Jahrgang 43 | 2010

Herausgegeben von der Gießener Gießener Hochschulgesellschaft ISSN 0533-8689 Universitätsblätter Jahrgang 43 | 2010

Herausgegeben von der Gießener Hochschulgesellschaft

Gießener Universitätsblätter

Druck und Verlag: Brühlsche Universitätsdruckerei Gießen

001-004_Vorspann.indd 1 08.06.10 09:57 Wir danken allen Firmen, die unsere Förderbemühungen durch Anzeigenaufträge unterstützen. Unsere verehrten Leser bitten wir, die Anzeigen zu beachten.

Inserenten: Karstadt Warenhaus GmbH Lehmanns Fachbuchhandlung Möbelstadt Sommerlad ovag Energie A. Ringel & Sohn GmbH & Co. KG Sparkasse Gießen Stadtwerke Gießen AG

Abbildung auf der Umschlagseite: Theater mit Wolle. Bildmontage mit integrierten Kinderfotos, siehe Beitrag zu „imago2010“ (ab S. 113).

Herausgeber Gießener Hochschulgesellschaft

Schriftleitung Prof. Dr. Peter von Möllendorff Institut für Altertumswissenschaften Justus-Liebig-Universität Philosophikum I, Otto-Behaghel-Straße 10 G 35394 Gießen [email protected].de

Redaktion Dr. Angelika Müller-Scherf Postfach: Ludwigstraße 23 35392 Gießen Telefon 06409 804312 [email protected]

Druck und Verlag Brühlsche Universitätsdruckerei Gießen

ISSN 0533-8689

001-004_Vorspann.indd 2 08.06.10 09:57 Inhalt

I. Berichte aus Universität und Stadt Bericht des Präsidenten der JLU ………………………………………………………………………………… 5 Bericht der Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen …………………………………………………………… 9 Bericht des Präsidenten des Verwaltungsrats und des Vorstandsvorsitzenden der GHG …………………… 11

II. Wissenschaftliche Beiträge Horst Carl: Universalität in der Provinz. Eine kleine historische Nachlese zum Gießener Universitätsjubiläum 2007 ………………………………… 13 Peter Gruhne: Otto Eger: „Herzensguter Mensch“, „Mitläufer“ oder „Nazi“? – Zur Kontroverse um den Gießener Juristen …………………………………………………………………… 25 Joachim Jacob: Schöne Stellen. Über die Sehnsucht nach dem Gelungenen ………………………………… 37 Cora Dietl: Wenn alte Spiele auf die Bühne kommen. Aufführungspraxis als Begleiter der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung ………………………………… 51

III. Forscher, Fächer, Perspektiven Thomas M. Bohn: „Russische Geschichte“, „Russland als Vielvölkerreich“ oder „Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion“? Perspektiven im Zeichen transnationaler und imperialer Forschungsparadigmen …………………………… 61 Oliver Behnecke: Die Selbsterfindung einer Stadt: Stadtentwicklung durch Kultur – Wissen schafft Stadt … 71 Wolfgang Lührmann: Das Zentrum für Lehrerbildung (ZfL) der Justus-Liebig-Universität Gießen ………… 81

IV. Aktuelle Forschungsprojekte an der JLU Sonja Dinter, Winfried Speitkamp: „Gewaltgemeinschaften“: Wie funktioniert Gewalt in der Gemeinschaft? – Eine neue Forschergruppe stellt sich vor ………………… 91 Joachim Born, Thomas Gloning, Michael K. Legutke, Franz-Joseph Meißner, Dietmar Rösler: Sprachenlernen, Sprachpolitik, Sprache in den Medien und vieles mehr. Der Forschungsverbund „Educational Linguistics“ stellt sich vor ……………………………………………… 101 Gabriele Lieber, Antje Danner, Annabelle Felber: imago2010 – Bildkompetenz und Literalität im Grund- und Vorschulalter – ein EU-Projekt aus dem Bereich des Lebenslangen Lernens (LLP) ……………………… 113

V. Berichte aus geförderten Projekten Verena Billinger: Bericht über das Festival für junge Kunst aus Europa in Gießen: DISKURS 09 – festival for young performing arts ……………………………………………………………… 123 Volker Bützler, Liane Wörner: Projektbericht zum deutsch-türkischen Kolloquium vom 27. 5.–2. 6. 2009. Internationales Kolloquium zum deutsch-türkischen Strafrecht und Strafprozessrecht – Die Entwicklung von Rechtssystemen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung ……………………………… 127 Christian Grammel: „the phantom piper of corrieyairack“ – ein szenisches Konzert mit Dudelsack ……… 131 Roland Herrmann, Matthias Staudigel, Isabel Dörnberger: Der 2009 EAAE PhD Workshop: Ein wichtiger Baustein der Doktorandenausbildung ……………………… 135 Magnus Huber: Eighth Creolistics Workshop – Bericht zur GHG-geförderten Konferenz …………………… 141 Nicole Milbrett: Interne Klausurtagung des Forschungsnetzwerkes „Empirische Unterrichts- und Bildungsforschung (EUBi)“ in Rauischholzhausen – ein Tagungsbericht ……………………………………… 143 Dirk van Laak: 2. Internationale Tagung der Arbeitsgruppe „Solarenergie-Partnerschaft mit Afrika“ vom 8. bis 10. Juni 2009 in Gießen ……………………………………………………………………………… 145

VI. Personalia ……………………………………………………………………………………………………… 147

VII. Biographische Notizen ………………………………………………………………………………………… 151

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001-004_Vorspann.indd 3 08.06.10 09:57 EHRENTAFEL

Die Gießener Hochschulgesellschaft trauert um ihre verstorbenen Mitglieder

Prof. Dr. Karl-Hermann Neumann, Hungen Dr. Dieter Horst, Oppenheim Marie Becker, Biebertal

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001-004_Vorspann.indd 4 08.06.10 09:57 Bericht des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität für die Gießener Hochschulgesellschaft

Das Jahr 2009 war für die Justus-Liebig-Uni- Am 21. Februar dieses versität ein besonderes Jahr – teilweise durch- Jahres verstarb nach aus schwierig und herausfordernd, in jedem langer und schwerer Fall aber auch durch große Erfolge geprägt. Krankheit mein Amts- Heraus forderungen ergaben sich vor allem aus vorgänger, Prof. Dr. der Wahl eines neuen Präsidenten im Sommer Stefan Hormuth. Ich sowie der nachfolgenden Wahl von zwei neu- weiß, dass es alle Uni- en VizepräsidentInnen im Herbst. Die univer- versitätsangehörigen sitären Gremien – allen voran der Erweiterte zutiefst geschmerzt Senat – sind mit diesen Herausforderungen hat, dass er seit Ende konstruktiv und umsichtig umgegangen; die März 2009 nicht Universität hat auf eine vorbildliche Weise die mehr in vollem Um- Handlungsfähigkeit und die Kontinuität im Prä- fang seine Amtsgeschäfte führen und die letz- sidium sichergestellt. Ich persönlich freue mich ten Monate seiner Amtszeit nicht mehr, wie von sehr darüber, dass ich am 8. Juli 2009 nach ihm geplant, selbst gestalten konnte. Die Jus- einer intensiven und stets fairen inneruniver- tus-Liebig-Universität trauert um einen bedeu- sitären Diskussion bereits im ersten Wahlgang tenden Präsidenten, dessen Wirken nach innen mit einer breiten Mehrheit zum Nachfolger von wie nach außen von professionellem Weitblick, Prof. Dr. Stefan Hormuth als Präsident der Jus- visionärer Zielstrebigkeit und zugleich höchster tus-Liebig-Universität gewählt wurde. Ich bin Kollegialität bestimmt gewesen ist. sehr dankbar für den damit verbundenen Ver- In Fortführung entsprechender Pläne Stefan trauensvorschuss und sehe dies als eine Ver- Hormuths stand auch das Jahr 2009 im Zei- pflichtung, in den kommenden Jahren meinen chen besonderer Anstrengungen zur weiteren Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Univer- Verstärkung unserer Internationalisierungsbe- sität auf der Grundlage des bisher Erreichten mühungen. Es gelang der JLU, in einer der bei- und mit neuen Ideen erfolgreich weiterent- den großen Ausschreibungen des Deutschen wickeln kann. Es ist mir ein Anliegen, gemein- Akademischen Austauschdienstes (DAAD) im sam mit meinen KollegInnen im Präsidium, Zusammenhang mit der Außenwissenschafts- den beiden neuen Vizepräsidentinnen Prof. Dr. politikinitiative des Auswärtigen Amtes eines Katja Becker (Forschung und Nachwuchsförde- von vier DAAD-Exzellenzzentren in Forschung rung) und Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer ( Lehre und Lehre weltweit einzuwerben, und zwar und Studium) und dem Kanzler Dr. Michael das Exzellenzzentrum zu „Coastal Colombian Breitbach diese Weiterentwicklung der Justus- Resources and Environmental Changes“ in Zu- Liebig-Universität in Forschung und Lehre so sammenarbeit mit verschiedenen Partnerinsti- voran zutreiben, dass einerseits die gesamte tutionen in Kolumbien. Die JLU war im Oktober Universität an Meinungsbildungsprozessen be- 2009 Gastgeber für die dreitägige Herbstkon- teiligt wird und sich einbringen kann, dass an- ferenz der European University Association dererseits das Präsidium aber auch stets sei- (EUA), der europäischen Hochschulrektoren- ner Verantwortung für das Wohl der gesamten konferenz. Das Rahmenthema dieser Herbst- Universität gerecht wird und entsprechende konferenz war die Internationalisierung euro- Entscheidungen trifft. päischer Hochschulen über Europas Grenzen

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005-008_PraesMukherjee.indd 5 08.06.10 09:58 hinaus. Diese Konferenz hat einmal mehr die der Kulturwissenschaften und den Lebenswis- JLU als eine international gut sichtbare, her- senschaften insgesamt in der Drittmittelein- vorragend vernetzte und mit ihrer Interna- werbung erfolgreich gewesen ist, zeigt auch tionalisierungsstrategie erfolgreiche Universi- das aktuelle Förderranking der Deutschen For- tät präsentiert. Auch der Akademische Festakt schungsgemeinschaft (DFG) aus dem Jahre im November 2009 stand mit dem Festvortrag 2009: in den beiden entsprechenden Fächer- von Bundesaußenminister a. D. Dr. Frank-Wal- gruppen (Geistes-/Sozialwissenschaften sowie ter Steinmeier im Zeichen der Internationalisie- Lebenswissenschaften) belegt die JLU in der rung. Schließlich konnte sich die JLU als eine Gesamtsumme der eingeworbenen Drittmittel von insgesamt sechs Hochschulen erfolgreich jeweils einen bemerkenswert guten 14. Rang um die Teilnahme am Audit Internationalisie- unter allen Hochschulen in Deutschland. Die- rung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) se erfolgreiche Strategie zur Profilierung gilt bewerben. Dieses Audit wird der JLU in den es in den kommenden Jahren fortzuführen, kommenden Monaten einen umfassenden ex- auch mit weiteren Initiativen für neue Sonder- ternen Blick auf ihre Internationalisierungsbe- forschungsbereiche und anderen großen Ver- mühungen bieten und wichtige Impulse für die bundprojektanträgen sowie im Rahmen der Ex- Weiterentwicklung unserer Internationalisie- zellenzinitiative II des Bundes und der Länder. rungsstrategie in der Zukunft geben. Bereits seit Ende 2008 werden die Bachelor- Auch im Jahre 2009 konnte die JLU bemer- und Master-Studiengänge an der JLU im Lich- kenswerte Forschungserfolge erringen. In te der Erfahrungen, Anregungen und Vorschlä- der zweiten Staffel des Landesexzellenz- ge der Lehrenden und Studierenden in einer programms LOEWE gelang es der JLU, so- konzertierten Aktion weiterentwickelt, dabei wohl ein LOEWE- Zentrum in der Lungenfor- in vielerlei Hinsicht dereguliert und flexibilisiert; schung ( Universities of Giessen and zahlreiche Änderungen zur Entlastung der Stu- Lung Centre, UGMLC) als auch einen LOE- dierenden und Lehrenden konnten bereits zum WE-Schwerpunkt in der massenspektrome- 1. Oktober 2009 in Kraft treten. Viele der For- trischen In-situ-Analytik (AmbiProbe) einzu- derungen beim sogenannten „Bildungsstreik“ werben; mit diesen beiden LOEWE-Erfolgen im Herbst 2009, der auch über drei Wochen zu wurden ca. 20 Millionen Euro an Drittmit- studentischen Protestaktionen und Hausbeset- telförderung erzielt. Abgerundet wurde das zungen an der JLU geführt hatte, wurden von höchst erfreuliche Ergebnis der zweiten Seiten des Präsidiums als eine grundsätzliche LOEWE-Runde dadurch, dass das Land der Bestätigung seiner Bemühungen um eine kon- JLU aus nicht-wettbewerblichen LOEWE- Mitteln sequente Nachsteuerung bei der Ausgestal- eine strukturbildende Anschubfinanzierung für tung der Bologna-Studiengänge gesehen. Mit eine Fraunhofer-Projektgruppe bewilligt hat, studentischen Vertretern vereinbarte das Präsi- die in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer- dium im November 2009 einerseits die Rück- Institut für Molekularbiologie und Angewandte kehr zu einem ordnungsgemäßen Lehrbetrieb Ökologie (IME) in Aachen in den nächsten im laufenden Semester, andererseits aber auch Jahren die Grundlagen für die dauerhafte An- einen verbindlichen Prozess zur „Weiterent- siedlung eines Fraunhofer-Teilinstituts für Bio- wicklung der Modularisierung II“, der bis Mit- ressourcenforschung in Gießen erarbeiten soll. te 2010 zu weiteren Deregulierungsschritten in Es ist außerdem sehr erfreulich, dass auch in den modularisierten Studiengängen führen soll der dritten Staffel des LOEWE-Programms die und von einer „Monitoring-Gruppe“ betreut JLU für drei Antragsskizzen aus dem lebens- werden wird. Die verschiedenen Akteure an wissenschaftlichen Bereich zur Erstellung von der JLU haben gezeigt, dass sie auch in diesem Vollanträgen aufgefordert wurde, deren ab- Kontext – und anders als an manch anderen schließende Begutachtung im Frühjahr 2010 Hochschulen – konstruktiv, verantwortungsbe- erfolgen wird. Dass die JLU mit ihrer Strate- wusst und an einem gemeinsamen Ziel orien- gie der Profilierung in den beiden Bereichen tiert zu handeln bereit sind.

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005-008_PraesMukherjee.indd 6 08.06.10 09:58 Zwei für die Forschung und Lehre an der JLU nannt: Herrn Prof. Dr. Hanno Würbel wurde der in den vergangenen Jahren zentrale Entwick- Felix-Wankel-Tierschutz-Forschungspreis 2009 lungen waren im Jahre 2009 Gegenstand von ver liehen; Herr Prof. Dr. Till Rümenapf erhielt Begutachtungen durch den Wissenschaftsrat einen von drei erstmals ausgeschriebenen For- (WR): einerseits die Entwicklung der Forschung schungspreisen für seine Arbeit zum „Porzinen und Lehre nach der Privatisierung (und Fusio- Reproduktions- und Respirationssyndrom-Virus“; nierung) des Universitätsklinikums Gießen und der Forschungsförderpreis der Europäischen Marburg (UKGM), andererseits der Aufbau des Gesellschaft für Kinderaugenheilkunde (EPOS) Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo) an ging an Herrn Dr. Dr. Knut Stiege. Für seine der JLU. Die Ergebnisse beider Evaluationen wegweisenden Arbeiten auf dem Gebiet der werden erst im Verlauf des Jahres 2010 vor- Diabetologie wurde Herrn Prof. Dr. Reinhard liegen, doch kann die JLU aufgrund der Bege- G. Bretzel die Langerhans-Medaille der Deut- hungen und Gespräche vor Ort damit rechnen, schen Diabetes-Gesellschaft verliehen. Darüber dass sich für beide Bereiche gute inhaltliche hinaus wurde er in die Europäische Akademie Bewertungen der Gießener Leistungen in For- der Wissenschaften und Künste aufgenom- schung und Lehre ergeben werden. Die Emp- men. Auch der Theaterwissenschaftler Prof. fehlungen des WR für die Medizin werden Dr. Heiner Goebbels erhielt in 2009 zum wie- wichtige Hinweise für die in Zukunft konse- derholten Male vielfältige Anerkennungen für quent auszubauende strukturierte Kooperation seine überragenden Leistungen. So wurde er zwischen den verschiedenen Akteuren in der als „Honorary Fellow“ in die Central School of mittelhessischen Medizin, vor allem zwischen Speech and Drama ebenso aufgenommen wie den beiden Universitäten und Fachbereichen in in die neu eingerichtete Klasse der Künste der Marburg und Gießen sowie dem UKGM, bie- Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wis- ten. Die Bewertung der Aufbauphase des GiZo senschaften und der Künste, sowie als korres- wird eine wichtige Grundlage für die Sicherung pondierendes Mitglied in die Akademie der einer dauerhaften Finanzierung dieses für das Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Mit Profil der JLU wichtigen geistes- und kulturwis- der Aufnahme in die Leopoldina wurden Frau senschaftlichen Zentrums darstellen. Prof. Dr. Katja Beckers Leistungen im Bereich Auch im Jahre 2009 standen einige wichtige der Biochemie gewürdigt. Herr Prof. Dr. Eck- Ereignisse im Zeichen von universitären Jubilä- hard Voland wurde in die Akademie gemein- en. Hierzu gehörte das 400-jährige Jubiläum nütziger Wissenschaften zu Erfurt aufgenom- des Botanischen Gartens, des ältesten Bota- men, was die besondere Anerkennung für die nischen Gartens in Deutschland, der sich noch Gießener Philosophie einmal mehr belegt. an seinem ursprünglichen Ort befindet. Auch Abschließend sei auf die verschiedenen Bau- konnte im Jahre 2009 das 200-jährige Beste- und Sanierungsprojekte verwiesen, die im Rah- hen der Klassischen Archäologie an der JLU ge- men des HEUREKA-Programms des Landes feiert werden; damit gehört die JLU zu einer Hessen verfolgt werden und die im Rahmen der Wiegen der archäologischen Forschung an des Konjunkturprogramms des Bundes ange- deutschen Universitäten. Beide Jubiläen wur- laufen sind. Im Biomedizinischen Forschungs- den mit zahlreichen Festakten, Ausstellungen zentrum Seltersberg konnte vor einigen Mona- und Projektaktivitäten in die Erinnerung der ten Richtfest gefeiert werden, der Neubau der Universitätsmitglieder, aber auch der Bürger- Chemie sowie die Kleintier- und Vogelklinik be- schaft der Universitätsstadt Gießen gerufen. finden sich in der Bauplanung auf sehr gutem Herausragende Leistungen konnten Wissen- Wege, die Zentralverwaltung und einige wich- schaftlerinnen und Wissenschaftler der JLU tige Servicestellen (wie zum Beispiel die zentra- auch im Jahre 2009 wiederum anhand zahl- le Studienberatung) konnten in das ehemalige reicher Preise, Ehrungen und Auszeichnungen und sanierte Finanzamt, das nun „Erwin-Stein- dokumentieren. Nur beispielhaft für viele Gebäude“ heißt, einziehen – all dies sind Bei- Anerkennungen seien hier einige wenige ge- spiele für die weithin sichtbare baulich-räum-

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005-008_PraesMukherjee.indd 7 08.06.10 09:58 liche Erneuerung der JLU, die mit weiteren dern ausgesprochen dankbar für die Unterstüt- Projekten in den nächsten Jahren fortgesetzt zung von zahlreichen größeren und kleineren werden muss. Projekten im vergangenen Jahr. Ich hoffe und Das Jahr 2009 hat in vielen Bereichen neue vertraue darauf, dass diese wichtige Unterstüt- Entwicklungen angestoßen, erfolgversprechen- zung für die JLU und ihre Belange auch in Zu- de Perspektiven für die JLU eröffnet und insge- kunft bestehen bleibt. samt unsere Universität nach vorn gebracht. Ich bin in diesem Zusammenhang auch der Gieße- Prof. Dr. Joybrato Mukherjee ner Hochschulgesellschaft und all ihren Mitglie- Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen

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005-008_PraesMukherjee.indd 8 08.06.10 09:58 Bericht der Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen

In Zeiten von Krisen rückt man näher zueinan- teme zeigen die Gren- der, um der Bedrohung von außen gemeinsam zen der Belastbarkeit besser trotzen zu können. Oder man trennt auf und müssen letzt- sich, weil es unterschiedliche Strategien gibt, endlich von den Kom- dem Druck von außen auszuweichen: Jeder der munen als Sicherer einstigen Partner sucht dann eigene Wege, der Grundversorgung Schaden von sich selbst abzuwenden, ja sich und Daseinsvorsorge möglichst schadlos zu halten. geschultert werden. In Zeiten von Krisen entscheidet es sich daher, Wir als Kommunen wie stark die Bande, wie stark die gemein- können uns dem samen Interessen, wie stark die Verbindungen Druck, der durch eine sind, die eine Schicksalsgemeinschaft zusam- verfehlte Finanzpoli- menschweißen. tik erzeugt wurde und erzeugt wird, nicht ent- Die Partnerschaft, von der ich hier reden möch- ziehen. Alle Probleme des täglichen Lebens lan- te, ist die zwischen der Hochschulgemeinde Gie- den hier in den Städten und Gemeinden. ßen und ihrem Standort, der Universitätsstadt Den Hochschulen geht es letztlich nicht anders. Gießen. Es ist nicht eine Verbindung zwischen Auch ihre Überlebens- und Zukunftsfähigkeit einem Wirt und seinem Gast. Es ist vielmehr die hängt unmittelbar an der finanziellen Ausstat- Verbindung eines lebendigen Organismus zu tung und damit an den Transferleistungen, die seinen lebenserhaltenden Organen. die Länder bereit sind, in die Bildung, in die Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die öffent- Hochschulen weiterzugeben. Mit einem groß- lichen Kassen allesamt in Mitleidenschaft gezo- en Unterschied: Während wir als Kommunen gen. Die Kommunen sind dabei das letzte Glied keinem Konkurrenzdruck unterliegen, wäh- einer Kette im öffentlichen Finanztransfer. Jeder rend wir unsere Existenzberechtigung nicht Euro, der an Steuereinnahmen – unabhängig durch Angebot und Nachfrage legitimieren von der Art der Steuer – fehlt, fehlt den Städten müssen, stehen die Hochschulen in einem har- und Gemeinden in diesem Land zur Bewälti- ten Verteilungskampf. Der Druck von außen, gung der Aufgaben, die sie erfüllen müssen. Die die Ursache der Anspannung ist gleich – die Universitätsstadt Gießen hat an Ausfällen, die Auswirkungen sind verschieden. alleine auf die Folgen der Finanzkrise zurück- Stadt und Universität stehen in einem Wechsel- zuführen sind, in diesem Jahr 2010 rund 14 Mil- verhältnis. Der lebendige Organismus Stadt lionen Euro zu verzeichnen. Das sind 10 Prozent Gießen braucht das funktionierende Organ des gesamten Finanzaufkommens. Gleichzeitig „Universität“. Die Hochschulen sind unver- haben wir als Städte und Gemeinden höhere zichtbar für diese Stadt. Ausgaben zu verkraften – eine unmittelbare Fol- Ob es um die Unterstützung und Zusammen- ge der Wirtschaftskrise. Nicht nur das Ausbluten arbeit bei der baulichen Erneuerung der Hoch- der privaten Haushalte durch höhere Abgaben schulen durch die Umsetzung des millionen- und damit Lebenshaltungskosten, sondern auch schweren HEUREKA-Programms in Gießen die Folgen von sozialen und existentiellen Ab- geht oder um die städtebauliche Einbindung stiegen und die damit verbundenen steigenden der Hochschul-Bauten, ob es um den Wissens- Kosten der öffentlich-sozialen Sicherungssys- transfer von den Hochschulen in die Wirtschaft

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009-010_OBGrabeBolz.indd 9 08.06.10 10:17 durch Kompetenzzentren, um die wirtschaft- Die Bemühungen der Universitätsstadt Gießen, liche Freisetzung von innovativen Ideen durch die Zeiten der Krise gemeinsam und nah bei- Existenzgründungen oder um die Vermittlung einander zu durchschreiten, sind vorhanden. von Wissen und Vernetzung aus den Hoch- Stadt und Universität sind eine starke Schick- schulen in die Breite der Stadtgesellschaft durch salsgemeinschaft. Das haben wir bislang be- Projekte wie die „Stadt der jungen Forscher“ wiesen, das werden wir auch in Zukunft ge- oder das Mathematikum geht, ob kulturelle meinsam beweisen. Ich freue mich auf jede Bereicherungen wie die Gründung des litera- Mithilfe. rischen Zentrums als Verlängerung einer lan- gen Synergie zwischen akademischer und bür- Dietlind Grabe-Bolz gerlicher Welt in Gießen zu unterstützen sind: Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen

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009-010_OBGrabeBolz.indd 10 08.06.10 10:17 Bericht über die Arbeit der Gießener Hochschulgesellschaft

Der gemeinsame Be- Archäologie. Nach richt des Präsidenten den Amtswechseln an des Verwaltungsrates der Spitze der Univer- und des Vorsitzenden sität und der Stadt des Vorstands in den Gießen sind nun die Gießener Universitäts- Oberbürgermeisterin blättern resümiert die Dietlind Grabe-Bolz Entwicklung des zu- und der Universitäts- rückliegenden Jahres. präsident Prof. Dr. Zusammen mit den Joybrato Mukherjee auf der jährlichen Mit- ständige Mitglieder gliederversammlung des Verwaltungsrates. vorgetragenen Berichten, die Sie auch auf der Vorstand und Verwaltungsrat danken deren GHG-Homepage finden, wollen wir Sie hiermit Amtsvorgängern Heinz-Peter Haumann und über die Arbeit der Gießener Hochschulgesell- Prof. Dr. Stefan Hormuth herzlich für ihr Engage- schaft informieren. ment in der Gießener Hochschulgesellschaft und die hervorragende Zusammenarbeit. Vorstand und Verwaltungsrat möchten sich in Vorstand und Verwaltungsrat diesem Jahr auch nachdrücklich bei Frau Prof. Auf der Mitgliederversammlung 2009 wurde Dr. Irmtraut Sahmland bedanken, die zehn der Gießener Steuerberater Stefan Kamper- Jahre lang die Gießener Universitätsblätter in mann zum neuen Schatzmeister der Gießener Zusammenarbeit mit wechselnden Schriftfüh- Hochschulgesellschaft gewählt. In dieser Funk- rern der Hochschulgesellschaft als Redakteurin tion gehört er dem Vorstand an. Seinem Vor- betreut hat. An ihrer Stelle konnte Frau Dr. gänger im Amt, Manfred Kenntemich, gebührt Angelika Müller-Scherf gewonnen werden, die großer Dank und Anerkennung für die langjäh- in Zukunft für die redaktionelle Betreuung der rige Arbeit im Dienste der Hochschulgesell- Blätter zuständig sein wird. schaft. Durch die Wahl zum neuen Präsidenten der Justus-Liebig-Universität scheidet Prof. Dr. Leistungen der Hochschulgesellschaft Joybrato Mukherjee aus dem Vorstand aus. Sei- ne Nachfolgerin ist die neue Erste Vizepräsi- Die Gießener Hochschulgesellschaft setzt ihre dentin der JLU, Frau Prof. Dr. Eva Burwitz-Mel- Mittel ein, um die Wissenschaften zu fördern, zer. Der aktuelle Vorstand besteht somit aus wissenschaftliche Bildung zu verbreiten und die Prof. Dr. Wolfgang Scherf (Vorsitzender), Ste- Beziehungen zwischen Wissenschaft und Pra- fan Kampermann (Schatzmeister), Prof. Dr. Pe- xis zu pflegen. Im Jahr 2009 konnten wir trotz ter v. Möllendorff (Schriftführer), Prof. Dr. Eva gewisser Einschränkungen infolge der Finanz- Burwitz-Melzer (1. Vizepräsidentin der JLU), Dr. krise unsere Förderpolitik beständig fortsetzen. Michael Breitbach (Kanzler der JLU) und Dr. Insgesamt hat der Vorstand über 45 Anträge Klaus Ringel (Vertreter der Wirtschaft). entschieden und 28 davon mit insgesamt Neues Mitglied des Verwaltungsrates ist Frau 29.000 Euro gefördert. Eine Vielzahl von Pro- Prof. Dr. Anja Klöckner, Professorin für Klassische jekten konnte so mit Unterstützung der Hoch-

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011-012_Maaß_Scherf.indd 11 08.06.10 10:16 schulgesellschaft realisiert werden. Die Antrag- gehörigen der Universität sich in der Stadt und steller geben immer wieder zu erkennen, dass in der Region für ihre Alma Mater engagieren, sie die kleineren und größeren Hilfen sehr zu und wenn die Bürger der Stadt und des Land- schätzen wissen. Gerade ungewöhnliche Pro- kreises die Universität als einen zentralen Stand- jekte, für die aus anderen Quellen oftmals nur ortfaktor begreifen und unterstützen. schwer Fördermittel zu akquirieren sind, profi- Die Gründe für eine Mitarbeit in der Hochschul- tieren von der Arbeit der Gießener Hochschul- gesellschaft sind ebenso vielfältig wie über- gesellschaft. zeugend. Erfolgreiche Unternehmer haben nicht Die Leistungen der Hochschulgesellschaft ba- nur ihr Unternehmen im Blick, sondern über- sieren auf den Beiträgen der Mitglieder sowie nehmen auch gesellschaftliche Verantwortung. auf den Erträgen des Vermögens von Verein Die Gießener Hochschulgesellschaft ist der rich- und Stiftung. Die Stärkung der finanziellen Ba- tige Ort dafür. Viele Bürger aus Mittelhessen ha- sis ist ein ständiges Anliegen, das nur durch die ben selbst in Gießen studiert und erinnern sich Gewinnung neuer Mitglieder und die Einwer- gerne an diese Zeit. Durch den Beitritt zur Hoch- bung von Spenden und Zustiftungen erfüllt schulgesellschaft können Sie ein wenig von dem werden kann. Hier sehen wir weiterhin erheb- zurückgeben, was Sie bekommen haben, und lichen Handlungsbedarf. Ohne eine bessere In- Sie können dazu beitragen, dass Gießen ein tegration der Justus-Liebig-Universität, der hochkarätiger Bildungsstandort in Deutschland Stadt Gießen und der regionalen Wirtschaft bleibt. Vielleicht wollen Sie auch deshalb in der wird ein merkliches Wachstum des Förderpo- Hochschulgesellschaft aktiv sein, weil es Ihnen tentials nicht gelingen. Freude macht, sich für die jungen Menschen in der Justus-Liebig-Universität zu engagieren. Hochschule in der Gesellschaft Die Justus-Liebig-Universität hat Erfolg in For- schung und Lehre. Dies belegen nicht nur ihre Die Gießener Hochschulgesellschaft fördert Resultate in der Exzellenzinitiative, sondern den Gedankenaustausch zwischen der Univer- auch der friedliche und problemorientierte Dia- sität und den Bürgerinnen und Bürgern der log über die Bologna-Reform zwischen der Uni- Stadt ebenso wie den Dialog zwischen Univer- versität und ihren Studierenden. Von einer sität und Wirtschaft. Für die Universität ist es starken und leistungsfähigen Universität profi- wichtig, in der Stadt und der Region verankert tieren die Region Mittelhessen, ihre Bürger und zu sein. Die Justus-Liebig-Universität trägt aber ihre Unternehmen in hohem Maße. Ziel der auch wesentlich dazu bei, dass die Stadt Gie- Gießener Hochschulgesellschaft bleibt es, die ßen überregional wahrgenommen wird. In Gie- Position der Universität im Wettbewerb mit an- ßen selbst wird die Bedeutung der Universität deren Hochschulen zu sichern und zu stärken. als Standortfaktor immer noch unterschätzt. Wir danken allen, die unsere Arbeit finanziell Die Hochschulgesellschaft möchte ein Binde- durch Mitgliedsbeiträge und Spenden unter- glied zwischen Stadt und Universität sein und stützen. Wir hoffen, möglichst viele neue dazu beitragen, die wechselseitige Wertschät- Freunde und Förderer zu gewinnen, die zur Zu- zung zu festigen und zu vertiefen. Sie kann kunftssicherung von Forschung und Lehre an dieses Ziel freilich nur erreichen, wenn die An- der Justus-Liebig-Universität beitragen.

Wir würden uns freuen, wenn wir Sie auf unserer diesjährigen Mitgliederversammlung am 9. Juli 2010 willkommen heißen dürften.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Wolfgang Maaß Prof. Dr. Wolfgang Scherf Präsident des Verwaltungsrats Vorsitzender des Vorstands

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011-012_Maaß_Scherf.indd 12 08.06.10 10:16 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Horst Carl

Universalität in der Provinz* Eine kleine historische Nachlese zum Gießener Universitätsjubiläum 2007

1. Universitätsjubiläen als Essenz liche Abstand. Ist dieser jedoch gegeben, dann akademischer Erinnerungskultur sind Universitätsjubiläen grundsätzlich ein dank- bares Objekt für Historiker, denn in ihnen kon- Wenn man als Historiker eine „historische densiert sich gleichsam eine epochenspezifische Nachlese“ zu irgendeinem Ereignis ankündigt, akademische Erinnerungskultur. Am Beispiel der geht es in der Regel um historische Analyse und voraufgegangenen säkularen bzw. semisäku- Einordnung in größere Kontexte. Bei einem Ju- laren Gießener Universitätsjubiläen hat der Gie- biläum ist dies insofern doppeldeutig, als Histo- ßener Historiker Carsten Lind dies vorexerziert, riker bei solchen Ereignissen selbst Akteure indem er zum jüngsten Universitätsjubiläum sind, denn hier schlägt gewissermaßen ihre ausgesprochen pfiffige und lesenswerte - Rück Stunde: Historiker sollen erklären, was es denn blicke auf die Geschichte früherer Jubiläen der mit der Geschichte des Jubilars auf sich hat, Alma Mater beigesteuert hat.1 So erfährt man und insofern produzieren sie gerade bei sol- bei ihm, dass bei der ersten Säkularfeier 1707 chen Anlässen Geschichte in Form von Publika- die Professoren weder Kosten noch Mühen tionen. Das dafür lange Zeit bevorzugte Format scheuten, um das bereits etwas heruntergekom- sind „Festschriften“ gewesen, doch offenbar men Kollegiengebäude am Brandplatz renovie- wird dieses Format auch im akademischen ren zu lassen. Wie Lind ironisch kommentiert, Kontext zunehmend historisch. Dem Geburts- scheint der Ruf nach Handwerkern ein natür- tagskind „Justus-Liebig-Universität“ sind zwar licher Reflex aus Anlass von Jubiläen „bis auf 2007 manche Geschenke anlässlich des Jubi- den heutigen Tag“ zu sein. „Wenn die Akade- läums zum vierhundertsten Geburtstag ge- mie sich feiert, haben Maurer und Maler zu tun“ macht worden, doch hat es im Unterschied zu – 1907 im übrigen für den Neubau der früheren Jubiläen wie 1907 oder 1957 keine Universitätsaula, die 2007 wieder auf Vorder- offizielle akademische Festschrift für die Uni- mann gebracht wurde. versität gegeben. Stattdessen sind eine ganze Die Schilderung der Feierlichkeiten 1707 lässt Reihe von Publikationen aus Anlass des Jubi- allerdings die kulturelle Distanz zur aktuellen läums erschienen, die sich der Geschichte der Gedenkpraxis deutlich werden, wenn etwa am Justus-Liebig-Universität insgesamt oder aber 20. Oktober 1707 unter dem Vorsitz des Pro- der einzelner Fakultäten widmen. Wenn also fessors May Studenten ihre Gelehrsamkeit vor- für das Folgende von „historischer Nachlese“ führten, die Rede ist, dann ist damit nicht mehr und „indem sie Reden in lateinischer, grie- nicht weniger gemeint, als diesen historischen chischer, hebräischer, chaldäischer, syrischer, Ertrag des Universitätsjubiläums Revue passie- arabischer und äthiopischer Sprache hielten. ren zu lassen und einige Schlaglichter auf aktu- In der Nacht beendete dann ein dem Erb- elle Perspektiven der Gießener Universitäts- prinzen dargebrachtes Ständchen der Stu- geschichte zu werfen. denten das Festprogramm. Am nächsten Für eine historische Einordnung oder Bewer- Morgen ritt der Erbprinz durch das Spalier tung des letzten Universitätsjubiläums ist es der Bürger und Soldaten zum Selterstor hi- ohne hin noch zu früh, denn es fehlt der zeit- naus. Dreimal feuerten fünfzehn Kanonen dem Rector Magnificentissimus Salut. Den * Vortrag vor der Gießener Hochschulgesellschaft am 9. Juli 2009 Lärm barocker Prachtentfaltung noch in den

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013-023_Carl.indd 13 08.06.10 10:20 Ohren gab er dem Pferd eine schnellere Lehrkörpers gezeugt worden. Die Tochter des Gangart vor und kam Richtung Klein-Linden Rektors Behaghel bestach bei dieser Gelegen- außer Sicht.“ 2 heit durch „seltene Anmut“ im Serpentinen- tanz. …“3 Nicht weniger aufschlussreich als das barocke Ironie ist im allgemeinen keine Sprachebene, Festgepränge, das die Universitätsangehörigen der sich Historiker in ihren wissenschaftlichen 1707 entfalteten, ist die bürgerliche Selbstdar- Veröffentlichungen bedienen, und das Lesever- stellung bei den Jubiläumsfeierlichkeiten von gnügen, das gerade die oben zitierten Passa- 1907 gewesen, die im übrigen allen Beteiligten gen bereiten, resultiert denn auch daher, dass ein hohes Maß an Durchhaltevermögen abver- für die historische Darstellung der Universitäts- langten. Nachdem am 1. August ein Festgot- geschichte zum Teil Formate gewählt worden tesdienst in der Johanneskirche, bei dem der sind, die solcher Art der Formulierungskunst Prediger die Liebe zu Wissenschaft und Wahr- entsprechende Freiräume verschaffen. Carsten heit beschwor, frühmorgens das offizielle Pro- Linds Beitrag entstammt dem essayistisch an- gramm eröffnet hatte, begab sich die Festge- gelegten Bildband „Panorama 400 Jahre Uni- meinde ins Hauptgebäude, wo sich die akade- versität Gießen“, der bewusst auf ein breiteres mische Feier mit zahlreichen Festrednern an- Publikum zielt, als dies etwa durch akade- schloss, angefangen mit dem Großherzog, mische Festschriften hätte erreicht werden gefolgt vom Rektor, dem zuständigen Minister, können. Rektoren befreundeter Universitäten und wei- Auch auf das Jubiläum von 1957 geht Carsten teren Honoratioren. Erst nach vier Stunden Lind ein, doch hier kommt noch eine Dimensi- konnte sich die Festversammlung zum Fest- on hinzu, die über eine ironisch gebrochene schmaus begeben. Damit war der Freudentag Distanzierung von überkommenen akade- allerdings noch nicht abschließend begangen, mischen Festtagsritualen hinausgeht. 1957 denn es folgte am Abend im kurz zuvor eröff- wurde beim und mit dem Universitätsjubiläum neten Gießener Stadttheater noch eine weitere zugleich Universitätsgeschichte gemacht, er- würdevolle Feierlichkeit. Auch hier möchte ich hielt die Gießener Hochschule nach dem Carsten Lind selbst das Wort erteilen, weil seine erzwungenen zwölfjährigen Intermezzo doch ironisch gefärbte Darstellung durch eine Para- wieder den Titel einer Universität verliehen – phrase nur verlieren würde: und zugleich ihren berühmtesten Vertreter Jus- tus Liebig als neuen Namenspatron. Dass man „Nach der akademischen Festouvertüre von in Gießen gewillt war, sich nicht nur mit dem Johannes Brahms folgten einige Programm- Titel einer Universität zufrieden zu geben, son- teile, die den Kunstgeschmack und das aka- dern auch den Status einer klassischen Volluni- demisch-bürgerliche Selbstverständnis der versität mit vier Fakultäten wieder zu erlangen, Zeit um die Jahrhundertwende wie in einem machte ein kleiner Eklat bei der Festveranstal- Brennglas sammelten. Professorentöchter … tung deutlich. In seiner Festrede nämlich deu- warfen sich in die züchtig geschürzte Brust, tete Rektor Hungerland in Anwesenheit des um den hochgestimmten Zuschauern noch Kultusministers an, dass die Universität Gießen höhergestimmte Reime vorzutragen: … schon für die nähere Zukunft die Erweiterung des Fächerspektrums im Sinne einer Volluniver- Durch alle Zeiten sollst du glückhaft blühen, sität plane. Abgesprochen war dies nicht, und Der freien Lehre schützendes Asyl, den Plänen des Kultusministeriums entsprach Du alma mater, und vom Quell, dem klaren, dies auch nicht, weshalb der erzürnte Kultus- Gib dem, der strebt zum Guten, Schönen, minister den Rektor im Anschluss an die Feier [ Wahren.“ zum Rapport einbestellte. An der Tatsache, dass die Justus-Liebig-Universität vor dem Hin- Ebenso wie die vortragende Tochter waren tergrund des bundesweiten Übergangs zur auch diese Reime von einem Angehörigen des Massenuniversität in den 1960er Jahren für

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013-023_Carl.indd 14 08.06.10 10:20 diesen Kurs bald auch aus dem Kultusministeri- Horst Carl am 8. und 9. Juni 2007 geleitete Ta- um Rückenwind erhielt, änderte diese Episode gung unter dem Titel „Universalität in der Pro- nichts. Sie illustriert vielmehr das stets span- vinz“ einen zeitlichen Bogen von der Universi- nungsreiche Verhältnis von Wissenschaftspoli- tätsgründung zu Beginn des 17. Jahrhunderts tik, die schließlich für die Finanzierung der Uni- bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, mithin von versität aufzukommen hatte, und dem Streben der vormodernen Gelehrteninstitution bis zur der Institution nach Autonomie und Freiräu- modernen Lehr- und Forschungseinrichtung, men. schlug. Der Ertrag beider Tagungen ist in ent- sprechenden Tagungsbänden dokumentiert. 2. Veröffentlichungen Neben diesen übergreifenden Darstellungen zur Universitätsgeschichte aus Anlass zur Gesamtuniversität hat es darüber hinaus des Jubiläums 2007 eine Fülle von „segmentären“ – also Teilbe- reichen der Universität gewidmeten Publikati- Diese Episode wird erwähnt im Band „Krieg, onen gegeben. Besonders aktiv war hier das Krise, Konsolidierung“, erschienen als wissen- Institut für Medizingeschichte unter seinem Di- schaftlicher Beiband zur Ausstellung, die sich rektor Volker Roelcke, das aus Anlass des der „zweiten Gründung“ der Universität Gie- Jubiläums nicht weniger als fünf größere Publi- ßen nach deren vorläufigem Ende 1945 gewid- kationen auf den Weg gebracht hat. Der met hat. Ausstellung und wissenschaftlicher Ausstellungsband „Professoren – Patienten – Beiband sind ebenso von der Universitätsarchi- Studenten“ bot dabei ähnlich dem allgemein- varin Dr. Eva-Marie Felschow und ihrem Team geschichtlichen Bildband ein Panorama der verantwortet worden wie eine zweite, eben- Geschichte der medizinischen Fakultät von den falls in einem wissenschaftlichen Beiband do- Anfängen bis zur Gegenwart, während drei kumentierte Ausstellung zu den Anfängen der umfangreiche Bände unsere Kenntnis der Ge- Universität Gießen 1607: „Ein hochnutz, nötig schichte der Gießener Universitätsmedizin auf und christliches Werk“. Die beiden Ausstel- eine neue Grundlage gestellt haben. Auch hier lungen inklusive der wissenschaftlichen Bei- widmete sich ein erster Band, herausgegeben bände sind ebenfalls Beispiele dafür, dass im von Ulrike Enke, der älteren Geschichte von Rahmen des Universitätsjubiläums Formate, 1607 bis ins frühe 20. Jahrhundert, während mit denen die Universitätsgeschichte auch Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke neues einem größeren Publikum vermittelt werden Licht auf die jüngere Geschichte werfen. Sigrid kann, erfolgreich genutzt worden sind. Oehler-Klein thematisiert detailliert die Ge- Daneben aber hat es zur Gießener Universitäts- schichte der Medizinischen Fakultät im Natio- geschichte anlässlich des Jubiläums auch Publi- nalsozialismus und in der unmittelbaren Nach- kationsformate gegeben, die den Gepflogen- kriegszeit und nimmt sich dabei gerade auch heiten wissenschaftlichen Austauschs in der des heiklen Themas der personellen und insti- academic bzw. scientific community verpflich- tutionellen Kontinuitäten an, während der in- tet sind. Zwei sich ergänzende Tagungen des haltlich damit korrespondierende Band, den sie Historischen Instituts haben arbeitsteilig die mit Volker Roelcke herausgegeben hat, die Ver- Geschichte der Universität jeweils in größere gangenheitspolitik in der universitären Medizin wissenschafts- und universitätsgeschichtliche nach 1945 insgesamt in den Blick nimmt. Kontexte eingeordnet: Der Schwerpunkt der Schließlich stellt ein in Gestaltung und Orientie- ersten Tagung, die 2006 von Jürgen Reulecke rung dem Bildband zur Universitätsgeschichte und Volker Roelcke unter dem Titel „Wissen- entsprechender und damit auf ein breiteres Pu- schaften im 20. Jahrhundert. Universitäten blikum zielender Band die jüngste Geschichte in der modernen Wissenschaftsgesellschaft“ der Fakultät nach der Wiedergründung 1957 organisiert wurde, lag auf der allgemeinen dar, wobei er diese Geschichte anhand der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Leistungen der einzelnen Institute und der je- während eine zweite, von Friedrich Lenger und weiligen Lehrstuhlinhaber auffächert.

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013-023_Carl.indd 15 08.06.10 10:20 In dieses Panorama von Beiträgen zum Univer- zum 375- jährigen Jubiläum 1982 verfasst hat sitätsjubiläum aus dem Kreis der Gießener Fa- und die seinerzeit Maßstäbe für eine moder- kultäten, das keinen Anspruch auf Vollständig- ne, sozialhistorisch informierte Form von Uni- keit erhebt, gehört auch die von Walter Gropp, versitätsgeschichte gesetzt hat, ist wegen die- Martin Lipp und Heinhard Steiger verantwor- ser Modernität methodisch auch heute noch tete Festschrift des Fachbereichs Rechts- nicht überholt, und inhaltliche Neuakzentuie- wissenschaft, die damit bewusst an eine spezi- rungen und Ergänzungen ließen sich vielleicht fische rechtswissenschaftliche Festschrift-Tradi- gerade durch die Vielfalt der Perspektiven, wie tion von 1907 und 1957 anknüpft. Und dies in den unterschiedlichen Publikationen schließlich hat auch die Universitätsbibliothek zum Ausdruck kam, am ehesten einbringen. ihre „Schatzkammern“ geöffnet und die Öf- Dies mag wiederum der aktuellen Dynamik des fentlichkeit an ihren Sammlungen mittels Aus- Forschungsfeldes „Universitätsgeschichte“ durch- stellung teilhaben lassen. Den entsprechenden aus angemessen erscheinen, die sich auch jenseits Band haben Peter Reuter und Irmgard Hort als Gießens keiner Ordnung durch eine Zentralper- Streifzug durch die Geschichte dieser Samm- spektive fügt. lungen konzipiert und diese lockere Form der Trotzdem hindert dies nicht daran, einige allge- Präsentation auch ausdrücklich nicht als umfas- meine Anmerkungen zu den historischen Erträ- sende Geschichte der Gießener Universitäts- gen des Gießener Jubiläumsjahres zu machen. bibliothek verstanden wissen wollen – auch Das Risiko einer subjektiven Auswahl kann ich weil diese erst 1612 mit einigem Abstand zur dabei gar nicht umgehen, wenn ich mich im Universitätsgründung von Landgraf Ludwig Folgenden darauf beschränke, einige wenige eingerichtet wurde. Der programmatische Titel Schlaglichter auf die durch das Jubiläum gene- „Aus mageren und aus ertragreichen Jahren“ rierten geschichtlichen Forschungen zu werfen. steht im übrigen stellvertretend für eine allge- Wo haben sie Neues zu Tage gebracht, oder wo meine Tendenz der Publikationen zum Univer- haben neue Methoden oder Fragestellungen sitätsjubiläum: Der jubiläumsgemäßen Versu- dazu geführt, bereits Bekanntes in neue Kon- chung zur nostalgischen Verklärung von Ver- texte und Perspektiven zu rücken? Ich möchte gangenheiten sind sie nicht erlegen, es herrscht mich im Folgenden auf vier allgemeine Aspekte ein kritisch-abgewogener Duktus vor. konzentrieren, wobei dem Frühneuzeitler kon- Insgesamt bieten die Veröffentlichungen an- zediert werden mag, dass es ihm natürlich ein lässlich des Jubiläums ein sehr vielfältiges Bild Bedürfnis ist, die Geschichte der Universität der älteren und neueren Geschichte der vor- nicht auf die jüngste Vergangenheit zu reduzie- maligen Ludoviciana und heutigen Justus-Lie- ren. big-Universität. Die Vielfalt der Präsentations- formen, die von Ausstellungs- und Bildbänden, 3. Akteure – die auf ein breiteres Publikum zielen, bis zu Ta- Universität als Personenverband gungsbänden reicht, die auf wissenschaftliche Rezeption angelegt sind, lässt Universitäts- Es ist kein Zufall, dass etwa der Bildband zur geschichte jedenfalls als eine spannende Ge- Gießener Universitätsgeschichte eine seiner schichte wahrnehmbar werden, die weder an- drei Abteilungen „Akteure“ genannt hat und tiquarisch noch exotisch ist und auch für die dass diese Akteurorientierung auch in den me- unmittelbare Gegenwart der Institution auf- dizinhistorischen Sammelbänden einen deut- schlussreich bleibt. Man mag es bedauern, dass lichen Akzent darstellt. Auf eine solche perso- eine ursprünglich geplante, auf mehrere Bände nalisierte Perspektive kann und soll die Univer- geplante Geschichte der Gießener Universität sitätsgeschichte schon deshalb nicht verzichten, unter der Federführung von Peter Moraw weil nach der ursprünglichen Idee Universität aufgrund der Erkrankung des Herausgebers eine „universitas“ von Lehrenden und Lernen- nicht realisiert werden konnte. Doch die den ist, also ein Personenverband. Allerdings „Kleine Universitätsgeschichte“, die Moraw haben sich die zahlreichen Gelehrtenporträts,

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013-023_Carl.indd 16 08.06.10 10:20 die im Jubiläumsjahr in den diversen Publikati- treter der vormodernen medizinischen Fakultät onen entstanden sind, doch weit vom Duktus herausgestellt. akademischer Koryphäenverehrung entfernt, In nahezu jedem Fach taucht in der Gießener die den älteren Fakultätsgeschichten häufig zu- Universitätsgeschichte immer wieder der eine eigen ist. Stattdessen interessieren auch bei oder andere überdurchschnittliche Vertreter den oftmals etwas weniger prominenten Ak- auf, der dafür sorgte, dass auch diese bisweilen teuren stärker die sozialen Rahmenbedin- periphere Stätte des Geistes nicht den An- gungen, und damit Perspektiven, denen sich schluss an übergreifende Entwicklungen der auch das Methodenverständnis einer neuen Wissenschaftsgeschichte verlor. Mit Justus Lie- Wissenschaftsgeschichte verpflichtet fühlt, die big und der Etablierung seines internationalen Wissenschaft als soziale Praxis analysiert. Die Schülernetzes stand die Universität dabei auch Koryphäen der Wissenschaft werden damit in in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein- gewissem Maße „resozialisiert“, wofür etwa mal an der Spitze des akademischen Fort- die biographischen Annäherungen von Theo- schritts. Zu Liebig ist freilich in dem ihm aus dor Koch oder Ulrike Enke an bedeutende Ver- Anlass seines 200. Geburtstags gewidmeten treter der frühneuzeitlichen Gießener Medizin Jubiläumsjahr 2003 bereits so viel gesagt und eindrucksvolle Beispiele bieten. So präsentierte geschrieben worden, dass der Namensgeber der Mediziner und Physikprofessor Gregor Hor- der Universität beim Universitätsjubiläum 2007 stius (1578–1634) in der Gründungsphase der etwas in den Hintergrund treten konnte. Universität durchaus noch den Typus eines All- Es gibt freilich auch den Fall, dass sich ein bis- rounders, der sich nicht auf eine einzige Wis- lang hoch gehandelter Repräsentant der Uni- senschaft spezialisierte. Trotzdem war er schon versität bei genauerem Hinsehen als deutlich eine Figur des Übergangs, der zumindest in- weniger bedeutend und im übrigen recht frag- sofern eine nach Maßgabe der Zeit moderne würdiger Charakter erweist, also etablierte Medizin nach Gießen brachte, als er erstmals Mythen in Frage gestellt werden. Die Rede ist anatomische Lehrsektionen abhielt und damit von dem Kameralisten – also einem frühen Ver- letztlich doch einer Ausdifferenzierung in der treter der Wirtschaftswissenschaften und Statis- Praxis Vorschub leistete. Gehörte er seinem tik – August Wilhelm Crome (1757–1833). Er Selbstverständnis nach aber noch dem Ge- gilt als bedeutendster Gießener Professor um lehrtentypus des eher praxisfernen humani- 1800, nicht zuletzt, weil er wesentlich dazu stischen „Eruditus“ – des vielseitig Gelehrten beigetragen haben soll, dass die kleine Landes- – an, so verkörperte zwei Generationen später universität das große Universitätensterben in sein Nachfolger Michael Bernhard Valentini Folge der territorialen Flurbereinigung nach (1657–1729) den Typus eines auf eine breitere dem Ende des Alten Reiches 1806 überlebt hat. Öffentlichkeit zielenden Wissenschaftlers, der Dieses Bild hat er freilich vor allem selbst in sei- energisch über den Rahmen der Ludoviciana ner kurz vor seinem Tode (1833) erschienenen hinausstrebte, auch wenn er ihr zeitlebens als Autobiographie gezeichnet, und dies so wir- Professor verhaftet blieb. Von seinen zahl- kungsvoll, dass sein Bild als Retter der Universi- reichen Auslandsreisen brachte er neue Metho- tät in die Universitätsgeschichte eingegangen den und neue Instrumente nach Gießen mit ist. Er machte damit vergessen, wie umstritten und führte diese in öffentlichen „Experi- er zu Lebzeiten gewesen war, weil er sich noch menten“ vor – Experimente nicht schon im mo- 1813 für Napoleon ausgesprochen hatte und dernen Sinne, sondern als Demonstrationen, damit zum roten Tuch für die national- und frei- die über die Verblüffung der Zuschauer Neu- heitsbewegten Gießener Studenten geworden gierde und dadurch letztendlich Erkenntnis- war. Auf dem berühmten Wartburgfest 1817 gewinn auslösen sollten. Damit ist Valentini wurden seine Schriften verbrannt. Nicht min- einerseits als durchaus zeittypischer Universi- der umstritten war er zeitlebens auch bei sei- tätsgelehrter eingeordnet, andererseits aber nen Gießener Kollegen, mit denen er es sich auch sein Rang als fraglos bedeutendster Ver- während seiner fast fünfzigjährigen Tätigkeit

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013-023_Carl.indd 17 08.06.10 10:20 an der Ludoviciana fast durchweg verdorben biose von Politik und Universität etwa äußerte hatte. sich bei diversen Professoren vom 17. bis zum Crome nahm für sich das Verdienst in An- 19. Jahrhundert in Form von Karrieren, die sie spruch, dass er 1798/99 bei der Anwesenheit als Minister an den hessen-darmstädtischen der französischen Besatzungsarmee unter Ge- Hof und damit in die politische Schaltzentrale neral Bernadotte, dem nachmaligen schwe- des Territoriums brachten. Folgenreich in dieser dischen König, für Universität und Land güns- Hinsicht war beispielsweise Justin von Linde, tige Konditionen ausgehandelt habe – für das der von seiner Position als Universitätskanzler Land eine Neutralität, für die Universität weit- an die Schaltstellen der Landespolitik wechselte gehende Befreiung von den ruinösen Kriegs- und dort zum entscheidenden Unterstützer kontributionen. Er habe dann aus Dankbarkeit von Liebigs Modernisierungen wurde. Die Bernadotte die Ehrenpromotion der Universität Rückkehr zur Voll-Universität 1950–57 ist ohne Gießen verschafft. Letzteres stimmt auch nach den entscheidenden Beitrag von Politikern wie Prüfung der Akten, doch war dies zunächst Erwin Stein oder Helen von Bila kaum vorstell- einmal ein Alleingang Cromes, mit dem er sei- bar. Akteure der Universitätsgeschichte sind ne Kollegen vor vollendete Tatsachen stellte. folglich gerade auch die Landespolitiker ge- Der Geehrte wiederum war sich dieser Ehrung wesen, oder umgekehrt: Die Autonomie der wahrscheinlich gar nicht bewusst. Die hastig Universität gegenüber der Politik ist in Gießen vollzogene Ehrenpromotion war in solch nebu- gerade im Vergleich zu anderen deutschen Uni- lösen Termini verfasst – von Promotion ist in der versitäten stets sehr relativ gewesen. Urkunde nicht explizit die Rede –, dass Berna- dotte deren Tragweite wohl gar nicht rea- 4. Universität als Lebensform lisierte, sondern von einer Aufnahme in eine gelehrte Akademie ausging. Christa Nees, die Kehren wir noch einmal kurz zu Crome zurück: für ihre noch ungedruckte Promotion über Jenseits der individuellen Ausprägungen, die Crome4 die entsprechenden Akten – auch bis- dem Charakter Cromes bisweilen durchaus lang ungenutzte – ausgewertet hat, kommt unsympathische Züge verleihen, kann man ge- zum Schluss, dass vom Mythos des Retters der rade an seiner Person auch studieren, wie Uni- Universität nach Aktenlage wenig bleibt, denn versität als eine spezifische Lebensform auch die entsprechenden Verhandlungen mit den einen spezifischen Habitus ihrer Repräsentan- Franzosen hat Crome nachweislich gar nicht ten hervorgebracht hat. Das aufgrund stän- geführt. Bei der Abfassung seiner Autobiogra- diger Reibereien schlechte Verhältnis Cromes phie hatte er freilich viele Gründe, sich entspre- zu seinen Kollegen ist geradezu ein Signum des chend zu stilisieren. Die Zeitgenossen, die dies professoralen Umgangs miteinander gewesen, hätten in Zweifel ziehen können, hatte er da was wohl nicht zuletzt aus einer Nachahmung schon überlebt, und die Nachwelt hat ihm statusbewahrenden „agonalen“ Verhaltens her- diese geschönte Version der Geschichte gerne rührte, wie dies der in der vormodernen Gesell- abgenommen. schaft führende Stand, der Adel, vorexerzierte. In anderer Hinsicht freilich ist Crome eine ex- Gerade in der Lebenswelt „Universität“, in der emplarische Gestalt der Gießener Universitäts- zwar Reputation eine zentrale Rolle spielte, di- geschichte: Durch seine akademische Biogra- ese sich aber nur bedingt in Macht und Geld phie zieht sich wie ein roter Faden die Nähe zur ausdrücken ließ, bedurfte es steter Anstren- Politik. Crome hat sie bewusst gesucht, bei an- gungen, den eigenen Wert und Rang im Kolle- deren Repräsentanten kam hier eher eine weit- genkreis zu behaupten. Die Selbststilisierungen gehende Abhängigkeit von der Landespolitik Cromes in seiner Autobiographie entsprechen zum Tragen. Die Verflechtungen waren jeden- einem solchen spezifisch professoralen Habitus falls immer eng, nicht umsonst war der Grün- und sind wohl auch nur auf dem Hintergrund dungsvater Landgraf Ludwig lange Zeit auch dieser akademischen Lebensform zu verstehen. Namensgeber der Landesuniversität. Die Sym- Ausformungen eines solchen Habitus ge-

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013-023_Carl.indd 18 08.06.10 10:20 hörten auch noch im 20. Jahrhundert zur Ordi- ortung der Universität. Diese Verortung gehört narienuniversität dazu, und es mag sein, dass zunächst zu den schon fast trivialen Vorausset- sich eine neue Generation von Geschichtsfor- zungen des Jubiläums selbst: Ohne festen Ort schern mit diesem Phänomen gerade jetzt gibt es für eine Institution in der Regel keine intensiver beschäftigt, weil dieser Habitus zu- Kontinuität und damit auch keine Erinnerungs- nehmend Geschichte geworden ist und man kultur – und also auch kein Jubiläum. Die Ver- somit davon – in der Regel – nicht mehr unmit- ortung der Universität in Gießen ist aber immer telbar betroffen ist. Erst dies ermög licht eine auch eine der wesentlichen Rahmenbedin- neugierige Distanz, aus der heraus ein solcher gungen ihrer Existenz gewesen. Nicht umsonst Habitus zum Gegenstand wissenschaftlicher spielt der Begriff der „Provinzialität“ deshalb in Fragestellungen und damit historisiert werden einigen der Publikationen des Jubiläumsjahres kann. eine zentrale Rolle. Schon im Titel thematisiert Universität als „Lebensform“ heißt freilich beispielsweise der Tagungsband „Universalität auch, dass die universitätsgeschichtliche For- in der Provinz“ das Spannungsverhältnis von schung sich gerade bei der vormodernen so ge- Universalität und Partikularität. Auf der einen nannten „Familienuniversität“ nicht nur auf die Seite halten Universitäten den universalen An- männlichen Protagonisten konzentrieren sollte, spruch für ihre Form der Wissensgenerierung sondern auch einmal danach fragen muss, ob und -vermittlung als Erbe des Mittelalters auf- denn dieser akademische männliche Kosmos recht, auf der anderen Seite stehen die vielfäl- nicht auch von Angehörigen des anderen Ge- tigen Ausdifferenzierungen der Neuzeit, sei schlechts bewohnt gewesen ist. Es verwundert, es in Gestalt der zunehmend spezialisierten dass bislang in- und außerhalb Gießens die Rol- Einzelwissenschaften, sei es in der räumlichen le von Professorenfrauen in der frühen und Vielfalt der Universitätslandschaft. Die Grün- späten Neuzeit überhaupt nicht thematisiert dung von Landesuniversitäten, für die Gießen worden ist. Eine kleine Studie zu Professoren- ein typisches Beispiel ist, bietet bis heute die gattinnen und -töchtern, die Heide Wunder für his torische Grundlage dieser Vielfalt gerade den Tagungsband zur vormodernen Univer- des deutschen Universitätssystems. Zugleich sitätsgeschichte beigesteuert hat, ist hier eine verweist das Attribut der Universalität darauf, Pionierleistung und zugleich ein Beispiel dafür, dass sich Universitäten immer als Teil eines um- wie die Geschichtswissenschaft aus Anlass des fassenden Ganzen, als Teil einer prinzipiell uni- Universitätsjubiläums Forschungsneuland be- versellen Welt der Wissenschaft und gelehrten treten hat.5 Bei ihr kann man nachlesen, dass Bildung verstanden haben. Professorenfrauen in der Frühen Neuzeit häufig Nun mag in diesem Kontext der Begriff „Pro- ebenfalls gebildet waren und in das Familien- vinz“ ein Reizwort sein, und kann als Gegenbe- unternehmen der akademischen Lehre einge- griff zu Universalität und Universität durchaus bunden wurden, und sei es, um die Unterbrin- als eine selbstironische Anspielung auf spezi- gung der einlogierten Studenten zu organisie- fische Gießener Befindlichkeiten verstanden ren. Die Distanz zwischen dem großen Ausmaß werden. Dahinter steckt aber auch eine Art der selbstverantwortlich zu bewältigenden „Stigmamanagement“, ein offensiver Umgang Aufgaben und der zugleich geforderten Unter- mit einer negativ konnotierten Zuschreibung. ordnung und Selbstverleugnung blieb eklatant, Zu leiden unter entsprechender Negativ-Propa- war allerdings nicht nur ein Phänomen der vor- ganda hat die mittelhessische Universität schon modernen Universität. in der frühen Neuzeit gehabt, das topische Bild einer Provinzuniversität begleitet die Gießener 5. Verortungen Universitätsgeschichte seit dem 18. Jahrhun- dert. „Man nennet zu Göttingen unser Gießen Wenn sich ein weiteres Thema als roter Faden einen Finsteren Ort“ hat Eva-Marie Felschow durch die Publikationen des Universitätsjubi- eine Studie zur durchaus nicht provinziel- läums zieht, dann ist dies schließlich die Ver- len Gießener Medizin im 18. Jahrhundert mit

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013-023_Carl.indd 19 08.06.10 10:20 einem einschlägigen Zitat überschrieben, die in vielen Einzelbeobachtungen immer wieder entsprechenden Äußerungen Laukhards oder bestätigt: Eine von außen als Mittelmäßigkeit Büchners sind geradezu sprichwörtlich, und oder Abgeschiedenheit deklarierte „Provinziali- noch in den Auseinandersetzungen um die tät“ ist vor Ort – im „Innovationsraum der Uni- Exis tenz der Universität im Dritten Reich wurde versität“ – unterlaufen worden, allein schon, von Frankfurter Seite der Nachbaruniversität weil diese Universität eben nie gänzlich abge- für die Zukunft ein Platz als „Bauern- und schieden gewesen ist. tierärztliche Hochschule“ zugewiesen – gegen- Der zweite Aspekt dieser „Verortung“ betrifft über Frankfurt als hessischer Hauptuniversität. das Verhältnis der Universität zu „ihrer“ Stadt. Die Provinzialität als Bestandteil der deutschen Man muss sich dabei immer vor Augen halten, Geschichte ist jedoch eine Tatsache, die höchst dass im frühneuzeitlichen Gießen bei ca. 3000 ambivalent und damit eben nicht eindeutig ne- Einwohnern im Schnitt etwa 200 Studenten gativ zu bewerten ist. Für die deutsche Kultur- studierten, die Garnison aber aus bis zu 400 und Bildungsgeschichte ist unbestritten, dass Mann bestand. Gießen war – gerade auch in wesentliche Anstöße oder neudeutsch „Inno- der Optik der baulichen Gestaltung – immer vationen“ immer wieder aus der so genannten mindestens so sehr eine Festungs- wie eine Provinz gekommen sind. Wenn sich in Deutsch- Universitätsstadt. Folgerichtig hat sich die Stadt land die kulturellen und geistigen Ressourcen erst spät – erstmals 1940, dezidiert dann in den aufgrund des historisch gewachsenen Födera- frühen 50er Jahren – das Epitheton „Univer- lismus nicht an wenigen Punkten konzen- sitätsstadt“ zugelegt, als sie vor dem Hinter- trierten, dann dürfte dies im übrigen nicht von grund der Existenzbedrohung der Universität vornherein von Nachteil gewesen sein, stand realisierte, wie wichtig diese Institution für die doch so der Zugang zu den ökonomischen und Stadt war und ist. Auch baulich hat die Univer- kulturellen Ressourcen einem größeren Teil der sität die Stadt erst spät, seit dem 19. Jh., mitge- Bevölkerung offen als in Ländern, in denen Me- prägt, wie dies heute vor allem im Klinikviertel tropolen diese monopolisierten. Im Falle Gie- vor Augen tritt. Sie hätte der Innenstadt noch ßens verweist diese Provinzialität auf den tief in stärker ihren Stempel aufdrücken können, der deutschen Geschichte verankerten Bil- wenn beispielsweise nach der Wiedergrün- dungsföderalismus, der im System der Lan- dung in den späten 1950er Jahren die städte- desuniversitäten begründet ist. Entweder histo- bauliche Planungseuphorie jener Jahre, die risch sehr früh oder meist sehr spät sind Univer- man Gießen heute noch ansieht, nicht nur im sitäten in die Metropolen übergesiedelt – etwa Neubau der Universitätsbibliothek Gestalt an- nach Berlin, München oder Frankfurt, deren genommen hätte, sondern auch jenes ominöse Universitäten alle deutlich jünger als die Gieße- 24-stöckige Hochhaus als Domizil für die neue ner sind. Die traditionelle Vielfalt der deutschen Geisteswissenschaftliche Fakultät – ein „Philo- Universitätslandschaft mit ihren Stärken und sophenturm“ – realisiert worden wäre. Nur Schwächen ist historische Voraussetzung und knapp scheiterte dieses Projekt an Einsprüchen Existenzbedingung Gießens, und eine Abkehr der Anwohner, und noch nachträglich kann von diesem Föderalismus bedeutet – wie der man als Geisteswissenschaftler und potentiell historische Rückblick in die Zeit des Dritten Rei- von dieser Baumaßnahme Betroffener nur auf- ches belegt – für solche mittleren Universitäten atmen. schnell eine existenzielle Gefährdung. In diesem Sinne verstanden ist „Provinzialität“ 6. Vom Schatten nicht nur Mangel, sondern eine der Kreativi- des National sozialismus tätsressourcen der deutschen Universitäten wie zur Studentenrevolte der übrigen Bildungs- und Kulturinstitutionen. Die Innovationen sind in Deutschland keines- Damit sind wir abschließend im 20. Jahrhun- wegs Monopol der Metropolen gewesen, und dert angekommen, und gerade zur jüngeren der Blick auf Gießen im Jubiläumsjahr hat das Universitätsgeschichte hat das Jubiläum zahl-

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013-023_Carl.indd 20 08.06.10 10:20 reiche gewichtige neue Forschungserträge bei- Mitglieder der SS waren. Selbst wenn die Ein- gesteuert. Dies liegt in der Natur der Sache, sicht, dass die Affinität der medizinischen Fa- weil sich die historische Forschung erst jetzt in- kultäten zum nationalsozialistischen System tensiv und vorbehaltlos der jüngeren Vergan- hoch war, in der aktuellen Forschung zum Drit- genheit widmen kann. Auch wenn es mir als ten Reich allgemein anerkannt ist, überrascht Historiker der Frühen Neuzeit problematisch er- doch das Ausmaß der Verflechtungen in Gie- scheint, wenn sich historisches Interesse aus- ßen, denn von 84 Mitgliedern des Lehrkörpers schließlich auf die jüngste Geschichte im Allge- waren 77 Parteimitglieder und immerhin 16 in meinen und namentlich auf die zwölf Jahre des der SS engagiert. Diese vergleichweise hohe Tausendjährigen Reiches zwischen 1933 und Systemkompatibilität korrespondiert damit, 1945 beschränkt und die gesamte Universitäts- dass im Zuge der der Wissen- geschichte von immerhin 400 Jahren hinter schaft 11 Entlassungen aus dem Dienst aus ras- jenen besonders prekären und unerfreulichen sischen oder politischen Gründen vorgenom- zwölf Jahren des Nationalsozialismus zu ver- men wurden. schwinden droht, ist doch unbestritten, dass Aus der historischen Distanz kann man Erklä- diese Periode in einem die Öffentlichkeit an- rungen für diese in Gießen durchaus signifi- sprechenden Jubiläum in besonderem Maße kante Nähe zur braunen Ideologie, die sich Objekt der Erforschung und Erinnerung sein nicht auf die medizinische Fakultät beschränkte, muss. Programmatisch hatte die Universität formulieren – etwa, dass der hohe Anteil von hier schon vorab ein Zeichen gesetzt, indem sie jungen Wissenschaftlern und Erstberufenen, 2006 von Peter Chroust die Doktorgradentzie- der für Gießen charakteristisch war, zu solch hungen, mit der sich die Universität zum will- hoher Affinität führte, weil gerade diese neue fährigen Handlanger des Regimes machte, wis- Generation sich aus Karriere- und anderen senschaftlich aufarbeiten ließ. In einer öffent- Gründen in besonderem Maße in der Partei lichen und öffentlichkeitswirksamen Erklärung engagierte. Außerdem hat bereits Peter Moraw wurden anschließend die Doktorgradentzie- darauf hingewiesen, dass man in Gießen wohl hungen während der nationalsozialistischen auch aus Angst vor der drohenden Schließung Zeit für nichtig erklärt und die Opfer rehabili- der Universität politischen Vorgaben in beson- tiert sowie 2008 eine entsprechende Gedenk- derem Maße entgegenkam. Es bedarf gar nicht tafel im Hauptgebäude installiert. Dieses dunk- eines besonders anklägerischen oder aufkläre- le Kapitel wurde damit also selbst Teil der uni- rischen Duktus, um von diesen Zahlen wie auch versitären Erinnerungskultur. der Tatsache, dass nach 1945 bei der Masse der Dass die nationalsozialistische Phase der Gieße- im Amt Verbliebenen wenig Unrechtbewusst- ner Universitätsgeschichte mittlerweile intensiv sein vorhanden war, ernüchtert zu sein. Die und ohne Vorbehalte – auch ohne Rücksicht- zögerliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nahmen – erforscht wird, dokumentieren die in der Nachkriegszeit ist mittlerweile selbst ein Veröffentlichungen zum Universitätsjubiläum historisches Faktum, das im Rahmen des Jubi- zur Genüge. Besonders eindrucksvoll haben die läums eigens thematisiert und damit histo- Gießener Medizinhistoriker mit ihrem dieser rischer Bestandteil der Universitätsgeschichte Phase gewidmeten Band anlässlich des Jubilä- geworden ist.6 ums diese Geschichte erschlossen – in einer Dabei kann man für die Gießener Universitäts- Weise, wie dies zum 375. Jubiläum 1982 so geschichte eine Tendenz feststellen, die sich wohl noch nicht möglich gewesen wäre. Auf auch in der allgemeinen Geschichtswissen- über 600 Seiten wird akribisch aus den Akten schaft in den letzten Jahren deutlich abge- und der vorhandenen Literatur die Geschichte zeichnet hat. Die Geschichte des Dritten Rei- der Fakultät und insbesondere auch ihres ches, die seit Jahrzehnten ein Schwerpunkt der wissenschaftlichen Personals rekonstruiert. So historischen Forschung gewesen ist, wird zu- wird detailliert aufgelistet, welche Angehöri- nehmend historisiert und kontextualisiert, bei- gen des Lehrkörpers Parteimitglieder oder gar spielsweise, indem man den Bogen über 1945

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013-023_Carl.indd 21 08.06.10 10:20 hinaus in die Geschichte der Bundesrepublik Anmerkungen: schlägt, um Kontinuitäten und Brüche deut- 1 Carsten Lind, „Es wird höflichst gebeten, Reden erst licher konturieren zu können. Die starke Kon- nach dem 3. Gang zu halten“. Die Gießener Universi- zentration auf die Geschichte des Nationalsozi- tätsjubiläen, in: Horst Carl, Eva-Marie Felschow, Jürgen Reulecke, Volker Roelcke, Corina Sargk (Hrsg.), Panora- alismus hat nicht zuletzt auch zu einer gewis- ma 400 Jahre Universität Gießen. Akteure, Schauplät- sen Isolierung dieser zwölf Jahre geführt, mit ze, Erinnerungskultur, Frankfurt 2007, S. 298–303. dem ungewollten Nebeneffekt, dass sich diese 2 Ebd., S. 300. 3 Ebd., S. 301f. Vergangenheit dann auch leichter entsorgen 4 Christa-Irene Nees, August Wilhelm Crome (1753– ließ. Insofern ist es nur konsequent gewesen, 1833). Ein umstrittener Universitätslehrer an der wenn sich die Ausstellung, die sich der „zwei- Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, Diss. masch. ten Gründung“ der Universität widmet, den Gießen 2010. 5 Heide Wunder, „Die Professorin“ und die Professo ren- Bogen von 1933 bis in die 1970er Jahre schlägt. töchter – Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Profes- So lassen sich auch die Kontinuitätslinien von sorenstandes in der Frühen Neuzeit, in: Horst Carl/ der zunehmend prekären Situation der Univer- Friedrich Lenger (Hrsg.), Universalität in der Provinz …, 2009, S. 233–269. sität im Dritten Reich über das vergebliche Rin- 6 Vgl. Klaus Fritzsche, Die Gießener Universität in der gen um den Fortbestand 1945/46 und den NS-Zeit. Bedingungen und Probleme des Erinnerns mühsamen, aber stetigen Weg über die Justus- und Gedenkens, in Panorama 400 Jahre Universität Liebig-Hochschule bis hin zum wiedererreich- Gießen, S. 284–291. ten Status einer Universität – und dann auch einer „Volluniversität“ mit vier klassischen Fa- Literatur zum Universitätsjubiläum kultäten – unter Verwendung zahlreicher neuer (in Auswahl): Dokumente detailliert nachvollziehen. Der Aus- Horst Carl/Eva Marie Felschow/Jürgen Reulecke/Volker Roelcke/Corina Sargk (Hrsg.), Panorama 400 Jahre Uni- blick im wissenschaftlichen Begleitband auf die versität Gießen. Akteure, Schauplätze, Erinnerungskul- 60er Jahre und namentlich die Ein- und Auswir- tur, Frankfurt 2007. kungen der 68er Studentenrevolte auf Gießen Horst Carl/Friedrich Lenger (Hrsg.), Universalität in der lässt dabei schon erahnen, wo die nächste Provinz. Die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhän- größere Baustelle universitätsgeschichtlicher gigkeit und gelehrten Lebenswelten. Tagung anlässlich Forschungen aufgetan wird. Die unter den des 400-jährigen Jubiläums der Justus-Liebig-Universi- Schlag wörtern „Studentenrevolte“ oder „die tät Gießen am 8./9. Juni 2007, Darmstadt 2009. Peter Chroust, Die bürokratische Verfolgung. Doktorgra- 68er“ verhandelten Auseinandersetzungen ha- dentziehungen an der Universität Gießen 1933–1945 ben die Universität Gießen tief geprägt, auch im Kontext der nationalsozialistischen Verfolgungspo- nachhaltig verunsichert, und sicherlich bis in litik, Gießen 2006. die jüngste Gegenwart nachgewirkt. Mittler- Eva-Marie Felschow/Carsten Lind, „Ein hochnutz, nötig und christlich Werck.“ Die Anfänge der Universität Gie- weile ist aber auch hier „die Zeit reif“, ver- ßen vor 400 Jahren. Ausstellungsband der Justus-Liebig- schafft die wachsende zeitliche Distanz den Universität zum 400-jährigen Jubiläum, Gießen 2007. entsprechenden Freiraum für eine historische Eva-Marie Felschow/Carsten Lind/Neill Busse, Krieg, Kri- se, Konsolidierung. Die „zweite Gründung“ der Uni- Aufarbeitung. versität Gießen nach 1945, Gießen 2008. Damit wäre auch schon ein möglicher For- Walter Gropp/Martin Lipp/Heinhard Steiger (Hrsg.), schungsschwerpunkt für Historiker im Zeichen Rechtswissenschaft im Wandel. Festschrift des Fachbe- eines nächsten Jubiläums an der Justus-Liebig- reichs Rechtswissenschaft zum 400-jährigen Grün- dungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen, Universität aufgezeigt. Es würde jedenfalls an Tübingen 2007. das anknüpfen, was sich als grundlegender Irmgard Hort/Peter Reuter (Hrsg.), Aus mageren und aus Eindruck aus den Publikationen zum Jubiläum ertragreichen Jahren: Streifzug durch die Universitäts- bibliothek Gießen und ihre Bestände, Gießen 2007. von 2007 herausdestillieren ließe: dass die im Jörg-Peter Jatho/Gerd Simon, Gießener Historiker im Kontext des Jubiläums intensivierte Beschäf- Dritten Reich, Gießen 2008. tigung mit der Geschichte der Justus-Liebig- Ulrike Enke/Sigrid Oehler-Klein, Professoren – Patienten Universität keine selbstgenügsame akade- – Studenten. Die medizinische Fakultät der Universität Gießen seit 1607. Ausstellungsband des Fachbereichs mische Nabelschau für Eingeweihte ist, son- Medizin der Justus-Liebig-Universität zum 400-jäh- dern ein spannendes work in progress. rigen Jubiläum, Gießen 2007.

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013-023_Carl.indd 22 08.06.10 10:20 Ulrike Enke (Hrsg.), Die Medizinische Fakultät der Univer- Ins titutionelle und individuelle Strategien im Umgang sität Gießen. Institutionen, Akteure und Ereignisse von mit dem Nationalsozialismus. Unter Mitarbeit von Kor- der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart nelia Grundmann und Sabine Schleiermacher, Stutt- 2007. gart 2007. Sigrid Oehler-Klein (Hrsg.), Die Medizinische Fakultät der Jürgen Reulecke, Volker Roelcke (Hrsg.), Wissenschaften Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart 2008. und Kontinuitäten, Stuttgart 2007. Volker Roelcke (Hrsg.), Die Medizinische Fakultät der Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hrsg.), Vergangen- Universität Gießen von der Wiedergründung 1957 bis heitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. zur Gegenwart, Frankfurt 2007.

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024_anzeige_sparkasse.indd 24 08.06.10 10:19 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Peter Gruhne

Otto Eger: „Herzensguter Mensch“, Mitläufer oder „Nazi“? Zur Kontroverse um den Gießener Juristen

Den „lauteren und unbestechlichen Charak- Egers nicht: Er war während seiner über 30 Jah- ter“ Otto Egers lobt in seinem Nach- re währenden Gießener Hochschultätigkeit ruf und bezeichnet den am 11. April 1949 ver- zwei Mal Rektor der Landesuniversität, über storbenen Gießener Juristen als „warmfüh- viele Jahre hinweg Vorsitzender der Gießener lenden und herzensguten Menschen“.1 Auch Hochschulgesellschaft, stellvertretender Vorsit- Friedrich Weber bestätigt in seinem Nekrolog zender der mit der Gießener Universität eng dieses Urteil und spricht im Hinblick auf seinen verbundenen William-G.-Kerckhoff-Stiftung in ehemaligen Lehrer Eger von der „Lauterkeit Bad Nauheim und spielte darüber hinaus in seiner Persönlichkeit“.2 weiteren universitären Ämtern und Organisati- Der „treueste der Treuen“, wie onen sowie in zahlreichen Vereinen und Insti- den Gießener Ordinarius noch 1957 aus Anlass tutionen Gießens eine wichtige Rolle für das der 350-Jahr-Feier der Universität nennt3, weil Geis tesleben der Stadt. Außerdem war er we- er über 30 Jahre – von 1918 bis zu seinem Tod gen seines Einsatzes für die nach dem Ersten 1949 – in Gießen wirkte, wird 25 Jahre später Weltkrieg notleidenden Studenten und als im Umfeld der 375-Jahr-Feier noch einmal von Initiator der „Gießener Studentenhilfe“ über Max Kaser positiv bewertet: Der Jurist, der von Jahrzehnte hinweg und über seinen Tod hinaus 1929 bis 1932 seine Assistenten- und Dozen- als „Studentenvater“5 stadtbekannt. Nicht zu- tenjahre an der Gießener Universität ver- letzt ist sein Name noch heute vielen Gieße- brachte, charakterisiert 1982 seinen „väter- nern durch das nach ihm benannte „Otto-Eger- lichen Freund“ Eger als einen Menschen, der Heim“ des aus der „Studentenhilfe“ hervorge- sich „allgemeine Achtung, Liebe und Dankbar- gangenen Studentenwerks geläufig. Nach dem keit“ erworben habe. „Otto Eger“, schreibt Krieg wurde er zum Sonderbeauftragten der Kaser, „[...] war in den Zwanzigerjahren und zu hessischen Landesregierung für die Überfüh- Anfang der Dreißigerjahre eine der profi- rung der Universität in eine Hochschule er- liertesten Persönlichkeiten der hessischen Lan- nannt und hat damit kurz vor dem Ende seines desuniversität“.4 Lebens noch einmal eine bedeutende Position besetzt. Der „weißgewaschene“ Studentenvater? Auf das Bild vom „herzensguten Menschen“, der sich durch seinen „lauteren und unbestech- Noch im selben Jahr, 1982, begann der Wind lichen Charakter“ auszeichne, folgte 40 Jahre jedoch schon aus einer anderen Richtung zu später die kritische Auseinandersetzung mit wehen: Mit der Publikation „Frontabschnitt dieser Leitfigur der Universität. Ausgangspunkt Hochschule“ wurde an der Gießener Universi- für die öffentlich geführte Diskussion war die tät die schon lange ausstehende Grundlagen- alljährlich am Totensonntag im November statt- arbeit zu den bislang eher vernachlässigten findende Kranzniederlegung am Grab von Otto zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 ange- Eger auf dem Gießener Alten Friedhof: Am schoben. 1. Dezember 1989 berichtete der Gießener Im weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung Anzeiger darüber, dass sich der damalige AStA- geriet ab 1989 auch der Jurist Otto Eger in den Vorsitzende Frank Sygusch beim Präsidenten Fokus der Untersuchungen. Dies überrascht der Universität, Heinz Bauer, mit „Bestürzung schon aufgrund der herausgehobenen Stellung und Entsetzen“ über die Kranzniederlegung

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025-036_Gruhne.indd 25 08.06.10 10:16 „im Auftrag des Studentenwerks“ beschwert Jahren nationasozialistische [sic], völkische, ras- und darauf verwiesen habe, dass Eger „einer sistische und antisemitische Denkfiguren geför- der umstrittenen politischen Amtsträger der dert“ habe.8 NS-Universitäts-Administratur“ gewesen sei. Dem entgegen stand die offizielle, vom Präsi- Sygusch forderte zudem die Umbenennung denten Bauer zum Ausdruck gebrachte Hal- des Otto-Eger-Heimes.6 tung der Universität: „Insgesamt seien“, zi- Auf diesen Artikel reagierte Jörg-Peter Jatho tierte die Gießener Allgemeine den Präsidenten unterstützend mit einem Leserbrief, der am 5. in indirekter Rede, „spezifische nationalsozia- Dezember 1989 im Gießener Anzeiger er- listische Verfehlungen nicht ersichtlich; dage- schien. Der 1945 von der Universität „weißge- gen sei das jahrzehntelange hervorragende En- waschene“ Eger sei, so Jatho, unter anderem gagement Egers für die Studenten unbestritten die „Hauptstütze der mörderischen - wie auch seine Verdienste um die Universität Organisation Escherich in Hessen“ gewesen.7 nach dem Zweiten Weltkrieg“.9 Am 20. Januar 1990 berichtete dann die Gie- Damit waren beide Positionen besetzt, und ei- ßener Allgemeine, dass sowohl im Studenten- ne Annäherung hat in den vergangenen zwan- parlament als auch im Konvent über Otto Eger zig Jahren nicht stattgefunden. Im Gegenteil: gesprochen werden sollte, und wieder ging es Vor allen Dingen Jörg-Peter Jatho und Bruno auch um die Umbenennung des Otto-Eger- W. Reimann haben mit ihren Publikationen den Heimes. Die Zeitung zitierte Frank Sygusch, der kritischen Diskussionen um Otto Eger immer durch eigene Recherchen herausgefunden ha- wieder neue Nahrung verschafft.10 ben wollte, dass Eger „durch die Betreuung Die vorliegende chronologisch aufgebaute von wissenschaftlichen Arbeiten, in Stellung- Schrift, bei der es sich um die deutlich gekürzte nahmen und Gutachten, in den 30er und 40er und leicht veränderte Fassung eines umfang- reichen Aufsatzes handelt, der im Jahresband der Mitteilungen des Oberhessischen Ge- schichtsvereins 2008 erschien11, geht vom ge- genwärtigen Stand der Literatur zu Otto Eger aus und beabsichtigt, mit einem – bisher zwar ansatzweise erfolgten, aber häufig nicht zufrie- denstellenden – Quellenstudium auf Ver- säumtes hinzuweisen. Dies geschieht in der Hoffnung, den nicht abreißenden Diskussionen eine sachliche Basis voranstellen und Eger im Kontext seiner Zeit mit historischer Methodik neu bewerten zu können. Hinzu kommt erst- mals eine Auseinandersetzung mit Otto Egers Wirken für die Bad Nauheimer William-G.- Kerckhoff-Stiftung.

Eger: ein Komplize von „Mordbuben“?

Ernst Ludwig Theodor Otto Eger wurde am 19. Oktober 1877 als jüngster Sohn des Sprachwis- senschaftlers Gustav Eger in Darmstadt gebo- ren. Er wuchs in der großherzoglichen Resi- denzstadt auf und begann zum Wintersemes- ter 1895/96 Rechtswissenschaften in Göttingen Abb. 1: Otto Eger, Porträt von 1919 (Abbildungsnach- weis: Bildarchiv von Universitätsbibliothek und -archiv zu studieren. Im Sommersemester 1896 wech- der Justus-Liebig-Universität Gießen) selte er an die hessische Landesuniversität nach

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025-036_Gruhne.indd 26 08.06.10 10:16 Gießen und beendete dort auch – nach einer kurzen Unterbrechung in Berlin (Sommerseme- ster 1897) – am 10. Juli 1900 mit der Promoti- on bei Alexander Leist sein Studium. Von 1903 bis 1908 war er Assistent12 an der Gießener Lu- doviciana. 1909 habilitierte er sich bei Ludwig Mitteis in Leipzig und ging im Frühjahr 1910 als Ordinarius nach Basel. Dort wurde er zu Beginn des Jahres 1914 Rektor der Universität. Ein halbes Jahr später zog er in den Ersten Welt- krieg, wurde 1916 verwundet, kehrte nach Basel zurück und nahm seine Lehrtätigkeit wie- der auf. Der Krieg hatte ihn tief geprägt und zudem zu gesundheitlichen Beeinträchtigun- gen geführt, mit denen er sich Zeit seines Le- bens auseinanderzusetzen hatte. Am 14. Sep- tem ber 1917 erhielt er einen Ruf an die Groß- herzoglich Hessische Landesuniversität Gießen, dem er mit Wirkung vom 1. April 1918 folgte.13 Rasch wurde er in Gießen zum Mentor der aus dem Krieg heimgekehrten notleidenden Stu- denten. Er engagierte sich nicht nur bei der „Studentenhilfe“, sondern auch, als sich – wie Abb. 2: Otto Eger vor seinem Haus in Gießen, Wil- überall im Land – Freikorps und studentische helmstraße 24, ca. 1930 (Abbildungsnachweis: Bildar- Zeitfreiwilligenverbände bildeten: Eger wurde chiv von Universitätsbibliothek und -archiv der Justus- Führer des Gießener Freiwilligenverbandes. An Liebig-Universität Gießen) der Nachbaruniversität entstand das Studen- tenkorps Marburg (StuKoMa), das traurige Be- an den Rektor der Universität Marburg wies er rühmtheit erlangte, weil es im Frühjahr 1920 in darauf hin, daß das Corps ‚Gegenstand zahl- die sogenannten Arbeitermorde von Mechter- reicher Verdächtigungen geworden‘ sei. Dabei städt in Thüringen verwickelt war. Am 25. März seien, so Eger, bei den ‚Anfeindungen auch die wurden dort 15 festgenommene Arbeiter von ja zweifellos falschen Berichte über die angeb- den Studenten „auf der Flucht“ erschossen. liche Erschießung von 17 Arbeitern durch die Der Tathergang erscheint mehr als dubios, und Marburger Studenten verwertet‘ worden. Eger, die Vermutung, die Gefangenen seien als Akt der Jurist, wußte es“, so Reimann mit pole- der Willkür einfach liquidiert worden, führte mischem Unterton, „vor allen gerichtlichen schließlich zur Anklage gegen 14 Mitglieder Ver handlungen ganz genau: es müsse sich um des StuKoMa. Der Prozess endete, auch in ‚zweifel los falsche Berichte‘ handeln“.15 zweiter Instanz, mit einem Freispruch, der aller- Bei Reimann ist das Corps, das „Gegenstand dings viele Fragen offen ließ.14 zahlreicher Verdächtigungen“ wurde, das Stu- Aufgrund ihrer Verbindungen zu den Marbur- KoMa, hinter das sich, wie er beweisen möch- gern gerieten auch die Gießener Studenten te, Eger gestellt haben soll. Eger spricht jedoch rasch und noch vor der gerichtlichen Auseinan- an dieser Stelle des Briefes nicht von den Mar- dersetzung in die Kritik. Daraufhin wandte sich burgern, sondern von seinem Gießener Stu- Otto Eger mit der Bitte um Unterstützung an dentenkorps. Reimann stellt folglich einen den Rektor der Marburger Universität. Hier falschen Bezug her.16 Und so lohnt sich ein Blick setzt Bruno W. Reimann an und schreibt: „[...] in die Quellen. Am 4. April 1920 schrieb Eger vor aller gerichtlichen Verhandlung stellte sich an den Rektor der Philipps-Universität: „Die Eger hinter das StuKoMa. In einem Schreiben Gießener Studentenkompagnie, die so spät

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025-036_Gruhne.indd 27 08.06.10 10:16 einberufen wurde, daß sie nicht mehr außer- sie überdies falsch ist, wird im Folgenden noch halb Gießens verwendet werden konnte, ist dargelegt. der Gegenstand zahlreicher Verdächtigungen Auch Bruno W. Reimann erwähnt die Bezie- geworden. Sie beabsichtigt daher, alsbald mit hung Egers zur OrgEsch und bezieht sich in die- einer Erklärung an die Öffentlichkeit zu tre- ser Hinsicht, zuletzt 2007, auf Jatho: „Auch der ten.“ Die nun folgende Passage gibt Reimann Gießener Historiker Jörg-Peter Jatho verwies in in seinen oben zitierten Ausführungen wieder. einem Leserbrief auf eine Reihe gravierender Allerdings steigt er nach der Hälfte des Zitats Tatsachen, u. a. auf das historisch unbestreit- mitten im Satz aus und lässt eine entschei- bare Faktum von Egers Mitgliedschaft in der dende Passage weg: „Da bei den Anfein- Freikorps-Organisation Escherich in Hessen“.19 dungen auch die ja zweifellos falschen Berichte Jathos Leserbrief „Weißgewaschen“ im Gieße- über die angebliche Erschießung von 17 Arbei- ner Anzeiger vom 5.12.1989, auf den Reimann tern durch die Marburger Studenten verwertet rekurriert, liefert in dieser Hinsicht allerdings werden, so wäre es sehr erwünscht,“ schreibt kein „Faktum“, sondern man liest dort lapidar: Eger weiter, „wenn diesen unwahren Angaben „Außerdem war er eine ‚Hauptstütze‘ der mör- auch in der fraglichen Erklärung der Gießener derischen Freikorps-Organisation Escherich in Zeitfreiwilligen aufgrund einer authentischen Hessen“.20 Und auch in seiner Publikation „Der Mitteilung des wahren Tatbestands entgegen- Gießener Goethe-Bund“, zuerst 2004 erschie- getreten werden könnte.“17 nen, führt Jörg-Peter Jatho die OrgEsch unter Eger ging es also, wie aus den von Reimann den Mitgliedschaften Egers auf.21 Nirgendwo nicht übernommenen Passagen deutlich wird, wird ein Beleg für diese behauptete „Tatsache“ darum, Schaden von seinen Gießener Studen- angeführt. Auch Heiko Boumann setzt sich ten abzuwenden und den wahren Hergang der 1990 mit der Beziehung Egers zur OrgEsch aus- Ereignisse zu klären. Er hätte auch nach der einander und kommt sogar zu dem Schluss, Vereinbarung einer taktisch sinnvollen „Sprach- dass die Aufstellung des Gießener Studenten- regelung“ fragen können, mit der die Ereig- korps unter Führung von Otto Eger Ergebnis nisse in einem für die Studenten möglichst po- der Bemühungen der Organisation Escherich sitiven Sinne erschienen wären. Dass er – gera- um reichsweite Ausdehnung gewesen sein de als Jurist – vor einem gerichtlichen Verfahren soll.22 Belege hierfür werden auch in diesem und vor dem Beweis des Gegenteils von der Fall nicht angeführt. Den Mangel an Beweisen Unschuld seiner Studenten ausging, spricht versucht man, so mag es scheinen, durch ein nicht gegen ihn. „Schneeballprinzip“ zu kompensieren, das zu Umstürzler und Republikfeinde mit einem ho- einer äußerst einseitigen Darstellung führt. Im hen Potential an Gewaltbereitschaft fanden Einzelnen wird Folgendes deutlich: Im Jahr sich auch in der kurz nach dem Kapp-Putsch 1920 ist Eger nicht als „Hauptstütze“ der Org- und den hier zur Diskussion stehenden Gie- Esch genannt worden, sondern im Jahr 1973, ßener Ereignissen gegründeten Organisation und auch nicht in einer Quelle, wie die falsche Escherich (OrgEsch), die vorwiegend in Bayern Jahresangabe 1920 nahelegen könnte, son- tätig und bemüht war, sich als Einwohnerwehr dern in der Sekundärliteratur. Und weder 1920 zu tarnen. In der Literatur wird immer wieder in einer Quelle noch 1973 in der Sekundärlite- auch Otto Eger mit der Organisation in Verbin- ratur sind Eger und sein „Freund Griesbauer“ dung gebracht, zuletzt 2008 von Jörg-Peter Ja- gemeinsam genannt worden. tho und Dr. Gerd Simon. Die Autoren schrei- Die Behauptung, Eger sei eine „Hauptstütze“ ben: „Eger wird schon 1920 als eine ‚Haupt- der OrgEsch in Hessen gewesen, findet sich stütze‘ der Organisation Escherich in Hessen nach meiner Kenntnis zum ersten Mal in Horst genannt, zusammen mit seinem Freund, Banki- Nußers Publikation „Konservative Wehrverbän- er Ludwig Griesbauer“.18 Eine Quelle wird nicht de in Bayern, Preußen und Österreich 1918– angegeben: Woher die Autoren ihre Informati- 1923“ aus dem Jahr 1973. Von dort fand sie on haben, wird dem Leser vorenthalten. Dass wahrscheinlich ihren Weg in die neuere Sekun-

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025-036_Gruhne.indd 28 08.06.10 10:16 därliteratur, ohne dass Nußers Behauptung bis- konkret auf den Fall einer Dissertation aus dem lang hinterfragt worden wäre. Nußer schreibt: Jahr 1941 mit dem Titel „Eigentumsschutz im „In der Provinz Hessen war die ORGESCH ver- Dritten Reich“, in der es darum gehe, die Ari- boten, jedoch erwiesen sich die Behörden als sierungsvorhaben der Nationalsozialisten zu le- sehr großzügig. Hier waren vor allen Dingen gitimieren. Tatsächlich handelt es sich bei der der Jungdeutsche Orden mit seinem Rechtsbe- Arbeit um eine Dissertation ganz im Sinne der rater Trauner in Cassel und Professor Eger aus nationalsozialistischen Rechtsauslegung. Doch Gießen die Hauptstützen“.23 Horst Nußer gibt Sygusch verschweigt entscheidende Details. Im als Quelle an: „Akten des Bayerischen Kriegsar- Vorwort schreibt der Doktorand: „Vorliegende chivs, Einwohnerwehren/Orgesch, B5/A 3b, Arbeit wurde von Herrn Professor Dr. Gmelin Reise vom 23.–27. 8. 1920 gez. Gademann“. angeregt und betreut. Leider verstarb er kurz Hier heißt es im Wortlaut: „Durch Vermittlung vor Vollendung der Arbeit plötzlich und uner- Beumelburg bin ich sofort mit Professor Dr. wartet“.28 Eger übernahm den Doktoranden Eger in Giessen (jurist. Fakultät [?]24) und also nur von dem den Nationalsozialisten be- Rechtsanwalt Trauner in Cassel brieflich in Ver- kanntermaßen nahestehenden Kollegen. Er hat bindung getreten, damit diese in der dortigen weder das Thema vergeben, noch die Arbeit – Presse die Rechtslage zwischen der Orgesch abgesehen von der Schlussphase – betreut. und den preussischen Verwaltungs-Behörden Erwähnung finden sollen hier zwei positive Bei- erörtern und ihre Ansichten über diese Materie spiele: Im März 1926 beurteilte Otto Eger die mir mitteilen“.25 Im weiteren Verlauf des Doku- Dissertation, die Esra Hildesheimer zum Thema mentes kommt Otto Eger nicht mehr vor. Als „Das jüdische Gesellschaftsrecht“ angefertigt „Hauptstütze“ wird er, wie Nußers Ausfüh- hatte. In seinem Gutachten beantragte Eger rungen Glauben machen, nicht einmal er- die Annahme der Arbeit und urteilte abschlie- wähnt. Bei Boumann wiederum wird 1990 aus ßend: „Die Arbeit steht, was wissenschaft- der „Hauptstütze“ Eger der „Vertrauens- lichen Ernst, Umfang der Kenntnisse und Fä- mann“26 der OrgEsch. higkeit zu klarem Denken anlangt, erheblich So wird aus einem anfänglichen „Briefkon- über dem Durchschnitt der Dissertationen.“29 takt“ zunächst abgeleitet, Eger sei eine „Haupt- Darüber hinaus zeigte sich Eger im Hinblick auf stütze“ gewesen, dann wird aus der „Haupt- den Prüfungstermin äußerst konziliant und stütze“ der „Vertrauensmann“ und schließlich setzte sich für einen in den Semesterferien ge- bei Reimann das „historisch unbestreitbare legenen Tag ein, damit der Doktorand pünkt- Faktum“ seiner Mitgliedschaft. Diese Fakten lich zum Beginn des Rabbiner-Seminars wieder sind indes nicht vorhanden: Immer wieder wer- in Berlin sein konnte. Und als der anberaumte den Annahmen, Vermutungen und Interpreta- Termin wegen einer akuten Erkrankung von Es- tionen nicht als solche gekennzeichnet, und – ra Hildesheimer noch einmal verlegt werden schlimmer noch – als Tatsachen dargestellt. musste, war Eger auch hierzu bereit.30 Und auch im zweiten Fall eines jüdischen Dok- Doktorvater in schwierigen Zeiten toranden verhielt sich Eger kaum anders: Szmuel Chononowicz reichte 1930 die Disser- Zu dem einseitigen Bild, das diese Autoren tation „Das Arbeitsrecht im Talmud“ ein. In sei- zeichnen, passt auch, was 1990 der damalige nem Gutachten sprach Eger im Vergleich zu StuPa-Vorsitzende Frank Sygusch Eger vorwarf: zwei älteren Publikationen zum nämlichen The- er habe „durch die Betreuung von wissen- ma von einem „sehr wesentlichen Fortschritt“ schaftlichen Arbeiten, in Stellungnahmen und und lobte die „selbständigen Ergebnisse“ der Gutachten, in den 30er und 40er Jahren natio- Arbeit, und sein abschließendes Urteil lautete: nasozialistische [sic], völkische, rassistische und „Im ganzen kann die Arbeit als eine sehr sorg- antisemitische Denkfiguren gefördert“.27 In fältige und gründliche Bearbeitung des Themas einem im „Asta-Info“ abgedruckten Gespräch bezeichnet werden, welche den Anforde- erläutert Sygusch dies näher und bezieht sich rungen, die an eine Dissertation zu stellen sind,

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025-036_Gruhne.indd 29 08.06.10 10:16 vollständig genügt.“31 Tatsächlich promoviert Ordinarius erfolgte, läßt dieses Verhalten eher wurde Szmuel Chononowicz erst drei Jahre als eine unnötige Verbeugung gegenüber dem später am 3. August 1933, und damit nach der NS-Regime erscheinen mit einer nicht zu unter- „Machtübernahme“ durch die Nationalsozia- schätzenden politischen Integrations- und Legi- listen. Rassistische oder antijüdische Vorbehalte timationswirkung.“33 Überzeugend ist diese sind in beiden Gutachten eindeutig nicht fest- Argumentation nicht, denn sie gibt keine Ant- stellbar. wort auf die Frage, warum die „Verbeugung“ Eger hat während seiner Gießener Jahre an die erst so spät erfolgte. In Egers Entnazifizierungs- 250 Dissertationen als Doktorvater betreut, da- verfahren gibt es aber einen Hinweis auf eine von 72 allein zwischen 1933 und 1945. Eine mögliche Ursache. genauere Untersuchung dieser Arbeiten steht noch aus: Aufgrund der zu bewältigenden Die William-G.-Kerckhoff-Stiftung Quantität, der außerordentlichen Themenviel- in Bad Nauheim falt und des erforderlichen Spezialwissens auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte stellt dies Seit 1930 war Eger stellvertretender Vorsitzen- keine leichte Aufgabe dar, und sie kann nur im der der Kerckhoff-Stiftung in Bad Nauheim. Rahmen einer eigenständigen umfangreichen 1933 fiel ihm de facto die Leitung zu, nachdem Studie in Angriff genommen werden. Nur so ist der Vorsitzende Franz Groedel, weil er Jude zu klären, ob man Eger tatsächlich im einen war, in die Vereinigten Staaten übersiedelt war. oder anderen Fall Mangel an kritischer Distanz Im Spruchkammerurteil der Stadt Gießen vom zu explizit nationalsozialistischen Rechtsauffas- 2. 9. 1946 wird Otto Eger – unter anderem we- sungen oder gar deren aktive Förderung vor- gen seines Engagements für die renommierte werfen kann. Stiftung und das aus ihr 1931 hervorgegan- Als strammer Nationalsozialist kann er auf je- gene Herzforschungsinstitut – in die Gruppe V den Fall noch 1939 nicht gegolten haben, denn der Entlasteten eingereiht. Zur Begründung als Rektor Kranz Eger als Dekan für die juris- heißt es dort, er sei in die Partei eingetreten, tische Fakultät vorschlug, musste er dies vor „um das Institut von einem Nazivorsitzenden dem Reichsstatthalter rechtfertigen: „Die Aus- zu verschonen und dieses durch die Nazizeit im wahl der betreffenden Professoren ist gering, nichtnazistischen Sinne durchzusteuern, getreu da gerade unter den m. E. geeigneten Profes- seinem Versprechen, dass [sic] er Frau Kerck- soren sich ein grösserer Teil bei der Wehrmacht hoff gelegentlich ihres Besuches 1937 in befindet und daher im Augenblick nicht zur Deutschland gegeben hat“.34 Verfügung steht,“32 schrieb der Nationalsozia- Die weitere Entwicklung, wie sie den Akten des list Kranz, und fügte hinzu: „(ist vorläufig noch Kerckhoff-Instituts zu entnehmen ist, bestätigt nicht Parteigenosse, wird sich aber m. W. in die Egers Einsatz für die Stiftung. Auf Dauer ließ Partei anmelden), Professor Eger hat sich nach sich jedoch die Einflussnahme durch die Politik Auskünften älterer Parteigenossen seit vielen nicht verhindern. Im Juli 1940 wurde eine Jahren Verdienste um die Universität erworben schriftlich festgehaltene Vereinbarung getrof- und besitzt zur Zeit unter den Giessener Profes- fen, mit der der Einfluss der Universität Gießen soren die größte Sachkenntnis.“ Offensichtlich – und damit seines nationalsozialistischen Rek- war Eger nicht die erste Wahl, sondern nur der tors Kranz – auf das Institut vergrößert wurde: Ersatzkandidat. „In Zukunft“, heißt es dort unter Punkt 1, „soll Neun Monate später beantragte Eger seine der Dekan der Medizinischen Fakultät Giessen Aufnahme in die NSDAP. Peter Chroust urteilt: von allen Angelegenheiten des Kerckhoff-Insti- „Daß der Eintritt in die Partei nach Entfesse- tuts, soweit sie irgendwie die Belange der Uni- lung des Zweiten Weltkrieges, nach dem Erlaß versität Giessen berühren, in Kenntnis gesetzt der Nürnberger Gesetze und nach der Reichs- werden, bevor sie dem Kuratorium der Kerck- pogromnacht, im relativ ‚geschützten‘ Alter hoff-Stiftung vorzulegen sind“.35 Außerdem von 63 Jahren und am Ende einer Karriere als mussten künftig alle Kuratoriumsmitglieder,

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025-036_Gruhne.indd 30 08.06.10 10:16 die auch der Universität angehören, eine ein- cha dem Transport in Kassel entfliehen konn- heitliche Meinung im Kuratorium vertreten. te“.38 Ob Paula Zycha verschleppt, wie von Unter Punkt 4 heißt es dann: „Kommt in der ihrem Mann im Entnazifizierungsfragebogen Vorbesprechung eine Einigung nicht zustande, angegeben39, oder tatsächlich von Otto Eger so ist die Angelegenheit dem Rektor der Uni- versteckt wurde, kann wahrscheinlich nicht versität Giessen vorzulegen, der bindend für al- mehr eindeutig geklärt werden. Im Universi- le Beteiligten entscheidet.“ Damit lag faktisch tätsarchiv in Bonn hat sich jedoch eine auf- – jedenfalls im Hinblick auf die Kuratoriumsmit- schlussreiche Postkarte mit Gießener Poststem- glieder aus dem Kreis der Universität – die Ent- pel erhalten, die Adolf Zycha am 25. November scheidungsmacht in den Händen des Rektors 1944 an das Dekanat der juristischen Fakultät der Ludoviciana. Bezeichnend ist auch der letz- der Universität Bonn schrieb: „Ich habe am ver- te Absatz: „Diese Vereinbarung gilt zunächst gangenen Mittw. meine Bonner Wohnung ver- nur für die Zeit, während Prof. Kranz Rektor der lassen. Meine Adresse ist bis auf weiteres die Universität und Prof. Riehm Dekan der medizi- obige (bei Prof. Eger). In Aussicht genommen nischen Fakultät sind.“ Die Vereinbarung ist ist meine aushilfsweise Beteiligg. am hiesigen auf den 5. Juli 1940 datiert: Otto Eger hat sei- Fakultätsbetrieb“.40 Warum sollte sich Adolf nen Aufnahmeantrag in die NSDAP drei Tage Zycha, der von 1919 bis 1923 Professor in Gie- später gestellt. Ein Zufall? ßen gewesen war, genau zu dem Zeitpunkt bei Doch der Prozess der Gleichschaltung ging noch Otto Eger aufhalten, zu dem seine Frau „ver- weiter: Über zwei Jahre später, am 11. Dezem- schleppt“ wurde? Und warum sollte ein Mann, ber 1942, wurden Louise Kerckhoff und drei der nicht Parteimitglied war, der den National- weitere Kuratoriumsmitglieder aus Los Angeles sozialisten bekanntermaßen fern stand, und ersetzt, „da ein Verkehr mit dem feindlichen der mit einer Nichtarierin verheiratet war, sich Ausland nicht möglich ist“ und sie „an der Aus- ausgerechnet zu einem überzeugten Anhänger übung ihrer Rechte als Kuratoriumsmitglieder Hitlers nach Gießen retten, anstatt in seiner verhindert sind“.36 Und am 9. Januar 1943 teilte Bonner Wohnung auszuharren, bis seine ver- Otto Eger dem Amtsgericht Bad Nauheim mit, schleppte Frau zurückkehrt?41 dass der Reichsgesundheitsführer, Staatssekre- tär Conti, als weiteres Mitglied für das Kuratori- Rettungsversuche: Der Studentenvater um „Herrn Oberregierungsrat Dr. Friedrich Mai- und die Alma Mater nach 1945 er, Berlin Reichministerium des Inneren, Medizi- nalabteilung, benannt“ habe.37 Er wurde „an Ein halbes Jahr später war der Krieg zu Ende, Stelle des in Amerika weilenden Professor Dr. und der 68-jährige Eger engagierte sich erneut Franz Groedel als Ersatzmitglied“ bestellt. Diese für seine Universität: 1946 wurde er zum Son- Gleichschaltung, die 1940 begann und zum Jah- derbeauftragten der Hessischen Landesregie- reswechsel 1942/43 abgeschlossen war, lässt die rung für die Überführung der Universität Gie- im Spruchkammerurteil angeführte Begründung ßen in eine Hochschule ernannt. Im Zusam- für Egers (späten) Parteieintritt plausibel – und menhang mit dieser Tätigkeit ist er dann in den nicht, wie so oft, als nachträglich konstruiert – 90er Jahren einmal mehr in die Kritik geraten. erscheinen. Er soll, so der Vorwurf, seine Position dazu Im Spruchkammerurteil von Otto Eger heißt es missbraucht haben, freie Stellen für alte Natio- außerdem: „Besonders entlastend für den Be- nalsozialisten freigehalten zu haben. Peter troffenen ist seine Hilfeleistung politisch Ver- Chroust bezieht sich auf eine Beschwerde des folgten gegenüber. So hat er im Herbst 1944 Personalrats der Gießener Hochschulklinik die Frau seines Kollegen Prof. Dr. Zycha, die als beim hessischen Kultusministerium und Nichtarierin von der Gestapo in Bonn verhaftet schreibt: „Noch über zwei Jahre nach wurde und in einem Transport nach Nord- Kriegsende waren fast sämtliche Klinikslei- deutschland verschickt werden sollte, in sei- tungen unbesetzt. Wie der Betriebsratsvorsit- nem Hause aufgenommen, nachdem Frau Zy- zende Wagner vermutete, wurden diese Positi-

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025-036_Gruhne.indd 31 08.06.10 10:16 Abb. 3: Postkarte von Adolf Zycha an das Dekanat der juristischen Fakultät der Universität Bonn vom 25. 11. 1944 (Ab- bildungsnachweis: Universitätsarchiv Bonn, PA 12049 Adolf Zycha)

onen freigehalten ‚bis zur politischen Durch- Rechtswissenschaftler Otto Eger, wurde beson- schleusung‘ der in Wartestellung verharrenden ders hingewiesen.‘“44 Wird bei Chroust noch bisherigen Leiter, da Wiederberufungen erst eine „Vermutung“ des Betriebsratsvorsitzen- nach Abschluß des Spruchkammerverfahrens den Wagener (so die korrekte Schreibweise) er- erfolgen konnten“.42 Und weiter führt er aus: wähnt, so ist bei Jatho daraus bereits ein Fak- „Auf die Behinderungen durch den Sonderbe- tum geworden, und er formuliert, „daß die ns- auftragten für die Überleitung der Gießener belasteten Professoren [...] wieder in ihre Universität in eine Hochschule, den Rechtswis- Positionen einrückten“. Steht in der Quelle tat- senschaftler Otto Eger, wurde besonders hin- sächlich „Auf die Behinderungen durch den gewiesen“.43 Sonderbeauftragten für die Überleitung der Ein paar Jahre später findet Chrousts Beobach- Gießener Universität in eine Hochschule, den tung noch einmal Eingang in Jörg-Peter Jathos Rechtswissenschaftler Otto Eger, wurde beson- Publikation über das Gießener Freitagskränz- ders hingewiesen“? Das ist kaum vorstellbar. chen: „Als sich 1947 der Personalrat der Uni- Das von Chroust und Jatho zitierte Dokument versität darüber beschwerte, daß die ns-belas- ist ein Schreiben des „Betriebsrats der kli- teten Professoren entgegen den ausgespro- nischen Universitätsanstalten, Wagner, an Mi- chenen Intentionen der Entnazifizierung wieder nisterium für Kultus und Unterricht, 15. 9. in ihre Positionen einrückten, heißt es über Pro- 1947“.45 Die Autoren erwähnen nicht, wo es fessor Eger: ‚Auf die Behinderungen durch den sich heute befindet und einzusehen ist. Sonderbeauftragten für die Überleitung der Im Bestand des Hessischen Hauptstaatsarchivs Gießener Universität in eine Hochschule, den Wiesbaden haben sich Akten zu diesen Vor-

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025-036_Gruhne.indd 32 08.06.10 10:16 Abb. 3: Rückseite der Postkarte von Adolf Zycha mit dem handschriftlichen Wortlaut (Abbildungsnachweis: Universitäts- archiv Bonn, PA 12049 Adolf Zycha)

gängen erhalten. Das Schreiben vom 15. 9. gelegten gelben und weissen politischen Fra- 1947 findet sich jedoch nicht darunter.46 Ande- gebögen vom 6. 10. 1945 und 6. 12. 1945 re Schriftstücke belegen aber, dass es 1947 tat- nicht enthalten“. Wegen des Verdachts der sächlich Auseinandersetzungen zwischen dem Fragebogenfälschung erbittet Eger eine Stel- Betriebsrat der klinischen Universitäts-An- lungnahme. Eine Suspendierung vom Dienst stalten und dem Sonderbeauftragten Eger ge- spricht er vorläufig „aus dienstlichen Gründen“ geben hat. In einem dokumentierten Fall ging nicht aus. Sie folgt jedoch mit Schreiben vom es um die Ernennung eines Mediziners zum 4. 9. 1947 an die Verwaltungsdirektion der kli- Oberarzt an der Frauenklinik. Im Zusammen- nischen Univ.-Anstalten: Eger suspendiert den hang mit der Ernennung, so berichtet Eger am Arzt „bis zum Eingang des angeforderten Ent- 25. 8. 1947 (also zeitlich vor dem zitierten Be- scheids des Ministeriums über das weitere Ver- schwerdebrief des Betriebsrates) an die Verwal- fahren“.48 Bereits am 12. 9. 1947 erhält Eger tungsdirektion der klinischen Universitäts-An- die Nachricht, dass die Landesmilitärregierung stalten, „ergab sich die Notwendigkeit, die von die politischen Verhältnisse des Oberarztes ihm in politischen Fragebögen gemachten An- überprüft habe, und zu dem Schluss gekom- gaben nachträglich zu überprüfen“.47 Diese men sei, dass „nichts Nachteiliges“ gegen ihn Überprüfung ergab zunächst eine zeitweilige vorliege: „Damit entfällt jeder Anlass zur Sus- Mitgliedschaft in der SA: „Dienstgrad: SA- pendierung [...]“.49 Mann“. Außerdem gehörte der Überprüfte Die Auseinandersetzungen um den Oberarzt dem „NS.Ärztebund seit 1. 8. 1939“ an. Diese waren auch noch in weiterer Hinsicht nicht oh- Angaben seien in den von dem Mediziner „vor- ne Brisanz: Am 20. 3. 1947 wurde dieser zum

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025-036_Gruhne.indd 33 08.06.10 10:16 kommissarischen Leiter der Frauenklinik er- 04 Vgl. Kaser, 1982, S. 188. 05 nannt, war aber gleichzeitig, darauf weist Eger Vgl. u.a. Gießener Anzeiger vom 18. 10. 1937 „Prof. Dr. Eger 60 Jahre alt“: „[...] wurde Professor Eger in einem Schreiben an den Verwaltungsdirek- schon bald nach dem Beginn seiner sozialen Fürsorge- tor der Kliniken am 28. 10. 1947 hin50, Mitglied tätigkeit von den Studenten der Ehrentitel ‚Studen- des Betriebsrates. Aus diesem Grund wurde tenvater‘ gegeben [...]“. 06 Gießener Anzeiger vom 1. 12. 1989. diese Betriebsvertretung, wie Eger weiter aus- 07 Jatho, Jörg-Peter: „Weißgewaschen“, Leserbrief im führt, vom Ministerium nicht anerkannt, die Gießener Anzeiger, 5. 12. 1989. Betriebsratswahl war zu wiederholen. Die Aus- 08 Zitiert nach dem Artikel: „Studenten auf den Spuren Otto Egers. Weiteres Kapitel zur ‚Aufarbeitung‘ der einandersetzungen nahmen schließlich zu und JLU-Geschichte? – Thema in StuPa und Konvent“, in: entzündeten sich an der Frage, ob ein kommis- Gießener Allgemeine vom 20. 1. 1990. sarischer Leiter über die uneingeschränkten Be- 09 Gießener Allgemeine vom 20. 1. 1990. 10 fugnisse eines Direktors, auch in personellen Jatho/Simon 2008, Jatho, 1995, und: Jatho, 2005, sowie: Reimann 2007, Reimann/Albach/Boumann/ Angelegenheiten, verfüge. Eger bejahte dies Fieberg/Meinl, 1990, Reimann/Boumann/Meinl/Metz, und schlussfolgerte: „Demnach verstößt die 1994 (exakte Angaben im Literaturverzeichnis). Kandidatur wie die Zugehörigkeit [...] zum Be- 11 Peter Gruhne: Otto Eger: „Herzensguter Mensch“, Mitläufer oder „Nazi“?, in: Mitteilungen des Ober- triebsrat der klinischen Anstalten gegen Sinn hessischen Geschichtsvereins, Bd. 93, 2008, S. 267– und Zweck des Artikels 37 der Verfassung des 328. Landes Hessen und gegen die Bestimmungen 12 Vgl.: Universitätsarchiv Gießen, PrA, Personalakte des Gesetzes Nr. 22 des alliierten Kontrollrates Eger. 13 Vgl. Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Bei- 51 vom 10. 4. 1946“. Der Betriebsratsvorsitzen- lage Nr. 8, vom 8. Mai 1918, S. 85. de Wagener könnte also allen Grund gehabt 14 Vgl. hierzu z. B.: Rosenwald, 2002. 15 haben, Eger zu diskreditieren, obwohl (oder Reimann, 2007, S. 59. 16 Den falschen Bezug hat Reimann inzwischen korri- weil) dieser sich, wie die Aktenlage zeigt, abso- giert, vgl. http://www.bruno-w-reimann.de lut korrekt und insgesamt tadellos verhalten 17 Brief Otto Egers vom 4. April 1920 an den Rektor der hatte: Peter Chrousts und Jörg-Peter Jathos Universität Marburg, Universitätsarchiv Marburg, 305a, Nr. 77 (Microfiche). Die Hervorhebungen vom Darstellung vermittelt ein ebenso einseitiges Autor. wie falsches Bild. 18 Jatho/Simon, 2008, S. 84. 19 Reimann, 2007, S. 60. 20 Jatho, Jörg-Peter: „Weißgewaschen“, Leserbrief im Fazit und Ausblick Gießener Anzeiger, 5. 12. 1989. 21 Jatho, 22005, S. 229. Otto Eger hat nicht, wie sein berühmter Gieße- 22 Boumann, 1990, S. 27–59. ner Kollege, der Theologe Gustav Krüger, all 23 Nußer, 1973, S. 184. 24 Im maschinenschriftlichen Original nicht eindeutig zu seine öffentlichen Verpflichtungen aufgege- entziffern. ben. Er hat sich arrangiert und ist Kompromisse 25 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München/Bayerisches eingegangen. Er ist nicht aus seinem weit- Kriegsarchiv, Einwohnerwehren/Organisation Esche- rich, Bd. 5/A 3b (Blatt 79). verzweigten Netzwerk ausgestiegen und hat 26 Boumann, 1990, S. 42. weiterhin universitäre und öffentliche Ämter 27 Zitiert nach dem Artikel: „Studenten auf den Spuren bekleidet. Das mag ihm vorhalten, wer immer Otto Egers...“, in: Gießener Allgemeine vom 20. Janu- sich dazu berufen fühlt. Die bislang zusam- ar 1990. 28 Die Promotionsakten im Universitätsarchiv Gießen, Jur mengetragenen Fakten reichen indes nicht für Prom 915 (die maschinenschriftliche Dissertation in eine öffentliche Verurteilung; für eine differen- der Universitätsbibliothek). zierte Beurteilung im historischen Kontext mö- 29 Die Zitate von Egers „Bericht über die Dissertation des cand. iur Esra Hildesheimer“ vom 25. März 1926 im gen sie in der hier vorliegenden und punktuell Universitätsarchiv Gießen, Jur Prom 637. ergänzten Fassung eine erste Basis darstellen.52 30 Vgl. Universitätsarchiv Gießen, Jur Prom 637. 31 Universitätsarchiv Gießen, Jur Prom 704. 32 Anmerkungen: Schreiben des Rektors der Ludwigs-Universität Hein- rich Wilhelm Kranz an den Reichsstatthalter in Hessen 01 Kaser, 1949, S. 103. vom 19. 10. 1939, Universitätsarchiv Gießen, PrA Nr. 02 Weber, 1950, S. 623. 98. daraus auch die folgenden Zitate. Für den Hinweis 03 Engisch, 1957, S. 24. danke ich Eva-Marie Felschow.

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025-036_Gruhne.indd 34 08.06.10 10:16 33 Chroust, 1994, S. 296f. Im Spruchkammerurteil, Uni- 52 Mehr als eine Anmerkung: Mein Dank geht an die Lei- versitätsarchiv Gießen, PrA 2159 und im Entnazifizie- terin des Universitätsarchivs Gießen, Dr. Eva-Marie Fel- rungsfragebogen von Otto Eger, Universitätsarchiv schow, und an Torsten Dette, der mich auch im Archiv Gießen, wird der Parteieintritt mit 1941 angegeben, der William-G.-Kerckhoff-Stiftung unterstützte. Für wahrscheinlich weil die Mitgliedskarte am 1. Septem- die freundliche Genehmigung, das Archiv der Stiftung ber 1941 ausgestellt worden war. Tatsächlich bean- konsultieren zu dürfen, danke ich dem Vorstand der tragte Eger die Aufnahme mit Datum vom 8. Juli William-G.-Kerckhoff-Stiftung und ihrem damaligen 1940, wirksam wurde die Aufnahme am 1. Oktober Vorsitzenden Prof. Dr. Wolfgang Koenig. An Barbara desselben Jahres, vgl. Bundesarchiv Berlin (ehemals Zimmermann vom Bildarchiv der Universität Gießen Berlin Document Center), NSDAP-Zentralkartei. Zum geht mein Dank für die Bereitstellung der Fotografien Thema auch: Jatho, 1995, S. 188, der Chroust zitiert. von Otto Eger. 34 Universitätsarchiv Gießen, PrA 2159. 35 Vereinbarung vom 5. Juli 1940, Archiv der William-G.- Kerckhoff-Stiftung, Nr. 104, die weiteren Zitate aus Ungedruckte Quellen: diesem Dokument. 36 Abschrift eines Beschlusses vom 11. Dezember 1942, Archiv der William-G.-Kerckhoff-Stiftung: Nr. 1, 104, Aktenzeichen II 8/42, Amtsgericht Bad Nauheim, Ar- 124, 185, 724, 726. chiv der William-G.-Kerckhoff-Stiftung, Nr. 124. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München/Bayerisches 37 Schreiben von Otto Eger an das Amtsgericht Bad Nau- Kriegs archiv: Einwohnerwehren/Organisation Esche- heim vom 9. 1. 1943, Archiv der William-G.-Kerck- rich, Bd. 5/A 3b (Blatt 79). hoff-Stiftung, Nr. 124. Bundesarchiv Berlin (ehem. BDC), NSDAP-Zentralkartei 38 Universitätsarchiv Gießen, PrA 2159. (Otto Eger). 39 Entnazifizierungsfragebogen vom 1. Juni 1946, Uni- Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Abt. 504, versitätsarchiv Bonn, PA 12049 (Adolf Zycha). 1078. 40 Universitätsarchiv Bonn, PA 12049 (Adolf Zycha). Universitätsarchiv Bonn: PA 12049 (Adolf Zycha). 41 Jörg-Peter Jatho und Gerd Simon weisen im Hinblick Universitätsarchiv Gießen: Jur Prom 637; 704, 915; PrA auf Otto Egers Schwiegersohn, den Historiker Rudolf 98; 581; 703; 2056; 2159; Personalakte Eger. Stadelmann, auf Kontakte hin, die die Familie Stadel- Universitätsarchiv Marburg: 305a, Nr. 77. mann zu ungarischen Juden während des 2. Welt- kriegs hatte, und kommentieren dies: „Ein über- zeugter Nationalsozialist hätte wohl kaum eine Bezie- Literatur: hung zum ‚verachteten‘ jüdischen Volk während des Boumann, Heiko: Zur Entwicklung des Antisemitismus Krieges aufgebaut (vgl. Jatho/Simon, S. 216). Auffällig und der rechtsradikalen Gruppen in der Gießener Regi- ist ganz grundsätzlich, dass die Autoren mit Rudolf on 1890 bis 1933, in: Reimann, Bruno W., Angelika Al- Stadelmann sensibler umgehen als mit Otto Eger und bach, Heiko Boumann, Ralf Fieberg, Susanne Meinl: auch zu einem moderateren Urteil finden. Antisemitismus und Nationalsozialismus in der Gieße- 42 Chroust, 1994, S. 322. ner Region. Katalog auf der Basis der Ausstellung, Ma- 43 Chroust, 1994, S. 322. 44 Jatho, 1995, S. 188 f. terialien zur sozialen und politischen Geschichte, Bd. 2, 45 Chroust, 1994, S. 488, Anm. 261, siehe auch: Jatho, Gießen 1990 (Privatdruck), S. 27–59. 1995, S. 189, Anm. 440. Chroust, Peter: Gießener Universität und Faschismus. 46 Es handelt sich um den Aktenbestand Abt. 504, 1078. Studenten und Hochschullehrer 1918–1945 (zugl. Im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Univ. Gießen, Diss. 1993), Münster, New York 1994. 47 Der Sonderbeauftragte an die Verwaltungsdirektion Corps Teutonia zu Gießen 1839–1935, Gießen [1939]. der klinischen Universitäts-Anstalten Giessen, Brief Engisch, Karl: Gießener Juristen der letzten 100 Jahre, in: vom 25. 8. 1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wies- Ludwigs-Universität. Justus-Liebig-Hochschule 1607– baden, Abt. 504, 1078, die folgenden Zitate aus die- 1957. Festschrift zur 350-Jahr-Feier, Gießen 1957, sem Schreiben. S.17–30. 48 Schreiben des Sonderbeauftragten an die Verwal- Frontabschnitt Hochschule. Die Gießener Universität im tungsdirektion der klinischen Univ.-Anstalten vom Nationalsozialismus. Mit Beiträgen von Hans-Jürgen 4. 9. 1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Böhles, Peter Chroust, Ralf Fieberg, Udo Jordan, Ernst Abt. 504, 1078. Meredig, Wolfgang Pusch, Brigitte Reifenrath, Bruno 49 Schreiben an den Sonderbeauftragten Eger vom 12. W. Reimann, Christine Schröder, Gießen 1982. 9. 1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Geschichte des Corps Hassia Gießen zu Mainz 1815– Abt. 504, 1078. 1965, Gießen (Selbstverlag der Alten Herren) 1965. 50 Schreiben des Sonderbeauftragten an den Verwal- Gießener Allgemeine: 20. 1. 1990 „Studenten auf den tungsdirektor der klinischen Anstalten vom 28. 10. Spuren Otto Egers. Weiteres Kapitel zur ‚Aufarbeitung‘ 1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. der JLU-Geschichte? – Thema in StuPa und Konvent“. 504, 1078. Gießener Anzeiger: 11. 6. 1923. 51 Schreiben des Sonderbeauftragten an das Ministeri- Gießener Anzeiger: 18. 10. 1937 „Prof. Dr. Eger 60 Jah- um für Kultus und Unterricht in Wiesbaden vom 22. re alt“. 11. 1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Gießener Anzeiger: 1. 12. 1989 „Kranz für Grab Otto Abt. 504, 1078. Egers: Uni verspricht Überprüfung“.

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025-036_Gruhne.indd 35 08.06.10 10:16 Gießener Anzeiger: 5. 12. 1989 „Weißgewaschen“ Reimann, Bruno W., Angelika Albach, Heiko Boumann, (Jörg-Peter Jatho). Ralf Fieberg, Susanne Meinl: Antisemitismus und Nati- Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Beilage Nr. onalsozialismus in der Gießener Region. Katalog auf 8, vom 8. Mai 1918, S. 85. der Basis der Ausstellung, Materialien zur sozialen und Jatho, Jörg-Peter, Dr. Gerd Simon: Gießener Historiker im politischen Geschichte, Bd. 2, Gießen 1990 (Privat- Dritten Reich, Gießen (Focus Verlag) 2008. druck). Jatho, Jörg-Peter: „Weißgewaschen“, Leserbrief im Gie- Reimann, Bruno W., Heiko Boumann, Susanne Meinl, ßener Anzeiger, 5. 12. 1989. Bettina Metz: Zur Vorgeschichte, Entwicklung und Jatho, Jörg-Peter: Das Gießener „Freitagskränzchen“. Durchsetzung der nationalsozialistischen Bewegung, Dokumente zum Mißlingen einer Geschichtslegende – Ideologie und Organisation in Gießen 1918–1933 (In- zugleich ein Beispiel für Entsorgung des Nationalsozia- stitut für Soziologie. Materialien und Analysen zur so- lismus, Fulda 1995. zialen und politischen Geschichte Gießens, hg. von Jatho, Jörg-Peter: Der Gießener Goethe-Bund. Eine Be- Reimann, Bruno W., Bd. 1/Teil 1, Gießen 1994. standsaufnahme zum öffentlichen Literaturbetrieb in Reimann, Bruno W.: Avantgarden des Faschismus. Stu- Weimarer Republik und NS-Zeit, Gießen 22005 (Erst- dentenschaft und schlagende Verbindungen an der auflage: 2004). Universität Gießen 1918–1937. Analyse (= Materialien Kaser, Max: Otto Eger. (1877–1949)/Jurist, in: Gießener und Analysen zur politischen Geschichte Gießens), Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2007. Hans Georg Gundel, Peter Moraw, Volker Press, Hgg., Reimann, Bruno W.: Homepage http://www.bruno-w- 1. Teil (= Veröffentlichungen der Hist. Kommission für reimann.de Hessen in Verbindung mit der Justus-Liebig-Universität Rosenwald, Walter: Das Studentencorps Marburg 1920 Gießen, Bd. 35, Lebensbilder aus Hessen, 2. Bde.), im Kapp-Lüttwitz-Putsch und in Thüringen und die Rol- Marburg 1982, 2. Bd., S. 188–195. le des Corps Hasso-Nassovia, in: Nassauische Annalen. Kaser, Max: Otto Eger †, in: Nachrichten der Gießener Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde Hochschulgesellschaft, Bd. 18, 1949, S. 94–103. und Geschichtsforschung, Bd. 113, 2002, S. 421–434. Meinl, Susanne: Ein konservativer Revolutionär in der Sievers, Hermann: Das Corps im Kampf gegen die inne- Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ – Eine poli- ren Feinde, in: Corps Teutonia..., S. 125–142. tisch-biographische Skizze des Friedrich Wilhelm Heinz Sygusch, Frank, in: Universität und Nationalsozialismus. Ein 1918 bis 1945. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlan- Gespräch mit dem Präsidenten des StudentInnenparla- gung des Magistergrades im Fachbereich Geschichts- ments Frank Sygusch über die öffentlichen Präsentati- wissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, 7. onsformen von Geschichte und das soziale Gedächtnis März 1990 (unpublizierte Arbeit). an der Universität Gießen, in: Asta-Info Nr. 3, 7. 2. 1990. Nußer, Horst: Konservative Wehrverbände in Bayern, Weber, Friedrich: „Otto Eger †“, in: Zeitschrift der Savi- Preußen und Österreich 1918–1923 mit einer Biogra- gny-Stiftung für Rechtsgeschichte, hrsg. von Heinrich phie von Forstrat Georg Escherich 1870–1941, Mün- Mitteis u.a., 67. Bd (LXXX Band der Zeitschrift für chen 1973. Rechtsgeschichte), Romanistische Abt., Weimar 1950, S. 623–627. Panorama. 400 Jahre Universität Gießen. Akteure, Schauplätze, Erinnerungskultur, hrsg. im Auftrag des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität von Horst Kontakt: Carl, Eva-Marie Felschow, Jürgen Reulecke, Corinna Sargk, Frankfurt 2007. [email protected]

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025-036_Gruhne.indd 36 08.06.10 10:16 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Joachim Jacob

Schöne Stellen. Über die Sehnsucht nach dem Gelungenen*

Seit je hat das Herausheben von Stellen in Tex- che“, aufzuhelfen,2 muss einer allgemeinen ten, um sie zu erklären, um sie zu bewerten Hermeneutik nach Schleiermacher daran gele- oder auch um an ihnen zu scheitern, das Ge- gen sein, dass „das Verstehen auf jedem schäft der literarischen Hermeneutik bestimmt. Punkt [...] gewollt und gesucht werden Wenn wir Texte nicht gleich verstehen, wir uns [muß].“3 Ist dies klar, dann „werden Stellen mit ihnen herumärgern, machen uns in der Re- nur schwierig, weil man auch die leichteren gel bestimmte Stellen zu schaffen. Aber auch nicht verstanden hat.“4 wenn wir uns an Literatur erinnern, erinnern Sich bei den Erklärungsversuchen von Texten wir uns an Stellen, wenn wir uns über sie unter- auf die „schwierigen Stellen“ zu konzentrie- halten, machen wir uns auf Stellen aufmerk- ren, so kann man Schleiermachers methodische sam. „Die vollständige Lektüre eines Werkes ist Überlegung zu einer solchen „laxeren Praxis“5 die Ausnahme, nicht die Regel“, hält Heinz des Verstehens zusammenfassen, ist naiv. Schlaffer in einem grundlegenden Beitrag zum Denn schwierige Stellen sind gerade darum Thema fest.1 schwierig, weil man ihren Zusammenhang zum Unser alltäglicher wie auch der professionelle Ganzen nicht verstanden hat. „Jedes Verstehen akademische Umgang mit Literatur ist in ho- des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen hem Maße stellengeleitet. Und man kann des Ganzen“,6 lautet dazu ein berühmter frü- noch weitergehen und behaupten, dass sich her Aphorismus Schleiermachers. Die schwie- die verschiedenen Ausprägungen der Herme- rige Stelle entsteht erst dadurch, dass einem neutik, vom kunstmäßigen, von Prinzipien ge- auch das Übrige nicht klar ist, „so werden Stel- leiteten und reflektierten Verstehen also, ge- len nur schwierig, weil man auch die leichteren rade an ihrem Verhältnis zu den Stellen able- nicht verstanden hat.“ Hinter dieser scharfsin- sen und bestimmen lassen. So hat es jedenfalls nigen Überlegung Schleiermachers steht, wie ein großer Hermeneutik-Theoretiker, der The- man ausführlicher zeigen müsste, die roman- ologe, Pädagoge und Übersetzer, Bildungs- tische Überzeugung vom organischen Zusam- und Universitätsreformer Friedrich Daniel Ernst menhang des Ganzen, das eben auch ein Text- Schleiermacher am Anfang des 19. Jahrhun- Ganzes ist.7 derts dargestellt, als er den Unterschied zwi- Schleiermachers Kritik trifft jedoch nicht nur ei- schen einer traditionellen Hermeneutik, wie ne sich allein auf schwierige Stellen stürzende sie seine Zeitgenossen und Vorgänger prakti- Auslegungspraxis. Nein, auch das Herausreißen zierten, und seinem eigenen Neueinsatz in der „kluger Stellen“ ist verwerflich. Ein sehr be- hermeneutischen Reflexion begreiflich ma- rühmtes Opfer eines solchen, vor allem mit chen wollte. Gegen eine ältere Hermeneutik, Klassikern gern gepflegten Umgangs, ist nach die sich damit begnügt habe, nur Mittel an die dem Urteil Schleiermachers Platon geworden, Hand zu geben, um dem Verständnis „schwie- den Schleiermacher bekanntlich ins Deutsche riger Stellen“, womöglich „in fremder Spra- übersetzt hat. Nicht ganz so bekannt ist, dass Schleiermacher durch seine bis heute ge- * Der Beitrag ist der Text meiner für den Druck leicht über- schätzte Übersetzung und Kommentierung der arbeiteten Antrittsvorlesung, gehalten an der Universität Werke Platons tatsächlich wesentlich dazu bei- Gießen am 2. Februar 2010. Er sei den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Germanistik mit herzlichem getragen hat, das zu einem Großteil sich als Dank für die freundliche Aufnahme gewidmet. einzelne Dialoge darbietende Werk Platons tat-

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037-049_Jacob.indd 37 08.06.10 10:14 sächlich als einen, systematischer Deutung zu- Die Stellen-Phobie scheint mir jedoch nicht nur gänglichen Werkzusammenhang aufzufassen ein volkspädagogisches Erbe der Spätaufklärung und zu verstehen zu versuchen. In seiner ersten zu sein, sondern ebenso, wie schon Schlaffer „Einleitung zur Übersetzung des Platon“ (1804) andeutet, ein autonomieästhetisches und ein bestimmt es Schleiermacher darum als zentrale idealistisches Erbe, welche auch Schleierma- Aufgabe, einen inneren Zusammenhang der chers diffizile Kritik der „Stelle“ antritt. Denn es Dialoge Platons zu erweisen,8 und diese nicht sind vor allem die Autonomieästhetik seit dem nur zu „bewundern“ als eine Ansammlung Ende des 18. Jahrhunderts und der Deutsche von Idealismus gewesen, die machtvoll die Vorstel- lung befördert und anspruchsvoll begründet [...] an einen nichtigen Inhalt verschwende- haben, dass Kunstwerke integre, wie verletzbare te [...] Schönheiten der Sprache und Dich- „Körper“ zu behandelnde geschlossene Ein- tung, oder einzelne sogenannte schöne heiten seien. Sie bemühen sich am Ende des 18. Stellen oder sittliche Sprüche und Grund- Jahrhunderts um einen Umgang mit Kunst, der sätze, welches alles einen sehr untergeord- die „individuelle“ Eigenheit eines jeden Kunst- neten, wo nicht gar zweifelhaften Wert an- werks respektiert, und sie fordern ein Verstehen, deutet [...].9 das dessen Einheit wahrt, d. h. jede seiner „Stellen“ als Moment eines Ganzen, einer Idee Gegen den „zweifelhaften Wert“ versprengter erkennt. „sogenannte[r] schöne[r] Stellen“ oder erbau- Friedrich Schiller, wie so oft, erfasst den ganzen licher Merksprüche sei vielmehr, so Schleierma- Problemzusammenhang (ohne ihn zu lösen) cher, neben einer analytisch „zerlegenden“ und versetzt ihn dabei in den Bereich des Schö- Darstellung Platons eine solche zu wünschen, nen. In den „Briefen über die ästhetische Erzie- die den „natürlichen Zusammenhang [seiner hung des Menschen“ schreibt Schiller am Ende Dialoge; J.J.] herstelle, wie sie als immer voll- eines sehr langen, sehr komplizierten Satzes: ständigere Darstellungen seine Ideen nach und „[...] aus Schönheiten Schönheit zu machen, ist nach entwickelt haben“.10 die Aufgabe der ästhetischen [Bildung].“12 Aus Dieser Schleiermacher´sche Verriss der Stelle, einzelnen versprengten Stellen also, die als der schwierigen, der leichten, der schönen oder schön erkannt werden (so, wie es die ältere Li- auch der erbaulichen Stelle, wo ganze Werke teraturkritik praktizierte), aus zahlreichen auf uns warten, war sehr sehr erfolgreich. Der Schönheiten eine einzige Schönheit in der Er- gebildete Kenner goutiert demnach ganze scheinung wie vor allem auch in der Wahrneh- Werke. Der Banause, der nichts weiß oder nur mung werden zu lassen, ist nach Schiller die wenig Zeit hat, reißt Stellen aus ihrem Zusam- Aufgabe der ästhetischen Erziehung. menhang. Und so hat sich auch die literatur- Offenbar war dies ein Programm, das den Ton wissenschaftliche Forschung mit wenigen Aus- der Zeit traf und das Zeug zum Gemeinplatz nahmen, Heinz Schlaffer habe ich genannt, hatte. Wenige Jahre darauf notiert Friedrich nicht mehr so recht mit den „Stellen“ abgege- Schlegel, ohne in der Sache zu widersprechen: ben. Georg Stanitzek hat der Kritik der Stellen- Lektüre um 1800 einen schönen Aufsatz ge- Daß man im Kunstwerke nicht bloß die widmet und für sie nicht allein Schleiermacher, schönen Stellen empfinden, sondern den sondern vor allem ein Kartell „hys terisch be- Eindruck des Ganzen fassen müsse; dieser sorgter“, pädagogisch engagierter und bis Satz wird nun bald trivial sein, und unter heute ihr Unwesen treibender Volkserzieher die Glaubensartikel gehören.13 verantwortlich gemacht, das die selbstbe- stimmte, unbekümmerte, wilde und obsessive Das „Ganze“ lässt sich nicht erfahren Lektüre (als solche feiert Stanitzek das Stellen- Lesen) im Dienste disziplinierender Ganz- Die damit angedeutete idealistische Abwer- schriftenlektüre bekämpft habe.11 tung der Stelle ruht auf einer philosophischen,

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037-049_Jacob.indd 38 08.06.10 10:14 hermeneutischen und theoretisch wohlbe- Misslungene Stellen, gründeten Überzeugung. Aber sie ist nicht zu oder „Homer schläft“ bewähren. Das Ganze, von dem die Theorie spricht, können wir als Ganzes nicht erfahren. Es ist eine sehr menschliche, menschenfreund- Sondern wir erfahren, naiv oder versiert, die liche Beobachtung, dass niemand unausge- Kunst, der Theorie zum Trotz, immer stellen- setzt Höchstleistungen vollbringen kann. Aber weise: so lange, wie unsere Aufmerksamkeit wie ist das bei Genies, bei Dichtern – dem bes- und Konzentration anhält. Schillers hochflie- ten Dichter der Welt etwa? Diese Frage hat sich gende Aufgabenstellung, „aus Schönheiten die Literaturkritik durch die Zeiten hindurch ge- Schönheit zu machen“, ist zu schwer gestellt: stellt und dabei an Homer gedacht, den „ers- „Während des Lesens wird das Gelesene wie- ten“ und nach kanonischem Urteil größten der vergessen; nur die grade vor Augen lie- Dichter der Menschheit. Kann es in seinem genden Wörter und Zeilen sind deutlich im Werk misslungene, schlechte Stellen geben? Bewußtsein des Lesers, die kurz davor gele- Ja, denn auch der beste Dichter der Welt muss senen bereits halb entschwunden.“14 Die Stel- einmal schlafen. Mit dem Schlafbedürfnis auch len-Lektüre oder die Stellen-Betrachtung, das des Größten ist es zu erklären, dass selbst die Stellen-Hören und nicht zuletzt das Stellen- besten Dichtungen noch schwache, misslun- Verstehen sind nichts Banausisches im Vorhof gene Stellen enthalten. „Homer schläft“ ist zu der Kunst (wie Wolfgang Iser gezeigt hat,15 einem geflügelten Wort geworden – und es kann man sogar das Lesen überhaupt als das speist noch Hans Magnus Enzensbergers „Poe- Auffüllen von „Leerstellen“ beschreiben, die sie-Automaten“ aus dem Jahre 1974.16 In der die Texte uns anbieten). In der Liebe zur Stelle bis in die Neuzeit hinein wichtigsten literatur- zeigt sich aber andererseits auch nicht das kritischen Schrift des Abendlands, in der „Ars Aufbegehren gegen finstere disziplinierende Poetica“ des römischen Dichters Horaz, heißt Mächte, sondern unser – einziger – Zugang es, ich zitiere in der deutschen Übersetzung zur Kunst. Christoph Martin Wielands: Die schöne Stelle vertritt dabei im Ensemble der verschiedenen Umgangsformen mit der Kunst [...] und wenn ers [gemeint ist „ein Dichter, die Sehnsucht nach dem Gelungenen, von dem der sich oft verschreibt“; J.J.] gleich auch die Werk-Ästhetiker sprechen. Sie vertritt auch zwei- bis dreimal gut gemacht, be- die Sehnsucht, wie sie diese Sehnsucht zugleich wundre befriedigt. Die schöne Stelle realisiert schöne ich ihn mit Lachen: wie es mich ver- Vollkommenheit, wie sie als Stelle, als ein mehr dreußt, oder weniger kurzer Moment, darauf hindeu- wenn auch Homer sogar zuweilen – nickt; tet, dass uns ein gedachtes Ganze nicht zu- wiewohl man doch in einem großen gänglich ist, weil wir z. B. nicht Gott sind, son- Werke dern in unserer Wahrnehmung immer an die vom Schlaf ja wohl einmal beschlichen Zeit, in unserer Erfahrung immer an einen Ort werden kann!17 gebunden sind. Dass dies so ist, darüber belehrt die Praxis: die Und Quintilian, der große römische Rhetorik- Praxis der Künste und die Reflexion derer, die lehrer und Zeitgenosse des Horaz, erklärt es sich auf diese Praxis einlassen. So möchte ich noch einmal, etwas ausführlicher: zur Erläuterung dieser Thesen ein kleines litera- risches Stellen-Register vorführen, an dessen Aber der Leser darf nicht gleich überzeugt Ende, zum glücklichen Schluss, die schöne Stel- sein, alles, was die Verfasser gesprochen le stehen soll. Das Register lautet: misslungene haben, sei unbedingt vollkommen. Denn Stellen, lustige Stellen, anstößige Stellen, dun- manchmal gleiten sie aus, sind der Last kle Stellen, zumutbare Stellen, rührende Stel- nicht gewachsen und geben dem Genuß len, schöne Stellen. ihres eigenen Talentes nach, auch sind sie

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037-049_Jacob.indd 39 08.06.10 10:14 nicht immer ganz bei der Sache, manch- Lustige Stellen oder „la gaya scienza“ mal werden sie müde: scheint doch dem Cicero zuweilen Demosthenes, ja dem Ho- Dass Stellen witzig sein können, brauche ich raz gar selbst Homer zuweilen im Schlaf zu nicht zu erklären, und dass auch komische Bü- liegen.18 cher noch besonders komische Stellen haben auch nicht (denken wir an die wilde Verfol- In diesem Schlafbedürfnis liegt auch ein gungsjagd, die sich Karlsson vom Dach mit Glück. Denn wie sollte man sonst als Jün - dem Hausbock liefert, denken wir auch an die gerer und Nachgeborener nicht mutlos wer- Stille, die von vertiefter Lektüre herrührt, und den, „dem Früheren noch etwas hinzuzufü- doch immer wieder von Gekicher unterbro- gen“? In einer vom Agon, von Wettkampf chen wird). Dass aber die lustige Stellen-Lektü- und Konkurrenz geprägten Kultur ist, so ler- re auch akademisch höchst vorteilhaft sein nen wir, der stellenweise Schlaf des einen des kann, hat lange vor Friedrich Nietzsches „Fröh- anderen Chance. licher Wissenschaft“ wiederum der für eine Manchmal aber schläft auch nicht der Dich- Phänomenologie der Stelle außerordentlich er- ter, sondern seine Muse. Eben dies lesen wir giebige Johann Wolfgang Goethe gezeigt, ich in Johann Wolfgang Goethes „Erwache Frie- zitiere aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“: dericke“ von 1770/71, wohl nicht ganz ohne Grund erst 1837 aus dem Nachlass publi- „Sagen Sie mir nur“, fragte Wilhelm, „wo ziert: haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehrsam- keit her? Ich höre mit Verwunderung der Erwache Friedericke seltsamen Manier zu, die Sie angenom- men haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen.“ Vertreib die Nacht „Auf die lustigste Weise“, sagte Friedrich, Die einer Deiner Blicke „bin ich gelehrt, und zwar sehr gelehrt Zum Tage macht. worden. Philine ist nun bei mir, wir haben Der Vögel sanft Geflüster einem Pachter das alte Schloß eines Ritter- Ruft liebevoll gutes abgemietet, worin wir wie die Ko- Daß mein geliebt Geschwister bolde aufs lustigste leben. Dort haben wir Erwachen soll eine zwar kompendiöse, aber doch ausge- suchte Bibliothek gefunden, enthaltend ei- Es zittert Morgenschimmer ne Bibel in Folio, Gottfrieds Chronik, zwei Mit blödem Licht Bände Theatrum Europaeum, die Acerra Errötend durch Dein Zimmer Philologica, Gryphii Schriften und noch ei- Und weckt dich nicht. nige minder wichtige Bücher. Nun hatten Am Busen Deiner Schwester wir denn doch, wenn wir ausgetobt hat- Der für Dich schlagt ten, manchmal lange Weile, wir wollten le- Entschläfst Du immer fester sen, und ehe wir‘s uns versahen, ward un- Je mehr es tagt. sere Weile noch länger. Endlich hatte Phi- line den herrlichen Einfall, die sämtlichen Die Nachtigall, im Schlafe Bücher auf einem großen Tisch aufzuschla- Hast Du versäumt: gen, wir setzten uns gegeneinander und So höre nun zur Strafe lasen gegeneinander, und immer nur stel- Was ich gereimt lenweise, aus einem Buch wie aus dem an- Schwer lag auf meinem Busen dern. Das war nun eine rechte Lust! Wir Des Reimes Joch. glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu Die schönste meiner Musen, sein, wo man für unschicklich hält, ir- Du – schliefst ja noch.19 gendeine Materie zu lange fortsetzen oder

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037-049_Jacob.indd 40 08.06.10 10:14 wohl gar gründlich erörtern zu wollen; wir Dunkle Stellen glaubten in lebhafter Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zu Wort kommen Schwierige Stellen, oder wie sie in einer sich läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns re- fast zur Terminologie verfestigten metapho- gelmäßig alle Tage und werden dadurch rischen Redeweise auch genannt werden, nach und nach so gelehrt, daß wir uns „dunkle“ Stellen haben das Verstehen und die selbst darüber verwundern. Schon finden vielzähligen Versuche, das Verstehen zu verste- wir nichts Neues mehr unter der Sonne, zu hen, immer wieder beschäftigt. Der eben zi- allem bietet uns unsere Wissenschaft ei- tierte Schleiermacher ist ein prominentes Bei- nen Beleg an. Wir variieren diese Art, uns spiel dafür. Ich will nur noch ein weiteres, ein zu unterrichten, auf gar vielerlei Weise. besonders interessantes, anführen. Es stammt Manchmal lesen wir nach einer alten ver- von dem Kirchenvater Augustinus, dem wir dorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten auch eine in diesem Zusammenhang nicht un- ausgelaufen ist. Schnell dreht sie das ande- erhebliche, ebenso elegante wie unheimliche re herum und fängt aus einem Buche zu Erklärung des Bösen verdanken, warum Gott, lesen an, und kaum ist wieder der Sand im der allmächtige Schöpfer, es in der Welt und im untern Glase, so beginnt das andere schon Kosmos zugelassen habe: wieder seinen Spruch, und so studieren wir wirklich auf wahrhaft akademische Denn wie ein Gemälde mit der schwarzen, Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben an rechter Stelle [!] angebrachten Farbe, und unsere Studien äußerst mannigfaltig so ist das Weltall, könnte man es nur über- sind.“20 schauen, auch mit den Sündern schön, wie sehr ihnen auch, für sich allein betrachtet, 22 Scharfe Stellen ihre Häßlichkeit Schande macht.

„Anstößige“, will heißen, Stellen erotischen Die Sünder und ihre Sünde gleichen einer Inhalts wären von einer quantitativ-messen- schwarzen Stelle auf einem Bild. Für sich ge - den Literaturwissenschaft vermutlich als die nommen sind sie schrecklich (man denke nur mit Abstand bedeutendste und verbreitetste an die ewige Strafe, die sie erleiden werden). Form der Stellenlektüre zu würdigen. Ihre Dar- Aber in der Gesamtkomposition sorgen sie bietung versage ich mir hier. Aber um den zu für einen schönen Kontrast, sorgen sie dafür, treibenden Aufwand zu optimieren, bietet dass das Ganze nicht langweilig wird. Dem sich natürlich auch für sie die Stellen-Samm- Autor eines solchen Gedankens kann man lung an – deren Lektüre tatsächlich jedoch auch eine gute Erklärung für dunkle Stellen von äußers ter Langeweile ist, eben weil auch in Texten zutrauen, vor allem für den einen und ganz besonders die „scharfe“ Stelle von Text, der nach damaliger Vorstellung bis in ihrem Stellencharakter getragen wird.21 Na- seinen Wortlaut hinein von Gott inspiriert ist, türlich wäre eine, meines Wissens noch zu die Bibel. Kann ein solcher Text „dunkle Stel - schreibende, Geschichte der anstößigen Stelle len“ haben, dessen Autor – anders als viel - auch eine Geschichte der literarischen Zensur, leicht der Heide Homer – niemals schläft? wie auch der Skandal-Produktion, eine Sitten- Nein, so Augustinus in seiner Lehrschrift „De geschichte, eine Geschichte der ästhetischen doctrina christiana“, auch und gerade das Toleranz und vieles mehr – und es ist interes- Dunkle hat seinen guten Sinn. Denn es trai - sant, dass gerade der eingangs zitierte Fried- niert den Verstand und spornt die Gläubigen rich Schleiermacher engagiert für ein seiner- in ihrer Beschäftigung mit der Heiligen Schrift zeit ob seiner vermeintlich anstößigen Stellen an, nach dem verborgenen geistlichen Sinn Furore und Skandal machendes Buch, Fried- zu forschen, und wird schließlich, wenn sich rich Schlegels „Lucinde“ eingetreten ist. Ich sein Sinn doch öffnet, um so süßer mun - komme darauf gleich noch einmal zurück. den.23

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037-049_Jacob.indd 41 08.06.10 10:14 Zumutbare Stellen, Ja, sehen Sie, ich habe ein wenig genascht; oder „Häppchen“-Lektüre aber gar nicht so, wie sie es nicht leiden können, sondern recht consequent [...]. Die einfachste Lösung wäre aber doch mögli- Ich habe mir nämlich alles [...] vorlesen las- cherweise, misslungene, anstößige und vor sen, was von Mädchen in der Lucinde vor- allem schwierige Stellen (von den langweiligen kommt, weil ich [...] behaupte, daß ich das gar nicht zu reden) einfach fortzulassen. Auch verstehen muß, und schon über dieses wenn dies praktisch klingt, handelt man sich Wenige habe ich so viel auf dem Herzen, damit stellentechnisch gesehen jedoch ein daß ich lieber nicht erst damit anfangen neues Problem ein, neue Stellen nämlich. Was möchte.27 kann, was darf, was muss man dem womög- lich noch ungeübten Leser zumuten? Eben die- Aber „consequent“, wie die junge Karoline of- se Frage treibt auch eine stellensensible Litera- fensichtlich ist, fängt sie natürlich sofort damit turdidaktik um, wie Ulf Abraham und Matthis an, und was sie dann im weiteren ihrem Brief- Kepser in ihrer soeben in der dritten Auflage er- partner von der „consequent genaschten“ Lek- schienenen Einführung in die „Literaturdidak- türe über „Geschlechtsdespotismus“ und tik deutsch“ andeuten, wenn sie die Karriere „fürchterlichen Männer-Egoismus“ auseinan- der Behandlung von sogenannten „Ganz- derzusetzen weiß, lässt keinen Zweifel daran, schriften“ im Schulunterricht, der Lektüre von dass die Häppchen mindestens ein kräftiger ungekürzten, längeren Texten also, bespre- Happen waren. Leider erweist sich der als Karo- chen.24 Ausgelöst wurde diese offenbar vor lines Briefpartner nur schlecht maskierte Schlei- allem von der Kritik des Volksschullehrers Hein- ermacher angesichts des reizvollen Eingeständ- rich Wolgast zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nisses „consequenter Stellenlektüre“ als noch der monierte: „Das Kind lernt in der Schule nur konsequenterer Erzieher, indem er dem Mäd- Lesestücke, keine Bücher lesen. Das ist meines chen ihre „unangenehmen Eindrücke“ als „ge- Erachtens der Hauptmangel des Leseunter- rechte Strafe“ für ihr „unbefugtes Naschen“ richts [...].“25 Die Lektüre ganzer Werke ist also vorhält.28 Wer das Ganze nicht vertragen kann, auch in literaturpädagogischer Perspektive kei- so die unnachsichtige Botschaft, muss seine ne selbstverständliche Tradition, deren Verfall Neugier eben zügeln. unbesehen zu beklagen wäre, sondern ein ver- gleichsweise junges Ideal der Lesesozialisation, Rührende Stellen, oder dessen Vorgeschichte ich vorhin angedeutet „Sie wäre mit mir glücklicher geworden“ habe. Ein historischer Beleg für Häppchenlektüre Rührende Stellen sind für echte Lektüre kaum kommt, schon überraschend, von Friedrich verzichtbar – aber es dürfen eben auch nur Schleiermacher höchstselbst. In seinen „Ver- Stellen sein. Weil man, wie jeder Profi von den trauten Briefen über Schlegels Lucinde“, einer antiken Rhetoriklehrern bis zu den Hollywood- Streitschrift für das Skandal-Buch seines Freundes Drehbuchautoren unserer Tage weiß, nicht un- Friedrich Schlegel, in dem ein neues Lebens- und unterbrochen gerührt und tränenbereit emp- Liebes-Ideal propagiert wurde, lässt Schleierma- findsam sein kann. Umso wichtiger ist es, dass cher neben zwei reifen Frauen auch die junge, man sich an einer rührenden Stelle trifft, und noch unerfahrene Karoline auftreten. „Haben dann erkennt sich das höhere Einverständnis Sie wirklich gewollt, daß ich die Lucinde auch le- einander innig zugetaner Seelen gemeinsam in sen soll?“, schreibt das junge Mädchen an den der Stelle wieder. Werther schreibt in seinem fiktiven, ungenannt bleibenden Verfasser, „ich Brief an Wilhelm über Lotte und seinen Kon- habe mir fest vorgenommenen, sie jetzt nicht zu kurrenten Albert „Am 29. Julius“: lesen.“26 Der feste Vorsatz hält jedoch nicht lan- ge. Schon eine knappe Seite später muss Karoli- Nein es ist gut! es ist alles gut! – Ich – ihr ne eingestehen: Mann! O Gott, der du mich machtest,

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037-049_Jacob.indd 42 08.06.10 10:14 wenn du mir diese Seligkeit bereitet hät- aufschlussreiche Reflexion über das Theater. test, mein ganzes Leben sollte ein anhal- Genauer, über den Souffleur, über den also, der tendes Gebeth seyn. Ich will nicht rechten, einem „aus dem Loche“ hilft,31 wenn man an und verzeihe mir diese Thränen, verzeihe einer Stelle stockt. Doch der Souffleur, von dem mir meine vergeblichen Wünsche! – Sie zwischen den Schauspielern Serlo, Wilhelm meine Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf und Aurelie die Rede ist, hat eine schlechte An- unter der Sonne in meine Arme geschlos- gewohnheit: sen hätte – Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert er nimmt so herzlichen Anteil an den sie um den schlanken Leib faßt. Stücken, daß er pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll re- Und, darf ich es sagen? Warum nicht, zitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher ge- als einmal irregemacht.32 worden, als mit ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle Der „Einhelfer“ vernachlässigt seine eigent- zu füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbar- liche Aufgabe, weil er sich von den ergreifen- keit, ein Mangel – nimm es wie du willst; den Stellen so ergreifen lässt, dass die Darstel- daß sein Herz nicht sympathetisch schlägt, ler auf der Bühne an den ergreifenden Stellen bey – oh! – bey der Stelle eines lieben nicht mehr ergreifend sein können. Noch dazu Buches, wo mein Herz und Lottens in Einem ist der Souffleur nicht nur dem stellenweisen zusammen treffen [...]. Lieber Wilhelm! – heftigen, sondern auch den sanften, schmel- Zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so zenden Affekten ausgeliefert. eine Liebe, was verdient die nicht! – „Er wird“, versetzte Aurelie, „bei gewissen Ein unerträglicher Mensch hat mich unter- Stellen so gerührt, daß er heiße Tränen brochen. Meine Tränen sind getrocknet. weint und einige Augenblicke ganz aus der Ich bin zerstreut. Adieu, Lieber!29 Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten rührenden Stellen, Die vielleicht berühmteste Stelle des die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, Goethe’schen „Werthers“, die, an der Lotte in wenn ich mich so ausdrücke, die schönen der Bibliothek, Werther die Hand auflegend, Stellen, aus welchen der reine Geist des mit Tränen in den Augen „Klopstock“ aus- Dichters gleichsam aus hellen, offenen stößt, ist ein weiteres Beispiel für das gerührte, Augen hervorsieht, Stellen, bei denen wir stellen-weise geleitete Herzenseinverständnis. andern uns nur höchstens freuen, und Mehr als die Nennung des Autornamens be- worüber viele Tausende wegsehen.“33 darf es nicht, um sich gemeinsam an Klop- stocks Ode „Die Frühlingsfeyer“ zu erinnern – Der „herzliche[...] Anteil“, den der gerührte eine Stelle, die übrigens dem Leser dreizehn Stellenaushelfer an den Stellen nimmt, er- Jahre nach der Erstausgabe des „Werthers“ scheint damit in einem milden Licht. 34 Für sei- 1774 schon zu erläutern war: Goethe fügt, of- ne Aufgabe nicht besonders geeignet, aber fenbar um eine „dunkle“ Stelle in seinem eige- als wahrhaft kunstsinnig erweist sich der nen Text zu vermeiden, in seiner überarbeiteten Souffleur, weil er, wie Aurelie hervorhebt, an Version 1787 in Werthers Bericht den Satz ein: den richtigen Stellen gerührt ist. Nicht an den „Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen rührenden, an den „sogenannten rührenden Ode“.30 Auch herausragende Stellen also kön- Stellen“, sondern an den „schönen Stellen“. nen altern. Damit man diese Differenzierung nicht über- In Goethes schon zitiertem „Wilhelm Meister“, liest, ist sie im Text an dieser Stelle kursiviert der in der Tat ein Füllhorn an Stellen-Stellen be- gesetzt. Die wie ihre pathetische Schwester reithält, findet sich auch eine für die Rührung den Hörer „einige Augenblicke ganz aus der

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037-049_Jacob.indd 43 08.06.10 10:14 Fassung“ bringende schöne Stelle verdient Schöne Stellen, vor den „sogenannten rührenden“ die Aus- oder „von den spärlichen Rosinen“ zeichnung, weil aus ihr, so Aurelie, „der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen, of- Ähnlich, wie sich mit der „schwierigen“ fenen Augen hervorsieht“ – den aber nur Stelle eine Geschichte des Verstehens schrei - wenige aufzufangen wissen und „bei denen ben ließe, könnte sich an der „schönen“ wir andern uns nur höchstens freuen, und Stelle die Geschichte des Schönen verfolgen worüber viele Tausende wegsehen.“ Die lassen. Spricht schon die klassische Rhetorik Wahrnehmung der „schönen“ Stelle im davon, das man seiner Rede „Lichter“ ( lumi- Ganzen verrät, wie Aurelie sie erklärt, nicht na), glänzende Stellen, wohldosiert aufset- Unverstand, sondern im Gegenteil besondere zen solle, um das Publikum bei Laune zu Sensibilität. halten, kennt die Antike nicht nur metapho - risch den Gebrauch schö- ner Stellen. So hat Peter v. Möllendorff, der sich in verschiedener Hinsicht mit dem produktiven Umgang mit Stellen aller Art in der Antike be- schäftigt hat, unter ande- rem gezeigt, wie Lukian von Samosata in seinem Dialog „Die Bilder“ ein Verfahren des „Puzzling Beauty“ entwickelt, mit dem die überwältigende Schönheit der kaiser- lichen Geliebten Panthea aus der Evidenz lauter schöner Stellen zusam- mengesetzt wird.35 Und eben diese Aufgabe, wie man größte Schönheit beschreiben, vielleicht so- gar evozieren kann, treibt auch Johann Joachim Win- ckelmann im 18. Jahrhun- dert um. Wieder geht dies nur stellenweise – wie an- ders –, und wenn Winckel- mann seine Leser im Geiste mitnimmt vor den rö- mischen Apoll im Belve- dere (Abb. 1), dessen Photo Winckelmann eben nicht zeigen kann, dann geht es stückweise von oben nach unten, eine schöne Stelle Abb. 1: Apoll vom Belvedere nach der anderen:

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037-049_Jacob.indd 44 08.06.10 10:14 Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttinn schreiben, da er der zierlichsten und der bedeu- der Weisheit schwanger ist, und Augen- tendesten Theile der Natur beraubet ist!“37 branen [sic], die durch ihr Winken ihren Trotz des Verlusts der schönsten Stellen, die die Willen erklären: Augen der Königin der Natur ihm gab, vermag das Auge des Betrach- Göttinnen, mit Großheit gewölbet, und ters jedoch noch genug Schönes zu sehen. ein Mund, welcher denjenigen bildet, der Zunächst sind Schulter und Brust zu entdecken, dem geliebten Branchus die Wollüste ein- und dann: geflößet.36 Fraget diejenigen, die das Schönste in der Besonders eindrucksvoll gerät Winckelmanns Natur der Sterblichen kennen, ob sie eine Beschreibungskunst der schönen Stelle jedoch Seite gesehen haben, die mit der linken an einem Stück, das selbst nicht mehr als eine Seite zu vergleichen ist. Die Wirkung und schöne Stelle aus einem ehemals Ganzen ist. Gegenwirkung ihrer Muskeln ist mit einem Aber auch diese muss man, wie sich zeigt, weislichen Maaße von abwechselnder Re- stück-, bzw. stellenweise erfassen. Gemeint ist gung und schneller Kraft wunderwürdig Winckelmanns „Beschreibung des Torso im abgewogen, und der Leib mußte durch Belvedere zu Rom“ (Abb. 2 und 3). Sie stellt dieselbe zu allem, was er vollbringen wol- sich als eine besondere Herausforderung dar, len, tüchtig gemacht werden. So wie in ei- denn: „Wie [...] werde ich dir denselben be- ner anhebenden Bewegung des Meeres

Abb. 2: Torso vom Belvedere, frontal Abb. 3: Torso vom Belvedere, seitlich

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037-049_Jacob.indd 45 08.06.10 10:14 die zuvor stille Fläche in einer lieblichen weise der junge Christoph Martin Wieland Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, 1753 mit einer „Abhandlung von den Schön- wo eine von der andern verschlungen, und heiten des Epischen Gedichts Der Noah“ sei- aus derselben wiederum hervorgewälzt nes verehrten damaligen Gastgebers und För- wird: eben so sanft aufgeschwellet und derers Johann Jakob Bodmer in Zürich volle schwebend gezogen, fließet hier eine Mus- vierhundertundvier Seiten, und das, wo er kel in die andre, und eine dritte, die sich schon, so der Autor, „nur diejenige[n Stellen], zwischen ihnen erhebet und ihre Bewe- welche nach meinem Urtheil am vorzüg- gung zu verstärken scheinet, verlieret sich lichsten strahlen, meinen Lesern bekannt zu in jene, und unser Blick wird gleichsam mit machen“, sich vorgenommen hat und er sich verschlungen. gleichwohl hat „öfters Gewalt anthun müs- Hier möchte ich stille stehen, um unsern sen, wenn ich besondere Schönheiten ge- Betrachtungen Raum zu geben, der Vor- wisser Gedanken oder kleinerer Ausbildungen stellung ein immerwährendes Bild von die- [habe] übergehen müssen“.39 ser Seite einzudrücken: allein die hohen Ich springe ins 20. Jahrhundert. Karl Wolfskehl, Schönheiten sind hier ohne Grenzen, und Germanistik-Student an der Universität Gießen in einer unzertrennlichen Mittheilung. Was und hier promoviert von Otto Behaghel mit für ein Begriff erwächset zugleich hieher einer Arbeit über „Germanische Werbungs- aus den Hüften, deren Feistigkeit andeu- sagen“, ist seit 1893 ein enger Freund und Mit- ten kann, daß der Held niemals gewanket, arbeiter Stefan Georges. In seinen Korrespon- und nie sich beugen müssen. denzen erweist er sich als ein Briefschreiber mit In diesem Augenblicke durchfährt mein höchst eigenwilligem Duktus. Am 15. 7. 1899 Geist die entlegensten Gegenden der schreibt Wolfskehl an den gerade zum George- Welt, durch welche Herkules gezogen ist, kreis hinzu stoßenden jungen Friedrich Gun- und ich werde bis an die Grenzen seiner dolf: Mühseligkeiten, und bis an die Denkmale und Säulen, wo sein Fuß ruhete, geführet, Ich habe in diesen Tagen mich tief in Bren- durch den Anblick der Schenkel von uner- tanos Romanzen Kranz hineingebohrt. Das schöpflicher Kraft, und von einer den Exempel von den spärlichen Rosinen ist alt Gottheiten eigenen Länge, die den Held aber wahr. Die Färbung des ganzen wie durch hundert Länder und Völker bis zur Dickmilch mit Himbeer – durcheinander- Unsterblichkeit getragen haben. Ich fieng fliessende Farbensträhnen schwabbelnd an, diese entfernte Züge zu überdenken, und ohne Sicherheit: Schwanken, Halb- da mein Geist zurückgerufen wird durch schlaf, Dämmerung, auch für das Liebster- einen Blick auf seinen Rücken.38 fasste, auch Stofflich dabei wunderschön gesungene Zeilen: Diese eigentlich einer eingehenderen Analyse Von dem Klang geheimer Harfen bedürftige längere Passage Winckelmann’scher Heilige Thränenquellen flossen ... Beschreibungskunst zeigt eindrücklich, wie Winckelmann stellenweise „immerwährende Wolfskehl nimmt es nicht sehr genau mit dem Bilder“ fixiert, um dann – gerade vor dem Hin- Abschreiben dieser schönen Stelle aus der tergrund der behaupteten Grenzenlosigkeit „Vierten Romanze“ von Clemens Brentanos aller „hohen Schönheiten“ – im scharfen „Romanzen vom Rosenkranz“ (um 1810). Er Schnitt zur jeweils nächsten Stelle überzulei- fügt nämlich in den Originalwortlaut Brenta- ten. nos: „Heil’ge Thränenquellen“,40 eine zusätz- Das 18. Jahrhundert ist voll mit schönen Stel- liche Silbe hinein: „Heilige Thränenquellen“, len, da die Schönheit, nicht nur bei Winckel- was – ausgerechnet bei Brentano – das ganze mann, akkumulierbar ist. Je mehr „Schön- schöne Versmaß zerstört. Noch einmal also heiten“, desto schöner, und so füllt beispiels- Wolfskehls Brentano:

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037-049_Jacob.indd 46 08.06.10 10:14 Von dem Klang geheimer Harfen gegen das sonst von mir selbst Verfochtene“ Heilige Thränenquellen flossen ... zu begehen, „nicht ohne alle Ironie“.45 O wer bist du? Meine Arme Die Liebe des Philosophen zur schönen Stelle Haben einen Schatz gefunden bringt eine höchst reizvolle, von Adorno be- [bei Brentano: „gehoben“] wusst hervorgekehrte Spannung hervor. Zwi- O wer sind wir die sich fanden? schen der freimütig bekannten zufälligen Aus- Sprich wo wir uns einst verloren ... wahl schöner Stellen, die seiner persönlichen Biographie geschuldet sei: „Andere mögen und so vieles. Lesen müssen Sie’s.41 ganz andere lieben“46 (in Adornos Oeuvre dürf- ten sich, wenn überhaupt, nur wenige ver- Schön ist dieses Zeugnis, weil es einen sehr ge- gleichbare Zugeständnisse ans dergestalt Pri- läufigen Umgang des Literaturliebhabers mit vate finden), und dem hohen, geschichtsphilo- der Literatur illustriert, dem unbekümmerten sophischen Ton, den Adorno natürlich auch in Auswählen gerade der schönen Stellen, die diesem Essay pflegt. Das Moment der hier ein- eben solches auch vertragen. Dass auch im mal gestatteten subjektiven Willkür wird von George-Kreis ein solcher Umgang mit Literatur dem eingestandenen heimlichen Verdacht gepflegt wird, ist allerdings darum der Rede Adornos – „Darf ich eine Vermutung ver- wert, weil es gerade die Georgianer waren, die raten“47 – begleitet, ja grundiert, dass in Musik, in besonderer Weise für die heilige Integrität die von „schematischem Beiwerk gereinigt“ des Werkganzen kämpften und von wegwei- sei, „eigentlich auch ungezählt viel schöne sendem Einfluss für die Auratisierung des Stellen schön seien“.48 Vor dieser potentiellen „Werkes“ im 20. Jahrhundert waren. Unendlichkeit schöner Stellen erscheint der Versuch umso bemerkenswerter, einzelne Die Liebe des Philosophen schöne Stellen herauszuheben und ihre Schön- heit zu erläutern, sich ihrer Schönheit „zu ver- Mein letzter Kronzeuge für die Geschichte der sichern“, wie es heißt.49 Doch das stärkste Ar- schönen Stelle ist von vergleichbarer, großar- gument Adornos für die schöne Stelle, für die tiger innerer Widersprüchlichkeit. Es ist Theo- Stelle überhaupt, ist, dass „das Ganze ein Wer- dor W. Adorno. Er ist ein überraschender Zeu- dendes“ sei, das Ganze eines Werks nur durch ge, weil Adorno wie kein anderer Zeit seines seine Teile werde. Weil es überhaupt nur Teile Lebens gegen eine „regressiv-atomistische [...] sind, die ein wahrnehmendes Subjekt erfassen Wahrnehmung“42 wetterte und mit einer „Kul- kann, vertritt das Detail bzw. die Stelle, so Ad- turindustrie“ abgerechnet hatte, in deren zer- orno weiter, „den Anteil des Subjekts“ an der kleinerten Produkten jeder „sachliche [...] Zu- Objektivität des Werkes, das nicht „anders als sammenhang [...] [j]ede logische Verbindung, durchs Subjekt hindurch [...] geraten“ kann.50 die geistigen Atem voraussetzt, [...] peinlich Im Laufe seines knapp zweistündigen Vortrages vermieden“43 sei. Wie ihren ebenso atomisier- werden dem Hörer sodann nach dieser Einlei- ten Opfern systematisch verwehrt werde, noch tung schöne Stellen durch die Musikgeschichte Struktur-Zusammenhänge und übergreifende hindurch von J. S. Bach über Haydn, Mozart, Formen erfassen zu können. Vom „Todestrieb Beethoven, Schubert, Bruckner, Wagner, Mah- der Details“ schließlich spricht Adorno in sei- ler, Ravel bis zu Arnold Schönberg, Alban Berg ner „Ästhetischen Theorie“.44 Kein besonders und Webern in jeweils eigens erläuterten akus- güns tiges Klima für „schöne Stellen“, so tischen Beispielen vorgeführt, von denen einige scheint es, und doch ist es ausgerechnet Ador- dem Hörer spontan sicher als eine „schöne“ no, der 1965, vier Jahre vor seinem Tod, einen Stelle einleuchten, andere tatsächlich Unter- Radiovortrag hält, der genau so, „Schöne Stel- richtung verlangen. Eine solche stammt aus len“, heißt. Und dass er Verehrer und Adepten Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Le Nozze damit überrascht, weiß Adorno selbst. Ja, fast di Figaro“ nach der Komödie von Beaumarchais. scheint es ihm Spaß zu machen, eine „Ketzerei Sie erzählt bekanntlich die Geschichte des Gra-

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037-049_Jacob.indd 47 08.06.10 10:14 fen Almaviva, der sich durch allerlei Intrigen die 05 „Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus, daß Verlobte Susanna seines Kammerdieners Figaro sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden.“ mitten in deren Hochzeitsvorbereitungen zu Ebd., S. 92. Willen machen will. Am Ende, zum Glück, tri- 06 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Hermeneutik, umphiert die wahre Liebe und die Klugheit der nach den Handschriften neu hrsg. und eingeleitet v. Heinz Kimmerle, Heidelberg 21974, S. 46. Frauen, Figaro und Susanna finden sich vereint, 07 Vgl. hierzu wie auch zur Ablösung der alten Stellen- und der Graf muss reumütig seine Gemahlin Hermeneutik: Kurz, Gerhard, „Alte, neue, altneue um Verzeihung bitten, die ihm großmütig ge- Hermeneutik. Überlegungen zu den Normen roman- tischer Hermeneutik“, in: Krisen des Verstehens um währt wird. In der Oper hält die Handlung in 1800, hrsg. v. Sandra Heinen und Harald Nehr, Würz- diesem Moment kurz inne (Takte 445–447), bis burg 2004, S. 31–54. ein rauschendes, heiteres Finale das Ganze ver- 08 Vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Über die söhnlich beschließt. Am Ende sind also im Sieg Philosophie Platons, hrsg. und eingeleitet v. Peter M. Steiner, mit Beiträgen v. Andreas Arndt und Jörg Jant- der Weisheit, der Menschenfreundlichkeit und zen, Hamburg 1996, S. 33. der Aufklärung alle versöhnt: alles ist gut und 09 Ebd. prädestiniert für eine wahrhaft „schöne Stel- 10 Ebd., S. 38f. 11 Stanitzek, Georg, „Brutale Lektüre, um ‚1800’ (heu- le“. Doch sie ist es gerade nicht, die Ador no im te)“, in: Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. v. Sinn hat. Es sind vielmehr genau jene drei un- Joseph Vogl, München 1999, S. 249–265, hier S. 250. scheinbaren, leisen und leicht überhörbaren In ähnliche Richtung zielend Fliethmann, Axel, Stellen- Takte, die den Übergang zwischen nachdenk- lektüre. Stifter, Foucault, Tübingen 2001. 12 „Diese [die einzeln handelnde Tätigkeit; J.J.] auf jene lichem Vergeben und fröhlichem Feiern mar- [die vereinende reflektierende] zurückzuführen – an kieren, „gleichsam ins Offene“ tastend und die Stelle der Sitten die Sittlichkeit, an die Stelle der „das Erhabene und das ganz Unscheinbare in Kenntnisse die Erkenntnis, an die Stelle des Glückes die Glückseligkeit zu setzen, ist das Geschäft der phy- eins“ setzend „wie es keiner Musik nach Mo- sischen und moralischen Bildung; aus Schönheiten zart wieder glückte.“51 Schönheit zu machen, ist die Aufgabe der ästhe- Die schöne Stelle als „die Sehnsucht nach dem tischen.“ Schiller, Friedrich, „Über die ästhetische Er- ziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ Gelungenen“ zu beschreiben, wie ich es ein- (1795), in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard gangs tat, ist also falsch. Ausgerechnet der von Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 81989, vielen als „Negativitätsästhetiker“ titulierte S. 570–669, hier S. 620. 13 Adorno belehrt darüber, dass es das Gelun- Schlegel, Friedrich, „Abschluß des Lessing-Auf- satzes“ (1801), in: ders., Kritische Friedrich-Schlegel- gene gibt, auch wenn es sich manchmal wo- Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, Abt. 1, Bd. II: Charak- möglich in den Zwischenräumen bewegt. Die teristiken und Kritiken I (1796–1801), Paderborn, schöne Stelle erfüllt die Sehnsucht nach dem München, Wien und Zürich 1967, S. 397–419, hier S. 410. Gelungenen – von Sehnsucht bestimmt ist viel- 14 Schlaffer, Umgang mit der Literatur, S. 17. leicht allein unser Impuls, schöne Stellen aufzu- 15 Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. Theorie ästhe- suchen und sie gegen ihre Flüchtigkeit sich ih- tischer Wirkung, München 1976, S. 280ff. Vgl. im An- rer versichernd festzuhalten. schluss an Iser auch Titzmann, Michael, Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 230ff. 16 Vgl. Enzensberger, Hans Magnus, Einladung zu einem Anmerkungen: Poesie-Automaten, Frankfurt a. M. 2000, S. 22ff. Der vorgestellte, nach den Gesetzen der Kombinatorik 01 Schlaffer, Heinz, „Der Umgang mit der Literatur. Dies- operierende Automat wurde mit den Satzsegmenten seits und jenseits der Lektüre“, in: Poetica. Zeitschrift fur „Der Saufbruder / schläft.“, „Homer / geht baden.“, Sprache und Literaturwissenschaft 31 (1999), S. 1–25, „Die Regierung / schwankt.“ gefüttert. hier S. 3. Vgl. ebd., S. 14, die Bemerkungen über „Par- 17 Quintus Horatius Flaccus, „Dritter Brief. An L. Calpur- tielle Lektüre“ und S. 16f. über die Herausforderungen nius Piso und seine Söhne“ [= „Ars Poetica“], zitiert „Vollständige[r] Lektüre“. nach: Christoph Martin Wieland, Übersetzung des Ho- 02 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Hermeneutik raz, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer S. 487–573, hier S. 546 (Vers 359). Texte Schleiermachers, hrsg. v. Manfred Frank, Frank- 18 Quintilianus, Marcus Fabius, Institutionis oratoriae libri furt a. M. 41990, S. 75. XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, lat./dt., 03 Ebd., S. 92. übers. und hrsg. v. Helmut Rahn, Darmstadt 21988, 04 Ebd., S. 75. Bd. 2, S. 441 (X,1,24).

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037-049_Jacob.indd 48 08.06.10 10:14 19 Goethe, Johann Wolfgang von, Gedichte 1756–1832, Vorreden – Entwürfe, hrsg. v. Walter Rehm, mit einem hrsg. v. Karl Eibl, Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 1998, Geleitwort v. Max Kunze und einer Einleitung v. Hell- Bd. 1, S. 132f. (drei nicht zweifelsfrei Goethe zuge- mut Sichtermann, Berlin und New York 22002, S. 268. schriebene Strophen sind fortgelassen). Ich verdanke Vgl. auch ebd., S. 269ff., die ausführlicheren „Entwür- den Hinweis auf dieses Gedicht, wie einige weitere fe zur Beschreibung“. wichtige Fingerzeige zu meinem Thema, Elisabeth 37 Winckelmann, Johann Joachim, „Beschreibung des Sommerhoff, Gießen. Torso im Belvedere zu Rom“, in: ders., Kleine Schriften. 20 Goethe, Johann Wolfgang von, Wilhelm Meisters Vorreden – Entwürfe, S. 169–173, hier S. 170. Lehrjahre, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. 38 Ebd., S. 171. v. Erich Trunz, Bd. 7, München 1982, S. 557f. 39 Wieland, Christoph Martin, Abhandlung von den 21 Für den Selbstversuch sei verwiesen z. B. auf: Eycekn, Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, zitiert Katinka und Fritz (Hrsg.), Scharfe Stellen. Aus den Bü- nach ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Deut- chern der Welt herausgesucht, handverlesen und in schen Kommission der Preußischen Akademie der sechs Stellen auf die Reihe gebracht, mit Zeichnungen Wissenschaften, 1. Abt., Bd. II (3): Poetische Jugend- von Rudi Hurzlmeier, Frankfurt a.M. 2007. werke, Nachdruck, Hildesheim 1986, S. 321. Vgl. zur 22 Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat. De civitate dei, philologischen Bedeutung und Kritik dieser Praxis Vf., übers. v. Wilhelm Thimme, München 21985, Bd. 2, S. Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Pro- 37 (XI,23). blems von Gorgias bis Max Bense, Tübingen 2007, S. 23 Augustinus, Aurelius, Die christliche Bildung (De doc- 172ff. trina christiana), übers. und hrsg. v. Karla Pollmann, 40 Brentano, Clemens, Romanzen vom Rosenkranz, in: Stuttgart 2002, S. 163 (IV,7,15), siehe auch ebd., S. ders., Werke, hrsg. v. Wolfgang Frühwald und Fried- 156 (IV,6,9). helm Kemp, Bd. I, München 21978, S. 680. 24 Abraham, Ulf, und Matthis Kepser, Literaturdidaktik 41 Wolfskehl, Hanna und Karl, Friedrich Gundolf, Brief- Deutsch. Eine Einführung, neu bearbeitete und erwei- wechsel mit Friedrich Gundolf. 1899–1931, hrsg. v. terte Auflage, Berlin3 2009, Kap. 5.2. Karlhans Kluncker, Bd. 1, Amsterdam 1977, S. 40. 25 Wolgast, Heinrich, Das Elend unserer Jugendliteratur. 42 Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gre- Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend tel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1973, (1896), zitiert nach: Abraham, Kepser, Literaturdidak- S. 280. tik Deutsch, S. 193. 43 Adorno, Theodor W., Kulturindustrie. Aufklärung als 26 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Vertraute Briefe Massenbetrug, in: ders., und Max Horkheimer, Dialek- über Schlegels Lucinde (1801), in: ders., Kritische Ge- tik der Aufklärung, hier zitiert nach: Adorno, Theodor samtausgabe, hrsg. v. Hans-Joachim Birkner und Her- W., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, mann Fischer, Abt. 1, Bd. 3: Schriften aus der Berliner Bd. 3, Frankfurt a.M. 2003, S. 159. Zeit 1800–1802, Berlin und New York 1988, S. 139– 44 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 450. 216, hier S. 179. 45 Adorno, Adorno, Theodor W., „Schöne Stellen“ 27 Ebd., S. 180. (1965), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf 28 Ebd., S. 184. Tiedemann, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1984, S. 695–718, 29 Goethe, Johann Wolfgang von, Die Leiden des jungen hier S. 699. Werthers, Studienausgabe, Paralleldruck der Fas- 46 Ebd., S. 700. sungen von 1774 und 1787, hrsg. v. Matthias Luserke, 47 Ebd., S. 700. Stuttgart 1999, S. 159–161 [Fassung von 1787]. 48 Ebd. 30 Ebd., S. 52/53. Vgl. zum Motiv des sich über der Lek- 49 Ebd. türe treffenden Paares die Hinweise bei Anja Oester- 50 Ebd., S. 696f. helt: Goethe, Johann Wolfgang von, Die Leiden des 51 Ebd., S. 706. jungen Werthers. Text, Kommentar und Materialien, bearbeitet v. Anja Oesterhelt, München 2009, S. 168. 31 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 302. Bildnachweis: 32 Ebd. 33 Ebd., S. 303. http://www.diary.cadenza.org/ricardo-frantz/ 34 Daneben findet sich natürlich auch bei Goethe die üb- gloria-in-excelsis-deo.htm (Abb. 1) liche Kritik am „Herausheben von Stellen“, vgl. z. B. B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (München 2001), Goethe, Johann Wolfgang von, Wilhelm Meisters Taf. 145 (Abb. 2) Wanderjahre, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (München 2001), hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 8, München 1982, S. 293. Taf. 144 (Abb. 3) 35 Moellendorff, Peter v., „Puzzling Beauty. Zur ästhe- tischen Konstruktion von Paideia in Lukians ‚Bilder’-Di- alogen“, in: Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Ge- Kontakt: schichte des ersten Jahrtausends n. Chr. Yearbook on the Culture and History of the First Millennium C.E. 1 Prof. Dr. Joachim Jacob (2004), S. 1–24. Justus-Liebig-Universität Gießen 36 Winckelmann, Johann Joachim, „Beschreibung des Apollo im Belvedere“, aus der „Geschichte des Alter- Institut für Germanistik thums“ (1764), zitiert nach ders., Kleine Schriften. [email protected]

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Wenn alte Spiele auf die Bühne kommen Aufführungspraxis als Begleiter der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung

Mittelaltermärkte und -turniere sowie Mittel- punkt mittelalterlicher literarischer Kultur er- alterfestivals boomen derzeit. Wenn sich dort scheinen; Formen der symbolischen Kommu- in pseudo-altertümlichem Deutsch Wikinger nikation im höfischen Zeremoniell oder im und Landsknechte mit den Namen hochmittel- öffentlichen Strafvollzug weisen in eine ähn- alterlicher Fürsten anreden und sich über ihr liche Richtung. heidnisches Bekenntnis und die „Weiber“ Nachdem gerade auch im Bereich der Fest- austauschen, bleibt dem Mediävisten meist und Spielforschung die deutsche Mediävistik nichts mehr als lächelnd den Kopf zu schüt- besonders stark unter nationalsozialistischem teln. Einer zunehmend marginalisierten (und Missbrauch gelitten hatte und die ältere The- von den Studierenden nicht zuletzt wegen der atergeschichtsschreibung lange im Schatten geforderten Latein-, Mittelhochdeutsch- und von Heinz Kindermann gestanden hatte,2 bot Bibelkenntnisse oft gefürchteten) universitä- sich ab den 1970er Jahren die Gelegenheit zu ren Mittel alterforschung steht eine lebhafte einem Neuanfang: durch eine Verbindung von Kultur der Mittelalterkonstruktionen gegen- Philologie, Überlieferungsgeschichte, Archiv- über, die von den Fachleuten wegen ihrer de- studien, Soziologie und Anthropologie. Das zidierten Unwissenschaftlichkeit in der Regel „Drama“ des Mittelalters begann als ein un- gemieden wird. Nicht zu übersehen ist dabei fester Text zu interessieren, der gerade nicht aber das kulturelle Phänomen eines gesell- für die Lektüre entworfen, sondern untrenn- schaftlichen Interesses an historischen Formen bar mit der Aufführung verbunden ist – und der Fest- und Repräsentationskultur, das als damit auch ohne ein Publikum nicht zu den- solches durchaus dem Interesse der Wissen- ken ist. Rolf Bergmanns Katalog der deutsch- schaft entspricht. sprachigen geistlichen Spiele (1986)3 und Bernd Neumanns groß angelegte Sammlung Fest, Spiel und Aufführungssituation von dokumentarischen Zeugnissen geistlicher 4 als Gegenstand der Forschung Spiele (1987) demonstrieren eindrücklich das seit den 1980er Jahren vorherrschende Neben- Das höfische und religiöse Fest, das Turnier- einander von Forschungen zu den Spieltexten wesen, die Prozession und der Ritus stehen und zu Archivalien, die eine Aufführungsakti- nicht erst seit dem so genannten „performative vität dokumentieren. Der städtische Raum turn“ der Geistes- und Kulturwissenschaften wird als integraler Teil der Spiele ernst genom- im Zentrum der Mittelalter- und Frühneuzeit- men und mit berücksichtigt. In neuerer Zeit forschung; zu verweisen ist hier etwa auf den werden in zunehmend weiterem Sinne thea- in den 1980er Jahren entstandenen Band „Das trale Aktivitäten in den Städten als Teil der Fest“ in der Reihe „Poetik und Hermeneutik“.1 Theater- und Dramengeschichte berücksich- Das mediävistische Interesse am Fest als einem tigt. Ein sehr schönes aktuelles Beispiel hierfür inner- und außerliterarischen Phänomen und stellt die unlängst erschienene Habilitations- als Rahmen der Literaturrezeption verbindet schrift von Heidy Greco-Kauffmann zum Lu- sich seit Jahrzehnten mit dem Interesse an For- zerner Theater dar.5 Sie berücksichtigt Turniere, men des Theatralischen im Mittelalter. Allein Feste, Hinrichtungen, die Aktivität von Spiel- die übliche rezitative Vortragsform höfischer Li- leuten und Musikanten, Fastnachtsbräuche, teratur lässt das Performative als einen Kern- geistliche Spiele, aber auch frühneuzeitliche

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051-060_dietl.indd 51 08.06.10 10:15 Dramen der Jesuiten und der städtischen Geistliches Spiel Schulen. Mittelalterliches Drama, das wird aus dieser Studie sehr deutlich, ist mehr als ein Die genuin mittelalterliche Form des Dramas, Text: Es ist Performanz im Raum. die ab dem 13. Jh. auf breiter Ebene dokumen- tiert und überliefert ist, ist zunächst das geist- „Drama“ im Mittelalter liche Spiel: szenische Darstellungen biblischer Geschehnisse, vor allem orientiert am Jahres- Das mittelalterliche Spiel geht nicht aus der kalender religiöser Feiertage als Weihnachts- antiken Komödie und Tragödie hervor. Vor spiele, Dreikönigsspiele, Passions-, Oster-, Him- allem im Früh- und Hochmittelalter herrschte melfahrts- und Pfingstspiele, daneben aber in kirchlichen Kreisen eine deutliche Skepsis auch Weltgerichtsspiele, Antichristspiele, Spiele gegen über dem Theater in antikem Sinne. mit alttestamentlichen Inhalten oder Mirakel- Verantwortlich ist unter anderem Tertullians spiele, in denen die Legenden Heiliger darge- schauspielkritische Schrift „De spectaculis“ stellt werden. Später kommen dann noch Fron- aus dem späten 2. Jahrhundert, die das antike leichnamsspiele dazu, in denen die gesamte Drama mit heidnischem Kult und Christenver- Heilsgeschichte präsentiert wird. Die Struktur folgung in Verbindung bringt. Die Völkerwan- der Spiele gibt kein klassischer Dramenaufbau derung und die Zerstörung der Spielstätten vor, sondern der jeweilige Inhalt und gegebe- hatten schließlich der römischen Theatertradi- nenfalls typologische Bezüge zwischen den tion auch materiell ein Ende gesetzt. Die Texte einzelnen dargestellten Szenen. Das Metrum aber blieben erhalten. Plautus, Seneca und hängt von der Sprache ab; deutsche Texte sind insbeson dere Terenz bildeten einen festen (wie die mittelhochdeutsche Epik) in Reimpaar- Bestandteil des mittelalterlichen Latein- und versen verfasst. Rhetorikunterrichts, die als Lesetexte allenfalls Während die ältere Forschung behauptet hat- rezitiert, nicht aber aufgeführt wurden. Eine te, dass die geistlichen Spiele aus dem christ- Rechtfertigung fand die Interpretation der lichen Ritus erwachsen seien, spricht man heu- Theaterstücke als Rezitationsstücke darin, te lieber von einem generellen Zusammenhang dass man den Vermerk „Calliopius recensui“, und vielfältigen Überschneidungsformen zwi- den der spätantike Philologe Calliopius in sei- schen dem Spiel und dem Ritus, der von jeher ner Terenz-Sammlung unter jede Komödie ge- auf die Suggestivkraft performativer Elemente setzt hatte, als einen Nachsatz des Rezitators setzt (genannt seien z. B. Antiphone, Respon- deutete, wobei „recensui“ als mit „recitavi“ sorien und Tropen, Gesten, Gebärden, Prozes- synonym verstanden wurde. Illustrierte Te- sionen und symbolische Handlungen). An der renz- und auch Seneca-Ausgaben des Mittel- Schnittstelle zwischen Liturgie und Spiel stehen alters bilden daher den lesenden Calliopius u. a. die so genannten Osterfeiern, deren ältes- ab, gelegentlich auch den lesenden Dichter ter Beleg aus England stammt, aus der „Regu- selbst, der mit Calliopius identifiziert werden laris Concordia“ des Bischofs Aethelwold von konnte. Winchester (um 970). Hier ist beschrieben, dass Als Prosa-Lesetexte lernte auch im 10. Jahrhun- sich vier Mönche während der dritten Lesung dert Hrotsvitha, eine Kanonisse im Reichsstift der Ostermatutin umkleiden sollten. Einer, Gandersheim, die Dramen des Terenz kennen gekleidet in die Alba (das weiße Messgewand), und schätzen. Hrotsvitha ist die erste nament- sollte sich, einen Palmzweig in der Hand, am lich bekannte deutsche Autorin. In formaler Grab Christi (präsentiert durch einen Vorhang) Anlehnung an Terenz verfasste sie sechs latei- niedersetzen. Er stellte den Engel dar. Noch nische (Lese-)Dramen über Märtyrerinnen, be- während des dritten Responsoriums sollten die kehrte Sünderinnen und Heilige. Ihre Werke anderen drei Klosterbrüder, gehüllt in Chor- aber hatten keine unmittelbare Wirkung und mäntel und mit Weihrauchfässern in der Hand, blieben singulär in der deutschen Literatur- langsamen Schrittes, „als ob sie etwas suchten“, geschichte. zum Altar gehen: Sie stellten die drei Marien

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051-060_dietl.indd 52 08.06.10 10:15 dar. Es folgte dann vom sitzenden Engel „mit Die ältesten aus dem deutschen Sprachraum wohlklingender Stimme in mittlerer Tonlage“ überlieferten Spiele wie das „Klosterneuburger gesprochen die Frage: „Wen sucht ihr im Grab, Osterspiel“ und der Benediktbeuerner „Ludus ihr Christen?“, worauf die drei Frauen unisono breviter de Passione“ aus dem frühen 13. Jh. antworteten. Sie erfuhren, dass Jesus aufer- sind in lateinischer Sprache und in feierlichem standen sei, und brachen in ein „Halleluja“ Ton gehalten und wurden wohl durchgehend aus. Sie wurden ins Grab geführt, nahmen die gesungen, vermutlich von Geistlichen. Nur we- Leintücher heraus und legten sie auf den Altar. nige Jahre später aber setzt die Überlieferung Zum Schluss sang der Prior einen Lobes hymnus. deutschsprachiger oder mischsprachiger Spiele Die Kirchenglocken läuteten und der Gottes- ein, deren Trägerschaft zumindest teilweise ei- dienst war beendet. Die „Regularis Concordia“ ne laikal städtische war. Die Texte spielen mit erklärt, diese Ausgestaltung der Messe diene dem Wechsel zwischen feierlich gesungenem der „Festigung des Glaubens unter den Unge- Latein und gesprochenem Deutsch, zwischen lehrten“: Sichtbares überzeuge weit mehr als heiligen Figuren, deren Worte und Handlungen nur Gehörtes. Die Osterfeier will nicht als sich eng an die biblische Überlieferung halten, Schauspiel verstanden werden, es soll keine fik- und unheiligen Figuren, die in Wort und Tat tive Welt, keine Illusion entstehen, sondern es nah am Erfahrungshorizont der Zuschauer ste- soll ein Geschehen, von dem alle gehört haben, hen oder durch ihre Naivität, Unverschämtheit, illustriert, in Erinnerung gerufen, vergegenwär- Derbheit und Sündhaftigkeit erstaunen. Der tigt und gemeinsam gefeiert werden. Kontrast der verschiedenen Stilebenen soll dem Dieser Aspekt des gemeinsamen Begehens Publikum die Augen öffnen für die Heiligkeit eines Feiertags und der Vergegenwärtigung und Andersartigkeit des Göttlichen und soll da- von Glaubensinhalten ist auch dem geistlichen zu ermahnen, sich Gedanken über die Ange- Spiel zentral, das aber viel elaborierter, deut- messenheit der eigenen Lebensweise zu ma- lich länger (von einer halben Stunde bis zu chen. Grausamkeiten, die unsere heutigen Vor- mehreren Tagen Spielzeit), meist weniger ze- stellungen sprengen (und Mel Gibson’s „Passion remoniell und aus dem Gottesdienstkontext of Christ“ inspirierten), herzzerreißende Klagen gelöst ist. Das eine Grab genügt dem Spiel der leidenden Mutter Gottes oder der reuigen nicht mehr als Kulisse, sondern verschiedene Sünder(innen), die Häme der Teufel oder die „loci“ werden rings um einen Platz herum unerbittliche Gerechtigkeit des richtenden aufgebaut (man spricht von einer „Simultan- Gottes rütteln das Publikum auf. bühne“ wegen der gleichzeitigen Sichtbarkeit Kommentierende Figuren wie etwa Augustinus der verschiedenen Spielorte im Gegensatz zur (der nicht zuletzt in der Hessischen Spielgruppe heute üblichen Verwandlungsbühne), die Dar- eine wichtige Rolle spielt) leiten zuweilen steller bewegen sich von Ort zu Ort und die durchs Geschehen und fordern immer wieder Zuschauer gehen im wahrsten Sinne des die „verstockten Juden“ dazu auf, sich endlich Wortes mit. Aus England ist eine alternative bekehren zu lassen. Wo, wie in Frankfurt, di- Spielform bezeugt: die Wagenbühne der Fron- rekt vor den Mauern des jüdischen Viertels ge- leichnamsspiele. Hier sind die „loci“ auf Wa- spielt wurde, dürften die Juden tatsächlich die gen verlegt, die mitsamt den Darstellern der Adressaten gewesen sein, wo keine Juden im jeweiligen an diesem Ort situierten Szene als Publikum zu erwarten waren, konnten solche Prozession durch die Stadt ziehen, an ver- Kommentare auch die zweifelnden Christen als schiedenen Stellen Halt machen und immer „Juden“ diffamieren und zur Bekehrung aufru- wieder die gleiche Szene aufführen. Der Zu- fen. Ein latent antisemitistischer Zug freilich ist schauer bleibt in der Regel stehen und lässt auf jeden Fall zu spüren – vor allem in Passions- das Spiel an sich Revue passieren, er kann aber spielen. Andere, insbesondere Märtyrerspiele auch durch eine Bewegung mit oder gegen oder alttestamentliche Spiele, konnten auch die Richtung des Zugs einzelne Szenen über- die Emotionen gegen die „Heiden“ aufheizen springen oder doppelt sehen. (und diese waren dann je nach politischer Lage

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051-060_dietl.indd 53 08.06.10 10:15 mit den Slaven, Ungarn, Türken oder anderen von Österreich verspricht dem, der das erste zu identifizieren). Veilchen finde, ein Jahr lang ihre Liebe; Neidhart Neben dem politischen und religiösen Impetus findet es, deckt es mit seinem Hut ab und holt der Spiele ist zugleich ein moralischer deutlich die Hofgesellschaft her. In der Zwischenzeit er- spürbar. Insbesondere die Weltgerichtsspiele, setzen Bauern das Blümchen durch einen Kot- aber auch Nebenszenen in anderen Spielen, haufen – und entsprechend ist der Eklat, führen die Laster einzelner Berufsstände vor; als die Erzherzogin den Hut lüftet. Neidhart vom Quacksalber, der wertlose Salben verkauft, schwört den Bauern Rache – und verfällt damit bis hin zum Schneider, der am Stoff spart. gänzlich in die Rolle des Bauernhassers, die ihm generell in den Neidhartschwänken und Neid- Maien-, Neidhart- und Fastnachtsspiele hartspielen zugedacht ist. Die Spiele leben aus diesem sozialen Konflikt, der ironisch überhöht Die Ständesatire ist auch ein wichtiges Element durchgespielt wird. des weltlichen Spiels des Mittelalters. Dieses Eine Verkehrung von Hierarchien und eine setzt als schriftlich fixiertes Spiel historisch- et Provokation der ständischen Ordnung und der was später ein als das geistliche, es ist aber oft Moralvorstellungen sowie Tabubrüche sind noch schwerer als dieses von nicht schriftlich konstitutive Teile der Fastnachtsfeierlichkeiten, fixierten Fest- und Brauchtumsformen zu tren- die ihrerseits fest eingebettet sind in den kirch- nen.6 Zu erwähnen sind hier zum einen Spiele, lichen Festtagskalender und eine gesellschaft- die das Frühjahr, den Mai und das Erwachen der liche Funktion erfüllen, sowohl durch das In- Natur feiern. Der noch heute bestehende fragestellen von Normen wie auch durch das Brauch, am 1. Mai oder an Pfingsten Maibäume Verlachen von Normbrüchen. Eine Theater- aufzurichten, lässt sich seit 1224 nachweisen. aktivität an Fastnacht ist aus zahlreichen deut- Man errichtete die Bäume – in der Regel Fich- schen Städten im späten 14. und besonders im ten, die bis auf die Spitze kahl geschlagen wa- 15./16. Jahrhundert belegt. Bezeugt sind Büh- ren – auf dem Marktplatz oder vor der Residenz nenwagen und Bühnengerüste auf dem Markt- des jeweiligen Landesfürsten und erwies dem platz, daneben auch Aufführungen in Innen- Baum durch Umtanzen Verehrung. In der Nacht räumen, wie im Rathaus, in Zunfthäusern oder zum ersten Mai oder am ersten Mai selbst sind auch in Gasthäusern. Die Stoffe, die auf diesen vor allem im Spätmittelalter in den Städten üp- Bühnen aufgeführt wurden, waren zwar weit- pige Festessen bezeugt. Bei diesem Festmahl gehend weltliche, daneben aber auch geist- empfing man den „Maienkönig“, einen, wie ab liche. Als Akteure sind entweder Söhne wohl- Mitte des 14. Jh. belegt ist, für dieses Amt er- habender Bürgerfamilien erwähnt, die ihre wählten Bürger, der am 1. Mai oder an Pfing- Kostüme selbst mitbrachen, oder aber Hand- sten einen zeremoniellen Einzug in die jeweilige werker, bei denen die Zunft für Kostüme und Stadt hielt, in dichtes Laub gehüllt. Der Einzug Requisiten aufkam. Sehr selten treten auch des Maienkönigs war wohl von Tänzen und Tur- Schulen als Verantwortliche auf. nieren begleitet; manchenorts sind auch Schau- Die Forschung zum deutschen Fastnachtspiel turniere zwischen dem personifizierten Winter setzt zwei lokale Schwerpunkte, und das we- und dem Sommer belegt. Nicht nur Schautur- gen der Überlieferungslage: Lübeck und Nürn- niere und Tänze, sondern auch Spiele waren im berg. Aus Lübeck ist viel über die Organisation Spätmittelalter Teil der Pfingst- und Maienfeier- der Fastnachtspiele bezeugt, aus Nürnberg sind lichkeiten. über hundert Spieltexte überliefert. Beide Städ- Das älteste überlieferte weltliche Spiel in deut- te waren bedeutende Handelszentren und da- scher Sprache ist das „St. Pauler Neidhartspiel“ mit auch Umschlagplätze für Literatur. In (1360/70). Die Textgrundlage des Spiels bildet ihrer Ausrichtung aber sind die beiden Fast- der berühmteste der Schwänke, die sich um nachtspielzentren sehr verschieden. Beeinflusst den Minnesänger Neidhart ranken, der so durch die niederländischen „Rederijkers“ (Rhe- genannte Veilchenschwank: Die Erzherzogin torikerkammern, die Rhetorik- und Schauspiel-

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051-060_dietl.indd 54 08.06.10 10:15 wettbewerbe zu abstrakten und meist mora- mit zahlreichen Bühnenständen unnötig. Die lischen Themen organisierten), waren die Lübe- Hinwendung zur sogenannten Terenzbühne, cker Spiele vor allem Moralitäten. Aus Nürnberg also einer einfachen Bühne mit mehreren Auf- ist ein Panorama fastnächtlicher Aufführungen und Abtrittsmöglichkeiten, wurde jetzt Pro- bezeugt, das Läufe, Tänze, auch Morisken- und gramm. Schwerttänze, Turniere und Spiele verschie- Bei aller Polemik der Humanisten gegenüber denster Art umfasst. Die Fastnachtspiele im dem mittelalterlichen Spiel verschlossen sie sich eigentlichen Sinne machen hiervon den gerings- aber dennoch nicht den spätmittelalterlichen ten Teil aus. Deren Inhalt entspricht in den meis- dramatischen Formen. Sie experimentierten ten Fällen der lockeren Fröhlichkeit des Fast- mit Versatzstücken des geistlichen und des nachtsfests: Das Grundthema ist das besonders Fastnachtspiels, auch mit Prozessionen und derb gezeichnete Alltagsleben. Freizügig wird zeremoniellen Elementen in ihren Dramen, die über fleischliche Liebe, Geschlechtskrankheiten, zunächst an Universitäten, im Rahmen humanis- Trink- und Esslustbarkeiten mit allen Begleiter- tischer Sodalitäten und an humanistisch ge- scheinungen gesprochen. Den Rahmen bilden sinnten Höfen, dann auch in Schulen und im mit Vorliebe Gerichts- oder Arztszenen. Unter städtischen Rahmen aufgeführt wurden, von dem unterhaltsamen Mantel aber verbirgt sich Studenten, Schülern und Gelehrten anlässlich in der Regel doch eine versteckte Moral. universitärer oder schulischer, zuweilen auch religiöser, städtischer oder privater Feste, poli- Humanisten- und Reformationsdrama tischer Ereignisse, von Fürstenbesuchen oder Hoftagen. Die Gegenstände sind zuweilen zeit- Die Blütezeit der Fastnachtspiele und der gro- genössisch-politische, auch bildungspolitische, ßen, mehrtägigen geistlichen Spiele trifft zeit- zuweilen mythologisch-allegorische, zuweilen lich mit der Einführung des Humanistendramas biblische, im Bereich der Komödie auch typi- im Alten Reich zusammen. Durch die Entde- sierte Diebstahls-, Betrugs- und Liebesverwick- ckung einer bedeutenden Plautus-Handschrift lungen. Die Komödie konnte auch für persön- durch Nikolaus Cusanus 1425 in Köln sowie liche Fehden zwischen humanistischen Ge- durch die Auffindung des Terenz-Kommentars lehrten eingesetzt werden. von Donat/Evanthius durch Giovanni Aurispa in Mainz 1433 erfuhr die huma- nistische Antikenrezep tion und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit römischen Tragödien und Komödien (Seneca, Terenz und Plautus) einen deut- lichen Auftrieb. In formaler Anlehnung an die rö- mischen Klassiker und in humanistischem Neulatein entstanden ab dem Ende des 15. Jh. im deutschspra- chigen Gebiet Tragödien, Komödien und allerlei dra- matische Mischformen.Wo die klassische Einheit des Abb. 1: Misteri d’Elx: Abschied der Jünger von Maria (2004). Bildnachweis: Orts akzeptiert wurde, war http://festivalmedieval.com/es/fotogalerias. Heute an dieser Stelle nicht mehr eine große Simultanbühne vorhanden.

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051-060_dietl.indd 55 08.06.10 10:15 Die Wirkmacht, die die Humanisten gerade auch Aufführungen mittelalterlicher und im Bereich des politisch-agitatorischen Dramas frühneuzeitlicher Spiele heute neu entdeckt hatten, wurde nach der Reforma- tion im konfessionellen Drama bewusst ausge- In einigen europäischen Städten sind mittelal- nutzt. Das konfessionelle Drama ist zum Teil terliche oder frühneuzeitliche Schauspieltraditi- volkssprachlich verfasst, die Autoren sind Leh- onen erhalten geblieben, in den letzten Jahr- rende, Pfarrer, Schüler oder Studenten; Auffüh- zehnten wieder zum Leben erweckt oder auch rungsorte sind meist Schulen, Ordensschulen, erst neu eingeführt worden. Zu erwähnen seien Universitäten oder aber städtische Plätze. Ge- hier beispielsweise das traditionelle „Mariae genstände sind anfangs meist biblische oder le- Himmelfahrtsspiel“ in Elx/Spanien (Abb. 1), die gendarische Stoffe sowie Allegorisches – oder verschiedenen „Praesepe vivente“ in Umbrien, aber ein satirisch überzeichnetes Bild des jeweils das barocke „Oberammergauer Passionsspiel“ entgegen gesetzten konfessionellen Lagers. oder auch die Helsinkier „Via Crucis“. Die Bald wurden auch konfessionell orientierte Leh- Spiele werden heute in der Regel professionell ren in historische oder literarische Stoffe einge- künstlerisch betreut. Seltener ist eine wissen- woben. Mit der klassischen Dramenform, seit schaftliche Betreuung solcher Spiele durch dem Humanismus Norm, wurde immer wieder Theater historiker. Eine solche findet bei den neu experimentiert, ebenso wie mit den Mög- Aufführungen des „Corpus Christi Cycle“ in lichkeiten einer Bühnentechnik, die ein Abwei- York statt, wo im Juli 1998 in Verbindung mit chen von den drei Einheiten erlaubte, ohne dass dem „York Early Music Festival“ und dem „In- man zur mittelalterlichen Simultanbühne zu- ternational Medieval Congress“ in Leeds erst- rückkehren musste. Die Übergänge zum Barock- mals elf Einzelspiele des Yorker Fronleichnams- drama sind, sobald die Verwandlungsbühne ein- spiels auf nach mittelalterlichen Beschrei- geführt ist, fließend. bungen rekons truierten Bühnenwagen an fünf

Abb. 2: York Corpus Christi Cycle: Ölberggebet und Hohepriester (1998). Bildnachweis: Cora Dietl

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051-060_dietl.indd 56 08.06.10 10:15 historisch bezeugten Aufführungsorten des dien könnten in ganz besonderer Weise zur Wagenspiels aufgeführt wurden. Seitdem wird Eloquenz beitragen,7 während Konrad Celtis in das Spiel in regelmäßigen Abständen wieder seiner „Ars versificandi et carminum“ (1486) als städtischer Großevent in Szene gesetzt, wis- die Tragödie als ein Instrument kluger Staats- senschaftlich betreut durch die Mediävisten, lenkung lobt, weil sich in den öffentlichen Musik- und Theaterhistoriker der Universitäten Aufführungen von Tragödien und Komödien York und Leeds. Darsteller sind wie im Mittelal- Weisheit („sapientia“) und höchste Beredsam- ter in ers ter Linie Mitglieder der Zünfte der keit („summa eloquentia“) zu einer sublimen Stadt York, daneben auch Studierende. „persuasio“ verbinden, welche die Zuschauer Einige mediävistische Institute in Europa und moralisch unterrichten, begeistern und dazu Amerika beherbergen seit Jahrzehnten studen- anspornen könne, den auf der Bühne präsen- tische Theatergruppen. Die didaktische Idee, tierten Vorbildern nachzueifern und das zu tun, die sich dahinter verbirgt, ist keine grundsätz- was man seinem Land und seinem Mit- lich andere als die der Auslandsphilologien menschen schulde. Aus ähnlichen Überzeu- oder die des Grammatik- und Rhetorikunter- gungen setzte sich Philipp Melanchthon dafür richts an den frühhumanistischen Universitäten ein, dass das Theaterspiel in die Lehrpläne der und Lateinschulen. Schon Quintilian hatte in deutschen Lateinschulen des 16. Jahrhunderts seiner „Institutio oratoria“ erklärt, die Komödie integriert wurde. eigne sich besonders für sprach- wie moraldi- Heute wird man keine politische oder mora- daktische Zwecke (X,1,65). In diesem Sinne lische Erziehung mehr durch ein Theaterspiel schreibt auch 1450 Enea Silvio Piccolomini in an der Universität bezwecken wollen; die Aus- seinem „Tractatus de liberorum educatione“ bildung von sprachlichen und rhetorischen (1450): „Comoediae plurimum conferre ad Schlüsselkompetenzen aber ist gerade jetzt, im eloquentiam possunt“, das heißt: die Komö- Zuge der zunehmenden Praxisorientierung der

Abb. 3: York Corpus Christi Cycle: Kreuzigung (2006). Bildnachweis: Cora Dietl

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051-060_dietl.indd 57 08.06.10 10:15 modularisierten Studiengänge, besonders hoch die Aufführung in der Aula der JLU wiederholt. geschätzt. Die schauspielerische Umsetzung his- Im Rahmen der Projektwoche „Rings um die torischer Spieltexte kann dazu dienen, den re- Tafelrunde“ zum Jahr der Geisteswissenschaften flektierten Umgang mit der Literatur und der fand bald darauf, im Dezember 2007, eine Sprache in ihrer Historizität zu stärken und Aufführung von Hans Sachs’ „Tristan“ auf dem zugleich eine praktische Einführung in Schau- Kirchenplatz statt. Anlässlich des 100-jährigen spiel, Dramaturgie und Pressearbeit sowie Jubiläums des Frauenstudiums der JLU 2008 Schlüsselqualifikationen wie Rhetorik, Sprech- führten Studierende im Margarete-Bieber-Saal erziehung und Präsentation zu vermitteln. eines der Dramen Hrotsvithas von Gandersheim Öffentliche Aufführungen dienen zugleich dem auf; mit der Gründung des Literarischen Zen- Wissenstransfer, indem Erkenntnisse über die trums Gießen im Herbst 2009 schließlich fiel die Geschichte des Dramas anschaulich und wis- Aufführung des „Hessischen Weihnachtsspiels“ senschaftlich fundiert an ein interessiertes Pu- zusammen. blikum vermittelt werden. Die Grundidee zur Regie dieser studentischen Aus diesem Grund organisiert die Professur für Aufführungen ist es, den Text in seiner Historizität Deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwer- zu bewahren, aber nicht museal einzufrieren. punkt Mittelalter/Frühe Neuzeit der JLU Gießen Witzige wie ernste Szenen im Text sollen gefun- seit 2007 regelmäßig Aufführungen mittel- den und unterstrichen, symbolische Aussagen alterlicher und frühneuzeitlicher Spiele mit und intertextuelle Bezüge verdeutlicht werden. Studierenden. Den Startschuss setzte das Jubilä- Eine gänzliche Übernahme mittelalterlicher Büh- umsjahr 2007 mit der Aufführung von Daniel nenformen ist aus technischen Gründen oft nicht Cramers „Comoedia Plagium“ aus dem Jahr möglich, aber die Studierenden erkennen nach 1593, die 1607 bei der Eröffnung des Lehrbe- einer Einführung in die Geschichte der Bühnen- triebs an der Universität Gießen am 9. 10. 1607 formen, wo die Vorteile einer historisch exakten aufgeführt worden war. Am 9. 10. 2007 wurde Umsetzung lägen, und können argumentieren,

Abb. 4: Daniel Cramer, „Plagium“, Gießen: Kulissenbau vor der Aula (2007). Bildnachweis: Cora Dietl

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051-060_dietl.indd 58 08.06.10 10:15 welche Kompromisse am ehesten akzeptabel sind. Was auf jeden Fall beibehal- ten wird, ist die fließende Grenze zwischen Spiel und Fest, die bei jeder Inszenie- rung neu gesetzt wird. Die hautnahe Vermittlung histo- rischer Theaterkenntnisse geht jeweils einher mit durchaus neuzeitlicher so- wie praktischer Arbeit beim Bühnenbau und Kostüm - nähen, bei der Probenorga- nisation, Beleuchtung, Ton- technik, beim Entwurf von Programmheft, Flyer, Plakat und Pressemitteilung sowie bei Presseinterviews. Damit sind die Erfordernisse eines Moduls wie „Literarische Bil- dung und kulturelle Praxis“ Abb. 5: Hessisches Weihnachtsspiel, Gießen: Joseph und seine Mägde (2009). problemlos erfüllt. Bildnachweis: Cora Dietl

Die Internationale Gesellschaft zur terlichen Spiel und zum frühneuzeitlichen Dra- Erforschung des mittelalterlichen Dramas ma (wie Rolf Bergmann, Hansjürgen Linke, Gert Roloff, Eckehard Simon) zählten von An- Nicht nur der Lehre und dem Wissenstransfer, fang an zu den Mitgliedern der SITM. Der Ge- sondern durchaus auch der Forschung dienen sellschaft geht es ausdrücklich ums Theater rekonstruierende Aufführungen mittelalter- und nicht um das Drama, also nicht nur um licher und frühneuzeitlicher Theaterstücke. Die Texte. Aufführungen werden als ein valider Ver- „Société Internationale pour l’Étude du Théâtre suchsaufbau gesehen, um die historischen per- Médiéval“ (SITM), die führende Gesellschaft formativen Bedingungen zu rekonstruieren. zur Erforschung des mittelalterlichen Dramas, Nicht zufällig gehörten die wissenschaftlichen fördert parallel die theoretische und die prak- Betreuer der Aufführung des Yorker Fronleich- tische Auseinandersetzung mit dem älteren namsspiels zu den Gründungsvätern der SITM: Drama. Ausgehend von einer Initiative der ang- Erst im Nachvollzug wurde in York deutlich, listischen Mediävistik, Theater- und Musikge- dass nicht alle überlieferten Einzelspiele des Zy- schichte in Leeds, fanden 1974 in Leeds und klus an allen bezeugten Stationen des Prozessi- 1977 in Alençon erste internationale Kon- onszugs aufgeführt werden konnten; erst im gresse zur mittelalterlichen Theatergeschichte Nachbau konnten einige falschen Annahmen statt. Beim dritten Kongress 1980 in Dublin gab über den Bau der Bühnenwagen widerlegt sich die Gesellschaft ihre Statuten. Die SITM ist werden; erst die Erfahrung der akustischen Si- eine zweisprachige, französisch-englische wis- tuation in den Straßen machte offensichtlich, senschaftliche Gesellschaft, die die Erforschung welche Bedeutung den Gesten zukommt. des mittelalterlichen Theaters stimulieren Die Gesellschaft organisiert alle drei Jahre einen möchte – und das nicht nur im englisch- und Kongress: Nach Dublin tagte sie in Viterbo, Per- französischsprachigen Gebiet. Große Namen in pignan, Lancaster, Girona, Toronto, Odense, der germanistischen Forschung zum mittelal- Groningen, Elx und zuletzt in Lille. Dieses Jahr,

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051-060_dietl.indd 59 08.06.10 10:15 vom 18. bis zum 24. Juli 2010, wird sie erstmals 3 Rolf Bergmann (Hg.), Katalog der deutschsprachigen in Deutschland tagen: in Gießen. Traditionell geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters. München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission werden die Kongresse der SITM von einem Mit- für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen telalter-Theaterfestival begleitet: Die Mitglieder Akademie der Wissenschaften). der Gesellschaft bringen ihre eigenen studen- 4 Bernd Neumann, Geistliches Spiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im tischen Theatergruppen mit, damit diese am deutschen Sprachgebiet. 2 Bde. München 1987 (MTU Abend in öffentlichen Aufführungen die Spiele 84, 85). präsentieren, die tagsüber im Expertenkreis dis- 5 Heidy Greco-Kaufmann, „Zuo der Eere Gottes, vfferbu- wung dess mentschen vnd der statt Lucern lob“. Thea- kutiert wurden. Das städtische und universitäre ter und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Publikum darf und soll Fragen zu den Spielen Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Zü- und zur Inszenierung stellen; Erläuterungen rich 2009 (Theatrum Helveticum 11). 6 werden außerdem im Programmheft gegeben; Grundlegend dazu: Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370–1530. Unter- die Vorträge des Kongresses stehen bereits vor- suchung und Dokumentation. Tübingen 2003 (MTU ab offen zugänglich im Internet. 124). Informationen zu den Aufführungen, die an so 7 Enea Silvio Piccolomini, Opera quae extant omnia, Basel 1551, 984, zit. nach: Wilfried Barner, Barockrhetorik. reizvollen Orten wie dem Botanischen Garten Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. und der Pankratiuskapelle in Gießen, dem Tübingen 1970, S. 304. Schiffenberg, Schloss Rauischholzhausen, dem Fürstensaal im Marburger Schloss, Schloss Kontakt: Braunfels und Schloss Staufenberg stattfinden, Prof. Dr. Cora Dietl sowie zur Tagung sind erhältlich unter: http:// Justus Liebig-Universität Gießen www.uni-giessen.de/~g91159/sitm.htm. Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Str. 10B Anmerkungen: 35394 Gießen 1 Walter Haug/Rainer Warning (Hgg.), Das Fest. Mün- Tel.: 0641/99290-80 oder -81 chen 1989 (Poetik und Hermeneutik 14). 2 Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 1: Das Fax: 0641/99290-89 Theater der Antike und des Mittelalters. Salzburg 1957. Mail: [email protected]

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051-060_dietl.indd 60 08.06.10 10:15 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Thomas M. Bohn

„Russische Geschichte“, „Russland als Vielvölkerreich“ oder „Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion“? Perspektiven im Zeichen transnationaler und imperialer Forschungsparadigmen

Mit der „Osterweiterung“ der Europäischen flikt endgültig manifest wurde. Als die- Men Union haben sich zu Beginn des 21. Jahrhun- schenrechts- und Bürgerbewegungen in den derts wieder einmal die Grenzen in den kogni- siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhun- tiven Landkarten der westlichen Öffentlichkeit derts begannen, sich von der kommunistischen verschoben. Durch die „Europäisierung“ Ost- Herrschaft zu emanzipieren, hieß die zweifel- mittel- und Südosteuropas erfährt Russland in- hafte Parole folglich „Zurück nach Europa!“. Als des eine Marginalisierung. Allerorten ist eine Kehrseite der Medaille bleiben heutzutage Russ- Distanzierung vom Osten zu verspüren. Verant- land, die Ukraine und Belarus geopolitisch und wortlich dafür sind die Folgen imperialer Macht- soziokulturell aus dem noch unter Gorbatschow verhältnisse und kultureller Missverständnisse. in sympathischer Weise postulierten „gemein- Das Zarenreich, das im Zeitalter der Nordischen samen Haus Europa“ ausgeschlossen. Kriege unter Peter dem Großen auf die poli- Sind die russische und sowjetische Geschichte tische Bühne Europas getreten war, geriet inte- aus deutscher Sicht tatsächlich so abseitig oder ressanterweise erst durch die Rotation, die die rechtfertigt sich nicht viel eher gerade auch in Achsen der räumlichen Wahrnehmung in der Hessen ein neuerliches Interesse an den Lebens- Epoche der Aufklärung erfuhren, vom Norden in welten Lomonossows, Dostojewskis und Schos- den Osten des Kontinents. War der Gegensatz takowitschs? Russland gibt Rätsel auf, nicht nur von Zivilisation und Barbarei seit der Antike auf in philosophischer und künstlerischer, sondern die Nord-Süd-Achse bezogen worden, so hatte auch in politischer und sozioökonomischer Hin- fortan das russische Kaiserreich unter Katharina sicht. Wie passen die „russische Seele“ und die II. die Funktion einer negativen Kontrastfolie zu „russische Idee“ mit dem stalinistischen Terror übernehmen und sich aufgrund der mittelalter- und der autoritären Herrschaft zusammen? Was lichen Mongolenherrschaft und der autokra- bedingt den Gegensatz zwischen dem Reichtum tischen Tradition mit dem Vorwurf der orien- des Landes und der Armut der Bevölkerung? talischen Despotie auseinanderzusetzen. „Russ- Warum lässt der vermeintlich starke Staat die land und Europa“ lauten die noch heute rele- Bürgergesellschaft nicht zum Zuge kommen? vanten Pole, die seit den religions- und ge- Antworten auf diese Fragen können und müs- schichtsphilosophischen Debatten zwischen sen an der Justus-Liebig-Universität formuliert „Westlern“ und „Slavophilen“ im Moskau der werden. Diese Aufgabe steht nicht nur mit den vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit den Be- allgemeinen Traditionen der deutschen Ost- griffspaaren „Rückständigkeit und Moderni- europaforschung in Zusammenhang, sondern sierung“ oder „Spiritualität und Dekadenz“ eine ist auch auf spezifische Fixpunkte der hessisch- Zuschreibung erfahren haben. In mächtepoli- russischen Beziehungen zurückzuführen. tischer Hinsicht hatte die Spaltung Europas bereits durch die unter preußischer, öster- I. Traditionen des Faches reichischer und russischer Ägide vollzogene Auf- Osteuropäische Geschichte teilung Polens am Ende des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck gefunden, bevor sie dann über Zweifelsohne hat kein Geringerer als der Be- die Sowjetisierung Ostmittel- und Südosteuro- gründer des deutschen Historismus, Leopold pas nach dem Zweiten Weltkrieg und die Errich- von Ranke, in seinem Jugendwerk „Ge- tung des Eisernen Vorhangs im Ost-West-Kon- schichten der romanischen und germanischen

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061-070_Bohn.indd 61 08.06.10 10:18 Völker“ den Europabegriff 1824 auf die latei- ker in der Nachfolge Rankes in Bezug auf die nische Chris tenheit reduziert und dabei be- slawische Welt gestellt sehen, einer Spezialisie- hauptet „Neuyork und Lima“ gingen uns „nä- rung des Faches Osteuropäische Geschichte her an, als Kiew und Smolensk“. Doch spielte immer noch das Wort redet. die russische Karte in der Diplomatie spätestens Weil in der russischen und sowjetischen Histo- seit der Bismarck-Ära eine so bedeutende Rol- riographie andere Fragen gestellt wurden als in le, dass mit dem Auslaufen des Rückversiche- der deutschen, kann auf Rankes Diktum ein rungsvertrages in den 1890er Jahren an der neues Licht geworfen werden. Anders als im Berliner Universität ein Lehrstuhl für osteuro- deutschen Historismus, der die Symbiose von päische Geschichte eingerichtet wurde. „Ost- Staat und Nation in den Mittelpunkt seines Er- forschung“ wurde fortan in politischem Auf- kenntnisinteresses rückte, ging es vorrevolutio- trag betrieben. Der Betrachtungsgegenstand nären russischen Historikern darum, den Dua- der „klassischen“ osteuropäischen Geschichte, lismus von Russland und Europa sowie den will heißen: die Fokussierung auf die russische Antagonismus von Staat und Gesellschaft kri- und die sowjetische Geschichte, fand dabei tisch zu beleuchten. Vor diesem Hintergrund durch eine Reihe von Faktoren eine Rechtferti- verpflichtete sich die „Moskauer Schule“ be- gung. Zunächst haben das orthodoxe Christen- reits siebzig Jahre vor der „Bielefelder Schule“ tum und die kyrillische Schrift weiten Teilen des einer historischen Soziologie. Erst der Stalinis- östlichen Europa ihren Stempel aufgedrückt. mus mit seiner vom Sowjetpatriotismus inspi- Sie sind zudem durch die mongolische Fremd- rierten Forderung, Helden- und Ruhmestaten herrschaft über mehr als zwei Jahrhunderte wieder auf die Agenda zu setzen, führte zu ei- von der Entwicklung des übrigen Europa abge- ner geistigen Verarmung der Geschichtswissen- schnitten worden. Während im Westen mit der schaft. Während im Westen die historische An- Latinisierung des Christentums eine Perpetuie- thropologie ihren Siegeszug antrat, frönte der rung des römischen Rechts erfolgte, blieb der Osten weiterhin einem Vulgärmarxismus, der Osten einer patriarchalischen Tradition verbun- historische Prozesse vor der „Großen sozialis- den. Altrussland kannte weder Lehen noch tischen Oktoberrevolution“ als eine Geschichte Stände, weder die Renaissance noch den Hu- von Klassenkämpfen strukturierte und die an- manismus oder die Reformation. Aus der Weite schließende Entwicklung als eine Summe der des Raumes resultierten die extensive Wirt- Errungenschaften beim Aufbau des Kommu- schaftsweise und die amorphe Sozialstruktur. nismus bilanzierte. Eine Kontinuität zwischen Signifikant wurde allein die Zentralisierung der der vorrevolutionären russischen und der sow- Herrschaft in der Autokratie. Letztendlich sind jetischen Historiographie bildet bezeichnender- Staat und Gesellschaft nie vollständig ausein- weise die Unterscheidung der universitären andergetreten. Die unter Peter dem Großen Fachdisziplinen „vaterländische“ oder „rus- verordnete kulturelle Öffnung und die unter sische Geschichte“ und „allgemeine Geschich- Stalin auferlegte ökonomische Modernisierung te“. Als Randnotiz sei darauf hingewiesen, dass stellten Versuche dar, Anschluss an den Westen die Übernahme dieser Sprachregelung durch zu finden. Jedoch erwies es sich als ungemein deutsche Russlandhistorikerinnen und -histori- schwierig, die der Gesellschaft eigenen archa- ker einer Selbstvergewisserung gegenüber den ischen Elemente zu überwinden. Immerhin bis dato in Fragen der Theorie den Ton ange- stellen die Ukraine und Weißrussland Kontakt- benden „Allgemeinhistorikern“ dient. zonen dar, die aufgrund intensiver Kulturein- flüsse, wie der Übernahme des Magdeburger II. Perspektiven des 21. Jahrhunderts Stadtrechts oder des Anschlusses an die unierte auf die russische und Kirche, die Offenheit der Grenzen zwischen Ost sowjetische Geschichte und West bezeugen. Vor diesem Hintergrund ist zu bedauern, dass die Sprachbarriere, vor Aufgrund der Tatsache, dass sich nach dem der sich deutsche Historikerinnen und Histori- Untergang der Sowjetunion in den Nachfolge-

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061-070_Bohn.indd 62 08.06.10 10:18 Abb. 1: Karte „Russland in den Grenzen von 1462–1917“. Bildnachweis: Bohn, Thomas M./Neutatz, Dietmar (Hrsg.): Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2: Russisches 2: Bd. Europa. Östliches Studienhandbuch (Hrsg.): Dietmar M./Neutatz, Thomas Bohn, Bildnachweis: 1462–1917“. von Grenzen den in „Russland Karte 1: Abb. Reich und Sowjetunion. 2., überarbeitete aktualisierte Aufl. Köln/Weimar/Wien 2009, Anhang

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061-070_Bohn.indd 63 08.06.10 10:18 staaten eigenständige Historiographien heraus- biose eingingen. Russkij meinte bis zur all- zubilden und Nationalgeschichten zu kreieren mählichen Ausdifferenzierung der Sprachgrup- begannen, sah sich die westliche Osteuropa- pen im 15. und 16. Jahrhundert noch nicht forschung ihrerseits zum Umdenken veranlasst. „russisch“, sondern „ostslawisch“. Rossijskij ist Es genügte nicht mehr, die Perspektive aus- eine Wortschöpfung der petrinischen Ära. Sie schließlich auf Moskau und St. Petersburg/ steht mit der Proklamation des „Russländischen Leningrad zu richten, sondern es ergab sich die Imperiums“ (Rossijskaja imperija) aus Anlass Notwendigkeit, außer Kiew und Smolensk min- des Nystader Friedens in Zusammenhang, mit destens noch Minsk und Kasan in den Blick zu dem Peter der Große die Schweden 1721 als nehmen. Das Wort von „Russland als Vielvöl- Ostseevormacht verdrängte. Bei Anbruch der kerreich“ machte Anfang der neunziger Jahre Neuzeit verengte sich russkij nicht nur auf das die Runde. In der Tat war das sich unter Iwan russische Ethnos, sondern fungierte darüber dem Schrecklichen konstituierende Zarenreich hin aus auch als Bezeichnung für die Sphäre der durch die Eroberung der an der mittleren und Gesellschaft. Rossijskij erstreckte sich hingegen unteren Wolga gelegenen tatarischen Khanate auf das Herrschaftsgebiet und konnotierte fort- von Kasan und Astrachan Mitte des 16. Jahr- an die Ebene der Staatsverwaltung. Vor diesem hunderts über das ursprüngliche Siedlungsge- Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass die biet der Ostslawen hinausgegangen und in ei- Verwendung des deutschen Begriffes „russlän- nen bis in das 19. Jahrhundert währenden Pro- dische Geschichte“ in den 1990er Jahren in zess der Expansion oder Kolonisation eingetre- Fachkreisen in Mode kam, doch hat sich die ten. Bezeichnenderweise lag der Anteil der Terminologie wegen ihres fremdartigen Klan- Russen sowohl bei der ersten Volkszählung des ges in der Umgangssprache nicht durchsetzen Zarenreiches von 1897 als auch bei der letzten können. sowjetischen Volkszählung von 1989 lediglich Stellte sich das „Vielvölkerreich“ anfangs als bei 50 %. „Russisch“ reicht in der Folge als vielversprechendes Konzept dar, erwies sich in Arbeitssprache nicht mehr aus. Angesichts der der Praxis allzu bald, dass die „russische Ge- Tatsache, dass in den Volkszählungen jeweils schichte“ dadurch lediglich um eine Summe von über 100 Ethnien registriert wurden, vermag Nationalgeschichten erweitert wurde, welche die Kenntnis der anderen beiden ostslawischen mehr oder minder unverbunden nebeneinander Sprachen, „Ukrainisch“ und „Belarussisch“, standen. Immerhin waren Russland- und Sow- allenfalls Lücken zu füllen. jetunionhistorikerinnen und -historiker auf der Auf den Paradigmenwechsel weist die Umben- Höhe der Zeit, als zu Beginn des 21. Jahrhun- ennung der führenden Fachzeitschrift Ote ˇc est- derts die aus dem angloamerikanischen Bereich vennaja istorija („Vaterländische Geschichte“) stammenden Empire Studies vor dem Hinter- hin, die sich erst durch einen generationsbe- grund der Globalisierung ihren Siegeszug antra- dingten personellen Austausch in der Redakti- ten und in diesem Zusammenhang das Paradig- on im Jahre 2009 veranlasst sah, sich vom ma der transnationalen Geschichte einen Me- Reichs- respektive Sowjetpatriotismus zu lösen. thodenwechsel von der historischen Komparatis- Nicht von ungefähr beinhaltet der neue Titel tik zur Kulturtransferforschung einleitete. Kon- Rossijskaja istorija („Russländische Geschich- stitutive Elemente von Imperien sind demzufol- te“) eine Erweiterung des bisherigen Konzepts ge die Herrschaft über große Gebiete und viele der russischen Geschichte (russkaja istorija). Völker, die Legitimation durch eine Dynastie und Das Substantiv Rus‘ und das daraus abgeleitete die Stabilität durch Macht. Vom Nationalstaat Adjektiv russkij bezogen sich ursprünglich auf sollen Imperien zum einen die Durchlässigkeit die aus Skandinavien stammenden Fernkauf- der Grenzen und zum anderen die Heterogeni- leute, die im 9. Jahrhundert entlang des Fluss- tät der Bevölkerung unterscheiden. Zu den Exis- systems „von den Warägern zu den Griechen“ tenzbedingungen werden das Gleichgewicht einen Verbund von Burgsiedlungen errichteten zwischen Ressourcen und Militärapparat sowie und mit der indigenen Bevölkerung eine Sym- zwischen Zentrum und Peripherie gezählt. Trans-

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061-070_Bohn.indd 64 08.06.10 10:18 Abb. 2: Karte „Politische Gliederung der Sowjetunion 1939–1989“. Bildnachweis: Bohn, Thomas M./Neutatz, Dietmar (Hrsg.): Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2: Bd. Europa. Östliches Studienhandbuch (Hrsg.): Dietmar M./Neutatz, Thomas Bohn, Bildnachweis: 1939–1989“. Sowjetunion der Gliederung „Politische Karte 2: Abb. Russisches Reich und Sowjetunion. 2., überarbeitete aktualisierte Aufl. Köln/Weimar/Wien 2009, Anhang

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061-070_Bohn.indd 65 08.06.10 10:19 der Oktoberrevolution von 1917 zu benennen. Auf dieser Grundlage kris- tallisieren sich zwei Struk- turprobleme der russischen und sowjetischen Geschich- te heraus. Mit dem koloni- alen Komplex, der sich in der Erschließung neuer Ter- ritorien und der Einrichtung von Pufferzonen nieder- schlug, war nicht nur eine Rechtfertigung und Stabili- sierung des Herrschaftssys- tems verbunden, sondern auch eine Ausdifferenzie- rung von Eliten- und Volks- kultur. Das daraus resultie- rende „russländische“ res- pektive sowjetische Para- dox bezeichnet die Diver- genz zwischen dem Wachs- tum des Staates und dem Aufblähen der Bürokratie einerseits und der Entrech- tung der Gesellschaft und dem Versagen der sozialen Systeme andererseits. So gesehen haftet der Gewalt- herrschaft des Stalinismus eine gewisse Zwangsläufig- keit an. Schließlich wurden die aus der Kritik am west- lichen Kapitalismus er- Abb. 3: Plakat „Mutter Heimat ruft“. Bildnachweis: Mark Grosset/Nicolas Werth: wachsene sozialistische Die Ära Stalin, Stuttgart 2008, S. 123 Utopie in einem rückstän- digen Agrar land erprobt, nationale Geschichte bezieht sich nicht nur auf das von einer paternalistischen Kultur geprägt Grenzüberschreitung und Migration im en- war. Modernisierung mutierte in diesem Sinne geren, sondern auch auf Verflechtung und Kul- zu einer Zivilisierungsmission, die sich als Krieg turtransfer im weiteren Sinne, d. h. auf die Über- gegen die bäuerlichen Traditionen und die natio- tragung von Know-how und dessen Adaption nalen Minderheiten entpuppte. an ein neues Milieu. Auf dem Gebiet der Institu- tionen ist etwa die Übernahme des schwe- III. Das Zarenreich und die Sowjetunion dischen Verwaltungssystems unter Peter dem in Forschung und Lehre Großen, auf dem Gebiet der Migration die An- siedlung deutscher Kolonisten unter Katharina Summa summarum verspricht folgende Kon- II. und auf dem Gebiet der Ideologie die Reali- zeption einer „Geschichte des Russischen Rei- sierung des kommunistischen Manifests nach ches und der Sowjetunion“ ertragreich zu sein:

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061-070_Bohn.indd 66 08.06.10 10:19 1. Russische und sowjetische Geschichte wer- Vor diesem Hintergrund bieten sich an der Jus- den als Teil der europäischen Geschichte be- tus-Liebig-Universität Schwerpunktsetzungen trachtet. Dabei soll danach gefragt werden, in- in folgenden Themenbereichen an: wieweit sich Konzeptionen, Kategorien und 1. Die Ausstellung „Russland 1900. Kunst und Begriffe der mittel- und westeuropäischen Ge- Kultur im Reich des letzten Zaren“, die auf der schichte auf den russisch-ostslavischen Raum Mathildenhöhe Darmstadt an der Jahreswende übertragen lassen oder inwieweit Unterschei- 2008/09 zu sehen war, spiegelt ein öffentliches dungen zu treffen und eigene Kategorien zu Interesse wider. Gespeist wird dies durch die bilden sind. Der anzustrebende Vergleich hat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestehen- ausdrücklich nicht unter der Prämisse zu fol- den dynastischen Beziehungen zwischen dem gen, dass die mittel- und westeuropäische Ent- Haus Hessen und den Romanows. Insbesonde- wicklung den „Normalfall“ bildet, an dem der re das Schicksal von Alice (Alix) von Hessen- russische „Sonderweg“ gemessen wird respek- Darmstadt, besser bekannt als letzte Zarin Ale- tive seine aus dieser Betrachtung resultie- xandra Fjodorowna, und ihrer Schwester Elisa- renden „Defizite“ konstatiert werden. beth, der Großfürstin und Äbtissin Jelisawjeta 2. Die selbst in der neueren Forschung immer Fjodorowna, haben immer wieder die Auf- noch vorherrschende moskauzentrische Pers- merksamkeit auf sich gezogen. Brüskierte Er- pektive soll durchbrochen und Russland bzw. stere die intellektuelle Elite, weil sie die Position die Sowjetunion als Vielvölkerreich behandelt ihres schwachen Gatten durch die Beschwö- werden. Neben dem Verhältnis von „Staat und rung der Traditionen von „Autokratie, Ortho- Gesellschaft“ sollen die Beziehung von „Zent- doxie und Volkstum“ zu untermauern suchte, rum und Peripherie“ sowie das Wechselspiel und weil sie der Bluterkrankheit ihres Sohnes von „Transnationalität und Kulturtransfer“ durch die Inanspruchnahme des zwielichtigen thema tisiert werden. Das Russlandbild, das da- Wunderheilers Rasputin entgegen wirken zu bei vertreten wird, hat sich sowohl gegenüber können glaubte, zog Letztere aus der Ermor- imperialen Ansprüchen als auch slavophilen dung ihres streitbaren Gemahls durch Verklärungen abzugrenzen. Neben der poly- sozialrevolutionäre Terroristen die Konsequenz, ethnischen und polykonfessionellen Komplexi- sich karitativ zu engagieren, ohne einer Mystifi- tät des Zentrums müssen auch die Russifizie- zierung des Heiligen Russland anheimzufallen, rung und die Sowjetisierung in den Puffer- und gewann dafür dennoch die Sympathien zonen oder Satellitenstaaten Berücksichtigung der einfachen Bevölkerung. finden. 2. Die seit 1991 bestehende Partnerschaft des 3. Außer dem im Zeichen des Terrors stehenden Landes Hessen mit der Region Jaroslawl und Stalinismus soll mit Blick auf die binnen weni- die gerade in Vorbereitung befindliche Russ- ger Jahrzehnte erfolgte Verwandlung eines land-Studie der Hessen-Agentur unterstreichen Agrarlandes in einen Industriestaat die Urbani- die Relevanz ökonomischer Beziehungen. Eine sierung und der dem planwirtschaftlichen Fort- historiographische Fundierung diesbezüglicher schrittsfetischismus geschuldete Ökozid bzw. Aktivitäten kann auf bibliothekarische Ressour- der auf der Tonnenideologie beruhende Raub- cen aufbauen, die aus den Traditionen des bau an der Natur zu einem Leitmotiv der So- Faches Osteuropäische Geschichte an der Jus- wjetunionforschung erhoben werden. In bei- tus-Liebig-Universität resultieren. Anknüpfend den Fällen interessiert dabei die von Eigensinn an die Mitte der fünfziger Jahre begonnene Ar- und Dissens geprägte Alltagsgeschichte des beit des Instituts für Kontinentale Agrar- und Sozialismus. Es geht sowohl um die Vorausset- Wirtschaftsforschung bemühte sich der Lehr- zungen der politischen Kultur und die Chancen stuhlinhaber Klaus Heller seit dem Ende der der Zivilgesellschaft als auch um den Zustand achtziger Jahre systematisch um die Wirt- der Ökologie und die Potentiale der Umweltbe- schaftsgeschichte des vorrevolutionären Russ- wegung in der Phase der Transformation seit land. Als prominentes Beispiel für hessische 1991. Unternehmer, die im Zarenreich Geschäfte be-

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061-070_Bohn.indd 67 08.06.10 10:19 Abb. 4: Zarin Alexandra aus dem Hause Hessen-Darmstadt im Kreise der europäischen Verwandten 1903 (von links: Großherzog Ernst Ludwig, Zarin Alexandra Fjodorowna, Zar Nikolaus II., Prinzessin Irene, Prinz Heinrich von Preußen, Großfürstin Elisabeth, Großfürst Sergej, Prinzessin Victoria, Prinz Ludwig von Battenberg). Bildnachweis: Beil, Ralf (Hrsg.): Russland 1900. Kunst und Kultur im Reich des letzten Zaren. Mathildenhöhe Darmstadt, 12. Oktober 2008 bis 1. Februar 2009. Köln 2008, S. 116

trieben, ist Großherzog Ernst Ludwig zu nen- sich infolgedessen im Rahmen der Literatur- nen, der die Vermittlung des Jugendstils mit kritik ab. Darüber hinaus dient die Partner- dem Export von Kunstgewerbe verband. Sym- schaft mit der Universität Kasan als Schneise bolträchtig für das 20. Jahrhundert ist die Tat- zur mittleren Wolga und nach Zentralasien. sache, dass die sowjetische Automobilindustrie Dabei ist in symptomatischer Weise von einem erst durch kriegsbedingte Demontageliefe- Erinnerungsort die Rede. Denn die 1552 er- rungen aus Rüsselsheim in die Gänge kam. Bei folgte Eroberung des tatarischen Khanats von der ersten Generation des Moskwitsch handel- Kasan markiert die Konstitution Russlands als te es sich um eine nahezu originalgetreue Ko- Vielvölkerreich. Aus historischer Perspektive pie des Opel Kadett. gewinnbringend gestaltet sich demzufolge die 3. Das 2006 gegründete „Gießener Zentrum Einbeziehung des Islams in die Erforschung des östliches Europa“ öffnet durch die einzigartige vordergründig orthodoxen Zarenreichs und der Kombination von Geschichte, Slawistik und vermeintlich atheistischen Sowjetunion. Die Turkologie Wege, die andernorts nicht betreten Frage nach der Autonomie Tatarstans rückt werden können. Aus naheliegenden Gründen dabei genauso auf die Tagesordnung wie das bietet sich die schöne Literatur als Einstieg in Problem der Deportation von Russlanddeut- die historische Forschung an. Schriftsteller ge- schen nach Kasachstan. rieten angesichts der politischen Zensur sowohl 4. Der 2009 neu besetzte Lehrstuhl für „Ost- im Russischen Reich als auch in der Sowjetuni- euro päische Geschichte“ mit dem Schwer- on immer wieder in die Rolle von Geschichts- punkt „Russisches Reich und Sowjetunion“ philosophen. Öffentliche Debatten spielten verfügt über eine deutschlandweite einzig-

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061-070_Bohn.indd 68 08.06.10 10:19 artige Kompetenz in der Weißrussland-For- zogene Russifizierung ging mit einer Preisgabe schung. Die Republik Belarus ist nach Auffas- weißrussischer Identität einher. sung des Journalisten Wolfgang Büscher, der Unter diesen Voraussetzungen fügen sich die den Weg von Berlin nach Moskau zu Fuß zu- Lehrstuhlmitarbeiter mit den folgenden wissen- rücklegte, immer noch das „komplizierteste schaftlichen Profilen in das Zukunftskonzept der Land der Welt“ und seine Hauptstadt Minsk ein Justus-Liebig-Universität Gießen ein: Aufgrund „Freilichtmuseum des sozialistischen Realis- einer Dissertation über die Moskauer Historiker- mus“. Historisch gesehen zeichnete sich die schule im ausgehenden Zarenreich und einer Belarus als Übergangszone zwischen Mittel- Habilitation über den Wiederaufbau der Stadt und Osteuropa aus. Sie erhielt ihre kulturellen Minsk nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Ver- Prägungen zunächst vom Großfürstentum Li- fasser durch inhaltliche Schwerpunkte in den tauen und der polnischen Adelsrepublik und Bereichen Historiographiegeschichte und Erin- dann vom zarischen und sowjetischen Imperi- nerungskulturen einerseits und Stadtgeschichte um. Das 20. Jahrhundert stellt mit den beiden und Urbanisierungsforschung andererseits aus- Weltkriegen, der Zwangskollektivierung der gewiesen. Neuerliche Interessen beziehen sich Landwirtschaft, dem stalinistischen Terror, dem auf Aberglauben und Nonkonformismus, anset- Holocaust und dem Reaktorunfall von Tscher- zend beim Vampirismus der Frühen Neuzeit und nobyl ein Zeitalter der demographischen Kata- abschließend mit dem Eigensinn im Sozialismus. strophen dar. Darüber hinaus erfolgte nach Anknüpfend an das Gesamtkonzept erforschen dem Zweiten Weltkrieg im Zuge eines rasanten die Mitarbeiter Birte Kohtz und Rayk Einax Urbanisierungsprozesses die Umwandlung des Männlichkeitsdiskurse im ausgehenden Zaren- Agrarlandes in ein Industrieland. Die im Rah- reich sowie Entstalinisierungsdebatten in der men der sozialistischen Modernisierung voll- Chruschtschow-Ära. Aliaksandr Dalhouski un-

Abb. 5: „Darmstadt: Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude und Russische Kapelle“, Postkarte um 1908. Bildnachweis: Beil, Ralf (Hrsg.): Russland 1900. Kunst und Kultur im Reich des letzten Zaren. Mathildenhöhe Darmstadt, 12. Okto- ber 2008 bis 1. Februar 2009. Köln 2008, S. 4

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061-070_Bohn.indd 69 08.06.10 10:19 tersucht im Forschungsprojekt „Politik und Ge- Literaturhinweise: sellschaft nach Tschernobyl“ die Interdependenz Beil, Ralf (Hrsg.): Russland 1900. Kunst und Kultur im von sozialen Forderungen in Petitionen aus der Reich des letzten Zaren. Mathildenhöhe Darmstadt, kontaminierten Region einerseits und politi- 12. Oktober 2008 bis 1. Februar 2009. Köln 2008. Belkin, Dmitrij/Raphael Gross (Hrsg.): Ausgerechnet schem Protest landesweiter Initiativen zur Über- Deutschland. Jüdisch-russische Einwanderung in die windung der Folgen des atomaren GAUs ande- Bundesrepublik. Jüdisches Museum Frankfurt, 12. 3.– rerseits. Insgesamt gesehen soll über die kultur- 25. 7. 2010. Berlin 2010. Bohn, Thomas M./Dietmar Neutatz (Hrsg.): Studien- wissenschaftliche Russland- und Sowjetunion- handbuch Östliches Europa. Bd. 2: Russisches Reich forschung hinaus in Kooperation mit dem Lehr- und Sowjetunion. 2. überarbeitete und aktualisierte stuhl für Geschichte Ostmitteleuropas und dem Aufl. Köln/Weimar/Wien 2009. Herder-Institut Marburg über ein wissenschaft- Emeliantseva, Ekaterina/Arié Malz/Daniel Ursprung: Ein- führung in die Osteuropäische Geschichte. Stuttgart liches Netzwerk die Belarus- oder Weißrussland- 2008. forschung etabliert werden. Russland-Studie der Hessen-Agentur (in Vorbereitung).

Kontakt: [email protected]

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061-070_Bohn.indd 70 08.06.10 10:19 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Oliver Behnecke

Die Selbsterfindung einer Stadt: Stadtentwicklung durch Kultur – Wissen schafft Stadt

Im folgenden Artikel möchte ich versuchen, ei­ kunft zu entwickeln. Jubiläen spielen in diesen nen neuen Stellenwert von Kulturarbeit im Prozessen eine wichtige Rolle, denn „die im Rahmen von Stadtentwicklung und Stadt­ Jubi läum inszenierte Geschichte ist kein auf ein marketing bewusst zu machen. Gerade die Er­ Verfallsdatum zulaufender Niedergang, son- fahrungen mit den Großveranstaltungen zum dern ein mit Hoffnung und Wünschen besetz- Universitätsjubiläum 2007 und zum 200. Ge­ ter Merkposten.“1 Diese jubiläumsspezifische burtstag von Justus Liebig 2003 oder die Stadt­ Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart rauminszenierung anlässlich des Gießener und Zukunft war auch ein dramaturgischer An­ Stadt jubiläums 1997 zeigen die Chancen und satz für den Spielplan zum 400. Geburtstag der Perspektiven künstlerischer und kultureller Pro­ Universität Gießen, den ich in diesem Artikel duktion als Impuls und Methode zur Entwick­ noch einmal mit einem Rückblick als ein gelun­ lung einer städtischen Identität, die entschei­ genes Beispiel kooperativer und identitätsstif­ dende Voraussetzung ist, um Profile und Ideen tender Kulturarbeit von Universität und Stadt zur Gestaltung städtischer Gegenwart und Zu­ herausstellen möchte.

Abb. 1: Fest zum 400. Geburtstag der Universität Gießen (Foto: Oliver Schepp)

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071-080_Behnecke.indd 71 08.06.10 10:16 Stadtentwicklung und Kultur mehr geschlossen werden, man muss in Zu­ kunft mit der Lücke leben und die Nischen als „Kunst und Wissenschaft leben von Menschen, Chance begreifen, als Platz und (Frei­)Raum für die mit all ihrer Kraft träumen und forschen. Stadtgrün, für temporäre Nutzungen und wei­ Solche Radikalität braucht Respekt und Förde- tere Bespielungen. rung und sie braucht Orte, an denen sich heute Städte und Regionen werden sich diesen Ver­ ausbrüten lässt, was uns morgen beschäftigen änderungsprozessen stellen müssen. So gibt es wird. Dieser Horizont verlangt gemeinsame Lei- immer mehr Schrumpfungsregionen und Stag­ denschaft.“ (Zitat aus einer Zeitungsanzeige nationsregionen, aber natürlich auch noch eini­ zur Kulturhauptstadtbewerbung Bremens). ge Regionen, die nach wie vor wachsen. Städte Solche gemeinsame Leidenschaft lässt sich am entwickeln sich immer weiter wie organische besten durch konkrete Projekte mit einer aus­ Sys teme – wachsen, schrumpfen, zerfallen und geprägten Beteiligungsstruktur bündeln, wie entstehen wieder neu. Betrachtet man Regi­ es bei den Kulturprogrammen zum Liebig­Jahr onen wie z. B. das Ruhrgebiet in der Zeitspanne 2003 oder zum Universitätsjubiläum 2007 der der letzten 100–150 Jahre, so hat es sich mit Fall war, welche Gießen als Wissenschafts­ der Industrialisierung vergrößert und ist dabei standort öffentlichkeitswirksam herausgestellt immer mehr zusammengewachsen. Seit dem haben. Es ging darum, die Geschichte und die Ende dieser Phase ist die Schrumpfung einge­ Geschichten, die Ideen und Visionen einer treten. Als Symbol für diesen Strukturwandel Stadt und einer Universität zu finden und zu er­ wurde Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet zählen, sowie Perspektiven für eine zukünftige zur Kulturhauptstadt Europas 2010 gewählt. Stadtentwicklung zu bekommen. Dabei spie­ Auf diese Entwicklungsdynamik kann nun len Hochschulen gerade für Universitätsstädte nicht mehr mit dem herkömmlichen, auf Lang­ in der Größenordnung und Struktur von Gie­ fristigkeit und Wachstum angelegten Pla­ ßen eine wichtige Rolle, denn Wissen entwi­ nungsbegriff vieler Stadtplaner und politischer ckelt Stadt – Wissen schafft Stadt. Entscheider reagiert werden, sondern dieser Jahrelang, vor allem in den 1960ern und 70ern, muss um dynamische Instrumente und Metho­ hieß die Devise von Stadtentwicklung und ­pla­ den für eine innovative Stadtentwicklung er­ nung „Urbanität durch Verdichtung“. Demo­ gänzt werden, denn Stadt entwickelt sich im­ graphen und Stadtplaner prophezeiten wach­ mer unberechenbarer. Eine Stadt steht ständig sende Städte mit einer arbeitenden Bevölke­ vor der Herausforderung, sich immer wieder zu rung, für die es praktische Häuser geben definieren – sich gewissermaßen immer wieder müsste, die wenig Fläche verbrauchten. Hoch­ neu zu erfinden. Künst lerische und kulturelle haus­Siedlungen am Rande der Städte entstan­ Projekte können dazu einen entscheidenden den, die heutzutage wegen Leerstand und ur­ Beitrag leisten, indem sie die Selbsterfindung baner Ghettoisierung teilweise abgerissen bzw. und die Identitätsstiftung einer Stadt moderie­ „zurückgebaut“ werden. Städte wachsen und ren, entwickeln und anstoßen. Denn künstle­ schrumpfen wieder – sie sind ein dynamisches rische Projekte, vor allem aus den darstellenden und organisches System aus Menschen und Künsten, sind per se dynamisch und flexibel, Bauten – beides ist endlich. Durch Bevölke­ vergänglich und kurzfristig – sie können daher rungsrückgang, Wirtschaftsstagnation und sehr gut auf die eben beschriebenen dyna­ den Wandel von der Industriegesellschaft hin mischen und oft unberechenbaren Entwick­ zur Wissens­ und Dienstleistungsgesellschaft lungsprozesse einer Stadt reagieren. muss gegenwärtige und zukünftige Stadtent­ Zeitgemäße, innovative und kreative Stadtent­ wicklung eher mit Lücken, Nischen, Leerstän­ wicklung geht folglich nur im Zusammenspiel den und Schrumpfungen umgehen. So hat von Stadtplanern, Stadtpolitikern, Stadt­ z. B. Leipzig im Rahmen des Bundesforschungs­ Unterneh mern, Hochschulen in der Stadt, projektes „Stadt 2030“ das Leitbild „Die perfo­ Stadt­Wissenschaftlern und vor allem mit der rierte Stadt“ entworfen. Lücken können nicht Stadt­Bevölkerung und eben mit kreativ inter­

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071-080_Behnecke.indd 72 08.06.10 10:16 Abb. 2: Performance „Gipfel der Wissenschaften“ zum Universitätsjubiläum (Foto: Frank Sygusch)

disziplinär arbeitenden Profis der Kunst, Kultur Neubewertung kultureller Ressourcen und Wissenschaft. Seit einigen Jahren findet auf diese Weise eine Identifikation und Kooperation Neubewertung der kulturellen Ressourcen in durch Kunst und Kultur Deutschland statt. Die Städte treten in Kon­ kurrenz um Tagesbesucher, Kulturtouristen, Kunst und Kultur spielen bundesweit seit ein Geschäftsreisende und Einwohner. Gießen als paar Jahren im Diskurs der Stadtentwicklung Universitätsstadt tritt in Konkurrenz um Studie­ und des Stadtmarketings eine immer zentralere rende mit anderen Universitätsstädten mit ähn­ Rolle: Der Kreativitäts­ und Entwicklungsfrei­ licher Größe und ähnlichem Profil. Die kultu­ raum von Kunst und Kultur bietet einen beson­ relle Attraktivität einer Stadt ist heute eine ders geeigneten Rahmen, in dem Visionen ent­ Schlüsselgröße der Wertschöpfung. Kultur ge­ wickelt werden können, die helfen, die Profile rät damit zunehmend in die Reichweite von In­ der Städte zu entwerfen. Kunst und Kultur bie­ vestitionsentscheidungen. ten insbesondere ein kommunikatives und kre­ Lebendige Kultur ist ein oft widerspenstiger, atives Handlungsfeld, in dem Visionen durch risikoreicher Prozess mit offenem Ausgang – konkrete Maßnahmen und Projekte angesto­ selten aalglatt zeitgemäß, mal allzu schnell, ßen und umgesetzt und damit auch getestet mal allzu langsam, und als solcher nur bedingt werden können. Diese Perspektiven können plan­ und verwaltbar. Beinahe zwangsläufig Bewohnern und Akteuren aus Wissenschaft, droht Kulturpolitik im herkömmlichen Sinne an Wirtschaft, Politik und Institutionen Identifika­ der eigenen Unberechenbarkeit und Rastlosig­ tionspotenziale mit ihrer Stadt bieten, indem keit von Stadt und Kultur zu scheitern. Kultur­ Zusammenarbeit in konkreten Projekten kurz­ politik hat nur dann Aussicht auf Gelingen, fristig getestet und damit langfristig Synergien wenn ihr eine genaue, scharfsichtige Wahrneh­ ausgebildet werden. Künstlerische und kultu­ mung und Beobachtung der sich stets wan­ relle Projekte können als Trainingslager und La­ delnden städtischen Kultur zugrunde liegt. Da­ bor für die Stadtentwicklung fungieren. bei sollte sich das Augenmerk auf zwei wesent­

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071-080_Behnecke.indd 73 08.06.10 10:16 liche Faktoren richten: Brutstätten und Regelmäßige Kultur­Projekte in kurzen Zeitab­ Beses sene. Es müssen also die kreativen Orte ständen dienen als Motivation, um langfri­ und Köpfe einer Stadt sichtbar gemacht und in stige Ziele nicht aus den Augen und dem Sinn Kontakt zueinander gebracht werden. Sie sind zu verlieren. Solche Projekte funktionieren als entscheidend für die Entstehung kultureller Runder Tisch, an dem die unterschiedlichsten Qualitäten. Kultur ist Motor für Kreativität. Sie Akteure einer Stadt aus den Bereichen Wirt­ ist die unabdingbare Voraussetzung für ein vi­ schaft, Wissenschaft, Bildung, Politik, Kultur tales, innovationsfähiges Gemeinwesen. Kultur und Bürgerschaft zusammenkommen. An die­ ist Ressource. Dabei spielen die Hochschulen sem Tisch geht es darum, das jeweilige Projekt als Orte des Wissens, der Forschung, der Bil­ durch direktes Handeln gemeinsam voranzu­ dung und der Kultur eine wichtige Rolle. Kunst bringen und kurzfristig umzusetzen. Solch ein und Kultur erhalten eine entscheidende Bedeu­ kooperatives, identitätsstiftendes und profil­ tung im Rahmen der Stadtentwicklungspolitik: bildendes Projekt für Gießen war das Uni­ „Kultur ist ein zentraler Ansatzpunkt für eine versitätsjubi läum im Jahr 2007, auf das nun Profilüberprüfung und -veränderung, Kultur- noch einmal zurückgeblickt werden soll, um politik ist (...) Stadtpolitik, Kulturentwicklung daraus vorausblickend Ideen und Perspektiven ein Teil der Stadtentwicklung.“2 für Veranstaltungsformate zu schaffen – das Kunst und Kultur bieten die Chance für einen Univer sitäts jubiläum als „Live­Machbarkeits­ Kommunikationsraum, in dem auch scheinbar studie“ für eine kommunikative Stadtentwick­ Unmögliches gedacht, getestet und gestaltet lung mit einem entsprechenden Stadtmarke­ werden kann. Solche Freiräume braucht jede ting. Entwicklung einer Stadt mit all ihren unter­ schiedlichen Akteuren aus Bürgerschaft, Politik, 400 Jahre Universität Gießen – Bildung, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. die Universität als kultureller Ort Die schöpferische Reibung von Ideal und Wirk­ in der Stadt lichkeit künstlerischer und kreativer Arbeits­ formen kann Entwicklungsprozesse in uner­ Bei den Veranstaltungen zum 400. Geburtstag schlossene Dimensionen treiben. Künstlerische der Universität Gießen im Jahr 2007 ging es um und kreative Besessenheit ist Hauptmotor kul­ Universitäts­ und Stadtgeschichte und um das tureller Erneuerung und sollte Einlass finden in Erzählen von Geschichten – von vergangenen, die oft pragmatische Stadtentwicklungsarbeit. gegenwärtigen und zukünftigen. Bei den Pla­ nungen des Gesamtspielplans für das Jubilä­ Die Kunst der Kurzfristigkeit umsjahr kam es darauf an, wie und wo diese Geschichten der Universität Gießen, diese Ge­ Kulturelle und künstlerische Projekte können schichten der Wissenschaft erzählt werden – es folglich als Methode und Technik der Stadtent­ ging um die Entwicklung von Inszenierungen, wicklung dienen. Während herkömmliche Pla­ um das Entwickeln von Formen und Formaten nungs­ und Entwicklungsprozesse sehr oft mit­ zur Vermittlung der universitären Inhalte aus tel­ und langfristig sind, bieten künstlerische Forschung und Lehre. Dabei standen zwei his­ Projekte und Arbeitsformen die große Chance, torische Eckdaten der Universitätsgründung mit motivierender Kurzfristigkeit die oft lang­ im Fokus: der Tag der Unterzeichnung des Pri­ wierige Stadtentwicklungsarbeit zu ergänzen vilegs durch Kaiser Rudolf II. zur Gründung der und so städtische Gegenwart zu gestalten. Universität Gießen als Landesuniversität von Denn für diese langwierigen Entwicklungspro­ Hessen­Darmstadt am 19. Mai 1607 und die zesse sind kurzfristige, sichtbare und erlebbare Aufnahme des Lehrbetriebs im Herbst 1607. Ergebnisse und Ereignisse entscheidend zur Diese beiden historischen Daten im Mai und im Motivation, Vermittlung und Überprüfung mit­ Oktober bildeten die Zwei­Säulen­Dramaturgie tel­ und langfristiger Ziele und Visionen für eine des Veranstaltungs­Spielplans zum Jubiläum. Stadt. Im Mai ging die Universität mit einem Wissen­

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071-080_Behnecke.indd 74 08.06.10 10:16 schaftsfestival hinaus auf die Plätze und Stra­ fältiger, kreativer und erlebnisbezogener Form ßen der Stadt und in die Geschäfte der Innen­ nahe zu bringen. stadt – ein Festival an den Schnittstellen von Wissenschaft, Bildung, Kultur und Alltag. Im Wissen schafft Stadt – Oktober kam die Stadt in die Universität zu Wissen entwickelt Stadt einem universitätsweiten „Tag der offenen Tü­ ren“. Das Jahr 2007 war für Gießen ein Jahr der Universitätsintern wurden durch die Ausschrei­ großen Feierlichkeiten. Gleich drei Instituti­ bung eines Jubiläumsförderfonds vielfältige onen, die für das Bildungs­ und Kulturleben der Veranstaltungen und Projekte von Fachbe­ Stadt und Region prägend sind, feierten ihre reichen, Zentren, Einrichtungen und Studieren­ kleinen und großen Jubiläen. Allen voran be­ den für das Jubiläumsprogramm initiiert – so ging die Gießener Universität ihren 400. Ge­ entstanden unter anderem Ausstellungen, The­ burtstag; das Stadttheater wurde 100 Jahre alt, aterprojekte, Konzerte, Vortragsreihen, Buch­ und das vergleichsweise junge, aber hochinno­ veröffentlichungen, Filme und Festivals, die vative Mathematikum feierte sein immerhin zeigten, wie vielseitig und facettenreich die 5­jähriges Bestehen. Diesen Rahmen mit seiner Jus tus­Liebig­Universität ist. Die landesge­ außergewöhnlichen und identitätsstiftenden schichtliche Bedeutung der Universität sowie Bedeutung nutzten die Universität und die das einmalige Fächerprofil, über das die Univer­ Stadt Gießen, um die Potenziale der Stadt zu sität heute verfügt, spiegelten sich im Jahres­ bündeln und in einem Dialog zwischen Wissen­ programm wider. Ziel war es, möglichst vielen schaft, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Stadt­ Bürgerinnen und Bürgern Wissenschaft in viel­ Gesellschaft zusammenzuführen.

Abb. 3: Uni­Theaterball 2007 im Audimax (Foto: Rolf K. Wegst)

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071-080_Behnecke.indd 75 08.06.10 10:16 Die Gleichzeitigkeit der drei Jubiläen legte eine lichen Präsentationen auf dem „Wochenmarkt Akzentuierung von Aktivitäten an den Schnitt­ der Wissenschaften“ am 19. Mai, der im An­ stellen von Wissenschaft, Kunst und innova­ schluss an den samstäglichen Wochenmarkt tiven Vermittlungskonzepten nahe. Gießen dessen Stände und Lauben bezog, waren ein führte seine Tradition ungewöhnlicher stadt­ absoluter Publikumsmagnet. Hier tummelten weiter Aktionen fort und legte einen Schwer­ sich 5.000 Besucher – Kinder wie Erwachsene punkt auf die sinnliche und publikumsnahe –, um gespannt Experimenten, Vorführungen Präsentation von Wissenschaft und Forschung und Kurzvorträgen zu folgen. Aber auch die im Stadtraum. Unter dem Leitmotiv „Wissen­ unterschiedlichen Vorlesungen der Universität SchafftStadt“ wurde in enger Kooperation zwi­ – von Tiermedizin über Germanistik bis zur Ar­ schen der Justus­Liebig­Universität und der chäologie – und das allabendliche Konzertpro­ Stadt Gießen (gemeinsam mit der Künstler­ gramm von Klassik über Balkan­Beats bis zum gruppe AKKU) ein Jahresprogramm entwickelt. Tango im „Auditorium Urbanum“, dem großen Das Veranstaltungsjahr wurde im Januar 2007 Rundzelt auf dem Kirchenplatz, fanden eine anlässlich des 100­jährigen Bestehens des Woche lang regen Anklang. Mitten im alltäg­ Stadttheaters Gießen und des 400. Geburts­ lichen Stadtleben wurde universitäres und stu­ tags der Universität Gießen mit einem großen dentisches Leben sicht­ und erlebbar. Uni­Theater­Ball im Audimax eröffnet. Die Aktion „Gießen – Eine Stadt wird Doktor“ Der größte Veranstaltungsraum der Universität der Berliner Künstlergruppe „Kulturmaßnah­ und der Stadt wurde mit eindrucksvollen Projek­ men“ nahm sich eines zentralen universitären tionen und dem Orchester des Theaters in einen Themas an – der Promotion – und verlieh all je­ großen Ballsaal verwandelt. Weiter ging es im nen den Titel des „Bürgerdoktors“, die ihn auf­ Frühjahr mit dem Wissenschaftsfestival vom 19. grund einer persönlichen Leistung für sich bis zum 26. Mai 2007: In Zusammenarbeit mit selbst angemessen fanden. Über 50 stolze den Instituten und Fachbereichen der JLU, mit „Ausgezeichnete“ leben seither in Gießen. Des der Fachhochschule, mit Bildungs­ und Techno­ weiteren traf man bei der „Akademie des All­ logieeinrichtungen, dem Handel, lokalen Unter­ tags“ im Marktquartier, der „Temporären Men­ nehmen, den gastronomischen Betrieben, den sa“ in der Plockstraße, dem „Langen Band des ansässigen Medien, hiesigen Kulturschaffenden Wissens“ im Seltersweg, der Reihe „Kinder und auswärtigen Künstlern wurde ein Festival wollen’s wissen“ im Katharinenviertel sowie veranstaltet, das im Laufe einer Woche über den „Science Camps“ für kleine „Nachwuchs­ 50.000 interessierte Besucher anlockte. Begon­ wissenschaftler“ auf eine mitten im Leben plat­ nen wurde diese Veranstaltungswoche am 19. zierte Universität, auf vielfältiges Wissen und Mai mit einem feierlichen Festakt in der Univer­ Wissenschaft – stets an überraschenden und sitätsaula mit einem eigens produzierten Hör­ ungewöhnlichen Orten vermittelt. stück von Heiner Goebbels, einer raumgreifen­ Räumlich wurden die zahlreichen Aktionen in den Videoinstallation von Studierenden der An­ der Stadt durch die Kunsthandwerk­ und Fla­ gewandten Theaterwissenschaft und einem niermeile „Fluss mit Flair“ mit dem großen Fest musikalischen Programm des Universitätsorches­ vor dem Universitätshauptgebäude verbunden. ters unter Leitung von Universitätsmusikdirektor Dorthin hatte das 400­jährige Geburtstagskind Stefan Ottersbach. Im Anschluss daran wurden nach dem offiziellen Festakt in der Universitäts­ die Türen des Universitätshauptgebäudes geöff­ aula am 19. Mai Mitarbeiter, Studierende und net und der Universitätsplatz mit der gesperrten Bürger eingeladen – 3.000 Besucher erlebten Ludwigstraße wurde Ort für eine große Geburts­ das abschließende Illuminationsfeuerwerk am tagstafel für alle Universitätsangehörigen und Universitätshauptgebäude. Ebenfalls auf Kunst die gesamte Stadtbevölkerung. traf man, wenn man Frank Bölters überdimen­ Der Veranstaltungsreigen zog sich dann weiter sionalem Papierschiff „Auf großer Fahrt“ zur in die Innenstadt durch den Seltersweg auf den Lahn folgte – und das taten bei bestem Wetter Kirchenplatz. Insbesondere die wissenschaft­ eine große Schar Gießener und Besucher.

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071-080_Behnecke.indd 76 08.06.10 10:16 Und so war es in dieser Woche gut möglich, wurden wissenschaftlich und unterhaltsam dass man einem bemannten, acht Meter lan­ durch zwei Reihen mit wöchentlichen Veran­ gen Papierfaltboot beim Kentern zuschaute, staltungen verknüpft. den ersten begehbaren Kuhpansen Deutsch­ Für die Filmreihe „Montagsexperten“ im Heli­ lands durchschritt, seine Spaghetti in der Men­ Kino stand jeweils ein Experte – Wissenschaft­ sa unter freiem Himmel in der Fußgängerzone ler oder Künstler – Pate für einen Film seiner aß, man im Vorlesungszelt mit einem leben­ persönlichen Wahl. Eingebettet in die gast­ digen Pferd konfrontiert wurde, an einem che­ freundliche Atmosphäre des Kinos und mit von mischen Seminar im Teeladen teilnahm oder der Künstlergruppe AKKU gestalteten, wö­ dass man zum Bürgerdoktor der Stadt Gießen chentlich wechselnden kulinarischen oder per­ ernannt wurde. Oder man konnte sich in einer formativen „special effects“, entwickelten sich 100­stündigen Dauervorlesung von 400 Vor­ im Anschluss an die Filmvorführung angeregte tragenden in 400 Kurzvorträgen die 400­jährige Gespräche zwischen Publikum und Experten. Universitätsgeschichte anhören. Ganz Gießen Diese fanden bald ein interessiertes und enga­ wurde so für eine Woche zur lebendigen Uni­ giertes Stammpublikum. versität, zum kurzweiligen Campus und zum Sonntags konnten sich interessierte Bürge­ spannenden Labor! rinnen und Bürger ganz der Wissenschaft wid­ men. Ob per pedes, mit dem Fahrrad, Bus oder Sonntagsausflüge und Zug machten sich die Wissensdurstigen – ange­ Montagsexperten führt von einem Wissenschaftler, Künstler oder anderen Wissensexperten – zu einem jeweils Die beiden Höhenpunkte des Jubiläumsjahres, neuen Thema auf den Weg durch den Gieße­ das „Fest der Wissenschaft und Forschung“ im ner Kosmos der Wissenschaften. Ob zur „Cam­ Frühjahr und das Fest im Herbst unter dem pusarchitektur“, bei einer mathematischen Motto „Gießen begrüßt die Erstsemester“, Stadtführung, einem Ausflug zu Schunk oder

Abb. 4: Chemie­Vorlesung in der Innenstadt (Foto: Oliver Schepp)

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071-080_Behnecke.indd 77 08.06.10 10:16 zur Blutegelfarm – den Sonntagsausflüglern mit Info­Ständen vor. Die künstlerisch­musika­ bot sich ein abwechslungsreiches und stets lische Inszenierung „400 remixed – historische lehrreiches Programm. Künstlerisch und kulina­ Musik trifft Clubsound“ bot dabei einen zeit­ risch erfrischt wurden die Forschungsreisenden gemäßen, festlichen und vielfältigen Rahmen. am AKKUmobil – Jausenstation, Herberge des Die von Studentenprotesten gegen die neu ein­ Begrüßungskomitees und Informationsschalter geführten Studiengebühren flankierten Be­ in einem. grüßungsreden von Universitätspräsident Prof. Dr. Stefan Hormuth und Oberbürgermeister Offene Türen – Wissenssalons Heinz­Peter Haumann wurden in diese musika­ – Erstsemester-Begrüßung lische Gesamtinszenierung ebenso eingebettet wie die langfristig angelegten künstlerischen Im Herbst 2007 endete der Veranstaltungsrei­ Projekte „Heimweh!“ und „Gipfel der Wissen­ gen „WissenSchafftStadt“. Mit dem „Tag der schaften“, die hier ihren Höhepunkt und Ab­ offenen Türen“ an der Universität und den schluss fanden. Insgesamt 2.500 Besucher nah­ „Wissenssalons“, die Einblicke in das verbor­ men an dieser außergewöhnlichen Begrüßungs­ gene, nicht institutionell vermittelte Wissen der feier für die neuen Studierenden teil. Stadt gaben, wurden eine Vielzahl Neugieriger Im innerstädtischen Raum zeigte der Handel an bekannte und noch unbekannte Orte des mit seinen Aktionen, dass Gießen nicht nur Ort Wissens und der Wissenschaft gelockt. für Wissenschaft, sondern auch für lebendige Mit dem Begrüßungsfest für die Erstsemester Kultur ist. Das „Küchenmonument“ der Ber­ am 20. Oktober hießen Stadt und Universität liner Architekten „raumlabor“ im Theaterpark gemeinsam die studentischen „Neubürger“ auf lud zu einem großen kommunikativen Festes­ dem Brandplatz willkommen, am historischen sen und einem Ball für Tanzfreudige jeder Cou­ Ort des ersten Kollegiengebäudes der Universi­ leur in eine imposante, temporäre Raumblase. tät. In den angrenzenden Marktlauben stellten Die französische „Compagnie des Quidams“ sich universitäre und städtische Einrichtungen verzauberte den Seltersweg für eine Stunde

Abb. 5: Das „Küchenmonument“ von der Berliner Künstlergruppe raumlabor (Foto: Jörg Wagner)

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071-080_Behnecke.indd 78 08.06.10 10:16 durch die zarte und humorvolle Poesie des Stadt Gießen mit dann insgesamt 400 Veran­ „Rêve d’Herbert“ – musikalisch untermalt von staltungen zum 400. Geburtstag der Universi­ den „Marching Bandits“. Bis in die frühen Mor­ tät. genstunden wurde dann mit einer großen Stu­ denten­Party im Audimax der Universität wei­ Von der Koexistenz zur Kooperation ter gefeiert. Diese Kooperation von Universität und Stadt Von 200 auf 400 hat sich aber erst durch große Kulturprojekte in den letzten 13 Jahren verfestigt – es lässt sich Mit dem großen Jubiläumsvorhaben „Wissen­ eine organische Entwicklungslinie der Koope­ SchafftStadt“ ging ein ganzjähriges Programm ration zwischen den Hochschulen und der über die universitären und städtischen Bühnen, Stadt Gießen darstellen: Angefangen 1997 mit das in enger Kooperation von Universität und der Stadtrauminszenierung „Die 12 Stunden“ Stadt Gießen entwickelt und umgesetzt wurde zum Stadtjubiläum, die hauptsächlich vom da­ und eine intensivere Verankerung der Univer­ maligen Abschlussjahrgang des Instituts für sität im Bewusstsein ihrer Stadt und deren Bür­ Angewandte Theaterwissenschaft der JLU ge­ gern anstrebte und auch erreichte. staltet wurde, dann im Jahr 2000 fortgeführt Doch das Programm zum Universitätsjubiläum mit der Stadtrauminszenierung „ZeitenWen­ hatte seine Vorläufer, auf die erfolgreich auf­ de“ zur Jahrtausendwende mit der Verdrehung gebaut werden konnte. So wurde das Thema der alltäglichen städtischen Zeitabläufe um 12 der kulturellen und öffentlichkeitswirksamen Stunden (0:00 wurde zu 12:00 mittags erklärt), Wissenschaftsvermittlung schon 2003 in den gab es 2003 zum 200. Geburtstag von Justus Fokus einer Stadtrauminszenierung gestellt: Liebig das eben beschriebene Wissenschaftsfes­ anlässlich des 200. Geburtstags des Gießener tival „Eine Stadt als Labor“, und 2007 wurde Ehrenbürgers Justus Liebig war mit einem drei­ das Jahresprogramm zum Universitätsjubiläum tägigen Wissenschaftsfest(ival) eine laborähn­ veranstaltet. Seit 2006 richtet außerdem das liche Situation in der Stadt entworfen worden. Mathematikum sehr erfolgreich die „Straße Unter dem Motto „Eine Stadt als Labor – Gie­ der Experimente” aus. Die Erfahrung mit die­ ßen reagiert“ wurde in einer Kooperation zwi­ sen projektorientierten Kooperationen zwi­ schen Stadt und Justus­Liebig­Universität ein schen Hochschulen und Stadt haben gezeigt, Wissenschaftsfest als Stadtrauminszenierung dass nach diesen kulturellen Großprojekten die konzipiert und umgesetzt. Hierzu kamen Ex­ Energien abnehmen und die projektorien­ perten aus den verschiedensten wissenschaft­ tierten Kooperationsstrukturen wieder zurück­ lichen und gesellschaftlichen Bereichen zusam­ gehen. Das ist verständlich, denn solch ein En­ men und gestalteten gemeinsam ein dichtes ergielevel ist nicht kontinuierlich zu halten. Es Programm, an dem 30.000 Besucher in der be­ ist aber wichtig, diese Kooperationsarbeit zwi­ grenzten Zeitspanne von drei Tagen auf eine schen Stadt und Universität zu verstetigen, in­ Reise durch den Gießener Kosmos der Wissen­ dem die Kooperationen auch ein Stück Alltag schaften geschickt wurden. Sparten über­ werden. Gleichzeitig muss diese Zusammen­ greifend und sinnlich erfahrbar wurde Wissen­ arbeit immer wieder mit nicht alltäglichen, ge­ schaft in ca. 200 Ver anstaltungen zum 200. meinsam gestalt­ und erlebbaren kulturellen Geburtstag von Justus Liebig im gesamten Projekten verstärkt, veröffentlicht, präsentiert Stadtraum präsentiert. An unterschiedlichsten und überprüft werden. Künstlerische und kul­ Orten des Alltags fanden Vorführungen, Semi­ turelle Produktion und Intervention wird so nare, Experimente, Lesun gen, Diskussionen, zum Impuls und zur Methode für Stadtent­ Führungen und Ausstellungen statt. Dies war wicklung und Stadtmarketing. Wichtig ist es die Generalprobe für das große Jubiläum der nun, nicht nur auf die nächsten historisch vor­ Universität Gießen als großes kooperatives gegebenen feierlichen Daten zu warten und Imageprojekt von Justus­Liebig­Universität und darauf mit einem Kulturprogramm zu reagie­

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071-080_Behnecke.indd 79 08.06.10 10:16 Abb. 6: Tanzen im „Küchenmonument“ von raumlabor Berlin (Foto: Jörg Wagner)

ren, sondern aktiv eine Strategie für kulturelle Literaturverzeichnis: Veranstaltungen perspektivisch für die näch­ Behnecke, Oliver/Evert, Kerstin: Kulturelle Landkarte sten Jahre zu entwickeln und diese bewusst als Gießen – Wetzlar (Bestandsaufnahme). Gießen, Au­ Instrumente für Stadtentwicklung und Stadt­ gust 2001 (Bundesforschungsprojekt Stadt 2030, marketing einzusetzen. Fachgruppe Kultur). Behnecke, Oliver/Evert, Kerstin: Stärken­Schwächen­ Analyse des kulturellen Angebots von Gießen und Doch einer der ganz entscheidenden Aspekte ne­ Wetzlar. Gießen Herbst 2001 (Bundesforschungs­ ben all den strategischen, strukturellen und kon­ projekt Stadt 2030, Fachgruppe Kultur). zeptionellen Überlegungen ist die Tatsache, dass Mühlmann, Heiner: Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie. Wien/New York durch solche stadtweiten Kulturprojekte wie das 1996. Universitätsjubiläum unterschiedlichste Menschen Müller, Winfried, Hrsg.: Das historische Jubiläum. zusammen kommen, um sich als Zuschauer, Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsge­ Akteure, Geld­ oder Ideengeber zu beteiligen. Es schichte eines institutionellen Mechanismus. Mün­ ster 2004. geht also darum, auf die kreativen Köpfe aus un­ Vermeulen, Peter/Haefs, Sabine: Stadtentwicklung terschiedlichsten Bereichen in Universität und durch Kultur. Kulturentwicklungsplanung Waren­ Stadt aufmerksam zu werden, diese zusammen dorf. Stutt gart 1997. zu bringen und gemeinsam konkrete Projekte zur www.schrumpfendestaedte.de Entwicklung einer Stadt machen zu lassen. Anmerkungen: „Wie kann man Stadt als einen Prozess se- 1 Winfried Müller (Hrsg.): Das historische Jubiläum. hen und damit Vergangenheit, Gegenwart Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschich­ te ei nes institutionellen Mechanismus, Münster 2004, und Zukunft enger miteinander verknüpfen? S. 2. Eine Stadt ohne Zeit hat keine Tiefe. Dann ist 2 Vermeulen, Peter/Haefs, Sabine: Stadtentwicklung es ein Bild, eine Postkarte. In einer Postkarte durch Kultur. Kulturentwicklungsplanung Warendorf. aber trifft man keine Menschen. Man muss Stuttgart 1997. 3 daran arbeiten, die Tiefe einer Stadt zu un- Olafur Eliasson in der Frankfurter Allgemeinen Sonn­ tagszeitung, 2. Mai 2010, Nr. 17, S. 23, über seine terstützen.“ aktuelle Ausstellung „Innen Stadt Außen“ im Martin­ (Olafur Eliasson, Künstler)3 Gropius­Bau, Berlin.

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071-080_Behnecke.indd 80 08.06.10 10:16 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Wolfgang Lührmann

Das Zentrum für Lehrerbildung (ZfL) der Justus-Liebig-Universität Gießen

Im Wintersemester 2009/10 sind über fünf- versität auf eine Vielzahl von Fachbereichen tausend der insgesamt knapp fünfundzwan- und Instituten und dem geringen Zusammen- zigtausend Studierenden der Justus-Liebig- wirken der beteiligten Bereiche verstehen. Es Universität Gießen Lehramtsstudierende. Die ist den Universitäten gelungen, die Landesre- einfache Zahl macht deutlich, dass die akade- gierung von der geringen Praktibilität ihres mische Ausbildung von Lehrerinnen und Leh- Vorhabens zu überzeugen. Mit der Einrich- rern aller Schulstufen schon rein quantitativ tung eines Zentrums für Lehrerbildung an je- einen Schwerpunkt im Studienangebot der der Universität wurde ein Kompromiss gefun- Justus-Liebig-Universität bildet. Die Bedeu- den, der eine zentrale Verantwortlichkeit für tung einer qualitativ hochwertigen Ausbil- die Lehrerbildung in der Universität sicherte dung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer und der dies in einer auch praktisch umsetz- ist spätestens nach dem PISA-Schock unbe- baren Weise tat. stritten: Auf die Lehrerinnen und Lehrer kommt es an – nicht nur, aber doch ganz we- 1. Die Aufgaben, Struktur und Ausstat- sentlich. Den Lehrer ausbildenden Universi- tung des Zentrums für Lehrerbildung täten kommt deshalb mit der ihnen oblie- genden wissenschaftlichen Ausbildung des Aus dem Paragraf 55 des Hessischen Hoch- Nachwuchses für den Lehrberuf ein hohes schulgesetzes ist mittlerweile, nach der neuer- Maß an Verantwortung zu. Und dies nicht lichen Gesetzesnovellierung, der Paragraf 48 erst, seitdem der hessische Landtag im No- geworden; an seinem Inhalt hat sich aber nichts vember des Jahres 2004 ein „Drittes Gesetz geändert. Das Lehrerbildungszentrum hat weit- zur Qualitätssicherung in hessischen Schulen“ reichende Kompetenzen, es ist zuständig für: verabschiedete, mit den zentralen Bestandtei- len des „Hessischen Lehrerbildungsgesetzes • die Studien- und Prüfungsordnungen der (HLbG)“ und der Novellierung des „Hessischen Lehramtsstudiengänge sowie die Koordinati- Hochschulgesetzes“, das mit dieser Novellie- on und Evaluation des Lehrangebots, rung einen neuen Paragrafen 55 erhielt, der • die Planung und Koordinierung der Schul- die verpflichtende Einführung einer zentral für praktischen Studien, die akademische Lehrerbildung zuständigen • die Studienberatung, Einrichtung vorsah: die eines Zentrums für • die Förderung der Forschung über Lehren Lehrerbildung. Dieser Regelung waren heftige und Lernen, Diskussionen vorausgegangen. Ursprünglich • die Zusammenarbeit mit den anderen Phasen hatte die Landesregierung die Einrichtung der Lehrerbildung. eines großen Fachbereichs speziell für die Leh- rerbildung gewünscht, um die Zuständigkeit Darüber hinaus ist das Zentrum für Lehrerbil- aus den vielen Händen der beteiligten Fachbe- dung an allen Berufungsverfahren beteiligt, in reiche in die Hand eines einzigen verantwort- denen es um die Besetzung von Professuren lichen Fachbereichs zu legen. Man durfte mit Aufgaben in der Lehrerbildung geht, und dieses Ansinnen als ein deutliches Zeichen für es beschließt mit dem Präsidium Zielvereinba- die landespolitische Unzufriedenheit mit der rungen über die in der Lehrerbildung einzuset- Zersplitterung der Lehrerbildung in der Uni- zenden Ressourcen.

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081-090_Luehrmann.indd 81 08.06.10 10:15 Die Mitglieder des Zentrums werden von den an ständnis diskutiert und die Ergebnisse in der Lehrerbildung beteiligten Fachbereichen ent- einem entsprechenden Beschlusspapier nie- sandt, wobei die drei großen Studienbereiche dergelegt: Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Grundwis- senschaften (Erziehungs- und Gesellschaftswis- 1. Das Zentrum sieht sein oberstes Ziel in der senschaften) einen je gleich großen Anteil stellen Sicherung einer qualitativ hochwertigen For- – insgesamt hat das Zentrum 58 Mitglieder. Die schung und Lehre in der Lehrerbildung an Zentrumsmitglieder schlagen dem Präsidium der der JLU Gießen. Universität im vierjährigen Turnus sechs Professo- 2. Das Zentrum versteht sich als verantwort- rinnen und Professoren aus ihrer Mitte für die Be- licher Gestalter der Lehramtsstudiengänge stellung zu Mitgliedern des Direktoriums des Zen- in ihrer modularisierten Struktur; insbeson- trums für Lehrerbildung vor. Die JLU hat in ihrer dere strebt es die Stärkung des Schulbezugs Satzung für das Zentrum bestimmt, dass das je- der beteiligten Fächer und Studienbereiche weils für die Lehr- und Studienangelegenheiten und die Weiterentwicklung der Schulprak- zuständige Präsidiumsmitglied als Vorsitzendes tischen Studien an. Mitglied ohne Stimmrecht hinzukommt. 3. Das Zentrum fördert die Weiterentwicklung Das an der Justus-Liebig-Universität Gießen im der Struktur und Qualität der Lehramts- Jahre 2005 eingerichtete Zentrum für Lehrerbil- studiengänge im Sinne einer Qualitäts- dung (ZfL) löst die vormalige „Gemeinsame agentur. Kommission Lehramtsstudiengänge“ ab und 4. Das Zentrum fördert die Weiterentwick- hat mit der ersten Sitzung seines Direktoriums lung der Struktur und Qualität der univer- am 13. September 2005 seine Arbeit aufge- sitären Lehrerfort- und -weiterbildung an nommen. Zur Unterstützung der Arbeit des Di- der JLU. rektoriums wurde dem ZfL im Dezember 2005 je 5. Das Zentrum versteht sich als Förderer der eine halbe Stelle für die Geschäftsführung und Vernetzung und Schwerpunktbildung der das Sekretariat zugewiesen. Im Juli 2006 folgte Forschung über Bildung, Schule, Unterricht die Einrichtung eines Prüfungsamtes für die Mo- und (außer)schulisches Lernen. dul- und Zwischenprüfung in den modularisier- 6. Das Zentrum versteht sich als Förderer der ten Lehramtsstudiengängen mit einer Stelle, es Heranbildung des wissenschaftlichen Nach- wird z. Z. mit Geldern aus dem QSL-Fonds um wuchses im Bereich der Forschung über Bil- zwei weitere Stellen ausgebaut. Seit dem 1. Juli dung, Schule, Unterricht, (außer)schulisches 2008 verfügt das Zentrum über eine weitere hal- Lernen (inkl. der Ausbildungs- und Professi- be Stelle für die Forschungsförderung. onalisierungsforschung). Am 13. September 2005 fand die erste Sit- 7. Das Zentrum versteht sich als Förderer des zung des erstmalig ernannten Direktoriums internationalen Austausches zu Fragen der statt; bis zum Auslaufen der Amtszeit dieses Lehrerbildung und der Ausbildungs- und Direktoriums ist es zu über fünfzig Sitzungen Professionalisierungsforschung. zusammengekommen. Seit Oktober 2009 läuft die zweite Amtszeit des Direktoriums, Das Direktorium hat sein institutionelles Selbst- das nun zur Hälfte aus Mitgliedern besteht, verständnis eingehend mit dem Präsidium und die für eine zweite Amtszeit gewählt wurden, dem Erweiterten Präsidium erörtert; es fand all- zur Hälfte aber auch Mitglieder aufweist, die gemeine Zustimmung. In den Gesprächen wur- neu hinzugekommen sind. den Absprachen zur Beteiligung des ZfL am Prozess der Zielvereinbarungen der Fachbe- 2. Das Selbstverständnis des Zentrums reiche mit der Hochschulleitung getroffen, die für Lehrerbildung sicherstellen, dass das Direktorium des ZfL die Belange der universitären Lehrerbildung in die- Im Rahmen einer Klausurtagung im Februar sem Prozess angemessen und wirkungsvoll ein- 2006 hat das Direktorium sein Selbstver- bringen und vertreten kann.

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081-090_Luehrmann.indd 82 08.06.10 10:15 3. Die Schwerpunkte der Arbeit seiner Einrichtung in der Entwicklung und Ver- abschiedung der Studien- und Prüfungs- 3.1. Die Entwicklung der modularisier- ordnungen für die einzelnen Lehramtsstudien- ten Lehramtsstudiengänge gänge und aller damit in Zusammenhang stehenden Arbeiten: der Entwicklung und Die Einrichtung der Lehrerbildungszentren an Verabschiedung eines Ras ters für die Modulbe- den hessischen Hochschulen war – s. o. – Teil schreibungen, der Entwicklung und Verab- einer breit angelegten Reform der hessischen schiedung einer Grund regelung für die so ge- Lehrerbildung in erster und zweiter Phase (Stu- nannten besonderen Studienvoraussetzungen dium und Referendariat). Zentrale Teile des sowie die Aufstellung der Module, die mit ihren Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG), Noten in die Staats prüfungsnote eingehen, mit dem die Landesregierung die Reform in die und der Prüfung der von den Fachbereichen Wege leitete, nahmen Elemente des Bologna- vorgelegten Modul beschreibungen sowie Stu- Prozesses auf, mit dem seit 1999 die Studi- dienverlaufspläne – und letztlich ihrer Geneh- enstrukturen aller akademischen Studiengän- migung. ge (mit wenigen Ausnahmen) in eine neue Für die Prüfungsverwaltung wie zur Steuerung Form gebracht werden (sollen). Dabei werden der Anmeldungen zu den Modulen und ihren sowohl Credit Points wie auch Module in die Lehrveranstaltungen wird schon seit dem Win- Studienstrukturen verbindlich eingeführt, auch tersemester 2005/06 das System FlexNow ge- eine Vorentlastung des Staatsexamens orien- nutzt. Das ZfL hat sich zudem intensiv an der tiert sich an den grundständigen Bachelor- und Entwicklung eines Konzepts zur Sicherung der Master-Studienordnungen. Bologna ist in der Überschneidungsfreiheit der zentralen Lehrver- hessischen Lehrerbildung sozusagen nur mit anstaltungen in den Grundwissenschaften und einer Hälfte – allerdings der besseren Hälfte – den Unterrichtsfächern beteiligt; das Konzept der inneren Studienstrukturrefom angekom- wurde Ende 2006 universitätsweit beschlossen men. Das Hessische Lehrerbildungsgesetz aber und ab dem Sommersemester 2007 mit gro- ist mehr als eine (halbe) Bologna-Prozess-Um- ßem Erfolg umgesetzt. Das organisatorische setzungsregel: Das Gesetz formuliert für die Chaos, das die Einführung gestufter und Lehrerbildung insgesamt die Vorstellung eines modularisierter Studiengänge vielerorts er- (berufs)-lebenslangen Lernens, setzt ihr das schwerte, blieb der JLU erspart. Ziel der pädagogischen Professionalisierung Mittlerweile stehen die Ordnungen und Modul- und es verpflichtet die beteiligten Institutionen beschreibungen in ihrer zweiten Revisionspha- zu verstärkter Kooperation. Zusammen mit se. Nicht nur weil die Reform sehr schnell voll- dem Auftrag, die Studiengänge zu modulari- zogen werden musste, sondern auch weil sie in sieren, und einigen Änderungen in der Struktur Vielem auf Neuland führt und mit Manchem der Studiengänge ergibt sich aus Gesetz und erst einmal Erfahrungen gemacht werden mus- Verordnung eine gewisse Tendenz: Die Lehrer- sten, ergaben sich schnell Überarbeitungsnot- bildung wird deutlicher als bisher an den schu- wendigkeiten. Im Zuge des Bildungsstreiks hat lischen Notwendigkeiten und an den Erforder- sich nun noch einmal dringender Reformbedarf nissen moderner Berufstätigkeit orientiert, es ergeben, der vor allem mehr Wahlmöglich- wird ihr ein höheres Maß an Zielorientierung keiten für Module, eine größtmögliche zeitliche und an Verbindlichkeit abverlangt. Der Ton ist Flexibilität und eine sinnvolle Flexibilisierung der von einer gewissen Strenge. Ein wenig de- Prüfungslast berücksichtigen soll. monstriert das Gesetz das Ende der Geduld: es Völlig ungeklärt ist dagegen zum gegenwär- verlangt erhöhte Anstrengungen, mehr Ver- tigen Zeitpunkt (März 2010) die Frage, ob in antwortung, bessere Ergebnisse – und das Hessen in nächster Zukunft die Lehramtsstudi- schnell. engänge in die Form gestufter konsekutiver Folgerichtig lag ein wesentlicher Arbeits- Studiengänge überführt werden. Die Universi- schwerpunkt der konkreten Arbeit des ZfL seit täten warten hier seit längerem schon auf die

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081-090_Luehrmann.indd 83 08.06.10 10:15 entsprechende Weichenstellung durch Landes- von Lehrbeauftragten durchgeführt. Für sie regierung und Landtag (siehe dazu auch Punkt wurde ein eigenes Einarbeitungs- und Fortbil- 6.) Ein wenig unbemerkt geblieben ist dabei, dungsprogramm entwickelt, das nun in jedem dass es konsekutive Lehramtsstudiengänge in Semester durchgeführt wird. Hessen schon gibt; einen auch an der Justus- Liebig-Universität. Seit dem Wintersemester 3.3. Die Implementierung eines 2008/09 werden hier im konsekutiven Studien- Forschungsnetzwerkes zur gang „Berufliche und betriebliche Bildung“ die Unterrichts- und Bildungsforschung zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer an den Be- ruflichen Schulen der Fachrichtungen Nah- Am Zentrum für Lehrerbildung wurde nach rungsgewerbe, Hauswirtschaft, Landwirtschaft entsprechenden Vorarbeiten im Jahr 2006 ein sowie – in Kooperation mit der Fachhochschule Forschungsnetzwerk „Empirische Unterrichts- Gießen-Friedberg – Elektrotechnik und Metall- und Bildungsforschung (EUBI)“ aufgebaut. Da- technik ausgebildet. für wurden seitens der Hochschulleitung in ei- ner ersten Tranche Forschungsmittel in Höhe 3.2. Die Neukonzeption der von 250.000 Euro zur Verfügung gestellt. Das Schulpraktischen Studien Ziel ist der Aufbau eines national und ggf. auch international konkurrenzfähigen Forschungs- Besonderes Augenmerk hat das Direktorium netzwerks, das sich erfolgreich im Wettbewerb des Zentrums für Lehrerbildung auf die modu- um Drittmittel behaupten kann (mindestens lare Ausgestaltung der Schulpraktischen Studi- auf dem Niveau einer Forschergruppe, wenn en gelegt. In allen Lehramtsstudiengängen möglich jedoch auf dem eines Sonderfor- wird nun vor der jeweiligen Zwischenprüfung schungsbereiches). ein erstes Praktikum absolviert, das die Studie- Das Direktorium des ZfL hat in mehreren renden in die allgemeinen schul- und unter- seiner Sitzungen die aktuelle Forschungs- richtspraktischen Grundfragen des gewählten landschaft in Deutschland diskutiert und Lehramts und des Lehrerberufs einführt und nach Feldern gesucht, in denen ein hoher damit seinen Beitrag zum gesetzlichen Auftrag Forschungs bedarf besteht, die von ihrer the- leistet, demzufolge mit der Zwischenprüfung matischen Ausrichtung her gut in das Profil und dem ersten Schulpraktikum die berufliche unserer Universität passen und in denen gute Eignung des Studierenden für das gewählte Chancen für die Einwerbung von Drittmitteln Lehramt festgestellt werden soll. bestehen. Als für die JLU geeignetes For- Für die Studiengänge „Lehramt an Haupt- und schungsfeld wurde die Interventionsfor- Realschulen (L2)“ und „Lehramt an Gymnasien schung bzw. die Forschung zu Fragen der (L3)“ wurde als erstes obligatorisches Prakti- Kompetenzentwicklung identi fiziert. Das ZfL kum ein Allgemeines Schulpraktikum neu kon- hat sich daher entschlossen, die Gelder der zipiert und eingerichtet, das in Verantwortung ersten Tranche ausschließlich für Projekte zu des Zentrums für Lehrerbildung durchgeführt vergeben, die Forschungsvorhaben in diesem wird. Für die Fachpraktika als zweite Praktika Bereich zum Gegenstand haben. wurde ein Modulbeschreibungsstandard ent- Für jedes Projekt ist eine Stelle für eine/n Dok- wickelt, der von den einzelnen Fächern ent- torandin/en vorgesehen, für die bzw. den ein sprechend den fachlichen Besonderheiten mo- Stipendium gezahlt wird (analog zur Graduier- difiziert übernommen wurde. Damit wurde für tenförderung). Weiterhin können Reisekosten, die Schulpraktischen Studien ein hohes Maß an Verbrauchsmaterialien etc. beantragt werden. Übereinstimmung in Bezug auf die inhaltliche Eine Antragstellung muss die Verpflichtung zur Ausrichtung, die formale Gestaltung und die aktiven Mitarbeit bei der Etablierung des For- (Prüfungs-)Anforderungen erzielt. schungsnetzwerks beinhalten und darüber hi- Das Allgemeine Schulpraktikum in den Studi- naus die Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Er- engängen L2 und L3 wird ganz überwiegend stellung eines Antrags für eine Forschergruppe

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081-090_Luehrmann.indd 84 08.06.10 10:15 oder eines SFB sowie die Bereitschaft zur Mitar- programm angeboten werden (zu Forschungs- beit an einem gemeinsamen Forschungskollo- methoden, wissenschaftlichem Schreiben, Prä- quium (Doktorandenkolloquium). sentation wissenschaftlicher Ergebnisse etc. Das Direktorium hat in einer Informationsver- sowie zum kontinuierlichen Bericht der Arbeits- anstaltung am 22. Januar 2007 alle Interessier- stände und -ergebnisse). ten über das beabsichtigte Forschungsnetz- Das Forschungsnetzwerk umfasst zwölf For- werk unterrichtet und um Projektskizzen bis schungsvorhaben. Neun dieser Vorhaben sind Mitte Februar gebeten. Es gingen 27 Skizzen in Bezug auf die Förderung „vollständige“ Vor- ein. Das Direktorium hat diese Skizzen gesich- haben, insofern hier einer Doktorandin bzw. tet und eine Vorauswahl getroffen. Die Krite- einem Doktoranden ein Stipendium gezahlt rien waren: Forschungsorientierung, allgemei- wird und in der Regel auch Mittel für Sachkos- ne Qualität, Passung zu den Schlüsselbegriffen ten und/oder studentische Hilfskräfte zur Ver- Kompetenz und Intervention, Nachwuchsför- fügung gestellt werden. Zwei Vorhaben wer- derung, Vernetzbarkeit mit anderen Vorhaben, den allein durch die Zahlung von Sachkosten Bedeutung für die Lehr-/Lernprozesse. und/oder die Bereitstellung von Mitteln für stu- Die Autoren von zwanzig der eingereichten dentische Hilfskräfte gefördert. Projektskizzen wurden zu Vollanträgen aufge- Die Forschungsprojekte im Forschungsnetz- fordert. Nach einer Verständigung darüber, werk „Empirische Unterrichts- und Bildungs- dass pro Antragsteller nach Möglichkeit nur ein forschung“ sind im Einzelnen: Vollantrag eingereicht werden sollte, wurden schließlich 16 Anträge eingereicht und jeweils • „Das SchuB-Klassenkonzept. Erfolgsbedin- zwei externen Gutachtern vorgelegt. Zur För- gungen einer schulpädagogischen Förder- derung wurden positive Stellungnahmen bei- maßnahme an einer hessischen Hauptschu- der Gutachter vorausgesetzt. le“. Projektleiter: Prof. Dr. Jochen Wissinger, Das Forschungsnetzwerk soll die Forschung im Fachbereich 03, Institut für Schulpädagogik, Bereich der Bildungswissenschaften (in diesem Stipendiat: Stephan Goik. Zusammenhang verstehen wir darunter abwei- • „Informationsverarbeitung und Lese-Recht- chend vom üblichen Sprachgebrauch die Erzie- schreibstörungen. Modellorientierte Einzel- hungswissenschaft, die Pädagogische Psycho- fallstudien zu Ursachen von Entwicklungsdys- logie, die Erziehungs- und Bildungssoziologie lexien bzw. -dysgraphien und deren Relevanz und die Fachdidaktiken) fördern und auf mitt- für die (sonder)pädagogische Diagnostik und lere Frist über einen Forschungsverbund dritt- Förderung“. Projektleiterin: Prof. Dr. Christia- mittelfähig machen. Das Forschungsnetzwerk ne Hofmann, Fachbereich 03, Institut für dient zugleich der Förderung des wissenschaft- Heil- und Sonderpädagogik, Stipendiat/in: lichen Nachwuchses in den Bildungswissen- keine(r); es werden Mittel für Sachkosten schaften, an dem in einigen Teilbereichen, ins- und/oder stud. Hilfskräfte zur Verfügung ge- besondere den Fachdidaktiken, ein großer stellt; Bearbeiterin: Christina Bader, Wissen- Mangel besteht. schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Heil- Die Arbeit im Netzwerk wird entsprechend und Sonderpädagogik. zweigleisig angelegt. Zum einen sollen die • „Das schulische Angebot in den Jugendstraf- Hochschullehrer, die als Antragsteller bzw. nun- anstalten der BRD – eine bundesweite Total- mehr als Projektleiter am Netzwerk beteiligt erhebung“. Projektleiterin: Prof. Dr. Christiane sind, mit der Perspektive zusammenwirken, Hofmann, Fachbereich 03, Institut für Heil- dass das Netzwerk über den Förderzeitraum und Sonderpädagogik, Stipendiat/in: keine(r); 2007 bis 2010 hinaus erhalten bleibt und die es werden Mittel für Sachkosten und/oder Vernetzung der bildungswissenschaftlichen stud. Hilfskräfte zur Verfügung gestellt; Be- Forschung an der JLU auf Dauer gefestigt wird. arbeiterin: Dipl.-Päd. Susann Reinheckel, Zum anderen soll den Stipendiaten im Sinne ei- Wissen schaftliche Mitarbeiterin am Institut ner Graduiertenausbildung ein Weiterbildungs- für Heil- und Sonderpädagogik.

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081-090_Luehrmann.indd 85 08.06.10 10:15 • „Schulisches Lernen und freiwillige Teilnahme • „Instruktionale Unterstützung des wissen- an Nachhilfeangeboten und biographische Per- schaftlichen Denkens (scientific reasoning) spektiven von Jugendlichen aus bildungsfernen durch problemorientiertes Lernen“. Projekt- Sozialmilieus“. Projektleiterin: Prof. Dr. Jutta Eca- leiter: Prof. Dr. Jürgen Mayer, Fachbereich 08, rius, Fachbereich 03, Institut für Erziehungswis- Institut für Biologiedidaktik, Stipendiatin: senschaft, Stipendiatin: Katja Christin Franke. Monique Meier. • „Kompetenzentwicklung bei der Arbeit mit lite- rarischen Texten im Fremdsprachenunterricht“. Im Februar ist im Zentrum für Lehrerbildung ein Projektleiterin: Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer, DFG-Antrag für eine Forschergruppe aus Fach- Fachbereich 05, Institut für Anglistik – Didaktik didaktikern, Psychologen und Erziehungswis- der Englischen Sprache und Literatur, Stipendiat: senschaftlern zum Thema „Prozesse des Kom- Ivo Steininger. petenzerwerbs und der Kompetenzförderung • „Begriffsbildung und die Entwicklung fach- in institutionellen Bildungssettings“ fertigge- sprachlicher Diskursfähigkeit im fremdspra- stellt worden, mit der die hier beteiligten chigen Sachfachunterricht (Bilingualer Unter- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der richt/Content and Language Integrated Lear- Gießener Schul- und Unterrichtsforschung im ning – CLIL)“. Projektleiter: Prof. Dr. Wolfgang Rahmen der empirischen Bildungswissen- Hallet, Fachbereich 05, Institut für Anglistik – Di- schaften ein klares und zukunftsorientiertes daktik der Englischen Sprache und Literatur, Sti- Profil geben wollen. pendiatin: Verena Fries. Ein nicht unerhebliches Problem im Bereich der • „Selbstreguliertes Schreiben im Schulunterricht: Nachwuchsförderung in den Bildungswissen- Überprüfung eines 2-Komponenten-Modells schaften sind die zum Teil eingeschränkten Pro- der Selbstregulation durch lehrervermittelte motionsmöglichkeiten für Absolventen von Strategieinstruktion im Aufsatzunterricht“. Pro- Lehramtsstudiengängen im Bereich L1, L2/L5. jektleiterin: Prof. Dr. Cornelia Glaser in Koopera- Das Forschungsnetzwerk sieht deshalb die Klä- tion mit Prof. Dr. Helmuth Feilke, Fachbereich rung und – wo nötig – Verbesserung der Pro- 06, Pädagogische Psychologie, Stipendiatin: motionsmöglichkeiten für diese Lehramtsstudi- Sandra Budde. engänge als eine weitere seiner Aufgaben an. • „Prävention von Rechenschwächen in der Angedacht sind die Möglichkeiten, dass zum Grundschule“. Projektleiter: Prof. Dr. Marco En- einen mithilfe des Weiterbildungsprogramms nemoser, Fachbereich 06, Pädagogische Psycho- die formale Promotionsfähigkeit gewährleistet logie, Stipendiat: Daniel Sinner. werden soll und dass zum anderen über eine • „Der Zusammenhang zwischen musikalischen Kooperation der Fachdidaktiken mit der Erzie- und sprachlichen Fähigkeiten. Eine Trainingsstu- hungswissenschaft eine auf die spezifischen die“. Projektleiterin: Prof. Dr. Gudrun Schwarzer, Belange der Bildungswissenschaften zuge- Fachbereich 06, Entwicklungspsychologie, Sti- schnittene Promotionsmöglichkeit geschaffen pendiatin: Franziska Degé. wird. • „Erarbeitung und Evaluierung eines Konzepts zur internetgestützten Videoanalyse im Rahmen 4. Einstieg in die Lehrerfortbildung: der Schulpraktischen Studien in der Sportlehrer- die Fach-Tage ausbildung (INVISPO)“. Projektleiter: Prof. Dr. Georg Friedrich/Steffen Mehl, Fachbereich 06, Als Einstieg in den Aufgabenbereich der Lehrer- Institut für Sportwissenschaft, Stipendiat: Bernd fortbildung organisiert das ZfL alljährlich die Schmitt. sogenannten Fach-Tage für Lehrerinnen und • „Prozessbasierte Diagnostik von Kompetenz- Lehrer der Schulen im Einzugsbereich der Uni- entwicklungsverläufen in der Physik“. Projektlei- versität. Mit dieser Veranstaltung wird der terin: Prof. Dr. Claudia von Aufschnaiter, Fachbe- Kontakt zwischen Universität und Schule in- reich 07, Institut für Didaktik der Physik, Projekt- tensiviert und gepflegt. Ferner wird den teil- mitarbeiter: Christian Rogge. nehmenden Lehrerinnen und Lehrern ganz

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081-090_Luehrmann.indd 86 08.06.10 10:15 konkret ein Programm angeboten, das drei 6. Die Arbeitsgruppe Funktionen erfüllen soll. Zum einen sind die „Lehrerbildungsreform in Hessen“ Fach-Tage ein Fortbildungsangebot für die Lehrerinnen und Lehrer in Bezug auf ihre Un- Um die Diskussion über die Einführung Gestuf- terrichtsfächer und darüber hinausgehende ter Studiengänge in der akademischen Lehr- schulische Fragen. Zum anderen bieten die amtsausbildung voranzutreiben und einen Fach-Tage die Möglichkeit zum Austausch diesbezüglichen Konsens unter den hessischen über die Situation und die Probleme der schu- Universitäten zu erarbeiten, hat sich auf Initia- lischen Fächer. Und drittens sollen die Fach- tive des Gießener Zentrums für Lehrerbildung Tage die Lehrerinnen und Lehrer über das sich einer universitätsübergreifende Arbeitsgruppe zur Zeit in tiefgreifendem Wandel befindliche gebildet. Im Januar 2008 sind Vertreterinnen Studienangebot der Universität informieren, und Vertreter der hessischen Lehrerbildungs- um sie in Bezug auf die Beratung ihrer Schüle- zentren zu einer ersten Besprechung zusam- rinnen und Schüler mit den notwendigen mengekommen, um die mit der Einführung Kenntnissen auszustatten. Die Fach-Tage wer- Gestufter Lehramtsstudiengänge als Regelstu- den gut angenommen und haben zur Zeit diengänge in der akademischen Ausbildung für jeweils drei- bis vierhundert Teilnehmerinnen alle Lehrämter in Hessen gegebenen Möglich- und Teilnehmer. Es ist das erklärte Ziel des keiten und Schwierigkeiten zu erörtern. Das Zentrums für Lehrerbildung, das Fortbildungs- Ziel der Besprechung war, eine in dieser Frage angebot in den nächsten Jahren auszuweiten übereinstimmende Position der Zentren zu for- und zu verstetigen. Die Universitäten müssen mulieren. Wenn die Landesregierung, so war einen wesentlichen Teil für das (berufs- ) die Grundüberlegung, die Einführung Gestuf- lebenslange Lernen im Lehrerberuf stellen; ter Studiengänge in der gesamten Lehrerinnen- das pädagogische Berufsleben ist ohne eine und Lehrerausbildung beschließt, sollten sich Intensivierung und ohne eine stete Aktualisie- die Universitäten frühzeitig mit einer gemein- rung des wissenschaftlichen Wissens undenk- samen Auffassung an der diesbezüglichen bil- bar. dungspolitischen Diskussion und am Gesetzge- bungsverfahren beteiligen können. 5. Feierliche Verabschiedung der Ergebnis dieser ersten Besprechung war unter Absolventinnen und Absolventen anderem,

Zweimal jährlich, nach Abschluss der Prüfun- • dass die hessischen Lehrerbildungszentren gen zum 1. Staatsexamen, werden die Absol- die „flächendeckende“ Einführung Gestufter ventinnen und Absolventen der Lehramts- Lehramtsstudiengänge in Hessen erwarten studien gänge mit einer vom ZfL in Kooperation und sie sich daran konstruktiv und auf der mit dem Amt für Lehrerbildung (AfL) veranstal- Grundlage ihrer fachlichen Kompetenz betei- teten Feier verabschiedet. Die Universität und ligen werden, das Amt für Lehrerausbildung möchten mit • dass sie von der Landesregierung erwarten, dieser Feierlichen Verabschiedung dem erfolg- dass die Universitäten frühzeitig und umfas- reichen Studienabschluss und der Übergabe send in das entsprechende Gesetzgebungs- der Zeugnisse über die Erste Staatsprüfung verfahren eingebunden werden, einen angemessenen Rahmen geben und deut- • dass sie davon ausgehen, dass die Gestuften lich machen, dass der Lehramtsausbildung an Lehramtsstudiengänge mit dem Master- unserer Universität eine hohe Bedeutung Abschluss den bisherigen Staatsexamens- zukommt. Die Veranstaltung hat großen Studiengängen und dem 1. Staatsexamen Zuspruch gefunden; mittlerweile fasst sogar gleichgestellt sind, das Audimax kaum noch die in großer Zahl • dass sie die Einführung Gestufter Lehramts- kommenden Absolventinnen und Absolventen studiengänge als Möglichkeit zur Weiterfüh- sowie ihre Gäs te. rung der Modularisierung sehen,

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081-090_Luehrmann.indd 87 08.06.10 10:15 • dass sie die Lehramtsstudiengänge in den Dadurch wurde es der Arbeitsgruppe möglich, Kontext der Profilbildung und Schwerpunkt- Experten zu Arbeitssitzungen und Tagungen setzung an den Einzelhochschulen stellen, einzuladen und schriftliche Stellungnahmen • dass sie eine Revision auch der 2. Phase der zu grundsätzlichen und Einzelfragen einzuho- Lehrerinnen und Lehrerausbildung, dem Re- len. Erste Zwischenergebnisse der Beratungen ferendariat, für unumgänglich halten, wurden auf einer weiteren Tagung im August • dass sie die Gestuften Studiengänge in ein 2008 vorgestellt. berufsspezifisches Konzept eines Lifelong- Das Endergebnis der gemeinsamen Arbeit wur- Learning eingebunden sehen wollen de in einem Positionspapier dargelegt.1 Die hier • und dass sie für die Umstellung angemessene zusammengetragenen Überlegungen sind das Zeitfristen benötigen, die der gegenwärtigen Ergebnis der Beratungen und Beschlüsse der Situation in den Universitäten mit den hohen Arbeitsgruppe; das Positionspapier formuliert Zeit- und Kraftaufwänden für die Studien- einen gemeinsamen Rahmen für die Einfüh- reform nach Bologna insgesamt Rechnung rung Gestufter Lehramtsstudiengänge und den tragen. Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen die einzelnen Universitäten ihre eigenständigen Im Rahmen einer Tagung der Lehrerbildungs- Konzepte und Strukturen entwickeln können zentren zur Frage Gestufter Studiengänge in der und wollen. Ganz überwiegend besteht über hessischen Lehramtsausbildung im Mai 2008 in die hier vorgetragenen Ergebnisse ein volles Gießen wurden diese Positionen bekräftigt. In Einverständnis; mindestens beruhen sie auf der der ausführlichen Darstellung und intensiven gemeinsamen Vorstellung einer ganz überwie- Diskussion der gültigen Empfehlungen der Kul- genden Mehrheit der Arbeitsgruppenmit- tusministerkonferenz (KMK) und der Reform- glieder. Die Hochschule für Musik und Darstel- modelle benachbarter Bundesländer wurden lende Kunst (HfMDK) in Frankfurt am Main zentrale Fragestellungen, Probleme und The- stimmt prinzipiell den in dem vorliegenden men herausgearbeitet, deren Erörterung und Positionspapier genannten allgemeinen Grund- Klärung der Einführung Gestufter Studiengänge sätzen zur Einführung Gestufter Lehramtsstudi- vorausgehen muss. Für diesen Diskussionspro- engänge in Hessen zu. Zu der musikhochschul- zess wurde die Arbeitsgruppe „Lehrerbildungs- spezifischen Position zur Einführung von reform in Hessen“ eingesetzt. Ihr gehörten je Bachelor- und Master-Studiengängen wird die zwei VertreterInnen der Universitäten (Mit- HfMDK dem Hessischen Kultusministerium ein glieder der Direktorien der Lehrerbildungszen- eigenes Papier vorlegen. tren und für die Lehr- und Studienangelegen- Zentrale Punkte der hier vorgestellten Position heiten zuständige Vizepräsidenten), zwei Vertre- sind: terInnen des Amtes für Lehrerbildung (AfL) sowie je eine Vertreterin bzw. ein Vertreter des • die Integration der Lehramtsausbildung in Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und den Bologna-Prozess, Kunst (HMWK) und des Hessischen Kultusminis- • der Vorschlag einer gleichen Grundstruktur teriums (HKM) an. Das Gießener Zentrum für für alle Lehramtsstudiengänge, die ein sechs- Lehrerbildung hatte sich bereit erklärt, die Ge- semestriges Bachelor- und ein viersemestri- schäftsführung und Ko or dination der Arbeits- ges Master-Studium vorsieht, der „6+4- gruppe zu übernehmen. Struktur“, Diese Arbeitsgruppe „Lehrerbildungsreform • die Orientierung der Studiengänge am Ziel in Hessen“ hat seit Juni 2008 insgesamt sie- der Professionalität und dem Prinzip einer de- benmal getagt. Das Hessische Ministerium für gressiven Polyvalenz, Wissenschaft und Kunst (HMWK) hat ihre Ar- • die Ablösung des 1. Staatsexamens durch beit auf Antrag der Geschäftsführung der Ar- den Master-Abschluss, beitsgruppe mit Mitteln aus dem Innovations- • die Notwendigkeit zur Erhöhung der Ressour- fonds/Studienstrukturprogramm unterstützt. cen für die universitäre Lehramtsausbildung,

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081-090_Luehrmann.indd 88 08.06.10 10:15 • die Möglichkeit zur Profilbildung der Univer- nen, über eine Zulassungsbeschränkung für al- sitäten in der konkreten Ausgestaltung der le Lehramtsstudiengänge nachzudenken, zu- Studiengänge, mal bei den zukünftigen Doppeljahrgängen • die Festlegung alternativer Gestaltungsmo- der Abiturientinnen und Abiturienten von delle für die lehramtsbezogenen Studiengän- einem weiteren Ansturm auszugehen ist. ge: dem Schicht- und dem Säulenmodell, • der Ausbau der Kooperation zwischen 1. und 7.2. Ausstattungsprobleme 2. Phase (Studium und Referendariat), • die Identifikation möglicher beruflicher Pers- Die veränderten Studienstrukturen mit ihren nun- pektiven für die Absolventinnen und Absol- mehr höheren grundwissenschaftlichen und venten des Bachelor-Studiums, fachdidaktischen Anteilen stellen ein ungelöstes • die Klärung des Übergangs von der Bachelor- Grundproblem dar. Die Erziehungs- und Gesell- in die Master-Phase des Studiums und des schaftswissenschaften sowie die Fachdidaktiken Übergangs vom Studium als 1. Phase der können mit den vorhandenen und auch nicht Lehrerinnen- und Lehrerausbildung in das Re- kurzfristig steigerbaren personellen Ressourcen ferendariat als ihrer 2. Phase, die erhöhten Anforderungen kaum mehr bewäl- • die Einbettung der Lehramtsausbildung in tigen: Die Universität kann in diesem Bereich sehr das Konzept eines Lifelong-Learnings. häufig nur mit dem Angebot sehr großer Lehrver- anstaltungen reagieren und mit der Vergabe ei- Die Arbeitsgruppe war sich darin einig, dass die ner hohen Zahl von Lehraufträgen – beides geht im vorliegenden Positionspapier beschriebenen zu Lasten der Ausbildungsqualität. In einigen Be- Rahmenbedingungen für die Überführung der reichen, insbesondere in den sogenannten „klei- Lehramtsstudiengänge in das Bachelor-Master- nen Fächern“, müssen die Fachdidaktiken erst System jeder einzelnen Universität sehr viel aufgebaut werden (was auch insofern problema- Freiraum für eine individuelle Profilbildung und tisch ist, als es hierfür sowohl an verfügbaren Stel- für eine universitätsspezifische Ausprägung der len als auch an entsprechend qualifizierten Be- akademischen Lehramtsausbildung bietet. Man werberinnen und Bewerbern mangelt). darf gespannt sein, in welcher Weise das Posi- tionspapier Einfluss auf die politische Willens- 7.3. Prüfungsprobleme bildung in den Landtagsfraktionen und den zu- ständigen Ministerien nehmen wird. Die Modularisierung erhöht das Prüfungsauf- kommen um ein Mehrfaches. Während die Be- 7. Probleme lastungen für die Studierenden durch Abspra- chen der Lehrenden bzw. Prüfenden und durch die Anpassung der Prüfungsanforderungen an 7.1. Zahlenprobleme die Gegebenheiten in verträglichen Maßen ge- Das Zentrum verfolgt mit nicht geringer Sorge halten werden können, sind die Prüfungsbelas- die Entwicklung der Studierendenzahlen in den tungen für die Lehrenden allein aufgrund der Lehramtsstudiengängen. Sie haben sich seit bloßen Zahl und des zeitlichen Umfangs der der Jahrtausendwende um mehr als 50% er- Prüfungen kaum zu bewältigen; hier wirkt sich höht, und die Zahl der Studienanfängerinnen die Entscheidung der Landesregierung, die Ers- und -anfänger der letzten drei Wintersemester te Staatsprüfung nicht den Bedingungen eines zeigt, dass ein Ende des Anstiegs noch nicht modularisierten Studiums anzupassen, in ho- absehbar ist. Zwei Zahlen sollen die Dramatik hem Maße negativ aus: Die enorm gestiegenen der Situation belegen: Haben sich im Winterse- Prüfungsbelastungen werden Forschung und mester 2000/01 knapp 600 Studierende neu in Lehre beeinträchtigen. Besonders stark betrof- den Lehramtsstudiengängen immatrikuliert, fen sind die Erziehungs- und Gesellschaftswis- waren es im Wintersemester 2009/10 über senschaften mit ihren 60-minütigen münd- 1400. Die Universität wird nicht umhin kön- lichen Prüfungen im Rahmen der Ersten Staats-

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081-090_Luehrmann.indd 89 08.06.10 10:15 prüfungen. Hier sollte bei einer Novellierung als die Möglichkeit zu einem späteren Nach- des HLbG unbedingt eine Anpassung an die weis der geforderten Leistungspunkte analog Realitäten und Möglichkeiten der Universitäten einer Prüfungswiederholung nicht vorgesehen erfolgen. ist. Die Einführung von Zwischenprüfungen durch das HLbG macht in den 6-semestrigen Studien- 8. Perspektiven gängen Probleme: Die ganz überwiegende Mehrzahl der Module in unseren Lehramtsstu- Zentrale Vorhaben für die kommenden Jahre diengängen sehen einen zweisemestrigen Mo- sind neben den notwendigen Arbeiten zur dulzeitraum vor und die Module beginnen in Weiterentwicklung der Studienstrukturen die aller Regel mit dem Wintersemester des jewei- weitere Stärkung der Forschungsförderung, die ligen Studienjahres. Der Nachweis von Lei- Entwicklung eines Instrumentariums zur Evalu- stungspunkten nach drei Semestern ergibt vor ation der modularisierten Lehramtsstudiengän- diesem Hintergrund keinen Sinn: Es liegen bis ge, außerdem die Entwicklung und Umsetzung dahin nur die abgeschlossenen Module der er- von Konzepten zur Stärkung der universitären sten beiden Studiensemester vor. Die Rege- Lehrerfortbildung sowie der Ausbau der Zu- lungen zu den Zwischenprüfungen weisen zu- sammenarbeit mit der 2. Phase der Lehreraus- dem insofern einen gravierenden Mangel auf, bildung in den Studienseminaren.

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081-090_Luehrmann.indd 90 08.06.10 10:15 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Sonja Dinter, Winfried Speitkamp

„Gewaltgemeinschaften“: Wie funktioniert Gewalt in der Gemeinschaft? Eine neue Forschergruppe stellt sich vor

Von jugendlichen Gewalttätern in Großstäd- Dynamik der Gruppen erfassen. Bislang hat ten über Milizen und Rebellen in den Krisenge- sich die Forschung aber vor allem auf die Ursa- bieten der Welt bis hin zu Terroristen: Gewalt chen und Folgen von Gewalt konzentriert und wird oft von Gruppen ausgeübt. In der Ge- weniger nach dem Innenleben von Gewaltge- meinschaft Gleichgesinnter scheint die Hemm- meinschaften gefragt. Dabei eröffnet sich für schwelle zur Gewaltanwendung zu sinken. die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften Aber was hält solche Gruppen zusammen und hier ein spannendes Forschungsfeld, das ne- welche Rolle spielt Gewalt für sie? Dieser Fra- ben geo graphischer Breite und historischer ge widmet sich die neue Forschergruppe „Ge- Tiefe auch zahlreiche Möglichkeiten zur An- waltgemeinschaften“, die von der Deutschen knüpfung an aktuelle Ereignisse bietet. Gera- Forschungsgemeinschaft für zunächst drei de die Geschichtswissenschaft kann vieles zur Jahre mit rund zwei Millionen Euro gefördert Erforschung von Gewaltgemeinschaften bei- wird. tragen. Befriedete Gesellschaften mit staatlichem Ge- Gewalt, Gruppe und Gesellschaft waltmonopol sind historisch betrachtet eine Ausnahmeerscheinung. Physische Gewalt, die Gewalt ist eine menschliche Grunderfahrung. von Personenverbänden innerhalb sozialer Es gab und gibt wohl keine Gesellschaft, die Gruppen oder gegen andere Gruppen ausge- von ihr unberührt geblieben wäre. Gesell- übt wird, war in vormodernen Gesellschaften schaften ohne Gewalt sind jedenfalls empi- weit verbreitet. Aber auch in der Moderne, die risch kaum nachweisbar. Dennoch ist die Kon- ja ein Monopol legitimer staatlicher Gewalt- frontation mit Gewalt für jeden Menschen ei- anwen dung kennt, gibt es zahlreiche Beispiele ne zutiefst einschneidende Erfahrung. Dies gilt für Gruppenbildungen, in denen von ange- nicht nur für die Opfer, sondern auch für die drohter oder tatsächlich ausgeübter Gewalt Täter. Und das gilt erst recht, wenn diese in eine identitätsstiftende und gruppenstabilisie- Gemeinschaft handeln, wenn also eine Grup- rende Funk tion ausgeht. Angesichts von Pro- pe Gewalt ausübt. Solche Gewaltgemein- gnosen über den Rückzug des staatlichen Ge- schaften sind oft mehr als Zweckverbände, die waltmonopols könnte dieses Phänomen sogar sich bloß für ein bestimmtes Ziel, zum Beispiel noch an Bedeutung gewinnen. Umso wich- Beute, zusammentun. Gruppen, die gemein- tiger ist es, sich näher damit zu befassen, wie sam Gewalt ausüben, entwickeln vielmehr ei- Gewaltgemeinschaften entstehen, wie sie ne besondere Dynamik, sie orientieren sich an funktionieren, wann und wie sie Gewalt ein- charismatischen Führergestalten, formen inne- setzen. Folgt diese nur dem spontanen Ge- re Hierarchien aus, definieren ihre Regeln und fühlsausbruch oder gibt es klare Regeln und Ziele, fordern von ihren Mitgliedern besondere Ziele? Wie wirkt sich die Gewalt auf die Grup- Loyalität und ächten Abweichler. Wer das Ge- pe und ihre einzelnen Mitglieder aus? walthandeln solcher Gruppen verstehen will, darf also nicht nur nach der Vorgeschichte, Ziele des Projekts nach den sozialen und individuellen Ursachen von Aggression und Gewalttätigkeit fragen, Hier setzt die Forschergruppe „Gewaltgemein- sondern er muss auch die innere Struktur und schaften“ an. Untersuchungsgegenstand sind

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 91 08.06.10 10:17 soziale Gruppen oder Netzwerke, die sich schaften von der Antike bis in das 20. Jahr- durch Gewalttätigkeit definieren, darin ihre hundert nachgegangen. Dabei wird ein geo- wichtigste Betätigung finden, sich dadurch graphischer Raum abgedeckt, der von Süd- auch von ihrer Umwelt abgrenzen. Derartige west- und Ostafrika über West- und Mittel- Gruppen werden im Rahmen der Forscher- euro pa bis in das Gebiet des Balkans und der gruppe als „Gewaltgemeinschaften“ aufge- heutigen Ukraine reicht. Erforscht werden fasst. Die Forschergruppe betrachtet demnach gotische Kriegergruppen und frühneuzeitliche nicht die Gewalt, die von solchen Instanzen Söldnerverbände ebenso wie mittelalterliche ausgeht, die eindeutig als „herrschaftlich“, Fehdegruppen und jugendliche Gewalttäter in „obrigkeitlich“ bzw. „staatlich“ zu bezeichnen modernen Großstädten. Die neun Teilprojekte sind, wie Militär oder Polizei. Vielmehr geht es der Forschergruppe werden geleitet von den um Gewalt, die für die Entstehung, das Selbst- Gießener Historikern Hans-Jürgen Bömelburg, verständnis und die Reproduktion sozialer Horst Carl, Peter Haslinger (zugleich Herder-In- Gruppen bestimmend ist. Unter Gewalt wird stitut Marburg), Markus Koller, Friedrich Lenger ausschließlich physische Gewalt verstanden, und Christine Reinle sowie Winfried Speitkamp und zwar sowohl tatsächlich ausgeübte als (bislang Gießen, jetzt Kassel), Trutz von Trotha auch lediglich angedrohte. Eine These der For- (Siegen) und Hans-Ulrich Wiemer (bislang Gie- schergruppe ist es, dass es sich hierbei nicht ßen, jetzt Erlangen). Zwölf wissenschaftliche oder jedenfalls nicht allein um unkontrollierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind beteiligt, emotionale Ausbrüche handelt. Vielmehr folgt unter ihnen Sonja Dinter als Koordinatorin. der Einsatz von Gewalt einer inneren Logik, so- Sprecher der Forschergruppe ist Winfried Speit- gar spezifischen Regeln, die auch die Akteure kamp. selbst binden. Gleichzeitig dient Gewalt der In- Den Mitgliedern der Forschergruppe geht es tegration und Identitätsstiftung nach innen so- vor allem um die historische Dimension: Sie un- wie der Abgrenzung nach außen. tersuchen, in welchen Formen Gewaltgemein- Die Forschergruppe versucht also, in Gewaltge- schaften in der Geschichte aufgetreten sind meinschaften hineinzuschauen. Sie fragt zu- und wie sie sich in einzelnen Epochen oder Kul- nächst nach der Struktur der Gewalt ausüben- turen unterscheiden. Dabei soll das genaue den bzw. sich durch Gewalt definierenden Verhältnis von Gruppe und Gewaltausübung Gruppen und nach ihrer Funktionsweise und bestimmt werden. Konzepte und Begriffe der inneren Dynamik. In diesem Zusammenhang ist Sozial- und Kulturgeschichtsforschung wie et- nicht zuletzt die Rolle von Anführern und die wa Ethnizität, Gender, soziales Milieu, Genera- eigene Moral und Wertordnung der Gewaltge- tion oder Religion werden dabei aus einer neu- meinschaft von Bedeutung. Sodann geht es en Perspektive beleuchtet und auf ihre kon- um die Frage der Funktion, Motivation und Le- krete Aussagekraft für die Analyse von Grup- gitimation von Gewalt. Ferner werden die pen und deren Gewalttätigkeit hin überprüft. Selbstdarstellung von und Fremdsichten auf Für diesen innovativen, zeitlich und regional Gewaltgemeinschaften analysiert. Der histo- vergleichenden Ansatz bietet das Format der risch-politische Kontext, in dem die gewalttä- DFG-Forschergruppe einen bestens geeigneten tigen Gruppen agieren, soll ebenfalls einbezo- Rahmen. Eine enge Zusammenarbeit und stän- gen werden. Intensiver betrachtet werden diger Austausch von Wissenschaftlerinnen und schließlich auch Grenzen und Bewältigung von Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Spezi- Gewalt und kollektiver Gewaltausübung. algebieten prägen die Arbeit am gemeinsamen Thema. Das theoretische Konzept und das kon- Die Forschergruppe krete Vorgehen der Forschergruppe verspre- chen so neue Erkenntnisse, die auch für das Im August 2009 hat die Forschergruppe ihre Verständnis von Gewalt und kollektiver Ge- Arbeit aufgenommen. Anhand konkreter Bei- waltausübung in der Gegenwart aufschluss- spiele wird dem Phänomen der Gewaltgemein- reich sein können.

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 92 08.06.10 10:17 Das Forschungsprogramm ist zunächst auf drei tierte Geschichte der Kriegergruppen in drei Jahre angelegt. Die Gesamtperspektive der For- Phasen gliedern: Bis 489 existierten auf dem schergruppe zielt auf eine sechsjährige Förde- Balkan mehrere gotische Kriegergruppen in rung, ein Verlängerungsantrag ist also schon Konkurrenz zueinander. Diese Zeit war durch geplant. nahezu permanente Gewaltausübung, große räumliche Mobilität und hohe Fluktuation in Gotische Kriegergruppen der Zusammensetzung und Größe der Krieger- in der Spätantike verbände geprägt. Das Verhältnis des oströ- mischen Kaisers zu diesen Gruppen war durch Gegenstand des althistorischen Forschungs- ein ständiges Schwanken zwischen Anerken- projekts, das Guido M. Berndt unter der Lei- nung und Bekämpfung bestimmt. In der Zeit tung von Hans-Ulrich Wiemer bearbeitet, sind von etwa 489 bis 535 erfolgte eine Umbildung Kriegergruppen, die sich auf dem Boden des der gotischen Kriegergruppen zu einer militä- spätrömischen Reiches aufhielten und in den rischen Funktionselite in Italien. Die Goten blie- Quellen als gotisch bezeichnet werden. Ziel ist ben auch nach der Eroberung Italiens eine Per- es, die Entstehung, das Selbstverständnis, die sonengruppe, die auf die Ausübung von Ge- innere Ordnung und schließlich das Vergehen walt spezialisiert war und sich durch diese Spe- dieser Kriegergruppen zu untersuchen. Im Zen- zialisierung von ihrer Umgebung unterschied. trum steht die Frage, welche Rolle Gewalt für Nun richtete sich die Gewalt aber vorwiegend ihr Aufkommen und ihre Reproduktion spielte. gegen „äußere Feinde“. Die Goten in Italien Im Sinne des Projekts lässt sich die dokumen- waren in dieser Phase sesshaft und durch Land-

Abb. 1: „Die Gotenschlacht am Vesuv“. Historienbild von Alexander Zick (1845–1907)

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 93 08.06.10 10:17 besitz und Geldzahlungen materiell abgesi- Northumberland. Die Grafen waren Teil einer chert, bewahrten jedoch eine „ethnische“ Gesellschaft, in der Formen der Fehde üblich Identität. Eine Rückverwandlung in einen mo- waren, um Konflikte auszutragen, auch wenn bilen Kriegerverband und schließlich die Auflö- dies in der Forschung bislang oft anders darge- sung der gotischen Gruppen vollzog sich in ei- stellt wurde. Diese Formen des Konfliktaustrags ner dritten Phase von 535 bis 552. Während waren Ausdruck eines insgesamt hohen Gewalt- des verheerenden Krieges gegen Ostrom nahm potentials im mittelalterlichen England; das die räumliche Mobilität wieder sprunghaft zu Spektrum reichte dabei von gewöhnlicher Krimi- und die materielle Existenz wurde zunehmend nalität über Gewalthandlungen als Sekundär- durch die gewaltsame Aneignung von Gütern folge von Kriegen bis hin zu Rache, „Fehde“ gesichert. Das stets vorhandene Problem der und politisch motivierter Gewalt. Träger dieser konkurrierenden Wertordnungen verschärfte Gewalthandlungen waren oft Gefolgschaften sich bis hin zu einer prinzipiellen Unvereinbar- des Hochadels, die phasenweise zu Gewaltge- keit. Die Grenze zwischen legitimer und illegiti- meinschaften werden konnten, ohne freilich mer Gewaltausübung verschwamm dabei ausschließlich Gewaltgemeinschaften zu sein. ebenso wie die zwischen Untertanen und Fein- Daher gilt es, näher zu bestimmen, welchen An- den. Am Ende stand die Auflösung des go- teil Gewalthandeln an der Herstellung von Zu- tischen Kriegerverbandes, der zerstreut und sammenhalt innerhalb dieser Gefolgschaften von seiner Umgebung aufgesogen wurde. hatte, die durch vielfältige vertragliche und sozi- ale Bande verflochten waren. Untersucht - wer Fehdegemeinschaften den soll, welcher sozialen Logik das Gewalthan- im Spätmittelalter deln folgte, welcher Stellenwert und welche

Christine Reinle leitet in der Forschergruppe ein Teilpro- jekt zu kollektiver Gewalt- ausübung in England zur Zeit des Mittelalters. Die Untersuchung befasst sich mit einer gewaltbereiten Gesellschaft, die ihre Nei- gung zu eigenmächtigem und gewaltsamem Konflik- taustrag nicht mit dem Hin- weis auf konkrete Defizite des Staates bei der Auf- rechterhaltung der Ord- nung rechtfertigen konnte. Dies verspricht Aufschluss über die „Logik von der Ge- walt“ und die Rationa lität sowie das Normensys tem gewaltbereiter Gruppen. Als Untersuchungszeitraum wurde das mittlere 15. Jahr- hundert gewählt, als Unter- suchungsgegenstand die Abb. 2: Gewalt im Mittelalter: Im Hundertjährigen Krieg kämpften französische konfliktfreudige Hochadels- gegen englische Soldaten. Abbildung der Schlacht von Crécy (1346). Aus Chro- familie Percy, Grafen von niques de Jean Froissart.

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 94 08.06.10 10:17 symbolische Bedeutung dem Gewalteinsatz bei Konstellationen, in denen Söldner kollektiv der Austragung von Konflikten zukam. Das Pro- physische Gewalt ausübten oder damit droh- jekt fragt außerdem nach den sozialen Normen ten. Die Analyse der wiederkehrenden Meute- von gewalttätigen Gruppen, nach ihrer „Ethik“ reien der Landsknechte oder Söldner wiederum und nach der Erinnerung und Deutung erlebter erlaubt es, die Anwendung von Gewalt aus der bzw. verübter Gewalt. Auch die Rahmenbedin- Perspektive der Gewaltgemeinschaft selbst nä- gungen, welche die Gewalt möglicherweise be- her zu beschreiben. Der Einsatz physischer Ge- günstigten, sind zu berücksichtigen. Soweit Kon- walt im Krieg in Gestalt von Schlachten oder takte, Kooperationen oder Überschneidungen Belagerungen schließlich bildet den Kern der mit Räuberbanden festgestellt werden können, vom Söldner erwarteten Gewalttätigkeit. Gera- sollen diese ebenfalls betrachtet werden. de hier, wo Gewalt am ehesten eskalierte, las-

Söldnerverbände in der Frühneuzeit

Das Teilprojekt von Horst Carl widmet sich frühneu- zeitlichen Söldnern bzw. Landsknechten und damit einer sozialen Gruppie- rung, für die kriegerische Gewaltausübung Zweck des Zusammenschlusses war. Obwohl Söldner of- fenbar ein epochen- und kulturübergreifendes Phä- nomen sind, gilt das 16. Jahrhundert als „klassische Periode“ des europäischen Söldnerwesens, weil Söld- nerverbände das Gros der Armeen bildeten. Bereits die Bezeichnung „Söld- ner“ verweist auf die Be- deutung materieller An- reize. Daher liegt es nahe, gerade an diesen Gewalt- gemeinschaften den Zu- sammenhang von ökono- mischer Rationalität und Logiken kollektiver Ge- waltausübung zu untersu- chen. Dies soll vor allem über eine Betrachtung der Praktiken des Beutema- chens geschehen. Im Vor- dergrund steht eine ver- gleichende Betrachtung ty- Abb. 3: „Landsknechte“ von Diebold Schilling. Abbildung aus der Luzerner Bil- pischer Situationen und derchronik, 1513

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 95 08.06.10 10:17 sen sich auch Grenzen ökonomisch rationaler Gewaltgemeinschaften im Balkanraum Gewaltlogiken diskutieren. In einem ersten Ar- im 17. und 18. Jahrhundert beitsvorhaben des Projekts befasst sich Stefan Xenakis mit Landsknechten im Dienst des Das Teilprojekt, das von Markus Koller gelei- Schwäbischen Bundes. In einem zweiten Ar- tet und von Andreas Helmedach bearbeitet beitsvorhaben untersucht Patricia Bobak Söld- wird, richtet den Fokus auf Räuberbanden in ner im Umfeld des spanisch-niederländischen den „staatsfernen“ Regionen des westlichen Krieges. Die Forschungsarbeiten sollen Ant- Balkanraumes im 17. und 18. Jahrhundert. worten auf die Frage geben, wie sich grundle- Hierunter werden im Rahmen der Studie bos- gende Wandlungen des Krieges im 16. Jahr- nische, herzegowinische und montenegri- hundert und unterschiedliche äußere Umstän- nische Gebiete verstanden, die zu dieser Zeit de auf das Gewalthandeln der Söldner ausge- zum Osmanischen Reich gehörten, sowie das wirkt haben. venezianische Dalmatien. Zwei Kategorien von Briganten lassen sich dort unterscheiden. „Fehdegesellschaft“ Eine erste Gruppe besteht aus Räubern, die in im frühneuzeitlichen Polen-Litauen zeitlich befristeten „Lebensgemeinschaften“ (cˇeta) als Gewaltakteure in Erscheinung tra- Eine Untersuchung des polnisch-litauischen ten, insbesondere im bosnisch-herzegowi- Raums im 17. Jahrhundert bringt das Teilprojekt nischen und montenegrinischen Raum. Es von Hans-Jürgen Bömelburg in die Forscher- handelte sich um Bünde, die teilweise in die gruppe ein. Es wird von Mariusz Kaczka bearbei- Gesellschaft integriert waren und eine ausge- tet. Das damalige Polen-Litauen wird in der For- prägte hierarchische Struktur entwickelten. In schung als mitteleuropäische Ständegesellschaft ihnen verband sich die Ausübung von Gewalt gefasst, in der sich gewisse frühparlamenta- mit dem Wertesystem einer patriarchalischen rische Strukturen zeigten. Allerdings stellten Gesellschaftsordnung. In der nationalen Ge- manche Studien auch die Fortsetzung von Ge- schichtsschreibung der Balkanstaaten, die waltpraxen fest. Aus westeuropäischer Perspek- sich vorwiegend auf die Aussagen der Volks- tive ist dies als „Fehdegesellschaft“ charakteri- epik stützt, werden diese als Hajduken be- siert worden, der Begriff wird aber in der osteu- zeichneten Räuber vor allem als Widerstands- ropäischen Geschichtswissenschaft nicht ver- kämpfer gegen die osmanische Herrschaft in- wandt. Das Projekt widmet sich adlig-solda- terpretiert. Die zweite Kategorie besteht aus tischen Gewaltgemeinschaften in den Kriegen Räuberbanden, die nicht dem System der cˇete der „Sintflut“ (1648–1680er Jahre). Das Adels- zuzuordnen sind. Ihre Zusammensetzung war aufgebot verwandelte sich zu dieser Zeit in vielfältiger und zugleich weniger stabil. Bei Kampfgemeinschaften, die auf dem Lande diesen Zweckgemeinschaften scheint die lebten und auf Gewaltausübung zurückgriffen. Ausübung physischer Gewalt ausschließlich Angehörige dieser Gemeinschaften schlossen als Mittel zur Aneignung materieller Ressour- sich in den 1660er Jahren zu bündischen Orga- cen gedient zu haben. Zu fragen ist nach der nisationen zusammen und destabilisierten mit inneren Struktur beider Typen von Gewaltge- Soldforderungen und Bürgerkriegen den Reichs- meinschaften, nach den Bedingungen ihres verband. Untersucht werden die Entscheidungs- Entstehens und Vergehens sowie nach der prozeduren in diesen Verbänden, in denen ad- Einbettung der Banden wie auch ihrer einzel- lig-ständische Vorgehensweisen mit charisma- nen Mitglieder in die gesellschaftliche Ord- tischen Führerprinzipien und Gewaltmechanis- nung. Bisher von der Forschung kaum be- men verschmolzen. Das Projekt soll auch allge- rücksichtigtes venezianisches Quellenmaterial mein einen Beitrag zur Frage der Fortdauer und aus den Archiven von Zadar (Kroatien) und Einhegung von Gewalt in Mitteleuropa liefern Venedig wird Einblicke in die Innenwelten der und speziell das Verhältnis von Gewalt und erwähnten Gewaltgemeinschaften ermögli- Rechtsaustrag in Polen-Litauen neu definieren. chen.

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 96 08.06.10 10:17 Kriegergruppen und Generationen- diente der Selbstbehauptung nach außen, der ordnung im vorkolonialen Ostafrika Integration nach innen und der Etablierung der jungen Krieger als neue Elite. Das hatte tiefgrei- Vorkoloniale Gewaltgemeinschaften in Afrika fende Auswirkungen auf die tradierten gesell- untersucht Winfried Speitkamp mit seinem schaftlichen Strukturen, auf die Generationen- Mitarbeiter Sascha Reif. Krieg und Gewalt ordnung ebenso wie auf die Geschlechterver- spielten eine zentrale Rolle in den Transforma- hältnisse. Das Projekt will die inneren Struk- tionsprozessen des 19. Jahrhunderts in Afrika. turen und Wertordnungen der afrikanischen Politische Formationen brachen zusammen, Gewaltgemeinschaften erforschen und die so- ganze Völker setzten sich in Bewegung und zialen Logiken und sozialen Funktionen ihrer verdrängten andere Völker, neue politische For- Gewalttätigkeit ermitteln. Es geht nicht von be- mationen entstanden, unter ihnen auch Mili- stimmten ethnischen Gruppen aus. Es nimmt tärmonarchien. Kennzeichen dieser vorkoloni- stattdessen einen geographischen Raum in den alen Übergangsepoche wurden Kriegergrup- Blick, in dem derartige Gemeinschaften ent- pen und Raubgemeinschaften. Diese Gruppen standen und agierten. Das Projekt umfasst lösten sich oft zeitweise oder dauerhaft aus ih- ostafrikanische Gebiete, die etwa den heutigen ren tradierten Lebensverbänden und suchten Staaten Uganda, Kenia und Tansania entspre- als Söldner oder auf eigene Faust von den neu- chen. Gefragt wird dann insbesondere, wie en politischen Konstellationen zu profitieren. sich die für ostafrikanische Gesellschaften des Ständige Gewaltbereitschaft und Gewalt in ex- 19. Jahrhunderts höchst bedeutsamen Alters- tremen Formen kennzeichneten die Gemein- klassensysteme und Generationenordnungen, schaften. Dabei wurde Gewalt regelrecht insze- in denen der Vorrang des Alters galt, durch die niert, beispielsweise durch Feuerwaffen. Ge- Entstehung von Gemeinschaften junger Krie- walt bzw. die Fähigkeit zur Gewaltausübung ger veränderten.

Abb. 4: Massai-Krieger in den 1930er Jahren

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 97 08.06.10 10:17 Gewaltgemeinschaften und politische deutschen Kolonialtruppen ein historisch-em- Herrschaft in Südwestafrika pirisch relevantes und präzises Konzept der Ge- waltgemeinschaft zu entwickeln. Die Entste- In enger Verbindung zum Ostafrika-Projekt hungszusammenhänge, Konstitutions- und In- steht dieses soziologische Teilprojekt. Unter der stitutionalisierungsprozesse von Gewaltge- Leitung von Trutz von Trotha untersucht Chris- meinschaften sollen beleuchtet werden. Dies tine Hardung Gewaltgemeinschaften im süd- soll auch zu einer Typologie vorkolonialer For- westlichen Afrika. Das südliche Afrika war seit men politischer Herrschaft beitragen, indem dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur eini- das Konzept der Gewaltgemeinschaft gegenü- germaßen sicheren Etablierung der europä- ber anderen Konzepten bzw. Begriffen wie ischen Kolonialstaaten im ersten Jahrzehnt des dem Grenzkriegertum, dem Kriegsherrentum 20. Jahrhunderts ein Raum, der von einer of- und den Gewehrgesellschaften präzisiert wird. fenen Grenzsituation und Gewaltgemein- Im Vergleich mit den Viehhalter-Häuptlingsge- schaften bestimmt war. Zu den Gewaltgemein- sellschaften der Herero sollen dabei die Zusam- schaften gehörten die Oorlam-Gruppen. Seit menhänge zwischen den Formen der Kriegfüh- dem frühen 19. Jahrhundert trugen sie kriege- rung von Gewaltgemeinschaften und ihren rische Konflikte mit den Herero und Nama Formen der Vergemeinschaftung bestimmt nördlich des Oranje-Flusses aus. Unter Jonker werden. Afrikaner schließlich unterwarfen sie die Nama- und Herero-Gruppen im zentralen und nörd- Städtische Gemeinschaften lichen Namibia, was bei beiden Veränderungen der Zwischenkriegszeit unterschiedlicher Art und Intensität herbei- führte. Ziel des Forschungsprojektes ist es, am Gewaltgemeinschaften in Städten der europä- Beispiel der Nama-Oorlam und Herero der vor- ischen Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert kolonialen Zeit bis zu den Kriegen mit den nimmt das Teilprojekt von Friedrich Lenger in

Abb. 5: Aufmarsch des Republikanischen Schutzbundes der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, um 1930 (Bundesarchiv, Bild 102-00839)

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 98 08.06.10 10:17 den Blick. Sharon Bäcker vergleicht die Verhält- Bruchlinien zwischen Gemeinschaften, die von nisse in Wien und Berlin, Florian Grafl richtet unterschiedlichen Sprachen und Kulturen ge- sein Augenmerk auf Barcelona. Gewaltakti- prägt waren. Die neu etablierten demokra- onen städtischer Gruppen dienten auch der tischen Systeme verstanden ihre Staaten als nicht immer nur symbolischen Eroberung oder Verwirklichung nationaler Souveränität, Verteidigung städtischen Raums. Die so gezo- kämpften aber durchweg mit Phasen der Insta- genen Grenzen markieren in den Untersu- bilität. Vor diesem Hintergrund entstanden in chungsstädten das jeweilige Machtverhältnis den meisten Staaten paramilitärische Verbän- entlang ganz unterschiedlich begründeter Kon- de, die im Rahmen des Projektes als Gewaltge- fliktlinien: zwischen anarchistischer Arbeiterbe- meinschaften im Sinne der Forschergruppe ver- wegung und von Unternehmerseite bezahlten standen werden. Die Untersuchung fokussiert Milizen (und der Polizei) in Barcelona, zwischen den litauischen Verband des Eisernen Wolfes Republikanischem Schutzbund und Heimwehr- (Geležinis vilkas), der in einen vergleichenden verbänden oder nationalsozialistischen Grup- Zusammenhang mit weiteren ostmitteleuropä- pen in Wien und schließlich zwischen kommu- ischen Verbänden gestellt wird. Dabei wird so- nistischen Kampfgruppen und der SA in Berlin. wohl von der Rhetorik als auch von der Gewalt- Neben diesen politischen Gewaltgemein- ausübung der paramilitärischen Verbände aus- schaften untersucht das Projekt in Wien und gegangen. Die vergleichende Analyse der An- Berlin auch organisierte Kriminalität und Ju- wendung von Gewalt nach außen und der Mit- gendbanden, die ebenfalls bestimmte Stadt- gliederdisziplinierung nach innen soll hier hel- viertel als die ihren betrachteten. Sie über- fen, das Gruppenbild und die Struktur der pa- schnitten sich personell teilweise mit den ge- ramilitärischen Verbände zu erschließen. Ge- nannten politischen Gewaltgemeinschaften. fragt wird außerdem nach der Stärke der Mit- Alle diese Gruppen sollen im Sinne der Ziele der gliederbindung, der informellen Selbstorgani- Forschergruppe nicht nur hinsichtlich ihrer in- sation sowie nach einer teilweisen Integration neren Struktur, kohäsionsstiftender Mechanis- in die staatlichen und militärischen Strukturen. men und Bedingungen dauerhafter Verge- Die Gewaltausübung wird schließlich auch in meinschaftung analysiert werden, sondern Hinblick auf die Opfer (jüdische Gemeinden, auch mit Blick auf die Zwecke, Motive und polnische Minderheit) analysiert. Als wichtige Rechtfertigungsmuster von Gewalt. Auch nach Zeugnisse werden hierbei lokale und kollektiv- dem Stellenwert von Gewalt in den Jugend- biografische Studien hinzugezogen. und Männlichkeitsbildern der Akteure soll ge- fragt werden. Denn häufig gemeinsam war Zwischenbilanz und Ausblick den untersuchten Gewaltgemeinschaften ne- ben dem engen Bezug zu städtischen Teilräu- Für eine Bilanz von Ergebnissen ist es zu früh. men und der Teilintegration in die städtische Patentlösungen für die zahlreichen Kon- Gesellschaft ihre Dominanz durch junge Män- fliktherde dieser Welt wird eine Forschergruppe ner. ohnehin kaum präsentieren können. Aber An- regungen zur Deutung von gewaltsam ausge- Paramilitärische Verbände tragenen Konflikten in Geschichte und Gegen- in Ostmitteleuropa wart kann die Forschergruppe sehr wohl geben. Dazu gehört erstens, dass Gewalt stets in einen Peter Haslinger und sein Mitarbeiter Vytautas gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet Petronis befassen sich ebenfalls mit Gewaltge- und in kulturspezifischer Weise motiviert ist. meinschaften der Zwischenkriegszeit, ihr Fokus Das prägt auch die Akteure, die sich zu Gewalt- liegt dabei allerdings auf Ostmitteleuropa. Die- gemeinschaften zusammenfinden. Innenper- se Region war zur damaligen Zeit von Kon- spektive und Selbstdeutung der Gruppenmit- flikten um Modernisierung und Weltanschau- glieder bilden folglich einen wichtigen Aspekt ungen gekennzeichnet. Hinzu kamen tiefe des Gewalthandelns. Wer das übersieht, wird

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 99 08.06.10 10:17 kollektive Gewalt kaum nachvollziehen, ge- Handlungsoption sehen, die erst beim Versagen schweige denn verhindern können. Zweitens anderer Konfliktlösungsstrategien gewählt erfolgt Gewaltanwendung oftmals zweckratio- wird. Diese „default option“-Lehre verkennt, nal. Sie muss also im Kontext der Handlungslo- dass Gewalt oftmals konstitutive Bedeutung für gik der Beteiligten betrachtet werden. Wer in Gruppen hat. Nur mit permanenter Gewaltbe- Gruppengewalt bloß eine emotionale Eruption reitschaft und durch die Dynamik gemeinsam sieht, verkennt die vielfältigen nachvollzieh- ausgeübter Gewalt lassen sich Gewaltgemein- baren Funktionen von Gewalt für eine Gruppe schaften zusammenhalten. Und das zeigt fünf- – von der Bekräftigung von Solidarität und Zu- tens, dass um kollektiv erlebte und ausgeübte sammenhalt bis zur Effizienzsteigerung und Ab- Gewalt ein eigener Wertekodex entstehen schreckung nach außen. Er verkennt möglicher- kann, dass Gewaltgemeinschaften eine eigene weise auch, wo Emotionen für Integration und Ethik und eine eigene Ehre entwickeln. Diese Gewaltausübung als Movens nötig und inso- kann wiederum handlungsleitend werden, und fern „rational“ sind. Drittens muss Gewaltan- sei es nur, um den Gruppenzusammenhalt zu wendung nicht nur destruktive Folgen haben. festigen. Wiederum gilt: Wer das unterschätzt, Sie kann auch produktive Wirkungen entfalten: wird gewalthafte Konflikte auch der Gegenwart So wie aus Revolutionen und Kriegen Nationen kaum verstehen können. Ein normativer Zu- und Staaten hervorgegangen sind, so kann gang zu Gewaltgemeinschaften, ob es sich nun auch aus kollektiver Gewalt Neues entstehen, um jugendliche Gewalttäter in Großstädten, etwa eine neue Form politischer Herrschaft. Milizen und Rebellen in den Krisengebieten der Zwischen organisierter Gewalt in „gewaltof- Welt oder Terroristen handelt, würde sich derar- fenen Räumen“ und „Gewaltmärkten“ (Georg tigen Erkenntnissen verweigern und die Chan- Elwert) einerseits, Staatsbildung und Gewalt- cen vergeben, die in der Beschäftigung mit Ge- monopol andererseits liegen keine unüber- waltgemeinschaften in der Geschichte liegen. brückbaren Gräben: Im Ostafrika des 19. Jahr- hunderts zum Beispiel war der Karawanen- Kontakt: händler oft auch Warlord, und dieser konnte durchaus zum Staatsgründer werden, der wie- Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ derum als mythischer Ahnherr eines Volkes ver- Otto-Behaghel-Straße 10C ehrt werden konnte – und zum Teil bis heute 35394 Gießen verehrt wird. Viertens erscheint es voreilig, Ge- Telefon: 0641/99-28170 walt nur als Krisenindikator zu sehen. Fraglich [email protected] ist, ob Theorien zutreffen, die in Gewalt eine giessen.de

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091-100_DinterSpeitkamp.indd 100 08.06.10 10:17 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Joachim Born, Thomas Gloning, Michael K. Legutke, Franz-Joseph Meißner, Dietmar Rösler Sprachenlernen, Sprachpolitik, Sprache in den Medien und vieles mehr Der Forschungsverbund Educational Linguistics stellt sich vor

Dass Sprachwissenschaftler und Sprachdidak­ ternational Graduate Centre for the Study of Cul­ tiker so gut miteinander ins Gespräch kommen, ture (GCSC) (http://gcsc.uni-giessen.de/wps/pgn/ dass sie sogar wie an der Justus­Liebig­Universi­ home/gcsc_eng/). Eine ausführlichere Beschrei­ tät einen Forschungsverbund gründen, ist so bung der beteiligten Personen und der mit ihnen selbstverständlich nicht. Bis in die 70er Jahre gab verbundenen Forschungsprojekte findet man un­ es ein klares Abhängigkeitsverhältnis: die Lingu­ ter http://www.uni-giessen.de/el/. isten forschten und die Didaktiker wandten an. In jedem Semester lädt der Forschungsverbund Was nicht unbedingt zu besonders guten Ergeb­ Kollegen aus dem In­ und Ausland zu Gastvor­ nissen für die Praxis führte. Als sich in den trägen ein, im WS 2009/2010 waren dies Kolle­ 1970er Jahren als Reaktion darauf eine eigen­ gen aus Erlangen­Nürnberg, Leipzig, Aveiro/Por­ ständige Sprachlehrforschung etablierte, ent­ tugal und Freiburg, die sich mit Themen wie der stand eine Vielzahl von Projekten zur Erfor­ Gestaltung von korpusbasierten Lernerwörter ­ schung der Komplexität des Lehrens und Ler­ büchern, der Bedeutung von kontrastiven Be­ nens von Fremdsprachen an Schulen und Uni­ schreibungen, dem Potenzial des kollaborativen versitäten. Verstärkt wurden Anstöße aus Psy­ Schreibens in den digitalen Medien und Formen chologie und Pädagogik aufgenommen, parallel bilingualen Sprechens und der Mehrsprachigkeit dazu differenzierte sich die Sprachwissenschaft beschäftigen. aus. So genannte Bindestrich­Linguistiken wie Zu den Schwerpunkten der Educational Lingu- die Psycholinguistik und spezielle Forschungs­ istics an der Justus­Liebig­Universität Gießen schwerpunkte wie die Schriftspracherwerbsfor­ gehören die folgenden Forschungsfelder: schung, die für das Verständnis des Sprachenler­ • die Bearbeitung von sprach(en)politisch und nens hochrelevant sind, etablierten sich. Die Ent­ fremdsprachendidaktisch relevanten Frage­ wicklung war reif für eine Zusammenführung stellungen, die für Mehrsprachigkeitskon­ der in den letzten Jahrzehnten oft eher getrennt zepte und die Identitätsstiftung durch Spra­ verlaufenden Forschungsaktivitäten. che relevant sind; Unter Educational Linguistics fassen wir alle For­ • die Nutzung digitaler Medien, computerisier­ schungs­ und Lehraktivitäten zusammen, die sich ter Korpora und computerlinguistischer Tech­ auf die wechselseitige Verbindung von sprachwis­ nologien für die Sprachanalyse und das senschaftlichen Fragestellungen, Konzepten und Fremdsprachenlehren und ­lernen; Modellen mit der Beschreibung und Analyse von • die Beschreibung und Analyse des Spracher­ Spracherwerbs­ und Sprachvermittlungsprozes­ werbs im Allgemeinen (unter besonderer Be­ sen beziehen. Im Forschungsverbund arbeiten Lin­ rücksichtigung der medialen Ausdifferenzie­ guisten und Didaktiker aus Anglistik, Germanis tik, rung nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit) Romanistik, Slavistik und Turkologie zusammen; und der Sprache im Unterricht im Besonderen. die Educational Linguistics ist durch die an ihr be­ Vier Beispiele sollen im Folgenden die Vielfalt teiligten Professoren, Mitarbeiter und Doktoran­ der Gießener Educational Linguistics veran­ den innerhalb der JLU verankert im Zentrum für schaulichen. Zunächst geht Thomas Gloning Medien und Interaktivität (ZMI) (http://www. der Frage nach, wie mediale Informationsange­ zmi.uni-giessen.de/home/index.html), im Gieße­ bote für Kinder aufgebaut sind und wie Kinder ner Zentrum Östliches Europa (GiZo) (http://www. die Fähigkeit zur Nutzung derartiger Informati­ uni-giessen.de/cms/fbz/zentren/gizo) und im In­ onsangebote erwerben. Danach zeigt Michael

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101-112_Roesler-etal.indd 101 08.06.10 10:13 Legutke, wie die JLU auf gesellschaftliche Ver­ staltet, die man mit Schlagwörtern wie Text- änderungen in der Bildungslandschaft reagiert: cluster, Textdesign bzw. Multimodalität gekenn­ Als bundesweit der frühe Fremdsprachenunter­ zeichnet hat. Sie nutzen zum einen mehrere richt eingeführt wurde, waren viele Grund­ „Kanäle“ (Text, Bild, Infografik, Layout, Farbge­ schullehrer für diesen nicht ausgebildet. In Ko­ bung, ggf. bewegte Bilder, Töne), sie beruhen operation mit Hochschulen in Baden­Württem­ zum anderen auf Formen der „Zerlegung“, der berg entstand das Projekt E­LINGO, entwickelt Segmentierung des Gegenstandes in mehrere wurde ein Studiengang, der im Blended­Lear­ kleinere Darstellungseinheiten, die jeweils spezi­ ning­Format angeboten wird und berufsbeglei­ elle Funktionen haben, einzelnen Teilthemen ge­ tend studiert werden kann. Über die Fremd­ widmet sind oder bestimmte Perspektiven auf sprachenkompetenz von Studierenden und den Gegenstand vorstellen. Solche mehrkana­ den Fremdsprachenbedarf an der JLU berichten ligen Textcluster erlauben es zum einen, das An­ Christine Beckmann und Franz­Joseph Meiß­ gebot selektiv zu nutzen, und sie eröffnen zum ner. Im letzten Beitrag illustriert Joachim Born anderen auch unterschiedliche Nutzungspfade. am Beispiel der Sprachpolitik in Lateinamerika, Abbildung 1 zeigt im Überblick eine Doppelseite wie wichtig für die Diskussion von Sprachwerb aus dem Geolino­Heft 2/2009.1 Sie gehört zu und Fremdsprachenlernen die Aufarbeitung einem achtseitigen Artikel mit der Überschrift der Geschichte der Sprachen einer Region und „CERN. Teilchenjagd im Untergrund“, in dem die Auseinandersetzung mit der aktuellen für Kinder von 8 bis 14 Jahren über den Teilchen­ Sprachpolitik ist. beschleuniger LHC (Large Hadron Collider) und die Forschungsarbeit am CERN berichtet wird, in Informationsmedien für Kinder: dem darüber hinaus aber auch grundlegende Textdesign und multimodales Verstehen Fragen der Teilchenphysik behandelt werden. Die Doppelseite enthält zunächst einen „Haupt­ THOMAS GLONING text“ auf der rechten Seite 49, der von der letz­ ten rechten Seite 47 weiterläuft. Angelagert Für Kinder und Jugendliche im deutschen sind ein großes, zentral platziertes und zwei Sprachraum gibt es derzeit eine breite Palette kleinere Fotos mit darauf bezogenen Bildle­ unterschiedlicher Informationsmedien. Dazu genden. Die Doppelseite enthält weiter drei In­ gehören unter anderem: fografiken: eine sogenannte Topografik zur • Zeitschriften mit breitem thematischen Profil räumlichen Lage des Teilchenbeschleunigers wie z. B. Geolino oder Zeitschriften für spezi­ sowie zwei Erklärgrafiken zu Arten von Teil­ elle Interessensgebiete; chen (von Molekülen, Atomen bis zu Quarks) • CDs und DVDs wie z. B. die Wald­CD des Kin­ und zu Arten von Kräften (Gravitation, elektro­ derausstatters Jako­o (mit dieser CD lernen magnetische Kraft, schwache und starke Kern­ die Kinder den Wald und sein Öko­System kraft). Die beiden Erklärgrafiken sind jeweils spielerisch kennen, nicht in Gummistiefeln im mit einem Piktogramm, einem Stern, der eine Wald selbst, sondern am Bildschirm); Glühbirne enthält, funktional gekennzeichnet. • Fernsehnachrichten für Kinder wie z. B. logo! Bei der Gestaltung der Doppelseite werden oder Wissens­Formate wie z. B. Die Sendung weiterhin auch Mittel des Layouts genutzt, also mit der Maus (auch auf CD und im Web); z. B. die Flächenaufteilung, die Platzierung von • Webseiten, die zum Teil Ableger aus anderen Elementen und die Farbgebung. Für das Verste­ medialen Umgebungen sind. hen solcher Informationseinheiten ist es nicht Daneben gibt es zahlreiche weitere Wissens­ nur wichtig, die einzelnen Bestandteile (z. B. Angebote, z. B. auf den Kinderseiten von Lo­ Wörter, Sätze, thematische Abschnitte, Bildge­ kalzeitungen, in Büchern, in schulischen Lern­ genstände, Piktogramme) zu verstehen, son­ materialien, in Filmen usw. dern auch zu verstehen, welche funktionalen Viele Informationsangebote für Kinder sind heu­ und thematischen Zusammenhänge zwischen te nach modernen Darstellungsprinzipien ge­ all diesen Einheiten bestehen können.

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101-112_Roesler-etal.indd 102 08.06.10 10:13 Moderne LeserInnen sind mit zerlegten, kom­ ten“, die das thematische Angebot vorstellen. ponierten und multimodalen Informationsan­ Für die Lektüreentscheidungen spielen offen­ geboten dieser Art inzwischen vertraut, auch bar das thematische Profil und die Attraktivität Kinder nutzen solche Textcluster über weite der Bilder eine große Rolle. Der CERN­Artikel Strecken routiniert. Es ist aber keine triviale Fra­ z. B. wird angekündigt mit dem Text: „Die ge, wie Kinder zu dieser Routine gelangen und großen Forscher, Teil 3: Mit Riesenmaschinen wie sie im Einzelnen ausgeprägt sein kann. auf Jagd nach Miniteilchen“. Das dazugehö­ Dies ist Gegenstand einer laufenden Untersu­ rige Bild zeigt die Innereien eines Teilchen­ chung, die am Beispiel von Geolino u. a. fol­ detektors und eine Schemazeichnung. Hier ein gende Fragen behandelt: Ausschnitt aus dem Gespräch über dieses Bild: • Wie sind multimodale Informationsangebote A: „Und so’n Bild hier?“ für Kinder aufgebaut? Welche spezifischen B: „Na ja, also das sagt mir eher nicht so viel.“ Darstellungselemente und ­strategien lassen A: „Warum nicht?“ sich beschreiben? B: „Weil es ziemlich kompliziert aussieht und • Wie erwerben Kinder die Fähigkeit zur Nut­ ich auch nicht genau erkennen kann, was zung von Informationsangeboten dieser Art? das sein soll.“ • Wie entwickeln sich die entsprechenden Fä­ Bilder haben also auch eine Thematisierungs­ higkeiten in der Zeit? funktion, ihre Gestaltung und Auswahl spielt • Von welchen Bedingungsfaktoren wird die eine wichtige Rolle für die Nutzungsentschei­ Entwicklung gesteuert? dungen junger LeserInnen. • Wie und wofür nutzen Kinder solche Infor­ Zu den spezifischen Strategien und Mitteln der mationsangebote? Veranschaulichung gehören regelmäßig auch • Welche „Grade“ des Verstehens haben un­ Vergleiche („Apparate, die so groß sind wie Kir­ terschiedliche (Arten von) NutzerInnen? chen und schwer wie 2000 Elefanten“) und Für die Untersuchung kombinieren wir Verfah­ Formen der Metaphorik aus der kindlichen Le­ ren der sprachwissenschaftlichen Text­, Kom­ benswelt. Die Vielzahl der angenommenen Ele­ munikations­ und Produktanalyse mit ele­ mentarteilchen und ihre Erforschung wird z.B. mentaren Formen der Rezeptionanalyse. Wir mit der Zoo­Metapher eingeführt: „Bis heute untersuchen also zunächst die vorliegenden In­ haben Wissenschaftler einen ganzen Zoo sol­ formationsangebote wie den CERN­Artikel im cher Miniteilchen entdeckt. (...)“. Im Gespräch Hinblick auf die ganz unterschiedlichen As­ bestimmte eine junge Leserin die damit hervor­ pekte der Gestaltung, z. B. den Wortgebrauch, gehobenen Punkte: es sind viele (Teilchen), es die syntaktische Form, Strategien der Veran­ sind unterschiedliche, sie hinterlassen Spuren, schaulichung, Verfahren der Themenstrukturie­ die zu ihrer Bestimmung beitragen. rung usw. bis hin zur globalen Organisation als Gibt man ein zielgerichtetes Nutzungsszenario Textcluster. Für die Rezeptionsanalyse nutzen vor („Stell Dir vor, Du musst mit diesem Artikel wir derzeit offene dialogische Verfahren. Wir ein Referat halten über …), dann lassen sich geben Nutzungssituationen vor und beginnen auch Grade des Verstehens von Einzelheiten mit den jungen LeserInnen dann ein nur locker genauer einschätzen, die in solchen Texten vor­ vorstrukturiertes Gespräch über die genannten kommen, z. B. die Bedeutung des Ausdrucks Aspekte der Gestaltung, aber auch über Nut­ Quark und die Stellung der damit bezeichneten zungsformen und Präferenzen. Elementarteilchen. Eine der Nutzungssituationen ist das sog. Fla­ Zu den nächsten Schritten wird es gehören, die nieren, also die nicht zielgerichtete Nutzung: spezifischen Darstellungsaufgaben in einzelnen „Stell Dir vor, die Post hat gerade das neue Sachgebieten (z. B. Medizin, Geschichte) weiter Geo lino gebracht, Du hast ein Stunde Zeit, was zu profilieren, die Voraussetzungen verschie­ machst Du damit?“ Regelmäßige LeserInnen dener Nutzertypen weiter zu systematisieren von Geolino nutzen sowohl das Titelblatt als und die Verfahren der Rezeptionsanalyse zu ver­ auch die Seiten 4 und 5 als „Schaufenstersei­ feinern.

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101-112_Roesler-etal.indd 103 08.06.10 10:13 Abb. 1: Doppelseite aus GEOlino­Heft 2/2009

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101-112_Roesler-etal.indd 104 08.06.10 10:13 Abb. 1: Doppelseite aus GEOlino­Heft 2/2009

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101-112_Roesler-etal.indd 105 08.06.10 10:13 E-LINGO. mäßige Kontaktseminare werden durch koo­ Didaktik des frühen perative Arbeit mit Online­Materialien (in der Fremdsprachenlernens. Regel in Dreierteams) und Erprobungen im Ein Aus- und Weiterbildungsprojekt Grundschulunterricht (Action Research Pro- im Blended-Learning-Format jects) ergänzt. In allen Programmphasen dient die Zielsprache als Kommunikationsmittel, die MICHAEL K. LEGUTKE integriert mit den fachdidaktischen Inhalten ausgebaut wird. Die auffälligste und in den Konsequenzen fol­ Die Aktionsforschungsprojekte der Studieren­ genreichste Veränderung der europäischen den übernehmen eine Schlüsselfunktion im Schullandschaft ist die flächendeckende Ein­ Programm, denn sie bilden die notwendige führung von Fremdsprachen in den Grund­ Brücke zwischen fachdidaktischen Wissensbe­ schulen. Nationale wie internationale Studien ständen, die die Module vermitteln, und den bestätigen mittlerweile, dass der Fremdspra­ Unterrichtserfahrungen, gewonnen aus der ei­ chenunterricht in der Grundschule den ge­ genen Lerngeschichte und den Erprobungen steckten Zielen gerecht wird: Die überwie­ von Unterrichtsprojekten. Ein Aktionsfor­ gende Mehrheit der SchülerInnen lernt die schungsprojekt als Teil der Ausbildung besteht fremde Sprache gern und ist hoch motiviert. aus sieben Schritten: (1) Es gilt auf der Basis der Elementare Kompetenzen im Hörverstehen Modularbeit eine Forschungsfrage zu finden und in der Sprechfähigkeit werden entwickelt. und diese im Team auszuhandeln. (2) Überle­ Auch Ansätze von Sprachbewusstheit und gungen müssen angestellt werden, wo Ant­ Sprachlernbewusstheit können nachgewiesen worten zu finden sind (Literatur, Erfahrungs­ werden. Der Erfolg der Programme, auch das wissen von Kolleg­/innen), die Fragestellung zeigen die Studien, hängt allerdings entschei­ wird präzisiert, Handlungsvorschläge werden dend von Bedingungen ab, denen vielerorts entwickelt. (3) Es folgt eine Auseinanderset­ noch nicht in ausreichendem Maße Rechnung zung mit einem konkreten Lehr­ und Lernkon­ getragen wird. Zu diesen zählen u. a.: curricu­ text, (4) Unterricht muss geplant werden und lare Vorgaben und Standards, angemessene in­ Indikatoren für erfolgreiches Lernerverhalten stitutionelle Rahmenbedingungen für den sind zu formulieren. (5) Der Unterricht wird ge­ Übergang der SchülerInnen zu den weiterfüh­ halten und ausführlich dokumentiert. (6) Die renden Schulen sowie vor allem eine qualifi­ Erfahrungen werden zunächst individuell und zierte und nachhaltige Aus­ und Weiterbildung dann im Team reflektiert, systematisiert und so von Lehrkräften. zusammengefasst, dass sie in der folgenden Dem zuletzt genannten Brennpunkt ist das Präsenzphase allen Kursteilnehmern präsen­ Projekt E­LINGO verpflichtet. Gefördert aus tiert werden können. (7) Schließlich folgt die Mitteln der Landesstiftung Baden­Württem­ Präsentation und Diskussion der Einsichten im berg und des Landes Hessen haben die Päda­ Plenum unter Verwendung der Zielsprache. gogischen Hochschulen Freiburg und Heidel­ Dem Anspruch nach zeichnet sich der Studien­ berg und die JLU Gießen im Verbund einen gang durch berufsfeldbezogene Wissenschaft­ Masterstudiengang zur Qualifizierung von lichkeit aus. Er versucht die kritische Selbstrefle­ Sprach­ und Kulturvermittlern im Grundschul­ xion der TeilnehmerInnen zu fördern und eröff­ bereich für die Sprachen Englisch und Franzö­ net einen multiperspektivischen Zugang zu sisch entwickelt, implementiert und durch fremdsprachlichen Lehr­ und Lernsituationen kontinuierliche Begleitforschung systematisch im Grundschulbereich. Er verbindet fachdidak­ erprobt. Der Studiengang ist mittlerweile an tisches Lernen mit einem Ausbau der Zielspra­ den genannten Hochschulen akkreditiert. Er chenkompetenz. Zentraler Lerngegenstand hat ein anwendungsorientiertes Profil, kann sind zusammen mit den Theoriemodulen Fall­ berufsbegleitend studiert werden und wird im beispiele aus der Unterrichtspraxis der Teilneh­ Blended-Learning­Format angeboten: Regel­ merInnen sowie multimediale Dokumente aus

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101-112_Roesler-etal.indd 106 08.06.10 10:13 der eigens für das Projekt entwickelten Daten­ teresse war ferner die Leistungsfähigkeit indivi­ bank. Der Studiengang ist international. Die dueller und kooperativer Aufgaben für die Re­ Studierenden kommen nicht nur aus allen Tei­ flexion beobachteten und eigenen Unterrichts len Europas (z. B. Österreich, Italien, Kroatien, unter Berücksichtigung zentraler theoretischer Belgien, Frankreich), sondern mittlerweile auch Konzepte. Untersucht wurde ferner die Rolle aus Nordamerika (USA und Kanada) und dem der TutorInnen. Irak. Seit der Akkreditierung des Masterstudien­ Parallel zu dem Masterstudiengang wurde an gangs und dem Beginn der systematischen Pi­ der Justus­Liebig­Universität Gießen ein zertifi­ lotierung der Weiterbildung richtet sich das ziertes Weiterbildungsangebot entwickelt, das Forschungsinteresse zusätzlich auf folgende, sich seit Februar 2009 in der Phase systema­ für neue Formen der Lehrerbildung zentrale tischer Erprobung befindet. Über zwei Jahre Fragestellungen: In explorativ­qualitativen Stu­ werden 36 hessische Grundschullehrkräfte oh­ dien (Doktorarbeiten) werden untersucht: (1) ne grundständige Ausbildung im Fach Englisch die Rolle kooperativen Lernens in computerge­ zu Englischlehrkräften weiterqualifiziert. Das stützten Lernumgebungen unter besonderer Angebot ist den gleichen Qualitätskriterien wie Berücksichtigung der Aufgabenstellungen, (2) der Masterstudiengang verpflichtet und wird die Funktion der Aktionsforschungsprojekte als ebenfalls im Blended-Learning­Format reali­ Handlungs­ und Reflexionsraum für die Ausbil­ siert. Beide Qualifizierungsangebote greifen dung einer berufsfeldbezogenen Professions­ auf eine an der JLU (Institut für Anglistik) ent­ kompetenz. Schließlich ist die integrative Ent­ wickelte Datenbank zu, die Videomitschnitte wicklung der Zielsprachenkompetenz von Inte­ aus dem Englisch­ und Französischunterricht resse. Um deren Entwicklung zu erfassen, wer­ vorhält (s. Abbildung 2). Die Unterrichtsdoku­ den auf die Programme abgestimmte Sprach­ mente werden durch entsprechende Kontext­ tests entwickelt. Gefördert werden die Studien daten (Informationen zur Lerngruppe, curricu­ und der weitere Ausbau der Datenbank aus lare Rahmung, verwendete Unterrichtsmateri­ Mitteln der Landesstiftung Baden­Württem­ alien und Arbeitsblätter) ergänzt und können berg und des Hessischen Hochschulpreises „Ex­ zu jeder Unterrichtsstunde und jedem Stun­ zellenz in der Lehre“. densegment abgerufen werden. Unterrichtsstun­ den und Segmente sind fachdidaktischen und me­ thodischen Kernbegriffen zugeordnet und über diese mit den Theoriemodulen vernetzt. Während der Entwick­ lungs­ und Implemen­ tierungsphasen des Mas­ terstudiengangs konzen­ trierte sich die Begleit­ forschung vor allem auf das Nutzerverhalten der TeilnehmerInnen bei der Onlinearbeit. Ziel war es, die Grenzen und Reichwei­ te der Lernplattform abzu­ schätzen und sie angemes­ sen zu optimieren. Von In­ Abb. 2: Videomitschnitt aus dem Unterricht

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101-112_Roesler-etal.indd 107 08.06.10 10:13 Fremdsprachenbedarf an der JLU fragten. Einerseits interessierte hier, welche Sprachen in der Schule an welcher Stelle, in CHRISTINE BECKMANN und welcher Folge und wie lange belegt wurden, FRANZ­JOSEPH MEISSNER andererseits aber auch, welche Sprachen ne­ ben bzw. nach der Schule erlernt wurden. Zu­ Seit geraumer Zeit legt der Lehrstuhl für Didak­ sätzlich zu diesen biographischen Daten wurde tik der romanischen Sprachen der JLU Studien auch nach dem Unterrichtserlebnis und der zur „Quantitativen Bildungsforschung Fremd­ Nützlichkeit der Sprachen gefragt. Ein weiterer sprachen“ vor; die folgenden Bemerkungen ste­ Schwerpunkt des Fragebogens bezog sich auf hen im Rahmen dieser Forschungen. Um den die grundsätzlichen Einstellungen (Attitüden) Fremdsprachenbedarf der JLU zu identifizieren, zu Fremdsprachen. Abschließend wurden die führte das Referat Fremdsprachen eine elektro­ Befragten gebeten zu erläutern, wie sie die nische Befragung der Studierenden der JLU zu Sprachen nutzen und welche Kompetenzpro­ ihren Erfahrungen mit dem Fremdsprachenler­ file sie anstreben. nen und ihren Plänen zu Fremdsprachen durch. Fast alle Befragten (97,2 %) sind Bildungsdeut­ Die damals ca. 21.500 Studierenden der JLU sche, für 87,9 % der Befragten ist Deutsch ihre wurden per Mail gebeten, an der elektronischen Muttersprache. Hinsichtlich der Reihenfolge Befragung teilzunehmen. Insgesamt 1167 Stu­ der Schulsprachen ergibt sich bei den Be­ dierende haben den Fragebogen ausgefüllt und fragten folgendes Bild: 23,7 % der Studieren­ 1113 Fragebögen wurden in die Auswertung den belegten ausschließlich Englisch als erste einbezogen. Unter den Befragten waren 818 und Französisch als zweite Fremdsprache. 9,8 weibliche und 318 männliche Studierende (31 % belegten Englisch und dann Latein; 7,4 % machten keine Angabe). Dabei ist zu sehen, belegten Englisch, Französisch, Latein, 6,9 % dass die JLU deutlich mehr weibliche als männ­ Englisch, Latein, Französisch, 6,5 % Englisch, liche Studierende zählt. Daher ist das weibliche Französisch, Spanisch. Hier werden nur die Geschlecht in den Ergebnissen stärker repräsen­ häufigsten Sprachreihungen genannt. 2,9 % tiert. Das durchschnittliche Alter der Befragten der Befragten belegten Französisch als erste zum Zeitpunkt der Datenerhebung lag mehr­ Fremdsprache und 3,1 % Latein an erster Stel­ heitlich zwischen 20 und 27 Jahren. le. Die Studierenden verteilten sich in Prozent (an Für den Zeitpunkt der Befragung geben 260 100 fehlende Prozent entfallen auf „keine Ant­ (23,4 %) der Befragten an, Englisch zu ler­ wort“) folgendermaßen auf die Fachbereiche: nen; 146 (13,1 %) Spanisch; 124 (11,1 %) Französisch und 36 (3,2 %) Italienisch. Au­ 01 Rechtswissenschaft ………………… 5,0 ßerdem befinden sich unter den zum Befra­ 02 Wirtschaftswissenschaften ………… 3,4 gungszeitpunkt erlernten Sprachen Latein, 03 Sozial­ und Kulturwissenschaften … 9,7 skandinavische Sprachen, Russisch, Portugie­ 04 Geschichts­ und Kulturwissenschaften 3,1 sisch und Niederländisch (absteigend von ca. 05 Sprache, Literatur, Kultur …………… 11,8 3,8 % bis 1,3 %). 25,5 % der Befragten 06 Psychologie und Sportwissenschaft 5,9 geben an, die Sprache im Selbststudium zu 07 Mathematik und Informatik, erlernen. 13,0 % erlernen die Sprache in Physik, Geographie ………………… 8,5 Kursen des entsprechenden Fachbereichs, 08 Biologie und Chemie ……………… 7,1 8,1 % in Kursen des Referats Fremdsprachen 09 Agrarwissenschaften, Ökotrophologie und 7,8 % in Kursen für Hörer aller Fachbe ­ und Umweltmanagement ………… 24,8 reiche. Kurse der VHS nehmen nur 2,9 % der 10 Veterinärmedizin …………………… 4,7 Studierenden in Anspruch. 1,3 % geben ei­ 11 Medizin ……………………………… 10,0 nen Auslandsaufenthalt an, bei dem sie die Sprache erlernt haben. Die Schwerpunkte des Fragebogens lagen zu­ Bei denjenigen Befragten, die angeben, eine nächst auf der Sprachlernbiographie der Be­ Fremdsprache an der Universität belegt (neu

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101-112_Roesler-etal.indd 108 08.06.10 10:13 erlernt oder vertieft) zu haben, ergibt sich hin­ genwärtig Spanisch zu lernen, aber 31,4 % sichtlich der Zufriedenheit mit dem Sprachkurs meinen, dass das Hörverstehen im Spanischen folgendes Bild*: in der Zukunft für sie wichtig sein wird. Gleiches gilt für die anderen Sprachen: Offensichtlich Gut Mittelmäßig Schlecht wollen sich die Studierenden in die Lage verset­ Englisch (N=164) 67,7 % 27,4 % 4,9 % zen, mit den Nachbarn kommunizieren zu kön­ Französisch (N=87) 54,0 % 40,2 % 5,7 % nen, vor allem ihre Sprachen zu verstehen. Bei den Medien, die die Studierenden in den Spanisch (N=141) 51,8 % 42,6 % 5,7 % einzelnen Fremdsprachen nutzen, wird die Do­ * Prozente berechnet für alle, die den entsprechenden minanz des Englischen, in dem sie wohl über Unterricht der Sprache bewertet haben; Befragte, die die höchste Kompetenzstufe verfügen (dies angeben, die Sprache neu erlernt zu haben bzw. eine wurde allerdings nicht überprüft, ist jedoch bereits vorher erlernte Sprache fortzuführen, sind zu­ sammengefasst. Bewertet wurde mit Schulnoten von 1 aufgrund der allgemeinen Lernerstatistik und bis 6. Zur besseren Übersicht werden die Werte für 1 der schulischen Laufbahnen zu vermuten), be­ und 2, 3 und 4, sowie 5 und 6 kumuliert. sonders deutlich: 57,7 % geben an, englische Seiten im Internet zu besuchen. Bei der Inter­ Die Frage ist sehr allgemein gehalten. Sie er­ netnutzung liegen Französisch (12,2 % und laubt keine genauen Aussagen über einzelne Spanisch 8,1 %) weit dahinter. Für die Nutzung Aspekte des Sprachkurses, die diesen oder je­ von Radio, TV, DVD, Zeitung und Buch ergibt nen Eindruck bewirkten. Die stark positive Ten­ sich ein vergleichbares Bild. Die Interessensge­ denz lässt jedoch vermuten, dass auch detail­ biete Wissenschaft, Politik/Ökonomie, Landes­ liertere Befragungen keine besonders nega­ kunde und Belletristik zeigen eine ausgegli­ tiven Ergebnisse erzeugt hätten. chene Verteilung auf hohem Niveau für Eng­ Weiterhin ist zu sehen, dass sich mit den einzel­ lisch. Bei den romanischen Sprachen Franzö­ nen Sprachen unterschiedliche Kompetenzni­ sisch, Italienisch und Spanisch zeigt sich eine veaus verbinden. Es ist bekannt, dass Erhe­ leichte Verschiebung hin zu Landeskunde und bungen unter in der jeweiligen Zielsprache Belletristik. fortgeschrittenen Lernern bessere Ergebnisse zeitigen als solche, die auf einer mittleren Ebe­ Sprachpolitik in Lateinamerika ne liegen. Hinsichtlich der Kompetenzziele und der Interessen der Studierenden ergaben sich JOACHIM BORN die untenstehenden Ergebnisse**. Mit der Ausnahme des Englischen zeigen die Die Anfänge Zahlen eine deutliche Akzentuierung zuguns­ ten der mündlichen Kompetenzen. Unter 1492 – ein Genueser im Dienste der spanischen einem anderen Gesichtspunkt betrachtet zeigt Krone bricht von Cadiz aus nach Westen auf, sich, dass wesentlich mehr Befragte die einzel­ um eine Abkürzung des Weges zu den süd­ nen Kompetenzen in den Sprachen für wichtig und ostasiatischen Gewürzparadiesen zu fin­ halten, als es Lerner gibt: 13,1 % geben an, ge­ den. Es passiert ein Betriebsunfall – Kolumbus

Englisch Französisch Italienisch Latein Russisch Spanisch

Leseverstehen 65,9 41,6 11,1 28,4 09,3 16,6 Schreiben 58,1 17,6 07,7 10,3 05,9 19,7 Hörverstehen 64,1 37,1 15,7 11,5 31,4 Sprechen 63,9 34,6 14,5 09,4 29,8

** Die Frage wurde allen Befragten für jede der genannten Sprachen gestellt. Die Prozentwerte stellen den kumu­ lierten Wert von 1+2 der Bewertungsskala von 1 (sehr wichtig) bis 5 (völlig unwichtig), dar. Nennungen unter sons tige erhielten keine ausreichend große Zahl, um die Ergebnisse auswerten zu können.

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101-112_Roesler-etal.indd 109 08.06.10 10:13 stößt auf Inseln, die nicht sofort als Neue Welt Die Phase der Unabhängigkeitskriege erkannt werden, sondern als Westindien in die und der staatlichen Konsolidierung Geohistorie eingehen. Denjenigen, die bis dato dort gelebt hatten, ging es nun ans religiöse, Nachdem die süd­ und zentralamerikanischen sprachliche und kulturelle Leder, sofern sie Staaten sich ab dem ersten Viertel des 19. Jhs. nicht schon zuvor eingeschleppten Krank­ nach und nach ihre Unabhängigkeit erstritten heiten, ethnischen Säuberungen ante litteram hatten, gelangte die Frage nach den Amtsspra­ oder wirtschaftlichen Vernichtungswellen zum chen der neuen staatlichen Gebilde verstärkt Opfer fielen. Spanisch, später Portugiesisch, aufs Tapet. Kaum Fürsprecher fanden indigenis­ Englisch, Französisch, auch Dänisch und Nie­ tische Apologeten – der Streit wurde eher derländisch waren die prestigereichen Spra­ darüber geführt, welche Varietäten der alten chen, die über tausend indigene Idiome dem Kolonialsprachen am besten geeignet waren Untergang preisgaben. Ein Fehlen eurobasier­ für die Identitätsfindung der neuen Staaten – ter (i.e. lateinischer) Schriftkonventionen ließ hier die Regionalisten, die das „Neue“, das die Eroberer die überragenden Wissensstände „Amerikanische“ predigten, dort die Traditio­ in Naturwissenschaften, Landwirtschaftstech­ nalisten, die das hispanistisch­lusitanistische Er­ nologien und naturnaher Medizin nicht erken­ be weiterverfolgen wollten, vereinfacht gesagt nen – die Suche galt Rohstoffen, der mora­ der allseits bekannte Streit: Stadt vs. Land, Ge­ lische Drang verpflichtete zur Missionierung im bildete vs. Ungebildete, Isolationisten vs. Integ­ Sinne des Christentums. risten. Die spanischsprachigen Staaten haben Gleichwohl wurde der Grundstein einer Glo­ diesen Konflikt mit einem Kompromiss gelöst: balisierung in sprachlicher Hinsicht gelegt: to- Neben der Königlichen, der Madrider, Sprach­ mates, cacao, tabaco und maíz wurden den akademie wacht jeweils eine nationale Aka­ staunenden Europäern auch sprachlich von demie über die einzelnen Varietäten der pluri­ den Konquistadoren präsentiert. Da man je­ zentrischen Sprache – in Kooperation, nicht doch fern romantischer Gefühlsduselei (ein Konfrontation mit der „Mutterinstitution“. Land, eine Sprache bzw. umgekehrt) pragma­ Hingegen sucht Brasilien weiter – hier ist die tischen Lösungen zugetan war, brachte man Frage von Konvergenz (also das Gemeinsame nicht nur sprachlich und kulturell Bereichern­ mit dem europäischen Portugiesischen) und des in die Alte Welt, sondern versuchte das Divergenz (die Betonung der Unterschiede) Kommunikationsbedürfnis – auch das prose­ keineswegs entschieden. Immerhin kam un­ lytische – keineswegs einseitig auf sprachliche längst endlich ein Kompromiss bezüglich einer Kolonisierung zu reduzieren; vielmehr lernten einheitlichen Schreibung zustande. Sowohl die verantwortlichen Mönche die autochtho­ beim Spanischen als auch beim Portugiesischen nen Kontaktvarietäten, kodifizierten und nor­ geht man heute von verschiedenen regionalen mierten sie und begannen in der Folge ihre re­ vorbildhaften Subzentren aus, die u. a. in Bue­ ligiöse Überzeugungsarbeit im vermeintlichen nos Aires, Mexiko­Stadt, Bogotá, São Paulo Substrat. So gründeten die Eroberer nicht nur oder Rio de Janeiro verortet werden. Universitäten, sie errichteten auch Lehrstühle für indigene Sprachen, etwa in Mexiko für die Die heutigen Amtssprachen Aztekensprache Náhuatl, in Lima für das In­ kaidiom Quechua – undenkbar in der begin­ Wenn wir unter Lateinamerika den kompletten nenden Neuzeit im sich überlegen wähnenden Subkontinent südlich der USA einschließlich der Europa. Erst die Dekrete Karls III. und des Mar­ Karibik verstehen wollen (es gibt da unterschied­ quês do Pombal im ausgehenden 18. Jh. liche Kriterien), dann ist heute in fast allen konti­ führten dazu, dass die verschriftlichten ibero­ nentalen Ländern Spanisch die Amtssprache; die romanischen Idiome zu den allein und allge­ einzige Ausnahme ist Brasilien, wo das Portugie­ mein gültigen nationalen Amtssprachen er­ sische dominiert. Dazu kommen in kleineren klärt wurden. Staaten und auf den Inseln noch ein wenig Fran­

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101-112_Roesler-etal.indd 110 08.06.10 10:13 zösisch (Haiti, Guayana), Niederländisch (Antillen) und Englisch (Belize, Guya­ na, Jamaika, Trinidad usw.). Das scheint zunächst wenig im Vergleich zu den 23 Amtssprachen im zu vereini­ genden Europa, auch wenn in einigen Staaten wie Peru, Bolivien oder Paraguay amerindische Sprachen (Ai­ mara, Guaraní, Quechua), auf den Inseln auch Kreols (Krèyol ayisyen, Papiamento) kooffiziell sind. Dennoch ist die Lage kompliziert: Zahl­ reiche Sprachkontakte be­ reichern wie komplizieren den linguistischen Alltag – Abb. 3: Mehrsprachigkeit auf der Osterinsel: Rapa Nui – Spanisch – Englisch frei nach dem so genannten (Foto: Joachim Born) Neldeschen Gesetz „Es gibt keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt“. rücksichtigt – sie gelten gewissermaßen auto­ Die Sprachkontakte bestehen häufig an den matisch als spanisch­ bzw. portugiesisch­ Rändern der Gesellschaft, dort wo indigene sprachig. Bevölkerungsgruppen („endemische“ Sprachen) in Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung Die sozio-ökonomischen Verbünde („autochthone“ Sprachen), diese wiederum in städtischen Verbünden mit Neueinwanderern Als gerecht und egalitär empfundene Sprachpo­ („allochthone“ Sprachen) geraten. Die traditio­ litik kann oft besser durch supra­ oder multinati­ nelle kontaktlinguistische Dichotomie „autoch­ onale Verbünde garantiert werden als durch – thon“ vs. „allochthon“ muss gerade auf diesem oftmals auf der sprachvereinenden Idee gegrün­ Kontinent erweitert werden, besteht doch ein dete – Einzelstaaten. Für Europa gilt, dass die EU nicht zu bestreitender Unterschied zwischen je­ nicht nur alle nationalen Amtssprachen gleich­ nen, die schon immer da waren, und denen, die setzt als europäische Arbeitssprachen, sondern ihnen das Land wegnahmen. Deswegen ver­ sich auch um einen angemessenen Schutz der deutlicht hier der (wie so viele biologistischen zahlreichen ethnischen und/oder sprachlichen Metaphern in der Linguistik) der Pflanzenwelt Minoritäten kümmert. Wie diesseits des Ozeans entlehnte Terminus „endemisch“, dass jenen, Ladiner, Bretonen oder Aromunen profitieren die in anderen Kontexten als first nations oder konnten, hoffen viele Vertreter vor allem indige­ aborigenes bezeichnet werden, eine besondere ner (aber auch allochthoner) Sprechergruppen ökolinguistische Aufmerksamkeit zu gelten hat. in Lateinamerika auf Vertiefungen der bestehen­ Ist in den meisten Verfassungen wenigstens eine den Bündnisse, wie etwa dem Mercosur, der es Art Absichtserklärung zugunsten des indigenen in einem ersten Schritt immerhin fertig gebracht Erbes festgeschrieben, so wird – vergleichbar hat, das Guaraní, die zweite nationale Amts­ den europäischen Staaten – in der offizialis­ sprache Paraguays, als „idioma del Mercosur“ tischen Sprachpolitik der Komplex der Zuwan­ anzuerkennen. Das erklärt auch den Widerstand derer (u. a. Italiener, Deutsche, Asiaten, Araber vieler Intellektueller gegen Überlegungen aus und Osteuropäer) bis heute überhaupt nicht be­ den Vereinigten Staaten, eine gemeinsame Frei­

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101-112_Roesler-etal.indd 111 08.06.10 10:13 handelszone zu bilden – zu groß ist die Angst, oder (oft korrupten) Oligarchen, sondern lan­ dass aus der ökonomischen Überlegenheit des deten plötzlich im Altiplano Boliviens oder im großen Nachbarn auch eine weitere hegemoni­ Regenwald Venezuelas und fördern dort die ell gesteuerte Nivellierung der unterschiedlichen bilingual­interkulturelle Ausbildung. kulturellen und sprachlichen Räume zugunsten des Englischen und zu Lasten des Iberoroma­ Fazit nischen (ganz zu schweigen von den indigenen Idiomen) resultiert. Gerade von Seiten der För­ Sprachpolitik ist Wissenschaft und Politik zu­ derer von Multikulturalismus und Plurilingualität gleich. So wie ein Ernährungswissenschaftler wird daher häufig der Schulterschluss mit den die Aufgabe hat, vor schädlichem Essen zu Europäern gesucht. warnen, so wie ein Arzt sich selbstverständlich bei drohenden Epidemien äußert, wie ein Wirt­ Der Eingriff der nationalen Politik schaftswissenschaftler Skepsis an Wachstums­ beschleunigungsgesetzen kundtut, so hat der Insbesondere (in Europa als „populistisch“ be­ Sprachwissenschaftler die Verpflichtung, sich zeichnete) Politiker, die selbst aus einfachen da zu artikulieren, wo er sich am besten aus­ Verhältnissen stammen, wie der erste nicht­eu­ kennt: bei der Sprache, mithin auch zu den Re­ ropäischstämmige bolivianische Präsident Evo geln für das Zusammenleben mehrerer Spra­ Morales oder der schillernde venezolanische chen. Nichts anderes will wohlverstandene Caudillo Hugo Chávez haben Integrations­ Sprachpolitik, und genau deswegen wird la­ programme gestartet, die die Jahrhunderte teinamerikanische Sprachpolitik (auch) in Gie­ lange Diskriminierung und Stigmatisierung der ßen gemacht – natürlich in Zusammenarbeit endemischen Völker bremst. Verfassungen und mit den Kollegen vor Ort und nur dann, wenn Ausführungsbestimmungen wurden zuguns­ sie das auch wünschen. ten der Nachkommen der Urbevölkerung korri­ giert mit dem Ziel, diese sprachlich, kulturell – Anmerkung: und das ist natürlich besonders wichtig: auch 1 GEOlino ist das Erlebnis­Heft für Kinder von 8 bis 14 ökonomisch! – an der Macht partizipieren zu Jahren. Das Magazin vermittelt auf spielerisch­sym­ lassen. So flossen – zumindest bis zum Aus­ pathische Art Wissen aus Forschung/Technik und bruch der Weltwirtschaftskrise Millionen von Menschen/Kulturen – mit vielen Spielen, Rätseln und Basteltipps. venezolanischen Petrodollars nicht nur in die (http://www.geo.de/geoaboshop/overview, Kassen von (meist ausländischen) Investoren category=geoabo_geolino.html; 09.1.2010).

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101-112_Roesler-etal.indd 112 08.06.10 10:13 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Gabriele Lieber, Antje Danner, Annabelle Felber

imago2010 Bildkompetenz und Literalität im Grund- und Vorschulalter – ein EU-Projekt aus dem Bereich des Lebenslangen Lernens (LLP)

Zum Profil des Projektes

Im Medienzeitalter sind schon Kinder im Vor- und Grundschulalter mit den Vernetzungen vi- sueller und verbaler Informationsverarbeitung (reading literacy und visual literacy) konfron- tiert. Dabei ist eine wachsende Diskrepanz zwi- schen massenmedialer Beeinflussung durch Bil- der einerseits und andererseits der Fähigkeit von Kindern, sich in Bildern zu verständigen, festzustellen. Zu sehr wird auch die Ausbildung von Literalität bislang nur als Vermittlung von Vor- und Grundschulalter neu durchdacht und Schriftspracherwerb in der Schule behandelt. mit anderen Zielsetzungen verbunden. Die notwendige Verbindung zu einer „ästhe- tischen Alphabetisierung“ bleibt meist unbe- Ziele und Absichten rücksichtigt. Deshalb sind neue Materialien und Curricula zu entwerfen und zu erproben, Das Projekt verfolgt mehrere zusammenhän- in denen der Umgang mit Symbolen, Bildern gende Ziele: Eine Bildsammlung dient der Er- und Texten gemeinsam und in einer wechsel- forschung vorhandener Bildkompetenzen im seitigen Verschränkung geübt werden kann. Kindesalter. Daran anknüpfend bildet sie ein Dadurch werden auch Benachteiligungen und Repertoire für die Konzipierung von Lehr-Lern- Defizite im Lesen, Denken und Sprechen bear- arrangements in Vorschulgruppen wie für die beitbar, wie sie in internationalen Untersu- Gestaltung des Grundschulunterrichts. Es wer- chungen (z. B. PISA) oft festgestellt werden. den Methoden zur (De-)Kodierung von Bildern Auch muss in Ausbildungsgängen zum Erzie- entworfen, wie sie in Beispielen des best-prac- her- und Lehrerberuf eine neue Sensibilität und tice Verwendung finden und für die Entwick- ein neues didaktisches Wissen über das „Le- lung von Curricula nutzbar gemacht werden senlernen“ von Texten und Bildern entstehen. können. Solche Curricula dienen dem Aufbau Kindgemäßheit ist in Zeiten der Globalisierung einer kritischen Bildkompetenz und eines kom- auch über die Konzipierung von Lehrmateri- petenten Bildumgangs, auch als Grundlage für alien neu zu interpretieren. Hierbei werden Kin- die Entfaltung weiterer Kompetenzen im Be- der nicht einseitig als Rezipienten, sondern als reich der Auswahl und Recherche von Informa- Sinn erzeugende und kommunizierende Ak- tionen. Kinder des Vor- und Grundschulalters teure angesprochen und beansprucht. Der in- sollen unterschiedliche (verbale und ästhe- ternationale Vergleich erlaubt Einblicke in kul- tische) Zugangsweisen zu Bildern beherrschen turelle Differenzen in der bildsprachlichen Kom- lernen und multiple Übersetzungskompe- munikation. Das Projekt gründet sowohl auf tenzen zwischen inneren und äußeren Bildern wissenschaftlichen Studien zur Bildliteralität entwickeln. Auch die Verwendung unterschied- (Universität Gießen) als auch auf dem Comeni- licher Medien (digital und analog) dient der us 2.1-Projekt „PeriSCop“ (2002–2005, Amt Förderung des individuellen Ausdrucksvermö- für Lehrerbildung/Frankfurt), wird aber für das gens sowie der Entfaltung von Interesse an

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113-121_Lieber.indd 113 08.06.10 10:18 bildhaften Ausdrucksformen. Erwartet wird da- herInnen-Ausbildung, die in einer Eingangser- bei eine nachhaltige Ausbildung von Literalität, hebung ermittelt werden. Erkenntnisse über die über rein textbezogene Formen weit hinaus- kindliche Bildpräferenzen zu einer kindge- reicht. (Inter-)Kulturelle Kompetenzen erwach- rechten Auswahl von Bildern als Lehr-Lern-Me- sen im Umgang mit einem ausbaufähigen dien, die als Kriterienkataloge und erläuternde Grund kanon nationaler und europäischer Bild- Kommentare präsentiert werden, unterstützen werke. die Entwicklung einer kritischen Sensibilität von Bilder lesen lernen dient als Brücke zwischen PädagogInnen, die über die Auswahl und das Erst- und Zweitspracherwerb, wobei Bilder als Angebot von Bildmedien entscheiden. Printpu- Inhalts- wie als Verständnisstütze wahr- und blikationen für die Hand praktizierender Päda- ernstgenommen werden. Insofern wird die Par- gogInnen werden begleitet und ergänzt durch tizipation in einer literalen und demokratischen solche für die Hand der Kinder. Auch entstehen Kultur gestärkt. Die Beschäftigung mit textu- Printpublikationen, die sich an eine wissen- ellen und bildhaften Formen der Darstellung schaftliche Fachöffentlichkeit sowie an Ausbil- von Wirklichkeit sensibilisiert für Perspektivität derInnen wenden. und Perspektivenvielfalt. Sie fördert Toleranz und Identifikation im Umgang mit Bildern. Bil- Einblicke in die Projektwerkstatt der können so auch ihre Bedeutung als „Näh- maschinen“ zwischen innerer und äußerer imago2010 geht arbeitsteilig vor. In Gießen Wirklichkeit entfalten und die Förderung einer laufen die Fäden des inhaltlichen Manage- allgemeinen Lernfähigkeit unterstützen. ments zusammen und ist somit federführend. In Gießen entstanden die Projektidee und die Intendierte Projektergebnisse wissenschaftliche Grundlegung des Projekts.

Das Projekt wird Lehr-Lern-Medien zur Vermitt- Bildliteralität lung von Bildkompetenzen als Unterstützung des allgemeinen Spracherwerbs und zur Förde- imago2010 basiert als Teil des universitären rung des nonverbalen ästhetischen Ausdrucks Forschungsprojektes „Bildliteralität und Ästhe- entwickeln. Idealtypisch ausgearbeitete Lernar- tische Alphabetisierung“ auf der These, dass es rangements werden im Sinne von best-practi- möglich ist, die Wahrnehmung zu sensibilisie- ce- Beispielen die Vermittlung elementarer Bild- ren und zu trainieren sowie bestimmte Ele- kompetenzen ermöglichen und die Förderung mente der Bildsprache, z. B. Bildgrammatik verbaler und nonverbaler Sprachkompetenzen und Bildsyntax, zu lehren und zu lernen. Diese unterstützen. Die Ausarbeitung von Ausbil- These wird auch durch die Forschungsergeb- dungs- und Fortbildungsmodulen dienen der nisse der Neurowissenschaften mehr und mehr Professionalisierung von PädagogInnen des erhärtet: Sehen ist eine Analyse, die gelernt Elementar- und Primarbereichs vor allem in den werden muss. Weiterhin gibt es die Möglich- Feldern der Bildkompetenz. Auch dienen die keit, gezielte Lernmedien zu erstellen, um be- Module der Förderung des basalen Spracher- stimmte Bereiche des Sehens zu trainieren. In- werbs von Kindern mit Migrationshintergrund. teressant ist es deshalb für die Erziehungswis- Eine Ausarbeitung von Lehrplanmodulen er- senschaften und die Allgemeine Didaktik, gänzt die Möglichkeiten einer systematischen empirisch danach zu forschen, inwieweit es Förderung von basalen Sprachkompetenzen möglicherweise Wechselwirkungen zwischen durch die Berücksichtigung und Einbeziehung einer gezielten Förderung der Bildliteralität so- von (Bild-)Literalität. Die Entwicklung von Lern- wie der Ästhetischen Alphabetisierung und materialien, Curricula und Lehrplanmodulen dem Erwerb von Literalität gibt. gründet auf Erkenntnissen über den Stellen- Bildliteralität verstehen wir zudem als einen wert und die Funktion von Bildern in der schu- speziellen Bereich kultureller Literalität. Kultu- lischen Bildung sowie in der Lehrer- und Erzie- relle Werkzeuge (cultural tools) bestehen nicht

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113-121_Lieber.indd 114 08.06.10 10:18 nur in der Beherrschung der jeweiligen Ver- tuell nicht überprüfbar sind. Für uns steht die- kehrssprache, sondern vor allem in einer spezi- ser Begriff insbesondere für vier Bereiche: ellen Wahrnehmungssensibilisierung verbun- den mit komplexen nonverbalen Kommunikati- a. Bild-/Sinnverständnis, onsformen. Dazu gehört in besonderem Maße b. Freude am Umgang mit Bildern, die Bildsprache, die an dem kulturellen Wende- c. Vertrautheit mit Bildern und der bildlichen punkt (pictorial turn), an dem wir uns derzeit Ausdrucksfähigkeit sowie mit Bildsprache und unter anderem durch die neuen Möglichkeiten künstlerischer Sprache sowie der Computertechnologie befinden, immer d. Bildkompetenzen im Bereich der Bildkritik, mehr an Bedeutung gewinnt. So wird beispiels- Bildrezeption, Bildproduktion, visuellen Kom- weise über das Internet nicht mehr länger rein munikation, Bildkultur und Bildsprache. verbal kommuniziert, sondern es entstehen vielfältige Bild-Text-Verbindungen, in denen Bil- Erstellung einer (zunächst der als eigenständige Informationsträger ein- projektinternen) Bilddatenbank gesetzt werden. In einer Kultur und Gesell- (in Kooperation mit Salzburg) schaft, die über Jahrhunderte fast ausschließ- lich durch eine schriftsprachliche Literalität Beim Aufbau der Bilddatenbank für imago2010 geprägt war und die zur Bezeichnung einer ist zu bedenken, wofür die Bilder verwendet „highly literate culture“ geführt hat, wird des- werden sollen und welche Bedeutung sie für halb ein einschneidendes Umdenken notwen- die Entwicklung von Bildliteralität bei Lehrer- dig. Bilder können nicht mehr länger als nettes, Innen und ErzieherInnen sowie ihren Schüler- dekoratives Beiwerk und die Beschäftigung mit Innen haben. Diese Ideen bestimmen die Aus- Bildern nicht mehr länger als exklusive Freizeit- wahl und die Ordnung der Daten. In der Bild- beschäftigung betrachtet werden. Bilder avan- datenbank sollen Bilder erfasst werden, die in cieren kontinuierlich verstärkt zu gleichberech- der Erziehung und beim Lernen eine Rolle spie- tigten Informationsträgern. len. Hier lassen sich verschiedene Einsatzbe- Für das Decodieren von Bildern ist eine Vielzahl reiche unterscheiden: komplexer Kompetenzen notwendig, die nicht nur theoretisch erworben, sondern praktisch Bilder motivieren: Bilder sind schnelle Schüs- erarbeitet und eingeübt werden müssen. Die se ins Gehirn. Das bedeutet, wenn wir ein Bild Rahmenbedingungen dafür sind vergleichbar sehen, haben wir in der Regel seinen Inhalt mit denen, die für den Erwerb von Literalität oder besser das, was dargestellt wird, gesehen förderlich sind. Mit dem Begriff der „Bildlitera- oder verstanden. Dies wird zum Beispiel bei lität“ wagen wir uns über den Begriff der „Bild- Zeitschriften und Zeitungen verwendet: Mit kompetenz“, wie er unter anderem in der neu- Hilfe von Bildern sollen die Leserinnen und Le- eren Kunstpädagogik gebraucht wird, hinaus. ser Interesse am Text bekommen. Bilder, die Unter Bildkompetenz wird ein Dreischritt ver- sich dafür eignen, können einerseits Stereo- standen, der die Ebenen des Verstehens, der typen sein, andererseits Bilder, die emotional Kreation und der Kommunikation umfasst. oder inhaltlich ansprechen. In der Regel han- Dieser kann als Teilmenge der Visuellen Kom- delt es sich dabei um leicht lesbare Bilder. petenz mit den Komponenten Bildproduktion, Bilder orientieren: Aus den gleichen Gründen Bilddistribution und Bildrezeption verstanden können Bilder auch dazu verwendet werden, werden, wobei die Bildsprache ein wichtiges den Leser oder die Leserin in einem Text zu ori- Element dieser Kompetenzen ist. Der Kompe- entieren. Bilder können bei der Navigation tenzbegriff ist aus der aktuellen bildungspoli- durch Texte und Bücher hilfreich sein. Derartige tischen Diskussion heraus zu erklären und Bilder sind in aller Regel einfach und damit kommt der Forderung nach, Gelerntes be- leicht lesbar. schreibbar und nachweisbar zu machen. Bildli- Bilder informieren: Eine wichtige Aufgabe teralität beherbergt jedoch Elemente, die punk- von Bildern beim Lernen ist sicherlich die Mög-

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113-121_Lieber.indd 115 08.06.10 10:18 lichkeit, Informationen bereitzustellen. Dabei 2008 Erzieherinnen und Lehrerinnen zum Ein- ist zu bedenken, dass Informationen immer satz von Medien während der Ausbildung und durch den Rezipienten in einem Interpretati- zum Umgang mit Medien im Berufsalltag be- onsvorgang gewonnen werden. Es lassen sich fragt. Die Datenanalyse und Interpretation wur- zwei unterschiedliche Strategien unterschei- de von Corinna Kremling durchgeführt. Diese den. Bilder dienen in der Kommunikation dazu, Erhebung sollte Auskunft darüber geben, dem Empfänger etwas zu zeigen oder mitzutei- welcher Umgang mit Medien in und nach der len. Ziel ist es hierbei, zu verstehen, was derje- Ausbildung in den am Projekt beteiligten Län- nige, der das Bild verwendet, damit sagen oder dern Bulgarien, Deutschland, Griechenland erreichen will. Bilder können aber auch Aus- und Österreich gegeben ist. Befragt wurden Er- gangspunkt für forschendes Erkunden sein. zieherinnen und Lehrerinnen. Im Kindergarten- Bilder irritieren: Bilder können leicht oder bereich konnten insgesamt 218 ausgefüllte schwer lesbar sein. Schwer lesbare Bilder, also und zurückgesandte Fragebögen ausgewertet Bilder, die sich nicht oder nur schwer eindeutig werden. Für die Institution Schule waren dies interpretieren lassen, können übliche und ein- 426 Fragebögen. gefahrene Vorstellungen infrage stellen. Sie Die Eingangserhebung zum Einsatz von Bildern können dazu anregen, über die Welt und die in Ausbildung und Berufsalltag von Erziehe- Wahrnehmung der Welt neu und anders zu rinnen und Lehrerinnen konnte deutliche Defi- denken. zite zwischen der Vermittlung von Bildern und Bilder erzählen: Bilder können Szenen dar- der aktuellen Diskussion um Bildliteralität vor stellen, bei denen wir uns fragen: Was war vor- allem im Bereich der Ausbildungen aufzeigen. her, und was wird weiter geschehen? Bilder Einleuchtend ist vor dem Hintergrund unserer können vieles gleichzeitig darstellen und vor medialen Gesellschaft, dass die Bedeutung von allem für Kinder einen Anlass bieten, zu erzäh- Bildern nicht nur für Erwachsene enorm zuge- len oder zu sprechen. Bilder, deren Interpretati- nommen hat und gerade die Kinder in ihrer on nicht eindeutig durch einen Bildtext vorge- Kindergarten- und Schullaufbahn mit Bildkom- geben ist, können bei jedem einzelnen Betrach- petenzen ausgestattet werden sollten, um sich ter und bei jeder einzelnen Betrachterin in unserer Kultur weiterhin zurechtfinden zu unterschiedliche Assoziationen auslösen. können. Natürlich zeigt diese kleine Untersu- chung lediglich eine Tendenz im Umgang mit In der Bilddatenbank sollen Bilder gesammelt Bildern auf. Trotzdem kann sie dazu beitragen, werden, die dem Konsortium als besonders ge- die Schwerpunkte des Projektes imago 2010 eignet erscheinen. Es kann sich sowohl um Bei- auf genau diese hier aufgezeigten Leerstellen spiele für gut verständliche/lesbare Bilder, so- hin zu konkretisieren. wie auch um komplexe/nicht eindeutig lesbare Bilder handeln. Die einzelnen Bilder werden mit Erforschung vorhandener begründenden Kommentaren versehen wer- Bildkompetenzen den. Dabei sollten neben besonders prä- gnanten Beispielen für die jeweiligen Katego- Der wissenschaftliche Forschungsstand zu rien auch ungeeignete Beispiele als Kontrast kind lichen Bildpräferenzen ist bisher noch sehr aufgenommen werden. Positive wie negative schmal. Kleinere Studien sind besonders im Be- Beispiele dienen dazu, die jeweiligen Begriffe reich der Kunstpädagogik, ausgehend von ei- verständlich zu machen. ner Gießener Studie von Hermann Hinkel (1972), zu beobachten. Seit Ende der 90ger Eingangserhebung „Mit Bildern lernen“ Jahre ist im Zuge einer Zuwendung zur empi- rischen Forschung und der damit verbundenen Um erste Einblicke in den Umgang mit Medien Klärung fachimmanenter Fragestellungen ten- in den Institutionen Kindertagesstätte und denziell eine Infragestellung des kunsthisto- Schule erheben zu können, wurden im Jahr rischen Kanons auf Grundlage der Erforschung

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113-121_Lieber.indd 116 08.06.10 10:18 von Bildpräferenzen von Kindern und Jugend- Inhaltlich Heikles, darstellerisch Komplexes, lichen sowie deren Bildkompetenzen zu beo- nicht Buntes oder Heiteres etc. wird ausge- bachten. schlossen. Viele Schulbücher manifestieren das In der entwicklungspsychologischen Forschung Bestreben ihrer Autoren nach Eindeutigkeit, sie finden sich vor allem im anglo-amerikanischen wollen das Bild der Welt zeigen. Perspektiven- Raum verstärkt empirische Forschungen zu De- vielfalt suchen wir in didaktischen Materialien tailfragen der Bedeutung von Bildern für die oft vergeblich. Schnittstellen zu aktuellen, me- kindliche Entwicklung. Allerdings bleibt die äs- diendominierten kindlichen Bildwelten kom- thetische Perspektive in diesen Laborversuchen men nur vereinzelt vor. Erwachsene (Eltern, Er- meist unberücksichtigt. Für die Forschung im ziehende und Lehrende) legen fest, was gut für Elementar- und Grundschulbereich liegen bis- Kinder ist und was nicht. Durch diese Einfluss- her keine nennenswerten Erkenntnisse vor. nahme bestimmen wir unbewusst die spätere Methodische Zugangsweisen aus den neueren Teilhabe der Kinder an der (visuellen) Kultur. kunstpädagogischen Forschungen können je- Wir bieten Einstiegsmöglichkeiten an oder ver- doch ausgewertet und auf einen breiteren Bil- schließen mögliche Zugänge. derkanon übertragen bzw. modifiziert werden. Traditionell kam Bildern überwiegend die Funk- Im Anschluss an die Lernstandserhebungen tion der Visualisierung, Dokumentation und und den Forschungen zu kindlichen Bildpräfe- Dekoration zu. Viele andere Bildungspotentiale renzen im Fach Kunst sollen kindliche Fertig- von Bildern wurden aus diesem Grund aus den keiten und Fähigkeiten im Umgang mit Bildern Augen verloren oder vergessen. Diese Ver- aus schulpädagogischer Perspektive näher er- säumnisse dokumentieren sich in der Lehrerbil- forscht und auf eine breitere Basis gestellt wer- dung und in konkreten didaktischen Materi- den. alien. Im Projekt werden dazu mehrere empirische In der ästhetischen Bildung und der konstrukti- Studien durchgeführt, die das kindliche Interes- vistischen Didaktik bemüht man sich darum, se bzw. Desinteresse für bestimmte Bildmodi die Welt neu sehen zu lernen. Aufklärungs- näher erforschen. Dazu wurde unter anderem und Verarbeitungsprozesse werden angesto- eine Kooperation mit dem Bilderbuchmuseum ßen, die unter anderem den Aspekt der ästhe- Troisdorf eingegangen. Bisher zeigte sich in tischen Darstellung der Wirklichkeit produktiv mehreren qualitativen Fallstudien, dass Kinder aufnehmen können. „Denken in Bildern“ Bilder aufgrund folgender vier Kriterien präfe- meint in diesem Sinne, zu versuchen, die Welt rieren: nicht nur darzustellen „wie sie ist“ oder zu sein scheint, sondern auch, wie sie aus unterschied- a. Subjektive Bedeutsamkeit (des Motivs), lichen Perspektiven und Positionen gedacht b. formale Kriterien (Farbe, Technik, Stil etc.), und interpretiert werden könnte. Phantasie c. Humor und und Imagination werden zu konstitutiven Ele- d. Differenzerfahrung. menten einer Auseinandersetzung mit den Themen des Unterrichts. Für die Präferenzforschung wurde ein eigenes Mehrere Studien zeigen, dass die Vielfalt, Art Forschungsdesign entwickelt, das kontinuier- und Auswahl der (bild-)literalen Impulse, die lich optimiert wird. ein Kind erhält, vom sozialen und ästhetischen Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen Schulbuchforschung abhängen, deren kultureller Lebensstil und Bildpräferenzen die kindlichen Gewohnheiten In Schulbüchern ist die ästhetische Dimension und Vorlieben bestimmen. Das Elternhaus ist in von Bildern jedoch bislang kaum berücksichtigt der für die menschliche Entwicklung entschei- worden. Sie erreicht im Grundschulbereich ein denden Kindheit für den späteren Zugang der niedriges Niveau. Ein überkommener Begriff Kinder zur literalen und visuellen Kultur verant- des „Kindgemäßen“ kann beobachtet werden. wortlich.

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113-121_Lieber.indd 117 08.06.10 10:18 chern auf die Spur zu kommen. Gerade der drit- te Schritt ist jedoch durch seine ästhetische Fokussie- rung als subjektiv wertend zu bezeichnen. Dies macht momentan eine Analyse in größerem Rahmen noch schwierig. Festzuhalten bleibt jedoch an dieser Stelle, dass in einem vierten Schritt ästhetische Zu- gangsweisen zur Gestal- tung von optimalen didak- tischen Materialien gefun- den, praktisch umgesetzt Abb. 1: Teilprojekt „Meine Stadt“ – Viertklässler fotografieren ihre Sicht der Stadt und erprobt werden mit der Fragestellung: Welche Perspektiven entstehen durch die Verknüpfung müss(t)en. zwei verschiedener Bilder in unterschiedlichen Kontexten?: Theater (Original, oben), Theater mit Wolle (Montage, unten). (Quelle: Original in Schwarzweiß: Upgrades von Schulbuch- Prof. Ludwig Duncker; Bildmontage mit integrierten Kinderfotos: Antje Danner gestaltungen sind längst und Annabelle Felber) notwendig. Unsere Lehr- amtsstudierenden, die durch traditionelle Schul- buchgenerationen geprägt sind, dokumentieren in ih- ren konkreten Gestal- tungsversuchen von Schul- buchseiten in speziellen Seminaren eine Verände- rung von Vorstellungen und Einstellungen.

Bilderbücher als didak- tische Materialien

Der Erwerb von Literalität verläuft höchst komplex, zudem individuell unter- Im imago2010-Projekt werden daher Schulbü- schiedlich und hängt von verschiedensten Vo- cher unter die Lupe genommen und hinsicht- raussetzungen ab. Dies macht systematisches lich ihrer Potentiale zur Förderung von Bildlite- Lernen, besonders aus didaktisch-methodischer ralität untersucht. Insgesamt zeigte sich, dass Perspektive, sehr anspruchsvoll. Der Lernerfolg eine mehrstufige Analyse (1. Leserlichkeit und ist schwer planbar, da viele Störfaktoren, die Lesbarkeit von Bildern, Texten und Layout, 2. nicht direkt mit dem Lernprozess selbst zu tun Qualität von Bild-Text-Verbindungen und 3. haben, ausschlaggebend sind. Literalität wird als bildliterale Kategorien) eine erfolgverspre- Oberbegriff für verschiedene Erfahrungen, ins- chende Strategie zu sein scheint, um dem Stel- besondere auf den Feldern der Bilderbuch-, lenwert, der Funktion und den möglichen di- Buch-, Erzähl-, Reim- und Schriftkultur, verstan- daktischen Potentialen von Bildern in Schulbü- den. Dazu gehören das Text- und Sinnverständ-

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113-121_Lieber.indd 118 08.06.10 10:18 nis, die sprachliche Ab- straktionsfähigkeit und die Lesefreude, die Vertrautheit mit Büchern, die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrü- cken, die Vertrautheit mit Schriftsprache oder mit „li- terarischer“ Sprache und sogar Medienkompetenz. Viele dieser Kompetenzen entwickeln sich bereits in den ersten Lebensjahren. Es gibt Kinder, die schon in den ersten Lebensmona- ten literalitätsbezogene Er- fahrungen machen kön- nen und andere, die nur Abb. 2: Teilprojekt „Meine Stadt“ – Viertklässler fotografieren ihre Sicht der Stadt sporadisch oder selten der- mit der Fragestellung: Welche Perspektiven entstehen durch die Verknüpfung zwei verschiedener Bilder in unterschiedlichen Kontexten?: Unterführung (Origi- artige Erlebnisse haben. nal, oben), Unterführung mit Foto (Montage, unten). (Quelle: Original in Schwarz- Solche, offenbar einfache weiß: Prof. Ludwig Duncker; Bildmontage mit integrierten Kinderfotos: Antje Erfahrungen wirken sich Danner und Annabelle Felber) auf die Sprachkompetenz, das Wissen, die Einstel- lungen und langfristig auf die Entwicklung im Bereich Schriftspracherwerb, also das Lesen und Schreiben, aus. Wir wissen aus wis- senschaftlichen Untersu- chungen, dass Literalität eine der wichtigsten Vo- raussetzungen für nach- haltige Lernmotivation und Lernerfolg darstellt und auch auf andere Lern- bereiche, wie zum Beispiel den mathematischen, po- sitiv ausstrahlt. Die eingangs beschriebenen Entwicklungen lesen. Kinder erleben eine sprach intensive scheinen kontraproduktiv zur Entwicklung Situation, in der sie die nicht-unter brochene von Literalität zu sein, für die bestimmte Zuwendung und Nähe eines Erwachsenen Rahmenbedingungen wie Zuwendung und erfahren und genießen können. Die Kom - Nähe, Verweilen und Wiederholen, eine be - munikationssituation ist abgeschirmt, kör- sondere Form des Dialoges und die Schrift perliche Nähe ist im Idealfall gegeben. Bin- im Buch von Bedeutung sind. Gewöhnlich dungen und vor allem Vertrauen können nahm das Bilderbuch als traditionelles Kin- aufgebaut werden. Bilder und Schrift wer- dermedium den wichtigsten Platz für die den in einem ständigen Wechsel von Erzäh - Entwicklung von Literalität ein. Entschei- len und Zuhören gedeutet und versprach - dend ist hierfür das gemeinsame Bilderbuch- licht.

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113-121_Lieber.indd 119 08.06.10 10:18 Die Situation der Bilderbuchbetrachtung er- geht soweit, dass diese Kinder nicht nur ver- laubt es, das Tempo sprachlicher Anregung stehend rezipieren, sondern auch produzieren und Kommunikation passgenau auf das Kind können. abzustimmen und einen hohen Grad an Indivi- Bilderbücher haben eine Fülle von Bildungs- dualisierung zu erreichen. Auch die individu- potentialien, die auch für didaktische Zwecke ellen Interessen und Fähigkeiten des Kindes nutzbar gemacht werden können: Sie leisten können so gezielt in die kommunikative Situa- wertvolle Beiträge zur Entwicklung von Litera- tion miteinbezogen werden. Die Verweildauer lität und Bildliteralität, multiperspektivischen bei einzelnen Bildern oder Textpassagen ist fle- und multimodalen Bildungsaspekten, emotio- xibel handhabbar. Allerdings geht es hier um naler und sozialer sowie ästhetischer Bildung. eine natürliche Integration von Verweilen, Er- So gesehen ist ein kompetenter Umgang mit klären, Rückfragen und Wiederholen, nicht um Bilderbüchern ein wesentliches Tool für an- eine belehrend-korrigierende Form. Im Medi- gehende LehrerInnen und Erzieherinnen. Wir enzeitalter ist insbesondere das Erfahren einer bieten daher seit mehreren Semestern Lehr- gewissen Form der Langsamkeit und der Kon- veranstaltungen an, die dies anbahnen sol- templation wichtig, die durch die schnellen len. Bildfolgen der digitalen Bilder, etwa im Fernse- hen oder in PC-Spielen, heute mehr und mehr Bilder zur Förderung von Sprache als schwinden. Ressource aller Lernprozesse Beim gemeinsamen Bilderbuchlesen können Kinder einiges über Schrift und Buchkultur er- Sprachkompetenz gilt als Voraussetzung für die fahren, die Arbeit eines Autors und eines Gra- Aneignung von Bildung und Wissensinhalten. fikers, den Aufbau und die traditionellen Kon- Sie wird als Schlüsselkompetenz zur Teilhabe am ventionen eines Buches, die Verbindung von gesellschaftlichen und kulturellen Leben gese- Bild und Text sowie über die Bestandteile der hen. Zu verweisen ist auch auf die Bedeutung Schriftsprache aus Buchstaben, Wörtern und des Schriftspracherwerbs, wobei Schreiben und ganzen Sätzen. Lesen als Ausdruck der Individualisierung und Die Entdeckung dieser Systeme braucht den Persönlichkeitsbildung anzusehen ist. Trotz des Dialog mit Erwachsenen. Die Erlebnisse sollen Wissens um die Wichtigkeit von Sprache und Freude bereiten und zum Entdecken anregen. Sprachkompetenzen fehlt es an hin reichender Das Kind lernt so auch in ihrer Art unterschied- Unterstützung des Spracherwerbs. Spracher- liche Geschichten, die traurig, lustig, span- werbsprobleme betreffen einen Großteil von nend, gruselig oder auch nur informativ sein Kindern: 10 bis 15 Prozent jedes Altersjahrgangs können. Damit werden die Basisvorausset- weisen problematische Auffälligkeiten im Be- zungen für Sprachzuwachs und nachhaltige reich des Spracherwerbs auf. Diese Situation so- Lesefreude geschaffen. Beim Vorlesen lernen wie die Notwendigkeit, Sprache zu fördern, da Kinder ein anderes Sprachniveau kennen als sie als Ressource aller Lernprozesse gilt, leitet zu jenes, welches ihnen aus alltäglichen Kommu- folgender Fragestellung über: Welche Voraus- nikationszusammenhängen vertraut ist. Der setzungen müssen gegeben sein, um eine Ent- Wortschatz ist sehr viel reichhaltiger, und der wicklung zum erfolgreichen Spracherwerb ge- Satzbau unterscheidet sich bei Erzähl- bzw. währleisten zu können? Eine mögliche Antwort, Schriftsprache. In der Alltagssprache sind Sät- die im Weiteren differenziert betrachtet wird, ze kürzer, der Satzbau einfacher und eintö- lautet: Lesen lernen beginnt mit dem Lesen von niger, manche Sätze werden sogar unvollstän- Bildern (siehe dazu: Kinderbuchhaus Hamburg dig und durch Gestik und Mimik ergänzt. Zu- www.kinderbuchhaus.de). Bilder spielen dem- dem lernen die Kinder die Struktur von nach im Bereich des Spracherwerbs eine ent- Geschichten kennen und entwickeln daraus scheidende Rolle. Bereits vor dem Erwerb der ein Schema, bestehend aus Handlungsfiguren Schriftsprache erlernen Kinder das Entschlüsseln und einem dramaturgischen Aufbau. Dies von Symbolen oder „Codes“. Hinzuweisen ist

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113-121_Lieber.indd 120 08.06.10 10:18 auf die „tragende Rolle“ der Bilder im Zusam- engen Wechselbeziehung stehen und die Bil- menhang mit dieser Entwicklung aus entwick- der können dem Kind Erzählanlässe bieten: Das lungspsychologischer Sicht. Bilder verweisen Kind erhält die Anregung zu erzählen, was es noch auf etwas, das heißt, sie stehen nicht nur auf dem Bild erkennt. Die Erzählungen können für sich selbst, sondern repräsentieren stellver- dabei das auf dem Bild Dargestellte umfassen, tretend noch etwas anderes. Bilder sind von An- aber auch Assoziationen mit einbeziehen, die fang an in der Umwelt der Kinder vorhanden das Kind mit bereits Bekanntem herstellt. Bilder und sprechen meist eine Sprache, die schon klei- sollten dabei das Interesse des Betrachters we- ne Kinder entschlüsseln können. Als Beispiel: cken, damit eine intensive Auseinandersetzung Mit ca. 15 Monaten beginnen Kinder Gegen- mit dem Bild motiviert wird. Bilder sollten des- stände auf Bildern zu benennen und lernen ers- halb so präsentiert werden, dass sie nicht gleich te Konventionen des Bilderbuchlesens. als „normalisiert“, d. h. als bekannt oder lang- An der entscheidenden Verbindung zwischen weilig abgetan werden. Es geht um ein sich Bildliteralität und Spracherwerb setzt die Einlassen auf Komplexität und Widersprüch- Fragestellung im imago-Projekt hinsichtlich lichkeit. Sprachförderung folgenden inhaltlichen Schwerpunkt an: (Wie) Kann die Sprachent- Projektwebsite wicklung durch eine gezielte Förderung bild- sprachlicher Kompetenzen und Ermöglichung www.imago2010.eu vielfältiger Bilderfahrungen unterstützt wer- den? Im Rahmen dieser Thematik werden Fall- Kooperationspartner studien durchgeführt, die unter anderem • Amt für Lehrerbildung (AfL) in Frankfurt, durch den Einsatz von Bilderbüchern den Studienseminare in Darmstadt und Offen- Spracherwerb und damit den Ausbau des bach, Ansprechpartnerin: Barbara Donnelly Wortschatzes und die Förderung des Sinnver- (Koordination) ständnisses durch qualitativ hochwertige Bild- • Justus-Liebig-Universität Gießen, Ansprech- Text-Kombinationen anstreben. Die Fallstu- partner: Prof. Dr. Ludwig Duncker und Dr. dien beziehen dabei das Wissen um die Wich- Gabriele Lieber tigkeit von Sprachkompetenz mit ein und • Universität Thessalien, Volos (Griechenland), schaffen durch den Gebrauch von Bildern und Ansprechpartner: Prof. Dr. Hristos Govaris Bilderbüchern eine ästhetische Lernumge- • Universität Sofia, „Hl. Kl. Ochridski“ (Bulgarien), bung, die den Kindern die Möglichkeit gibt, Ansprechpartnerin: Prof. Dr. Iliana Mirtschewa ihre sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern • Universität Mozarteum Salzburg (Österreich), und Sprachkenntnisse vertiefend auszubauen. Ansprechpartner: Prof. Franz Billmayer Der Repräsentationscharakter der Bilder kann dazu führen, dass das Gespräch auf einer ab- Externe Evaluation strakteren Ebene stattfindet, als es bei dem Austausch über physikalisch präsente Gegen- • Prozessevaluation: Prof. Dr. Klaudia Schult- stände der Fall ist. Die Atmosphäre des Ge- heis (Katholische Universität Eichstätt Ingol- spräches und der Bildbetrachtung, das heißt stadt) die Interaktion zwischen Kind und Bezugsper- • Produktevaluation: Ph.D. Rune Pettersson son, spielt in diesem Zusammenhang eine nen- (Mälardalen Universität, Ekilistuna, Schwe- nenswerte Rolle. Die Gesprächsatmosphäre den) des Unterrichtsgesprächs bzw. die Atmosphäre beim Austausch über die Bilder sollte so gestal- Projektlaufzeit tet sein, dass sich die Kinder wohlfühlen und 1. 10. 2008–30. 9. 2010 sich gerne auf eine Kommunikation einlassen. Unter solchen Voraussetzungen kann der Um- Zum Projektende erscheint eine Abschluss- gang mit Bildern und der Spracherwerb in einer publikation.

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113-121_Lieber.indd 121 08.06.10 10:18 Fotos: Musterring Sofa 3-sitzig auf Metallsockel mit 2 Armlehnen und verstellbarem Rücken inklusive Nierenkissen. Maße: ca. Breite 256 cm - Höhe 85 cm - Tiefe 108/120 cm - Sitztiefe 49-74 cm. 5 JAHRE GARANTIE MIT WOHNIDEEN VON MUSTERRING LIEGEN SIE VOLL IM TREND … Musterring ist eine der bekanntesten Die 5-Jahres-Garantie wird ver- Möbelmarken und steht für Top-Qua- brieft durch den Musterring-Möbel- 1 Grundgestell aus Holzwerkstoffplatten lität, durchdachte Funktionen und viel- Gütepass. mit Massivholzzargen fältige Designideen zu einem attraktiven 2 Wellenfedern als Sitzunterfederung Preis-/Leistungsverhältnis. 3 Hochwertiger PUR-Schaum mit im Sitzbezug vernähter Diolenwatte 4 Hochwertiger PUR-Schaum als Rückenpolsteraufbau 56+ Mehrkammerkissen als Rücken- und Nierenkissen 7 Verchromte Metallfüße, gegen Aufpreis Metallsockel

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122_anzeige_sommerlad.indd 122 08.06.10 10:17 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Verena Billinger

Bericht über das Festival für junge Kunst aus Europa in Gießen DISKURS 09 – festival for young performing arts

Das Festival DISKURS 09 hat vom 06.–11. Ok- rinnen und Helfern, die durch ihr außerge- tober 2009 in Gießen stattgefunden. Diskurs wöhnliches Engagement das Festival über- ist ein interdisziplinäres Festival für junge Kunst haupt erst ermöglicht haben. 2009 feierte DIS- aus Europa mit Schwerpunkt auf den perfor- KURS sein 25. Jubiläum! mativen Künsten. Es ist offen für unterschied- DISKURS 09 bot jungen Kunst- und Kultur- liche Formen von Theater, Tanz, Performance, schaffenden eine Plattform, um ihre künstle- Installation, Musik, Literatur, Film und Video. rischen Ansätze und Arbeitsweisen zu präsen- DISKURS 09 wird getragen von der Studenten- tieren und zur Diskussion zu stellen. Einrich- schaft der Angewandten Theaterwissenschaft tungen wie Festivalzentrum, Café und die der Justus-Liebig-Universität Gießen, die durch öffentlichen Kritikgespräche zu den gezeigten ihre freie Initiative unter dem gemeinsam ge- künstlerischen Arbeiten mit den KünstlerInnen gründeten Verein „kunstrasen giessen e.V.“ förderten den konstruktiven Austausch aller möglichst jährlich das Diskurs-Festival organi- Festivalteilnehmer. Wir glauben, so einen Raum siert. Das diesjährige Diskurs-Team bestand aus gestiftet zu haben, in dem aus einer gemein- Verena Billinger, Johanna Castell, Stine Hertel samen Festivalerfahrung die Wege für Koope- und Johanna Seitz sowie zahlreichen Helfe- rationen und Vernetzungen geebnet worden

Abb. 1: Kritikgespräch (Bild: Christian Fleißner)

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123-125_Billinger.indd 123 08.06.10 10:18 sind. Zwei Wochen vor dem eigentlichem Be- waren vertreten und brachten ihre künst- ginn des Festivals richtete DISKURS 09 einen lerischen Positionen und Backgrounds in das 10-tägigen Workshop – ATELIER 09 – unter der europäisch ausgerichtete Festival mit ein. Leitung von Kris Verdonck aus. Acht junge Insgesamt fanden 24 Vorstellungen auf vier KünstlerInnen arbeiteten gemeinsam in einem Bühnen statt. Das Festival bespielte die Probe- Raum der ehemaligen Stadtbibliothek. Hier bühne des Instituts für Angewandte Theater- konnten zentrale Ideen des Festivals, wie die wissenschaft, das Theater im Löbershof des der Zusammenarbeit, des Austauschs und In- Stadttheaters Gießen (TiL), die Neuapostolische tervention schon einmal Fahrt aufnehmen, um Kirche und die Räumlichkeiten der Kümmerei sich später während der Festivaltage gänzlich Gießen. Die Installationen waren an verschie- zu entfalten. Die Präsentation der in Gießen denen Orten in der Stadt verteilt: So dienten entstandenen Arbeiten und damit das Ende ein leerstehendes Ladenlokal, ein z. T. leerste- von ATELIER 09 war zugleich die Eröffnung des hendes Universitätsgebäude und ein Seminar- Festivals. raum im Philosophikum II als Ausstellungs- Im Rahmen der Veranstaltung konnten wir räume. Während des Festivals wurde ein Café sieben Bühnenstücke, drei Installationen, eine in der alten Stadtbibliothek eingerichtet, das Stadt raumintervention und zwei bühnenunab- zugleich als Festivalzentrum fungierte. Hier war hängige Performances aus vielen europäischen der Ort der Kommunikation und des Beisam- Ländern, darunter Schweden, Niederlande, menseins: Mittags wurden im Rahmen der Schweiz, Großbritannien, Österreich, Israel und Kritikgespräche die gezeigten Arbeiten disku- Estland, präsentieren; auch KünstlerInnen aus tiert, abends wurde gemeinsam gegessen und Slowenien, Ungarn, Kroatien und Frankreich getrunken.

Abb. 2: „Heavenly Story“ (Bild: Helen Rekkor)

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123-125_Billinger.indd 124 08.06.10 10:18 An drei Tagen des Festivals fanden hier Vor- Die Vorbereitung und Durchführung des Festi- träge statt, die im Rahmen der RETROSPEKTIVE vals war eine große Herausforderung und ließ ausgerichtet wurden und einen wissenschaft- uns viele wichtige Erfahrungen machen, die lich-theoretischen Beitrag leisteten. Das 25. weit über die Möglichkeiten eines „normalen“ Jubi läum des Festivals gab hierzu den Anlass. Studiums hinausgehen. Angefangen bei der Das Diskurs-Festival thematisierte seine Ge- Geldakquise und den damit verbundenen Aus- schichte und die Entwicklung seiner ästhe- einandersetzungen mit verschiedenen Förder- tischen Diskurse. Die Verantwortlichen für die richtlinien, Förderern und Anträgen, über Raum- Retrospektive, Johanna Manzewski und Daniel beschaffung, Teamsuche, Vereinsleitung bis hin Franz, begleiteten das Programm und sorgten zur Abrechnung. Am spannendsten war gewiss für anregende Diskussionen im Anschluss an die konzeptionelle Ausarbeitung des gesamten die jeweiligen Vorträge. Eigens zum Jubiläum Festivalrahmens, das Kuratieren und die Pro- wurde in diesem Rahmen zusätzlich eine Publi- grammgestaltung. Mit dem Verlauf des Festivals kation mit dem Titel „;“ herausgegeben. Diese und unserer Arbeit daran sind wir sehr zufrie- fand großen Anklang und hat mittlerweile ei- den. Größere Pannen blieben uns erspart. Wie nen Designpreis gewonnen. bei der Bewerbungsauswahl erhofft, führten die Das Festival DISKURS 09 war sehr gut besucht. Begegnungen mit den eingeladenen Künst- Der Großteil der Veranstaltungen war restlos lerInnen und ihren Arbeiten zu anregenden Ein- ausverkauft; 150 Gäste waren im Durchschnitt drücken und Diskussionen. Inhaltlich und formal pro Tag anwesend. Im Ganzen waren über 250 wurde auf hohem Niveau gearbeitet. Alle Künst- Personen aus dem In- und Ausland in Gießen lerInnen waren mit Neugier angereist und wur- zu Gast. Viele Besucher und Besuchergruppen den vom Gießener Publikum freundlich auf- aus dem europäischen Ausland und entfernten genommen, so dass eine entspannte und in- deutschen Städten haben die Reise nach Gie- spirierende Atmosphäre entstehen konnte. ßen auf sich genommen; auch das Interesse Spannende Diskussionen zum gemeinsamen unter den Gießener Bürgerinnen und Bürgern thematischen Horizont und den gezeigten Ar- war stark. Neben diversen Ankündigungen beiten begleiteten das Festival. Unser größtes in der örtlichen und überregionalen Presse Ziel, nämlich eine Plattform für den internatio- erschienen Berichte über das Festival in Zei- nalen Austausch für junge KünstlerInnen zu tungen und Internetportalen, wie Frankfurter schaffen, haben wir erreicht. Die Kontakte, die Rund schau, Gießener Allgemeine Zeitung, Gie- während der Festivalwoche geknüpft wurden, ßener Anzeiger, Uniforum der JLU, giessen-ser- halten an und es ist zu erwarten, dass schon ver.de und anderen. Der Radiosender Hes- bald einige vielversprechende Kooperationen sischer Rundfunk 2 berichtete ebenfalls über von sich reden machen werden, deren Ursprung DISKURS 09. bei DISKURS 09 in Gießen liegt.

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123-125_Billinger.indd 125 08.06.10 10:18 Die Stadtwerke Gießen sind ein starker Partner in Sachen Versorgung. Fair, günstig und nah – Ihre SWG.

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126_anzeige_swg.indd 126 08.06.10 10:14 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Volker Bützler, Liane Wörner

Projektbericht zum deutsch-türkischen Kolloquium vom 27. 5.–2. 6. 2009 Internationales Kolloquium zum deutschen und türkischen Strafrecht und Strafprozessrecht – Die Entwicklung von Rechtssystemen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung

Das Franz-v.-Liszt-Institut für Internationales Strafgesetze aus dem Jahre 2005 mithelfe, so Recht und Rechtsvergleichung der Justus-Lie- Breitbach. big-Universität Gießen veranstaltete gemein- Frau Dekanin Britz hob bei ihrer Begrüßung her- sam mit den Instituten für internationales Straf- vor, dass es den Veranstaltern mit dem Projekt recht der Kültür-Universität Istanbul und der gelungen sei, die politische Großwetter lage, die Universität Istanbul vom 27. Mai 2009 bis zum das europäisch-türkische Verhältnis zurzeit be- 2. Juni 2009 ein internationales Kolloquium stimme, zu umgehen, um einen wissenschaft- zum deutschen und türkischen Strafrecht und lichen Diskurs in freundschaftlicher Atmosphäre Strafprozessrecht in Gießen und in Istanbul. zu führen. Britz betonte, dass ein internationales Federführend waren die Professoren Walter Kolloquium zu der Ausrichtung des Fachbe- Gropp (JLU Gießen), Bahri Öztürk (Kültür-Uni- reichs Rechtswissenschaft mit seiner starken In- versität Istanbul) und Adem Sözüer (Universität ternationalisierung passe, welcher viele EU-Aus- Istanbul). Die Tagung wurde am 27. Mai 2009 tauschprogramme für Studierende biete und in der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesge- Masterstudiengänge im internationalen Bereich richt Frankfurt am Main eröffnet. Herr General- zu seinem Studienangebot zähle. Die Zusam- staatsanwalt Hans-Josef Blumensatt gab hierzu menarbeit mit der Türkei sei für den Fachbereich einen Einblick in die Arbeit der Generalstaats- besonders interessant, da es in Gießen viele Stu- anwaltschaft. Herr Generalstaatsanwalt a. D. dierende mit türkischem Migrationshintergrund Dieter Anders, der die gesamte Veranstaltung gebe. Die Veranstaltung in ihrer Form sei eine In- in Frankfurt, Gießen und Istanbul begleitete, novation, so Britz, denn hier diskutierten Profes- gab Einblicke zum Umgang mit Beschuldigten soren, Nachwuchswissenschaftler und Studie- mit Migrationshintergrund. rende aller drei Institute sowie eingeladene Am 28. Mai 2009 begrüßten der Kanzler der hochkarätige Wissenschaftler miteinander. Universität Gießen, Herr Dr. Michael Breitbach, Inhaltlich wurden Probleme aus dem deut- und die Dekanin des Fachbereichs Rechts- schen und türkischen Strafrecht und Strafpro- wissenschaft, Frau Professorin Gabriele Britz, zessrecht besprochen. Die Grundlage der Dis- die Gäste im Senatssaal des Hauptgebäudes kussion boten die im Jahre 2005 erlassenen der Universität Gießen. Der Kanzler ging dabei neuen türkischen Strafgesetze. Diese beiden auf die Bedeutung der Universität Gießen und Gesetzeswerke orientieren sich sehr stark an insbesondere des Fachbereichs Rechtswissen- den deutschen Vorbildern. Im Mittelpunkt schaft schon im 17. und 18. Jahrhundert ein, standen etwa Fragestellungen wie die so ge- da die Fakultät bereits zu dieser Zeit Gutachten nannte Rettungsfolter, die Verwertung von für das Reichskammergericht in Wetzlar erstell- rechtswidrig erlangten Beweisen, die Bewer- te. So leistete schon damals die Universität bei tung von Irrtümern im Strafrecht und die Straf- der Implementierung des Rechts in die Gesell- barkeit im Bereich der Fahrlässigkeit. Der Türkei schaft einen großen Beitrag. Es sei nunmehr ist mit den neuen Gesetzen zum Strafrecht und schön zu sehen, dass der Fachbereich Rechts- zum Strafprozessrecht ein großer Schritt in wissenschaft an dieser Tradition festhalte und Richtung auf ein modernes Strafgesetzbuch bei der Implementierung der neuen türkischen nach den Standards der EU gelungen.

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127-129_Buetzler.indd 127 08.06.10 10:20 In ihren Grußworten anlässlich des Banketts, auch daran, dass die Professoren Öztürk und am 27. Mai im Schlosskeller in Gießen, nahmen Sözüer in ihrer Zeit am Max-Planck-Institut für Prof. Dr. Bahri Öztürk und Prof. Dr. Adem Sözü- ausländisches und internationales Strafrecht in er, beide Mitglieder der Kommission zur Erar- Freiburg in den 80er und 90er Jahren erfuhren, beitung der neuen Gesetze, diesbezüglich Stel- welch wichtige Bedeutung die Achtung der lung. Sicherheit könne es nur in Freiheit geben Menschenrechte im Strafrecht inne hat. Sie und Institutionen seien immer für den Men- arbeiteten unter dem damaligen Leiter des schen geschaffen, nicht die Menschen für die Max-Planck-Instituts, Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Institutionen, so beide Referenten. Professor Albin Eser M.C.J., der auch an der diesjährigen Öztürk hob hervor, dass man nicht vom Be- Tagung teilnahm. In seinen Grußworten gab schuldigten zum Beweis, sondern umgekehrt Professor Eser Beispiele aus der Vergangenheit vom Beweis zum Beschuldigten gelangen müs- der Türkei, die zeigen sollten, welche Fort- se. Professor Sözüer beschrieb die Reform- schritte die Türkei bis heute gemacht hat. arbeiten als einen ständigen „Kampf“. Dass Am 28. Mai besuchten die Tagungsteilnehmer gerade die Menschenrechte bei den Reformen das Hessische Landeskriminalamt in Wies- eine bedeutende Rolle gespielt haben, liegt baden. Dort gab es eine kurze Einführung der

Abb. 1: Die Initiatoren des Kolloquiums und der Institutspartnerschaft (von links nach rechts): Prof. Dr. Bahri Öztürk, Prof. Dr. Adem Sözüer und Prof. Dr. Walter Gropp

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127-129_Buetzler.indd 128 08.06.10 10:20 Polizei über den Umgang mit Bürgern mit förderten Institutspartnerschaft zwischen den Migrationshintergrund durch Kriminaldirektor beteiligten Instituten. Neben den im Bericht er- Achim Wenz, dem hessischen Landesaus- wähnten Personen nahmen u. a. Prof. em. Dr. länderbeauftragten, und der hessischen Aus- Dr. h. c. mult. Friedrich-Christian Schroeder länderbeauftragten des Polizeipräsidiums (Universität Regensburg), Prof. em. Dr. Helmut West hessen, Frau Yazgan. Anschließend stellte Goerlich (Universität Leipzig), Prof. Dr. Bernd der Leiter des Kriminalwissenschaftlichen und Hecker (Universität Gießen), Prof. Dr. Arndt -technischen Instituts, Kriminaldirektor Gott- Sinn (Universität Osnabrück), Rechtsanwalt fried Störmer, seine Einrichtung mit ein- und Lehrbeauftragter Dr. Michael Nagel (Han- schließender Führung vor. Hierbei wurden die nover) und Dr. Krisztina Karsai (Universität Sze- neuesten Aufklärungsmethoden aus der bio- ged, Ungarn) an dem Kolloquium teil. In seinen logischen (DNA-Analytik), chemischen und Abschlussworten hob Herr Professor Eser noch physikalischen Forschung präsentiert. Am 30. einmal ausdrücklich hervor, dass der Erfolg der Mai 2009 erhielten die Tagungsteilnehmer vor Veranstaltung vor allem auf dem Konzept der ihrem Abflug vom Frankfurter Flughafen zum gemeinsamen Diskussion verschiedener Gene- zweiten Teil des Kolloquiums in Istanbul eine rationen von Wissenschaftlern gleichermaßen Einführung in die Arbeit der Bundespolizei am aus Deutschland und aus der Türkei beruhe. Frankfurter Flughafen von Polizeirat Matthias Denn so erst sei die Auseinandersetzung mit Wörner. neuen Ideen einerseits und hohem Erfahrungs- In Istanbul fand die Veranstaltung an der Kül- wissen andererseits auf fruchtbaren Boden ge- tür-Universität und der Universität Istanbul fallen. Auf die Veröffentlichung der ersten Er- statt. Die Konferenz bildet den Anfang einer gebnisse und die weiteren Forschungen darf von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ge- man daher allseits gespannt sein.

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130_Anzeige_Karstadt.indd 130 08.06.10 10:13 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Christian Grammel

„the phantom piper of corrieyairack“ – ein szenisches Konzert mit Dudelsack

In dem Musiktheaterprojekt beschäftigen sich das britische Militär über den ganzen Globus die Gießener Theaterwissenschaftler Christian verbreitet, ist er innerhalb von 200 Jahren zum Grammel und Andreas Mihan mit dem schot- Synonym für eine Kultur geworden, deren Bild tischen Dudelsack und der Manifestation bzw. Ende des 18. Jahrhunderts romantisiert und Produktion von kultureller Identität. Während verfälscht wurde. In enger Verwebung prägen der musikalische Aspekt einen Bogen von den Klischees und Projektionen der Selbst- und ältesten überlieferten Stücken für die Bagpipe Fremdwahrnehmung das Muster schottischer aus dem 16. Jahrhundert bis zu experimentel- Identität und Kultur: die Heroisierung des Frei- len Ansätzen etwa von John Cage oder Steve heitskampfes der wilden, aber edlen Hoch- Reich schlägt, wird auf der diskursiven Ebene landrebellen, seine Verinnerlichung und Ableh- ein Abgleich zwischen Stereotypen, Realitäten nung. Der Kilt wird mit ähnlicher Hassliebe be- und Konstruktionen der schottischen Kultur trachtet wie in Bayern die Lederhose. Er wird und Geschichte aus Innen- und Außensicht von vielen Schotten zu Familienfesten getra- vorgenommen. Das Stück feierte seine Premie- gen, hat aber seine Symbolik im Alltag ein- re bei den Hessischen Theatertagen in Marburg gebüßt. Mit Inbrunst werden spezielle Stoff- im Juni 2009 und war anschließend beim Fes- mus ter den einzelnen Clans und Familien zuge- tival „Theatermaschine“ auf der Probebühne wiesen und von Ausländern meist vehementer des Instituts für Angewandte Theaterwissen- verfochten als von den Schotten selbst. Eine schaft in Gießen sowie in Mannheim bei „frisch Herleitung ist dabei über lediglich 200 Jahre eingetroffen“ von zeitraumexit zu sehen. Wei- belegbar: tere Vorstellungen im Jahr 2010 bringen das szenische Konzert noch nach Berlin und Ham- „It is now generally accepted that clan tartans burg. were established and named towards the end of the 18th century. Prior to that time, while „The feelings which other instruments awaken, clan, district and tartan were often closely asso- are general and undefined, because they talk ciated, the idea of a single uniform clan tartan to Frenchmen, Spaniards, Germans, and High- had not yet emerged.“ (http://houseoftartan. landers, for they are common to all. But the com/story/story.html) Bag-Pipe is sacred to Scotland, and speaks a language which they only feel. It talks to them Der Dudelsack selbst wird nicht nur von Laien of home, and of all the past; and brings before kaum als vollwertiges Musikinstrument ange- them, on the burning shores of India, the wild sehen. Von Oscar Wilde beispielsweise ist in hills, and often frequented streams of Caledo- Hinblick auf den furchtbaren Klang des Dudel- nia, the friends that are thinking of them, and sacks folgendes Zitat überliefert: „Thank God the sweethearts and wives are weeping for there is no odor …“ Hier zeigt sich der Dichter them there!“ (Donald MacDonald, A Collection darüber beruhigt, dass der schottische Dudel- of Piobaireachd, 1820). sack neben dem unerträglichen Lärm nicht auch noch vergleichbaren Gestank verbreitet. Wie kaum ein anderes Musikinstrument hat Veränderungen oder Innovationen, die Spiel- sich der schottische Dudelsack zu einem Sym- weise und Komposition betreffend, werden bol für eine Nationalkultur entwickelt. Durch argwöhnisch bis ablehnend beäugt. Nur weni-

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131-133_Grammel.indd 131 08.06.10 10:13 gangenheit bei der bri- tischen Oberschicht in Mode. James MacPherson versuchte beispielsweise ausgehend von mündlich überlieferten Fragmenten die Urfassung eines Geschichts zyklus zu re- konstruieren, der in Um- fang und Kunstfertigkeit den Homerischen Epen gleichwertig gewesen sei, aber nur noch in korrum- pierter Tradierung aufge- funden werden könne. Nur wenige Zeit später starteten die neu gegrün- deten Highland Societys (u. a. in London) ihr nur teilweise musikhistorisch begründetes Vorhaben, die ursprüngliche Musik des Dudelsacks vor dem vermeintlichen Untergang zu bewahren. Nach dem Zerfall der schottischen Clanstruktur als Ergebnis der Niederla- ge in der Schlacht von Cul- loden 1745 und dem „Dis- arming Act“ drohte der Dudelsack als sozial veran- kertes Zeremonial-Instru- ment obsolet zu werden. Da die Musik nur münd- Abb. 1: In Variations I von John Cage wird deutlich, dass sich im Live-Moment der lich überliefert wurde, Aufführung der körperliche Aspekt der Klangerzeugung nur schwer von der fürchtete man um die Komposition trennen lässt. Qualität der Lieder und begann Preise für das Ver- ge Piper (Dudelsackspieler) verstehen sich als schriftlichen des Repertoires in Noten zu ver- Musiker und haben sich mit musikalischer The- geben. Gleichzeitig wurden Wettbewerbe orie und Geschichte beschäftigt, um die Gren- etabliert, deren Bewertungsgrundlage die zen und Regeln dessen einschätzen zu können, neu geschaffenen Notierungen waren. In der was sie betreiben. Überzeugung, den archaischen Charakter der Historisch gesehen sind das Aufkommen des Musik zu fördern, veränderte beispielsweise romantischen Highlander-Stereotyps und die Angus MacKay, der selbst nicht Dudelsack Entstehung der heute praktizierten Spielweise spielte, seine Aufzeichnungen gegenüber an- eng miteinander verbunden. Im 18. Jahrhun- deren Überlieferungen, indem er Rhythmen dert geriet das Interesse an der eigenen Ver- und Melodien aufbrach. Ein Leser der „Oban

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131-133_Grammel.indd 132 08.06.10 10:13 Times“ wandte sich 1893 empört gegen sol- wusstes Ausbrechen aus den gegebenen Rah- che Spiel- und Schreibweisen: mungen stattfinden. In der performativen Nachbildung der unterschiedlichen Tradie- „Sir, – Can you, or any of the numerous readers rungen auf der Bühne werden in dem sze- of the Oban Times, inform me how it is that nischen Konzert die Differenzen zwischen di- ‚Piobaireachd‘ is the only species of the music rekter Vermittlung durch ein lehrendes Subjekt of the Gael that has neither time, tune, melody und mimetischer Vermittlung durch digitale or rhythm in it? Did the composers intend to Medien erforscht. puzzle and annoy, or is it the performers who Das Projekt „the phantom piper“ untersucht vie with each other in prolonging unconnected, den Komplex schottischer Identität auf den Ebe- meaningless sounds?“ nen der Musik und ihres kulturellen Kontexts. Auf der einen Seite wird musikalisches Material Solche Verfälschungen sind ein Grund dafür, des konventionellen Repertoires klanglichen weshalb die praktizierte Spielweise der glei- und kompositorischen Experimenten gegenü- chen Stücke und deren schriftliche Fixierung bergestellt, die aus anderen Bereichen der zeit- derart stark voneinander abweichen, dass genössischen Musik entlehnt sind. Die Varia- grundsätzlich zum Erlernen der Musik die An- tions oder 4’33’’ von John Cage gehören eben- leitung einer erfahrenen musikalischen Autori- so zum Vergleichsmaterial, wie an Steve Reich tät notwendig ist. erinnernde Minimal-Kompositionen, Orgel- Was sich bis vor wenigen Jahren nur durch di- werke von Oliver Messiaen oder Klang- rekten Kontakt mit anderen Musikern erlernen forschungen wie bei Helmut Lachenmann. Der ließ, hat sich durch die Verbreitung digitaler Dudelsack wird als potentes Instrument er- Tonträger deutlich vereinfacht. Die ursprünglich forscht, das in der Lage ist, die musikalischen persönlich übermittelten Ratschläge sind nun Arbeiten der Neo-Avantgarden umzusetzen, medial verfügbar, womit sich die Verbreitung um so die genuinen Qualitäten vor urteils frei der maßgebenden Interpretationen vergrößert zum Vorschein zu bringen. hat. Dadurch hat sich der herrschende Diskurs Das Projekt schlägt einen Bogen von schot- von einem Austausch unter Experten und per- tischer Kultur und Musik zu allgemeingültigen sönlichem Kontakt vergröbert in eine allgemein Fragen nach Identität in der heutigen Gesell- verfügbare Praxis der Mimesis auf medialer Ba- schaft. Wie finden Konstruktionen von Identität sis. Die mehrbändige Unterrichtsreihe mit der statt und worauf fußen sie? Die Frage nach Stimme von PM Donald MacLeod ist inzwischen Identität beinhaltet immer auch eine Beschäfti- für mehr Spieler die Grundlage ihres Spiels, als gung mit kollektiven Gedächtnissen und der es in direktem Unterricht möglich wäre. Die Un- Glaubwürdigkeit von Tradierung, die bei der Ar- wägbarkeiten und Veränderungen mündlicher beit mit den Notations- und Lehrmethoden Überlieferungen sind von dauerhaften und ver- ebenso von Bedeutung ist. Wer und mit welcher bindlichen Aufnahmen ersetzt worden. An die Berechtigung gibt uns das Wissen um die eige- Stelle von gradueller und mitunter zufälliger ne Vergangenheit? Wie glaubhaft sind unsere musikalischer Evolution kann nur noch ein be- Quellen und ist das überhaupt von Bedeutung?

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131-133_Grammel.indd 133 08.06.10 10:13 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Roland Herrmann, Matthias Staudigel, Isabel Dörnberger

Der 2009 EAAE PhD Workshop: Ein wichtiger Baustein der Doktorandenausbildung

1. Hintergrund in Deutschland zu organisieren und dabei ein Scientific Committee und ein örtliches Organi- Dem folgenden Bericht liegt kein Forschungs- sationskomitee einzurichten und zu leiten. projekt im eigentlichen Sinne zugrunde. Statt- Dem international besetzten Scientific Com- dessen geht es um einen internationalen Work- mittee gehörten neben ihm die Professoren shop, der vom 10. bis 11. September 2009 an Giovanni Anania, University of Calabria, Italien, der Universität Gießen durchgeführt wurde sowie Stanley Thompson, Ohio State University, und der sowohl Forschungs- als auch Ausbil- Columbus, OH/USA, an, ergänzt bei der Vorbe- dungscharakter aufwies. Der 2009 EAAE PhD reitung des Workshops durch Prof. Wim Verbe- Workshop ist von der „European Association of ke, Ghent University, Belgien, und Dr. Chantal Agricultural Economists“ (EAAE) initiiert und Le Mouël, INRA, Rennes, Frankreich, und bei gemeinsam mit der „Gesellschaft für Wirt- der Durchführung des Workshops durch Prof. schafts- und Sozialwissenschaften des Land- Renan Goetz, University of Gerona, Spanien, baues“ (GeWiSoLa e.V.), also der europäischen und Dr. Alexandre Gohin, INRA, Rennes, Frank- und deutschen Gesellschaft für Agraröko- reich. Dem lokalen Organisationskomitee ge- nomen, unterstützt worden. Er zielte, wie zwei hörten Dr. Matthias Höher und Dr. Anke Möser frühere Veranstaltungen dieser Art in den Nie- vom Zentrum für internationale Entwicklungs- derlanden und in Frankreich, darauf ab, euro- und Umweltforschung (ZEU) und Matthias päische Doktorandinnen und Doktoranden der Staudigel vom Institut für Agrarpolitik und Agrar- und Ernährungsökonomie zu fördern Marktforschung an. Das Präsidium der JLU und ihnen eine Chance zur Präsentation und stellte Räumlichkeiten und Infrastruktur im Diskussion ihrer laufenden wissenschaftlichen Hauptgebäude zur Verfügung, und Prof. Dr. Arbeiten zu geben. Dabei war beabsichtigt, ei- Joybrato Mukherjee richtete – noch als Vize- nen intensiven Austausch der Promovierenden präsident der JLU – ein Grußwort an die inter- mit erfahrenen Wissenschaftlern und Hoch- nationalen Gäste. Ebenfalls ein Grußwort schullehrern zu gewährleisten. sprach Prof. Dr. Monika Hartmann, Universität Gerade in einer Zeit, in der eine formalisierte Bonn und derzeit Präsidentin der EAAE; sie Doktorandenausbildung in den meisten Län- übernahm auch die Leitung der ersten Plenary dern der EU noch nicht die Regel ist, gleich zeitig Session und einer Contributed Paper Session. aber Publikationen in referierten wissenschaft- lichen Zeitschriften von Nachwuchswissen- 2. Idee des EAAE PhD Workshops schaftlern erwartet werden, füllen internationa- le Workshops dieser Art eine wichtige Nische. Auf dem 2009 EAAE PhD Workshop sollten Die Art, wie erfolgreich wissenschaftlich gear- Forschungsarbeiten aus der ganzen Breite der beitet wird, wird typischerweise auf Tagungen Agrar- und Ernährungsökonomie, einschließ- wissenschaftlicher Gesellschaften nicht thema- lich Umwelt und Entwicklung, vorgestellt und tisiert. Der 2009 EAAE PhD Workshop widmete erörtert werden. Es war die Zielsetzung des sich dagegen ausschließlich diesem Thema. Workshops, Doktorandinnen und Doktoran- Vom Executive Board der EAAE wurde Prof. Dr. den vorwiegend aus europäischen Ländern die Roland Herrmann, Universität Gießen, beauf- Möglichkeit zu geben, wichtige Ergebnisse so- tragt, den 2009 EAAE PhD Workshop erstmalig wie methodische Ansätze ihrer Arbeiten noch

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135-140_Herrmann.indd 135 08.06.10 10:14 vor Abschluss der Dissertation unter Wett- sischen Kollegen und nicht von der EAAE orga- bewerbsbedingungen für eine internationale nisiert worden, hatte allerdings auch schon die Konferenz einzureichen und im Erfolgsfall diese Grundidee des European PhD Workshops. einem internationalen Auditorium zu präsen- tieren. Hochschullehrer aus verschiedenen EU- 3. Inhalt und Ergebnisse Ländern und den USA nahmen als Mitglieder des EAAE PhD Workshops des Scientific Committee oder als Referenten im Plenum am Workshop teil – die Mitglieder Im „Call for Papers“ wurden potenzielle des Scientific Committees in der gesamten Zeit Teilnehmer(innen) aufgerufen, einen erwei- des Workshops. Sie wirkten auch als Chairper- terten Abstract eines geplanten Contributed sons und Discussion Opener mit und wurden in Poster Session Papers von bis zu 5 Seiten einzu- dieser Funktion von Wissenschaftlern und Wis- reichen. Es folgte eine Beurteilung dieser Kurz- senschaftlerinnen der Universität Gießen (Prof. fassungen durch Mitglieder des Scientific Com- Dr. S. Bauer, Dr. A. Möser, Prof. Dr. E.-A. Nup- mittees und Gießener Wissenschaftler(innen). penau, Dr. I. Pawlowski und Prof. Dr. P. M. Entscheidungen über Annahmen oder Absa- Schmitz) und in einem Fall der Universität Mar- gen wurden Ende Juni 2009 mitgeteilt, und bis burg (Frau Jun.-Prof. A. Rahim) unterstützt. 15. August waren fertige Beiträge einzurei- Dies machte es möglich, den Promovierenden chen. Letztlich wurden 52 Beiträge von Dokto- kritische Rückmeldungen zu ihren Vorträgen randinnen und Doktoranden präsentiert, da- und Vorschläge zur Verbesserung der Arbeiten von 42 als Contributed Papers in Parallel- zu geben – in stärkerem Maß, als es bei inter- sitzungen mit jeweils drei bzw. vier Vorträgen nationalen Konferenzen sonst der Fall ist. und 10 als Poster Papers. Insgesamt nahmen Wichtige Funktionen kamen außerdem den 73 Teilnehmer an der Veranstaltung teil, davon Plenarvorträgen und der abschließenden Panel- 55 Promovierende. Von diesen kamen die diskussion zu. Plenumsvorträge von internatio- größten Gruppen aus Deutschland (29) und nal renommierten Referenten wandten sich Frankreich (13), gefolgt von Italien (5) und Ir- Grundfragen des erfolgreichen wissenschaft- land (3). Allerdings war die Verteilung der Na- lichen Arbeitens zu und lieferten auf diese Wei- tionalitäten dadurch wesentlich breiter gefä- se Anregungen zu erfolgreichem Publizieren, chert, dass die Zahl der ausländischen Dokto- Präsentieren und Arbeiten für den weiteren randen bei diesen Ländern relativ hoch war. Karriereweg. Ein Plenumsvortrag widmete sich Neben den Contributed Paper und Poster Pa- der Verbindung zwischen Wissenschaft und per Sessions gab es vier Plenarveranstaltungen Politik und thematisierte dabei – wie auch die (zum Programm vgl. abschließende Paneldiskussion – den agrar- http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/zentren/ und ernährungsökonomischen Arbeitsmarkt zeu/Forsch/forschungsprojekte/EAAEPhDW09). bei staatlichen Institutionen und internationa- len Organisationen sowie die Politikrelevanz 3.1 Plenarveranstaltungen: von Forschung. In den Plenarveranstaltungen Die Ausbildungskomponente standen damit – deutlich mehr als auf „norma- len“ nationalen und internationalen Konfe- Bei den Plenarveranstaltungen konnten die renzen – die Rahmenbedingungen der künf- Doktoranden zunächst von den Erfahrungen tigen wissenschaftlichen und beruflichen Tätig- zweier Hochschullehrer als Herausgeber der keit der Teilnehmer(innen) im Vordergrund. zwei bedeutendsten wissenschaftlichen Zeit- Das Format des EAAE PhD Workshops ist auf schriften in der Agrarökonomie profitieren – den ersten beiden EAAE PhD Workshops – in des „American Journal of Agricultural Eco- Wageningen 2005 und in Rennes 2007 – er- nomics (AJAE)“ und der „European Review of probt worden und war von großem Erfolg be- Agricultural Economics (ERAE)“. Sie lernten gleitet. Eine erste Veranstaltung dieser Art, gleichzeitig eine stärker US-amerikanische und 2003 in Montpellier, war noch von franzö- eine mehr europäische Sichtweise erfolg-

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135-140_Herrmann.indd 136 08.06.10 10:14 reichen wissenschaftlichen Arbeitens kennen. neuen Bonner Graduiertenschule lehrt er Prof. Dr. Richard Sexton, University of Califor- außerdem regelmäßig Methoden des wissen- nia, Davis, USA, titelte seinen Vortrag „Playing schaftlichen Arbeitens. Auch er stellte die the Periluous Publication Process: Reflections of Bedeutung referierter Zeitschriftenaufsätze a Sometimes Author, One-Time Editor and Too- heraus und betonte: „Peer review saves time“. Frequent Reviewer“. Prof. Sexton ist einer der Begutachtungsverfahren führen, so der Re- renommiertesten amerikanischen Agrarökono- ferent, zu Qualitätsverbesserungen bei Publika- men: Von 1998 bis 2000 war er einer der vier tionen und nützen damit allen Forschern über Managing Editors des „American Journal of Zeitersparnisse, die durch die Auswahl hoch- Agricultural Economics“, von 1994 bis 1998 wertiger Beiträge entstehen. Außerdem werde Chairperson des „Department of Agricultural dadurch eine Duplizierung von Forschungs- and Resource Economics“ der University of Ca- ergebnissen weniger wahrscheinlich. Prof. lifornia, Davis, und er wurde angesichts seiner Heckelei leitete aus Herausgebersicht eine gan- zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten in ze Reihe von Vorschlägen für Nachwuchs- „AJAE“ und anderen führenden agrarökono- wissenschaftler(innen) ab. Wichtig sei es, die mischen Zeitschriften 2004 als Fellow der Ame- grundlegende Botschaft eines Aufsatzes sehr rican Association of Agricultural Economists klar in möglichst nur einem Satz darzulegen (AAEA) ausgezeichnet. Im Jahr 2000 konnte er und den Beitrag deutlich in der bestehenden auf der Jahrestagung der AAEA die renom- Literatur zu positionieren. In seinem Plenar- mierte Waugh Lecture präsentieren (Sexton vortrag ging er auch auf verbreitete Fehler von 2000). In seinem Plenarvortrag erörterte Autoren bei der Gestaltung von Zeitschriften- Prof. Sexton eine große Vielfalt von Aspekten aufsätzen ein und darauf, wie diese vermieden des Veröffentlichens in wissenschaftlichen werden können. Ein häufiger Fehler sei, dass zu Zeitschriften: „double-blind“- gegenüber „sin- viele diverse Ergebnisse präsentiert und die gle-blind“-Reviewverfahren, die Erfolgs- bzw. neuen Elemente in Theorie und Modellbildung Ablehnungsquote in führenden wissenschaft- nicht ausreichend herausgearbeitet werden. lichen Zeitschriften, die Dauer des Begutach- Im dritten Plenumsvortrag widmete sich Prof. tungsprozesses und die Gründe dafür oder Dr. Ernst Berg, Universität Bonn, dem Thema auch typische Fehler unerfahrener Autorinnen „How Agricultural Economists Value Their und Autoren in verschiedenen Phasen des Be- Journals: Results from the GEWISOLA/ÖGA gutachtungsprozesses und in verschiedenen Publication Ranking and Lessons for PhD Teilen des wissenschaftlichen Beitrags. Sexton Students“. Berg ist Professor für Produktions- unterstrich die Bedeutung des Veröffentlichens und Umweltökonomik und derzeit Stellv. Vor- in referierten wissenschaftlichen Zeitschriften sitzender der „Gesellschaft für Wirtschafts- für die akademische Laufbahn und verband sei- und Sozialwissenschaften des Landbaues e.V.“ ne Analyse mit zahlreichen Vorschlägen für (GeWiSoLa e.V.). Durch seine Präsentation wur- Nachwuchswissenschaftler. So erklärte er, wie den den Doktorandinnen und Doktoranden man durch richtige Wahl seines Publikationsor- wichtige Informationen zuteil, die für den Weg gans die sogenannte „desk rejection“ vermei- zur Publikation entscheidend sind. Insbesonde- den und bei einer Wiedereinreichung eines re in Europa wird oft der Impactfaktor zur Be- überarbeiteten Aufsatzes durch sorgfältigen wertung der Qualität von Zeitschriften verwen- Umgang mit den Kommentaren von Gutach- det, vor allem in der Medizin und den Natur- tern eine Ablehnung vermeiden kann. wissenschaften. Allerdings kann dieser nicht Prof. Dr. Thomas Heckelei, Universität Bonn, zum Vergleich von Zeitschriften über Diszipli- hielt den zweiten Plenarvortrag zum erfolg- nen hinweg herangezogen werden, da sonst reichen wissenschaftlichen Arbeiten – aus eu- u. a. erhebliche Verzerrungen zugunsten gro- ropäischer Sicht. Er ist Professor für Wirt- ßer Disziplinen und moderner, vielzitierter schafts- und Agrarpolitik und einer der drei Arbeitsgebiete vorprogrammiert sind (Garfield Managing Editors der „ERAE“. Im Rahmen der 1994; Moed 2005). Prof. Dr. Ernst Berg erläu-

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135-140_Herrmann.indd 137 08.06.10 10:14 terte den Promovierenden, dass trotzdem in zwischen Wissenschaft und Politik im Bereich Universitäten und Forschungsfördereinrich- der Agrarökonomie zu referieren. Zwar träten tungen der Impactfaktor zum Vergleich der immer wieder Interessenunterschiede und Produktivität wissenschaftlicher Disziplinen im- Verständigungsschwierigkeiten offen zutage, mer noch diskutiert und z. T. herangezogen doch sei die Vertiefung und Verbesserung der wird. Der Referent gab einen aktuellen Über- Kommunikation zwischen Wissenschaft und blick über Methoden zur Bewertung der Quali- Politik förderlich für eine rationalere Agrar- tät von Journalen – so über den Impactfaktor, politik und eine gehaltvollere Forschung und seine Weiterentwicklung, neuere Konzepte wie Lehre. den h-Index oder die sogenannten invarianten Eine Invited Panel Discussion zum Thema „Are Methoden. Er legte dar, dass in der Agraröko- We on the Right Track in Agricultural and Food nomie bis vor kurzem keine umfassende Be- Economics? International Publication Stan- wertung relevanter wissenschaftlicher Zeit- dards, Relevance for Society, and the Academic schriften vorlag. Er stellte dann Ergebnisse des Labour Market” stellte die letzte Plenarveran- Publikationsrankings der deutschen Gesell- staltung dar. Der Organisator, Prof. Roland schaft für Wirtschafts- und Sozialwissen- Herrmann, stellte den Panelteilnehmern die schaften des Landbaues e.V. (GeWiSoLa) und Grundfrage, ob die zunehmende Orientierung der Österreichischen Gesellschaft für Agrar- der Forschung an internationalen Publikations- ökonomie vor, in der eine befragungsbasierte standards dazu führen könnte, dass metho- und umfassende Bewertung der für agrar- und denorientierte Forschung möglicherweise poli- ernährungsökonomische Publikationen vor- tikrelevante Forschung und die Arbeit an ge- handenen Zeitschriften vorgenommen wurde sellschaftlich relevanten Fragen verdrängt. (Dabbert et al. 2009). Diese Ratingliste erfasst Damit eng verbunden ist die Frage, ob metho- sowohl disziplinäre Zeitschriften und solche mit denorientierte Forschung und Doktoranden- einer Ausrichtung auf verschiedene Disziplinen, ausbildung der richtige Weg im Hinblick auf in denen auch agrar- und ernährungsökono- den Arbeitsmarkt der Doktoranden darstellt. mische Beiträge veröffentlicht werden können. Die Panelteilnehmer aus dem Scientific Com- Prof. Berg, selbst einer der Autoren des GEWI- mittee und dem Kreis der Plenumsreferenten SOLA-ÖGA-Publikationsrankings, präsentierte (G. Anania, E. Berg, A. Gohin, R. Sexton, S. den Teilnehmern des EAAE PhD Workshops ei- Thompson) teilten im Wesentlichen die Auffas- ne Rangliste der wissenschaftlichen Zeit- sung, dass es eine Gratwanderung und schwie- schriften und verband dies mit Ratschlägen zur rig sei, moderne und neue Forschungsmetho- Publikationstätigkeit der Nachwuchswissen- den und die Lösung gesellschaftlich wichtiger schaftler. Er erinnerte aber auch daran, dass Themen in Verbindung zu bringen. Die Forde- wissenschaftliche Leistungen von Personen rung, mit neuen Forschungsmethoden zu ar- nicht allein über die Qualität von Zeitschriften beiten und zu publizieren, verdränge durchaus bewertet werden können, in denen veröffent- die Forschung an politikrelevanten Themen in licht wird. Die Würdigung des wissenschaft- Forschungseinrichtungen wie dem „Institut lichen Werks insgesamt durch das Lesen zen- National de Recherche Agronomique“ (INRA), traler Beiträge sei unabdingbar. da beide Aufgaben zeitaufwendig seien (A. Dr. Krijn Poppe präsentierte ein weiteres Gohin). Trotzdem sei es der Agrarökonomie ge- Plenumsreferat zum Thema „Economics and lungen, gesellschaftlich relevant und mit an- Politics: Living Apart Together Happily“. Als Ge- spruchsvollen Methoden zu forschen (G. Ana- neralsekretär der EAAE, Chief Science Officer nia). Interessant war die Position von Dr. Peter des „Ministry of Agriculture, Nature and Food Wehrheim, EU-Kommission, Brüssel, der 1994 Quality“ in den Niederlanden sowie als Re- an der Universität Gießen promoviert wurde search Manager des „Landbouw-Economische und dem Panel als Vertreter eines großen po- Instituut“ (LEI) war er prädestiniert, über tenziellen Arbeitgebers der Doktoranden ange- Stärken und Schwächen in der Kooperation hörte. Er betonte, dass analytisches Denken

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135-140_Herrmann.indd 138 08.06.10 10:14 und methodische Kenntnisse wichtig seien Pro Session standen den drei bis vier Vortra- auch für Tätigkeiten in der EU – neben anderen genden 20 Minuten Präsentationszeit und im Kompetenzen, die die Doktorandenausbildung Anschluss 10–15 Minuten für Diskussion und nur bedingt bereitstellen könne, wie Sprach- Fragen zur Verfügung. Dabei übernahmen die kenntnisse, soziale Kompetenz und breitere Chairpersons auch die Rolle der Discussion Kenntnisse in europäischen und internationa- Opener, die mit Fragen und methodischen Vor- len Fragen. schlägen den Meinungsaustausch in Gang brachten. 3.2 Contributed und Poster Session Im Anschluss an die Tagung ist vorgesehen, Papers: Die Forschungskomponente ausgewählte Beiträge von Nachwuchswissen- schaftlern in einem Special Issue der Zeitschrift Zur Charakterisierung der Präsentationen und „German Journal of Agricultural Economics“ Poster der Nachwuchsforscher eignet sich nach einem Begutachtungsverfahren zu veröf- wohl am besten das Wort Vielfalt. Dabei be- fentlichen. zieht sich diese Vielfalt einmal auf das bunt ge- mischte Spektrum an Forschungsfeldern von 3.3 Erfolgsbewertung des Workshops Politik- und Marktanalyse im Agrarsektor über Ländliche Entwicklung, Entwicklungsökono- Es war der Eindruck des Scientifi c Committee, mie, Risikomanagement, Ressourcen- und dass die Ziele des 2009 EAAE PhD Workshops Umweltökonomie hin zu Konsumentenverhal- erfüllt worden sind. Um die Sichtweise der ten, Nachfrage nach Lebensmittelqualität, so- Doktorandinnen und Doktoranden zu dieser wie Gesundheit und Ernährungspolitik. Als Frage zu erfahren, wurde nach dem Workshop vielfältig erwiesen sich aber auch die verschie- eine Onlinebefragung durchgeführt. Sie führte denen Methodiken und Herangehensweisen, zu einer Rücklaufquote von über 70% (n = 39). von ausgefeilten statistischen Anwendungen Zentrale Ergebnisse der Befragung sind in bis zu eher theoretisch angelegten Papieren. Tabelle 1 erfasst.

Tab. 1: Erwartungen an den Nutzen aus dem EAAE PhD Workshop (n = 39), Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme auf jeden Fall zu)

Erwartungen a) 

A major reason for me to participate was to meet other PhD students 3,6 0,9 A major reason for me to participate was to get feedback on my own work 4,6 0,8 A major reason for me to participate was to get ideas for future work 3,9 1,2 A major reason for me to participate was to meet well known professors 3,3 1,1

Inhalte und Nutzen  

Plenary sessions were relevant for my own work 3,7 1,2 I learned new issues about writing and publishing that are useful for me 3,9 1,3 The panel discussion raised topical questions and offered new insights 3,5 1,4 My own research interests were well represented 3,0 1,0 Feedback on my own paper was clear and constructive 3,3 1,3 The workshop came up to my expectations 3,8 1,1 I have benefi ted from attending the workshop 4,0 1,4 I have enjoyed attending the workshop 4,3 1,0

a)  = arithmetisches Mittel,  = Standardabweichung Quelle: Eigene Erhebung und Berechnungen.

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135-140_Herrmann.indd 139 08.06.10 10:14 Ein Ergebnis sticht bei den Erwartungen he- ergibt sich durch die Vermittlung von Wissen raus: Die Teilnehmer erwarteten sehr stark, und Kompetenzen zum erfolgreichen Publizie- Rückmeldung und Reaktionen auf die eigene ren aus Sicht international erfahrener Experten, Arbeit zu bekommen. Dies belegt ein mittlerer einerseits kombiniert mit dem Einreichen und Zustimmungswert von 4,6, der sich deutlich Präsentieren eigener Beiträge der Doktoran- von den anderen abhebt und noch dazu am den, mit anschließendem Feedback anderer- geringsten variiert ( = 0,8). Zur Bewertung der seits. Zudem bietet sich die Möglichkeit, über bisherigen Arbeit kam der Wunsch, Anre- Entwicklungen im eigenen Fachgebiet, in der gungen für zukünftige Projekte und Themen Ausbildung und die gesellschaftliche Relevanz zu erhalten. der Forschung zu diskutieren. Auf Grund dieser Ein positives Ergebnis ist, dass die Teilnehmer Eigenschaften stellt ein Workshop dieser Art meinen, aus dem Workshop einen Nutzen ge- auch zukünftig einen nützlichen und wichtigen zogen zu haben ( = 4,0) und dieser ihren Er- Baustein im Rahmen der Promotion dar. Diese wartungen überwiegend entsprochen hat ( = bereichernde Funktion bleibt auch für den Fall 3,8). Dies gründet offensichtlich in dem Teil der einer zunehmend strukturierteren Ausbildung, Veranstaltung, der sich mit Fragen rund um die etwa in Promotionskollegs, bestehen. Publikation beschäftigt hat. Mit einem Wert von 3,9 stimmten die Doktoranden der Aussage zu, Kontakt: dass sie neue Dinge über Schreiben und Ver- Roland Herrmann, öffentlichen gelernt haben, die ihnen nützten. Matthias Staudigel, Etwas differenzierter sind die Durchschnitts- Isabel Dörnberger meinungen zu den Aussagen „Meine eigenen Institut für Agrarpolitik und Marktforschung Forschungsinteressen waren gut repräsentiert“ der JLU Gießen, ( = 3,0) und „Die Rückmeldungen zu meinem Senckenbergstr. 3, Papier waren klar und konstruktiv“ ( = 3,3) zu 35390 Gießen beurteilen. Diese liegen zwar noch im positiven Bereich, allerdings fallen sie im Vergleich zu Literatur: den anderen Werten etwas ab. Hier ist sicher- Dabbert, S., E. Berg, R. Herrmann, S. Pöchtrager und K. lich ein Zeitproblem gegeben. Bei mehr als 50 Salhofer (2009), Kompass für agrarökonomische Zeit- Vorträgen ist die Diskussionszeit für jeden ein- schriften: Das GEWISOLA/ÖGA-Publikationsranking. zelnen Vortragenden naturgemäß begrenzt. Si- „Agrarwirtschaft“, Jg. 58, Heft 2, S. 109–113. cherlich war die durchschnittliche Diskussions- Garfield, E. (1994), The Impact Factor. „Current Con- tents“, Vol. 25, S. 3–7. zeit pro Contributed Paper höher als auf den Moed, H. F. (2005), Citation Analysis in Research Evalua- meisten „normalen“ Tagungen, trotzdem lag tion (Information Science and Knowledge Manage- offenbar die Diskussionszeit und -intensität im- ment, Vol. 9). Dordrecht, Netherlands: Springer. Sexton, R. (2000), Waugh Lecture: Industrialization and mer noch unter dem gewünschten Optimum Consolidation in the U.S. Food Sector: Implications for aus Sicht der Doktoranden. Optionen zur Errei- Competition and Welfare. „American Journal of Agri- chung dieses Ziels können a) in der Durchfüh- cultural Economics”, Vol. 82, No. 5, S. 1087–1104. rung von noch mehr Parallelveranstaltungen oder b) einer noch stärkeren Vorselektion der Internetquellen: zu präsentierenden Beiträge liegen. Programm des 2009 EAAE PhD Workshops: http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/zentren/ 4. Ausblick zeu/Forsch/forschungsprojekte/EAAEPhDW09

Es hat sich gezeigt, dass Veranstaltungen wie der EAAE PhD Workshop 2009 einen wichtigen und sinnvollen Beitrag zur Ausbildung von Doktoranden (nicht nur in der Agrarökonomie) leisten. Ein besonderes und einzigartiges Profil

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Eighth Creolistics Workshop – Bericht zur GHG-geförderten Konferenz

Der achte „Creolistics Workshop“ fand vom Slavistik usw.) mit diesen Sprachen. Da die Ent­ 2. bis 4. April 2009 unter dem Titel „Pidgins stehung und Ausbildung von Kontaktsprachen and creoles in a comparative perspective“ am nur in ihrem sozialen und geschichtlichen Kon­ Institut für Anglistik des Fachbereichs 05 statt.1 text verstanden werden kann, haben kulturelle, Dies war nach der ebenfalls großzügig von der historische und soziologische Fragestellungen Gießener Hochschulgesellschaft geförderten in der Kreolistik einen hohen Stellenwert. Aus Tagung „Simplicity and complexity in pidgins diesen Gründen spielt die fächerübergreifende and creoles“ im Jahr 2006 die zweite Veran­ Relevanz bei der Themenfindung für die „Cre­ staltung dieser Workshop­Reihe an der Justus­ olistics Workshops“ eine wichtige Rolle. Liebig­Universität Gießen. In diesem Sinne wurde bereits beim Gießener Die Creolistics Workshops wurden 1994 von Workshop im April 2006 mit „Simplicity and dem bekannten Kreolisten Dr. Philip Baker an complexity in pidgins and creoles“ ein interdis­ der University of Westminster, London, ins ziplinäres, fächerübergreifendes und aktuell Leben gerufen und finden seither im Ein­ bis diskutiertes Thema gewählt. Aus dem Gieße­ Dreijahresrhythmus statt. In dieser Zeit haben ner Workshop von 2006 sind zwei Tagungs­ die Workshops ein hohes Ansehen innerhalb bände hervorgegangen: und außerhalb Europas gewonnen, was sich Faraclas, Nickolas, und Thomas Klein (Hrsg.). auch an der Internationalität und an der wis­ 2009. Simplicity and Complexity in Creoles and senschaftlichen Reputation nicht weniger der Pidgins. London: Battlebridge. zahlreichen Teilnehmer der Gießener Work­ Aboh, Enoch, und Norval Smith (Hrsg.). shops im April 2006 und 2009 ablesen ließ. 2009. Complex processes in new languages. Gegenstand der „Creolistics Workshops“ ist Amsterdam: Benjamins. die Beschäftigung mit linguistischen Kontakt­ Mit „Pidgins and Creoles in a comparative pers­ phänomenen, wie sie sich vor allem in Pidgin­ pective“ war der Gießener Workshop im April und Kreolsprachen manifestieren. Eine wich­ 2009 wieder interdisziplinär und fächerüber­ tige übergeordnete Frage ist dabei, welchen greifend ausgerichtet und behandelte ein The­ Aufschluss uns diese in sprachlichen Extrem­ ma von hoher Aktualität. Die komparativ­ situationen entstandenen Kommunikations­ sprachtypologische Ausrichtung gab Lingu­ systeme über das Wesen und die Funktion isten aus unterschiedlichen einzelsprachlichen menschlicher Sprache geben können. Interdis­ Disziplinen die Möglichkeit des internationalen ziplinäre Fragestellungen und die Kooperation Austauschs über die in den letzten Jahren in­ zwischen verschiedenen Fachrichtungen liegen tensiv und kontrovers diskutierte Frage, ob in der Natur der Kreolistik und haben die Kontaktsprachen einen Sonderfall unter den „Creo lis tics Workshops“ von Beginn an ge­ Sprachen der Welt darstellen, der – neben der prägt: Pidgin­ und Kreolsprachen sind weltweit besonderen soziohistorischen Herkunft dieser verbreitet und sind aus dem Kontakt genetisch Sprachen – seinen Ausdruck auch in einer mehr und typologisch unterschiedlichster Sprachen oder minder einzigartigen Konstellation struk­ hervorgegangen. Neben Anglisten befassen tureller Merkmale findet. In jüngerer Zeit zeigt sich daher Linguisten aller Fachrichtungen (all­ die Kreolistik ein verstärktes Interesse an sol­ gemeine Sprachwissenschaft, Romanistik/His­ chen kontrastiven und sprachvergleichenden panistik/Lusitanistik, Afrikanistik, Germanistik, Ansätzen, in denen Pidgin­ und Kreolsprachen

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141-142_Huber.indd 141 08.06.10 10:18 miteinander und auch mit sog. „natürlichen“ Daneben wurde auch der Fortgang des bereits Sprachen verglichen werden. Die Methoden im Workshop 2006 eingeführten (am Lehrstuhl und Ziele solcher Untersuchungen sind unter­ für Englische Sprachwissenschaft und Ge­ schiedlich und schließen synchrone wie sprach­ schichte der englischen Sprache verorteten und historische Ansätze ein, z. B. von der DFG geförderten) sprachtypologischen Projekts „World Atlas of Pidgin and Creole Lan­ • komparative und typologische Studien zu guages“ vorgestellt und diskutiert, das in Kol­ Pidgin­ und Kreolsprachen, laboration mit dem Max­Planck­Institut für • Vergleiche von Pidgins und Creoles mit natür­ Evolutionäre Anthropologie in Leipzig entsteht lichen Sprachen, und in vier Bänden bei Oxford University Press • die Untersuchung des Verhältnisses von erscheinen wird: Pidgins und Creoles mit den sog. Substrat­, 1. ein „Atlas of Creole Language Structures“ Superstrat­ und Adstratsprachen, die die und Kontaktsituation charakterisieren, 2. drei Bände „Survey of Pidgin and Creole Lan­ • die Rekonstruktion von früheren Sprachstän­ guages“ mit Beschreibungen der Geschichte, den einzelner Varietäten, Soziolinguistik und strukturellen Charakteristika • die Ergründung der sprachgenetischen Ver­ einzelner Kontaktsprachen. Diese Artikel sollen wandtschaften innerhalb einzelner Gruppen von Text­ und Tonbeispielen begleitet werden. von Pidgin­ und Kreolsprachen, Die „Creolistics Workshops“ waren von Beginn • den Vergleich der soziohistorischen Szena­ an ein Forum der Begegnung und des fach­ rien, in denen Pidgin­ und Kreolsprachen lichen Austausches zwischen etablierten Spezi­ ent stehen, mit den unterschiedlichen struk­ alisten und dem wissenschaftlichen Nach­ turellen oder funktionalen Ausprägungen wuchs. Diese Tradition der Förderung des dieser Sprachen, oder Nachwuchses wurde im April 2009 in Gießen • die Rekonstruktion von Proto­Pidgins oder fortgeführt. Neben einigen fortgeschrittenen Kommunikationsstrategien, die eine Rolle in Studierenden nahmen 2009 insbesondere der Genese von Kontaktsprachen gespielt auch Doktoranden der JLU Gießen und ande­ haben. ren Universitäten im In­ und Ausland mit eige­ nen Vorträgen teil. Wir hoffen, dass die „Creo­ In über 40 Vorträgen und Postern beschäftigten listics Workshops“ auch in Zukunft an der Jus­ sich die Teilnehmer aus ganz Europa, den USA, tus­Liebig­Universität ein Zuhause finden. Kanada, der Karibik und Südamerika in verglei­ chenden Ansätzen mit der Frage, ob Pidgins und Anmerkung: Creoles einen Sonderfall unter den Sprachen der 1 Konferenz­HP: Welt darstellen, und zeigten neue Perspektiven http://www.uni­giessen.de/anglistik/LING/Staff/huber/ und Wege in der Beantwortung dieser Frage auf. CW2009/cwindex.html

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141-142_Huber.indd 142 08.06.10 10:18 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Nicole Milbrett

Interne Klausurtagung des Forschungsnetzwerkes „Empirische Unterrichts- und Bildungsforschung (EUBi)“ in Rauischholzhausen – ein Tagungsbericht

Vom 13. bis 14. März 2009 fand in Schloss rung der Tagung in den Einführungsvorträgen Rauischholzhausen, unterstützt durch die Gie- zu den Schwerpunktthemen der weiteren in- ßener Hochschulgesellschaft und das Zentrum terdisziplinären Zusammenarbeit des For- für Lehrerbildung der Justus-Liebig-Universität schungsnetzwerkes: Kompetenz und Interven- Gießen, die interne Klausurtagung des For- tion. Prof. Dr. Johannes Hartig (Erziehungswis- schungsnetzwerkes „Empirische Unterrichts- senschaftliche Fakultät, Universität Erfurt) und Bildungsforschung (EUBi)“ statt. Konzi- führte in die Modellierung von Kompetenzen piert und organisiert von Prof. Dr. Jochen Wis- ein und definierte Kompetenzen als kon- singer (Institut für Schulpädagogik und Didaktik textspezifische Konstruk te für die Untersu- der Sozialwissenschaften, Justus-Liebig-Univer- chung der Ergebnisse von Bildungsprozessen. sität Gießen), Prof. Dr. Jürgen Mayer (Didaktik Diese Definition zeichnet sich dadurch aus, der Biologie, Justus-Liebig-Universität Gießen, dass sie sachlich auf einen bestimmten Kompe- jetzt: Universität Kassel) und Nicole Milbrett tenzbereich (z. B.: Lesekompetenz, soziale (Zentrum für Lehrerbildung, Justus-Liebig-Uni- Kompetenz etc.) fokussiert und gleichzeitig die versität Gießen), versammelte die Tagung die individuellen Ressourcen für die Bewältigung ProjektleiterInnen und StipendiatInnen des For- von Anforderungen in bestim mten Kontexten schungsnetzwerkes sowie Referenten und Gäs- berücksichtigt. Beide Merkmale ermöglichen te aus Bildungsforschung und Bildungspraxis. zusammengenommen die Erstellung eines Insgesamt verfolgte die Klausurtagung drei Kompetenzmodelles und damit die Messung Ziele: Erarbeitung eines gemeinsamen theore- von Kompetenzen. Prof. Dr. Cornelia Glaser tischen und methodischen Rahmens für die (Pädagogische Psychologie, Jus tus-Liebig- weitere fächerübergreifende Zusammenarbeit, Universität Gießen) ergänzte die Erarbeitung Ausbildung der StipendiatInnen des For- des gemeinsamen theoretischen Rahmens um schungsnetzwerkes sowie Vorbereitung eines die pädagogisch-psychologische Interventions- Antrages auf Einrichtung einer DFG-Forscher- forschung. Interventionen bezeichnen nach gruppe. Allen drei Zielen gleichzeitig gerecht zu Glaser jede Form von außen gesteuerter, zielori- werden, erforderte sowohl das Finden geeig- entierter und systematischer Beeinflussung von neter ExpertInnen als auch eine Tagungsorgani- Personen- und Systemmerkmalen, sofern diese sation mit parallelen Workshops. für die zu fördernden Entwicklungspotentiale, Die Tagung wurde im Treppensaal des Schlosses Kompetenzen und Fertigkeiten in den jeweils durch den Ersten Vizepräsidenten der JLU, zu- anvisierten Zielgruppen als relevant erachtet gleich vorsitzendes Mitglied des Direktoriums werden. In ihrem Vortrag merkte Glaser jedoch des Zentrums für Lehrerbildung, Prof. Dr. Joy- an, dass methodisch anspruchsvolle Interventi- brato Mukherjee, eröffnet. In seiner Begrü- onsstudien im Bereich des schulischen Lernens ßung verwies Mukherjee sowohl auf den inter- aufgrund der hohen methodischen Standards nationalen Stellenwert der empirischen Bil- für solche Studien eher eine Mangelerschei- dungsforschung als auch auf jenen für die nung sind. Justus-Liebig-Universität Gießen, die an einer Der theoretischen Rahmung folgte eine ver- Stärkung und Profilierung der Bildungswissen- tiefte Auseinandersetzung mit den metho- schaften und Fachdidaktiken arbeitet. Daran dischen Anforderungen an eine interdiszi- anschließend bestand die theoretische Fundie- plinäre empirische Bildungsforschung. Dieser

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143_144_Milbrett.indd 143 08.06.10 10:15 Teil der Tagung widmete sich vorwiegend der beit am eigenen Dissertationsprojekt. Diese be- Methoden- und damit auch der Graduierten- inhalteten insbesondere die beispielorientierte ausbildung der StipendiatInnen des For- Diskussion und Beratung von einzelnen Promo- schungsnetzwerkes. Um dem weiten Spektrum tionsprojekten. Ein zweiter Teil der Graduier- an quantitativen und qualitativen metho- tenausbildung bestand in einem von den dischen Ansätzen ausreichend Rechnung zu StipendiatInnen angeregten Workshop zum tragen, nahmen die StipendiatInnen an zwei Thema „Organisation der Dissertation“ von Dr. methodologischen Plenumsvorträgen teil und Michael Basseler (Institut für Anglistik, Justus- widmeten sich dann in einem praxisorien- Liebig-Universität Gießen). In diesem Work- tierten Teil (je nach Interesse und Anwendung shop wurden die Themen „Die Dissertation als im eigenen Promotionsprojekt) entweder dem ganzheitliche Herausforderung“, „Projekt- und quantitativen oder dem qualitativen Metho- Zeitmanagement“, „Textproduktion“ sowie den-Workshop zu. Prof. Dr. Ludwig Stecher „Publi kationen und Vorträge während der Pro- (Institut für Erziehungswissenschaft, Justus- motionsphase“ vorgestellt und diskutiert. Liebig-Universität Gießen) eröffnete diesen Teil Parallel zum Workshop der StipendiatInnen tra- der Veranstaltung mit einem Plenarvortrag fen sich die ProjektleiterInnen des Forschungs- zum Umgang mit fehlenden Werten. Dieses für netzwerkes, um über die thematische Ausrich- die quantitative empirische Bildungsforschung tung, also den „roten Faden“ für eine DFG- wichtige Thema nahm Stecher zum Anlass, um Forschergruppe im Bereich der empirischen über Vor- und Nachteile von Ansätzen zum Unterrichts- und Bildungsforschung zu bera- Umgang mit fehlenden Werten, wie Gewich- ten. Diese Beratungen führten zum gemein- tung, Feldpflege, Ausfallanalysen, Längs- samen Arbeitstitel „Prozesse des Kompetenz- schnittgewichtung, Stichprobenauffüllung und erwerbs und der Kompetenzförderung in Bil- Multiple Imputation, zu reflektieren. Prof. Dr. dungssettings“ und zu einem Zeitplan für die Eva Burwitz-Melzer (Institut für Anglistik, Erstellung des Konzeptpapiers und der Projekt- Justus- Liebig- Universität Gießen) fasste in ih- skizzen. rem Vortrag den gesamten Prozess der qualita- Begleitet und kritisch evaluiert wurde die Klau- tiven Forschung von der Generierung der Fra- surtagung von Prof. em. Dr. Holger Probst gestellung über die Methoden der Daten- (Sonderpädagogische Psychologie, Justus-Lie- sammlung bis zur Datendokumentation und big-Universität Gießen) und Dr. Sabine Reuker -auswertung zusammen. Diesen Prozess ver- (Institut für Sportwissenschaft, Justus-Liebig- deutlichte sie am Beispiel des Lehramtsportfo- Universität Gießen). Beide Wissenschaftler fun- lios für Fremdsprachenlehr kräfte, in dem sie die gierten als so genannte „critical friends“, Datenanalyse und Kodierung schrittweise er- indem sie Rückmeldungen zur Konzeption, zur läuterte. Beiden Vorträgen folgten zwei parallel Durchführung und zu den Ergebnissen der Ta- stattfindende zweistündige Workshops zur Ar- gung gaben.

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143_144_Milbrett.indd 144 08.06.10 10:15 Gießener Universitätsblätter 43 | 2010 Dirk van Laak

2. Internationale Tagung der Arbeitsgruppe „Solarenergie-Partnerschaft mit Afrika“ vom 8. bis 10. Juni 2009 in Gießen

Der seit 2006 bestehende Arbeitskreis „Solar­ Nach einer ersten, von den Medien bereits auf­ energie­Partnerschaft mit Afrika“ an der Justus ­ merksam registrierten Tagung im Sommer Liebig­Universität widmet sich der öffentlich 2008 fand vom 8. bis 10. Juni 2009 im Haupt­ mittlerweile breit diskutierten Option des Strom­ gebäude der Justus­Liebig­Universität die zwei­ importes aus der Wüste im Rahmen einer te internationale Tagung „SEPA 09“ statt. Eine globalen Energie­ und Klimapolitik. Das inter­ Förderung der Gießener Hochschulgesellschaft disziplinär zusammengesetzte Experten­Gre­ erlaubte im Vorfeld die Einstellung einer wis­ mium aus Mitgliedern verschiedener Fachbe­ senschaftlichen Hilfskraft, für die sich die gebo­ reiche sondiert die Möglichkeiten einer Europa rene Senegalesin Alice Fanta André in Bezug wie Afrika gleichermaßen nutzbringenden Koo­ auf die Vorbereitung und Durchführung der peration bei der Nutzung regenerativer Ener­ Tagung als eine perfekte Wahl herausstellte. gien. Dabei geht der Arbeitskreis von der prinzi­ Sprachlich und organisatorisch übernahm sie piellen technischen Machbarkeit auch groß­ einen Großteil der vorbereitenden Abstimmun­ dimensionierter Solar­Kraftwerke aus, ist jedoch gen, und sie koordinierte die logistische Betreu­ überzeugt, dass diesbezügliche Planungen nur ung der eingeladenen Gäste mit leichter Hand. dann Erfolg versprechend sein können, wenn Insgesamt war sie für das Gelingen der Tagung 1. rechtliche, politische, soziale, geographische eine unschätzbare Hilfe. Zur Tagung selbst, die und historische Aspekte schon im Ansatz be­ vom Präsidenten der JLU, Prof. Dr. Stefan Hor­ rücksichtigt werden und 2. die europäischen muth, eröffnet wurde, hatten sich 81 Teilneh­ Initiativen sich mindestens gleichrangig an afri­ mer registriert. Darüber hinaus fanden zahl­ kanischen Interessen ausrichten. Der bundes­ reiche Interessierte aus Universität und Stadt weit einmalige Gesprächszusammenhang ana­ den Weg in die Aula, insbesondere zum Abend­ lysiert die Chancen und Risiken einer Solar­ vortrag des Geographen Prof. Dr. Cyrus Samimi energie­Partnerschaft auf der Basis neuester über „Das subsaharische Afrika – der verlorene technologischer Kenntnisse, die insbesondere Kontinent“. für die Photovoltaik sowie die Parabolrinnen­ Über das Ereignis der Tagung wie auch die be­ Kraftwerke inzwischen eine große Zuverlässig­ gleitende Ausstellung solartechnischer Anla­ keit und technische Ausgereiftheit garantieren. gen wurde in der Tagespresse und weit darüber Aus der Warte der Politik­, Rechts­, Wirtschafts­ hinaus Bericht erstattet. Am Rande der Tagung und Gesellschaftswissenschaften sowie der Ge­ gab es zahlreiche Interviews mit Teilnehmern schichte und Geographie werden die Möglich­ und den Ausrichtern. Dabei kam es der öffent­ keiten zu großflächig angelegten, aber auch lichen Aufmerksamkeit besonders zu Gute, kleinräumig einsetzbaren Solarkraftwerken zu­ dass am abschließenden Tag unter Beteiligung gleich differenziert und eingeordnet. Zahl­ der Universitäts­Leitung auch die First Lady des reiche Seminare, ein weitgespanntes Netz an Senegal, Frau Viviane Wade, dem Hauptgebäu­ europäisch­afrikanischen Kooperationen und de der Universität einen Besuch abstattete. Da­ international besetzte Tagungen bilden mittler­ bei führte sie zahlreiche Gespräche, wohnte weile ein solides und vielseitiges Fundament, einem Teil der Konferenz bei und lud die Ar­ um konkrete Initiativen hierzu weitaus realis­ beitsgruppe in einer Ansprache zugleich ein, ei­ tischer einschätzen zu können, als das in der ne der kommenden SEPA­Tagungen, voraus­ Vergangenheit möglich und der Fall war. sichtlich im Jahr 2011, im Senegal abzuhalten.

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145-146_vanLaak.indd 145 08.06.10 10:12 Auch wissenschaftlich darf die Tagung als ein konkret über solarthermische Großkraftwerke Erfolg angesehen werden. Zahlreiche Teilneh­ in der Sahara nachzudenken. Diese Initiative mer aus dem In­ und Ausland, besonders aus hat nicht nur geholfen, die Planung einer Solar­ Namibia und dem Senegal, sowie aus Wissen­ energie­Partnerschaft mit Afrika dauerhaft auf schaft, Industrieforschung und Praxis trugen zu die Agenda der öffentlichen Diskussion zu set­ einer lebhaften, informativen und koopera­ zen. Der Gießener Arbeitsgruppe ergaben sich tiven Tagungsatmosphäre bei. Dies wurde dadurch zahlreiche Gelegenheiten, ihre bislang durch nachträgliche Rückmeldungen vielfach erworbene Expertise zu diesen Fragen in Pres­ bestätigt. Gegenüber der ersten SEPA­Tagung se, Funk und Fernsehen unter Beweis zu stel­ im Jahr 2008 brachte die gegenwärtige eine len. Eine Übersicht zur Tagung und zum an­ merkliche Konkretisierung der Fragen sowie schließenden Medien­Echo findet sich auf der räumlichen Spezifikation auf afrikanische www.physik.uni-giessen.de/dueren/sepa/. Dort Anwendungsmöglichkeiten für solarthermische sind auch Video­Streams fast sämtlicher Vorträ­ Kraftanlagen. Das Interesse namentlich der ge und Diskussionen einsehbar. afrikanischen Teilnehmer an einer Intensivie­ rung des Austauschs über globale Energie­ fragen war groß, und es entwickelten sich zahl­ Kontakt: reiche Anknüpfungspunkte für zukünftige Ko­ Prof. Dr. Dirk van Laak operationen. Historisches Institut Als eine ungeplante, aber symbolische Koinzi­ der Justus­Liebig­Univer sität, denz sollte sich erweisen, dass kurz nach Ab­ Otto­Behaghel­Str. 10 C, 35394 Gießen, schluss der Tagung ein deutsches Konsortium E­Mail: namens „Desertec“ ankündigte, bereits recht [email protected]­giessen.de

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145-146_vanLaak.indd 146 08.06.10 10:12 Personalnachrichten der Justus-Liebig-Universität Gießen

Universitätsleitung

Am 8. Juli 2009 hat der Senat Prof. Dr. phil. Joybrato Mukherjee (Englische Sprachwissenschaft) zum Präsidenten der Justus-Liebig-Universität Gießen für die Amtszeit vom 16. Dezember 2009 bis 15. Dezember 2015 gewählt.

Am 25. November 2009 hat der Senat Prof. Dr. phil. Eva Burwitz-Melzer (Didaktik der Englischen Sprache und Litera- tur) zur Ersten Vizepräsidentin für die Amtszeit vom 16. Dezember 2009 bis 15. Dezember 2012 gewählt.

Am 29. Oktober 2009 hat der Senat Prof. Dr. med. Katja Becker (Biochemie der Ernährung des Menschen) zur Zwei- ten Vizepräsidentin für die Amtszeit vom 2. November 2009 bis 1. November 2012 gewählt.

Neubesetzungen von Universitätsprofessuren in folgenden Fachbereichen

Wirtschaftswissenschaften Geschichts- und Kulturwissenschaften

W3-Professur für Betriebswirtschaftslehre mit dem W3-Professur für Osteuropäische Geschichte mit dem Schwerpunkt Unternehmensführung und Organisation: Schwerpunkt Russische Geschichte: Prof. Dr. rer. pol. Andreas Bausch, vorher Professor an Prof. Dr. phil. Thomas Bohn, vorher Professor an der Uni- der Universität Jena und an der Jacobs University Bre- versität München. men. W3-Professur für Mittelalterliche Geschichte mit dem W3-Professur für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Geschichte des Hochmittelalters: Schwerpunkt Finanzdienstleistungen: Prof. Dr. phil. Stefan Tebruck, vorher Wissenschaftlicher Prof. Dr. rer. pol. Andreas Walter, vorher Wissenschaft- Mitarbeiter an der Sächsischen Akademie der Wissen- licher Assistent an der Universität Tübingen. schaften zu Leipzig. W3-Professur für Volkswirtschaftslehre mit dem Schwer- W3-Professur für Praktische Theologie mit dem Schwer- punkt Monetäre Ökonomik: punkt Religionspädagogik: Prof. Dr. rer. pol. Peter Tillmann, vorher Economist an der Prof. Dr. theol. Frank Thomas Brinkmann, vorher Ge- Schweizer Nationalbank in Zürich. meindepfarrer in Dortmund.

Sozial- und Kulturwissenschaften Sprache, Literatur, Kultur W3-Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwer- punkt Politische Theorie und Ideengeschichte: W3-Professur für Germanistische Sprachwissenschaft Prof. Dr. phil. Regina Kreide, vorher Studienrätin im mit dem Schwerpunkt Sprachtheorie und Sprachbe- Hochschuldienst an der Universität Frankfurt/Main. schreibung: W3-Professur für Allgemeine Soziologie auf Zeit: Prof. Dr. phil. Mathilde Hennig, vorher Wissenschaftliche Prof. Dr. phil. Petra Deger, vorher Oberassistentin an der Assistentin an der Universität Kassel. Universität Regensburg. W3-Professur für Romanistische Literatur- und Kultur- W3-Professur für Erziehungswissenschaft mit dem wissenschaft mit dem Schwerpunkt Spanien und Latein- Schwerpunkt Allgemeine Erziehungswissenschaft: amerika: Prof. Dr. phil. Ingrid Miethe, vorher Professorin an der Prof. Dr. phil. Verena Dolle, vorher Gastprofessorin am Evangelischen Fachhochschule Darmstadt. Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.

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147-149_Personalnachrichten.indd 147 08.06.10 10:12 W3-Professur für Neuere englische und amerikanische W3-Professur für Neuroradiologie: Literaturen: Prof. Dr. med. Elke R. Gizewski, vorher wissenschaftliche Prof. Dr. phil. Greta Olson, vorher Vertreterin einer Pro- Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Essen. fessur an der Universität Gießen. W3-Professur Lung Matrix Remodeling (ECCPS): W3-Professur für Angewandte Linguistik (Leitung des Prof. Saverio Bellusci, Ph.D., vorher Assoc. Professor am Zentrums für fremdsprachliche und berufsfeldorientierte Childrens Hospital Los Angeles, University of Southern Kompetenzen): California. Prof. Dr. phil. Susanne Göpferich, vorher Professorin an W3-Professur für Molekulare Virologie: der Universität Graz. Prof. Dr. med. John Ziebuhr, vorher Full Professor an der W3-Professur für Theoretische Philosophie: Queen’s University in Belfast. Prof. Dr. phil. Matthias Vogel, vorher Mitarbeiter eines W2-Professur für Molekulare Onkologie solider Tumore: Forschungsprojektes an der Universität Basel. Prof. Dr. rer. nat. Andre Menke, vorher Akademischer Rat auf Zeit an der Universität Ulm. W2-Professur Pulmonary Vascular Research (Pfizer endo- Mathematik und Informatik, wed Chair): Physik, Geographie Prof. Dr. med. Hossein A. Ghofrani, vorher Wissenschaft- licher Mitarbeiter an der Universität Gießen. W2-Professur für Mathematik mit dem Schwerpunkt W2-Professur für Molekulare Andrologie auf Zeit: Analysis: Prof. Dr. rer. nat. Klaus Steger, vorher Wissenschaftlicher Prof. Dr. rer. nat. Mohameden Ould Ahmedou, vorher Mitarbeiter an der Universität Gießen. Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Tübingen. Zu außerplanmäßigen Professorinnen Biologie und Chemie und Professoren wurden ernannt

W3-Professur für Anorganische Chemie mit dem Privatdozent Dr. med. dent. Markus Balkenhol, Wissen- Schwerpunkt Festkörperchemie: schaftlicher Assistent am Zentrum für Zahn-, Mund- und Prof. Dr. rer. nat. Sabine Schlecht, vorher Professorin an Kieferheilkunde, für das Fachgebiet Zahn-, Mund- und der Freien Universität Berlin. Kieferheilkunde. W3-Professur für Experimentelle Pflanzenökologie: Privatdozent Dr. med. Franz J. F. Blaes, Wissenschaft- Prof. Christoph Müller, Ph.D., vorher Professor am Uni- licher Mitarbeiter am Zentrum für Neurologie und Neu- versity College Dublin. rochirurgie, für das Fachgebiet Neurologie und Neurolo- W1-Juniorprofessur für die Ökologie mitteleuropäischer gische Intensivmedizin. Säuger (Schwerpunkt Fledermäuse): Privatdozent Dr. med. Jörg Carlsson, Leitender Arzt der Juniorprofessor Dr. rer. nat. Jorge A. Encarnação, vorher Abteilung Kardiologie, Länssjukhuset Kalmar (Schwe- Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildes- den), für das Fachgebiet Innere Medizin/Klinische Kardi- heim. ologie. Privatdozent Dr. med. Petros Christophis, Wissenschaft- licher Mitarbeiter am Zentrum für Neurologie und Neu- Agrarwissenschaften, Ökotrophologie rochirurgie, für das Fachgebiet Neurochirurgie. und Umweltmanagement Privatdozent Dr. med. Jörg Michael Engel, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin W3-Professur für Tierernährung: am Klinikum Wetzlar-Braunfels, für das Fachgebiet An- Prof. Dr. oec. troph. Klaus Eder, vorher Professor an der ästhesiologie und Intensivmedizin. Technischen Universität München. Privatdozent Dr. rer. nat. Ludger Grünhage, Akade- mischer Oberrat am Institut für Pflanzenökologie, für das Fachgebiet Pflanzenökologie. Veterinärmedizin Privatdozent Dr. med. Markus Horn, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Ko-Chefarzt des Interdisziplinären W2-Professur für Allgemeine und Spezielle Pathologie Zentrums für Klinische Geriatrie am Klinikum Bad Hers- der Tiere: feld, für das Fachgebiet Neurologie. Prof. Dr. med. vet. Christiane Herden, vorher Wissen- Privatdozent Dr. med. Martin Clemens Heidt, Wissen- schaftliche Assistentin an der Universität Gießen. schaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Innere Medizin, Fachbereich Medizin, Universität Marburg, für das Fach- gebiet Innere Medizin. Medizin Privatdozent Dr. med. Andreas Jung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Dermatologie und Androlo- W3-Professur für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde: gie, für das Fachgebiet Dermatologie, Venerologie und Prof. Dr. med. Jens Peter Klußmann, vorher Oberassis- Allergologie. tent an der Universität Köln. Privatdozent Sandip M. Kanse, Ph.D., Wissenschaft- W3-Professur für Radiologie: licher Mitarbeiter am Biochemischen Institut, Fachbe- Prof. Dr. med. Gabriele A. Krombach, vorher Wissen- reich Medizin, für das Fachgebiet Biochemie und Zellbi- schaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Aachen. ologie.

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147-149_Personalnachrichten.indd 148 08.06.10 10:12 Privatdozent Dr. med. Olaf Kilian, Wissenschaftlicher Privatdozentin Dr. rer. nat. Monika Wimmer-Röll, Wis- Mitarbeiter am Zentrum für Chirurgie, Anästhesiologie senschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anatomie und Urologie, für das Fachgebiet Chirurgie und Unfall- und Zellbiologie, für das Fachgebiet Anatomie. chirurgie. Privatdozentin Dr. rer. nat. Katrin Susanne Lips, Wissen- schaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Labors für Ex- Zu Honorarprofessorinnen und perimentelle Chirurgie am Fachbereich Medizin, für das Honorarprofessoren wurden ernannt Fachgebiet Anatomie und Zellbiologie. Privatdozent Dr. med. Konstantin Mayer, Wissenschaft- Dr. phil. Anette Baumann, Leiterin der Forschungsstelle licher Mitarbeiter am Zentrum für Innere Medizin, für der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung das Fachgebiet Innere Medizin. e.V. in Wetzlar. Privatdozent Dr. med. vet. Christian Menge, Leiter des Dr. rer. nat. Rolf Zimmermann, Studiendirektor am Studi- Instituts für Molekulare Pathogenese am Friedrich-Löff- enseminar Gymnasien in Gießen. ler-Institut/Bundesforschungsanstalt für Tiergesundheit, Standort Jena, für das Fachgebiet Mikrobiologie und Im- munologie. Emeritierungen und Pensionierungen Privatdozentin Dr. phil. Annegret Christine Nagel, früher Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Gie- Prof. Dr. rer. soc. Volbert Alexander (Volkswirtschafts- ßen, für das Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte. lehre insbesondere Makroökonomik mit dem zusätz- Privatdozent Dr. med. Fred Salomon, Chefarzt der Klinik lichen Schwerpunkt Geld und Kredit) zum 30. 9. 2009. für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Prof. Dr. med. Dieter-Karsten Böker (Neurochirurgie) Klinikum Lippe-Lemgo, für das Fachgebiet Ethik in der Medizin. zum 30. 9. 2009. Privatdozent Dr. phil. Gebhard Sammer, Leiter des Kog- Prof. Dr. phil. Helmut Dubiel (Soziologie) zum nitionslabors am Zentrum für Psychiatrie, für das Fach- 30. 9. 2009. gebiet Psychologie. Prof. Dr. phil. nat. Dr. h.c. Wolfram H. Gerlich (Medizi- Privatdozent Dr. med. Hans Ulrich Schmelz, Chefarzt der nische Virologie) zum 31. 3. 2010. Urologischen Abteilung des Bundeswehrzentralkranken- Prof. Dr. med. Hiltrud Glanz (Hals-Nasen-Ohrenheilkun- hauses Koblenz, für das Fachgebiet Urologie. de) zum 30. 9. 2009. Privatdozent Dr. med. vet. Matthias Schneider, Akade- Prof. Dr. med. Wigbert S. Rau (Allgemeine Röntgendiag- mischer Rat an der Klinik für Kleintiere – Innere Medi- nostik) zum 31. 3. 2010. zin –, Klinikum Veterinärmedizin, für das Fachgebiet In- Prof. Dr. paed. Katrin-Sophie Richter-Reichenbach (Di- nere Medizin und Kardiologie. daktik der Kunsterziehung) zum 31. 3. 2010. Privatdozent Dr. iur. Wolfgang Schur, Wissenschaftlicher Prof. Dr. phil. Werner Rösener (Mittlere und Neuere Ge- Mitarbeiter der Anwaltskanzlei Schröder Rechtsanwälte, schichte mit dem Schwerpunkt frühes und hohes Mittel- Berlin/Bochum, für das Fachgebiet Bürgerliches Recht, alter) zum 30. 9. 2009. Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie. Prof. Dr. phil. Reimund Seidelmann (Politikwissenschaft Privatdozentin Dr. med. Ingeborg Welters, Senior Clinical mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Lecturer and Honorary Consult, School of Clinical Sci- Außenpolitik) zum 30. 9. 2009. ence, University of Liverpool, für das Fachgebiet Anäs- Prof. Dr. med. Horst Traupe (Neuroradiologie) zum thesiologie. 31. 3. 2010.

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147-149_Personalnachrichten.indd 149 08.06.10 10:12 Biographische Notizen

Oliver Behnecke, Festivalproduzent, Regisseur, Kultur- glaube und Vampirismus; Eigensinn und Dissens; Ge- manager; Absolvent des Studiengangs Angewandte schichte Weißrusslands und Geschichte Bulgariens. Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Wichtigste Veröffentlichungen: Gießen; Stadtrauminszenierungen, Wissenschaftsfesti- Russische Geschichtswissenschaft von 1880 bis 1905. vals, Theater- und Kulturprojekte wie z.B. „Die 12 Stun- Pavel N. Miljukov und die Moskauer Schule. Köln/Wei- den“ (Gießen 1997), „ZeitenWende“ (Gießen 2000), mar/Wien 1998 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas „Eine Stadt als Labor – Gießen reagiert“ (Gießen 2003) 25); Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung „SalonBildungBremen“ (Bremen 2005), „Reisende Som- und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln/ mer-Republik“ (Bremen 2005/06/09), „400 Jahre Uni- Weimar/Wien 2008 (= Industrielle Welt 74); Hrsg.: Studi- versität Gießen/WissenSchafftStadt“ (Gießen 2007). enhandbuch Östliches Europa. Bd. 2: Russisches Reich Gewinner des Bremer Autoren- und Produzentenpreises und Sowjetunion. 2. überarbeitete und aktualisierte 2009 für das multimediale Performance-Projekt „Wir Aufl. Köln/Weimar/Wien 2009 (zusammen mit Dietmar entern!“. Neutatz). Hrsg.: Von der „europäischen Stadt“ zur „so- Von Ende 2005 bis Mitte 2008 beschäftigt an der Justus- zialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformatio- Liebig-Universität Gießen als Koordinator des Universi- nen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Vorträge tätsjubiläums für Entwicklung, Durchführung und Nach- der gemeinsamen Tagung des Collegium Carolinum und bereitung der Jubiläumsveranstaltungen. Seit Dezember des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrats in Bad 2009 wieder beschäftigt im Präsidialbüro der Justus- Wies see vom 23. bis 26. November 2006. München Liebig-Universität Gießen mit dem Aufgabengebiet Kul- 2009 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Caroli- turmanagement und Veranstaltungsdramaturgie, das num 29; zugleich: Völker, Staaten und Kulturen in Ost- die künstlerisch-konzeptionelle Entwicklung und Betreu- mitteleuropa 4). Hrsg.: Urbanisierung und Stadtentwick- ung zentraler Universitätsveranstaltungen, aber auch die lung in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Kooperation mit außeruniversitären Partnern umfasst. 47. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa- Gesellschaft. Tutzing, 6.–10. 10. 2008. München, im Prof. Dr. Thomas M. Bohn, 1963 Geburt in Hannover; Druck (= Südosteuropa-Jahrbuch 37; zusammen mit 1985–1991 Studium der Mittleren und Neueren Ge- Marie Janine Calic). schichte und der Slavistik an der Universität Hamburg; Laufende Forschungsprojekte: 1992–1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. Belarus, Ukra- für Moderne osteuropäische Geschichte der Universität ine, Russland, Litauen und Deutschland in verglei- Hamburg; 1995 Promotion an der Universität Hamburg chender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive über den Historiker Pavel N. Miljukov und die Moskauer (1986–2006) (in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Schule; 1995–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter/As- Zeithistorische Forschung Potsdam e.V., der Europä- sis tent am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der ischen Humanistischen Universität Vilnius/Minsk und der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2004 Habilitation ukrainischen Nationaluniversität Kiewer-Mohyla Akade- über den Wiederaufbau der weißrussischen Hauptstadt mie; Volkswagen-Stiftung, 2008–2011). Minsk nach dem Zweiten Weltkrieg; 2005–2006 Vertre- http://www.after-chernobyl.de/ tung der Professur für Geschichte Osteuropas im Rah- Mitgliedschaften: men des Elitestudiengangs „Osteuropastudien“ an der Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO); Ludwig-Maximilians-Universität München; 2006 Vertre- Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsfor- tung der Professur für Geschichte Osteuropas an der schung (GSU); Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Gießener Zentrum östliches Europa (GiZo); Viadrina in Frankfurt (Oder); 2007–2009 Professor für Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse; Geschichte Osteuropas mit einem Schwerpunkt Ge- Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat (HFR); schichte Ostmitteleuropas im Rahmen des Elitestudien- Südosteuropa-Gesellschaft (SOG); gangs „Osteuropastudien“ an der Ludwig-Maximilians- Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker Universität München (mit Lehrverpflichtungen an der (VOH). Universität Regensburg); seit Oktober 2009 Professor für Geschichte Osteuropas mit einem Schwerpunkt Ge- Prof. Dr. Horst Carl, Jahrgang 1959, hat seit Oktober schichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion an 2001 den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Justus-Liebig-Universität Gießen. am Historischen Institut der JLU inne. Studium der Forschungsschwerpunkte: Geschichte, Philosophie und Germanistik an den Univer- Historiographiegeschichte und Erinnerungskulturen; sitäten Bonn und Tübingen; 1989 Promotion, 1998 Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung; Aber- Habi litation in Tübingen, 2001 Gastdozentur an der Uni-

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151-153_BiographischeNotizen.indd 151 08.06.10 10:11 versité Aix-Marseille III; 2003 Schillerpreis der Stadt Médiéval und Präsidentin der deutsch-österreichischen Marbach. Sektion der Internationalen Artusgesellschaft. Ist Mitglied des Senatsausschusses der DFG für die Seit April 2008 Dekanatsmitglied und seit Oktober 2008 Sonder forschungsbereiche, des wissenschaftlichen Bei- Dekanin des Fachbereichs Sprache – Literatur – Kultur rats des Deutschen Historischen Instituts in Paris sowie und Vorsitzende der Gemeinsamen Kommission Geistes- Fachherausgeber der „Enzyklopädie der Neuzeit“. Seit wissenschaften der JLU Gießen; seit April 2009 Mitglied 2006 ist er Graduate Studies Executive des in der Exzel- des Akademischen Senats der JLU Gießen. lenzinitiative bewilligten Gießener Graduiertenzentrums Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: (GCSC). Höfische Epik des Hoch- und Spätmittelalters (insbeson- Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Verfassungs- dere Artusliteratur); geschichte des Alten Reiches, Kriegserfahrungen und Drama des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit; Religion in Westeuropa um 1800, Söldner als Gewaltge- Literatur und Politik. meinschaften, Medienereignisse in der Frühen Neuzeit. Publikationen (Auswahl): Wichtigste Publikationen: Das frühe deutsche Drama von den Anfängen bis zum Horst Carl: Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrie- Barock. Helsinki 1998. den und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittel- Minnerede, Roman und „historia“. Der „Wilhelm von alter zur Reformation, Leinfelden 2000. Österreich“ Johanns von Würzburg. Tübingen 1999 Horst Carl/Hans-Henning Kortüm u. a. (Hrsg.): Kriegsnie- (Hermaea 87). derlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004. Jacob Person Chronander, Bele-Snack. Ein universitäres Horst Carl/Eva-Marie Felschow/Jürgen Reulecke/Volker Hochzeitsspiel aus dem 17. Jahrhundert. Frankfurt/M. u. Roelcke/Corina Sargk (Hrsg.), Panorama 400 Jahre Uni- a. 2000 (Finn. Beiträge zur Germanistik 2). versität Giessen. Akteure, Schauplätze, Erinnerungskul- Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanisten- tur, Frankfurt 2007. bühne im süddeutschen Raum. Berlin u. a. 2005 (Quel- Horst Carl/Friedrich Lenger (Hrsg.), Universalität in der len & Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Provinz. Die vormoderne Landesuniversität Gießen zwi- 37). schen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit Wolfgang Schmeltzl. Gesammelte Schriften in zwei Bän- und gelehrten Lebenswelten. Tagung anlässlich des den, Band I: Das dramatische Werk. Hrsg. u. komm. von 400-jährigen Jubiläums der Justus-Liebig-Universität Cora Dietl u. Manfred Knedlik. Wien 2009 (Wiener Neu- Gießen am 8./9. Juni 2007, Darmstadt 2009. drucke 23). Neuere Aufsätze: Prof. Dr. Cora Dietl, geboren 1967 in Stuttgart, 1986 Hurenkomödie oder politische Dichtung? Die „Chrysis“ Scheffel-Preis und Beginn des Studiums der Germanis- des Enea Silvio Piccolomini, in: Texte zum Sprechen brin- tischen und Anglistischen Mediävistik und der Philoso- gen. Philologie und Interpretation. FS Paul Sappler. Hrsg. phie in Tübingen und Oxford, 1987–1992 und 1994/95 von Christiane Ackermann u. a. Tübingen 2009, S. 261– Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. 272. 1992 Magister-Abschluss in Tübingen, Promotion 1995 „Insula tres in partes digesta“: Länder, Städte und Räu- ebendort mit einer Arbeit über Minnerede, Roman und me zwischen historiographischer und fiktionaler Traditi- „histo-ria“. Der „Wilhelm von Österreich“ Johanns von on in der „Historia Meriadoci“, in: When Arthuriana Würzburg. 1996–1999 Feodor-Lynen-Stipendiatin der Meet Civic Spheres. Studies in the role of Cities in Arthu- Alexander-von-Humboldt-Stiftung und Gastprofessorin rian Literature and in the Value of Arthurian Literature für dt. Philologie in Helsinki, 1999 Ruf auf eine Professur for a Civic Identity. Hrsg. von Cora Dietl und Claudia Lau- und Ernennung zur Professorin für Deutsche Philologie er, mit einem Vorwort von Ingrid Bennewitz. Lewiston u. in Jyväskylä (Ruf abgelehnt). 1999–2001 Stipendiatin a. 2009, S. 49–69. des Tübinger Graduiertenkollegs Ars und Scientia im Kunst vom Stahlross bis zum Metallkügelchen. Gibt es Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, 2001–2004 Wis- ein poetologisches Konzept in Ulrichs von Zatzikhoven senschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik „Lanzelet“?, in: Mittelalterliche Poetik in Theorie und der Universität Tübingen und Stipendiatin des Marga- Praxis. FS Fritz Peter Knapp. Hrsg. von Thordis Hennings rete-von-Wrangell-Programms des Landes Baden-Würt- u. a. Berlin u. a. 2009, S. 193–203. temberg. 2004 Habilitation in Tübingen mit einer Arbeit „Violentia“ und „potestas“. Ein füchsischer Blick auf rit- zu Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Huma- terliche Tugend und gerechte Herrschaft im „Reinhart nistenbühne im süddeutschen Raum (venia legendi für Fuchs“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in Dt. Philologie), 2004 Ernennung zur Dozentin für Ger- der deutschen Literatur des Mittelalters. FS Christoph manische Philologie an der Universität Helsinki. Vertre- Huber. Hrsg. von Henrike Lähnemann und Sandra Lin- tung einer Professur in Konstanz und einer Dozentur in den. Berlin/New York 2009, S. 41–54. Münster im WS 2004/05. Dezember 2004 bis April 2006 Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Arthurian Fiction – A Dr. Peter Gruhne, geb. 1958. Studium der Kunstge- Pan-European Perspective in Utrecht und Lehrbeauftrag- schichte, Geschichte, Germanistik und Italianistik in Gie- te in Münster. Seit Juni 2006 W3-Professorin für Deut- ßen und Mainz. Von 1987 bis 1989 Forschungsaufent- sche Literaturgeschichte (Schwerpunkt Mittelalter und halte am Kunsthistorischen Institut (heute Max- Frühe Neuzeit) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Planck-Institut) in Florenz und der Bibliotheca Hertziana Seit 2007 Vorstandsmitglied der Oswald-von-Wolken- (MPI) in Rom. stein-Gesellschaft, Vorsitzende der deutschen Sektion Promotion 1994 über Carlo Belli (1903–1991), Journa- der Société Internationale pour l’Étude du Théâtre list, Kunstkritiker und -theoretiker in Mussolinis Italien.

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151-153_BiographischeNotizen.indd 152 08.06.10 10:11 Seit 1991 Redakteur beim Zweiten Deutschen Fernsehen Publikationen u. a.: Heilige Poesie. Zu einem literarischen in Mainz. Modell bei Pyra, Wieland und Klopstock, Tübingen Ab 1978 parallel zum Studium journalistische Tätigkeit 1997; (Hrsg., mit Jürgen Brokoff), Apokalypse und Erin- für verschiedene Tageszeitungen, den Hessischen Rund- nerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. funk und das ZDF. Jahrhunderts, Göttingen 2002; Die Schönheit der Litera- Publikationen: tur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max „Sich am ‚Ufer der Sage‘ niederlassen …“. Zu den Bil- Bense, Tübingen 2007. 2008 erschien, herausgegeben dern von Heidi Bastian, in: Heidi Bastian. Malerei 1988– zusammen mit Günter Butzer: Metzler Lexikon litera- 1993. o. O: 1993 (Galerie Bellevue Wiesbaden, 9. No- rischer Symbole. vember–5. Dezember 1993), S. 5–10. Forschungsschwerpunkte sind die Literatur der Aufklä- Carlo Belli und die Utopie von der absoluten Kunst. Itali- rung, literarische Ästhetik und Hermeneutik sowie die ens Beitrag zum „Internationalen Stil“ zwischen den Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Philosophie beiden Weltkriegen, Frankfurt am Main (u. a.) 1995 (Eu- und Theologie. ropäische Hochschulschriften: Reihe 28, Bd. 243), zugl. Univ. Diss. Mainz 1994. Dr. Wolfgang Lührmann ist Referent für Schulpraktische Vom Allgemeinen und dem Besonderen. Zu den Copy Studien und Geschäftsführer des Zentrums für Lehrerbil- Collagen von Margret Eicher, in: Margret Eicher. Herr- dung (ZfL) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. schende Muster, Ausstellungskatalog Galerie Buschlin- Arbeitsschwerpunkte sind einerseits die Koordination ger, Wiesbaden, Nassauischer Kunstverein Wiesbaden und Organisation der Schulpraktischen Studien, die e.V. und Dortmunder Kunstverein e.V., S. 7–18, Mann- Konzeptentwicklung und die Fortbildung der Lehrbeauf- heim 1996. tragten im Allgemeinen Schulpraktikum sowie anderer- Entfesselung, in: Hella Nohl, Weinstock-Variationen. seits die Koordination der Arbeiten zur Neustrukturie- Aquarelle und Zeichnungen mit Gedichten von Rainer rung und Modularisierung der Lehramtsstudiengänge Maria Rilke, o. O., o. J. [Gießen, 1997], S. 3f. und die Unterstützung der Arbeit des Direktoriums des Otto Eger: „Herzensguter Mensch“, Mitläufer oder Zentrums für Lehrerbildung. „Nazi“? – Zur Kontroverse um den Gießener Juristen, in: Er war 2002/2003 Mitglied der „Expertengruppe Lehrer- Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gie- bildung“ des Hessischen Kultusministeriums und des ßen, Bd. 93, 2008, S. 267–328. Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst; 2008/09 war er geschäftsführend für die Arbeitsgruppe Prof. Dr. Joachim Jacob, geboren 1965, studierte Ger- „Lehrerbildungsreform in Hessen“ und als Redakteur für manistik, Philosophie und Politische Wissenschaften an deren Abschlussbericht „Gestufte Studiengänge in der den Universitäten in Heidelberg, Frankfurt/Main und hessischen Lehrerausbildung“ (Gießen 2009) tätig. Konstanz. Von 1996–1999 lehrte er Neuere deutsche Veröffentlichungen zu Fragen der Beratung in der Hoch- Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der schule, der Studierfähigkeit, des beruflichen Verbleibs Universität Augsburg, seit April 2009 ist er Professor für von Hochschulabsolventen, der Gruppenarbeit in der Er- Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine wachsenenbildung, der Evaluation der Lehre und des Literaturwissenschaft an der JLU. Lernens in der Schule.

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151-153_BiographischeNotizen.indd 153 08.06.10 10:11 Jahrgang 43 | 2010

Herausgegeben von der Gießener Gießener Hochschulgesellschaft ISSN 0533-8689 Universitätsblätter