Universitäts- und Landesbibliothek Tirol

Davidstern und Doppeladler

Gaisbauer, Adolf

Wien, 1988

Zweiter Teil. - Die zionistische Weltbewegung

urn:nbn:at:at-ubi:2-18501 ZWEITER TEIL Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung

Am 14. Februar 1896 veröffentlichte der Wiener Journalist und Schriftsteller Dr. Theodor Herzl eine schmale Broschüre mit dem Titel „Der Judenstaat“, am 4. Juni 1897 ließ derselbe Theodor Herzl die erste Nummer eines zionistischen Zentralorgans („Die Welt“) erscheinen und am 29. August 1897 eröffnete er in den ersten allweltlichen Zionistenkongreß: Der Zionismus war auf dem Wege zu einer durchorganisierten, zentral (und von einer großen Persönlichkeit) geleiteten, in der internationalen Politik präsenten national-politischen Weltbe¬ wegung. Theodor Herzl 1860( - 1904):') Ein eleganter, kultivierter, ehrgeizig-unsicher- melancholischer Wiener Feuilletonist, Verfasser seichter Konventions-Lustspiele, aufmerksam-sensibler Berichterstatterund Korrespondent - mit einem Wort: ein (im Positiven und Negativen) geradezu „typischer“ deutsch-jüdischer Literat der „zweiten Generation“! Und dann : ein kaum minder typischer aufgeschreckter, zutiefst verwundeter, von einer höhnenden und aggressiven Umwelt auf ein trotzig-stolzes Bekenntnis zum Jude-Sein zurückgeworfener, der „Judenfrage“ (als Bedrängnis und Aufgabe) ausgesetzter Assimilant. In einer deutsch geprägten Pester Judenfamilie aufgewachsen, als Student in Wien Mitglied einer deutschen Verbindung(die 1883„judenrein“ wurde), a-religi- ös, dem Judentum weitgehend entfremdet, nicht ganz frei von einem weitverbreite¬ ten assimilatorischen jüdischen Selbsthaß, Pariser Korrespondent und dann - Traum vieler Wiener Literaten! - Feuilletonredakteur der deutsch-„jüdischen“ Zeitung der Monarchie, der „Neuen Freien Presse“, begann in ihm - um eine lange, komplexe Entwicklung in wenigen Stichworten wenigstens anzudeuten - ange¬ sichts des zunehmenden Judenhasses in Frankreich und Österreich die „Judenfra¬ ge“ zu schwären. Er reagierte zunächst mit kraß assimilatorischen„Lösungs“-Vor- schlägen(u.a.: freiwillige, feierliche Massentaufe der Juden) und suchte sich dann

I Auf eine nähere biographische Befassung mit Herzl muß hier (aus Raumgründen) und darf hier(nach dem Konzept der Arbeit und angesichts der beträchtlichen Herzl-Literatur) verzichtet werden. Unbedingt zu verweisen ist aber auf die bisher dreibändige Ausgabe der „Briefe und Tagebücher“ (hrsg. v. A. Bein u.a.), Berlin, Frankfurta. M., Wien 1983- 1985, und vor allem auf die den beiden ersten Bänden vorangestellten „Einführungen“ (A. Bein). In dieser Arbeit kann es lediglich darum gehen, Theodor Herzl in kurzen (vielleicht auch etwas vereinfachenden) Charakterisierungenin den von der „Einleitung“ angedeuteten Gesamtzusammenhang zu stellen. Kernerfahrung: Judennot 83 des ihn immer stärker bedrängenden „Themas“ literarisch zu entledigen (Drama „Das neue Ghetto“; Plan eines „Judenromans“). Schließlich brach im Sommer 1895- eruptiv, unter heftigsten Erschütterungen, als eine riesenhafte Vision- die Lösung der „Judenfrage“ aus ihm hervor - der „Judenstaat“: „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzuge¬ hen . . . Man läßt es nicht zu . . . Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. . . . Die Judenfrage besteht überall, wo die Juden in merklicher Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden eingeschleppt. . . . Ich halte die J udenfrage weder für eine soziale, noch für eine religiöse. . . Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird. . . . Wir sind ein Volk , ein Volk. . . . Der ganze Plan ist in seiner Grundform unendlich einfach . . . Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen . . .“2) Daraus wurde in kurzer Zeit ein knappes, einprägsames zionistisches Programm: „Wir wollen dem jüdischen Volke eine rechtlich gesicherte Heimstätte bereiten, in seiner alten Heimat Palästina. Das halten wir für die endgültige Lösung der Judenfrage ?‘3) Es entstand jener „Herzl -Zionismus “, den man (vereinfachend ) mit folgenden Stich Worten skizzieren und abgrenzen könnte: drei Kernelemente - „Judennot“ („Judenfrage“), „Volk“ und „Heimstätte“; zwei Methoden: Politik (Diplomatie) und Organisation (Diplomatie, gestützt auf - und legitimiert durch - eine organisierte jüdische Massenbasis); zwei Einseitigkeiten: weitgehende Veren¬ gung des Zionismus auf das Formal-Politische (unter Außerachtlassung aller geistig-kulturellen Elemente) und Fixiertsein auf eine politische „Nah-Erwartung“ (unter Verzicht auf Gegenwartsarbeit in Palästina und in der Diaspora).

I. KERNERFAHRUNG : JUDENNOT

Dabei erlebte, verstand, dachte und bedachte Theodor Herzl „Zionismus“, „Volk“ und „Heimstätte“ nahezu ausschließlich von der Kernerfahrung „Juden- not “ her: 1. Die Zionisten sind „nur von der Judennot ausgegangen“,4) Zionismus ist für Herzl im wesentlichen (reaktiver, postassimilatorischer) „Judennot“-Zionismus; die zionistische Bewegung leitet sich für ihn her aus der überall wachsenden Judenfeindschaft, aus der nahezu allgegenwärtigen, drängenden (moralischen und materiellen) „Judennot“: „In allen Ländern , wo sie in merklicher Zahl leben, werden sie (das heißt die Juden) mehr oder weniger verfolgt. . . . Die Verfolgungen haben verschiedenen Charakter nach Ländern und Gesellschaftskreisen. . . Aber: „Ich glaube, der Druck ist überall vorhanden.“5)

2 Th. Herzls zionistische Schriften , Berlin 1920, S. 26ff. 3 Die Welt, Jg. 1899, Nr. 26, S. 2. 4 Th. Herzl : Briefe und Tagebücher . Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 3, Berlin, Frankfurt a. M., Wien 1985, S. 656 (Tagebucheintragung vom 26. 1. 1904). 5 Th. Herzls zionistische Schriften , Berlin 1920, S. 254. 84 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung Herzl identifizierte dabei in hohem Maße sein persönliches Schicksal (als „Jude“) mit dem seines Volkes:6) Er selbst wußte sich als nur unter dem Druck und Eindruck der „Judennot“ zum bewußten Jude-Sein zurückgekehrt7) und Zionist geworden und sah in dieser seiner Bekehrung ein „Modell“: „Ich glaube, ich wußte vorher gar nicht mehr, daß ich ein Jude war.“ Der Antisemitismus „wirkte auf mich, wie wenn ich einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Und so ist es wohl manchem westlichen Juden ergangen, der sein Volkstum schon völlig vergessen hatte: die Antisemiten haben es in ihm wieder aufgeweckt“.8) „Die Judenfrage ist leider wirklich vorhanden, und wer sie am Leib und an der Seele erfahren hat, der wird den Schmerz nie wieder los. Und in solcher Lage befinden sich die meisten Juden der Welt.“9) 2. Die „Judennot“ hat nicht nur die zionistische Bewegung erzeugt, sie nährt und stärkt sie auch unaufhörlich, sie bewirkt und garantiert ihr weiteres Anwach¬ sen („. . . unsere Kraft wächst mit dem Druck, der auf uns ausgeübt wird . . .“I0)); sie ist für Herzl der „überall vorhandene Druck“ 11) auf die Juden, den Zionismus als einzige noch mögliche(dafür aber auch endgültige) Rettung anzuerkennen, und alle antisemitischen Übergriffe sind die „leider zahlreichen Beweise für die Notwendigkeit (auch: die Not-wendigkeit) des Zionismus“.12) „. . . mein Plan (basiert auf der) Verwendung einer in der Natur vorkommenden Treibkraft. Was- ist diese Kraft? Die Judennot !“13) 3. Die „Judennot“, die Angriffe, der Haß, die Feinde machen die Juden wieder zu einem Volk , re-konstituieren das jüdische Volk . „Vielleicht könnten wir überall in den uns umgebenden Völkern spurlos aufgehen, wenn man uns nur zwei Generationen hindurch in Ruhe ließe. Man wird uns nicht in Ruhe lassen. . . . So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. Wir sind ein Volk -der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu . . .“14) Und so definiert Herzl denn auch die „Nation“ im allgemeinen und die jüdische Nation im besonderen als „eine historische Gruppe Menschen von erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wird“ 15) - „das sind wir, ob wir es leugnen oder nicht,

6 M. Buber schrieb in diesem Zusammenhang über Pinsker und Herzl: „Beiden ist die Geschichte die Geschichte ihrer selbst , das heißt die Geschichte ihres Volkes ist ihnen im wesentlichen nur in der Gestalt des Judenhasses, also in der Gestalt der ,Anderen Seite1 entgegengetreten; die eine Seite, ihre eigene Seite, ist ihnen kaum zum inneren Besitz geworden . . .“M( . Buber, Israel und Palästina, München 1968, S. 128). 7 Frühes Gespräch mit Nordau in : „Auch darin waren Nordau und ich einig, daß uns nur der Antisemitismus zu Juden gemacht habe“ (Tagebucheintragungvom 6.7. 1895. Th. Herzl : Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 2, Berlin, Frankfurta. M., Wien 1984, S. 210). 8 Th . Herzls Zionistische Schriften , Berlin 1920, S. 256 f. 9 Ebenda, S. 151. 10 Ebenda, S. 23. 11 Ebenda, S. 33. 12 Ebenda, S. 219. 13 Ebenda, S. 23. 14 Ebenda, S. 38. 15 Ebenda, S. 152. Judenfrage- politische Weltfrage 85 ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht“:16) „Wir sind eine Nation.“17) 4. Die Allgegenwart und Unabsehbarkeit der „Judennot“ verlangt eine radikale und endgültige Lösung der Judenfrage: Die in der Bedrängnis wieder Volk werdenden (gewordenen) Juden müssen eine gesicherte „Heimstätte“ bekom¬ men. Die Juden brauchen zu ihrer Rettung „eine Heimat, ein Land, das ihnen völkerrechtlich gehört“.18) Die angestrebte „Heimstätte“ sollte also nicht nur eine ausreichend große, sondern vor allem eine ausreichend gesicherte, eine „völker¬ rechtlich gesicherte“ („durch einen Charter“) sein: Das „erste Ziel“ der zionisti¬ schen Bewegung mußte die „völkerrechtlich gesicherte Souveränität auf einem für unsere gerechten Bedürfnisse ausreichenden Landstrich“ 19) sein; erst dann (und nur dann) durfte und sollte die Auswanderungsbewegungund der Aufbau der Heimstätte beginnen.

II. JUDENFRAGE - POLITISCHE WELTFRAGE

Der methodische Kerngedanke Herzls, jener Gedanke, mit dem er die zionistische Bewegung(von deren Existenz er bei der Niederschrift des „Juden¬ staat“ noch keine Ahnung hatte) aus ihrer bisherigen Enge hinausführte und ihr einen „Zug ins Große“ 20) gab, war also: „Einem Volke kann man nicht philanthropisch helfen, sondern einzig und allein politisch .“18) Die Lösung der Judenfrage in Gestalt einer „völkerrechtlich“ (oder „öffentlich-rechtlich“) gesi¬ cherten Heimstätte war nur mit den Mitteln und auf den Wegen der „großen“ Politik, der internationalen (Geheim-)Diplomatie zu erreichen. Herzl (sich von den bisherigen Methoden des Zionismus distanzierend): „Mein Programm ist viel¬ mehr: Sistierung der Infiltration und Konzentration aller Kräfte auf die völker¬ rechtliche Erwerbung Palästinas. Hiezu sind nötig diplomatische Verhandlungen, die ich schon begonnen habe . . ,“21) Die Judenfrage mußte zu einer „politischen Weltfrage“ 22) gemacht werden, das heißt, der Welt, den Herrschern, den Regierungen mußte bewußt gemacht, mußte eingehämmert werden, daß es sich bei der „Judenfrage“ tatsächlich und unaus¬ weichlich um eine „politische Weltfrage“ handelte und daß es für diese„Weltfrage“ nur eine wirksame Lösung gab - die zionistische. Das bedeutete im einzelnen:

16 Ebenda, S. 103. 17 Ebenda, S. 114. - Auf dem ersten Zionistenkongreß in Basel war es dann - nach dem „Erweckungser¬ lebnis“ in Paris- das für Herzl erschütterndsteErlebnis, diese Nation, dieses jüdische Volk leibhaftig vor sich zu sehen - lebendiger als er es sich hatte vorstellen können: „zweihundert Vertreter von Vereinen aus der ganzen Welt . . . erklärten schluchzend und jauchzend, daß es noch immer ein jüdisches Volk gebe, daß dieses Volk nicht untergegangen ist und nicht untergehen will.“ (Ebenda, S. 261.) 18 Ebenda, S. 92 f. 19 Ebenda, S. 76. 20 A. Böhm, Die zionistische Bewegung, Berlin 1920, Bd. 1, S. 108. 21 H. H. Bodenheimer , Im Anfang der zionistischen Bewegung, Frankfurta. M. 1965, S. 20. 22 Th . Herzls zionistische Schriften , Berlin 1920, S. 27. 86 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung 1. Die zionistische Bewegung mußte - in totaler Abkehr vom bisherigen Verhalten der Chowewe-Zion - vor die Öffentlichkeit treten , mußte die „öffentliche Meinung“ mit allen Mitteln auf sich aufmerksam machen. Darin lag für Herzl einer der Hauptgründe für die Einberufung des Zionistenkongresses: der zionistischen Bewegung„den Charakter der vollsten Öffentlichkeit“ zu geben, 23) den „Zionsgedanken vor aller Welt“ auszusprechen. 24) 2. Der Welt mußte deutlich gemacht werden, daß die Lösung der Judenfrage nicht nur im Interesse der Juden, sondern im Interesse aller „Kulturvölker“, aller Staaten und Mächte liege, 25) wobei es wiederum um ein Dreifaches ging: a) Die Türkei mußte überzeugt werden, daß ihr aus der Übergabe Palästinas an die Juden „ungeheure Vorteile“ 26) erwachsen würden - einerseits, indem man ihr die Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen in Aussicht stellte, andererseits, indem man auf den zu erwartenden „modernen wirtschaftlichen Aufschwung“ 26) im Gefolge des Einströmens des jüdischen Elementes hinwies. b) Den politisch im Vorderen Orient engagierten europäischen Mächten mußte klargemacht werden, daß durch eine solche finanzielle und wirtschaftliche Sanierung des immer wieder gefährliche politische Krisen auslösenden „kranken Mannes“ am Bosporus ein sie unmittelbar berührendes weltpolitisches Problem ersten Ranges entschärft werden könnte: Der Zionismus „löst zugleich mit der Judenfrage ein Stück Orientfrage “. 27) c) Die europäischen Herrscher und Regierungen mußten zu der Einsicht gebracht werden, daß der Zionismus- und nur er - sie von den immer gefährlicher werdenden inneren sozialen Konfliktstoffen rund um die „Judenfrage“ befreien konnte: „Von weitblickenden Staatsmännern darf vielleicht erwartet werden, daß sie die ganze Gesellschaftsgefahr erkennen, die in der ungelösten Judenfrage liegt.“28) 3. Das (sichtbar gemachte und organisierte) jüdische Volk mußte durch seine Vertreter mit Herrschern und Regierungen in diplomatische Verhandlungen eintreten: a) Mit der Türkei über die Überlassung Palästinas und den Preis dafür; b) mit den Regierungen europäischer Staaten: um sie mit den Zielen des Zionismus vertraut zu machen und diesem ganz allgemein ihr Wohlwollen zu sichern; um sie zu diplomatischen Interventionen bei der türkischen Regierung im Sinne der zionistischen Ziele zu bewegen; um von ihnen gegebenenfalls die Übernahme eines„Protektorates“ über ein jüdisches Palästina zu erlangen; um von ihnen (sollte sich Konstantinopel als völlig unzugänglich erweisen) nötigenfalls die Überlassung von Gebieten außerhalb Palästinas zu erwirken.

23 Ebenda , S. 162. 24 Ebenda , S. 148. 25 „Der Judenstaat ist ein Weltbedürfnis , folglich wird er entstehen “ (Ebenda , S. 24). 26 Ebenda , S. 246 f. 27 Ebenda , S. 142. 28 Ebenda , S. 219. Judenfrage- politische Weltfrage 87 Genau in diesem Rahmen bewegten sich Herzls diplomatische Bemühungen zwischen April 1896(erste Unterredung mit dem Großherzog von Baden) und seinem Tod Anfang Juli 1904, die man (stark vereinfachend) als eine Kette enttäuschter Hoffnungen zusammenfassen kann: l. die „deutsche Hoffnung“ (wobei es Herzl einerseits um eine deutsche Einflußnahme auf den Sultan und andererseits um die Übernahme eines „Protektorates“ durch den deutschen Kaiser ging; die Bemühungen kulminierten im Herbst 1898: Unterredungen mit dem deutschen Gesandten in Wien, Fürst Eulenburg, dem deutschen Außenminister, von Bülow, dem Reichskanzler Fürst Hohenlohe und schließlich die beiden Audienzen beim deutschen Kaiser (auf dessen Türkeireise) in Konstantinopel (18. Oktober 1898) und in Jerusalem am 2. November 1898; das Ergebnis: der deutsche Kaiser, der sich zunächst vor allem für den Protektoratsgedanken erwärmt hatte, lehnte letztlich - angesichts der schroff ablehnenden Haltung des Sultans und unter dem Einfluß Bülows und Hohenlohes - jede pro-zionistische Intervention ab); 2. die „türkische Hoffnung“ 1901/02 (Herzls Werben um Konstantinopel begann mit einer ersten Konstantinopelreise und intensiven Gesprächen mit Vertrauten des Sultans im Sommer 1896 und gipfelte in den beiden Audienzen beim Sultan [18. Mai 1901 und 15. Februar 1902] und den sich daran knüpfenden politisch-finanziellen Verhandlungen mit hohen türkischen Politi¬ kern; nicht zuletzt die für Herzl unannehmbaren Angebote des Sultans [kleine, zerstreute jüdische Siedlungen im türkischen Reich - aber alle außerhalb Palästi¬ nas] ließen die Kontakte scheitern); 3. die „englische Hoffnung“ (Herzl erlangte die prinzipielle Zustimmung des englischen Kolonialministers Chamberlain und des Außenministers Lord Landsdowne zu einem jüdischen Siedlungsprojekt auf der Sinai-Halbinsel [El-Arisch], verhandelte in Kairo mit dem einflußreichen britischen Generalkonsul, Lord Cromer, und dem ägyptischen Premierminister Boutros Ghali und entsandte eine zionistische Expertenkommission nach El- Arisch; das Projekt scheiterte[Mai 1903] am Widerstand Lord Cromers und an der Frage des für die Bewässerung benötigten Nilwassers; am 14. August 1903 bot England den Juden eine Siedlung in Ostafrika an, Herzl legte diesen sogenannten „Uganda“-Plan dem 6. Zionistenkongreß vor, fand aber keine Mehrheit für eine Siedlung außerhalb Palästinas und mußte das englische Angebot ablehnen).29) Theodor Herzl starb am 5. Juli 1904 in Edlach an der Rax als ein Gescheiter¬ ter : Seine „Politik“ hatte die bedrängten Juden der „Heimstätte“, der gesicherten Heimat allem Anschein nach keinen Schritt näher gebracht. Und doch sollte das wenige(für Herzls Ungeduld und Sorge allzu wenige), das seine diplomatischen Aktivitäten bewirkt hatten und das darin bestand, die internationale Politik mit dem Zionismus vertraut gemacht zu haben, einen wichtigen Grundstein für den künftigen Staat der Juden abgeben: Der Weg zur Balfour-Deklaration von 1917

29 Abgesehen von Deutschen, Türken und Engländern zählten zu Herzls „Gesprächspartnern“ u.a. Fürst Ferdinand I. von Bulgarien, der russische Finanzminister Witte, der russische Innenminister Plehwe, der päpstliche Staatssekretär Merry del Val, der italienische König, der Papst (der Herzl feindselig-missionarisch entgegentritt), der italienische AußenministerTittoni und der österreichisch¬ ungarische Außenminister Goluchowski. 88 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung („Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“) nahm seinen Anfang bei Herzls ersten Gesprächen mit bedeutenden englischen Politikern. 45 Jahre nach seinem Tod konnte Herzl in den „Judenstaat“ „heimkehren“: Im Jahre 1949 wurden seine sterblichen Überreste von Wien nach Israel geflogen und auf dem Mount Herzl beigesetzt.

III. ZIONISTISCHE ORGANISATION

Herzls Politik und Diplomatie bedurfte des legitimierenden Hintergrundes in Gestalt einer Organisation des jüdischen Volkes. Gegen erbitterte Widerstände der assimilierten jüdischen Oberschichte(von den Millionären über die „Intellek¬ tuellen“ bis zu den Kultusvorständen und Rabbinern), gegen Widerstände und Mißverständnisse auch innerhalb der bestehenden zionistischen Gruppen und nach langwierigen Vorbesprechungen und Vorarbeiten brachte Herzl schließlich den ersten Zionistenkongreß zuwege, der vom 29. bis 31. August 1897 in Basel tagte. Die 197 Delegierten aus 16 Ländern (darunter die meisten Führer der östlichen Chowewe-Zion) einigten sich auf ein provisorisches Statut einer zionistischen Weltorganisation und auf ein verpflichtendes zionistisches Pro¬ gramm. Letzteres, das ab nun sogenannte „Baseler Programm“ des Weltzionismus, hatte folgenden Wortlaut: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“ Diesem Kernsatz wurden - nicht zuletzt um starken zionistischen Gruppen, wie den russischen Chowewe Zion, Entgegenkommen zu zeigen- folgende Ausführungsbe¬ stimmungen angefügt: „Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongreß folgende Mittel in Aussicht: l. Die zweckdienliche Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. - 2. Die Gliederung und Zusammenfassungder gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allge¬ meine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen. - 3. Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewußtseins. - 4. Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“ Das provisorische Organisationsstatut legte im wesentlichen folgendes fest: Angehöriger der zionistischen Organisation ist jeder Jude (jede Jüdin) über 18 Jahre, der (die) sich zum Baseler Programm bekennt und die Organisationssteu¬ er, den „Schekel“ (das heißt jährlich mindestens1Krone, 1Mark usw.), bezahlt; die zionistische Organisation gliedert sich in Landeskomitees, Distrikte und örtliche Vereine; ihr Hauptorgan ist der Kongreß, in den je 100(später je 200) Schekelzah¬ ler im allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht einen Delegierten wählen; der Kongreß wählt eine Gesamtleitung(Großes Aktions-Komitee) und eine Exekutive (Engeres Aktions-Komitee), deren Mitglieder in derselben Stadt wohnhaft sein mußten; Kongresse finden jedes Jahr (ab 1901 jedes zweite Jahr) statt. 30)

30 Der dritte Zionistenkongreß(1899) verabschiedete dann ein auführliches, in den folgenden Jahren nur unwesentlich verändertes Organisationsstatut. Darin heißt es einleitend: „l. Die zionistische Zionistische Organisation 89

Zum Präsidenten des Aktionskomitees wurde auf dem ersten Zionistenkongreß (und auf allen folgenden bis zu seinem Tod) Theodor Herzl gewählt; die weiteren Mitglieder des Engeren Aktions-Komitees von 1897 waren (nachdem Nathan Birnbaum die Wahl abgelehnt hatte) die Wiener Zionisten Oser Kokesch, M.T. Schnirer, Johann Kremenetzky 31) und Alexander Mintz; 32) auf dem zweiten Kongreß wurden anstelle von Mintz und Kremenetzky Leopold Kahn 33) und Oskar

Organisation umfaßt jene Juden , welche sich mit dem Programme des Zionisten -Kongresses einverstanden erklären und Schekelzahler sind . - 2. Das Hauptorgan der zionistischen Organisation ist der Kongreß , der durch die Wahl von Delegierten seitens der Wahlgruppen gebildet wird. - 3. Das Exekutivorgan des Kongresses ist das Aktions -Komitee .“ Zur „Gliederung “ wird u.a. festgelegt: „1. Die zionistische Organisation gliedert sich in Landes -Komitees und Distrikte . - 2. Die Distrikte teilen sich zum Zwecke der Agitation in Vereine und zum Zwecke der Wahl in den Kongreß in Wahlgruppen . . . . Die Distrikte umfassen die der Organisation angehörenden Zionisten eines vom Landes-Komitee festgestellten Gebietes . Jeder Distrikt hat einen von den Vereinen durch Wahl gebildeten und vom Landeskomitee bestätigten Distriktsvorstand . . . . Jedes Reich hat in der Regel ein Landes - Komitee . Aus besonderen Gründen kann das Aktions -Komitee die Bildung mehrerer Landes -Komitees für verschiedene Landesteile gestatten . . . . Das Landes -Komitee leitet die zionistische Bewegung seines Gebietes . . . Das Landes -Komitee besteht aus den Aktions-Komitee- Mitgliedern des Landes und den Vertretern der Distrikte . . . .“ Zum „Aktions-Komitee “ heißt es u.a.: „Das Exekutivorgan des Kongresses ist das von demselben für die Zeit bis zum nächsten Kongreß gewählte und nur ihm verantwortliche Aktions -Komitee , welches aus fünf in derselben Stadt domizilierenden Mitgliedern (engeres Aktions -Komitee ) und einer der Größe und Bedeutung der einzelnen Landesorganisationen entsprechenden und vom jeweiligen Kongresse festzustellenden Anzahl von Mitgliedern (großes Aktions -Komitee ) besteht . - Das engere Aktionskomitee leitet die Geschäfte der zionistischen Bewegung, ist jedoch verpflichtet , zur Beratung wichtiger Angelegenhei¬ ten, mindestens aber einmal im Jahre , außerhalb des Kongresses , das große Aktions -Komitee . . . zu einer Tagung einzuberufen . . . . Über alle Fragen , welche die Landesorganisationen berühren , kann das engere Aktions -Komitee nur im Einverständnis mit dem großen Aktions -Komitee Beschlüsse fassen. . . .“ (Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des III . Zionistenkongresses , Wien 1899, S. 253 ff.) 31 Der in Odessa geborene Johann Kremenetzky (1850- 1934) lebte nach technischen Studien in Westeuropa ab 1880 in Wien und arbeitete sich hier vom mittellosen Techniker zum wohlhabenden Fabrikanten hinauf (Pionier der Glühlampenfabrikation ; Inhaber zahlreicher Patente auf diesem Gebiet ; Gründer der ersten Glühlampenfabrik Österreichs ; Ehrenbürger der Stadt Wien und Ehrendoktor der Wiener Technik ). Kremenetzky , der zum engsten Kreis um Herzl gehörte (Herzl bestellte ihn testamentarisch zum Vormund seiner ältesten Tochter ), 1897/98 und 1901- 1905 dem engeren Aktions -Komitee angehörte , gilt als der eigentliche Begründer des „Jüdischen National¬ fonds “, den er in vielen leitenden Funktionen (Präsident , Leiter des Hauptbüros usw.) auf - und ausbauen half und nach Herzls Tod auch viele Jahre im großen A.-K. vertrat. 32 Der Wiener Rechtsanwalt Alexander Mintz , ab der Mitte der neunziger Jahre hochgeschätzter Redner des Wiener Zionismus , auf dem ersten Kongreß Mitglied des Kongreßbüros und der Programmkommission und Referent über die Lage der Juden in Österreich , wandte sich wenig später vom Zionismus ab und spielte eine führende Rolle in der „jüdischeren Richtung “ : zunächst im „Politischen Volksverein“ und dann in der „Österr .-Isr. Union “ (ab 1906 Vorstandsmitglied , ab 1907 Vizepräsident ). 33 Leopold Kahn (1859- 1909), der einer orthodoxen galizisch-jüdischen Familie entstammte und die Jugendjahre im Beth-Hamidrasch verbrachte , holte mit 18 Jahren das Gymnasium nach , studierte an der Wiener Universität und ließ sich in Wien als Advokat nieder . Kahn , der sich 1896/97 Herzl anschloß , vereinigte also (wie kaum jemand sonst in Herzls engerer Umgebung ) traditionelles jüdisches Wissen mit moderner Bildung und juristischen Fachkenntnissen und wurde zu einem der wichtigsten Berater Herzls . Er gehörte vom zweiten bis zum siebenten Kongreß (1898- 1905) dem engeren A.-K. an, fungierte 1905 als Herausgeber der „Welt“ und war in Westösterreich einer der 90 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung

Marmorek 34) gewählt; als Schnirer auf dem fünften Kongreß auf eine Wiederwahl verzichtete, kehrte Kremenetzky in die Exekutive zurück. Im Rahmen der jüdischen Gesamtgeschichtekönnte man diesen ersten Zioni¬ stenkongreß vom August 1897 als den ersten Akt politischer Willensäußerungdes jüdischen Volkes nach fast 2.000 Jahren politischer Nichtexistenz und als den Ansatz zur größten Wendung der jüdischen Geschichte seit den Tagen des Römerreiches bewerten. Herzl selbst ersah ihn als Grundsteinlegung des jüdischen Staates: „ . . . in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“35) Zunächst aber blieb die vom Kongreß geschaffene zionistische Organisation der sichtbarste und größte Erfolg der acht mühsamen „zionistischen Jahre“ des Theodor Herzl.

IV. VON DER ANGST GETRIEBEN . . .

Martin Buber: „Theodor Herzls Größe“ war, „wie alle Größe, das Werk eines Mangels, . . . eines elementaren Mangels “. 36) Der „herrschenden“ Zionismus-Konzeption Theodor Herzls standen „opposi¬ tionelle“ Zionismus-Entwürfe größerer und kleinerer Gruppen („Demokratische Fraktion“, „Kulturzionisten“ usw.) gegenüber, die nach Korrekturen, Erweiterun¬ gen und Vertiefungen des „politischen“ „Mangel“-Zionismus Herzlscher Prägung in allen wesentlichen Bereichen(Palästina-Aufbau, Galuth-Bewertung, Charakter des Judenstaates, zionistische Organisation usw.) verlangten:

eifrigsten und wirkungsvollsten zionistischen Agitatoren : 1899 Mitbegründer des „Allgemeinen hebräischen Sprachvereins “ in Wien, 1902 und 1904 Kandidat bei den Wiener Kultuswahlen, unermüdlicher Agitationsreisender durch Böhmen , Mähren und Niederösterreich (wobei ihn häufig seine Frau , Sidonie Kahn , begleitete , die als Gründerin und langjährige Präsidentin des „I. Zionisti¬ schen Frauenvereins “ in Wien eine Pionierrolle in der zionistischen Frauenbewegung Zisleithaniens spielte) u.ä.m. Nach Herzls Tod wurde Kahn , der sich gegen die Wendung zur „Landespolitik “ (1906) und die zionistischen Reichsratskandidaturen von 1907 aussprach , von den radikalen Wiener Jung -Zionisten beiseite gedrängt. 34 Der aus dem galizischen Skala stammende Architekt Oskar Marmorek 1863( - 1909), ein enger Herzl-Gefolgsmann , gehörte 1898- 1905 dem engeren A.-K. an, war Mitarbeiter der „Welt“, Mitglied der zionistischen El-Arish-Expedition , in Wien Sprecher (und Kandidat ) der Zionisten in ihren ersten Kultuswahlkämpfen , wurde 1904 im Kompromißwege in den Wiener Kultusvorstand und im selben Jahr in den Vorstand des von ihm (in Zusammenarbeit mit Assimilanten ) mitbegründeten „Jüdischen Kolonisationsvereins “ gewählt und war spätestens ab 1906 die Hauptzielscheibe radikaler jung -zioni¬ stischer Angriffe. 35 Aus Basel nach Wien zurückgekehrt , notierte er in seinem Tagebuch (Th. Herzl : Briefe und Tagebücher . Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 2, Berlin, Frankfurt a. M., Wien 1984, S. 538f.) die berühmt gewordene Prophezeihung : „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen - das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen - so ist es dieses : in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten . Vielleicht in fünf Jahren , jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen .“ 50 Jahre und drei Monate später beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Gründung des Staates Israel. 36 M. Buber , Die jüdische Bewegung I, Berlin 1920, S. 198 f. Von der Angst getrieben . . . 91

„Politischer“ Zionismus oder „praktischer“ Zionismus: Herzls ganzes Sinnen und Trachten war auf den raschen politischen Erfolg - „unsere gesicherte Souveränität“ 37) - gerichtet. Vor diesem Erfolg sollte es keine Besiedlung, keine „Infiltration“, keine praktische Arbeit im Lande geben. In der harten Formulie¬ rung eines engen Herzl-Mitarbeiters: „Keinen Mann und keinen Groschen für dieses Land, ehe uns das Minimum von Privilegien gewährleistet ist.“38) Dem politischen Erfolg sollte eine rasche, großangelegte, mit allen Mitteln moder¬ nen Transportwesens und moderner Technik durchgeführte Besiedlungsaktion folgen. Östliche Chowewe Zion, Kulturzionisten und andere Oppositionelle wollten Herzls Streben nach einem politischen Erfolg weitere praktische Kolonisa¬ tionstätigkeit in Palästina an die Seite stellen und hielten seinem - für sie utopischen - Plan einer abrupten Besiedlung Palästinas nach Erlangung der rechtlichen Sicherheiten ihre Überzeugung von der notwendigen „Evolution“ im Lande selbst entgegen: langsam aufbauende Schaffung von jüdischen Tatsachen im Lande, langsame und bescheidene Arbeit, da die „wahrhafte Gewinnung des Landes nur auf dem Wege positiver Arbeit in Palästina geschehen kann“.39) „Negation des Galuth“ oder „Gegenwartsarbeit“ im Galuth: Für Herzl hatte der Galuth vor der Staatsgründung nur eine negative Bedeutung (hier ist eine erträgliche jüdische Existenz- gar eine jüdische Volksexistenz- völlig unmöglich, hier ist also eine Lösung der Judenfrage unmöglich, hier ist jede „Gegenwartsar¬ beit“,jede Arbeit für eine Verbesserung der jüdischen Situation sinnlose Kraftver¬ geudung; Galuth ist nur etwas, das man in Kürze verlassen wird), nach der Staatsgründung gar keine Bedeutung (die Schaffung des Judenstaates bedeutet - als endgültige und vollständige Lösung der Judenfrage - das Ende, das Verlöschen der Diaspora). Gegenstimmen(die mit dem Ausbleiben des politischen Erfolges immer lauter wurden) verlangten nationale Arbeit schon hier und jetzt, Nationalisierung und Erziehung des Volkes vor der Staatsgründung, statt untätiger politischer Nah-Er- wartung aktiven Zionismus des täglichen Lebens, praktische Konsequenzen aus dem wiedergewonnenen Volksbewußtsein schon hier und jetzt (als geistig-kulturel¬ le, wirtschaftliche und national-politische Gegenwartsarbeit) und vertraten die Überzeugung, auch nach der Staatsgründung werde, ja müsse die Diaspora (eine durch innere Arbeit und das Bestehen eines jüdischen Staates völlig verwandelte Diaspora) weiterbestehen. „Modernität“ oder „Kontinuität“: Herzls „Judenstaat“ war kein „jüdischer“ Staat, sondern ein moderner Staat, ein Gebilde aus Zweckmäßigkeitund Tech¬ nik. 40) „Es ist töricht, auf alte Kulturstufen zurückzukehren, wie es manche Zionisten

37 Th. Herzls zionistische Schriften , Berlin 1920, S. 41. 38 M. Bodenheimer , zit. in : W. Laqueur , Der Weg zum Staat Israel , Wien 1975, S. 156. 39 H. Kohn , Martin Buber, Köln 1961, S. 50. 40 Manchmal wird der Eindruck übermächtig , Herzls ganzer Zionismus stehe lediglich auf zwei Säulen - dem Wissen um die „Judennot “ und dem Glauben an die Technik : „Zwei Erscheinungen fesseln unsere Aufmerksamkeit . . . : die hohe Kultur und die tiefe Barbarei unserer Zeit. . . . Unter 92 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung möchten.. . . wir bauen, wie man es jetzt tut . . .“41) Mochte der Grundgedanke des Zionismus auch „alt und einfach“ sein - die „Ausführung“ mußte „modern“ sein, 42) die Bewegung als solche „eine völlig moderne“, dem neuen Reichtum der Menschheit „an Verkehrsmitteln und technischen Errungenschaften“ verpflich¬ tete: 43) „Mit dem Dampf und der Elektrizität ist ein neuer Geist herrisch, herr¬ lich in die Welt eingezogen. Dieser Geist soll über der zionistischen Bewegung schweben ,“ 44) Stärker der jüdischen Geschichte und Tradition verhaftete Zionisten dachten mehr an einen „jüdischen Geist“ über der zionistischen Bewegung, an jüdisch¬ kulturelle, jüdisch-geistige Geschichtskontinuität, an einen auf jüdischen Kul¬ turwerten aufruhenden Zionismus und einen von jüdischer Kultur geprägten Staat. 45) „Judenheit“ oder „Judentum“: War der Zionismus eine Bewegung zur Rettung der „Judenheit“ aus der „Judennot“ (als „Judenheits-Not“), wie Herzl ihn verstand, also zur Rettung der Juden als Menschen unter (notwendiger) Auslöschung der jüdischen Sonderheit? Oder war er (auch) eine Bewegung zur Rettung des „Judentums“ (als einer geistigen Wesenheit) aus der „jüdischen Krise“ der Neuzeit(als „Judentums-Krise“), also zur Rettung der Juden als Juden unter Hegung und Erneuerung der jüdischen Sonderheit? Bei alledem darf eines nicht übersehen werden: Herzls ganz spezifisches zionistisches Denken und Wollen entstammte nicht nur - wie manche Gegner meinten - einem „elementaren Mangel“ (also seiner westjüdisch-assimilatorischen Herkunft und seiner modern-westeuropäischen, wissenschaftlich-technisch-fort¬ schrittsgläubigen Prägung), sondern auch einer abgrundtiefen Angst, die er gewissermaßen seinen innerzionistischenKritikern „voraus“ hatte. Herzl war nicht nur ein Zionist der Judennot, er war ein Gehetzter der Judennot. Seine hektischen Bemühungen standen unter der Peitsche zweier Sätze: „Es muss ärger kommen- es wird ärger kommen.“46) „Es muss ärger kommen“: Der Druck auf die Juden mußte wachsen, damit die zionistische Bewegung jene Stärke bekam, die sie zur Erreichung ihres Zieles brauchte. „Es wird ärger kommen“: Der Haß „wächst und wächst“,47) die Gefahren für die Juden wurden immer größer. „Es muss ärger kommen- es wird ärger kommen“: Es galt, mit Hilfe des Antriebes„Judennot“ das

hoher Kultur verstehe ich die wunderbaren Errungenschaften der Technik . . . ; unter der tiefen Barbarei verstehe ich den Antisemitismus“ (Th. Herzls zionistische Schriften, Berlin 1920, S. 361f.). 41 Ebenda, S. 40. 42 Ebenda, S. 159. 43 Ebenda, S. 224. 44 Ebenda, S. 247. 45 Wenn Herzl, der den „jüdischen“ Kulturbestrebungenverständnislos bis abweisend gegenüberstand, von „Kultur“ sprach, so trennten ihn Abgründe von solchen „Kultur“-Zionisten : „An dem Tage, wo wir das Land, das wir brauchen, ergreifen, werden wir es jäh (!) mit Kultur bedecken , mit Bahnen, Telegraphen, Telephonen, Fabriken, Maschinen und vor allem mit jenen sozialen Reformen, nach denen heute jeder gesittete Mensch . . . heiß verlangt . . .“Ebenda( , S. 158). 46 „Es muss ärger kommen, es wird ärger kommen“ (Tagebucheintragung vom 24.3. 1897. Th. Herzl: Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 2, Berlin, Frankfurta. M., Wien 1984, S. 495). 47 Th. Herzls zionistische Schriften, Berlin 1920, S. 86. Von der Angst getrieben . . . 93 rettende Ziel zu erreichen, bevor die Gefahr zu groß und der Haß tödlich wurde; es galt, einen gefährlichen Wettlauf zu gewinnen(in den hinein noch ein verzweifelter zweiter verwoben war: Herzls persönlicher Wettlauf mit der Krankheit, mit dem kurzen Leben). „Seine rastlose Tätigkeit hatte etwas Verzweifeltes. . .“48) In Theodor Herzl rumorte ein furchtbares „Wissen“ um die tödlichen Gefahren, die auf die europäischen Juden zukamen, um den unaufhaltsamen Abstieg in die Katastrophe: „Wenn mich Jemand fragt, woher ich das weiss, so werde ich ihm sagen, dass ich auch weiss, wo ein Stein endlich ankommt, der über eine schiefe Ebene rollt: nämlich ganz unten. . . . Wir müssen also schliesslich unten ankom¬ men, ganz unten. Wie das aussehen wird, welche Formen man ihm geben wird, das kann ich nicht ahnen. Wird es eine revolutionäre Expropriation von unten, wird es eine reactionäre Confiscation von oben sein? Wird man uns verjagen ?Wird man uns erschlagen ? Ich vermuthe ungefähr, dass es alle diese und noch andere Formen haben wird. . . . In Russland wird man einfach von oben herab conßscieren. In Deutschland wird man Ausnahmegesetze machen . . . In Österreich wird man sich vom Wiener Pöbel einschüchtern lassen und die Juden aus liefern .“49) Immer besorgter registrierte er die Gefahrensignale, das Rauschen der steigenden Flut: den zunehmenden Antisemitismus in Frankreich, den siegreichen Antisemi¬ tismus in Wien, die Ausschreitungen von 1897 in Galizien, „Polna“ und die Folgen in Böhmen (1899), die rumänische Flüchtlingswelle von 1900(seine Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber den flehenden Briefen rumänischer Juden demütigte und quälte ihn und hetzte ihn weiter) und schließlich Kischinew(1903), das ihm seine furchtbaren Ängste bestätigte. 50) Immer verzweifelter suchte er nach einer Lösung- ehe es zu spät war. „Uganda“ war auch eine Verzweiflungsaktion. Joseph Chamberlain rief er zu: „I must bring them an immediate help!“51) „Wir müssen eine Antwort auf Kischinew geben“ und : „Kischinew ist nicht zu Ende“.52) Er arbeitete und suchte, bis er zusammenbrach. „Von Hustenanfällengeschüttelt, Blut spuckend, setzte er seinen Kampf fort.“53) „Es ist bitterer Ernst . . . wir haben keine Zeit zu verlieren.“54) Am 3. Juli 1904, um fünf Uhr nachmittags, war der Kampf zu Ende. Herzl hatte seinen Wettlauf verloren - der Zionismus insgesamt sollte ihn in furchtbarer Weise auch verlieren. (Herzls jüngere Tochter Trude beispielsweise starb am 15. März 1943 im Lager Theresienstadt.)

48 A. Elon : Morgen in Jerusalem, Wien, München, Zürich 1975, S. 403. 49 „Rede an die Rothschilds“ (13.6. 1895). Th. Herzl : Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 2, Berlin, Frankfurta. M., Wien 1984, S. 154- 155. 50 Herzl teilte Bodenheimers Sorge angesichts Kischinews: „Sorgen wir, daß wir unser Ziel erreichen, ehe der Zeitpunkt eintritt, wo wir nach Leichensteinen die Städte bezeichnen , wo einst unsere jüdischen Brüder für ihr Volkstum und ihre Religion gestritten und gelitten haben“ (H. H. Bodenheimer : Im Anfang der zionistischen Bewegung, Frankfurta. M. 1965, S. 257). 51 Tagebucheintragungvom 23. 10. 1902. Th. Herzl : Briefe und Tagebücher. Hrsg. v. A. Bein u.a., Bd. 3, Berlin, Frankfurta. M., Wien 1985, S. 464. 52 Zit . in : M. Buber : Israel und Palästina , München 1968, S. 143. 53 A. Eban: Dies ist mein Volk, München, Zürich 1974, S. 270. 54 Zit. Ebenda, S. 269. 94 Theodor Herzl - Die zionistische Weltbewegung V. PROZESS DER NATIONSWERDUNG

An Herzls Grab stand der Zionismus vor einer Fülle von offenen Fragen, die sich in groben Zügen um zwei Stichworte gruppieren lassen: „Palästina“ und „Galuth“. 1. Palästina: In der Territoriumsfrage standen einander „Zione Zion“ (eine jüdische Heimstätte darf einzig und allein in Palästina errichtet werden) und „Territoriaiisten“ (ein jüdischer Staat darf,ja muß überall dort errichtet werden, wo ein geeignetes Territorium erlangt werden kann), in der Methodenfrage „Prakti¬ sche Zionisten“ (das Wichtigste ist die praktische Arbeit in Palästina) und „Politische Zionisten“ (die völkerrechtliche Sicherung des Landes hat absoluten Vorrang) gegenüber. Da einerseits die radikalen Territoriaiisten die zionistische Organisation auf dem 7. Kongreß (1905) verließen, andererseits „Zione Zion“ und „Praktische Zionisten“ weitgehend identisch waren, reduzierten sich die Auseinan¬ dersetzungen in der „Palästina“-Frage auf einen Machtkampf zwischen „Prakti¬ schen“ und „Politischen“, der zwischen dem 7. und dem 10. Zionistenkongreß, also zwischen 1905 und 1911, ausgetragen wurde: 1905 endete die Dominanz der „Politischen“; im folgenden Jahrfünft verteidigten die „Politischen“ die formale Führung der Weltorganisation gegen wachsende „praktische“ Mehrheiten und unter Hinnahme weitreichender „praktischer“ Beschlüsse; im Jahre 1911 schließlich ging die Leitung der Weltorganisationin die Hände der „Praktischen“ über. Der 7. Kongreß (Basel, 27. Juli bis 2. August 1905), der erste ohne Herzl, stand völlig im Zeichen Palästinas. Nach einer ungeheuer erregten Debatte wurde das britische Ostafrika-Angebot („Uganda“) abgelehnt und allen „territorialistischen“ Neigungen und Versuchungen eine eindeutige Absage erteilt. 55) Die nach hartem Ringen zur „praktischen Palästinaarbeit“ gefaßten Beschlüsse sind ein Spiegelbild der Machtverhältnisse: 56) „Der 7. Zionistenkongreß beschließt, daß parallel mit der politisch-diplomatischenTätigkeit, als reale Unterlage und zur Stärkung derselben, entsprechend dem Punkt 1 des Baseler Programmes, die systematische Ausgestal¬ tung unserer Position in Palästina erfolgen müsse . . ,“57) Aber: „Der 7. Kongreß lehnt jede planlose, unsystematische und philanthropische Kleinkolonisation. . . ab.“57) Bereits der 8. Kongreß brachte dann Entscheidungen, die als die eigentlichen Startsignale für die praktische Palästinaarbeit zu werten sind: Schaffung eines Palästina-Ressorts im Engeren Aktions-Komitee, das über 25 Prozent aller Einnah¬ men der Zentrale verfügte, Einrichtung eines dem Engeren Aktions-Komitee unterstehenden Palästina-Amtes in Jaffa u.ä.m.

55 Daraufhin verließ eine Gruppe entschiedener Territoriaiisten den Kongreß und die zionistische Organisation und gründete wenig später eine eigene, territorialistischeWeltorganisation (Ito). 56 Die neue Leitung bestand aus drei „politischen“ und drei „praktischen“ Zionisten ; zum Präsidenten des Aktionskomitees wurde der entschiedene „Politiker“ gewählt. Das Zionistische Zentralbureauübersiedelte 1905 von Wien nach Köln, wo Wolffsohn wohnte; die „Welt“ folgte am 1. 1. 1906 nach. Damit hatte Wien aufgehört , das Zentrum des Weltzionismus zu sein. 57 A. Böhm: Die zionistische Bewegung, Bd. 2, Berlin 1920, S. 34f. Prozeß der Nationswerdung 95

Mit dem 10. Kongreß (1911) ging die Ära Wolffsohn zu Ende (David Wolffsohn hatte nach 1904 Herzls Position eingenommen und seine Politik fortgeführt), und die praktisch-evolutionistische Richtung übernahm auch die Leitung der Weltorga¬ nisation (Engeres Aktions-Komitee aus zwei deutschen und drei russischen Zionistenführern unter der Leitung des Berliner Universitätsprofessors Otto Warburg). Den Mehrheitsverhältnissenentsprechend traten damit Verfechter eines „synthetischen“, eines „vollständigen“ Zionismus - in dessen Rahmen die „Poli¬ tik“ hinter Palästinaarbeit, Diaspora-Gegenwartsarbeit und Kulturarbeit 58) besten¬ falls an vierter Stelle rangierte - an die Spitze. 2. „Galuth“: Herzls politische Nah-Erwartung durch langsame Aufbauarbeit in Palästina zu ersetzen, das implizierte auch: sich noch auf lange im Galuth gedulden und einrichten zu müssen. Ein intensives Neubedenken der Galuthexistenz des Zionismus und der Zionisten setzte ein: Was bedeutete die vom Zionismus postulierte Volkhaftigkeit der Juden für die (noch lange) Zeit des Verbleibens in der Diaspora? Welche Konsequenzen konnten, sollten, durften die Zionisten als solche aus ihrer zionistischen Überzeugung und ihrem Nationalgefühl im Bereich der Diaspora ziehen?Würde nicht der Aufbau in Palästina auf lange Zeit der Stütze eines starken jüdischen Volkes in der Diaspora bedürfen? Mußte der Zionismus den jüdischen Massen - wollte er sie gewinnen und erziehen - nicht Aufgaben, Richtung und Halt im Galuth-Alltag geben, mußte er sich nicht um alle jüdischen Gegenwartsproblemeund -interessen kümmern? Für eine Mehrheit von Zionisten - und dies gilt ganz besonders für Österreich- wurde„Zionismus“ zu einem insgesamt aus Zukunfts- und Gegenwarts-, Palästina- und Galutharbeit, zu einem einzigen, großen, Diaspora und Palästina umfassenden Prozeß der Nationswerdung der Juden, der in einem eigenen Staatswesen in Palästina seinen Höhepunkt erreichen sollte. In den Worten eines österreichischen Zionisten: „Alles , was geeignet ist, unser Volk, sowohl in Palästina als auch in der Diaspora, zu fördern, ist zionistische Arbeit . . ,“59)

58 Zeichen der Wende: Auf dem 10. Kongreß wurde erstmals ein Teil der Debatten in hebräischer Sprache abgehalten. 59 Jüdische Zeitung, 27.9. 1907, S. 3.