurch, „Espan“-Bilder scheinen farbige Rechtecke, dass seine Farbformen angeschnitten sind mit einer geschickten optischen Täuschung in- und aus dem vorgegebenen Bildraum heraus­ szeniert, von den Wänden herabzufallen und zudrängen scheinen, also eine Interaktion zum geradezu über die blauen Holzpaneele hinweg- umgebenden­ Raum aufnehmen. zutanzen. So reagiert der Künstler souverän auf In der Konsequenz dieses künstlerischen Ge- die vorgegebenen starkfarbigen Holzpaneele, dankengangs lag es, dass Pfahler bereits früh indem er ihnen ein durchdachtes eigenes Farb- von Grafiken und Gemälden zur Gestaltung konzept entgegensetzt, das vom Gegen- und ganzer Farbräume vorstieß – weltweit beachtet Miteinanderspielen der Farben, ihrer Über­­- beispielsweise auf der „Biennale“ in Venedig la­gerung und Weiterentwicklung lebt und 1970 –, um das Wechselspiel zwischen Farbe auf diese Weise eine eigene Farbräumlichkeit und Raum im Dreidimensionalen zu erforschen schafft. Durch Pfahlers spezifisch süddeutschen und dabei zu erproben, wie Farben Raumerleb- Akzent ist das Reichstagsgebäude um einen nisse und die Veränderung der Wahrnehmung heiter-festlichen Raum reicher geworden. von Räumen bewirken können. Pfahlers Ziel Ähnlich wie bei Gotthard Graubner steht am bei der Konzeption von Farbräumen ist es, Beginn von Pfahlers Weg zur eigenen künstle­ durch seine Kunst über den engen Raum des rischen Ausdrucksform die Reaktion auf die Musealen hinaus zu wirken und durch „Öffent- Stilrichtung des Informel der 1950er-Jahre. lichkeitskunst“ auch diejenigen Betrachter an- Früh löst sich Georg Karl Pfahler (geboren 1926 zusprechen, die nicht zum engeren Kreis der in Emetzheim, gestorben 2002 in Emetzheim) Kunstinteressierten gerechnet werden. Seine von seinen ersten tachistischen Werken, in verschiedenen Farbraumtheorien erscheinen denen noch die individuelle Pinselführung verdichtet in den von ihm seit 1978 entworfe-

links: Georg Karl Pfahler, „Farb-Raum-­ Objekt“ Acryl auf Holz, 1998/99 Sitzungssaal des Ältestenrats, Präsidialebene

rechts: Emil Schumacher, „Stationen und ­Zeiten, I–IV“ Öl und Acryl auf Aluminium, 1999 Besprechungsraum

324 Für die Gestaltungen im zweiten Obergeschoss des Reichstagsgebäudes wurden Künstler aus- nen Pavillons, aus denen sich seine „Palaver- gewählt, die sich mit der Farbe als eigenwerti- häuser“ entwickelten. Diese als Kommunika­ gem Ausdrucksträger auseinandergesetzt haben. tionsorte entworfenen Farbraumobjekte prädes- Da alle vier Künstler – Graubner, Geiger, Pfahler tinierten den Künstler für die Gestaltung eines und Schumacher – außergewöhnlich starke der wichtigsten Räume im Reichstagsgebäude. Künstlerpersönlichkeiten sind, ist eine auf- Pfahler bewältigte diese Herausforderung zur schlussreiche Gegenüberstellung jeweils ganz Symbolhaftigkeit in einer Verbindung von hei- eigener und eigenwilliger Wege zur Erfor- terer Unbefangenheit und ernsthafter Konzen­ schung der Ausdruckskraft der Farbe zustande tration: Die vom Künstler gestaltete Synthese gekommen. So hat Schumacher im Unterschied dieser beiden Temperamente lässt einen Raum zu Graubner, Pfahler und Geiger die Farbe als entstehen, in dem sich die politische Kunst Mittel einer expressiven gestischen Entäuße- der Kommunikation entfalten und wirksam rung eingesetzt. Als Mitglied der 1949 gegrün- werden kann. deten Münchner Gruppe „Zen“ entwickelte er seine eigentümlich archaische Bildsprache. In ihr verbinden sich sensibel gezeichnete Lini- Emil Schumacher engebilde, die die oft kalligrafische Gestik des Informel brechen, mit mythischen Schriftzei- Auch Emil Schumacher (geboren 1912 in chen. Diese Bildkürzel erinnern entfernt an ­Hagen) stand wie Georg Karl Pfahler und Höhlenmalereien. Sie werden eingeschrieben Rupprecht Geiger vor der Herausforderung, in schrundige und pastose, geradezu reliefartig sich gegen die dominierenden Wandpaneele gestaltete Malgründe, die wie von Lava geform- des Architekten durchzusetzen. Er stellte sich te Urlandschaften die Kräfte ursprünglicher dieser Herausforderung in einer der letzten Natur zu verkörpern scheinen. Arbeiten vor seinem Tod im Jahr 1999, indem Die außergewöhnliche Leistung Schumachers er seine Malweise auf Aluminiumplatten zu besteht darin, diesem Stilprinzip gegen alle furiosen, expressionistisch-gestischen Aus- Zeitströmungen und Moden treu geblieben zu druckslinien steigerte. Dank ihrer Transparenz sein, ohne dass jemals der Eindruck von erlah- und kühlen Eleganz scheint jedoch ihr furioser mender Schöpferkraft oder gefälliger Wieder­ Gestus mit virtuoser Beiläufigkeit gezügelt. holung entstand. Gerade durch ihre sperrige

325

Die Künstlerin Hanne Darboven erinnert mit der „12 Monate, Europa-Arbeit“ in 384 Einzel- blättern, die sie mit rhythmischer Reihung von Zahlen zu jedem einzelnen Tag des „Europa- jahrs“ 1997 geschaffen hat, im Lobby- und Sprödigkeit strahlen seine Arbeiten eine so ­Pressesaal der CDU/CSU-Fraktion im dritten selbstbewusste Vitalität aus, sind so selbstver- Obergeschoss an dieses für Europas Zukunft ständlich präsent, als ob sie Natur und nicht entscheidende Jahr. Jedem Tag des Jahres 1997 Artefakte wären. hat Hanne Darboven ein Blatt gewidmet. Sie Die vierteilige Arbeit im Besprechungsraum hat nach einem Schema jeweils das Datum des vertraut auf diese Kraft ihrer Ausstrahlung und ­Tages als Zahlenkombination notiert. Dieses überspielt die Paneele. Schumacher hat auf die Schema hat sie auf allen Blättern beibehalten, für viele seiner sonstigen Gemälde so charakte- sodass sich aus der Entfernung, wenn die ein- ristischen Malkrusten verzichtet und stattdes- zelnen Zahlen nicht mehr lesbar sind, ein zwar sen mit Aluminiumplatten einen Untergrund handschriftlich-individuelles, aber doch weit- gewählt, der wie Papier nur den leichten Pinsel- gehend gleichmäßig rhythmisiertes Erschei- auftrag ermöglicht und diesen durch Licht­ nungsbild der einzeln gerahmten Blätter ergibt. spiegelungen im Metall besonders transparent Ein weiteres rhythmisierendes Ordnungssche- wirken lässt. Eine vom ersten Bild aufsteigende ma schuf sie dadurch, dass sie die Blätter in und zum letzten hin abfallende Linie verbindet zwölf Blöcken monatsweise zusammengefasst den Fluss der Bilder über die vier „Stationen“. hat, sodass zwölf hochrechteckige Bildfelder Kürzelhafte Bildzeichen deuten Tiere, Men- entstanden sind. Hanne Darboven hat jeden der schen und Landschaft an. Was schon der Titel Blöcke um die Blätter ergänzt, die erforderlich suggeriert, erweist die vergeistigte, durchschei- sind, um die gleiche Zahl von 32 Blättern je nend gewordene Leichtigkeit des Liniengefüges: Monat zu erreichen. Bei diesen ergänzenden Der vierteilige Zyklus ist das Resümee eines Blättern handelt es sich um Fotocollagen mit reichen Künstlerlebens, ist das von seinem dem Europa-Signum, wie es auf Autoschildern Altersstil geprägte Vermächtnis Schumachers. aufgedruckt ist.

326 Hanne Darboven, „12 Monate, Europa-Arbeit“ Feder und Collage auf Pergament, 1998 Lobby- und Pressesaal der CDU/CSU- Fraktion, Fraktionsebene

327 Hanne Darboven (geboren 1941 in München, gestorben 2009 in ) philosophiert in ihrer Arbeit über das bildlich nur schwer zu Das Werk von Lutz Dammbeck (geboren 1948 veranschaulichende Phänomen der Zeit. Durch in Leipzig) kreist um diese Gefährdung der den meditativen und disziplinierten Akt des ­Autonomie des Individuums in der Moderne täglichen Schreibens hat sich die Künstlerin durch totalitäre Herrschaftsstrukturen und für sich selbst diese Zeiterfahrung angeeignet. durch subtilere manipulative Verfahren in Diese Erfahrung wird im Kunstwerk auch offenen Gesellschaften. Zur Aufdeckung sol- für den Betrachter­ als geradezu musikalisch cher Manipulationen führt er in Anlehnung notiertes Zeitraster anschaulich. Das Jahr 1997, an Heiner Müllers Text „Herakles 2 oder Die das Europä­ische Jahr gegen Rassismus und Hydra“ in einem großen Gesamtkunstwerk, Fremdenfeindlichkeit, ist zugleich das Jahr, in dem „Herakles-Konzept“, Film, Skulptur, Per- dem die Außenminister der 15 Mitgliedstaaten formance, Malerei, Collage, Dokumentarisches der Europäischen Union am 2. Oktober den und künstlerisch Verfremdetes zu einem ganz- Vertrag von Amsterdam unterzeichneten. heitlichen Kunst- und Lebensprojekt zusam- Hanne Darbovens Arbeit schlägt daher als Re- men. Die „Herakles-Notizen“ sind hieraus eine flexion über das Wesen der Zeit als philosophi- mehrere Hundert Arbeiten umfassende und schen und historischen Begriff gerade in diesen weiterhin anwachsende Bildserie, aus der der Räumen, in denen über den Tag hinausweisen- Deutsche Bun­destag 100 Blätter für eine Frakti- de politische Konzepte der Presse vorgestellt onslobby des Reichstagsgebäudes erworben hat. werden, eine Brücke von der Kunst zur Politik. Lutz Dammbeck ist, ähnlich wie Jürgen Böttcher, mit eigenen halb künstlerischen, halb dokumen- tarischen Filmprojekten hervorgetreten. In dem Lutz Dammbeck Dokumentarfilm „Zeit der Götter“ beispielswei- se beleuchtet er kritisch das Menschenbild des Im dritten Obergeschoss, der Ebene von Frakti- „Dritten Reiches“, wie es über die Kunst durch onen und Presse, hat Lutz Dammbeck mit sei- den Bildhauer Arno Breker propagiert wurde. nen „Herakles-Notizen“ eine vielteilige Arbeit Eine ähnliche Thematik greift der Bildzyklus aus Collagen und Überzeichnungen geschaffen, „Herakles-Notizen“ auf. Im Mittelpunkt dieser die sich kritisch mit dem Versuch auseinander- Arbeit aus collagierten Xerografien steht der setzt, Menschen durch Zwang nach anbefohle- immerwährende Konflikt zwischen der von nen vermeintlichen Idealbildern und Ideolo­ der Gesellschaft erzwungenen Konditionierung gien zu formen. und Disziplinierung des Individuums auf der

Lutz Dammbeck, „Herakles-­ Notizen“ Assemblage, Xerografie, Tusche, Bleistift, Erde auf Papier, 1987/90 Fraktionsebene

328 einen Seite und dessen notwendigem Mut zum Widerstand und zur Selbstbewahrung auf der Geboren 1878 in Stolp in Pommern, gehört anderen Seite. Dem zur Inhumanität führenden der Maler und Bildhauer Otto Freundlich zur Versuch von Nationalsozialismus und Kommu- ­„Pionier-Generation der Abstrakten“ und fand nismus, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, insbesondere im Bereich der Skulptur einen hält der Künstler beispielhaft den Selbstbe- ­eigenständigen Weg zur Abstraktion. Nicht nur hauptungswillen von Sophie Scholl von der aufgrund seines politischen Engagements geriet Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ entgegen. er in Gegensatz zu den Nationalsozialisten. In Ausweitung dieser Thematik lassen sich ­Seine Skulptur „Der neue Mensch“ aus dem Bezüge zur gegenwärtigen Diskussion über Jahr 1912 wurde 1937 als Titelbild des Ausstel- ethische Verantwortbarkeit von Eingriffen in lungshefts „Entartete Kunst“ anprangernd ge- das menschliche Erbgut ­finden. zeigt. Er selbst wurde 1943 im Konzentrations- lager Lublin/Majdanek in Polen ermordet. Sein tragisches Schicksal und die bis heute unzu­ Otto Freundlich reichende Würdigung seiner Persönlichkeit und seines künstlerischen Werkes dürfen als Die „Sculpture Architecturale“ aus den Jahren beispielhaft angesehen werden für die Leiden 1934/35 sollte bis zu einer Höhe von 20 bis von Juden und Avantgardekünstlern unter der 30 Meter ausgeführt werden. Obwohl es sich Herrschaft des Nationalsozialismus. um eine Skulptur aus abstrakten geometrischen Elementen handelt, bleibt die Verweisung auf Gegenständliches wie auf eine Säule, einen Christo Helm, einen Torso oder einen archaischen Thronstuhl erkennbar. Eine große, sich nach Im vierten Obergeschoss, im Dachgartenres­ oben hin verjüngende Säule hinterfängt eine taurant, wird ein Entwurf zum Projekt des kleinere, vielteilige Form, die aus teils runden, „Wrapped Reichstag“, des „Verhüllten Reichs- teils eckigen, kleinteiligen Elementen zusam- tags“ also, von Christo (geboren 1935 im bul­ mengesetzt ist. Die kompakte, geschlossene garischen Gabrovo) aus dem Jahr 1986 gezeigt. Form der Säule strahlt Ruhe aus und kon­ Im Vordergrund ist noch die Mauer zu sehen, trastiert auf diese Weise mit der sich auf den die Ost und West trennte. Die farblich zurück- Betrachter hin öffnenden Kleinskulptur und haltende Arbeit weckt die Erinnerung daran, ihren unruhigen Hell-Dunkel-Effekten. dass der Realisierung des „Verhüllten Reichs-

Otto Freundlich, „Sculpture ­Architecturale“ Bronze, 1934/35 Fraktionsebene

329 tags“ als eines prächtigen Volksfests im Som- mer 1995 ein über zwei Jahrzehnte dauerndes Im Jahr 2015 wurde auf der Präsidialebene als Werben von Christo und Jeanne-Claude für Leihgabe eine Dokumentation zur Reichstags- ihr künstlerisches Vorhaben bei den politisch verhüllung eingerichtet: Gezeigt werden Ge- Verantwortlichen vorausgegangen war. Erst sprächsnotizen und Briefe, in denen sich die eine Plenardebatte am 25. Februar 1994 mit verschiedenen, über Jahre geführten Verhand- anschließender Abstimmung erbrachte die lungen mit Ab­geord­neten und Behörden spie- Zustimmung des Parlaments für das Projekt geln. Auch Entwurfszeichnungen, an denen von Christo und Jeanne-Claude. sich die allmähliche Entwicklung der Idee zu Diese späte Entscheidung verlieh ihrem Projekt einem realisierbaren Projekt nachvollziehen einen anderen, aber nicht minder symbolträch- lässt, werden gezeigt. Ein besonders beeindru- tigen Sinngehalt. Denn wie die Skizze von ckendes Exponat ist das große Modell des Christo im Dachgartenrestaurant zeigt, sollte ­verhüllten Reichstagsgebäudes und seiner Um- der „Verhüllte Reichstag“ ursprünglich ein Sig- gebung. Schließlich sind auch großformatige nal an der Trennlinie zwischen Ost und West Fotos von Wolfgang Volz zu sehen, die jene setzen. Nach der Vereinigung Deutschlands ­geradezu magische, volksfestartige­ Stimmung und dem Beschluss des Ältestenrats, das Reichs­ rund um das Reichstags­gebäude in Erinnerung tagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erhe- rufen, die zwei Wochen lang vom 24. Juni bis ben, wurde das Reichstagsgebäude vor Beginn zum 7. Juli 1995 Deutschland und die Welt der Umbauarbeiten durch Norman Foster­ dank ­begeisterte. der Verhüllung zu einem anderen bildmächtigen Symbol: Indem das Gebäude vorübergehend seine komplexe Struktur verbarg und sich dem Jens Liebchen Betrachter blockhaft als geschlossene Form in überraschender Einheit vorstellte, bot sich die Zur künstlerischen Gestaltung des Reichstags- Chance des Innehaltens und des Nachdenkens gebäudes und der angrenzenden Parlaments- über die bewegte Geschichte des Reichstagsge- bauten wurden deutsche und internationale bäudes und der Deutschen. Zugleich brachte Künstler eingeladen, Entwürfe zu erarbeiten die Verhüllung die hoffnungsvolle Zukunftser- oder Wettbewerbsbeiträge einzureichen. Diesen wartung für die von Berlin ausgehende Politik Prozess begleitete Jens Liebchen (geboren 1970 und für die wagnisreiche Zeit der Ungewiss- in Bonn) von Beginn an mit seiner Kamera. Auf heit, die mit diesem Aufbruch verbunden war, diese Weise entstand parallel zu den architek- sinnfällig zum Ausdruck. turbezogenen Kunstprojekten auf einer zweiten

330 Christo, „Reichstag“ Zeichnung / Collage, zweiteilig, 1986 Dachgartenrestaurant

331 umgekehrt: Nie zuvor hatten sich so bedeuten- de Künstler einem Dialog mit der Politik ge- Ebene ein eigenständiges fotografisches Kunst- stellt. Bei der Planung und Realisierung der projekt: Ob Gerhard Richter, Sigmar Polke, ­Gebäude des Bundestages in Berlin wurde in­ ­Jenny Holzer, Georg Baselitz oder Grisha sofern ein neues Kapitel in der durchaus nicht Bruskin, Neo Rauch, Jörg Herold oder Franka unproblematischen Begegnung dieser beiden Hörnschemeyer – sie alle wurden von Jens Sphären, der Kunst und der Politik, geschrie- Liebchen bei der Konzeption oder der Installa- ben. Hierin liegt das besondere Verdienst der tion ihrer Kunstwerke in den Parlamentsbauten Fotografien von Jens Liebchen: Sie lassen die fotografiert. So sind einmalige Künstlerporträts kreativ aufgeladene Atmosphäre, den Span- entstanden, die die Individualität einer jeden nungsbogen zwischen den Künstlern und Künstlerpersönlichkeit sichtbar machen und dem sie umgebenden politischen Raum visuell zugleich das Spannungsverhältnis zwischen ­lebendig werden. So zeigen sich die einen vor- der politisch-repräsentativen Architektur und sichtig zurückhaltend, andere demonstrativ den Kunstwerken in einem politischen Umfeld nüchtern oder verhalten selbstbewusst, wieder- offenbaren. Die Porträts bilden, in ihrer Ge- um andere clownesk, die eigene Angespannt- samtheit betrachtet, einen faszinierenden Quer- heit überspielend. schnitt durch die aktuelle Kunstszene, von Jens Liebchens Fotografien gewähren nicht nur deren anerkannten internationalen „Stars“ bis einen Blick auf den geistig-ästhetischen Habi- zur jüngeren, im Aufbruch befindlichen Künst- tus von Künstlern und auf ihr Verhältnis zur lergeneration. Politik, sondern verweisen auch auf das Selbst- Das Kunstprojekt von Jens Liebchen gewinnt verständnis von Parlamentariern, die sich dem seine besondere Bedeutung dadurch, dass ein Dialog mit den Künstlern in den Räumen der außergewöhnlicher Moment in der Geschichte Politik gestellt haben und weiterhin stellen: Das des deutschen Parlamentarismus dokumentiert Kunst-am-Bau-Programm wird ebenso wie der und fotografisch interpretiert wird: Nie zuvor Ausbau der parlamentseigenen Kunstsamm- hatte sich das Parlament in vergleichbarer Weise lung kontinuierlich fortgesetzt. Die Fotografien für künstlerische Gestaltung in den eigenen von Jens Liebchen, von denen eine Reihe exem- Bauten engagiert, nie zuvor sich derart umfas- plarisch im Restaurant gezeigt werden, doku- send auf das Risiko einer Auseinandersetzung mentieren und deuten diese spannungsvolle mit den Kunstschaffenden eingelassen – und Wechselbeziehung von Kunst und Politik.

332 Jens Liebchen fotografierte die Künstler vor ihren Werken im Reichstagsgebäude, hier Günther Uecker

333 Index

A Altenbourg, Gerhard 311

B Baselitz, Georg 288 K Beuys, Joseph 312 Kiefer, Anselm 294 Boltanski, Christian 296 L Bruskin, Grisha 286 Liebchen, Jens 330 Lüpertz, Markus 314 C Christo 329 M Claus, Carlfriedrich 282 Mattheuer, Wolfgang 316

D N Dammbeck, Lutz 328 Neusüss, Floris 302 Darboven, Hanne 326 P F Pfahler, Georg Karl 324 Foster, Norman, 276 Freundlich, Otto 329 R Richter, Gerhard 278 G Rückriem, Ulrich 290 Geiger, Rupprecht 320 Glöckner, Hermann 310 S Graubner, Gotthard 321 Schumacher, Emil 325 Gursky, Andreas 318 Sieverding, Katharina 284 Stöhrer, Walter 300 H Strawalde 299 Haacke, Hans 308 Heisig, Bernhard 303 U Holzer, Jenny 306 Uecker, Günther 292

Künstlerregister

334 Rechtenachweis der Kunstwerke

S. 272 Hans Haacke, Innenhof Reichstagsgebäude, VG Bild-Kunst; S. 279 © Gerhard Richter, 2017; S. 281 © Gerhard Richter, 2018; S. 283 Carlfriedrich Claus, VG Bild- Kunst, Bonn 2017; S. 285 Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; S. 287 Grisha Bruskin, Clubraum­ im Reichstagsgebäude; S. 288, S. 289 © Georg Baselitz, 2017; S. 291 Ulrich Rückriem, Innenhof Reichstagsgebäude; S. 293 Günther Uecker, ­Andachtsraum im Reichstagsgebäude;­ S. 295 Anselm Kiefer, Empfangsraum Reichs­ tagsgebäude; S. 297 Christian Boltanski, Untergeschoss Reichstagsgebäude; S. 299 Strawalde; S. 301 ­Walter ­Stöhrer, VG Bild-Kunst, Bonn 2018; S. 303 Floris Neusüss, Cafeteria Reichs­tagsge­bäude; S. 305 Bernhard Heisig, Bibliothek Reichstagsgebäude; S. 307 Jenny Holzer, Nordeingang Reichstagsgebäude, VG Bild-Kunst, Bonn 2008; S. 309 Hans Haacke, ­Innenhof Reichstags­gebäude, VG Bild-Kunst; S. 310 Hermann ­Glöckner, ­Plenarsaalebene Reichstagsgebäude, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; S. 311 Stiftung ­Gerhard Altenbourg, Altenburg / VG Bild-Kunst, Bonn 2017; S. 313 Joseph Beuys, Plenarsaalebene Reichstagsgebäude, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; S. 315 Markus ­Lüpertz, Abgeordneten­restau­rant Reichstagsgebäude; S. 317 Wolfgang ­Mattheuer, VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Le Corbusier © F.L.C. / VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Pierre Jeanneret: © VG Bild-Kunst, Bonn 2018, Charlotte Perriand © VG Bild-Kunst, Bonn 2018; S. 319 Andreas Gursky, VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Courtesy Sprüth ­Magers, Berlin London; S. 321 Rupprecht Geiger, ­Protokollraum Reichstagsgebäude; S. 323 Gotthard Graubner, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; S. 324 Karl-Georg ­Pfahler, ­Sitzungssaal des Ältestenrats Reichstags­gebäude; S. 325 Emil Schumacher, VG Bild- Kunst, Bonn 2017; S. 327 ­Hanne ­Darboven, ­Frak­tions­ebene Reichstags­gebäude; S. 328 Lutz Dammbeck; S. 329 Otto Freundlich, gemeinfrei; S. 331 © Christo Fotonachweis

1. und 2. Umschlagseite Deutscher Bundestag /Axel Hartmann; S. 2 DBT / Linus Lintner; S. 8/9, S. 31, S. 39, S. 55, S. 63, S. 197 DBT / Werner Schüring; S. 11, S. 29, S. 61, S. 71 DBT / Achim Melde; S. 13 DBT / Julia Jesse; S. 15 Michael Gottschalk / ddp images; S. 17, S. 51 DBT / Thomas Imo / photothek.net; S. 19, S. 57, S. 59, S. 65, S. 67, S. 79, S. 81 DBT / Marc-Steffen Unger; S. 21 DBT / Anke Jacob; S. 23, S. 41 DBT / Simone M. Neumann; S. 25 DBT / Thomas Köhler / photothek.net; S. 27, S. 100, S. 103, S. 144 ­ullstein bild; S. 33, S. 269 DBT / Thomas Trutschel / photothek.net; S. 35 DBT / Siegfried Büker; S. 37 DBT / Claudia Konerding; S. 43, S. 45 DBT / Florian Gaertner / photothek.net; S. 47 DBT / Julia Nowak S. 49 DBT/ Lichtblick / Achim Melde; S. 53 DBT / Ute ­Grabowsky / photothek.net; S. 73 Bundesrat / Frank Bräuer; S. 75, S. 288, S. 305, S. 311 DBT / Sylvia Bohn; S. 77 DBT / Jan Pauls; S. 82/83, S. 91, S. 220 bpk / Dietmar Katz; S. 85 Stadtarchiv Karlsruhe 8 / PBS oXIVa1254; S. 87 Vorlage: Hauptstaatsarchiv ­Stuttgart, J301a Nr. 11, gemeinfrei; S. 89, S. 93, S. 96, S. 97, S. 99, S. 109, S. 111, S. 117, S. 119, S. 123, S. 125, S. 127, S. 129, S. 133, S. 135, S. 136, S. 137, S. 140, S. 143, S. 148, S. 149, S. 152, S. 155, S. 157, S. 161, S. 163, S. 209, S. 210, S. 211, S. 221, S. 223, S. 229, S. 237, S. 249, S. 251 (o.), S. 252, S. 253 (l.) bpk; S. 95 Süddeutsche Zeitung Photo / Sammlung Megele; S. 101 ­ullstein bild / AKG Pressebild; S. 105 akg-images; S. 107, S. 113 bpk / Kunst­bibliothek, SMB / Knud Petersen; S. 115, S. 215 bpk / Hermann Buresch; S. 116, S. 139, S. 145, S. 153, S. 204, S. 227, S. 230 (r.), S. 231 (r.) Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl; S. 118, S. 121 Bismarck­ -Album des ­Kladderadatsch, 1863, gemeinfrei; S. 131, S. 217 bpk / Julius Braatz; S. 141 Landesarchiv ­Berlin, F Rep. 290 Nr. 0322747/ Fotograf: k. 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Byers / Hein Gorny; S. 259 bpk / Friedrich ­Seidenstücker; S. 260, S. 261 bpk / Liselotte und Armin ­Orgel-Köhne; S. 263 © Christo and Jeanne-Claude, ­Wrapped Reichstag, Project for Berlin 1971–95 / Wolfgang Volz / laif; S. 265, S. 309 DBT / Arndt ­Oehmichen; S. 267 ullstein bild / Lehnartz; S. 270 ullstein­ bild / vario images; S. 271 DBT / Julia Kummerow; S. 272, S. 283, S. 287, S. 295, S. 299, S. 301, S. 303, S. 315, 3. Umschlagseite DBT / Stephan Klonk; S. 275, S. 323, S. 333 DBT / Jens Liebchen; S. 277 DBT / Andreas Kaernbach; S. 279, S. 281, S. 297, S. 310, S. 321, S. 324, S. 331 DBT / Jörg F. Müller; S. 285, S. 313, S. 325, S. 327 DBT / Werner ­Huthmacher; S. 289, S. 291 DBT / ­Friedrich Rosenstiel; S. 293 DBT / ­Katrin Neuhauser; S. 307 DBT / Johannes Backes; S. 317, S. 319, S. 328, S. 329 DBT / Junophoto / Julia Nowak

Impressum

Herausgeber: Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Berlin Koordination: Robert Schönbrodt Redaktion: Georgia Rauer, Berlin Gestaltung: Regelindis Westphal Grafik-Design / Berno Buff, Norbert Lauterbach, Berlin Bundestagsadler: Urheber Prof. Ludwig Gies, Bearbeitung 2008 büro uebele, Stuttgart Druck: Imprimerie Centrale, Luxemburg

Stand: November 2018 © Deutscher Bundestag, Berlin Alle Rechte vorbehalten.

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Das Reichstagsgebäude war seit Beginn der deutschen Teilung ein Symbol der Hoffnung auf Wiedervereinigung. Es war deshalb nur konsequent, dass der Ältestenrat des Deutschen Bundestages am 30. Oktober 1991 beschloss, das Reichstagsgebäude für den Plenarbereich des Bundes­ tages zu übernehmen. Die Presse kommentierte diese Entscheidung: „Das Reichstagsgebäude, was sonst.“