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Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? Vorträge und Kolloquien Band 22 Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? Herausgegeben von Norbert Frei Wallstein Verlag Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag GmbH 2018 Vom Verlag gesetzt aus der Sabon und der Univers Umschlaggestaltung: Steffen Röder, Berlin. ISBN (Print) 978-3-8353-3088-7 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4145-6 Inhalt NORBERT FREI Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? 9 I. BÜRGER IN DER KRISE. HOFFNUNGEN UND BEFÜRCHTUNGEN 1930-1934 MANFRED GAILUS Führer-Erwartungen im Protestantismus 20 KERSTIN THIELER Radikale Studenten, herausgeforderte Professoren 37 MARK ROSEMAN Jews on the Defensive 53 ERIC KURLANDER Liberalism between Retreat and Accommodation 63 THOMAS GROSSBÖLTING Kommentar 78 DISKUSSION 86 II. BÜRGER IN BRAUN. SELBSTVERWANDLUNGEN UND ZUMUTUNGEN 1934-1939 DIETMAR SÜSS Arbeit, Leistung, Bürgertum 100 FRANKA MAUBACH Bürgerliche Frauen und NS-Geschlechterpolitik 116 CORNELIA RAUH Das Eigentum der Anderen 127 TOBIAS FREIMÜLLER Bürgertum, Rasse und Eugenik 144 HELEN ROCHE Schulische Erziehung und Entbürgerlichung 154 DAVID ABRAHAM Kommentar 173 DISKUSSION 179 III. BÜRGER IM KRIEG. VERLUSTERFAHRUNGEN UND BEHARRUNGSKRÄFTE FELIX RÖMER Bürgerlichkeit, Militär, Gewaltkultur 192 MORITZ FÖLLMER Hochkultur im Krieg 206 RANDALL HANSEN How Bourgeois was the Resistance? 222 BENJAMIN LAHUSEN Klassenjustiz und Heimatfront 243 UTE DANIEL Kommentar 261 DISKUSSION 267 IV. BÜRGERTUM DANACH. SELBST- UND UMDEUTUNGEN SEIT 1945 TIM SCHANETZKY Albert Vögler 286 CHRISTINE FRIEDERICH Inge Aicher-Scholl 305 KRISTINA MEYER Carlo Schmid 317 BENJAMIN ZIEMANN Martin Niemöller 334 MAIK TÄNDLER Giselher Wirsing 351 CHRISTINA MORINA Kommentar 369 ABSCHLUSSDISKUSSION 377 Dank 397 Literatur 398 Abkürzungen 430 Autoren und Diskutanten 431 Namenverzeichnis 434 Norbert Frei Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? Die individuelle Herkunft, die kulturellen Vorlieben oder der private Habitus der Spitzen des Dritten Reiches – das ist es nicht, worauf die Frage dieses Bandes zielt. Es geht nicht um Joseph Goebbels’ verdruckste Begeisterung für Emil Nolde, um Hermann Görings Tennisspiel mit Haarnetz oder um des »Führers« Wagner-Kult, obgleich all dies in den vielen Jahr- zehnten der hinter uns liegenden NS-Forschung irgendwann einmal Gegenstand der Betrachtung gewesen ist. Die hier interessierende Frage lautet nicht: Wie bürgerlich waren die Nationalsozialisten? Sondern wir fragen: Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? Aber auch das klingt in den Ohren vieler Zeitgenossen offenbar immer noch überraschend ge- nug – sei es, weil sich sofort der Zweifel einstellt, dass sich dazu etwas Sinnvolles sagen ließe, sei es, weil man die Frage ohnehin für eine rhetorische hält. Angesichts einer nun bald zwei Jahrzehnte währenden, also keineswegs mehr wirklich neuen »neuen Debatte« um die »Volksgemeinschaft« staunt man allerdings, wie diese Forschungen ohne eine genauere Erörterung der Frage aus- kommen konnten, wie eigentlich diese »Volksgemeinschaft« zusammengesetzt war und wer in ihr den Ton angab. Denn das ist doch der Eindruck, den die nun offenbar abklingende Debatte hinterlässt: Sie ging zunächst noch einmal darum, ob – und wenn ja, in welcher Hinsicht – es diese »Volks- gemeinschaft« überhaupt gegeben hat; Michael Wildt ging es dann auch darum, ob sich diese »Volksgemeinschaft«, zumal gegenüber den Juden, selbst zur Gewalt ermächtigt hat oder nicht1. Aber kaum ging es in all diesen Jahren um ihre soziale Komposition. Anders gesagt: Noch immer nicht hinreichend ausgeleuchtet sind die Binnenstrukturen der deutschen Gesell- schaft des Dritten Reiches2. 10 NORBERT FREI Nun ließe sich natürlich einwenden: Wie sozialdemokra- tisch oder gar wie kommunistisch der Nationalsozialismus war, das wird man kaum fragen müssen angesichts von Terror und Unterdrückung, von Widerstand und Anpassung. Und auch dass die Bauern, obgleich ideologisch umschmei- chelt wie sonst nur die »Arbeiter der Stirn« und die »Arbeiter der Faust«, im Dritten Reich keine nachdrückliche Wir- kungsmacht entfalteten, ist evident. Aber wie bürgerlich der Nationalsozialismus war – sprich: wie sich das Bürgertum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Facetten im Dritten Reich zurecht- und wiederfand, wie es seine Inter- essen und Überzeugungen wahrte oder aufgab, wie und wo es sich anverwandelte, einfügte und vielleicht sogar wider- stand –, das wäre doch wichtig zu wissen. Gewiss, fragt man nach dem spezifisch Bürgerlichen, nach Bürgertum und Bürgerlichkeit, so hat das seine Tücken: Kann man die junge Sekretärin, die in der Weltwirtschafts- krise ihre Anstellung verloren hatte, mit dem kleinen Fami- lienunternehmer in einem Atemzug nennen, dessen Betrieb damals gerade noch am Konkurs vorbeigeschrammt, aber seitdem nicht mehr richtig auf die Beine gekommen war? Wie soll man den dank eines soliden Immobilienbesitzes immer noch recht ordentlich dastehenden kleinstädtischen Rentier mit der großstädtischen Professorenfamilie vergleichen, die schon seit der Hyperinflation um ihr Anlagevermögen ge- bracht war? Immerhin, es waren im Zweifel bürgerliche Hoffnungen und Erwartungen, die diese Menschen an das neue Regime herantrugen. Die eben noch so hippe Volksgemeinschafts-Forschung hat sich dafür wenig interessiert, auch wenn sich nun der eine oder die andere – fast möchte man sagen: endlich – der guten alten, jetzt natürlich kulturalistisch gewendeten Gesellschafts- geschichte zu erinnern scheint. Viel zu sehr und viel zu lange hat man die Frage nach der Realität beziehungsweise der Illusion der »Volksgemeinschaft« als eine pauschale Frage an »die Deutschen« verhandelt3 – so, als ob am 30. Januar 1933 WIE BÜRGERLICH WAR DER NATIONALSOZIALISMUS? 11 alle politischen Gegenentwürfe ausgelöscht und alle Elemente sozialer und ökonomischer Distinktion fortan dem Untergang geweiht gewesen wären. Bekanntlich war das gerade nicht der Fall – jedenfalls nicht, sofern sich das bürgerliche Distinkti- onsbegehren halbwegs ideologisch korrekt und innerhalb des neuen rassistischen Referenzrahmens artikulierte. Der Bürger Theodor Heuss Der Blick auf Theodor Heuss, dieses Prachtexemplar süd- westdeutsch-liberaler Bürgerlichkeit – so jedenfalls haben ihn die Nachkriegsdeutschen gerne wahrgenommen –, mag in diesem Kontext erste Anregungen bieten, zumal angesichts von nicht weniger als drei neuen Heuss-Biographien, die seit 2011 im Jahrestakt erschienen sind: aus der Feder von Ernst Wolfgang Becker, von Peter Merseburger und zuletzt von Jo- achim Radkau4. Studiert man alle drei, erhält man doch eine ziemlich dichte Antwort auf die Frage, wie der leidenschaft- liche Journalist und spätere Bundespräsident durch das Drit- te Reich gekommen ist. Mit einem Buch über Hitlers Weg hatte sich Heuss im Dezember 1931 kräftig exponiert. Nicht, dass die – so der Untertitel – »historisch-politische Studie über den National- sozialismus« die Fähigkeiten des »Führers« gänzlich in Ab- rede gestellt oder dessen offenkundige Popularität geleugnet hätte: Im Gegenteil, Heuss’ Analyse, rasch niedergeschrieben und alles andere als frei von Widersprüchen, aber die erste ihrer Art5, lässt sogar eine gewisse Bewunderung, ja Sympa- thie für das Jugendlich-Robuste der NS-Bewegung erkennen. Das Buch ist gespickt mit ironischen Distanzierungen und kühnen historischen Vergleichen, die ja auch später noch zu Heuss’ gefürchteten bildungsbürgerlichen Leidenschaften zählten. Gleichzeitig hielt er es nicht für undenkbar – und so argumentierten damals nicht wenige Kritiker –, dass man die NSDAP in den Parlamenten gewissermaßen entradikalisie- ren könnte. Andererseits glaubte Heuss zu wissen, dass die 12 NORBERT FREI Natio nalsozialisten den parlamentarischen Betrieb »stören, wenn es möglich ist, zerstören«6 wollten. Nicht zuletzt des- halb ließ der Liberale, der seit 1930, nach zweijähriger Pause, für die DDP beziehungsweise die Deutsche Staatspartei wie- der im Reichstag saß, keinen Zweifel an seinem negativen Gesamturteil. Mehr als alles andere stieß ihn Hitlers Antisemitismus ab7. Heuss’ Verachtung für den Blut- und Rassenwahn vertrug sich aber durchaus mit seinem Soupçon gegenüber dem »entwurzelte(n) jüdische(n) Literatentum«8, das er vor allem in der Weltbühne erblickte. Dass er wegen Hitlers Weg im Frühjahr 1933 mit publizistischen Konkurrenten wie Tu- cholsky und Ossietzky auf denselben schwarzen Listen stand, das war Heuss damals und blieb ihm zeitlebens zuwider9. Dem Ermächtigungsgesetz hatten Heuss und seine vier Kollegen von der Staatspartei bekanntlich zugestimmt – Heuss am Ende wohl weniger aus Fraktionszwang oder aus Angst vor den Braunhemden in der Krolloper denn aufgrund seiner tiefverwurzelten etatistischen Disposition10. Es war, in den Worten seines Biographen Ernst Wolfgang Becker, »die Beschwörung von Staatsautorität, Führertum, Volksgemein- schaft und Nation, die relativistische Demokratieeinstellung sowie die zunehmende Kritik an Parlaments- und Parteien- herrschaft«, die bei Heuss – wie bei so vielen von Grund auf bürgerlichen Zeitgenossen – die Grenzen gegenüber dem Na- tionalsozialismus »verflüssigten« und schließlich »system- sprengend« wirkten11. Die Tatsache, dass Deutschland jetzt einen »Führer« hatte, ließ dieses Bürgertum nicht nur politisch auf eine Wende zum Besseren hoffen, sondern auch auf Möglichkeiten der Ein- flussnahme und