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ZOOLOGIE 2014 Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Herausgegeben von Rudolf Alexander Steinbrecht

106. Jahresversammlung München 13.-16. September 2013

Basilisken-Presse Rangsdorf 2014 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2014_Titelei_2010.qxd 27.08.2014 10:12 Seite 2

Umschlagbild Frühe Pluteuslarve von Psammechinus miliaris im Alter von zwölf Tagen (siehe den Beitrag A. Fischer „Vom Pluteus zum Seeigel“ in diesem Heft). Die Larve besitzt bereits acht „Arme“, die ein Wimperband ausspannen und von Skelettnadeln getragen wer- den, hat ein durchgehendes Darmrohr und einen erweiterten Magen, orangerote Pigmentzellen und Ansammlungen von gelben Partikeln im Bereich der Wimperbänder, über deren Natur keine Angaben gemacht werden.- Dorsalansicht. Erste Anzeichen einer Rechts-Links-Asymmetrie: das normalerweise nur links ausge- prägte Hydrocoel-Bläschen, das der Magenwand links aufsitzt und dem die linke Flanke des Pluteus eine Einsenkung entgegenschickt (vgl. Abb. 1.1.)

Die Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft erscheinen einmal jährlich. Einzelhefte sind bei der Geschäftsstelle (Corneliusstr. 12, 80469 München), zum Preis von 7,00 € erhältlich.

Gesamtherstellung Danuvia Druckhaus Neuburg GmbH, Rheinpfälzerweg 25 86633 Neuburg an der Donau

Copyright 2014 by Basilisken-Presse im Verlag Natur & Text in Brandenburg GmbH . Rangsdorf Printed in Bundesrepublik Deutschland ISSN 1617-1977 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2014_Titelei_2010.qxd 27.08.2014 10:12 Seite 3

Inhalt

Constance Scharff 5 Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Bernhard Ronacher 7 Laudatio Horst-Wiehe-Preis an Jan Clemens

Jan Clemens 11 Entscheidungsfindungsprozesse bei der gesangsbasierten Partnerwahl

Joachim Kurtz 19 Laudatio Walther-Arndt-Preis an Sylvia Cremer

Sylvia Cremer 23 Gemeinsame Krankheitsabwehr in Ameisengesellschaften

31 Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Albrecht Fischer 33 Vom Pluteus zum Seeigel. Erinnerungen und künstlerische Illustrationen zu Gerhard Czihaks frühen Arbeiten

Alfred Goldschmid 49 Nachruf auf Gerhard Czihak 10. 11. 1928 – 11. 12. 2011

Wilfried Westheide 55 Nachruf auf Peter Ax 29. 3. 1927 - 2. 5. 2013

Thomas Keil 59 Nachruf auf Hildegard Strübing 8.5.1922 – 18.5.2013

Klaus Peter Sauer 63 Nachruf auf Dieter Zissler 25. 11. 1937 - 10. 6. 2013

Irenäus Eibl-Eibesfeldt 67 Notizen zu Hans Hass 23.1.1919 – 16.6.2013 00_Titelei Seite_1 - Inhalt Seite_2_2014_Titelei_2010.qxd 27.08.2014 10:12 Seite 4

Jochen Zeil 71 Nachruf auf Deszö Varjú 22. 5. 1932 – 17. 8. 2013

Gerd Gäde und Manfred Grieshaber 77 Nachruf auf Ernst Zebe 1. 2. 1926 – 31. 10. 2013

Hans J. Rolf und Rüdiger Hardeland 85 Nachruf auf Klaus Fischer 7. 3. 1936 – 15. 12. 2013

Hartmut Koehler 89 Nachruf auf Gerd Weidemann 14. 8. 1934 – 21. 12. 2013

Ragnar Kinzelbach 93 Nachruf auf Ernst-Albert Arndt 22. 9. 1927 - 13. 2. 2014 01_Scharff.Grußwort_5-6_03_Penzlin.qxd 27.08.2014 10:14 Seite 5

Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Constance Scharff

Liebe Mitglieder, Physiologen, Neurobiologen, Morpholo- es ist wieder soweit: Ich darf Sie alle gen, Ökologen, Verhaltensbiologen, Phy- herzlich zur DZG Tagung 2014 einladen. logenetiker, Systematiker und Evolutions- Zum vierten Mal in der Geschichte der biologen, die an den unterschiedlichsten DZG sind Göttinger Zoologen die Gast- Organismen arbeiten? Ich denke, die geber. Nach der 3. Tagung 1893 richteten DZG Tagung gehört zu den integrativsten Göttinger Zoologen auch die Tagungen Konferenzen, die man in Deutschland, 1921 und 1966 aus. Die Ausrichter waren Österreich und der Schweiz besuchen herausragende Zoologen, die in ihrer Zeit kann. Besonders den jungen Mitgliedern und weit darüber hinaus richtungswei- der Gesellschaft empfehle ich deshalb, send waren: Johann Friedrich Blumen- sich ein paar Tage den Luxus zu gönnen, bach, Ernst Ehlers und Alfred Kühn. Allein über den eigenen wissenschaftlichen Tel- dies zeugt von der Kontinuität und Bedeu- lerrand zu schauen. Seine eigene For- tung, die die Georg-August Universität schung in einem breiteren Kontext zu zur Entwicklung der Zoologie beigetra- präsentieren erfordert einmal nicht 'zu gen hat. Hier nicht unerwähnt bleiben Konvertierten zu predigen, sondern die darf der 2013 verstorbene Peter Ax. Ihm grundsätzliche Bedeutung des eigenen zu Ehren wird Prof. Gonzalo Giribet aus Beitrags zu hinterfragen. Harvard auf der diesjährigen Tagung die Eine besondere Freude ist es mir, dass Peter Ax Lecture halten. Es ist sicher die Jury des Karl-Ritter-von-Frisch-Preises nicht übertrieben zu sagen, dass die Vor- dieses Jahr zum ersten Mal eine Preisträ- tragenden aus aller Welt, die sich unter gerin gewählt hat: Prof. Charlotte Förster. der Schirmherrschaft der DZG in diesem Erstmalig wird damit auch eine Fachrich- Jahr vom 11.-14. September treffen wer- tung gewürdigt, die Chronobiologie, die den, die Diversität und Qualität der For- in Deutschland eine lange Tradition hat. schungsrichtungen der Göttinger Organi- Ich freue mich sehr auf die Laudatio von satoren eindrucksvoll unterstreichen. Prof. Monika Stengl und den Vortrag der Der Weg in die zentral gelegene, le- Preisträgerin. bendige Universitätsstadt lohnt sich für al- Ein weiterer wichtiger Punkt der Jah- le, die sich trotz zunehmender Fach-Spe- restagung ist die Mitgliederversammlung. zialisierung innerhalb der Biologie einen Diesmal steht u.a. zur Debatte, ob die Ta- breiten (Über)blick über die neusten Ent- gung weiterhin jährlich oder nur jedes deckungen verschaffen oder bewahren zweite Jahr abgehalten werden soll, da wollen: Auf welchem anderen Kongress immer höhere Kosten auf die Veranstalter treffen sich Entwicklungsbiologen, zukommen und immer mehr Kongresse

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miteinander konkurrieren. Auch die Fra- greifende gemeinsame Interessen durch ge, in welchem Umfang sich die DZG in den VBiO engagierte Verfechter findet, Zukunft engagieren will, den VBiO als sowohl im neu zu wählenden zukünftigen fachübergreifende Organisation zu stär- Vorstand der DZG als auch in den Fach- ken und zu unterstützen, wird weiterhin gruppen. auf allen Ebenen zu diskutieren sein. Ich wünsche mir, dass der schwierige Spagat In diesem Sinne grüßt Sie alle sehr zwischen Eigenständigkeit der Fachge- herzlich, sellschaft(en) und Lobbying für fachüber- Constance Scharff

Prof. Constance Scharff, PhD Institut für Biologie der FU Takustr.6, D-14195 Berlin [email protected]

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Laudatio: Horst-Wiehe-Preis an Jan Clemens

Bernhard Ronacher

In seiner Dissertation mit dem Titel kenswerten neuen Ergebnisse, die unser „Neural computation in small sensory sy- Verständnis dieser kleinen Nervensyste- stems – lessons on sparse and adaptive me um wesentliche Schritte weiterge- coding” befasste sich Jan Clemens mit bracht haben, sondern auch die Strin- der Frage, wie höchst relevante akusti- genz der Argumentation und die Prä zi - sche Reize, die Lockgesänge von Feld- sion der Diskussion. Bereits in der Einlei- heuschrecken und Grillen, im Nervensy- tung übertrug Jan Clemens erfolgreich stem dieser Insekten verarbeitet und das Prinzip des sparse coding auf seinen repräsentiert werden. Die Untersuchung eigenen Text: in knapp 7 Seiten gab er war auf zwei Hauptthemen fokussiert, die eine hervorragende Einführung in die auch für wesentlich komplexere Wirbel- Ideenwelt des sparse und stimulus-de- tier-Gehirne intensiv diskutiert werden: pendent coding und in die Fragestellun- sparsame und adaptive Codierung gen seiner eigenen Arbeit. (‚sparse coding’ und ‚stimulus-dependent Zunächst stellte Jan Clemens eine Lö- coding’). An dieser Dissertation besticht sung für ein bisher etwas rätselhaftes nicht nur die Fülle der höchst bemer- Phänomen vor. Der Startpunkt der Hör-

Jan Clemens, Gewinner des Horst-Wiehe-Preises der DZG 2013 bei seinem Vortrag in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München, umgeben von König Ludwig I. von Bayern (links) und König Max I. Joseph von Bayern (rechts). Foto Sabine Gießler

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bahn von Feldheuschrecken sind je etwa nicht mehr so genau an, so dass der be- 60-80 Rezeptorzellen pro Ohr. Deren obachtete Verlust an Präzision der Spike- Axone ziehen ins dritte Thorakalganglion muster erklärlich wird: das „WAS“ wird und münden dort in eine erste wichtige wichtiger als das „WANN“ (Clemens et Verarbeitungsstation, die von lokalen al. 2011, PNAS 108: 13812-13817). Interneuronen gebildet wird. Den Aus- Jan Clemens beließ es nicht bei dieser gang dieser ersten Verarbeitungsstation Beschreibung, sondern konnte anhand bilden die aufsteigenden Neurone, von von klug konzipierten Reizen und intra- denen wir etwa 15 verschiedene Typen zellulären Ableitungen auch ein Modell kennen. Nur deren Axone erreichen das plausibel machen, wie beim Übergang Gehirn, wo die endgültige Bewertung von von den lokalen zu den aufsteigenden akustischen Signalen stattfindet – diese Neuronen die Dekorrelation und eine Neurone haben somit eine Schlüsselposi- „sparsame“ Codierung erreicht werden. tion bei der Informationsübertragung. Dazu wendete er im dritten Kapitel zwei- Der unerklärte Befund war nun, dass die dimensionale linear-nichtlineare Modelle Antworten (Spikemuster) der aufsteigen- auf die Neuronen der Hörbahn an. Neben den Neurone wesentlich unpräziser und dem spike-triggered average STA (d.h. variabler sind als die Antworten der vor- dem gemittelten Stimulus-Segment, wel- geschalteten Rezeptoren und lokalen ches einem Aktionspotential vorangeht), Neurone. Durch Anwendung einer von wurde als weiterer Parameter auch die Houghton & Sen 2008 eingeführten Multi- spike triggered covariance (STC) be- Neuron-Metrik (Neural Computation 20, stimmt (d.h. die Reizstruktur, wo die Vari- 1495-1511) konnte Jan Clemens zeigen, anz – statt wie beim STA der Mittelwert – dass beim Übergang von den lokalen zu zwischen dem durch einen Spike getrig- den aufsteigenden Neuronen eine Ände- gerten Stimulus und dem gesamten Sti- rung des Codierungsprinzips stattfindet: mulus-Ensemble am stärksten differierte). ihre Reaktionen werden dekorreliert – Die Einbeziehung der STC ermöglichte d.h. dass individuelle Neurone recht spe- die Unterscheidung von zwei Klassen von zifisch nur auf bestimmte Eigenschaften Neuronen, die weitgehend mit den Klas- von akustischen Reizen reagieren – und sen der identifizierten lokalen bzw. auf- die Information ist in einem „labeled-line“ steigenden Neurone übereinstimmten. Populationscode niedergelegt. Erstaunlich Die Einbeziehung des STC-Filters in Form ist, dass dieser Wechsel des Codierungs- eines logischen ‚AND-NOT’ führte zu ei- prinzips bereits auf einer sehr frühen Ver- ner Dekorrelation der Antworten bei ver- arbeitungsstufe, nur zwei bis drei Synap- schiedenen auditorischen Neuronen und sen nach den auditorischen Rezeptoren damit zu einer erhöhten Populations- geschieht. Dadurch dass die aufsteigen- „Sparsamkeit“. Diese tiefgründige Analy- den Neurone in ihren Spikeantworten nun se machte verständlich, wie in wenigen primär das Vorhandensein bestimmter Schritten die Transformation von einer re- Merkmale signalisieren, kommt es auf die lativ einheitlichen Repräsentation der Sti- genauen Zeitpunkte der Spikes offenbar muli auf der Ebene der lokalen Neurone

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Der Preisträger empfängt Preis und Urkunde aus den Händen der Präsidentin Foto Sabine Gießler

zu einem „labeled-line“ Code bei der über längere Zeit gemittelt und dann ge- nächsten Verarbeitungsstufe, den aufstei- wichtet zu einem Wert Y, als Vorhersage genden Neuronen, realisiert werden kann für die Attraktivität des Musters summiert (Clemens et al. 2012, J. Neuroscience werden. Die zeitliche Mittelung scheint 32:10053-10062). zunächst paradox, wenn man die zeitlich Einen besonders originellen Abschnitt stark strukturierten und sehr regelmäßi- der Dissertation stellte das vierte Kapitel gen Heuschrecken-Gesänge vor Augen dar, in dem die oben geäußerte Vermu- hat. Die Eleganz dieses Ansatzes liegt tung, das „WHAT“ werde wichtiger als darin, dass Herr Clemens einen geneti- das „WHEN“, eine wesentlich Rolle spiel- schen Lernalgorithmus genutzt hat, der – te. Hier hat Jan Clemens ein Modell ent- ohne weitere Vorwegannahmen! – allein wickelt, um die Attraktivität von Kommuni- auf Basis der Verhaltensantworten arbei- kations-Signalen für die Heuschrecken tete, die für eine große Anzahl von Stimuli vorhersagen zu können. Die Grundstruk- gewonnen wurden. Der Lernalgorithmus tur des Modells nimmt mehrere „feature optimierte die Parameter der Filter und detectors“ (d.h. Filter mit nachgeschalte- Nichtlinearitäten nun so, dass der Aus- ter Nichtlinearität) an, deren Ausgänge gangswert Y eine möglichst gute Überein-

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stimmung mit den gemessenen Verhal- wird auf Einzelzellableitungen beruhende tensantworten lieferte. Ein Modell mit nur neurophysiologischen Untersuchungsme- zwei „feature detectors“ ermöglichte eine thoden sicher stark beeinflussen. (Cle- ausgezeichnete Vorhersage der Verhal- mens & Ronacher 2013, J. Neurosci 33: tensantworten (r2 = 0.89; die Berechnung 12136 –12145). erfolgte anhand eines Teils der Daten, die Jan Clemens ist ein höchst origineller, Überprüfung des Modells mit dem Rest). produktiver Kopf, dabei ein sehr ange- Eine Erkenntnis von ganz besonderer nehmer, bescheidener Mensch. Seine Tragweite ergab sich, wenn man die bei- Dissertation ist völlig zu Recht mit „sum- den „feature detectors“ einzeln betrach- ma cum laude“ ausgezeichnet worden. tete: Der Ausgangswert eines Detektors Mit seiner Vielseitigkeit, seinen umfassen- korrelierte überhaupt nicht mit den Ver- den Kenntnissen der relevanten Literatur haltensantworten (r2 = 0.04) und erst die und seiner Kreativität in der Anwendung Linear-Kombination der beiden Filter er- theoretischer Methoden auf konkrete sen- gab dann die sehr hohe Korrelation (r2 = sorische Probleme war Jan Clemens eine 0.89) zwischen Vorhersage und gemesse- enorme Bereicherung für meine ganze ner Verhaltensantwort. Dieses Ergebnis Arbeitsgruppe und bereichert seit 2012 dürfte weitreichende Konsequenzen für als Postdoc in ähnlicher Weise die Ar- neurophysiologische Untersuchungen an beitsgruppe von Mala Murthy (Prince- Einzelzellen haben und beinhaltet ein ton). Seit der Preisverleihung im Septem- wichtiges Caveat: es ist durchaus mög- ber 2013 sind bereits drei weitere lich, dass man bei Einzelzellableitungen Arbeiten mit Jan Clemens als Erst- bzw. Neurone „übersieht“, obwohl sie eine Koautor publiziert oder akzeptiert wor- wichtige Funktion für die Verarbeitung den (J. Comput. Neurosci.; Nature; J. verhaltensrelevanter Stimuli haben: wenn Comp. Physiol. A), was zusätzlich unter- sie nur eine schwache Korrelation mit streicht, dass der Horst-Wiehe-Preis 2013 Reizparametern aufweisen und ihre Funk- an einen würdigen Kandidaten verliehen tion eben erst in Kombination mit anderen wurde. Zellen offenbar wird. Diese Erkenntnis

Prof. Dr. Bernhard Ronacher, Institut für Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin Invalidenstraße 43, D-10115 Berlin [email protected]

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Entscheidungsfindungsprozesse bei der gesangsbasierten Partnerwahl

Jan Clemens

Leben geht einher mit einer langen zwei verschiedene Tonhöhen zu unter- Kette von Entscheidungen. Unser Gehirn scheiden (Znamenskiy and Zador, 2013). hilft uns dabei, auf Basis von Informatio- Bei den meisten Verhaltensparadigmen nen aus der Entscheidungen ver- sind die zu unterscheidenden Reize rela- nünftig zu treffen. Das fängt bei der Aus- tiv einfach - welche Art sensorischer In- wahl geeigneter Nahrung an und geht formation der Entscheidung zu Grunde über die Detektion und Vermeidung von liegt, wird vom Experimentator festge- Fressfeinden bis hin zur Partnerwahl. All- legt. Ziel der Neuroethologie ist es jedoch, gemein wird Entscheidungsfindung als natürliches und ökologisch relevantes dreistufiger Prozess dargestellt (Brunton Verhalten erforschen. Eine Anwen dung et al., 2013; Gold and Shadlen, 2007; des obigen Schemas auf natürliches Ver- Shadlen and Kiani, 2013) (Abbildung 1): halten ist wesentlich schwieriger, da die 1. Aus Umweltreizen wird entschei- 'Entscheidungsaufgabe' und die relevan- dungsrelevante Information extra- ten Reizaspekte nicht wie bei trainierten hiert. Tieren vom Experimentator definiert und 2. Diese wird dann über die Zeit akku- genau kontrolliert sind. Sie sind über die muliert und bildet so eine 'Entschei- Zeit evolviert und müssen daher aus Ver- dungsvariable'. haltensbeobachtungen erschlossen wer- 3. Schließlich wird diese Entschei- den. dungsvariable in Verhalten transfor- Die Wahl des Paarungspartners ist ein miert. ökologisch höchst relevantes, natürliches Dieses dreistufige Schema wurde ur- Verhalten. Die Evaluation potentieller Paa- sprünglich zur Erklärung erlernten Ver- rungspartner basiert auf der Auswertung haltens angewandt: Hierzu wird ein Tier sensorischer Reize und unterliegt hohen z.B. über viele Wochen darauf trainiert Selektionsdrücken (Andersson and Sim-

Abb. 1: Allgemeines Schema eines Entscheidungsprozesses. Merkmalsdetektoren extrahieren sensorische Information aus Umweltsignalen. Diese Information wird in einer Entscheidungsva- riablen akkumuliert. Schließlich wird eine Entscheidung gefällt, z.B. durch Vergleich mit einer Schwelle.

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dung 2). In dieser Art antwortet das Weibchen auf einen attraktiven Männ- chengesang mit einem eigenen Gesang. Je 'besser' der Gesang, desto wahr- scheinlicher ist eine Antwort des Weib- chens. Der Antwortgesang ermöglicht Abb. 2: Entscheidungsfindung bei der ge- dem Männchen, das Weibchen zu lokali- sangsbasierten Partnerwahl der Feldheu- sieren und sich ihm zu nähern, und ist so- Chorthippus biguttulus schrecke . Männchen mit im allgemeinen Voraussetzung für ei- produzieren Lockgesänge. Das Weibchen wer- tet das zeitliche Muster des Lockgesangs aus. ne erfolgreiche Paarung. Auf einen attraktiven Lockgesang antwortet das In meiner Dissertation habe ich einen Weibchen mit einem eigenen Antwortgesang. Ansatz dargelegt, der natürliches Verhal- ten im Rahmen des Standardmodells aus mons, 2006; Ryan and Cummings, 2013). Merkmalsextraktion, Akkumulation und Die Partnerwahl ist also ein ideales Mo- Entscheidung erklären kann. Mittels Ver- dellsystem zur Untersuchung natürlicher haltensdaten, Computermodellen und Entscheidungsfindungsprozesse. Weitver- Lernalgorithmen kann der Ansatz verhal- breitetes Medium der Partnerwahl - nicht tensbestimmende Merkmale aus dynami- nur beim Menschen - sind akustische schen, natürlichen Signalen identifizieren. Balzreize (Kroodsma, 1996). In der Regel Damit kann für ein bestimmtes Gesangs- sind es die Männchen, die einen Lock- muster vorhergesagt werden, wie wahr- oder Balzgesang erzeugen. Die Weib- scheinlich die Antwort des Weibchens ist, chen treffen anhand der Merkmale des d.h. wie attraktiv der Gesang ist. Dazu Balzgesangs eine Entscheidung, die unter wurden einfache und relativ allgemein- Umständen zur Paarung führt. gültige Annahmen darüber gemacht, wie Wir haben diesen Prozess bei der Nervensysteme sensorische Information Feldheuschreckenart Chorthippus bigut- extrahieren, akkumulieren und in eine tulus studiert (Helversen, 1972) (Abbil- Entscheidung überführen (Abbildung 3).

Abb. 3: Modell zur Erklärung der Gesangsauswertung bei Feldheuschrecken. Mehrere paralle- le Merkmalsdetektoren sind als sogenannte LN-Modelle realisiert, die den momentanen Gesang mit einem kurzen intern gespeicherten Muster vergleichen. Der Ausgang der Merkmalsdetek- toren wird über den Gesang akkumuliert – damit wird das gesamte zeitliche Muster des Ge- sangs auf einen Wert pro Merkmalsdetektor reduziert. Schließlich werden die Werte mehrerer Merkmalsdetektoren gewichtet und summiert und ergeben so eine Vorhersage für die Antwort- wahrscheinlichkeit des Weibchens.

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Die Merkmalsdetektoren des Modells Verhaltensdaten angepasst (Mitchell, wurden als sogenannte lineare-nichtlinea- 1998). re (LN) Modelle implementiert (Dayan Genetische Algorithmen imitieren Pro- and Abbott, 2001; Rieke et al., 1999). Die- zesse, die aus der biologischen Evolution se LN Modelle werden zur Beschreibung bekannt sind, um Optimierungsprobleme sensorischer Nervenzellen benutzt und zu lösen – in unserem Fall die Wahl der gehen davon aus, dass der Reiz – in unse- optimalen Parameter um das Verhalten rem Fall der Lockgesang der Feldheu- aus den Reizen vorherzusagen. Zuerst schrecke – dauernd mit einem vorbe- wird eine 'Population' von Parameterwer- stimmten und relativ kurzen Muster ver- ten zufällig ausgewählt. Einzelne Lösun- glichen wird (Clemens et al., 2012; Geffen gen werden dann nach ihrer 'Fitness', d.h. et al., 2009; Rust et al., 2005). Je besser Fähigkeit, die Verhaltensdaten zu repro- der Gesang mit diesem Muster überein- duzieren, in die nächste Generation über- stimmt, desto grösser ist die Aktivität des nommen. Variationen werden durch Merkmalsdetektors. Die Ähnlichkeit des Punktmutationen und Rekombination be- momentanen Reizes mit dem Idealmuster stehender Lösungen in die Population wird also am Ausgang mehrerer Merk- eingeführt. Nach einer Reihe von Genera- malsdetektoren abgebildet. Im zweiten tionen wird dann die beste bestehende Schritt (Akkumulation) wird die Aktivität Lösung ausgewählt. Der Algorithmus jedes Merkmalsdetektors über den ge- funktioniert robust und generiert Modelle, samten Gesang summiert. So wird das die eine sehr hohe Übereinstimmung mit zeitliche Muster des Gesanges auf einen der experimentell gemessenen Verhal- Merkmalswert pro Merkmalsdetektor re- tensantwort aufweisen (Clemens and Ro- duziert. Schließlich werden die akkumu- nacher, 2013) (Abbildung 4). Diese hohe lierten Werte der einzelnen Merkmalsde- tektoren gewichtet und summiert - dieser finale Wert stellt eine Vorhersage für die Gesangsattraktivität dar. Um den Ansatz zu testen, wurden eine große Anzahl von Balzgesängen wieder- holt Weibchen der Art Chorthippus bigut- tulus vorgespielt - die Wahrscheinlichkeit, mit der die Weibchen auf individuelle Reize antworteten, diente dann als Maß für die Attraktivität des jeweiligen Gesan- Abb. 4: Das Modell sagt das Verhalten sehr ges (Schmidt et al., 2008). Die Form des gut voraus. Gezeigt ist die Antwortwahr- Modells – die Muster für die Merkmals- scheinlichkeit für verschiedene Gesangsmus- detektoren sowie die Gewichte für jeden ter wie im Verhaltensexperiment gemessen Merkmalsdetektor – wurde dann mittels (x-Achse) und wie vom Modell vorhergesagt (y-Achse). Alle Datenpunkte (d.h. Gesangs- eines 'genetischen Lern-Algorithmus' oh- muster) sind sehr nah an der Winkelhalbie- ne jegliche Vorannahmen direkt an die renden. R2 ~ 0.9.

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Vorhersagekraft deutet darauf hin, dass das Modell wesentliche Aspekte der Ent- scheidungsfindung bei der Gesangsbe- wertung verkörpert. Erstaunlicherweise ist das resultieren- de Modell recht einfach: Nur zwei Merk- malsdetektoren genügen um die Verhal- tensantworten für einen relativ umfang- reichen Satz von Gesangsmustern vor- herzusagen (Clemens and Ronacher, 2013). Einer der Detektoren hat ein positi- ves, der andere ein negatives Gewicht (Abbildung 5). Das bedeutet, dass ein Merkmalsdetektor Aspekte des Gesangs extrahiert, die 'attraktiv' sind, also die Ver- haltensantwort fördern, während der an- dere Merkmalsdetektor 'unterdrückend' wirkt, also die Verhaltensantwort unter- bindet. Das Modell kann nicht nur das Verhal- ten gut reproduzieren, sondern erklärt auch eine Reihe älterer und z.T. wider- sprüchlicher Befunde: In einer Reihe von Verhaltensversuchen wurde untersucht, welche Klasse von Gesangsparametern Abb. 5: Natürliche Gesänge von Männchen der Feldheuschreckenart Chorthippus bigut- von den Tieren ausgewertet wird - Para- tulus können auf eine Abfolge von Pulsen und meter der Zeit- oder der Frequenzdomä- Pausen reduziert werden (A). Die Pausenlän- ne (Helversen and Helversen, 1998; Hen- ge ist ein wichtiges Gesangsmerkmal – Weib- nig, 2003; Schmidt et al., 2008). Parameter chen bevorzugen intermediäre Pausendauern und lehnen Gesänge mit zu kurzen oder zu der Zeitdomäne beschreiben das genaue langen Pausen ab (schwarze Kurve in B). Das zeitliche Muster des Gesanges. Parame- Modell kann die Verhaltensselektivität mit nur ter der Frequenzdomäne (genauer des zwei Merkmalsdetektoren reproduzieren Leistungsspektrums) bilden die über den (graue Kurve in B). Das attraktive Merkmal (C) weist niedrige Werte bei zu kurzen Pausen Gesang gemittelte periodische Struktur auf – das erklärt die steigende Flanke der ab und sind relativ unempfindlich gegen- Präferenzkurve in B. Das unterdrückende über Veränderungen im genauen zeit- Merkmal (D) besitzt hohe Werte für lange lichen Muster. Experimentelle Ergebnisse Pausendauern und unterbindet so Verhaltens- antworten auf zu lange Pausen. haben gezeigt, dass bei Feldheuschrek- ken eine Auswertung der genauen zeit- lichen Struktur stattfindet ( Helversen and Dieses Ergebnis ist im Prinzip kompatibel Helversen, 1998; Schmidt et al., 2008). mit der Tatsache, dass die Muster in den

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Merkmalsdetektoren eben solche zeitlich Form der Muster bestimmt wird, und ei- lokalisierten Strukturen darstellen. ne längere, die Information über die ge- Dem widersprachen jedoch Befunde naue zeitliche Anordnung der Muster ver- mit 'gemischten' Reizen – ‚shuffled songs‘ wirft und die über den Akkumulations- (Helversen and Helversen, 1998). C. bi- schritt implementiert ist (vgl. McDermott guttulus Weibchen bevorzugen Gesänge et al., 2013). mit mittlerer Pausendauer; Signale mit zu Der Umstand, dass nach der Merk- langen oder zu kurzen Pausen werden malsdetektion wenig Information über die abgelehnt. Interessanterweise kann je- genaue zeitliche Abfolge der Gesangs- doch ein Gesang bestehend aus einem struktur benötigt wird, könnte auch einen Gemisch zu kurzer und zu langer Pau- paradoxen neurophysiologischen Befund sendauern wieder sehr attraktiv sein, so erklären (Clemens et al., 2011; Vogel et lange der Mittelwert beider Pausendau- al., 2005; Wohlgemuth und Ronacher ern dem bevorzugten Wert entspricht. 2007). Das auditorische System der Feld- Ähnliche Befunde sind von Grillen be- heuschrecken umfasst mehrere Verarbei- kannt (Pollack and Hoy, 1981). Diese Er- tungsstufen: Die 'Ohren' liegen im ersten gebnisse sind nicht konsistent mit dem Abdominalsegment. Von dort projizieren oben genannten Befund, dass die Tiere auditorische Rezeptorneurone ins Meta- das genaue zeitliche Muster auswerten. thorakalganglion, wo der akustische Reiz Dieser Widerspruch kann jedoch im in zwei Schritten vorverarbeitet wird be- Rahmen des Modells aufgelöst werden: vor Information zum Gehirn gelangt. Wie oben beschrieben, werden die Interessanterweise ist die zeitliche Präzi- Merkmalsdetektoren nur dann aktiv, wenn sion, mit der der Gesang neuronal abge- die zeitliche Struktur des Reizes mit dem bildet wird, am Ende der Vorverabeitung des Musters übereinstimmt – auf der rela- überraschend niedrig. Scheinbar geht al- tiv kurzen Zeitskala des Musters ist die so Information über die zeitliche Struktur zeitliche Struktur des Gesanges also in des Gesanges verloren. Wenn jedoch mit der Tat entscheidend. Da die Ausgabe- der Vorverarbeitung die Merkmalsdetek- werte der Merkmalsdetektoren jedoch tion – also die Extraktion zeitlich präziser über den gesamten Gesang akkumuliert Muster – abgeschlossen ist, wird eine werden, kann in die Gesangsbewertung energieaufwendige präzise neuronale Sti- keine Information über die genaue zeitli- mulus-Repräsentation gar nicht mehr be- che Struktur auf einer längeren Zeitskala nötigt, da im folgenden Akkumulations- – die genaue Länge einer jeden Pause – schritt im Gehirn ohnehin nur die mittlere einfließen. Stattdessen wird eben nur die Aktivität ausgewertet wird. mittlere Pausendauer abgebildet und aus- Das hier vorgeschlagene Modell kann gewertet. Das Modell löst also den Wider- also verschiedene Aspekte des Verhal- spruch zwischen beiden Hypothesen auf, tens und der Neurophysiologie bei der da es zwei Zeitskalen vereint: eine kurze, Gesangserkennung in Feldheuschrecken die mit der Existenz spezifischer zeit- erklären. Dabei liefert es eine generative licher Muster verknüpft ist und durch die Beschreibung, das heißt, im Vergleich zu

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einer einfachen Präferenzfunktion, die die Danksagungen: Verhaltensantwort in Relation zu einem Vor allem möchte ich Bernhard Ronacher Signalparameter setzt, kann unser Modell danken, der mich in seine Arbeitsgruppe zeigen, durch welche Prozesse man vom aufgenommen hat und mir immer mit Rat Stimulus zur Verhaltensantwort gelangt. und Tat zur Seite stand. Besonderer Dank Des Weiteren erlaubt das Modell eine gilt auch Sandra Wohlgemuth, Susanne verhaltenszentrierte Beschreibung von Schreiber und Matthias Hennig, mit de- Signalen. Klassischerweise werden Kom- nen ich in verschiedenen Projekten wäh- munikationssignale über für uns offen- rend der Doktorarbeit zusammengear- sichtliche und leicht extrahierbare Para- beitet habe. Nicole Stange, Stefanie meter beschrieben. Diese 'anthropozen- Krämer und Olaf Kutzki haben ihre expe- trische' Beschreibung mag jedoch wenig rimentellen Daten zum Testen des Mo- Übereinstimmung mit der Art und Weise dells zur Verfügung gestellt – ohne sie haben, wie Tiere selbst diese Signale würden diese Ergebnisse nicht existieren. wahrnehmen und bewerten. Die aus Ver- Des Weiteren danke ich dem Bernstein- haltensdaten gelernten Merkmale erlau- zentrum in Berlin (GRK 1589) und dem ben dagegen eine Signalbeschreibung, Sonderforschungsbereich 618 für finan- die sich explizit am Verhalten orientiert. zielle Förderung während meiner Doktor- Außerdem ist das Modell physiolo- arbeit. Schließlich möchte ich der Deut- gisch plausibel – jedes Element des Mo- schen Zoologischen Gesellschaft für die dells ist leicht biophysikalisch implemen- Verleihung des Horst-Wiehe Preises dan- tierbar. Damit liefert das Modell nicht nur ken. eine kompakte Beschreibung von Ent- scheidungsprozessen, sondern zugleich auch eine Hypothese, wie dieser Prozess Literatur neuronal realisiert sein kann. allgemein Andersson, M., and Simmons, L.W. (2006). Schließlich ist der Ansatz , Sexual selection and mate choice. Trends d.h. nichts an der grundlegenden Modell- in Ecology & Evolution 21, 296–302. struktur ist spezifisch an den hier unter- Brunton, B.W., Botvinick, M.M., and Brody, C.D. suchten Entscheidungsprozess ange- (2013). Rats and Humans Can Optimally Accumulate Evidence for Decision-Mak- passt. Mit Erfolg wurde dieser Ansatz ing. Science 340, 95–98. auch angewandt, um die Gesangserken- Clemens, J., and Hennig, R.M. (2013). Compu- nung in zwei Grillenarten zu erklären tational principles underlying the recogni- (Clemens and Hennig, 2013). Wahrschein- tion of acoustic signals in insects. Journal of Computational Neuroscience 35, 75–85. lich ist er in der Lage, bestimmte Ent- Clemens, J., and Ronacher, B. (2013). Feature scheidungsprozesse auch in höheren Tie- extraction and integration underlying per- ren zu erklären. Damit kann der hier ceptual decision making during courtship vorgeschlagene Ansatz nützliches Werk- behavior. Journal of Neuroscience 33, zeug sein, natürliches Verhalten in ver- 12136–12145. Clemens, J., Kutzki, O., Ronacher, B., Schreiber, schiedenen Bereichen der Neuroetholo- S., and Wohlgemuth, S. (2011). Efficient gie zu erklären. transformation of an auditory population

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code in a small sensory system. PNAS 108, Pollack, G.S., and Hoy, R. (1981). Phonotaxis to 13812–13817. individual rhythmic components of a com- Clemens, J., Wohlgemuth, S., and Ronacher, B. plex cricket calling song. Journal of Com- (2012). Nonlinear computations underlying parative Physiology A 144, 367–373. temporal and population sparseness in the Rieke, F., Warland, D.K., Deruyter- auditory system of the grasshopper. Jour- vansteveninck, R., and Bialek, W. (1999). nal of Neuroscience 32, 10053–10062. Spikes: Exploring the Neural Code (Com- Dayan, P., and Abbott, L.F. (2001). Theoretical putational Neuroscience) (The MIT Press). neuroscience. The MIT Press. Rust, N.C., Schwartz, O., Movshon, J.A., and Si- Geffen, M.N., Broome, B.M., Laurent, G., and moncelli, E.P. (2005). Spatiotemporal ele- Meister, M. (2009). Neural Encoding of ments of macaque v1 receptive fields. Rapidly Fluctuating Odors. Neuron 61, Neuron 46, 945–956. 570–586. Ryan, M.J., and Cummings, M.E. (2013). Per- Gold, J.I.I., and Shadlen, M.N. (2007). The Neu- ceptual Biases and Mate Choice. Annual ral Basis of Decision Making. Annual Re- Reviews in Ecology, Evolution, and System- views in Neuroscience 30, 535–574. atics 44, 437–459. Helversen, von, D. (1972). Gesang des Männ- Schmidt, A., Ronacher, B., and Hennig, M.R. chens und Lautschema des Weibchens bei (2008). The role of frequency, phase and der Feldheuschrecke Chorthippus bigut- time for processing of amplitude modulat- tulus (Orthoptera, Acrididae). Journal of ed signals by grasshoppers. Journal of Comparative Physiology A 81, 381–422. Comparative Physiology A 194, 221–233. Helversen, von, D., and Helversen, von, O. Shadlen, M.N., and Kiani, R. (2013). Decision (1998). Acoustic pattern recognition in a Making as a Window on Cognition. Neuron grasshopper: processing in the time or fre- 80, 791–806. quency domain? Biological Cybernetics Vogel, A., Hennig, M.R., and Ronacher, B. 79, 467–476. (2005). Increase of neuronal response vari- Hennig, M.R. (2003). Acoustic feature extrac- ability at higher processing levels as re- tion by cross-correlation in crickets? Jour- vealed by simultaneous recordings. Journal nal of Comparative Physiology A 189, of Neurophysiology 93, 3548–3559. 589–598. Wohlgemuth, S., and Ronacher, B. (2007 ).. Au- Kroodsma, D.E. (1996). Ecology and evolution ditory Discrimination of Amplitude Modu- of acoustic communication in birds (Com- lations Based on Metric Distances of Spike. stock Pub Assoc). Journal of Neurophysiology 97, 3082-3092. McDermott, J.H., Schemitsch, M., and Simon- Znamenskiy, P., and Zador, A.M. (2013). Corti- celli, E.P. (2013). Summary statistics in au- costriatal neurons in auditory cortex drive ditory perception. Nature Neuroscience decisions during auditory discrimination. 16, 493–498. Nature 497, 482-485. Mitchell, M. (1998). An Introduction to Genetic Algorithms (Complex Adaptive Systems) (A Bradford Book).

Dr. Jan Clemens Dept. of Neurobiology Princeton University [email protected]

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Laudatio: Walther-Arndt-Preis an Sylvia Cremer

Joachim Kurtz

Es ist mir eine große Freude und Eh- re, Ihnen mit der diesjährigen Walther- Arndt Preisträgerin der DZG, Dr. Sylvia Cremer, eine ausgezeichnete Evolutions- biologin und gute Freundin vorstellen zu dürfen. Wie bei vielen von uns, so reicht auch bei Sylvia Cremer die Begeisterung für die Natur weit zurück und beginnt mit Ak- tivitäten und Praktika im Naturschutz. Ihre Diplomarbeit machte sie zur Bioakustik und Artbildung an Heuschrecken, und in dieser Zeit muss es gewesen sein, dass wir uns das erste mal über den Weg ge- laufen sind, als Sylvia von Klaus Reinhold zu einem Vortrag nach Bonn eingeladen worden war. Mit der Doktorarbeit kam die Begei- sterung für soziale Insekten, v.a. Ameisen, Eine strahlende Preisträgerin: Sylvia Cremer umgeben von der Präsidentin Constance und diese hat bis heute nicht nachgelas- Scharff und ihrem Laudator Joachim Kurtz. sen. Ich möchte kurz einige Aspekte aus Foto Sabine Gießler ihrem Promotionsprojekt vorstellen, das sie in der auf dem Gebiet der sozialen In- Diese paaren sich mit neu schlüpfenden sekten herausragenden Arbeitsgruppe Jungköniginnen. Um Konkurrenten auszu- von Jürgen Heinze, zunächst in Erlangen schließen, bekämpfen sie diese auf eine und dann in Regensburg, durchgeführt interessante Art und Weise. Sie be- hat. Dieses zeigt wie vielfältig und span- schmieren sie mit Substanzen, die die Ar- nend Forschung zur Evolution von Verhal- beiterinnen aggressiv machen, so dass ten sein kann. sie dann das beschmierte Männchen tö- Sylvia wollte den Männchen-Dimor- ten. Das klingt eher nach Politik... Doch phismus bei einer tropischen Ameise zurück zu den Ameisen. Sylvia hat untersuchen. Zunächst gab es aber kei- schließlich herausgefunden, dass die nen Dimorphismus, sondern die Ameisen zweite Männchen-Morphe, die friedlichen haben im Labor nur die äußerst spekta- geflügelten Männchen, nur bei Stress der kulären Kämpfer-Männchen produziert. Kolonie produziert werden. Offensichtlich

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hat Sylvia also ihre Ameisen zunächst zu Sylvia Cremer, Gewinnerin des Walther-Arndt- gut behandelt, daher fehlten diese. Preises der DZG 2013 bei ihrem Vortrag in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- Als Postdoc ging Sylvia dann zu Koos chen. Boomsma nach Kopenhagen, um das Foto Sabine Gießler Phänomen der sog. Superkolonien bei in- vasiven Ameisen zu verstehen. Die Grup- Arten einen Vorteil haben könnten, weil pe von Koss Boomsma muss man sich sie quasi ihre Parasiten daheim zurük- auch in etwa so wie eine Superkolonie klassen. vorstellen: Ein unglaubliches Umfeld für Die beiden Felder Parasitenresistenz jeden, der an sozialen Insekten arbeitet. und Soziale Insekten zusammenzubrin- Sylvia untersuchte eine invasive Ameisen- gen war der vielleicht bislang wichtigste art, die Gartenameise. Nun geschah es, Schritt in Sylvias wissenschaftlicher Lauf- dass die Feinde der Ameisen in Sylvias bahn – und ich konnte glücklicherweise Interesse rückten: Parasiten! Die 'Parasite auch ein wenig dazu beitragen. Zusam- release' Hypothese besagt, dass invasive men mit Paul Schmid-Hempel bereitete

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ich nämlich eine Fokusgruppe zum The- ten zu wehren, z.B. durch die Übertra- ma Evolutionäre Immunologie am Wis- gung von schützenden Substanzen auf senschaftskolleg in Berlin vor und wir be- Gruppenmitglieder oder durch das Ent- schlossen, Sylvia als Stipendiatin dorthin fernen von Parasiten oder Sporen. Sogar einzuladen, was ein voller Erfolg war. so etwas wie aktive Immunisierung durch Für diejenigen unter Ihnen, die das Übertrag geringer Mengen von Pathoge- Wissenschaftskolleg nicht kennen, möch- nen, die dann zu einer Immunaktivierung te ich kurz darstellen, was es ist: Das Wi- führen, vergleichbar mit einer Impfung, ist ko ist im Prinzip ein Ort zum Nachden- möglich, wie Sylvias Gruppe kürzlich zei- ken, denn dazu kommt man als gen konnte. Soziale Immunität hat weit Wissenschaftler heute ja nur noch selten. reichende Konsequenzen, und wurde z.B. Wissenschaftler, Philosophen und auch auch als ein möglicher Grund gesehen, Künstler ganz unterschiedlichster Aus- wieso sich im Genom der Biene ein ver- richtung werden für bis zu einem Jahr gleichsweise verarmtes Repertoire an Im- dorthin eingeladen und müssen eigent- mungenen findet: Das individuelle Im- lich nichts tun – außer, ja, nachdenken! Es munsystem kann eventuell etwas ver- waren dort gleichzeitig sehr interessante nachlässigt werden, wenn zudem soziale und teilweise mittlerweile berühmte Leu- Immunität zur Verfügung steht. te, zum Beispiel Andreas Vosskuhle, der Damit bin ich fast am Ende meiner jetzige Präsident des Bunderverfassungs- Laudatio, möchte aber nochmals betonen, gerichts, mit dem wir dort das ein oder wie wichtig interdisziplinäre Forschung andere Bier getrunken haben, denn dort für Sylvia ist. So war sie nicht nur am Wis- hatte er ja noch Zeit dafür. senschaftskolleg, sondern war auch Mit- Dort am Wiko haben wir auch das glied der Jungen Akademie der Leopoldi- Konzept für ein DFG Schwerpunktpro- na und der Berlin-Brandenburgischen gramm zum Thema Host-Parasite Coevo- Akademie der Wissenschaften und ist Mit- lution entwickelt, in welchem dann auch glied der Jungen Kurie der Österreichi- Sylvia ein Projekt hatte während der Zeit, schen Akademie der Wissenschaften. Aber in der sie nun wieder in Deutschland ar- auch im ganz normalen Forschungsalltag beitete, und zwar als Gruppenleiterin in ist Interdisziplinarität für sie sehr wichtig. der Gruppe von Jürgen Heinze in Re- So arbeitet sie z.B. mit Mathematikern zu- gensburg, wo sie 2010 habilitierte. sammen, um Modelle zur Krankheitsaus- Nicht zuletzt durch intensive Diskus- breitung in sozialen Netzwerken zu ent- sionen mit Biologen, aber insbesondere wickeln. auch mit Nicht-Biologen entwickelte Syl- Das Institut, an dem sie jetzt als Assi- via das Konzept der 'Social Immunity' stant Professor arbeitet, nimmt Interdiszi- weiter und veröffentlichte ein vielbeach- plinarität ebenfalls sehr wichtig, es ist das tetes Review dazu in Current Biology. So- österreichische Institute of Science and zialen Insekten stehen neben ihrem indi- Technology (IST) bei Wien. Sylvias viduellen Immunsystem weitere Möglich - gegenwärtige Forschung wird unter an- keiten zur Verfügung, sich gegen Parasi- derem durch den renommierten ERC

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Starting Grant gefördert. Zu ihrer aktuel- eben doch manchmal geht, Familie und len Arbeit werden wir gleich mehr erfah- Beruf unter einen Hut zu bringen. Ihren ren und ich kann jetzt schon versprechen, Mann kennengelernt hat Sylvia übrigens, dass es höchst spannend werden wird. wie könnte es anders sein, in einem bio- Lassen Sie mich zum Schluss aber logischen Kontext, und zwar an einem noch erwähnen, dass neben der Arbeit Krötenzaun... sehr romantisch, und man auch die Familie für Sylvia sehr wichtig fragt sich, wer hier wohl welchen Frosch ist, sie hat zwei kleine Töchter und hat zum Prinzen geküsst hat...? das große Glück, dass ihr Mann, Michl Damit bin ich am Ende meiner Lauda- Sixt, ebenfalls am IST eine Gruppenleiter- tio angekommen und möchte Dir, liebe Stelle bekommen hat. Ein Beispiel einer Sylvia, ganz herzlich zum Walther-Arndt- gelungenen Doppelkarriere, das viel- Preis gratulieren und Dir weiterhin soviel leicht ein wenig Hoffnung macht, dass es Erfolg wünschen!

Dr. Joachim Kurtz MPI f. Limnologie, Abt. Evolutionsökologie August-Thienemann-Str. 2 24306 Plön [email protected]

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Gemeinsame Krankheitsabwehr in Ameisengesellschaften

Sylvia Cremer

"Soziale Immunität" bei Ameisengesell- lektiv durchgeführten Massnahmen, die schaften bedeutet, dass nicht nur die ein- die Zusammenarbeit mehrerer Tiere um- zelnen Koloniemitglieder individuell fassen, sei es, weil sie sich gegenseitig Krankheiten bekämpfen, sondern dass helfen (z.B. putzen und pflegen), oder darüber hinaus kollektive Massnahmen, weil sie gemeinsam eine bestimmte Auf- beispielsweise gemeinsame Nesthygiene gabe durchführen (z.B. Nesthygiene). und gegenseitiges Putzen, Krankheiten Gleich wie ein einzelner Organismus, eindämmen können und Epidemien in so kann sich auch der "Superorganismus" den Kolonien verhindern helfen. Ameisenkolonie (Wheeler 1911, Cremer Leben viele Individuen auf engem and Sixt 2009) in mehreren Schritten vor Raum zusammen, so können sich Krank- Krankheiten schützen (Cremer et al. heiten leicht ausbreiten. Dies ist um so 2007): zunächst sollte durch Vermeidung mehr der Fall, je enger Gruppenmitglie- riskanter Bereiche oder Individuen eine der miteinander verwandt sind, da sie da- Ansteckung mit dem Krankheitserreger her gegenüber den gleichen Krankheits- vermieden werden. Nach erfolgter Infek- erregern anfällig sind. Dies gilt ebenso tion sollte die Vermehrung des Erregers für Monokulturen in der Landwirtschaft eingedämmt werden und letztlich sollte wie auch für enge Familienverbände in die Verbreitung eingeschränkt werden, Gesellschaften von Menschen und im sei es zu Nachbar- oder zu Tochterkolo- Tierreich. Besonders grosse Familienver- nien. Soziale Insektenstaaten haben eine bände finden sich in den Kolonien sozia- Vielzahl ausgefeilter Strategien entwik- ler Insekten (Wespen, Bienen, Ameisen kelt, um Ansteckung, Vermehrung und und Termiten), die eine Gruppengrösse Verbreitung ansteckender Krankheiten von wenigen Hundert bis mehreren Milli- einzuschränken. onen Tieren umfassen können – meist Ab- Ameisen und Bienen erkennen und kömmlinge einer einzigen Königin (Höll- vermeiden kontaminierte Bereiche und dobler and Wilson 1990, Schmid-Hempel ziehen im Fall einer Häufung infektiösen 1998). Materials rund um ihr Nest einfach um Durch den engen Sozialkontakt in Ge- (Drees et al. 1992, Oi and Pereira 1993). sellschaften kommt es zwar vermehrt zur Da beim Verlassen des geschützten Ne- Krankheitsausbreitung, allerdings ermög- stes gerade während der Futtersuche ein licht er auch eine zusätzliche Ebene der Kontakt mit Parasitoiden, Parasiten und "sozialen Krankheitsabwehr" (Cremer et Pathogenen nicht immer vermieden wer- al. 2007, Wilson-Rich et al. 2009, Evans den kann, haben soziale Insekten aktive and Spivak 2010). Diese besteht aus kol- Massnahmen ergriffen, sich während die-

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ser risikoreichen Aufgaben zu schützen. Ein besonders spektakuläres Beispiel stellen die extrem hochentwickelten Blatt- schneiderameisen dar. Diese schneiden kleine Stückchen von Blättern ab, tragen diese ins Nest ein, und nutzen sie als Sub- strat zum Wachstum eines Pilzes, von dem sie sich ausschliesslich ernähren (Pilzgar- ten). Um das Einbringen von Pathogenen zu vermeiden, "reitet" eine Mini-Arbeiter- Abb. 1: Kleine Arbeiterinnenkaste der Blatt- Atta innenkaste auf den abgeschnittenen Blät- schneiderameise . Kleine Arbeiterinnen putzen die Blätter, während sie ins Nest einge- tern mit zum Nest (Abb. 1), putzt diese, tragen werden. Copyright Sophie A.O. Armita- und wehrt zusätzlich noch Angriffe para- ge, Universität Münster sitoider Fliegen ab (Vieira-Neto et al. 2006). Zusätzlich zu den grossen Arbei- wird nicht direkt aneinander übergeben, terinnen, die die Blätter schneiden und sondern indirekt ohne jegliche Interaktion tragen hat sich in diesen Arten also zum durch Ablegen und späteres Aufsammeln Schutz vor Infektion noch eine weitere, an einer "Übergabestation". Sollte sich ei- viel kleinere, Arbeiterinnenkaste entwik- ne Abfallarbeiterin doch einmal in den kelt. sauberen Pilzgarten wagen, wird sie von Des weiteren betreiben soziale Insek- den Pilzgärtnerinnen aggressiv vertrie- ten sehr effiziente Nesthygiene. Dies um- ben (Hart and Ratnieks 2002). fasst das Entfernen von nicht mehr Nutz- Neben strukturellen und verhaltensbe- barem wie Essensresten (Bot et al. 2001, dingten Hygienemassnahmen werden Hart and Ratnieks 2002) sowie von toten auch antimikrobielle Mittel zur Reinhal- Gruppenmitgliedern (Wilson et al. 1958, tung des Nestes genutzt. Substanzen wie Howard and Tschinkel 1976) aus dem Baumharz werden von Ameisen und Bie- Nest auf Müllhalden bzw. Friedhöfe, die nen gesammelt und ins Nest eingebracht meist ausserhalb des Nestes liegen. Ge- (Christe et al. 2003) und – wie im Fall der rade in den grossen Kolonien der Blatt- Honigbiene – zum Kittmaterial Propolis schneiderameisen fallen aufgrund der weiterverarbeit (Simone-Finstrom and verbrauchten Blätter sehr grosse Mengen Spivak 2010). Die Auskleidung des Ne- an Abfall an, die je nach Art entweder stes mit diesen Substanzen verringert ausserhalb des Nestes, oder in unterirdi- Pilz- und Bakterienwachstum im Nest und schen "Kompostierkammern" gelagert somit auch Erkrankungen der Bewohner werden. Zusätzlich zu dieser klaren räum- (Chapuisat et al. 2007). Das Baumaterial lichen Trennung des Pilzgartens im Nest- einiger Termiten besteht sogar ganz aus inneren von der Mülldeponie, kommt es ihrem eigenen Kot, der ebenfalls antimi- auch noch zu einer Verhaltensabgren- krobielle Wirkung hat (Rosengaus et al. zung der Pilzgartenarbeiterinnen von den 1998a), und Wespen applizieren ihr Gift Abfallarbeiterinnen. Das Abfallmaterial im eigenen Nest (Baracchi et al. 2012).

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Zusätzlich zu diesen vorbeugenden ten Tiere erniedrigt, bzw zu einem milde- Massnahmen, die ständig durchgeführt ren Krankheitsverlauf führt (Hughes et al. werden, kommt es bei Krankheitsbefall zu 2002, Cremer et al. 2007). Die Arbeits- weiteren Reaktionen der Tiere. Zunächst gruppe von Sylvia Cremer konnte jedoch versuchen die gesunden Koloniemitglie- kürzlich zeigen, dass neben der mecha- der durch Putzen die exponierte Brut nischen Entfernung der Krankheitserre- oder adulte Nestgenossen vor einer In- ger auch noch Desinfektion der Körper- fektion zu schützen. Wenn dies jedoch oberfläche mit antimikrobiellen Sub- nicht gelingt, dann wird durch Entfernen stanzen eine weitere sehr wirksame Kom- infektiöser Individuen aus dem Nest der ponente des Putzverhaltens darstellt (Tra- Rest der Kolonie vor Ansteckung ge- gust et al. 2013a). So applizieren Garte- schützt. nameisen ihr – hauptsächlich aus Amei- Nach Kontakt mit Krankheitserregern sensäure bestehendes – Gift während werden sowohl Brut (Ugelvig et al. 2010, des Putzens auf exponierte Brut, und ver- Tragust et al. 2013b) wie auch adulte Ar- ringern so die Keimung beispielsweise beiterinnen (Rosengaus et al. 1998b, Hug- pathogener Pilzsporen, die manuell nicht hes et al. 2002, Reber et al. 2011) von entfernt werden konnten. Nestmitgliedern geputzt (Abb. 2). Hierbei Das Gift wird direkt auf die exponierte nutzen die Tiere ihre Mundwerkzeuge Brut gesprüht, indem die putzende Arbei- zum Entfernen infektiösen Materials von terin ihren Hinterleib mit dem Ausgang der Körperoberfläche der exponierten der Giftdrüse – der Azidopore – über die Tiere. Es war seit längerem bekannt, dass exponierte Brut beugt. Interessanterweise dieses Putzverhalten durch Entfernen der zeigen die Ameisen jedoch weit häufiger Keime das Infektionsrisiko der exponier- eine Applikation mithilfe ihrer Mundwerk- zeuge, nachdem sie das Gift zuvor oral aufgenommen haben (Tragust et al. 2013a). Auf den ersten Blick ist dies ein erstaunliches Verhalten, da die Ameisen keineswegs gegen ihr eigenes Gift resi- stent sind. Der Mundraum der Ameisen ist jedoch, ebenso wie das Körperäusse- re, von einer dicken Kutikulaschicht aus- gekleidet. Es ist daher anzunehmen, dass die Ameisen wohl keine Probleme durch die Giftspeicherung im Mund haben. Die- se bietet jedoch noch einen weiteren Vor- teil: das abgeputzte infektiöse Material Abb. 2: Putzverhalten bei Gartenameisen. wird von den Putzerinnen zunächst in ih- Lasius Arbeiterinnen putzen ein pilzexponier- ren sogenannten Backentaschen (Infra- tes Tier (Metarhizium Pilz), das zur besseren Erkennung rot farbmarkiert wurde. buccaltaschen) gesammelt und kompri- Copyright Matthias Konrad, IST Austria miert, und später ausgespuckt (Quinlan

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and Cherrett 1978, Little et al. 2003). Die Giftaufnahme in den Mund bewirkt nun auch in diesen Backentaschen eine weite- re Desinfektion, so dass nicht nur das putzende Tier selbst vor Ansteckung ge- schützt wird, sondern auch die ausge- spuckten Pellets eine niedrigere Kei- mungsrate aufweisen (Tragust et al. 2013a) , und somit die Umgebung weni- ger stark kontaminiert wird. Das Gift zu- mindest einiger Ameisenarten hat somit Abb. 3: Hygieneverhalten bei Gartenamei- neben der Schutzfunktion gegen Fress- sen. Lasius Arbeiterinnen entfernen pilzinfi- Metarhizium feinde auch eine weitere Funktion in der zierte Puppen ( Pilz) aus der Ko- lonie. Copyright Line V. Ugelvig und Barbara Abwehr gegen Krankheiten. Mitteregger, IST Austria Falls dennoch eine Erkrankung der Brut erfolgt, so wird diese aus dem Nest anzunehmen, dass die Ameisen die Infek- entfernt. Wie seit längerem bekannt ist, tion frühzeitig erkennen können und die zeigen Honigbienen ein Hygieneverhal- Brut entfernen, bevor sich neue Infek- ten, bei dem sie die Deckel der Waben tionsstadien bilden. Hierbei sind die mit erkrankter Brut öffnen und die Brut Ameisen erstaunlich präzise in der Er- entfernen (Rothennuhler 1964). Diese kennung, welche Brut erkrankt ist und Aufgabe wird v.a. von Arbeiterinnen mitt- welche nicht, und tragen abgesehen von leren Alters durchgeführt, und zwar be- kleineren Fehlern nur die infizierte Brut sonders effizient in Kolonien, die einen aus dem Nest. Auffallenderweise tragen sehr guten olfaktorische Erkennungssinn Arten mit kokon-geschützten Puppen die- haben (Gramacho and Spivak 2003). Es se viel seltener aus dem Nest als die Lar- ist also anzunehmen, dass diese "hygieni- ven, während es einen solchen Unter- schen Bienen" die Infektion durch die ver- schied zu Larven bei Arten mit offenen schlossenen Waben riechen können. Die Puppen nicht gibt (Tragust et al. 2013b). Arbeitsgruppe von Sylvia Cremer hat Auch scheint der Kokon eine Art Schutz- kürzlich beschrieben, dass auch Ameisen mantel darzustellen, der es Pathogenen – ein ähnliches Verhalten zeigen (Ugelvig die wie viele Pilze ihren Wirt durch die et al. 2010, Tragust et al. 2013b), obgleich Kutikula penetrieren – erschwert, den Ameisen die Brut nicht in einzelnen Wa- Wirt zu infizieren. Basierend auf diesem ben isolieren, sondern frei ins Nest legen. niedrigeren Infektionsrisiko werden diese Interessanterweise entfernen die Ameisen kokon-geschützten Puppen dann auch die infizierte Brut aus ihrem Nest (Abb. weniger aus dem Nest geworfen, ob- 3), noch bevor sich äussere Anzeichen gleich sie ebenso eine Kontamination mit der Erkrankung zeigen und neue infektiö- Pilzsporen erfahren haben. se Stadien des Pathogens bilden (Ugelvig Während die immobile Brut bei Infek- et al. 2010, Tragust et al. 2013b). Somit ist tion von den Arbeiterinnen aus dem Nest

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ausgetragen wird, kommt es in den mei- derzeit durch eine Kombination empiri- sten Fällen nicht zu einem "Rauswurf" scher Studien und mathematischer Mo- adulter kranker Koloniemitglieder. Ob- dellierung untersucht (Naug and Camazi- wohl die gesunden Koloniemitglieder den ne 2002, Feffermann et al. 2007). kranken gegenüber keine offensichtliche Dass das Zusammenleben mit gesun- Aggression zeigen, halten sich Tiere, die den Nestmitgliedern einen schützenden entweder mit einem Pathogen in Kontakt Effekt und eine Erniedrigung des Erkran- gekommen, oder erkrankt sind, trotzdem kungsrisikos von Tieren hat, die mit weniger in der Kolonie auf als gesunde. Krankheitserregern in Kontakt kamen, Line V. Ugelvig und Sylvia Cremer (2007) wurde in sehr vielen Studien gezeigt (zu- konnten zeigen, dass exponierte Tiere so- sammengefasst in Cremer et al. 2007, fort nach ihrem Kontakt zu einem Pilzpa- Wilson-Rich et al. 2009, Evans and Spivak thogen die Brutkammer präferentiell ver- 2010). Welchen Einfluss das Zusammenle- lassen und keine Brutpflege mehr ben mit kranken Tieren jedoch auf das betreiben. Weiterhin scheinen moribunde Überleben und die Immunfunktion der Bienen (Rueppell et al. 2010) und Amei- Nestmitglieder hat, ist bislang noch weni- sen, egal ob sie aufgrund von Krankheit ger umfangreich untersucht. Einige Stu- oder generellen Alterungsprozessen dem dien konnten zeigen, dass die Pflege Tod nahe sind (Heinze and Walter 2010, kranker Nestangehöriger nur in relativ Bos et al. 2012), das Nest zu verlassen. geringem Ausmass zu einer Erkrankung Diese "Selbst-Entfernung" sollte niedrige- der pflegenden Tiere führt (Rosengaus et re Interaktionsraten dieser Tiere mit ihren al. 1998b, Hughes et al. 2002, Konrad et Nestgenossen zufolge haben und ernie- al. 2012). Stattdessen kann es sogar zu ei- drigt daher wahrscheinlich auch das An- nem Schutz der pflegenden Tiere kom- steckungsrisiko. Eine Art Quarantäne be- men, durch "soziale Immunisierung", die treiben jedoch Termiten, die ihre an bislang für Termiten und Ameisen nach Nematoden erkrankten Nestgenossen Exposition mit Pilzsporen oder Bakterien permanent mit ihren Kotwänden einmau- beschrieben wurde (Traniello et al. 2002, ern (Epsky and Capinera 1988). Ugelvig and Cremer 2007, Hamilton et al. Somit greifen also bei der kollektiven 2011, Konrad et al. 2012). Enger Sozial- Krankheitsabwehr in den Gesellschaften kontakt zu exponierten Tieren kann die sozialer Insekten viele Mechanismen in- Resistenz der Nestmitglieder gegen das einander: Pflegeverhalten, Verwendung jeweilige Pathogen erhöhen, so dass sie antimikrobieller Substanzen, sowie die eine geringere Sterberate zeigen, wenn Modulation von Interaktionen zwischen sie selbst mit dem Pathogen exponiert den Koloniemitgliedern, die die Routen werden, als Tiere, die zuvor nur mit ge- der Krankheitsausbreitung einschränken. sunden Tieren zusammengelebt haben. Welche genauen Effekte diese Verände- Die Arbeitsgruppe von Sylvia Cremer rung der sozialen Netzwerke auf die hat den zugrundeliegenden Mechanis- Krankheitsausbreitung hat, ist bislang mus dieser sozialen Immunisierung für noch nicht genauer verstanden und wird Gartenameisen (Lasius neglectus) nach

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Pilzexposition (Metarhizium anisopliae) (aktive Immunisierung). Ein anderer Me- untersucht. Sie konnte nachweisen, dass chanismus wurde für die soziale Immuni- sich zuvor gesunde Nestmitglieder bei sierung von Ameisen nach bakterieller der Krankenpflege der exponierten Tiere Infektion vorgeschlagen (Hamilton et al. mit geringen Mengen der pathogenen 2011). Hier scheinen infizierte Tiere Pilzsporen anstecken und Mini-Infektio- schützende Immuneffektoren an ihre nen entwickeln. Diese Mini-Infektionen Nestmitglieder weiterzugeben. Somit verlaufen jedoch nicht tödlich (nur ca 2% werden Nestgenossen geschützt, ohne der Nestmitglieder sterben an einer Pilz- selbst eine eigene Immunantwort produ- infektion), sondern führen zur Hochregu- zieren zu müssen (passive Immunisie- lierung einiger Immungene und einer er- rung). Die Verbreitung der antimikrobiell höhten Immunabwehr gegen den Pilz. wirkenden Substanzen vom erkrankten Diese Immunstimulierung bildet die Tier zu seinen gesunden Nestmitgliedern Grundlage für das erniedrigte Erkran- kann im Zuge der Regurgitation von Nah- kungsrisiko, wenn diese Nestgenossen rung und der gegenseitigen Fütterung nach einigen Tagen Sozialkontakt zum ex- erfolgen (Hamilton et al. 2011). ponierten Tier dann selbst einer hohen Das soziale Immunsystem von Insek- Pilzdosis ausgesetzt werden (Konrad et al. tengesellschaften spielt somit eine wichti- 2012). Somit erhalten zuvor naive Nest- ge ergänzende Rolle zum individuellen mitglieder nach dem Prinzip der Variola- Immunsystem und Abwehrverhalten der tion einen Immunschutz. Variolation wur- einzelnen Nestmitglieder. Es erlaubt nicht de auch in der frühen Humanmedizin des nur den grösseren Schutz derjenigen Tie- 9. bis 17. Jahrhunderts praktiziert, um re, die mit Krankheitserregern in Kontakt sich z.B. gegen die Pocken zu schützen kamen, sondern gegebenenfalls sogar ei- (Brimnes 2004). Hierbei wurde infektiö- nen zusätzlichen Schutz für deren Nest- ses Material aus Pusteln Erkrankter ge- mitglieder. Ameisenkolonien besitzen so- wonnen und Gesunden – zumeist den mit eine Art "Immungedächtnis auf Kindern Adliger – in aufgeritzte Haut ein- Kolonieebene". gerieben. In den meisten Fällen bekamen die Kinder nur einen sehr milden Krank- heitsverlauf und waren dann lebenslang Literatur immun. Da diese Methode jedoch das Ri- Baracchi, D., G. Mazza, and S. Turillazzi. 2012. siko von Erkrankungen mit tödlichem Ver- From individual to collective immunity: The lauf in sich trägt, wurde sie später durch role of the venom as antimicrobial agent in the Stenogastrinae wasp societies. J Ins die moderne Impfung mit attenuierten Physiol 58:188–193. bzw. toten Erregern ersetzt, die keinen Bos, N., T. Lefevre, A. B. Jensen, and P. d'Ettorre. Krankheitsausbruch auslösen können. 2012. Sick ants become unsociable. J Evol Das Zusammenleben mit pilzexponier- Biol 25:342–351. ten Ameisen führt somit zu einer Anstek- Bot, A. N. M., C. R. Currie, A. G. Hart, and J. J. Boomsma. 2001. Waste management in kung der Nestmitglieder, die dann eine leaf-cutting ants. Ethology Ecology & Evo- eigenständige Immunantwort entwickeln lution 13:225-237.

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Brimnes, N. 2004. Variolation, vaccination and Hart, A. G. and F. L. W. Ratnieks. 2002. Waste popular resistance in early colonial South management in the leaf-cutting ant Atta India. Med Hist 48:199-228. colombica. Behavioral Ecology 13:224-231. Chapuisat, M., A. Oppliger, P. Magliano, and P. Heinze, J. and B. Walter. 2010. Moribund ants Christe. 2007. Wood ants use resin to pro- leave their nests to die in social isolation. tect themselves against pathogens. Proc. R. Curr. Biol. 20:249–252. Soc. Lond. B 274:2013-2017. Hölldobler, B. and E. O. Wilson. 1990. The Ants. Christe, P., A. Oppliger, F. Bancala, G. Castella, Harvard University Press, Cambridge. and M. Chapuisat. 2003. Evidence for col- Howard, D. F. and W. R. Tschinkel. 1976. As- lective medication in ants. Ecol. Lett. 6:19- pects of necrophoric behavior in the red 22. imported fire ant, Solenopsis invicta. Be- Cremer, S., S. A. O. Armitage, and P. Schmid- haviour 56:158-180. Hempel. 2007. Social immunity. Curr. Biol. Hughes, W. O. H., J. Eilenberg, and J. J. Booms- 17:R693-702. ma. 2002. Trade-offs in group living: trans- Cremer, S. and M. Sixt. 2009. Analogies in the mission and disease resistance in leaf-cut- evolution of individual and social immunity. ting ants. Proc. R. Soc. Lond. B Phil. Trans. Roy. Soc. B 364 129-142. 269:1811-1819. Drees, B. M., R. W. Miller, S. B. Vinson, and R. Konrad, M., M. L. Vyleta, F. J. Theis, M. Stock, S. Georgis. 1992. Susceptibility and behav- Tragust, M. Klatt, V. Drescher, C. Marr, L. V. ioral response of red imported fire ant (Hy- Ugelvig, and S. Cremer. 2012. Social trans- fer of pathogenic fungus promotes active menoptera: Formicidae) to selected ento- immunisation in ant colonies. PLoS Biol mogenous nematodes (Rhabditida: 10:e1001300. Steinernematidae & Heterorhabditidae). J. Little, A. E. F., T. Murakami, U. G. Mueller, and Econ. Entomol. 85:365-370. C. R. Currie. 2003. The infrabuccal pellet Epsky, N. D. and J. L. Capinera. 1988. Efficacy piles of fungus-growing ants. Naturwis- of the entomogenous nematode Steinerne- senschaften 90:558-562. ma feltiae against a subterranean termite, Naug, D. and S. Camazine. 2002. The role of Reticulitermes tibialis (Isoptera, Rhinotermi- colony organization on pathogen transmis- tidae). J. Econ. Entomol. 81:1313-1317. sion in social insects. J. Theor. Biol. Evans, J. D. and M. Spivak. 2010. Socialized 215:427-439. medicine: individual and communal dis- Oi, D. H. and R. M. Pereira. 1993. Ant behavior ease barriers in honey bees. J Invertebr and microbial pathogens (Hymenoptera: Pathol 103:S62-S72. Formicidae). Fla. Entomol. 76:63-74. Feffermann, N. H., J. F. A. Traniello, R. B. Rosen- Quinlan, R. L. and J. M. Cherrett. 1978. Studies gaus, and D. V. Calleri. 2007. Disease pre- on the role of the infrabuccal pocket of the vention and resistance in social insects: leaf-cutting ant Acromyrmex octospinosus modeling the survival consequences of (Reich) (Hym., Formicidae). Insect. Soc. immunity, hygienic behavior, and colony 25:237-245. organization. Behav. Ecol. Sociobiol. Reber, A., J. Purcell, S. D. Buechel, P. Buri, and 61:565-577. M. Chapuisat. 2011. The expression and Gramacho, K. P. and M. Spivak. 2003. Differ- impact of antifungal grooming in ants. J ences in olfactory sensitivity and behav- Evol Biol 24:954-964. ioural responses among honey bees bred Rosengaus, R. B., M. R. Guldin, and J. F. A. for hygienic behavior. Behav. Ecol. Socio- Traniello. 1998a. Inhibitory effect of termite biol. 54:472-479. fecal pellets on fungal spore germination. J. Hamilton, C., B. T. Lejeune, and R. B. Rosen- Chem. Ecol. 24:1697-1706. gaus. 2011. Trophallaxis and prophylaxis: Rosengaus, R. B., A. B. Maxmen, L. E. Coates, social immunity in the carpenter ant Cam- and J. F. A. Traniello. 1998b. Disease resist- ponotus pennsylvanicus. Biol Lett 7:89-92. ance: a benefit of sociality in the damp-

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wood termite Zootermopsis angusticollis Traniello, J. F. A., R. B. Rosengaus, and K. (Isoptera: Termopsidae). Behav. Ecol. So- Savoie. 2002. The development of immuni- ciobiol. 44:125-134. ty in a social insect: evidence for the group Rothennuhler, W. C. 1964. Behavior genetics of facilitation of disease resistance. P. Natl. nest cleaning in honey bees. IV. Responses Acad. Sci. USA 99:6838-6842. of F1 and backcross generations to dis- Ugelvig, L. V. and S. Cremer. 2007. Social pro- ease-killed brood. Am Zoologist 4:111-123. phylaxis: group interaction promotes col- Rueppell, O., M. K. Hayworth, and N. P. Ross. lective immunity in ant colonies. Curr. Biol. 2010. Altruistic self-removal of health-com- 17:1967-1971. promised honey bee workers from their Ugelvig, L. V., D. J. C. Kronauer, A. Schrempf, J. hive. J Evol Biol 23:1538–1546. Heinze, and S. Cremer. 2010. Rapid anti- Schmid-Hempel, P. 1998. Parasites in social in- pathogen response in ant societies relies sects. Princeton University Press, Prince- on high genetic diversity. Proc. R. Soc. ton, New Jersey. Lond. B 277:2821-2828. Simone-Finstrom, M. and M. Spivak. 2010. Vieira-Neto, E. H. M., F. M. Mundim, and H. L. Propolis and bee health: the natural history Vasconcelos. 2006. Hitchhiking behaviour and significance of resin use by honey in leaf-cutting ants: an experimental evalu- bees. Apidologie 41:295 - 311. ation of three hypotheses. Insect. Soc. Tragust, S., B. Mitteregger, V. Barone, M. Kon- 53:326-332. rad, L. V. Ugelvig, and S. Cremer. 2013a. Wheeler, W. M. 1911. The ant-colony as an or- Ants disinfect fungus-exposed brood by ganism. J. Morphol. 22:307-325. oral uptake and spread of their poison. Wilson, E. O., N. I. Durlach, and L. M. Roth. Curr. Biol. 23:76-82. 1958. Chemical releasers of necrophoric Tragust, S., L. V. Ugelvig, M. Chapuisat, J. behavior in ants. Psyche 65:154-161. Heinze, and S. Cremer. 2013b. Pupal co- Wilson-Rich, N., M. Spivak, N. H. Fefferman, coons affect sanitary brood care and limit and P. T. Starks. 2009. Genetic, individual, fungal infections in ant colonies. BMC Evol- and group facilitation of disease resistance Biol 13:225. in insect societies. Annu. Rev. Entomol. 54:405-423.

Dr. Sylvia Cremer IST Austria, Am Campus 1 A-3400 Klosterneuburg [email protected]

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Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Der diesjährige Werner-Rathmayer- Preis der Deutschen Zoologischen Ge- sellschaft wurde Frau Freia-Raphaella Lo- renz zugesprochen. Die Preisträgerin wurde beim 49. Bundeswettbewerb der Stiftung Jugend forscht (29.5.-1.6.2014) in Künzelsau ermittelt; die Preisträgerin ist 18 Jahre alt und kommt vom Graf-Mün- ster-Gymnasium in Bayreuth. Der Preis ist mit 500 Euro dotiert und mit einer Einla- dung auf die Jahrestagung der DZG 2014 in Göttingen verbunden, wo die junge Forscherin Gelegenheit hat zu Kontakten mit Fachkollegen.

Der Titel der eingereichten Arbeit war: „Der Geruch des Todes – Nekromone bei Insekten und weiteren Gliedertieren” Abb. 1: . Freia-Raphaella Lorenz mit Professor Freia-Raphaella Lorenz beschreibt die C. Duch bei der Preisverleihung in Künzelsau Zielsetzung ihrer Arbeit wie folgt: “Im ständigen „Kampf ums Dasein“ Schaben, Grillen, Stabheuschrecken, Ohr- nutzen Gliedertiere eine Vielzahl von würmern und Asseln zu überprüfen.” Überlebensstrategien. Dazu kann auch die Freia-Raphaella Lorenz setzt sich kri- Verwendung spezieller Duftstoffe, der tisch auseinander mit Arbeiten der Ar- Nekromone, gezählt werden. Diese Phero- beitsgruppe Rollo (Rollo et al., 1994; Yao mone werden von Kadavern abgesondert et al., 2009), wo auch der Begriff Nekro- und fungieren folglich als passive Alarm- mon herstammt. In Verhaltensversuchen pheromone ... Der in der Wissenschaft wird geprüft, ob die Versuchstiere tote gängigen Nekromon-Theorie zufolge, ver- Artgenossen meiden und, sofern dies der ursachen Fettsäuren den für Insekten wie Fall ist, ob auch Kadaver anderer Arten Krebstiere abschreckenden „Geruch des gemieden werden. In einer dritten Ver- Todes“. Insbesondere Öl-und Linolsäure, suchsserie wurde die abschreckende die in der Hämolymphe enthalten sind Wirkung von Öl- und/oder Linolsäure ge- oder bei der Zersetzung entstehen, sind prüft. besonders wirksam. Ziel der Arbeit war es, Die Ergebnisse ihrer Versuche fasst diese These in eigenen Versuchen an die Preisträgerin wie folgt zusammen:

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„Die erzielten Ergebnisse bestätigen und Linolsäure als Botenstoffe. Grillen und die Beobachtungen Rollos bezüglich der Schaben scheinen, wie es an den Bissspu- abschreckenden Wirkung von Kadavern ren der behandelten Wattepads bezie- der eigenen Art auf Schaben und Asseln, hungsweise der Anziehung durch die Fett- ein vergleichbarer Effekt konnte bei den säuren erkennbar war, Öl- und Linolsäure anderen eingesetzten Gliedertieren aller- mit Futter zu assoziieren ... Öl- und Linol- dings kaum nachgewiesen werden. säure sind sehr weit verbreitete Fettsäuren, Stattdessen zeigten sich vielmehr „indi- was zwar möglicherweise für ihre Univer- viduelle“ Reaktionen der Versuchstiere im salität als Nekromone spricht, da sie von Umgang mit Kadavern, die sich in fünf Ver- sehr vielen Arten als Signal verstanden haltensmustern kategorisieren lassen. Er- werden könnten. Diese Fettsäuren sind stens scheinen manche Arten, wie die aber auch omnipräsent und somit unter Stabheuschrecken, eine völlige Indifferenz anderem im üblichen Futter der Tiere ent- gegenüber den Kadavern zu zeigen. Zwei- halten ... Die Verwendung von reinen Fett- tens ist – wie an Grillen beobachtet – eine säuren als Nekromone scheint ohnehin Anziehung durch den gleichartigen Kada- recht unwahrscheinlich, da Tiere zwischen ver und damit einhergehender Kanniba- Kadavern verschiedenen Alters, Ursprungs lismus möglich. Drittens kann, vergleichbar oder Infektions-status unterscheiden kön- mit dem Verhalten der Ohrwürmer, Kanni- nen (Ataya & Lenoir 1984). Öl- und Linol- balismus gegen Kadaver generell prakti- säure können also kaum als einziges Er- ziert, deren Sterbeort im Anschluss aber kennungszeichen eines Kadavers dienen, gemieden werden. Viertens meiden Scha- höchstens als Bestandteile von Pheromon- ben zwar tote Artgenossen, werden aller- Mischungen in Kombination mit weiteren dings von artfremden Kadavern angezo- artspezifischen Komponenten....“ gen und fressen sie. Asseln schließlich, werden von sämtlichen Kadavern abgesto- ßen.... “ und Literatur „Bezüglich der abschreckenden Wir- kung der Fettsäuren konnten die Ergeb- Ataya, H., Lenoir, A., 1984. Necrophoric be- nisse Rollos nur für Asseln, nicht jedoch für havior of Lasius niger L. Insectes Sociaux Schaben bestätigt werden. In den meisten 31, 20-33. Rollo, C.D., Czyzewska, E., Borden, J.H., 1994. Fällen zeigte sich auch keine Korrelation Fatty-acid necromones for cockroaches. der Reaktionen auf Kadaver und Fettsäu- Naturwissenschaften 81, 409-410. ren. So wurden Schaben von toten Artge- Yao, M., Rosenfeld, J., Attridge, S., Sidhu, S., Ak- nossen abgeschreckt, aber von Fettsäuren senov, V., Rollo, C.D., 2009. The ancient chemistry of avoiding risks of predation angezogen, während Stabheuschrecken and disease. Evolutionary Biology 36, 267- zwar die Fettsäuren, aber nicht die Kada- 281. ver mieden. Doch selbst wenn von der Existenz der Nekromone ausgegangen wird, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Öl-

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Vom Pluteus zum Seeigel. Erinnerungen und künstlerische Illustrationen zu Gerhard Czihaks frühen Arbeiten

Albrecht Fischer

Fast alle Zoologen kennen sie, die le- er jetzt, wie viele Dozenten an deutschen bensecht wirkenden, detaillierten Zeich- Universitäten, ein Angebot der Biologischen nungen vom Pluteus und seiner Umwand- Anstalt Helgoland wahr, das sich in einer lung in den Seeigel, die Gerhard Czihak späteren Publikation (Ziegelmeier 1973) erstmals 1960 publizierte (Abb. 1). Sie wur- folgendermaßen liest: „Geschlechtsreife den als Serie oder einzeln in allerlei Bü- Strandigel (Psammechinus miliaris GMELIN) chern abgedruckt (Kaestner 1963; Siewing können während der Laichzeit, Juni/Juli, von 1969; Czihak in Reverberi 1971; Okazaki, in der Biologischen Anstalt … bezogen wer- Czihak 1975; Siewing 1985; Nielsen 2001; den.“ Tatsächlich kommen nach einer der- Goldschmid, in Westheide & Rieger 2007; artigen Bestellung per Schiff und D-Zug Fischer & Dorresteijn, in Fischer 2013). und nach mehrfachem Umladen lebende Aber nur wenige wissen, dass die veröf- Seeigel dieser wärmeresistenten Spezies fentlichten Zeichnungen nach Farbtafeln an- auf dem lokalen Güterbahnhof an, nach gefertigt worden waren, welche seit ihrer Geschlecht sortiert. Bei hinreichendem Ge- Entstehung (ca. 1958) noch nie publiziert schick lassen sich dann im Labor, fernab wurden. Gerhard Czihak hütete diese Farb- von der See, Gameten, Embryonen und tafeln wie einen Schatz, den seine Familie Larven gewinnen und Entwicklungsvorgän- nach seinem Ableben nun dankenswerter- ge packend miterleben. weise zur Veröffentlichung durch die DZG Auch Gerhard Czihak ist in Tübingen freigegeben hat. Sie sollen zusammen mit mit der Anzucht von Seeigelkeimen erfolg- dem Nachruf an das Wirken des Verstorbe- reich. Entsprechend dem damaligen Unter- nen erinnern und als posthumer Beitrag richtsstil befassten sich die Großpraktikan- Gerhard Czihaks für die Wissenschaft be- ten wochenlang und ganztägig mit ihren wahrt werden. Objekten. Und so wurden im Großprakti- kumsraum, vielleicht unterstützt vom Brut- Wie die Bildtafeln zustande kamen schrank, aus Zygoten Embryonen, aus Em- Warme Sommertage in Tübingen im bryonen Pluteuslarven, und man brachte Jahr 1957. Im alten Zoologischen Institut in die Larven sogar zum Wachsen und zur der Hölderlinstraße unterrichtet neuerdings Metamorphose, nachdem man von Kolle- auch Gerhard Czihak als Wissenschaft- gen aus der früheren AG Max Hartmann licher Assistent in den Praktika für Anfänger am Tübinger Max-Planck-Institut für Biolo- und Fortgeschrittene. Gelernter Insekten- gie sogar die richtigen Futteralgen erhalten morphologe aus der Wiener Schule, nimmt hatte.

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Gerhard Czihak gewinnt zunehmend von biologischen Objekten auszuführen Interesse an den Entwicklungsprozessen versteht und damit auch seinen Lebens- seines Unterrichtsobjekts, und zwar in dem unterhalt aufbessert: Wolfgang Dierl (1935 Maße, dass er sich für den nächsten Ab- – 1996; später Konservator an der Zoologi- schnitt seines Forscherlebens ganz diesem schen Staatssammlung München (Haus- Objekt verschreibt. Der Prozess der Meta- mann 1996). Zusammen schaffen sie nun morphose der Pluteuslarve zum kleinen die Farbtafeln (Titelbild und Abb.2 - 7), bei Seeigel hat es ihm zunächst besonders an- denen W. Dierls Gestaltungsvermögen die getan, und für das ins Auge gefasste erste Hand führte. Man muss sich den Entste- Forschungsprojekt, das weiter unten umris- hungsprozess solcher Tafeln als eine viele sen wird, gilt es nun beim Ablauf der Meta- Tage oder auch Wochen währende ständi- morphose besonders genau hinzuschauen ge Kooperation vorstellen zwischen dem und die sozusagen ultimative Illustration handwerklich geschickten und mit Intuition dieses Vorgangs zu schaffen. Dies ge- begabten Illustrator und dem Forscher, der schieht im Verein mit der Nutzung von das Objekt subtil kennt, Vorlagen liefert Psammechinus miliaris für den Unterricht in und die entstehende Graphik Schritt für den Sommersemestern. Schritt akzeptiert oder korrigiert. Eine der Er kennt aber auch – günstige Fügung! - hier abgebildeten Tafeln (Abb. 8) ist von G. einen Studenten, der geniale Illustrationen Czihak signiert und stammt ganz aus sei-

Abb. 1.1 – 1.6: Larvenentwicklung von Psammechinus miliaris. Zeichnungen von Erich Freiberg (MPI für Biologie, Tübingen); hergestellt ca.1959 unter Verwendung von sechs der hier veröf- fentlichten Farbtafeln als Vorlagen. Abb. 1.1 Pluteus im Alter von 12 Tagen, d. h., eine Woche nach Beginn der Nahrungsaufnahme und des Wachstums. Im Zuge der Larvenentwicklung hat sich bereits die Anzahl der Arme verdoppelt „und das Wimperband entsprechend verlängert, von dem sich vier Abschnitte als „Epauletten verselbständigen. Maßstrich: 100μm, gültig für Abb. 1.1 – 1.6.- Dorsalansicht. Ma: Magen; LH: linkes Hydrocoel; Pfeil: Einsenkung der Körper- wand, künftiges Vestibulum. Unbeschriftete Hinweisstriche (im Uhrzeigersinn): Epaulette – Am- pulle – Steinkanal. Abb. 1.2 Vierzehn Tage alter Pluteus, Dorsalansicht. Ep: Epaulette; rS: rechtes Somatocoel; Pc: Pedizellarien-Anlage; lS: linkes Somatocoel; Im: Imaginalanlage; Pfeil: Vestibu- lum. Unbeschriftete Hinweisstriche (im Uhrzeigersinn): - Steinkanal - Hydroporus. Abb. 1.3 Plu- teus im Alter von 28 Tagen. Die Imaginalanlage nimmt unübersehbar Gestalt an; Skelettelemen- te in Form von Stacheln und Basalplatten in der Körperwand des jungen Seeigels sind in ihr erkennbar.- Dorsalansicht. Unbeschriftete Hinweisstriche (im Uhrzeigersinn): Hydroporus – Epaulette – 2x Pedicellarienanlage – linkes Somatocoel. Abb. 1.4 Pluteuslarve im Prozess der Metamorphose, 33 Tage alt; Dorsalansicht. Das Vestibulum ist durch die Ausstülpung der Imagi- nalanlage vergangen. Fünf kräftige Saugfüßchen, die „Primärtentakel“, bewegen sich heftig und ermöglichen diesem Mischwesen jederzeit Laufbewegungen auf dem Untergrund; es kann aber auch noch mit den Wimpern seiner Epauletten schwimmen. Fünf Zahntaschen bergen die Anla- gen von fünf Zähnen, die beim Wechsel von der planktotrophen Ernährungsweise des Pluteus zu derjenigen des benthischen, herbivoren Seeigels erforderlich werden. Za: Zahntasche; Pt. Pri- märtentakel. Unbeschriftete Hinweisstriche (im Uhrzeigersinn): Hydroporus – Pedizellarienanla- ge – Magen - Pedizellarienanlage. Abb. 1.5 Spätes Metamorphosestadium von 34 Tagen Alter, mit vollständig ausgebildeter Oralseite eines jungen Seeigels und unfertiger Aboralseite, die noch z. T. Merkmale des Pluteus aufweist. Dessen Skelettnadeln werden schließlich abgeworfen. Schrägansicht auf den oralen Pol.- Md: neugebildeter Mund. Abb. 1.6 Junger Seeigel unmittel- bar nach Abschluss der Metamorphose, 35 Tage alt.

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ner Hand. Im Druck erschienen sind die ihrer völlig abweichenden Larvalgestalt oh- Farbtafeln aber, wie gesagt, noch nie. Statt- ne Hilfskriterien nie und nimmer als Echi- dessen ist Czihaks Publikation von 1960 mit nodermen-Jugendstadien erkannt. den ebenfalls so hervorragenden Zeich- Echinodermenlarven ganz anderen Aus- nungen ausgestattet, die wir kennen und sehens sah erstmals der Berliner Zoologe die Erich Freiberg, wissenschaftlicher Gra- Johannes Müller (1801 – 1858) bei seinem phiker am MPI für Biologie und auch Illu- ersten Forschungsaufenthalt im Herbst 1845 strator von Alfred Kühns „Vorlesungen über auf Helgoland (Koller 1958); bei der Erst- Entwicklungsphysiologie“ (2.Aufl. 1965), beschreibung 1846 erwog er die Möglich- nach den Farbvorlagen angefertigt hat. In keit, dass es sich hier um eine neue Tierart seiner Publikation von 1960 preist G. Czi- handeln könnte und prägte unter Bezug auf hak diese Vorlagen als „die vollendeten die typische Skelettstangen-Konstruktion Farbtafeln W. Dierls“. nach dem Wort „pluteus“ für „Staffelei“ die (potenzielle Gattungs-)Bezeichnung. Er Der Pluteus und seine Metamorphose zum schreibt von „wunderlichen“ und „sehr Stachelhäuter werden entdeckt räthselhaften Seethieren“, die zunächst aus Die Metamorphose der Pluteuslarve dem Aufwuchs mariner Hartböden gespült zum Seeigel steht derjenigen der Raupe worden waren, bei einem weiteren Aufent- zum Schmetterling an Rigorosität keines- halt auf Helgoland im Herbst 1846 dann wegs nach. Dennoch hat ihre Entdeckung aber in großer Zahl mit dem inzwischen unvergleichlich weniger Aufsehen erregt von ihm selbst entwickelten Planktonnetz als die Entdeckung der Zugehörigkeiten aus Müllergaze gesammelt werden konn- zwischen spezifischen Raupen oder sonsti- ten. gen Larven und dem adulten Insekt (Ima- Bei der ersten Begegnung mit dem „Plu- go), einer beliebten Beschäftigung im 18. teus paradoxus“ 1845 noch ganz im Unkla- und 19. Jahrhundert, man denke an das ren, ob es sich beim Pluteus überhaupt um Werk von Maria Sibylla Merian. eine Larve und, wenn ja, von welchem Tier Während die adulten Stachelhäuter mit handelte, schließt J. Müller mit seinen Stu- ihrer Größe und derben Körperwand, viel- denten bei dem zweiten Aufenthalt auf Hel- fach auch mit Skeletten, der Wissenschaft goland 1846 schnell die Wissenslücke, in seit langem gut bekannt waren, entzog sich dem er älteren Plutei des gleichen Typs ihre frühe Lebensphase bis 1844 jeglicher wie 1845 begegnet, an deren Flanke nun Kenntnis. Erst dann entdeckte der Norwe- aber je ein kleiner oder auch schon größe- ger Michael Sars (1805 – 1869) die Abkunft rer „Ophiure“, also ein Schlangenstern eines Stachelhäuters (Seestern) von einer sprosst (Müller 1848). J. Müller hat somit durchsichtigen, zarten Schwimmlarve (Bi- den Pluteus erstmals beschrieben und be- pinnaria). Offenbar hatte man die Jugend- nannt, ihn als eine Larvenform identifiziert, stadien wegen ihrer mikroskopischen Grö- die eine Metamorphose durchläuft, und ße, ihrer Durchsichtigkeit und Zerbrech- zwar in einen Stachelhäuter, genauer noch: lichkeit nicht gesehen, hätte sie aber auch in einen Schlangenstern. Gleichzeitig sam- wegen ihrer pelagischen Lebensweise und melt er 1846 auch Plutei von anderer Ge-

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stalt, viele von ihnen auch in unterschied- Packung vieler Epithelzellen ermöglicht lichen Stadien der Vorbereitung auf die wird. Metamorphose, diesmal aber auf die Meta- Unübersehbar ist der Größenzuwachs, morphose zum Seeigel und identifiziert sie den der Pluteus in den ca. vier Wochen bis somit als Plutei von Echinoiden. Müllers Ab- zu seiner Metamorphose erfährt; er wird bildungen dieser Plutei zeigen Merkmale deutlich an den Größenunterschieden zwi- teils von Echinocardium cordatum, teils von schen den maßstabsgerecht nebenein- Psammechinus miliaris, der Art, von der andergestellten Strichzeichnungen Abb. 1.1 Czihaks Bildtafeln handeln. – 1.6. Die Pluteuslarve ist also kein stationä- rer Zustand, sondern wächst und entwickelt Die wissenschaftliche Aussage der Tafeln ihre Gestalt weiter: sie durchläuft somit eine Auf welche Strukturen des Pluteus, auf „Larvenentwicklung“. Während der Seeigel welche Merkmale seines Bauplans wollen als Weidegänger am Meeresboden lebt, ist uns die Tafeln aufmerksam machen? Auffäl- seine Larve in jeder Hinsicht auf den Nah- ligstes Merkmal der Pluteuslarve sind die rungserwerb im Pelagial eingerichtet, – ein „Arme“, zipfelförmige Anhänge, die durch sog. biphasischer Lebenszyklus. je einen Skelettstab aus monokristallinem Ein zweiter Aspekt gewinnt während Calcit gestützt werden und als Gerüst für der Larvenentwicklung an Bedeutung: Es das Ausspannen eines langen Wimperban- bilden sich Strukturen, die die Metamor- des dienen. Anfangs mit vier solchen Ar- phose ankündigen. Am auffälligsten wird ei- men versehen, zeigt das jüngste hier dar- ne radförmige Struktur, die sich in einer gestellte, 12 Tage alte Stadium aber schon Einstülpung an der linken Körperwand des acht Arme, die sich mitsamt ihrem Skelett- Pluteus, dem Vestibulum, bildet, ausdehnt stab in der Folge verlängern und sich mehr und verdichtet, die Imaginal- bzw. Seeigel- und mehr parallel ausrichten (Abb., 1.1; Ti- anlage (Abb. 2 – 6). In völliger Abkehr von telbild). Aus dem schon stark verlängerten den bisherigen Symmetrieverhältnissen Wimperband gliedern sich jederseits zwei etabliert die Imaginalanlage nun die defini- Abschnitte mit besonders dicht stehenden, tive Körperachse senkrecht zu der bisheri- langen Wimpern ab, die „Epauletten“. Sie gen und bildet das Fundament, über dem dienen allein der Fortbewegung, während aus dem bilateralsymmetrischen Pluteus das übrige Wimperband sowohl der Loko- ein fünfstrahlig-rotationssymmetrischer motion als auch dem Herbeistrudeln von Seeigel entsteht. Immer noch eingehüllt Nahrungspartikeln dient. Besonders bei vom Vestibulum, erkennt man zuerst als An- den Epauletten fällt der massive Gewebe- lage (Abb. 7), dann immer deutlicher die wulst auf, der das geschwungene Band von fünf „Primärtentakel“, d. h., die ersten fünf „Wimpern“ (Cilien) unterlagert: Das auffäl- Saugfüßchen, dazu die Konturen und wabi- lige Volumen dieser Struktur erklärt sich gen Skelette von Stacheln und Hautplatten. damit, dass bei Echinodermen jede Zelle An der gegenüberliegenden Flanke und nicht mehr als eine Kinocilie ausbilden mehreren anderen Orten wachsen auf dem kann und der Aufbau eines Wimper- oder Pluteus Pedizellarien – mit einem Skelett Cilienbandes somit nur durch eine dichte versehene Greifapparate - hervor. Es bil-

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den sich also in der Imaginalanlage „alle die Gestaltung der Bildtafeln sicher aus äußeren Organe, vom Mund bis zum Äqua- den Zuchtansätzen für jedes Stadium ein tor, des späteren Seeigels. Die äußeren Or- neues Individuum als Modell heraussuchen gane der apikalen [aboralen] Hälfte vom müssen und die Stadien gemäß ihrem ana- Äquator bis zur Afteröffnung gelangen tomischen Entwicklungsfortschritt gereiht – außerhalb der Keim[anlage] zur Entwik- nicht anders übrigens als Johannes Müller klung“ (Czihak 1960). in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Schließlich vollzieht sich die Umgestal- der Entwicklungszusammenhänge aus- tung auch äußerlich. Die Primärtentakel ar- schließlich durch die anatomische Reihung beiten sich frei und bewegen sich kräftig. von immer neuen Stichproben aufklärte. Der gürtelartige Randwall der Seeigelanla- In Wirklichkeit läuft die Metamorphose ge umgreift immer mehr den bisherigen verblüffend rasch ab; zu dieser Erkenntnis Pluteus (Abb. 1.3 – 5 und Abb. 3 -5) und verhalf u. a. der Befund, dass die Seeigel- formt, zusammen mit der restlichen Kör- metamorphose von einem Auslöser ab- perwand des Pluteus, einen kleinen Seeigel hängt (Cameron & Hinegardner 1978). (Abb. 1. 6 und Abb. 6), der nun läuft anstatt CsCl, als künstlicher Auslöser bei Filmauf- zu schwimmen . nahmen an Helgoländer P. miliaris verwen- det (Herrmann 1982), reduziert den Zeitbe- Der überraschende Gestaltwechsel darf für die Metamorphose auf nur eine Nimmt man das im Titelbild und in Abb. Stunde. In dieser Frist stülpt sich, bei einem 1.1 gezeigte Stadium der Larvenentwik- Stadium etwas älter als in Abb. 3, bzw. et- klung (12 Tage Alter) als Beginn und das was jünger als in Abb. 4, die Keimanlage Stadium in Abb. 3 (28 Tage) als Abschluss aus und die nun überflüssige restliche der Vorbereitungen zum äußeren Gestalt- Oberfläche der Larve schnurrt zusammen wechsel, so dauert diese Vorbereitungs- (Abb. 5 und 6). Das gleiche Tempo wird phase reichlich zwei Wochen. Genauso ge- von einer anderen Seeigel-Species berich- mächlich erscheint nach der Betrachtung tet. Eine noch höhere Geschwindigkeit er- der Abb. 3 (28 Tage), 4 (33 Tage) und 5 (34 reicht mit nur 15min Dauer die Umwand- Tage) der Zeitbedarf für den eigentlichen lung der Actinotrocha-Larve zum Phoro- Gestaltwechsel vom Pluteus zum Seeigel, niden. Sie wurde übrigens von Johannes nämlich ca. sechs Tage. Dies ist aber ein Müller in derselben Studie entdeckt, bei Trugschluss: Wer die Hinfälligkeit von Plutei der er den Pluteus vor Helgoland 1846 (s. in Kultur kennt, muss davon ausgehen, dass o.) auffand. Und von der Metamorphose die portraitierten Individuen dieser kleinen der geschwänzten Larve der Ascidie Diplo- Bilderserie die Prozedur nicht überstanden, soma macdonaldi ist ein Zeitbedarf von nur sondern dass für jede Abbildung eine neue sechs Minuten für die Umgestaltung zur Larve entnommen werden musste, und dies Seescheide belegt. aus einer jeweils beträchtlichen Bandbreite Treibende mechanische Kräfte entfalten von Stadien, die sich unter den Larven ein dabei einerseits die Wand der Imaginalan- und desselben Zuchtansatzes im Laufe eini- lage, die sich aus dem Vestibulum heraus ger Wochen ausbildet. Man hat sich also für wölbt, und andererseits die Körperwand

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des Pluteus, die wie ein Zirkus-Zeltdach zu- ma zu einem vorläufigen, immer noch fort- sammenschnurrt, dem der Kontakt zu den währenden Abschluss gebracht. Stangen (= Skelettstäben) entzogen wird Denn nichts anderes hatte G. Czihak mit und das sich zudem elastisch kontrahiert seiner hier aufgegriffenen Arbeit im Sinn (Cameron & Hinegardner 1978). Der Ter- als einen Beitrag zur mechanistischen Auf- minus „Metamorphose“ findet übrigens klärung des Metamorphosegeschehens unterschiedlichen Gebrauch: Autoren, die beim Seeigel zu leisten. Nach der damals das erstaunliche Geschehen der Gestalt- wie heute gängigen Lesart entscheidet ei- umwandlung mit eigenen Augen beobach- ne topographische Beziehung zwischen tet haben, verstehen unter „Metamorpho- zwei larvalen Gewebspartien über den Ort, se“ nur diese dramatische Episode, an dem der eine(orale) Pol der neuen Kör- während in der Sekundärliteratur vielfach perachse, der Asymmetrieachse für den der gesamte Prozess, vom Anbeginn der jungen Seeigel, entstehen wird: Er kommt vorbereitenden Um- und Neubildung inne- dort zu liegen, wo das in der Larve entste- rer Gewebe über die Gestaltumwandlung hende Hydrocoel, eine Abteilung der Coe- bis zu abschließenden Entwicklungspro- lomanlage bei Echinodermen (Film: Herr- zessen, in den Begriff „Metamorphose“ mann 1978), der Körperwand am nächsten einbezogen wird. kommt, und das ist in der Regel die linke Flanke des Pluteus (Abb. 1.1 – 2; Titelbild; Das Untersuchungsziel: Einblicke in die Abb. 2). Hier hätte man gerne operativ ein- Neuorganisation der Körperachsen gegriffen, aber dazu ist der Pluteus aus Die Frühentwicklung des Seeigels bis mehreren Gründen nicht eingerichtet: Han- zum frühen Pluteus-Stadium gehört zu den tieren am Pluteus oder gar Festlegen die- bestuntersuchten Objekten der Entwik- ser Schwimmlarve auf längere Zeit sind klungsbiologie; die Anzahl der entspre- kaum denkbar. Das zarte Skelettgerüst, die chenden Veröffentlichungen ist inzwischen sperrigen Arme und die darüber gespann- sicher fünfstellig. Auch die darauffolgenden te, extrem dünne Körperwand sind stattdes- Entwicklungsschritte, Larvenentwicklung sen für das Driften und Schwimmen im Pe- und Metamorphose, die wir mit G. Czihaks lagial konstruiert, einen Lebensraum mit Untersuchungen und Illustrationen aus dem wenig mechanischem Stress. Einen leben- Jahr 1960 hier vorstellen, sind wahrhaft dra- digen Eindruck von diesem Lebewesen stisch. Die Verlagerung der Körperachse und den Geschehnissen bei seiner Meta- und die Ausdifferenzierung völlig anderer, morphose vermitteln die Filme von Herr- nur beim Tierstamm der Echinodermen mann (1978, 1980, 1982). vorkommender Symmetrieverhältnisse soll- Immerhin kennt man aber seit langem ten eigentlich Forschungsaktivität auf sich Naturexperimente zu diesem Thema, deren ziehen. Stattdessen gibt sich der wissen- Studium G. Czihak noch einmal konzen- schaftliche Blätterwald hier gegenwärtig triert aufgreift: In einigen Prozent der Plutei verdächtig ruhig: Wie es scheint, hat G. liegen die Seeigelanlagen auf der verkehr- Czihak mit seiner Arbeit die Grenzen der ten Seite („Situs inversus“, Abb. 7) oder damaligen Technik ausgelotet und das The- sind verdoppelt auf beiden Seiten zu finden

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(McBride 1912). Aus doppelten Anlagen lungsgenetischen Erklärung noch ent- entsteht schließlich eine Missbildung vom zieht. Typ „Duplicitas anterior“, ein Wesen beste- Schönheit und Naturtreue der Tafeln aus hend aus zwei miteinander verschmolze- G. Czihaks Werkstatt – oder noch zutreffen- nen oralen Hälften eines Seeigels (Abb. 8). der: ihre Schönheit durch Naturtreue hat Stets korreliert die Lage der Seeigel-Imagi- uns veranlasst, diese Kunstwerke zu veröf- nalanlage mit derjenigen des Hydrocoel- fentlichen. G. Czihak zielte mit diesen Dar- Bläschens. stellungen darauf ab, die Varianten in Grö- G. Czihaks histologische Befunde, die ße, Anzahl und Lage des Hydrocoels im ebenfalls in der Arbeit von 1960 niederge- frühen Pluteus in Beziehung zu setzen zu legt sind, machen aber klar, wie viel noch Anzahl und Lage des Vestibulums und der zu tun wäre, um die Seeigel-Metamorpho- Imaginalanlage. Der Grundgedanke: Wo se wirklich für experimentelle Eingriffe zu- sich das Hydrocoel und die Epidermis des gänglich zu machen; schon die während frühen Pluteus am nächsten kommen, dort der Ontogenese auftretenden Gestaltver- entsteht durch Induktion die Imaginalanla- änderungen am „Hydrocoelbläschen“ – ge. Je enger die vorgefundene Lagebezie- zeitweise offenbar nur ein Strang von Me- hung ausfällt und je mehr sich diese Bezie- senchymzellen – mag die Erforschung in hung auch bei allerlei Varianten einfindet, Schwierigkeiten bringen. Ein ideales desto plausibler wird auch der angenom- System für die Erforschung der Embryo- mene Kausalzusammenhang. Und Czihaks genese, bleibt der Seeigel doch fast un- deskriptive Studie von 1960 sollte das zugänglich für die experimentelle Aufklä- Höchstmaß an Naturtreue beisteuern. Ein rung der physiologischen Vorgänge bei Jahrzehnt später (Czihak 1971) kommt der der Metamorphose. Das formuliert auch Autor noch einmal auf seine Detailbeschrei- eine zeitgenössische Forschergruppe so: bung von 1960 zurück und bezieht eine „Although the formation of the [sea urchin] kritischere Position zu dieser korrelieren- rudiment is a textbook example of left- den Arbeit. Aber immer noch sind solche right asymmetry, very little was known until und insbesondere seine korrelierenden recently on the mechanisms that control Studien das Beste, was wir an Erklärungen the asymmetric positioning of this organ” der Ereignisse bei der Seeigelmetamorp- (Bessodes et al. 2012). Diese Autoren ge- hose in den Händen haben. hen davon aus, dass sie mit dem Befund einer asymmetrischen Expression des Danksagung Gens nodal zumindest dem zweiten Schritt in der Entscheidungskette bei der Umpo- Der Autor und die Deutsche Zoologi- lung der Polaritäten und Symmetrien bei sche Gesellschaft bedanken sich bei der der Seeigelmetamorphose näherkommen, Familie Czihak (Salzburg) für ihre enthusia- während sich der erste Schritt, die Ent- stisch betriebene Freigabe und Digitalisie- scheidung über die Richtung der Polarität rung der Farbtafeln zum Druck und bei der künftigen neuen Körperachse einer Prof. Dr. A. Dorresteijn (Giessen) für die Zu- entwicklungsphysiologischen und entwick- sammenstellung und Beschriftung der

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Zeichnungen in Abb. 1. Dank gebührt auch miliaris). (Film) IWF Göttingen. (Online: Prof. Martin Dambach/Köln und Prof. Franz www.av.getinfo.de) Herrmann, K. (1982) Entwicklung beim Romer/Mainz für ihre Berichte zur Entste- Seeigel (Psammechinus miliaris). III. Meta- hung der Tafeln. morphose (Film) Nr. C1458 IWF Göttin- gen. Kaestner, A. (1963) Echinoidea Seeigel, Literatur Lehrbuch der Speziellen Zoologie. T. 1, Wirbellose. 5. Lieferg. Pp. 1251-1302. Gus- tav Fischer Verlag Bessodes, N., Haillot, E., Duboc, V., Röttinger, Koller, G. (1958) Das Leben des Biologen Jo- E., Lahaye, F. und L. Lepage (2012) Recip- hannes Müller 1801 – 1858. Stuttgart, Wiss. rocal signaling between the ectoderm and Verlagsges. 268pp. a mesoendodermal left-right organizer di- McBride, E. W. (1912) Two abnormal plutei of rects left-right determination in the sea Echinus and the light which they throw on urchin. PLOS Genet 8(12): e1003121 the factors in the normal development of Cameron, R. A. & R. T. Hinegardner (1978) Ear- Echinus. Quart. J. Micr. Sci. 57:235-250 ly events in sea urchin metamorphosis. De- Müller, J. (1846) Bericht über einige neue scription and analysis. J. Morph. 157:21-32 Thierformen der Nordsee. Arch. Anat., Czihak, G. (1960) Untersuchungen über die Physiol. Wiss.Medizin Jg. 1846:101-110 + Coelomanlagen und die Metamorphose 2Tafeln. des Pluteus von Psammechinus miliaris Müller, J. (1848) Über die Larven und die (GMELIN). Zool. Jahrb. Abt. Anat. Ontog. Metamorphose der Ophiuren und Seeigel. Tiere 78:235-256 Berlin, Königl. Akademie der Wis- Czihak, G. (1971) Echinoids. In Reverberi, G. senschaften. 4pp. + 7 Tafeln (Hrsg.) Experimental embryology of ma- Nielsen, C. (2001) Animal evolution: interrela- rine and freshwater invertebrates. Pp. 363- tionships of the living phyla. 2. Aufl., 506. North-Holland Publ. Co., Oxford Univ. Press Amsterdam/London Okazaki, K. (1975) Normal development to Fischer, A. & A. Dorresteijn (2013) Develop- metamorphosis. In Czihak, G. (Hrsg.) The mental biology of the sea urchins (echi- sea urchin embryo. Pp. 167-232. Springer noids). In Fischer, A. (Hrsg.) The Helgoland Berlin/Heidelberg/New York. manual of animal development. Notes and Sars, M. (1844) Über die Entwicklung der laboratory protocols on marine inverte- Seesterne. Arch. Naturgesch. 10:169-178 brates. Pp. 2447. Pfeil Verlag, München Siewing, R. (1985) Echinodermata, Stachel- Goldschmid, A. (2007) Echinodermata, häuter. In Siewing, R. (Hrsg.) Lehrbuch der Stachelhäuter. In Westheide, W. und R. Zoologie. Bd. 2, Systematik. 3. Aufl., pp. 292- Rieger (Hrsg.) Spezielle Zoologie T. 1 338. Gustav Fischer Verlag Einzeller und Wirbellose Tiere. 2. Aufl. Pp. Ziegelmeier, E. (1973) Die Entwicklung des 804-860. Eies von Psammechinus miliaris (Strandi- Goldschmid, A. (2014) Nachruf auf Gerhard gel) nach künstlicher Befruchtung. Biolo- Czihak Zoologie 2014, Mittlg.d. Dtsch. gische Anstalt Hamburg. 8pp. Zool.Ges., 49-54. Hausmann, A. (1996) In memoriam Dr. Wolf- gang Dierl. NachrBl. Bayer. Ent. 45, 50 -55 Herrmann, K. (1978) Entwicklung beim Seeigel (Psammechinus miliaris). Differen- zierung des Coeloms. (Film) Nr. C1299 Prof. Dr. Albrecht Fischer IWF Göttingen Herrmann, K. (1980) Metamorphose aberran- Stüttgerhofweg 4c, 50858 Köln ter Formen beim Seeigel (Psammechinus [email protected]

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Abb. 2: Die 14 Tage alte Pluteuslarve ist gewachsen und trägt an ihrer linken Flanke die Imagi- nalanlage dort, wo sich die Wand des Hydrocoels und der Boden des epidermalen Vestibulums aneinander gelegt haben.- Dorsalansicht.

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Abb. 3: Bei einem vier Wochen alten Pluteus ist die Imaginalanlage stark vergrößert. In ihr wer- den Stacheln und die Basalplatten, Teile des Schalenskeletts, sichtbar –alles Strukturen der spä- teren oralen Hälfte des Seeigels. Die Primärtentakel ragen bereits (vielleicht etwas verfrüht auf Grund der Beobachtungsbedingungen) aus der Vestibulum-Höhle heraus. – Dorsalansicht.

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Abb. 4: Die Pluteuslarve ist mit 33 Tagen Alter in den Metamorphoseprozess eingetreten. Die Imaginalanlage wölbt ihre Außenseite aus eigener Kraft nach außen und überwallt immer stär- ker den Rest des Pluteus (Cameron & Hinegardner 1978), der an mehreren Stellen Pedizellarien entstehen lässt, typische Gebilde der aboralen Oberfläche des Seeigels.- Dorsalansicht.

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Abb. 5: Blick auf die orale Partie eines in der Metamorphose weit fortgeschrittenen Pluteus. Die larvalen Skelettnadeln werden abgeworfen. Die neue fünfstrahlige Rotationssymmetrie der See- igel-Anlage wird deutlich.

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Abb. 6: Junger Seeigel im Alter von 35 Tagen.

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Abb. 7: Pluteus von 14 Tagen Alter (vgl. Abb. 2), in der Ansicht von links bei Fokussierung auf die Medianebene. Der Darmtrakt, mit der Mundbucht (links) beginnend, ist klar untergliedert. Durch die Magenwand hindurch erkennt man das Vestibulum mit der zentral gelegenen neuen Mundöffnung und den Anlagen der fünf Primärtentakel. Das hier dargestellte Exemplar trägt die Imaginalanlage ausnahmsweise rechts („Situs-inversus“-Variante).

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Abb. 8: Missgebildeter junger Seeigel (P. miliaris) der „Duplicitas-anterior“-Variante. Diese Vari- ante tritt unter unzuträglichen Lebensbedingungen für die Plutei gehäuft auf (McBride 1912). Auf ihrer Oberfläche kommen nur Strukturen der oralen Hälfte eines Seeigels vor: Einspitzige und vierzipflige Stacheln sowie Ambulakralfüßchen. Die Duplicitas anterior entsteht bei Plutei, die beidseits je ein Hydrocoel und damit ein Paar von Vestibula entwickeln. Der missgebildete junge Seeigel ist nicht überlebensfähig.

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Nachruf auf Gerhard Czihak 10. 11. 1928 – 11. 12. 2011

Alfred Goldschmid

Gerhard Czihak kam 1928 in Wien zur Welt und durchlief die übliche Schulbil- dung mit der Matura (Abitur) 1947 als Ab- schluss, der Voraussetzung für den Besuch einer Universität. Seinem Jahrgang entspre- chend musste er am Ende des 2. Weltkrie- ges noch als Mittelschüler an der Verteidi- gung seiner Heimatstadt als Flugabwehr- helfer teilnehmen, eine Erfahrung, die ihm sehr ambivalent in Erinnerung geblieben war, wie er mir in einem Gespräch einmal schilderte. Vielleicht wuchs damals im Erle- ben von Tod und Vernichtung der Gedanke in ihm, sich dem Studium des Lebens mit seiner Vielfalt zu widmen. Vom Winterse- mester 1947/48 bis 1951 studierte er an der Universität Wien Zoologie, Botanik, Chemie, Physik und Geologie und promo- vierte 1952 mit einer klassisch morphologi- schen Arbeit über die Thorakalmuskulatur von Insekten. Welch ungeheurer Weg von Foto privates Bildarchiv einer solchen Thematik bis zum immunolo- gischen Nachweis von Tubulin in Säuger- einer Anstellung als wissenschaftliche Hilfs- spermien (1994). Das methodische und kraft in Wien – eine volle Assistentenstelle wissenschaftliche Rüstzeug, das Czihak war nicht vorhanden – entschloss er sich, während seines Studiums vermittelt wurde, 1954 nach Tübingen zu Hermann Weber zu konnte sicher nur wenig in seinem weiteren gehen, dem damals wohl erfahrensten und Werdegang helfen. Früh wurde er daher bekanntesten Insektenmorphologen im gezwungenermaßen zum Autodidakten deutschen Sprachraum. Junge Kollegen und blieb es sein Leben lang, später aller- können sich heute sicher kaum vorstellen, dings mit Unterstützung und in Zusammen- mit welchen Schwierigkeiten eine solche arbeit mit Fachkollegen rund um die Welt. Entscheidung damals verbunden war und Rasch wurde ihm klar, wie wichtig eine wis- welches Wagnis ein solcher Schritt bedeu- senschaftliche Weiterbildung bei herausra- tete. Europa war tief gespalten im Kalten genden Forscherpersönlichkeiten ist. Nach Krieg, Österreich und Deutschland waren

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noch besetzte Länder und die wirtschaftli- men mit W. Dierl. Die Steckmuschel war da- che Situation war nicht gerade rosig. mals vielleicht ein eindrucksvolles und gut Zunächst arbeitete er in Tübingen wei- handhabbares Studienobjekt, heute ist sie ter an der Insektenmuskulatur unter Einbe- so selten, dass sie in den meisten Ländern ziehung histologischer und zytologischer des Mediterrans streng geschützt ist. Techniken. Durch die lang dauernde Krank- Außerdem ist das Töten von Tieren für heit Professor Webers war Czihak gezwun- Unterrichtszwecke längst ein Riesenpro- gen, einen großen Teil des zoologischen blem und auch von den Ethikkommissionen Unterrichts zu übernehmen. Ein Schwer- nur unzureichend gelöst. Da sich außerdem punkt der Ausbildung war damals das die Lehrinhalte ab Mitte der 70er Jahre des „Große Zoologische Praktikum“, eine Lehr- vorigen Jahrhunderts merklich änderten, ist veranstaltung, die fast überall in Deutsch- diese hervorragende qualitätsvolle Reihe, land und Österreich im Zentrum der zoolo- begründet in bester Absicht und viel ge- gischen Ausbildung stand; ich selbst absol- lobt, sanft entschlafen. Das Große Zoologi- vierte diesen Kurs 1962/63, im Vorlesungs- sche Praktikum sollte aber Czihaks weite- verzeichnis angekündigt als „ganztägig, gilt ren wissenschaftlichen Werdegang nach- als zehnstündig“. Wir hatten zwar große haltig beeinflussen. In seinen Kursteilen Freiheit, aber wenig bis keine Betreuung, zeigte er seinen Studenten die Befruchtung ganz zu schweigen von den kaum vorhan- von Seeigeleiern und die darauf einsetzen- denen und teils sehr antiquierten Unterla- de Entwicklung. Dem zuletzt in München gen. Wie intensiv betreut und hochausgerü- tätigen, berühmten Richard Hertwig ge- stet mit einer breiten Palette von Informa- lang 1896 erstmals die künstliche Befruch- tion laufen vergleichbare Kurse doch heute tung von Seeigeleiern. Bald wurde dieses ab! Czihak erkannte schnell die Schwächen Phänomen in München auch im Unterricht dieser wichtigen Lehrveranstaltung. Aus gezeigt. der Einsicht des Missverhältnisses zwi- Bei seinen Vorbereitungen zum Thema schen Stand der Forschung und des aner- Befruchtung und Entwicklung der Seeigel kannten Wissens gegenüber den damali- wurde Czihak rasch klar, dass zwar schon gen Unterrichtsunterlagen startete Czihak viele deskriptiv morphologische Arbeiten die Reihe: „Großes Zoologisches Prakti- über Seeigelentwicklung vorhanden waren, kum“ im Verlag G. Fischer. In einer Serie aber über die zellphysiologischen und bio- von Monographien wurde darin die Mor- chemischen Vorgänge dahinter nahezu phologie ausgewählter Tierarten anato- nichts bekannt war. An dieser nach Bear- misch, histologisch-mikroanatomisch und beitung schreienden Problematik setzte er sogar mit elektronenmikroskopischen De- seine wissenschaftliche Fragestellung an tails von Spezialisten anschaulich darge- und blieb fast sein gesamtes langes For- stellt; auch Daten zur Biologie, zur Entwick- scherleben dabei. lung und zum Verhalten der jeweiligen Art Die Beschaffung und das Eindringen in und eine reiche Literaturliste waren enthal- die Literatur waren vor der Digitalisierung ten. Bereits 1961 erschien das erste Heft und der Öffnung des web-Netzes ein lang- (16a) über Pinna nobilis von Czihak zusam- wieriges, schleppendes und leider oft auch

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ein hierarchisches Problem. Zur Erläute- Ende 1961 wechselte er in Tübingen an rung: Die meisten Institute hatten eigene Bi- das Max-Planck-Institut für Meeresbiologie, bliotheken, vielfach aber keinen Bibliothe- das später in Zellbiologie umbenannt wur- kar, sondern jüngere Assistenten hielten de. An diesem MPI für Zellbiologie wurde zumindest die laufenden Zeitschriftenein- 1966 für Czihak eine Forschungsgruppe für gänge evident in einer Zeit, in der sie ei- „Biochemische Embryologie“ eingerichtet, gentlich forschen und sich weiterbilden der er bis zu seiner Übersiedlung nach sollten. Oft landeten neue Bücher und Zeit- Salzburg im Jahre 1971 vorstand. Mit einer schriftenhefte zunächst einmal bei den Pro- Reihe von experimentellen Arbeiten zur fessoren und es konnte schon einige Zeit Entwicklungsphysiologie von Seeigeln ha- vergehen, bis sie in der Institutsbibliothek bilitierte er sich an der Universität Wien im endlich greifbar waren; für Studenten also Sommersemester 1965. Das war auch das harte Zeiten. Auch fehlten oft Referierblät- Jahr, in dem der Name Czihak ein Begriff ter wie die „Berichte zur Biochemie und für mich wurde. Zusammen mit meinem Biologie“ (Springer Verlag, Heidelberg), in Freund Jörg Ott arbeitete ich die ersten drei deren Redaktion Czihak schon 1956 eintrat Juliwochen am meeresbiologischen Kurs und die er später sogar als Chefredakteur der Universität Wien in Rovinj/Rovigno an leitete. Von 1959 bis 1970 arbeitete er als der istrischen Westküste als „Wasserträ- geschäftsführender Herausgeber der „Fort- ger“. So nannten wir uns selbst, denn unser schritte der Zoologie“. Über diese Tätig- Einsatz war breit gefächert. Das bedeutete: keiten konnte er sich ein Netzwerk mit etwa gewünschte Tiere in größeren Mengen gleichaltrigen Kollegen der verschiedenen durch Schnorcheltauchen zu besorgen, biologischen Forschungsrichtungen auf- Planktonmaterial zu sortieren, Frischpräpa- bauen, was ihm bei der Herausgabe des rate herzustellen, den Kursteilnehmern hilf- revolutionären Lehrbuchs der Biologie ge- reich zur Seite stehen und ähnliches. Aber meinsam mit H. Langer und H. Ziegler bei wir waren begeistert und hatten uns gut Springer sicher hilfreich war. 1976 brachte vorbereitet. In der kurz zuvor erschienenen dieses mit 957 teils farbigen Abbildungen 5. Lieferung des Teil I des „Kästners“, der ausgestattete Werk auf 837 Seiten auf dem damaligen Bibel für junge Zoologen, stu- neuesten Wissensstand alles, was ein Biolo- dierten wir die Metamorphose der Seeigel, giestudent lernen sollte. Der Lernstoff war tief beeindruckt von den dort abgedruck- anschaulich und didaktisch hervorragend ten wunderbaren Bildern aus Czihaks Ar- aufbereitet. Bis 1992 erschienen fünf über- beiten. (s.a. Fischer in diesem Heft). Da arbeitete Auflagen, wobei die Seitenzahl kein Literaturverzeichnis bestand, konnten zwar auf 994 Seiten anstieg, die Anzahl der wir auch nicht erfahren, wann und wo diese Abbildungen jedoch auf 1350! Auch vielen Publikationen entstanden waren. Den Na- jungen Dozenten war und ist zum Teil noch men aber prägten wir uns ein und nannten immer dieses Buch eine große Hilfe. Bis zu beim Vorsortieren der Planktonproben die seiner ersten Auflage hat sich aber in der metamorphosierenden Plutei, die ihre er- Forschungsarbeit und in der akademischen sten Füßchen aus dem geöffneten Vestibu- Karriere für Czihak viel verändert. lum streckten, einfach „Czihak“. Wir arbei-

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teten im ersten Stock des 1891 erbauten ging es dann 1986 an den heutigen Stand- ehrwürdigen alten Institutsgebäudes und ort im naturwissenschaftlichen Fakultätsge- wegen der Sommerhitze standen die Türen bäude auf den Freisaalgründen an der weit offen. Wer draußen am Gang vorbei- Hellbrunnerstraße. Jetzt endlich bestand ging, konnte deutlich hören: „schon wieder die Möglichkeit für einen kontinuierlichen ein Czihak“. Jörg Ott wurde später der Ausbau und Erweiterungen des Instituts für Nachfolger Rupert Riedls an der Lehrkan- Genetik. Man sollte hier hervorheben, dass zel für Meeresbiologie in Wien, ich wech- alle naturwissenschaftlichen Institute von selte 1970 als Assistent an das neu ge- Beginn an in die Planung des Fakultätsge- schaffene Zoologische Institut in Salzburg bäudes eingebunden waren und sogar mit zu Professor Hans Adam. Dieser hatte 1964 vorgegebenen Signaturen die Ausstattung zusammen mit Czihak die „Arbeitsmetho- und Einrichtung der Labors selbst bestim- den der makroskopischen und mikroskopi- men konnten; das kostete zwar wieder viel schen Anatomie“ im Verlag G. Fischer her- Zeit, aber der Betrieb konnte nach erfolgter ausgebracht, was eigentlich als Band 1 der Übersiedlung rasch wieder aufgenommen oben genannten Reihe „Großes Zoologi- werden. sches Praktikum“ gedacht war. Bis zur Übersiedlung nach Salzburg Gerhard Czihak wurde 1970 an der Uni- führte Czihak seine Forschungen an See- versität Salzburg der Titel eines außeror- igelembryonen in Tübingen und an der dentlichen Universitätsprofessors verliehen. Zoologischen Station in Neapel durch. Dort 1969 ernannte ihn die Universität Konstanz hielt er auch 1969 einen internationalen zum Honorarprofessor. Mit Wirkung vom Kurs über „Biochemie der Seeigelentwik- Oktober 1971 kam seine Ernennung zum klung“ ab. Zur Anregung weiterer For- ordentlichen Professor für Genetik und Ent- schung an dem Modell Seeigelentwicklung wicklungsbiologie an der philosophischen und als didaktische Voraussetzung für künf- Fakultät der Universität Salzburg. Nominell tige Diplomanden und Doktoranden publi- war das die erste Lehrkanzel für Genetik in zierte er zusammen mit seinem langjähri- Österreich. Erst mit dem neuen Universi- gen Mitarbeiter Peter Roland das Buch tätsorganisationsgesetz 1975 wurden in „The Sea Urchin Embryo. Biochemistry and Österreich die Naturwissenschaften aus Morphogenesis“, erschienen 1975 bei den philosophischen Fakultäten herausge- Springer. 20 hochkarätige Forscher konnte löst und eigenständig. Zunächst bestand er dafür gewinnen, der Mitbegründer der das Institut für Genetik aus einer adaptier- molekularen Embryologie Jean Brachet ten Wohnung in Bahnhofsnähe. Einige Jahre schrieb als Vorwort eine Kurzfassung der wurde der Unterricht in den heute abgeris- 21 Kapitel. Die molekulare Forschung am senen Plattenbauten der Universität in der Seeigelembryo hatte zu dieser Zeit gerade Akademiestraße im Süden der Stadt abge- erst begonnen und ist daher auch nur in halten. Später konnten dann nicht weit von Ansätzen Inhalt dieses vielbeachteten Wer- dort endlich bescheidene Laborräume in kes. einem Neubau bezogen werden, der inzwi- Biologisches Wissen auch einem breiten schen längst umfunktioniert ist. Von dort Publikum zu vermitteln, war Czihak ein

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großes Anliegen. 1982 veranstaltete er im beitete ich gerade mit Blenniiden, von de- hundertsten Todesjahr Charles Darwins ein nen 14 Arten in den obersten drei Metern öffentlich zugängiges Symposium, in dem der Felsküste leben, und Czihak bot mir das Phänomen der Evolution von verschie- die Möglichkeit, in seiner Abwesenheit mit denen Seiten dargestellt wurde. Auch das meinem Doktoranden und Mitarbeiter Kurt Jahr 1984, das hundertste Sterbejahr Gre- Kotrschal das Labor zu nutzen. Kurt hat spä- gor Mendels nahm er zum Anlass einer ter die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in umfangreichen Ausstellung über Leben Grünau (Oberösterreich) übernommen und Werk des Entdeckers der Erbgesetze. und leitet heute als Kognitionsforscher das Die klassische Arbeit Mendels, in welcher Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn er nach statistischer Analyse die Erbregeln (Niederösterreich). mathematisch formulierte, ließ Czihak Das Labor in Aurisina ist in dem alten nachdrucken. Die Ausstellung wurde mit Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude des großem Erfolg in mehreren Ländern ge- nahen Märchenschlosses Miramare, dem zeigt. Lieblingswohnsitz des Habsburger Erzher- Als die Arbeitsmöglichkeiten in Neapel zogs Maximilian, Bruder des Kaiser Franz erloschen, gelang es ihm, eine Kooperation Josephs I., untergebracht und im ähnlichen mit dem CNRS Biologie Macromoleculaire Stil wie das Schloss gebaut. Von dem klei- in Montpellier aufzubauen und weiter ex- nen Hafen bei Miramare brach der unglück- perimentell an der Cytologie und Embryo- liche Maximilian 1864 auf, um als Kaiser logie von Seeigeln zu forschen. Mit einem über Mexiko zu regieren; 1867 wurde er Wechsel in der dortigen Institutsleitung von mexikanischen Revolutionären exeku- 1975 musste Czihak sein Labor schließen. tiert und kam im versiegelten Sarg zurück Seeigel sind eben Küstenbewohner und nach Triest. Czihaks Laborräume lagen im wer mit lebenden Embryonen dieser Tiere ersten Stock mit der Fensterfront nach Sü- arbeiten will, ist an küstennahe Institutionen den zur Adria. Bei klarem Wetter konnte gebunden. Mit geschickten Verhandlungen man die Küste Istriens mit Kap Savudria/ gelang es Czihak, in dem damals kaum ge- Salvore am äußersten Nordwestzipfel nutzten meeresbiologischen Institut der erkennen. Manchmal unterbrach er seine Universität Triest in Aurisina/ Nebresina ab Arbeit, ging ans Fenster und betrachtete, 1977 wieder Räume für ein Labor zu be- aufgestützt auf beide Arme, diesen unver- kommen und einzurichten. Längst kannten gleichlichen Ausblick; unter der Fenster- wir einander natürlich aus Salzburg. Sei- front grünte ein alter Garten mit einer Gly- nem ersten Assistenten Roland Peter, mein zinie, die gut bis auf 10 m Höhe einen alten Studienkollege in Wien, half ich, in Salzburg Baum überwuchert hatte, und in dem klei- Fuß zu fassen. Einen Teil der von Czihak nen Hafenbecken vor dem Haus surrten aufgebauten Embryologischen Übungen die Stage und Wanten der Segelboote. durfte ich abhalten. In Aurisina hatte ich Manchmal gönnte er sich einen Schluck aber Gelegenheit, ihn von vielen Seiten guten Rotweins. In solchen Momenten wur- kennen zu lernen. Wiederholt begleitete de mir klar, wie losgelöst dieser Mensch ich ihn als „Seeigelsammler“. Damals ar- genießen konnte. Durch ihn lernte ich die

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Rotweine des friulanischen Collio, den Te- Köchin und Gastgeberin; egal, ob geplant ran und Refosc Istriens, die köstlichen Käse oder spontan Gäste vor der Tür standen. des Triestiner Karsts kennen, den trockenen Einladungen bei Czihaks waren nicht nur Tocai- und Malvasiawein, zuletzt auch die Inbegriff interessanter Gespräche, sondern nostalgische, verblassende Eleganz Triests, waren stets auch von kulinarischen Genüs- der Hafenstadt des einst mächtigen Habs- sen gekrönt. Zu Hause im Kreis seiner Fa- burgerreiches. Die Ästhetik der Seeigellar- milie war Czihak ein liebevoller und ver- ven, seiner Studienobjekte, scheint auf sein ständiger Vater und Ehemann. Immer Äußeres gewirkt zu haben; im Unterschied wieder erklang schon in Tübingen Haus- zu vielen seiner Kollegen war er stets gut, musik. Alle Kinder beschritten eine erfolg- ja geradezu elegant gekleidet. Dieser reiche Laufbahn. Die älteste Tochter durfte strenge Analytiker und unermüdliche For- ihrem Vater schon in jungen Jahren bei wis- scher war aber nicht nur ein großer Genie- senschaftlichen Zeichnungen assistieren, ßer, er war auch ein musischer Mensch, ein heute lebt sie als Grafik- und Fotokünstlerin begabter Zeichner und Geiger. in Wien. Die zweite Tochter wurde Medizi- Von Aurisina nach Salzburg sind es we- nerin, ein Sohn Architekt, der andere ist niger als 400 km, meist Autobahn. Es lag nach einem Physikstudium Unternehmens- daher nahe, Seeigel (Paracentrotus lividus), berater und der Jüngste ein gefragter Musi- die in großer Dichte das adriatische Felsli- ker geworden. Beide Eltern haben ihre mu- toral besiedeln, lebend nach Salzburg zu sischen Interessen und Begabungen transportieren und in großen Seewasser- zumindest an drei der Kinder weitergege- becken zu hältern. Zuletzt gelang es sogar ben. In Salzburg wohnten die Czihaks mit ausgetüftelter Fütterung, die Tiere so höchstens sieben Gehminuten vom Institut lange am Leben zu halten, dass die Experi- entfernt, ein großer Vorteil für den altern- mente endlich direkt in den Salzburger La- den Universitätslehrer und unermüdlichen bors vor sich gingen. Über die erfolgreiche Forscher, da sich knapp vor der Emeritie- Seeigelhaltung freute sich ganz sicher auch rung eine Krankheit einstellte. Mit großer seine Frau Ilse, denn jetzt waren die oft lan- Tapferkeit ertrug er die zunehmende gen Zeiten der Trennung endgültig zu En- Schwäche und kämpfte mit der fortschrei- de. Mit der Erziehung der fünf Kinder, den tenden Abhängigkeit von Hilfe. Am 11. De- beiden Töchtern Elisabeth und Johanna zember 2011 verstarb er im 84. Lebensjahr und den drei Söhnen Wolfgang, Christoph im Kreis seiner Familie. und Valentin hatte sie sicher reichlich zu tun. Nie hat sie geklagt, dass sie ihr Anfang der 60er Jahre in Wien begonnenes Stu- dium nicht abschließen konnte, wurde doch das erste Kind, eine Tochter, schon Prof. Dr. Alfred Goldschmid 1966 geboren. Es blieb ihr sogar noch Zeit, Organismische Biologie beim Abfassen der Manuskripte und Kor- Unversität Salzburg, rekturlesen zu helfen. Daneben war sie – Hellbrunnerstr. 34, A-5020 Salzburg und ist es immer noch – eine begnadete [email protected]

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Nachruf auf Peter Ax 29. 3. 1927 - 2. 5. 2013

Wilfried Westheide

Als in den späten 50er Jahren der Nachkriegszeit die Begeisterung, Biologie zu studieren, begann, wurde die Kieler Zoologie und Meeresbiologie schnell zu einem kleinen Mekka für interessierte Stu- denten, die sich in immer größerer Zahl in den Vorlesungen, Praktika und Exkursio- nen um den genialen Systematiker und Morphologen Adolf Remane einfanden. Zentrum des Kieler Studiums waren die Großpraktika und ihre Assistenten, unter denen der junge Hamburger Peter Ax durch Kompetenz und Charisma bald weit über Kiel hinaus bekannt wurde. Schon mit 23 Jahren hatte er über die Turbellarien des Eulitorals der Kieler Bucht promoviert und stand wenige Jahre später bereits an der Spitze der vor allem von Skandinaviern und Österreichern do- minierten Forschung an Plathelminthen – Peter Ax im Oktober 1978. Die Gnathostomu- einem Taxon, das als Inbegriff technisch liden fanden Aufnahme in Grzimeks Tierle- und theoretisch anspruchsvoller Systema- ben. Foto: privates Bildarchiv tik galt. Zusammen mit seiner Beschrei- bung der Gnathostomulida als neuem hö- So standen ihm in dieser Zeit der Insti- heren Taxon im System und seinem tuts- und Universitätsgründungen bald Büchlein über „Neue Organisationstypen viele Türen offen. Mainz hatte zunächst im Tierreich“ gehörte er bald zu den das Nachsehen vor Göttingen (1961), wo Nachwuchsstars der deutschsprachigen ihm das neue II. Zoologische Institut an- Zoologie. Bereits 1953 hatte er seine Frau geboten wurde; schon wenige Jahre spä- Renate geheiratet, die über viele Jahre ter bemühten sich Gießen (1966) und Bo- hinweg seine taxonomischen Studien und chum (1969) vergebens, ihn dort Publikationen begleitete und häufig mit wegzuholen, nicht wissend, dass „er sich ihm den strahlenden Mittelpunkt auf den ein Leben südlich von Göttingen kaum Fotos so mancher Tagung und Veranstal- vorstellen konnte“. Kiel jedoch, wohin er tung bildete. 1976 gerne zurückgegangen wäre, bot

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ihm so wenig, dass er, wohl mit großer in- Waren die Remaneschen Homologie- nerer Enttäuschung, endgültig in Göttin- Kriterien noch Thema seiner Antrittsvorle- gen blieb. sung gewesen, so verschwanden Anfang Seine Zeit in Göttingen begann „Profes- der 70er-Jahre die Remaneschen Sicht- sor“ Ax mit all dem didaktischen und theo- weisen mehr oder weniger aus seiner retischen Gewicht, das er von seinem Leh- Diktion. In dieser Zeit hatte man bereits rer Remane mitgebracht hatte; er prakti- häufiger einen unauffälligen Mann mit zierte und vervollkommnete noch Reman- großer Aktentasche in sein Dienstzimmer e’s lebendigen Vorlesungsstil in der gehen sehen, den man wohl seinen zwei- anschaulichen Tafelnutzung und Demon- ten Lehrer nennen kann: Willi Hennig, der stration der Schauobjekte, begeisterte uns Mitarbeitern aber leider weder per- jetzt auch die Göttinger Hörer mit einer sönlich noch durch einen Vortrag vorge- wöchentlichen „Mikroprojektion“ lebender stellt wurde. Dessen Konzept einer phylo- Wirbelloser (was über die Woche seine genetischen Systematik sollte er von nun Doktoranden mit aufwändigem Sammeln an in nahezu kongenialer Weise interpre- und Vorbereiten beschäftigen konnte) und tieren und in geradezu missionarischer forderte die Großpraktikanten mit einer Weise verbreiten. Sein „Das Phylogeneti- gefürchteten „Zitterstunde“, bis zu deren sche System. Systematisierung der le- Abschaffung nach dem Beinahe-Zu- benden Natur aufgrund ihrer Phylogene- sammenbruch einer Teilnehmerin. se“ von 1984 wurde mit seiner klaren Ihre Freude und ihr Interesse an mari- Sprache und anschaulichen Graphik eine nen Felduntersuchungen (Sylt, Helgoland, im deutschen Sprachraum weit verbreite- Kieler Förde etc.) und – bei aller hierar- te, ungemein einflussreiche und nachhal- chischen Ordnung – die Praxis einer völ- tig geschätzte Anleitung für die „Cladi- lig ungezwungenen Selbständigkeit im stik“ – ein Begriff, den Ax übrigens nie Ablauf der Arbeiten zogen eine immer benutzte. In kompromissloser Weise pro- größere Zahl selbstbewusster Doktoran- pagierte er darin und in apodiktischer den in die „II. Zoologie” – insgesamt wur- Weise forderte er in ungezählten Diskus- den es 34 bis 1990. Die erste Welle wur- sionen die „geschlossenen Abstam- de ab 1966 fertig und die Ergebnisse mungsgemeinschaften“ ebenso wie die dieser Arbeiten waren Teile eines Höhe- „Ausmerzung aller Kategorien“ und de- punktes in der Erforschung der Sandlük- ren Erkennung als „unbrauchbare Etiket- kenbiologie, die Peter Ax in vielen Vorträ- ten“, was ihn in beständige – häufig von gen und Aufsätzen facettenreich darzu- ihm gesuchte und niemals vermiedene – stellen vermochte („Die Bedeutung der Diskussionen vor allem mit den Vertretern interstitiellen Sandfauna für allgemeine einer evolutionären Klassifikation brachte. Probleme der Systematik, Ökologie und Hierauf geht zurück, dass Peter Ax Biologie“ (1996), „Populationsdynamik, heute häufig nur noch als Phylogenetiker Lebenszyklen und Fortpflanzungsbiologie gesehen wird. Tatsächlich war er immer der Mikrofauna des Meersandes“ (1969) ein begeisterter und sehr produktiver Ta- u.a.). xonom (eine Charakterisierung, die er

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gründeten Wissenschaft- lichkeit der Phylogeneti- schen Systematik. Sein herausragendes Selbstverständnis und sei- ne facettenreiche For- scherkarriere verdankte er in nicht geringem Maße auch der nachhaltigen För- derung durch die Aufnah- me (1969) in die Akade- mie der Wissenschaften und Literatur Mainz. Sie er- möglichte ihm bis weit in Peter Ax und Ernst Mayr in der Diskussion nach dessen Vor- die Emeritus-Jahre hinein trag „Die drei Schulen der Systematik“ auf der 83. DZG-Jahres- tagung zum 100jährigen Bestehen der DZG in Frankfurt/Main regelmäßige, geradezu be- 1990. Fotos: W. Westheide neidenswerte Drittmittel, für die er sich weder über selbst für sich jedoch niemals verwand- Gutachter bewerben noch rechtfertigen te). Er liebte das Aufspüren und Mikro- musste, und die ihm unter dem inhaltlich skopieren seiner Sandlücken-Plathelmin- weit gefassten Thema „Biologische then, denen er fast in jedem Sommer mit Grundlagenforschung“ eine nahezu un- seiner Frau rund um die Welt im Feld eingeschränkte Freiheit im Betreiben ihm nachspürte (Mittelmeer, Schwarzes Meer, wichtig erscheinender Forschungs- Färöer, Grönland, Ost- und Westküste der schwerpunkte erlaubten. Sie sicherten USA, Kanada, Alaska und Japan). 2008 ihm u. a. eine Wissenschaftlerstelle (zu- schließt er diese Arbeiten mit einer mo- nächst Frau Dr. Ax, dann Frau Dr. Sopott- numentalen Zusammenstellung über die Ehlers), seine Sammelreisen, neben Mit- „Plathelminthes aus Brackgewässern der teln aus der VW-Stiftung die Einrichtung Nordhalbkugel“ ab – 696 Seiten, 342 Ar- und den Betrieb eines Labors für Ultra- ten, ihre Herkunft und ihre Verbreitung. strukturforschung, einen wesentlichen Teil Gegenüber der zunehmenden Gering- der Reisemittel für sich und seine Mitar- schätzung dieser oder allgemein der ge- beiter für die große Galapagos-Expedi- samten Systematischen Zoologie sowie tion zur Erforschung der dortigen Mikro- dem merklichen Abbau entsprechender fauna; schließlich finanzierte die Mainzer Stellen in der Universitätslandschaft ver- Akademie auch kontinuierlich zunächst sagte er sich aber jegliches Lamentieren die 90 Einzelhefte „Mikrofauna des Mee- und öffentliches Protestieren (was seine resbodens“, dann die Zeitschrift „Mikro- Schüler gelegentlich frustrierte) und setz- fauna Marina“ von 1984-1997 und darü- te umso vehementer in Wort und Schrift ber hinaus fast alle seine weiteren auf die Darlegung der objektivierbar be- Buchveröffentlichungen.

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Niemand verwunderte es, aber wohl Anrührend schließlich, dass Peter Ax keiner hatte wirklich damit gerechnet, wie die letzten Ferientage seines Lebens im konzentriert und übergangslos Peter Ax Mai 2013 nahezu in Sichtweite jenes die Zeit nach seiner Emeritierung 1992 für Sandstrandes am Lister Hafen auf der eine neue außerordentliche Aufgabe nut- Nordseeinsel Sylt verbrachte, der durch zen würde. Aufbauend auf den schon in die Beschreibung und vielfältige öko-fau- den vorhergehenden Jahren kontinuier- nistische Analyse seiner Mikrofauna eine lichen Veränderungen des Stoffs seiner besondere Bekanntheit in der marinen zweisemestrigen Vorlesung im Sinne einer Biodiversitätsforschung genießt. In die- phylogenetischen Systematik und unter sem etwa nur 1 ha großen Strand-Watten- Einbeziehung zahlreicher Ergebnisse aus Bereich hatten etwa zwanzig seiner Schü- der Ultrastrukturforschung seines Instituts ler mit ihm über einen fast 30 Jahre (u.a. U. Ehlers, T. Bartolomaeus), legte er in langen Zeitraum nicht weniger als 652 nicht einmal zehn Jahren ein dreibändiges, Meiofaunaarten festgestellt, darunter 148, nacheinander erscheinendes Lehrbuch die, wie der Annelide Trilobodrilus axi, über das System der Metazoa (1995, neu für die Wissenschaft waren und hier 1999, 2001) vor. Diese letzte große mor- auch ihren locus typicus haben. Nirgends phologisch basierte Stammesgeschichte auf der Welt konnte eine marine Benthos- aus den Händen eines einzelnen Zoologen gemeinschaft, ihre Zusammensetzung im deutschen Sprachraum ist ein großarti- und Struktur, Lebenszyklen, Fortpflan- ges, konsequent und anschaulich durch- zungsbiologie, ihre Entwicklung und Ver- gestaltetes, besonders auf die Verwandt- änderung vollständiger analysiert werden schaftsbeziehungen gerichtetes Lehrbuch als in diesem grobsandigen Nordsee- der Zoologie. Dass es – auch nach seiner strand (K. Reise) – wie alles im wissen- vollständigen englischen Übersetzung – schaftlichen Wirken von Peter Ax Aus- letztlich nur eine eher geringe Verbreitung druck und Ergebnis von Kontinuität und fand, mag in mehreren Punkten begründet Beständigkeit. Dass er sich neben der sein: vielleicht in der für ein Lehrbuch un- Zoologie auch anderen Dingen des Le- gewohnten Niederschrift der Schwester- bens mit Leidenschaft widmen konnte, gruppen-Paare in der Abfolge ihrer Sub- wurde Außenstehenden nur gelegentlich ordination, sicher aber im Zeitpunkt des durch eingeschränkte Beweglichkeit und Erscheinens, dem Zusammentreffen einer äußere Blessuren bewusst. Er liebte Pfer- ausschließlich morphologischen Analyse de, war aber, wie es seine Frau ausdrückte, mit den häufig konträren Ergebnissen ei- „kein guter Reiter“. - Aber was für ein ner zunehmend molekular basierten Sys- Parforce-Ritt war schließlich doch sein tematik. wunderbares wissenschaftliches Leben!

Prof. Dr. Wilfried Westheide Gerhart-Hauptmann-Str. 3 49134 Wallenhorst [email protected]

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Nachruf auf Hildegard Strübing 8. 5. 1922 – 18. 5. 2013

Thomas Keil

Am 18. Mai 2013 verstarb Hildegard Strübing, eine Pionierin der Forschung an der bioakustischen Kommunikation der Zi- kaden und langjähriges Mitglied unserer Gesellschaft. Hildegard Strübing wurde am 8. Mai 1922 in Mahlsdorf (1920 in Berlin einge- meindet) geboren und studierte in den Jahren des 2. Weltkrieges Biologie, Che- mie und Geographie an der Berliner Frie- drich-Wilhelms- (heute Humboldt-) Uni- versität. Aus dieser Zeit ging eine lebens- lange Freundschaft mit Günter Tembrock hervor. Ihre Doktorarbeit über die Vorzug- stemperatur von Amphibien fertigte sie bei Konrad Herter an und legte ihre Prü- fung wenige Wochen vor Kriegsende ab So kannten wir Hildegard Strübing auf der (die Urkunde erhielt sie am 25. April 1945 Exkursion: 1973 im Kursraum in Eschwege - an diesem Tag stand die Rote Armee be- (Foto: T. Keil) reits am Berliner Westhafen, knapp 3 km vom Zoologischen Institut, bzw. 5 km vom und von Werner Ulrich geleitet wurde. Sie Universitätshauptgebäude entfernt). Am 8. mußte in einem leeren Zimmer praktisch Mai erreichte sie die Nachricht, dass ihr bei null anfangen und erst einmal unter Verlobter in französischer Kriegsgefan- einfachsten Bedingungen - wie sie selbst genschaft verstorben war. Sie blieb für ihr 2001 schreibt - mit „kaum einer Ahnung weiteres Leben allein und lebte mit ihrer von der Physiologie“ den physiologischen Mutter Agnes Strübing (1895-1978) in Ber- Kurs aufbauen. Nach Herters Emeritierung lin zusammen. Am 15. Januar 1952 folgte 1959 wurde sie Mitarbeiterin des neuen sie ihrem Lehrer Konrad Herter von der Direktors Klaus Günther. Später hatte sie Ostberliner Humboldt-Universität als Assi- an diesem Institut eine Stelle als Kustodin stentin an das neugegründete Zoologische und Akademische Rätin inne. Da nach dem Institut der Freien Universität in Westberlin, Berliner Hochschulgesetz von 1969 die das in Dahlem im von Simon Schwendener Akademischen-Rats-Stellen in Professoren- gegründeten Botanischen Institut an der stellen umgewandelt wurden, erfolgte Königin-Luise-Str. 1-3 eine Heimat fand 1971 ihre Ernennung zur Professorin.

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Hildegard Strübing betreute die Ausbil- gie, später die akustische Kommunikation dung der Studenten in der Entomologie und Artbildung von Kleinzikaden (z. B. und leitete zusammen mit Dieter Jung Be- Strübing 1965). Euscelis ormaderensis stimmungsübungen und Exkursionen. So wurde von ihr 23 Jahre lang über 92 Ge- lernte ich sie im Jahre 1968 kennen. Ihr nerationen in einem winzigen Gewächs- trockener Vortragsstil mag nicht auf jeden haus im Garten des Zoologischen Institu- begeisternd gewirkt haben, mich hat sie tes gezüchtet. Die Lautäußerungen dieser trotzdem für die Insekten gefangen ge- Tierchen wurden mit Hilfe eines Tonband- nommen und ich habe sie dann in den frü- gerätes und spezieller Mikrophone und hen 70er Jahren auf mehreren Exkursionen Vibrationsmesser aufgenommen und dann zum Standquartier der F.U. an der Blauen zeitgedehnt in ihrem kleinen Büro abge- Kuppe bei Eschwege begleitet. Diese Ex- spielt und analysiert. Wenn man auf dem kursionen waren nicht nur wissenschaftlich Flur vorbeiging, konnte man oft ein tiefes ertragreich, sondern durch ihre sehr di- lautes Brummen vernehmen (Reinhard rekte aber liberale Art und ihren trocke- Schuster, Graz, erinnerten die Geräusche nen Humor (den man aber erst kennen an Löwengebrüll). Bereits früher hatte es und schätzen lernte, wenn man sie selbst Vermutungen gegeben, dass die Signale näher kennengelernt hatte) für uns Stu- durch das Substrat übertragen werden denten sehr angenehm. (Ossiannilsson 1949). Schon in ihrer ersten Die wissenschaftlichen Arbeiten kon- Arbeit von 1958 zu diesem Thema gab es zentrierten sich bis 1946 auf gründliche die Erkenntnis, dass die Weibchen mit Untersuchungen zur Biologie des Schnee- dem Abdomen zittern. Die später veröf- flohes Boreus hiemalis, von dem es damals fentlichte Folgerung, dass die Kommunika- eine große Population in den Sanddünen tion über niederfrequente Substratvibra- bei Berlin-Heiligensee gab (dieses Gebiet tion erfolgt, fand nicht gleich überall wurde dann allerdings für die nächsten Zustimmung. Auch blieb die Frage, welche Jahrzehnte von der französischen Besat- Sinnesorgane als Rezeptoren für diese zungsmacht als Manövergelände benutzt). Signale dienen könnten, ungeklärt. Das Hieraus ergab sich 1950 eine umfangrei- Problem hat sie 1977 und 1999 ausführlich che Veröffentlichung im ersten Heft der diskutiert. Hinsichtlich der Systematik kam von Konrad Herter neu begründeten „Zoo- es zur Zusammenarbeit mit Reinhard Re- logischen Beiträge“. Im Jahre 1958 er- mane, die eine Analyse der akustischen schien dann ein (bis heute sehr gesuchtes Kommunikation von Artbastarden (Javesel- und rares) Bändchen der Neuen Brehm- la pellucida und J. azorica) möglich machte Bücherei mit dem Titel „Schnee-Insekten“, (Strübing und Hasse 1975). in dem das Wissen über den Schneefloh Leider muß man sagen, dass ihre bio- Boreus zusammengefasst wurde. Ihre Dok- akustischen Arbeiten im Institut doch im- torarbeit über „Vorzugstemperaturen von mer etwas belächelt wurden und von An- Amphibien“ erschien erst 1954. fang an nicht die ihr zustehende In den 50er Jahren konzentrierten sich Unterstützung erfahren haben (diese Be- ihre Arbeiten auf Systematik und Ökolo- merkung sei einem ehemaligen Doktoran-

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den des Hauses verziehen). Frühere An- worden war - aber das ist eine andere Ge- gehörige des Institutes führten das aller- schichte. Sie betreute Herter bis zu sei- dings auch auf mangelnde Kommunikation nem Tod im Jahre 1980. zurück. Hildegard Strübing wurde eher als Ihr Gedächtnis war beeindruckend. Im „Einzelkämpferin“ wahrgenommen. Ein Dezember 2000 sprach sie mich auf der Bild ihrer Versuchsapparatur im Jahre 1967 Feier zum 50-jährigen Institutsjubiläum zeugt von ihren bescheidenen Möglichkei- spontan mit Namen an, obwohl wir uns seit ten, auch mußte sie sich Teile ihrer Ausrü- 25 Jahren nicht gesehen hatten. Um so tra- stung außerhalb des Institutes zusammen- gischer ist es, dass ihre letzten Jahre von bauen lassen. Kontakte zur Abteilung von einer Demenzerkrankung überschattet Franz Huber in Seewiesen kamen leider wurden. viel zu spät. Ihre Arbeiten fanden erst relativ spät Ich danke Frau Prof. Hannelore Hoch Anerkennung in der bioakustischen Com- vom Berliner Naturkundemuseum für munity und wurden durch mehrere Aus- wertvolle Informationen. zeichnungen gewürdigt (Fabricius-Medail- le 1995; Insect Drummer Award 2011). Das Problem war dabei nicht zuletzt ihre Literatur langjährige Anhänglichkeit an die „Zoolo- gischen Beiträge“, die nur eine sehr ge- Ossiannilsson, F.: Insect Drummers. Opuscula ringe Verbreitung hatten; es erschienen Entomologica Suppl. X, Lund 1949 Strübing, H.: Beiträge zur Biologie von Boreus praktisch keine Arbeiten in internationalen hiemalis L. Zool. Beitr. N.F. 1, 51-110 (1950) Zeitschriften. Auf internationalen Kongres- Strübing, H.: Über Vorzugstemperatur von Am- sen berichtete sie dagegen gerne über ih- phibien. Z. Morph. Ökol. Tiere 43, 357- 386 re Ergebnisse, darunter auch wiederholt (1954) Strübing, H.: Schnee-Insekten. Die Neue auf der Jahrestagung der DZG. Der Gesell- Brehm-Bücherei Band 220. Ziemsen, Witten- schaft Naturforschender Freunde zu Berlin berg 1958a diente sie als Schriftführerin und Vorsitzen- Strübing, H.: Lautäußerung - Der entschei- de, 1996 wurde sie zum Ehrenmitglied er- dende Faktor für das Zusammenfinden der nannt. Den Berliner Zoo bedachte sie Geschlechter bei Kleinzikaden (Ho- moptera-Auchenorrhyncha). Zool. Beitr. N.F. großzügig in ihrem Testament. 4, 15-21 (1958b) Als Mensch war Hildegard Strübing Strübing, H.: Das Lautverhalten von Euscelis von einer geraden, offenen Art. Sie scheu- plebejus Fall. und Euscelis ohausi Wagn. te sich nicht, auch in der Öffentlichkeit un- (Homoptera-Cicadina). Zool. Beitr. N.F. 11, 289-317 (1965) angenehme Wahrheiten beim Namen zu Strübing, H.: Zur Untersuchungsmethodik der nennen, was nicht von jedermann goutiert Lautäußerungen von Kleinzikaden (Ho- wurde. So nahm sie wiederholt leiden- moptera-Cicadina). Zool. Beitr. N.F. 13, 265- schaftlich Stellung für ihren alten Chef 284 (1967) Strübing, H.: Lauterzeugung oder Substratvi- Konrad Herter (Strübing 2001), der nach bration als Kommunikationsmittel bei seiner Emeritierung vom Institutsgründer Kleinzikaden? Zool. Beitr. N.F. 23, 323-332 Werner Ulrich ziemlich schlecht behandelt (1977)

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Strübing, H.: Comments on the vibratory sig- rad Herter und Klaus Günther. Sitzungs- nals of Stictocephala bisonica Kopp and berichte der Gesellschaft Naturforschender Yonke and Dictyophara europaea (L.) Freunde zu Berlin N.F. 40, 111-123 (2001) (Hemiptera: Auchenorrhyncha: Cicadomor- Strübing, H., Hasse, A.: Ein Beitrag zur Neuen pha et Fulgoromorpha: Membracidae et Systematik demonstriert am Beispiel Dictyopharidae). Reichenbachia 33, 61-69 zweier Javesella-Arten (Homoptera, Cicadi- (1999) na: Delphacidae). Zool. Beitr. N.F. 21, 517- Strübing, H.: Lehre und Forschung zweier 543 (1975) namhafter Zoologen an der FU Berlin: Kon-

Dr. Thomas Keil, Georg-Bader-Str. 22 82319 Starnberg [email protected]

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Nachruf auf Dieter Zissler 25. 11. 1937 - 10. 6. 2013

Klaus Peter Sauer

“Was das Leben oder das Lebendige ausmacht, ist im Wesentlichen seine Man- nigfaltigkeit. Sie zu erforschen, zu beschrei- ben, gar zu verstehen, bieten sich u.a. zwei Aufgabenfelder: ein physisches in Form der … Biologie der Organismen und ein eher metaphysisches in Form eines Studi- ums der Poesie… Ihrer beider Verbindung, ihre Bezie- hung zueinander, d.h. das Verhältnis von Naturwissenschaft und Poesie als einen be- sonderen Erkenntnisgewinn aufzuspüren, ist hier die Aufgabe.”

So formuliert Dieter Zissler in einem seiner letzten Vorträge. Diese gerade zi- tierten Sätze lassen zwei Eigenschaften Foto privates Bildarchiv erkennen, die sein Leben als Wissen- schaftler mitbestimmt haben: Die Ausein- andersetzung mit der Mannigfaltigkeit tig. Dieter Zissler wurde in schwierige des Lebendigen und die Verbindung von Zeitenläufe hineingeboren. Kurze Zeit Zoologie und Poesie. Die erstgenannte nach seiner Einschulung in die Ketteler- gipfelt in seinem 1980 erschienen Buch Francke-Schule im Jahre 1943 verstarb “Baupläne der Tiere”; Die Beziehung von seine Mutter. Naturwissenschaft und Poesie führten ihn Im Herbst 1948, drei Jahre nach Ende zur Auseinandersetzung vor allem mit des 2. Weltkriegs trat Dieter Zissler in das den Werken von Georg Büchner, Thomas Kaiserin-Friedrich-Realgymnasium ein, an Mann und Ernst Jünger, Autoren, die sich dem er am 9. März 1957 seine Hoch- der Organismen oder des Organischen schulreife erwarb. angenommen haben. Schon früh wurde in dem Knaben das Dieter Zissler war als drittes und jüng- Interesse für die Biologie geweckt. Sein stes Kind von Heinrich Zissler und seiner Vater, der auch Imkermeister war, führte Ehefrau Mathilde am 25. November 1937 ihn in die Bienenkunde ein. So war es in Bad Homburg v.d.H. zur Welt gekom- leicht nachvollziehbar, dass der Abitu- men. Dort war sein Vater als Konrektor tä- rient sich 1957 für ein Studium der Natur-

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wissenschaften entschied. Von 1957 bis Am 22. Februar 1969 wurde Dieter 1960 studierte er an der Universität Zissler in Gießen mit einer Arbeit über Frankfurt/Main und wechselte dann zum “Die Spermiohistogenese des Süßwas- Studium der Biologie an die Universität ser-Ostracoden Notodromas monacha” Gießen. Während seiner Zeit in Frankfurt zum Dr. rer. nat. promoviert. Vom 1. Mai nahm er auch an Lehrgängen zur bienen- 1969 bis 30. November 2002 war Dieter kundlichen Fortbildung an den Instituten Zissler zunächst als wissenschaftlicher für Bienenkunde in Oberursel/Ts. und Assistent, dann als Akademischer Rat und Marburg/Lahn teil. schließlich als Akademischer Oberrat am In Gießen lehrte einer der führenden Lehrstuhl Sander am Institut für Biologie I Zoologen im Nachkriegsdeutschland, der Albert-Ludwigs-Universität in Frei- Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Wulf Emmo Ankel. burg tätig. Er wurde Dieter Zisslers Lehrer und Dok- Mit großem Engagement und Erfolg torvater. Von 1962 bis 1964 war er als leitete er das Elektronenmikroskopische wissenschaftlicher Hilfsassistent am Labor, das er mit seinem Wechsel nach I. Zoologischen Institut der Universität Freiburg dort aufgebaut hatte und arbei- Gießen angestellt. Zur Einarbeitung in die tete Studenten und Mitarbeiter in diese Bestimmung von Ostracoden hielt er sich Methodik ein. Zu seinen Lehraufgaben im Jahre 1963 vorübergehend am II. Zoo- gehörten Vorlesungen, Praktika und Ex- logischen Institut der Universität Wien auf. kursionen. Vor allem seine Exkursionen in Die Zeit von Mai bis Oktober 1964 ver- die Zoologischen Gärten von Köln, Zü- brachte Dieter Zissler in Santa Marta/Co- rich, Basel und Frankfurt/Main erfreuten lumbien und half beim Aufbau der neu sich großer Beliebtheit. Über viele Jahre gegründeten Forschungsstation des Tro- hat er auch die allseits geschätzte Helgo- peninstitutes der Universität Gießen. Seit landexkursion geleitet und eine große 1967 - also zwei Jahre vor seiner Promo- Schar von Studenten in die marine Biolo- tion - übernahm er von seinem Lehrer gie eingeführt. Seine Erfahrung auf die- Wulf Emmo Ankel die Leitung von Watt- sem Gebiet konnte er als Mitherausgeber wanderungen und Kutterfahrten verbun- des Exkursionsführers “Marinbiologische den mit Vorträgen zur Einführung in die Exkursion - Beobachtung und Experi- Tierwelt der Nordsee an der Volkshoch- ment” zu Geltung bringen. In der For- schule Klappholttal auf Sylt. Was John schung hat er ausgehend von seiner Dis- Steinbeck über Ed Ricketts, das Vorbild sertation die Untersuchungen zur Struktur für den Doc in der “Straße der Ölsardi- und Entwicklung von Ei - und Samenzel- nen” und in “Wonniger Donnerstag” len der Metazoen weitergeführt. schreibt, kann man für Dieter Zissler Sehr intensiv betrieb Dieter Zissler übernehmen: Einige hat er gelehrt zu Studien zur Geschichte der Biologie und denken, andere zu schauen oder zu lau- die bereits erwähnten Studien zur Bezie- schen.” Diese Fähigkeit machte Dieter hung der Biologie zu Philosophie und Po- Zissler zu einem geschätzten Hochschul- esie. Seine Forschungsergebnisse hat er lehrer. in zahlreichen Vorträgen vorgestellt. In et-

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wa 100 Publikationen hat Dieter Zissler Schausammlung”. Durch einen Instituts- seine in 30 Jahren wissenschaftlicher Ar- neubau war die Aufstellung der Lehr- beit gewonnenen Ergebnisse und Er- sammlung des Instituts möglich gewor- kenntnisse veröffentlicht. den. An dieser Aufgabe wirkte Dieter Über sechs Jahre, von 1997 bis zu sei- Zissler mit großem Engagement mit. So ner Pensionierung im Jahre 2002, war er wurde die Schausammlung sowohl der zweiter Schriftführer unserer Gesellschaft. Studentenschaft als auch der Allgemein- Damit oblag ihm die Herausgabe und heit angemessen zugänglich. Diese Auf- Gestaltung der “Mitteilungen der Deut- gabe blieb ihm bis zum Sommerseme- schen Zoologischen Gesellschaft”, die ster 2009 erhalten. Von einem Schlagan- 1997 mit seinem Amtsantritt erstmalig er- fall im Jahre 2009 erholte er sich nicht schienen sind und deren Beiträge als eine mehr. Er starb am 10. Juni 2013. gleichsam sich selbst schreibende Ge- Dieter Zissler war nicht nur ein ge- schichte der DZG anzusehen sind. schätzter Hochschullehrer, er war vor al- Ein Jahr nach seiner Entpflichtung er- lem auch durch seinen breiten Bildungs- teilte ihm der Dekan der Fakultät für Bio- fundus und seine vielseitigen kulturellen logie einen unbesoldeten Lehrauftrag für Interessen ausgezeichnet. Wir vermissen Vorlesungen und Übungen mit dem The- ihn. ma “Demonstration der Zoologischen

Prof. em. Dr. Klaus Peter Sauer Institut für Evolutionsbiologie und Ökologie An der Immenburg 1 53121 Bonn [email protected]

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Notizen zu Hans Hass 23.1.1919 – 16.6.2013

Irenäus Eibl-Eibesfeldt

Ich verdanke Hans Hass nicht nur die Einführung in eine reiche Expeditionserfah- rung und die Eröffnung neuer Welten unter Wasser, sondern eine ungemein stimulie- rende Begleitung meines Faches Human- ethologie sowie eine lebenslange Freund- schaft. Hans Hass begann seine Karriere im Sommer 1937 im sonnigen Juan les Pins, dem fröhlichsten aller Badeorte. Als er über einen hohen Felsen kletterte, bemerkte er einen Mann, der zwischen den Felsen um- her schwamm, das Gesicht unter Wasser, als suchte er etwas in der grünblauen Tiefe. Dieser Mann war der Amerikaner Guypa- trick, der mit einer Harpune nach Fischen jagte. Er erklärte Hans Hass, worauf man Hans Hass im Jahr 1998 beim Jagen achten müsse. Hans fand das Foto Hans Hass Institut aufregend und wurde zunächst zum Unter- wasserjäger. Sein erstes Buch trug den Titel hab schon die Lorle gefragt, und sie wäre „Jagd unter Wasser.“ damit einverstanden.“ Obwohl wir im Sep- Mein Kontakt zu Hans Hass entwickelte tember unser erstes Baby erwarteten! Ich sich im Frühsommer 1953 mit der ersten war Feuer und Flamme. Xarifa-Expedition. Ich war damals in Bul- Wie war Hans Hass darauf verfallen, dern, Westfalen, am dortigen Max-Planck- mich einzuladen? Ursprünglich hatte er sich Institut für Verhaltensphysiologie als Wis- an gewandt, der da- senschaftler beschäftigt und war gerade auf mals als Assistent von in dem Weg, mich als Mammologe zu speziali- Wilhelmshaven arbeitete. Aber Hassenstein sieren, als im Frühsommer 1953 eine über- hatte bereits eine Brasilienreise geplant, raschende Einladung die Weichen meiner und da er mich kannte, nannte er Hass mei- Laufbahn in eine ganz neue Richtung stellte. nen Namen. Ich fütterte gerade meine Iltisse, als Lorenz Ich stellte mich Hans Hass in Vaduz vor. zu mir kam: „Sag, hättest du nicht Lust, mit Wir verabredeten uns am Bahnhof von Hans Hass auf ein Jahr in die Karibische See Buchs. Da ich ihn von Bildern kannte, ging und zu den Galapagosinseln zu fahren? Ich ich schnurstracks auf ihn zu, er aber sah

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über mich hinweg. Er hatte sich einen älte- Osborn. Als das Rasseln der Ankerkette ren, würdigen Wissenschaftler vorgestellt, verklungen war, hörten wir das heisere „Ou einen Experten der Verhaltensforschung. ou“- Gebrüll eines Seelöwenbullen und den Nach ersten Vorbehalten seinerseits einig- vielstimmigen Chor blökender Jungtiere ten wir uns aber schnell. Wieder daheim, und Weibchen durch das Rauschen der bereitete ich mich gründlich auf die Reise Brandung. Wir konnten sie vom Schiff aus vor. Ich las die Bücher von Hans Hass, die sehen. Wir lernten aber nicht nur unberühr- ich zum Teil bereits kannte. Aber nun las ich te Natur kennen, sondern fanden auch Spu- sie mit neuem Interesse. Neben der leben- ren der Zerstörung. Die großen Elefanten- digen Schilderung der Tauchabenteuer fes- schildkröten, die den Inseln ihren Namen selten mich die Beobachtungen über Koral- gaben, wurden von den Siedlern ge- lenfische. Hass war damals vor allem durch schlachtet, amerikanische Thunfischjäger diese eher populären Bücher bekannt, die stellten den seltenen Pelzrobben nach und auch heute noch durch ihre Frische den erschlugen auch Seelöwen. Es gab vieles Pioniergeist jener Zeit spiegeln. Darüber zu tun und zu entdecken für uns, aber eher hinaus hatte ihn sein Film „Abenteuer im über als unter Wasser, und Galápagos sollte Roten Meer“ populär gemacht. Dass er für mich eine Begegnung werden, die für die von ihm entwickelte Methode des mein ganzes künftiges Leben Bedeutung Schwimmtauchens als erster für eine wis- haben sollte. senschaftliche Untersuchung eingesetzt hat- Aus meiner anfänglichen Verwirrtheit te, wussten und wissen nur wenige. unter Wasser, die jene einer reinen Landrat- Hans Hass besaß eine natürliche, freund- te war, hatte mir Hans Hass auch nicht an- liche Autorität. Er hatte bereits durch seine ders helfen können als mit dem Rat, auf- Leistung überzeugt, und jeder akzeptierte merksam und geduldig zu bleiben. Auf ihn gerne als Expeditionsleiter. Er ließ sich diesem Wege entdeckte ich bei Los Ro- nichts anmerken von den großen Sorgen, ques, einer Venezuela vorgelagerten klei- die ihn wegen der aufgenommenen Kredite nen Karibik-Insel, die Putzsymbiose zwi- bedrückten. Er strahlte Zuversicht aus, war schen Zackenbarsch und Neongrundeln. doch ein Traum seines Lebens in Erfüllung Die zweite Xarifa Expedition (1957/ gegangen, und wir vertrauten ihm. Dieses 1958) unterschied sich in mancherlei Hin- Vertrauen hat er nie enttäuscht. sicht grundsätzlich von der ersten. Hans Am 19. November 1953 ankerten wir vor Hass war nicht mehr verpflichtet, einen der niederländischen Antilleninsel Bonaire. abendfüllenden Kulturfilm zu produzieren. Hans Hass hatte hier 1939 als junger Stu- Die Fahrt ging durch das Rote Meer über dent seine ersten Tauchabenteuer erlebt. Ceylon und die Nikobaren, die seit der Fre- Voll Freude und gespannter Erwartung gatte Novara 1858 kein österreichisches stand er damals an Deck, als die Insel auf- Schiff mehr besucht hatte. Die Xarifa lief tauchte. diesmal unter österreichischer Flagge. Un- Für Galápagos hatten wir eine gute Jah- ser Reiseziel waren die Malediven, die tau- reszeit gewählt. Wir ankerten im Norden cherisches Neuland und dem Tourismus der Insel Española vor der winzigen Insel weitgehend unbekannt waren. Hass und ich

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tauchten damals viel gemeinsam. Unsere Physiologie und Genetik vorstellen. Ich Beziehung entwickelte sich auf diesen bei- schlug vor, Facetten menschlichen Verhal- den Xarifa-Reisen zu einer wirklichen tens zu berücksichtigen. Die Idee gefiel Freundschaft, die wir beide bis zu seinem ihm, und er lud mich ein, als ethologischer Tod pflegten. Berater mitzumachen. Beim Atoll Gaha Faro inspizierten wir Es war für diesen Zweck wichtig, unge- nicht nur ein auf die Außenrifflatte aufgelau- stellte Dokumente des Alltagsverhaltens zu fenes Wrack, das an der Außenseite mit Ko- filmen, und dies erwies sich schwieriger als rallen bewachsen war, sondern begegneten gedacht. Hans Hass hatte in Wien damit ex- auch zwei Grauhaien. Das weckte in beiden perimentiert, Menschen unbemerkt aufzu- die Lust, mit diesen Tieren zu experimentie- nehmen. Dabei wurde klar, dass Menschen ren, und wir arbeiteten erstmals mit Ködern überaus wachsame Wesen sind und selbst im freien Wasser, um sie zu beobachten. aus der Entfernung bemerken, wenn ein Te- Viel später, im Jahr 1977, erschien unser leobjektiv auf sie gerichtet ist. Sie ändern gemeinsames Buch „Der Hai – Legende ei- dann umgehend ihr Verhalten. Hans Hass nes Mörders“. löste das Problem mit einem ebenso einfa- Weitere Abenteuer zu Land und unter chen wie genialen technischen Verfahren, Wasser erlebten wir auf der Expedition an- Er setzte vor die Filmkamera eine Objektiv- lässlich der 200-Jahr-Feier der Weltumseg- attrappe mit eingebautem Prisma und seitli- lung von James Cook, die nach Australien, chem Fenster. Mit diesem „Spiegelobjektiv“ Tahiti und Rangiroa führte. Als Ergebnis die- war es möglich, Menschen zu filmen, ohne ser Tour sollte eine Filmreihe entstehen. Da- dass die Kamera wie eine Waffe auf sie bei war das Tauchen im Großen Barriere- wies. Er experimentierte ferner mit Zeit- Riff sicher ein Höhepunkt, aber wir filmten transformationen und filmte in Zeitlupe, was auch kleinere Wunder wie die Vogelkolo- schnelle Bewegungsabläufe besser beob- nien in den Mangroven, Weberameisen und achtbar machte, und benutzte auch einen Schlammspringer. In den Straßen größerer Zeitraffer. Damit beschritt er einen neuen Städte nahmen wir auch menschliche All- Weg in der Dokumentation menschlichen tagsszenen auf und verglichen sie mit den Verhaltens. Dieser hatte sich bis dahin dar- Schilderungen von James Cook. Diese Le- auf beschränkt, relevante Ausschnitte zu er- bewelten hatten sich zweifellos seit den Ta- fassen, wie Töpfern, Brotbacken etc. Würde gen Cooks am meisten verändert und dies jemand versuchen, anhand solcher Aufnah- regte zu neuen Ideen an. men herauszufinden, wie viel Arbeit, ge- Ich war damals schon innerlich bereit, zählt an Handbewegungen, zur Herstellung mich von der tierethologischen Forschung des Topfes nötig gewesen war und wie viel abzulösen und der Erforschung des Men- bei Anwendung einer anderen Herstel- schen zuzuwenden. Da traf es sich gut, dass lungstechnik aufgewendet werden musste, Hans Hass eine dreizehnteilige Fernsehse- dann würde ihm das wenig helfen. Wählt rie über den Menschen plante. Dem ur- man dagegen statt der normalen 25 Bilder sprünglichen Konzept zufolge wollte er des- pro Sekunde eine Aufnahmefrequenz von sen Stammesgeschichte, Morphologie, 6,25 Bildern pro Sekunde, dann kann man

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auf einer 120.Meter-Kassette statt der üb- welt mehr arbeitsfähige Energie erwerben lichen zehn Minuten das Vierfache ohne als sie für diesen Erwerb aufwenden müs- Unterbrechung festhalten, in unserem Fall sen. Organismen sind demnach Energie er- also den vollständigen Vorgang des Töp- werbende Systeme mit einer positiven ferns. Man sieht in solchen Zeitrafferaufnah- Energiebilanz. Für solche Energie erwer- men auch Regelmäßigkeiten, die einem in benden Systeme prägte Hass den Begriff der Normalfrequenz entgehen. „Energon“. Das Buch dazu erschien 1970. 1964 flogen wir nach Ostafrika, mit der Die Theorie führte ihn zu einer Vision der Kamera samt Spezialobjektiv und einem Lebensprozesse, in welcher letztlich Struk- von einem Wiener Mechaniker gebastelten turen wie Berufskörperschaften und Er- Zusatzgerät für Zeitrafferaufnahmen. In Nai- werbsorganisationen als „künstliche Orga- robi mieteten wir uns einen Geländewagen ne“ des Menschen in Analogie neben mit Chauffeur und einem Gehilfen, besorg- anderen organismischen Systemen des ten uns eine Campingausrüstung und ein Energieerwerbs stehen. Zelt und fuhren los. Nationalparks, Olduvai Hans Hass blieb aber Zeit seines Lebens Schlucht, Massai-Steppe, Kigoma. Im Gom- ein begeisterter und großer Zoologe, der be-Reservat bei Jane Goodall, die uns herz- an Kleinstlebewesen ebenso viel Freude lich empfing, filmten wir freilebende Schim- hatte wie an den großen Zusammenhängen pansen. Später fuhren wir nach Norden, den des Lebens. Elizabethsee entlang bis nach Uganda und Mit Hans Hass ist ein großer Pionier von weiter zu den Karamojo, Turkana, Samburu uns gegangen, dessen Beitrag für die Wis- und Elmolo am Lake Rudolph. Zurück in senschaft größte Würdigung verdient. In Nairobi hatten wir wichtige Erfahrungen mit seinem Buch „Expedition ins Unbekannte“ der Technik, aber vor allem auch mit Men- hat Hans Hass viele der Erfahrungen und schen gesammelt. Dies bedeutete für mich Erkenntnisse, die wir auf den beiden Xarifa- den endgültigen Umschwung zur Men- Expeditionen gesammelt haben, aufgenom- schenforschung. Ohne Hans Hass, seine Ge- men. Die Widmung, die er mir in mein spräche und Ideen hätte diese wohl einen Exemplar des Buches geschrieben hat, ganz anderen und sicherlich schwierigeren könnte nicht treffender diesen Beitrag ab- Anfang genommen. schließen, und gilt gleichwohl auch für sein Hans Hass’ eigene Wege führten ihn eigenes Leben: weiter zu einer umfassenden Theorie der „Als bleibende Spur einer kühnen Tat, Lebensprozesse. Leben wird als energeti- die uns gelang, von Monaten, deren reicher scher Prozess definiert, in dessen Verlauf Ertrag weiter wirkt, und Stunden, die unsere die Träger dieses Prozesses aus ihrer Um- Freundschaft stärkten, von Deinem Hans.“

Prof. Dr. Irenäus Eibl-Eibesfeldt Arbeitsgruppe für Humanethologie der MPG 82319 Seewiesen [email protected]

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Nachruf auf Deszö Varjú 22. 5. 1932 – 17. 8. 2013

Jochen Zeil

Im August 2013 verstarb Professor Deszö Varjú, der von 1968 bis 1997 den Lehrstuhl für Biokybernetik an der Univer- sität Tübingen geleitet hat. Deszö Varjú war mehrmals Dekan der biologischen Fakultät an der Universität Tübingen, hoch geschätzt unter Kollegen und als Gutach- ter der DFG für seine Integrität, sein weit- gespanntes Wissen, sein wissenschaftli- ches Interesse, seine Unabhängigkeit und sein faires Urteil. Deszö Varjú wurde 1932 in Gasztony/ Ungarn an der Grenze zum Burgenland geboren. Nach Schulbesuch in Szomba- thely schloss er 1956 das Physikstudium an der Universität Budapest mit dem Di- plom ab. Er wurde während des ungari- schen Aufstands verhaftet und flüchtete nach Deutschland. Am berühmten Institut für Physikalische Chemie in Göttingen promovierte der 26-Jährige bei Werner Reichardt mit einer Arbeit über Phototro- Foto privates Bildarchiv pismus und Licht-gesteuertes Wachstum des Algenpilzes Phycomyces. Werner Rei- USA emigrierte und sich dort mit physi- chardt holte ihn als Mitarbeiter in die kalisch geschultem Denken biologischen Abteilung Kybernetik des Max-Planck-In- Fragen, vor allem zu Bacteriophagen und stituts für Biologie von Alfred Kühn in Tü- der Genetik zuwandte. bingen, wo er zusammen mit Bernhard Zurück in Tübingen am dann neu ge- Hassenstein die Theorie zur Bewegungs- gründeten Max-Planck-Institut für biolo- detektion nach dem „Korrelationsmodell“ gische Kybernetik arbeitete Varjú mit an mitentwickelte. Von 1959 bis 1960 arbei- der Theorie der lateralen Inhibition und tete er weiter über Phycomyces am Cali- habilitierte mit einer mathematischen fornia Institute of Technology bei Max Analyse der pupillomotorischen Reaktion Delbrück, der ebenfalls als Physiker in des Menschen – seiner wichtigsten Arbeit, Deutschland begonnen hatte, 1937 in die da hier seine Frau, Heide, die zuverlässig-

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sten Daten lieferte. Deszö Varjú wurde bert Paul, Peter Thier und den internatio- 1968 erster Inhaber des Lehrstuhls für nalen Kollegen Jon Barnes und David San- Biokybernetik der Universität Tübingen. deman sind umfangreiche Arbeiten zur Hier erweiterte er seine Forschungsinter- multi-sensorischen Kontrolle und Koordi- essen auf ungewöhnlich viele Gebiete, nation der kompensatorischen Augenbe- was zum einen Deszö Varjús breites und wegungen bei Krabben entstanden. Bei offenes Interesse wiederspiegelte, seine mehreren Forschungsaufenthalten in Au- Bereitschaft auf Vorstellungen seiner Stu- stralien hat Deszö Varjú zusammen mit denten einzugehen, zum anderen auf der David Sandeman die taktile Orientierung Einladung unterschiedlicher Forscherper- und Lokalisation bei Flusskrebsen bear- sönlichkeiten beruhte, die sich an seinem beitet. Leider sind ihre gemeinsamen Lehrstuhl einfanden und dort ein freies Untersuchungen zur taktilen Exploration Wirkungsfeld bekamen - oder sich in und zum räumlichen Lernen bei Fluss- manchen Fällen in harten Diskussionen krebsen meines Wissens unveröffentlicht erkämpften. geblieben, bis auf eine Kurzmitteilung bei Deszö Varjú selbst beschäftigte sich, der 17. Göttingen Neurobiologen-Tagung. zusammen mit seinen Studenten, mit der Wie überhaupt Varjú eine kritische Hal- Pupillenmotorik beim Menschen und den tung gegenüber dem Publizieren von optomotorischen und Fixations-Reaktio- nicht abgeschlossenen oder – nach sei- nen beim Mehlkäfer, hat später zuneh- ner Meinung – zu wenig aussagekräftigen mend vergleichende Untersuchungen bei Arbeiten hatte. unterschiedlichen Tieren selbst durchge- All diesen Projekten gemeinsam war führt oder zusammen mit Hans-Jürgen Varjús Interesse am Wirkungsgefüge der Dahmen betreut: die Regelung der Kör- Verhaltensleistungen, an der ‘computatio- per-Substrat Distanz bei Stabheuschrek- nal structure of animal behaviour’ und an ken, Bewegungssehen und die multi-sen- den physikalischen Grundlagen der Bio- sorische Kontrolle der Augenbewegun- logie – kurz an der biologischen Kyber- gen bei Krabben, die visuelle Positions- netik. kontrolle bei Wasserläufern und anderen Die ‘biokybernetische Forschungsdi- Wasserwanzen und die Kontrolle der versität‘ an Deszö Varjús Lehrstuhl war Schwebflugposition bei Taubenschwänz- aber damit noch längst nicht erschöpft. chen, aber auch theoretische Untersu- Diplomanden, Doktoranden, Mitarbeiter chungen zum Reafferenzprinzip, zum Po- und Besucher untersuchten die visuelle larisationssehen und zur Struktur und Orientierung von Wasserschnecken und Dynamik von Taumelkäferschwärmen. Ein Mehlkäfern, das Schwarmverhalten von Aufenthalt von Josué A. Nunez regte ihn Insekten, die Lernflüge bodennistender zu Beiträgen zur optimal foraging-Theo- Wespen und Bienen, die Choreographie rie von Honigbienen an. der Heuschreckenbalz, die Schwebflug- Mit den Diplomanden und Doktoran- kontrolle stachelloser Bienen, die Verfol- den Henning Blanke, Andreas Fleischer, gungsjagden der Taumelkäfer, die visuel- Roland Kern, Hans-Ortwin Nalbach, Her- le Zielverfolgung bei blutsaugenden

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Wanzen, optomotorische und Halteren- der Mutigen, der interdisziplinär Interes- gesteuerte Kopfstabilisierung bei Strep- sierten und der Unangepassten, die vor sipteren, Driftkompensation und das om- allem durch ein experimentell sehr viel- matidiale Abtastmuster bei Wasserläu- fältiges und anspruchsvolles Grossprakti- fern, visuelle Fluchtauslösung bei Krab- kum in die Neuroethologie und messen- ben, Optomotorik von Kaninchen, Neuro- de Verhaltensforschung eingeführt wur- anatomie und Elektrophysiologie des vi- den. So mussten Versuche selber aufge- suellen Systems der Taubenschwänzchen baut werden und Studenten lernten, oft und führten die ersten Untersuchungen bis tief in die Nacht, Fehler zu finden, Pro- zum Farbensehen bei diesen tagaktiven bleme zu lösen, neue Versuchsansätze zu Motten durch. Es wird schwer sein, eine entwerfen, zu löten und zu feilen – kurz, Forschergruppe in Deutschland zu finden, wissenschaftlich zu arbeiten. die sich mit so vielen unterschiedlichen Der Lehrstuhl war auch ein Ort sehr neuroethologischen Fragen beschäftigt detaillierter, kritischer und oft hitziger hat. Fachdiskussionen, die manchmal über Die Arbeiten am Lehrstuhl für Bioky- Stunden sich damit beschäftigten, was ei- bernetik spiegeln auch viele der metho- ne graphisch dargestellte Abhängigkeit dischen und konzeptionellen Entwicklun- wirklich aussagt, ob sie einem Phänomen gen wieder, die die Zeit von 1970 bis gerecht wird, ob die Messgenauigkeit 2000 in der Wissenschaft allgemein und ausreicht und ob richtig gemessen wur- in der Neuroethologie speziell kennzeich- de. Im Montagsseminar über aktuelle nen: von der analytischen Behandlung zur Forschungthemen und im Grosspraktikum numerischen Simulation, als DEC PDP-11 trafen Studenten auf die junge, sich habili- und Analogrechner durch den PC ersetzt tierende Forschergarde des Tübinger wurden und die Grenzen der linearen Sy- Max Planck Instituts für Biologische Ky- stemtheorie immer deutlicher wurden; bernetik – u.a. Bülthoff, Buchner, France- von der experimentellen Analyse der Be- schini, Hausen, Hengstenberg, Pick, Ribi, wegungsdetektion und Optomotorik Vogt, Wehrhahn und später Borst, Egel- mittels Streifentrommeln zu der des opti- haaf und Wagner – lernten hart zu disku- schen Flusses, so wie er durch Verhalten tieren und nutzten deren reiches Angebot generiert unter natürlichen Funktionsbe- an Diplom- und Doktorarbeitsprojekten. dingungen auftritt; die Entwicklung weg Deszö Varjú lehrte über Systemtheorie von wenigen Modellsystemen hinaus in für Biologen und hat seine Vorlesungen in die Natur zur vergleichenden Neuroetho- einem Buch zugänglich gemacht (System- logie und zur naturnahen Analyse der In- theorie für Biologen, 1977). Die Ausbil- formationsverarbeitung bei Tieren. dung in Systemtheorie, in den mathemati- Varjús Lehrstuhl für Biokybernetik an schen und physikalischen Grundlagen der Universität Tübingen hatte den Ruf der Biologie, aber auch in Messtechnik, bei Studenten, schwierige und kompli- Methodenentwicklung und Datenverar- zierte Lehre und Forschung zu betreiben beitung und vor allem in der quantitativen und wurde dadurch zum Sammelplatz Analyse von Verhaltensmechanismen bei

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Arthropoden, hat für seine Schüler und gegnet uns auf den 264 Seiten anspruchs- Mitarbeiter die erstaunlichsten Berufsper- vollen und dennoch unterhaltsamen Textes spektiven eröffnet: nicht nur sind aus Stu- immer wieder, sehr zum Vorteil des neu- denten, Diplomanden, Doktoranden und gierigen Lesers. Deszö Varjú sieht und liebt Habilitanden des Lehrstuhls Professoren Analogien seiner Themen zu Begebenhei- der Medizin, der Neurobiologie, der Tier- ten des Alltags und der Kulturgeschichte physiologie, der Informatik, der Psycho- und würzt damit die unbestechliche Logik logie und der Biologie in Amerika, Au- seines Stoffes. Zur Einstimmung führt er stralien, Deutschland, England und uns zum Nachmittagskaffee in seinen Schweden geworden, sondern auch Netz- schwäbischen Garten und stellt uns Fragen werkmanager, IT Fachleute, Software Ent- zur Zoologie des Kaffeetisches, die wir be- wickler, Mechatronikexperten, Operations antworten möchten, aber nicht können. Wo Management Dozenten, Firmengründer kommen zum Beispiel plötzlich die Wes- und hohe Beamte in Bundesministerien. pen und die Ameisen her? Und schon zieht In den 90iger Jahren und nach seiner er uns in wenigen Sätzen in seine Gedan- Emeritierung 1997, hat Deszö Varjú mit kenwelt der biologischen Sensorik und Ky- Gábor Horváth über theoretische Proble- bernetik hinein, man liest Seite für Seite me der geometrischen und physiologi- und kommt von den Problemen und ihren schen Optik zusammengearbeitet. Das Lösungen kaum mehr los.“ gemeinsame Buch „Polarized Light and “Varjus Erzählkunst führt uns durch die Animal Vision“ erschien 2003, mit einem Orientierungswelt der Tiere. Er erklärt uns umfassenden Überblick über die Muster zum Beispiel, wie Tausendfüßler aufge- polarisierten Lichtes in der Natur, über zwungene Kursänderungen präzise korri- die Physik polarisierten Lichtes, über gieren und wie Eulen mit der raffinierten Messmethoden und über die physiologi- neuronalen Zeitmess- und Differentialtech- schen Mechanismen und Funktionen der nik ihres Gehörs eine Maus im Laub selbst Polarisationssensitivität der Tiere. in tiefster Nacht präzise lokalisieren. Er Ebenfalls nach seiner Emeritierung er- zeigt uns, wie Ameisen das uns verborge- schien 1998 Deszö Varjús spannendes, all- ne Polarisationsmuster des Himmelslichts gemein verständliches und unterhaltsames nutzen, um auf dem kürzesten Weg nach Buch über die Sinne der Tiere ‚Mit den Oh- Hause zu finden [oder] wie Zugvögel nach ren sehen und den Beinen hören‘, das er, vielen Monaten und Tausenden von Reise- wie er im Vorwort erläutert, als einen Ver- kilometern fast punktgenau wieder dort such betrachtete, seine Bringschuld als landen, wo sie im vergangenen Frühjahr Wissenschaftler gegenüber der Öffentlich- ihr Nest gebaut hatten, und vieles mehr.” keit zu tilgen. In seiner Besprechung im Zu seinem 60igsten Geburtstag hatten Spektrum der Wissenschaft hat Gerhard Deszö und Heide Varjú viele seiner Neuweiler den Charme des Buches mit Freunde und Kollegen, seine verwandten gleichem Charme beschrieben: Seelen, zu einem Symposium mit weit ge- „Der Schalk, der auf der Umschlagklap- spannten wissenschaftlichen Themen ein- pe aus den Augen des Autors blitzt, be- geladen. Die Vortragenden waren Werner

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Reichardt, Bela Julesz, Jürgen Bolz, Die- trich Burkhardt, Walter Heiligenberg, Mi- ke Land, Peter Kunze, Nicolas Franceschi- ni, Werner Loher und Franz Huber. Aber da waren unter anderen auch Karl Götz, Kuno Kirschfeld, Miriam Lehrer und Heinz Wässle. Es waren nicht nur ihre wissen- schaftlichen Interessen, sondern vor allem die menschliche Wärme, die sie mit dem Jubilar verband. So, wie es Mike Land zur Einführung seines Vortrags auf den Punkt brachte: „I am here, because we are both very nice people“. Um seinen Sinn für Humor, seine menschliche Wärme und seine wissen- schaftlichen Interessen zu feiern, haben seine Studenten und Mitarbeiter ihm da- mals wohl das verrückteste, die kreative Anarchie seines Lehrstuhls widerspie- Ein guter Tropfen wurde immer geschätzt gelnde Geburtstagsständchen aller Zei- Foto privates Bildarchiv ten dargebracht. Im ‚Servo-controlled Bio- cybernetical Panic Orchestra‘ wurden Doktoranden ausgelösten Augenbewe- Töne und Rhythmus von Happy Birthday gungen einer Krabbe. Dazu kamen heu- ausschliesslich mit wissenschaftlichen lende Schwingkölbchen, ein stückweise Versuchsaufbauten erzeugt, mit denen linear-approximiertes Exponentialalphorn gerade am Lehrstuhl geforscht oder Prak- und ein Heuschrecken-Stridulations-Pia- tikum gemacht wurde: unter anderem nola. Das Resultat, von Werner Kriech- wurden menschliche Augenbewegungen baum dirigiert, war so wundervoll gräss- gemessen und in Töne umgesetzt, die Im- lich, dass es dem Jubilar (für einen selten pulsrate einer bewegungsempfindlichen kurzen Moment) die Sprache verschlagen Zelle in der Lobulaplatte der Fliege wur- hat. de abgeleitet und durch Streifenmuster Obwohl Deszö Varjú bei der Arbeit rhythmisch moduliert, Taubenschwänz- eher in Ruhe gelassen werden wollte, war chen erzeugten Töne, sobald sie im er ein sehr geselliger und humorvoller Schwebflug von einer mit Sensoren aus- Mensch, der gerne Schafkopf spielte und gestatteten Futterquelle saugten, die Be- ein begeisterter Skifahrer war. Im Leben wegungen von schwärmenden Mücken, von Deszö und Heide Varjú, die 2012 der Flug einer Honigbiene und ein auto- noch ihre goldene Hochzeit feiern konn- matisches Zielverfolgungsprogramm pro- ten, spielte ihr grosser Gemüse- und duzierten Töne, wie auch die durch Be- Früchtegarten, ihr Kiebinger Gütle im Tü- wegungsreize von vier Generationen von binger Umland eine wichtige Rolle. Zur

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Erntezeit, oder einfach zum Grillen waren um Neues auszuprobieren. Alles konnte sie über die Jahre immer wieder herzli- in Frage gestellt werden, aber beim Ex- che und großzügige Gastgeber für Stu- perimentieren musste ordentlich gearbei- denten, Mitarbeiter, Kollegen und Besu- tet werden und die Ergebnisse wurden cher. konsequenter Kritik unterzogen. Beide haben auf ihren häufigen Reisen Er hat uns machen lassen und uns hart nach Ungarn Kontakt mit Familie und mit trainiert. Wir erinnern uns daran und sind Freunden aufrechterhalten. Die Verbun- ihm dankbar dafür. Er lebt weiter in der denheit mit Ungarn spiegelt sich auch Art, wie wir denken. wieder in einem Preis, den Deszö Varjú für wissenschaftlich begabte Schüler in (mit Dank an Almut Kelber, Franz Hu- seinem Heimatland gestiftet hat. ber, Fritz-Olaf Lehmann, Gerbera Nalbach, Deszö Varjú hat viele auf den Weg ge- Hans-Ortwin Nalbach, Heide Varjú, Johan- bracht. An seinem aussergewöhnlichen nes Zanker, Karl-Peter Hadeler, Walter Jun- Lehrstuhl hat er einen freien Raum ge- ger, Waltraud Pix, Willi Ribi und Wolf-Rüdi- schaffen für unkonventionelle Ideen und ger Voss).

Jochen Zeil Professor of Ecological Neuroscience The Australian National University Canberra, Australia [email protected]

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Nachruf auf Ernst Zebe 1. 2. 1926 – 31. 10. 2013

Gerd Gäde und ManfredGrieshaber

Mit Professor Dr. Ernst Viktor Chri- stoph Zebe verstarb am 31.10.2013 drei Monate vor seinem 88. Geburtstag einer der wenigen deutschen Zoologen, die noch die “Stoffwechselphysiologie der Tiere” in Forschung und Lehre vertreten konnten. Ernst Zebe wurde als ältestes von drei Kindern des Studienrates Dr. Viktor Zebe und seiner Ehefrau Alfriede, geb. Reinsdorff, am 1. Februar 1926 zu Trebnitz in Schlesien geboren. Die Eltern, mit einem sehr an der Natur interessier- ten Vater, der Schmetterlinge züchtete, ei- ne große Insektensammlung anlegte und mehrere Publikationen über die Brutbio- logie des Schlangenadlers verfasste (1), ermöglichten ihrem Sohn, Kindheitserleb- nisse in Wald und Flur zu sammeln. Diese Impressionen prägten nachhaltig die mei- sten Phasen des Lebens von Ernst Zebe. Foto privates Bildarchiv Der Krieg jedoch zwang ihn zunächst in eine andere Lebenserfahrung. Noch kurz vor dem Abitur wurde er im vember 1946 eine abenteuerliche Flucht Alter von 17 Jahren in das “letzte Aufge- in die „amerikanische Zone“ Deutsch- bot” des Nazi-Militärregimes zum Einsatz lands, wo ihn ein verständnisvoller US-Sol- an die Westfront eingezogen, wo er gegen dat innerhalb von Minuten mit den erfor- Ende des Krieges in kanadische Kriegs- derlichen Papieren in die Freiheit entließ. gefangenschaft geriet. Nachdem er belgi- Sofort belegte Ernst Zebe einen gym- schen Truppen überantwortet worden nasialen Sonderkurs für Kriegsteilnehmer war, musste er länger als ein Jahr als in Biedenkopf an der Lahn, wo er 1947 Kriegsgefangener unter erbärmlichen die Reifeprüfung bestand. Darauf zog er und körperlich härtesten Bedingungen in zu seinen Eltern, die nach ihrer Flucht aus einem Kohlebergwerk bei Lüttich unter der schlesischen Heimat in Mainz ansäs- Tage arbeiten. Sein ausgeprägter Behar- sig geworden waren. Im Wintersemester rungswille ermöglichte ihm aber im No- 1947/48 immatrikulierte er sich an der Jo-

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hannes-Gutenberg-Universität zu Mainz, sels gegenüber dem Fettstoffwechsel wo er auch sein gesamtes, achtsemestri- konnte an Hand der präzise gemessenen, ges Studium verbrachte. Er belegte die niedrigen RQ-Werte widerlegt werden Fächer Zoologie, Botanik, Chemie und (3,4). Einige der speziell bei Insekten ab- Physik. Zunächst überwogen noch die bo- laufenden metabolischen Reaktionen, wie tanischen Interessen des jungen Studen- z. B. die effiziente Umwandlung von Koh- ten; nicht überraschend, publizierte er lenhydraten in Fette, bzw. die Nutzung bereits 1949 seine erste wissenschaftliche von Aminosäuren zur aeroben Energiege- Arbeit über die Wurzeltypen von Sand- winnung, konnten in der Dissertation nicht pflanzen (2). Gegen Ende seines Studi- beantwortet werden. Sie boten sich aber ums widmete er sich der Biochemie, und für Fragestellungen zukünftiger wissen- seit dieser Zeit beschäftigte er sich mit schaftlicher Arbeit an. den physiologischen und biochemischen Im Anschluss an seine Promotion er- Mechanismen des Stoffwechsels wirbello- hielt Ernst Zebe 1954 ein DFG-For- ser Tiere, ohne dabei den gesamten Or- schungsstipendium, das ihn für ein Jahr ganismus aus den Augen zu verlieren. Auf an das Physiologisch-Chemische Institut Anregung von Professor Wolfgang v. Bud- der Universität Marburg führte. Dort hatte denbrock begann Ernst Zebe im achten sich bereits eine illustre, kongeniale Semester seine eigene wissenschaftliche Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern Laufbahn mit einer wegweisenden, expe- unter der Leitung von Professor Theodor rimentellen Arbeit über die eigentüm- Bücher versammelt. Dank der hervorra- lichen Stoffwechselverhältnisse der Ener- genden Ausstattung des Instituts, sowie giegewinnung bei Schmetterlingen einer großzügigen Vergabe von Stipen- während des Fluges. In seiner Doktorar- dien seitens der DFG und weiteren Geld- beit bestimmte er den Sauerstoffver- gebern – in einer Publikation dieser brauch und die CO2-Abgabe ruhender Gruppe wurde nicht weniger als zehn und fliegender Schmetterlinge. Aus den unterstützenden Einrichtungen gedankt– beiden Messgrößen berechnete er den konnte der DFG-Stipendiat nahtlos an sei- respiratorischen Quotienten und wies da- nen noch aus der Dissertation offen ste- mit für mehrere Schmetterlingsarten die henden Fragestellungen weiterarbeiten. fast ausschließliche Ausnutzung von Fet- Dabei erwies sich die von ihm als Ver- ten für die Energiegewinnung während suchstier ausgewählte Wanderheuschrek- des Fluges nach. Am 6. November 1953 ke, Locusta migratoria, von der er eine wurde Ernst Zebe mit der Dissertation kleine Population in einem Käfig auf ei- „Untersuchungen über den Stoffwechsel nem Motorroller von Mainz nach Marburg von Lepidopteren“ an der Naturwissen- mitgenommen hatte, als hervorragend schaftlichen Fakultät der Johannes-Guten- geeignet. berg Universität zu Mainz mit „summa Mit der Analyse der Verteilungsmuster cum laude“ promoviert. von Enzymen in verschiedenen Organen Die vermutete höhere Umsatzge- des Stoffwechsels der Wanderheuschrek- schwindigkeit des Kohlenhydratstoffwech- ke begann die experimentelle Arbeit, die

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auch durch elektronenmikroskopische von 1955 bis 1957 am Department of Untersuchungen ergänzt wurde (5,6). Die Zoology der University of Wisconsin in analytische Auswertung dieser Enzym- Madison, Wisconsin bei Professor W. H. verteilungsmuster und der entsprechen- McShan fortsetzen. Vergleichende Unter- den Metabolitspiegel kann bei den ver- suchungen über die extra- und die intra- schiedensten Tierarten die Umsatzge- mitochondrialen Glycerin-1-phosphat- schwindigkeiten bestimmter Reaktionen Dehydrogenasen und Laktatdehydroge- widerspiegeln, die wiederum mit Hilfe nasen bestätigten den in Marburg erho- von Fließgleichgewichten zeigen können, benen Befund: in allen untersuchten Arten wie sich der Strom der Metabolite in den waren die Aktivitäten der Glycerin-1- Verzweigungspunkten der Stoffwechsel- phosphat-Dehydrogenasen hoch, wäh- wege teilt. „Diese Phänomene können rend die Laktatdehydrogenase nur äu- durchaus den morphologischen Mustern ßerst geringe Aktivitäten zeigte. Die zur Seite gestellt werden“ erkannten be- Autoren interpretierten den Glycerin-1-P- reits damals die Autoren. Darüber hinaus Cyclus als ein metabolisches System, das folgerten sie, dass der Stoffwechsel einer mit beginnendem Flug die sofortige und bestimmten Tierart erst deren Anpassung direkte Verwendung reduzierender Meta- an bestimmte, manchmal extreme Um- bolite zur Energiegewinnung katalysiert, weltbedingungen erlaubt. Auch können ohne gleichzeitig hohe Konzentrationen Arten, die an extreme Standorte ange- von Zwischen- oder Endprodukten zu ak- passt sind, bestimmte biochemische und kumulieren. Damit beschrieb Ernst Zebe physiologische Mechanismen des Stoff- die besondere Bedeutung eines Stoff- wechsels deutlicher zeigen, als die be- wechselweges, der bei einer Tierart bzw. kannten Labortiere. Ernst Zebe verfolgte einem bestimmten Organ aufgrund der in Marburg als Post-Doc weiter seine frü- Wichtigkeit für seine Lebensweise in ei- hen Mainzer Befunde, die erstmalig zeig- nem extremen Lebensraum auffällig aus- ten, dass Homogenate aus den Flug- geprägt ist (9). Mit dieserPublikation be- muskeln der Wanderheuschrecke α-Gly- endete er seinen USA-Aufenthalt und ein cerophosphat mit besonders hoher Ge- erneut bewilligtes DFG-Stipendium er- schwindigkeit veratmen (7). Vertiefende laubte es ihm, seine wissenschaftliche Ar- Untersuchungen über den funktionellen beit am Physiologisch-Chemischen Insti- Aspekt der löslichen und partikulären α- tut der Marburger Universität wieder Glycerophosphat Dehydrogenase führten aufzunehmen. schließlich zur Funktionsanalyse des α- Dort weitete Ernst Zebe gemeinsam Glycerophosphat-Cyclus (Glycerin-1-P- mit seinen Arbeitskollegen die Untersu- Cyclus), der beschreibt, wie Wasserstoff chungen über den Energiestoffwechsel aus dem extra-mitochondrialen Raum in von Insekten aus, wobei die Spezialisie- die Atmungskette eingeschleust wird (8). rung verschiedener Muskeltypen im Mit einem Forschungsstipendium der Vordergrund des wissenschaftlichen National Academy of Science (Washing- Interesses stand. Besonders am Beispiel ton, D.C.) konnte Ernst Zebe seine Arbeit der Wanderheuschrecke lassen sich die

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extremen funktionellen und strukturellen Zebe die Stelle eines Wissenschaftlichen Besonderheiten deutlich machen. So Assistenten an, die dieser auch annahm, konnten deren Flugmuskeln als hochgra- allerdings erst nach reiflicher Überle- dig aerob und ausdauernd arbeitendes gung. Sollte er nicht besser den Angebo- Gewebe, die Sprungmuskeln dagegen ten von Professor Jochen Autrum aus dem als vorwiegend anaerob, kurzfristig je- Zoologischen Institut der Ludwig-Maxi- doch zu hoher Leistung fähiges Organ milian-Universität, München, bzw. jenem gegenüber gestellt werden. Am Beispiel von Professor Franz Büchner aus Freiburg der Strukturen der Sprung- und Flugmu- folgen? Ernst Zebe war sich aber sicher, skulatur, der aeroben und anaeroben dass für seine zukünftige Arbeitsrichtung metabolischen Ausstattung der Zellen so- die Entwicklung spezieller chemischer wie dem Enzymverteilungsmuster der und physikalischer Methoden zur Lösung beiden Muskeltypen wurden diese Aus- biochemischer Fragestellungen auf zellu- sagen experimentell belegt und pro- lärer Ebene ebenso wichtig war, wie die grammatisch festgestellt, „dass die che- Verfügbarkeit eines Elektronenmikro- mische Struktur ebenso charakteristisch skops zur Untersuchung des Feinbaus für ein Gewebe ist wie seine morphologi- von biologischen Strukturen. Diese Ar- sche“ (10). Aus den Marburger Arbeiten beitsrichtung prägte auch die Untersu- wurde die Theorie abgeleitet, dass die chungen von Franz Duspiva (12). Dieser Kenntnis von Extrem- und Spezialentwik- Entwurf seines zukünftigen Arbeitsge- klungen auch ein wertvolles Hilfsmittel biets und eine gute apparative Ausstat- liefern kann, um Erscheinungen zu studie- tung des Zoologischen Instituts bewogen ren, die bei Labortieren gewöhnlich nicht Ernst Zebe, sowohl das Münchner als so zu Tage treten oder aus anderen Grün- auch das Freiburger Angebot höflich ab- den schwer zugänglich sind. „Das beste zulehnen. Ernst Zebe arbeitete sich, wenn Beispiel dafür bietet der Glycerin-1-phos- auch manchmal mit sichtbarer Ungeduld, phat-Zyklus, der zwar auch in den Wir- in die Methodik der damals in Mode ge- beltiermuskeln vorkommt, dessen Bedeu- kommenen Elektronenmikroskopie ein. Er tung aber erst durch seine besondere kombinierte sie mit histochemischen Me- Ausbildung in den Flugmuskeln der In- thoden, mit deren Hilfe bestimmte enzy- sekten erkannt wurde“ (11). Diese beiden matische Reaktionen elektronenoptisch in Theorien sollten auch in Ernst Zebes spä- der Feinstruktur der Zelle zu lokalisieren teren Analysen des Stoffwechsels von wir- und damit Enzyme auf Grund ihrer Akti- bellosen Tieren im Mittelpunkt seiner wis- vität in einem bestimmten, definierten senschaftlichen Arbeit stehen. Zellkompartiment nachzuweisen sind. Zunächst jedoch zog es Ernst Zebe Entsprechend der in seiner Post-Doc-Zeit von der Marburger Universität nach Hei- gemachten Erfahrung nutzte er diese delberg an die ehrwürdige, 1386 gegrün- neue Technik zur Lokalisation ATP-spal- dete Ruperto Carola. Dort war 1959 Pro- tender Reaktionen. Gemeinsam mit dem fessor Franz Duspiva an das Zoologische Botaniker und Elektronenmikroskopiker Institut berufen worden. Er bot 1960 Ernst Heinz Falk publizierte Ernst Zebe in den

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kommenden Jahren die Feinheiten der Jod aus einer Hornalge (Gorgonaria nicht einfachen Methode und beschrieb spec.) isoliert und Laktat in der Sprung- ihre Brauchbarkeit für die genaue Lokali- muskulatur von ruhenden bzw. bis zur Er- sation ATP-spaltender Reaktionen in der schöpfung gesprungenen Wanderheu- Feinstruktur einzelner oder isolierter Fa- schrecken bestimmt? Die anschließende sern der indirekten Flugmuskulatur der ausführliche Besprechung der Protokolle Schmeißfliege, Phormia regina, und dem war gefürchtet, da letztere meist gnaden- Psoas der Maus. Die für die Muskelkon- los zerrissen wurden. Selbst ein Plagiat, traktion notwendige ATPase-Aktivität das aus einer Publikation des Lehrenden konnte durch Fällung des enzymatisch stammte, hielt seiner strengen Zensur freigesetzten anorganischen Phosphats nicht stand, da der Schüler manches bes- mittels Pb++ im A-Band und in der Z- ser machen sollte als der Meister. Seinen Scheibe des Muskels sowohl in den Mito- Doktoranden und Post-Docs, die sich mit chondrien als auch in den Membranen der Muskulatur der Miesmuschel, der des Longitudinal- und Transversalsystems des Regenwurms oder der Schmeißflie- des sarcoplasmatischen Reticulums nach- ge beschäftigten, war Ernst Zebe dage- gewiesen werden (13,14,15). Mit diesem gen ein geduldiger und immer ansprech- Themenkomplex, den Ernst Zebe den barer Lehrer. Am zugänglichsten war er Mitgliedern der DZG 1966 vortrug (16) auf Exkursionen, die er zusammen mit und der Teil seiner Habilitationsschrift den Professoren Duspiva und Schremmer „Zur Lokalisation Adenosintriphosphat- leitete. Die Exkursionen gingen nach Split spaltender Reaktionen in der Ultrastruktur und Rovinj sowie in den Schwarzwald und von quergestreiften Muskeln“ war, habili- die Vogesen; sie hatten maritimen, limni- tierte er sich im Sommersemester 1963 schen oder montanen Charakter. Unver- an der Mathematisch-Naturwissenschaft- gessen sind besonders jene Tage, an de- lichen Fakultät der Universität Heidelberg. nen man ihn in die Alpen begleiten durfte. Die Verleihung der Venia legendi an Die Publikationen von Ernst Zebe er- Ernst Zebe war natürlich mit einer Lehr- regten die Aufmerksamkeit nicht nur der belastung für den Dozenten verknüpft, die Zoologen in Deutschland. Auch seine Vor- deutlich mehr Stunden umfasste, als jene träge auf internationalen Kongressen zo- zu seiner Assistentenzeit. Die Vorlesung gen Zuhörer an und die Einladungen zu „Einführung in die Neurobiologie I und II“ Vorträgen außerhalb des Hauses häuften war ein völliges Novum an diesem Insti- sich. So konnte es nicht ausbleiben, dass tut, an dem ansonsten nur vegetative im WS 1968 an Ernst Zebe ein ehrenvol- Physiologie gelehrt wurde. Das physiolo- ler Ruf auf das Ordinariat für Tierphysio- gisch-chemische Praktikum sprengte fast logie an der Westfälischen-Wilhelms-Uni- jeden zeitlich begrenzten Stundenrah- versität in Münster als Nachfolger von men, war aber in seiner Gegenüberstel- Professor Bernhard Rensch erging. lung von neuen und althergebrachten Seine organisatorische Tätigkeit be- Versuchen faszinierend. Welcher Studie- wies Ernst Zebe zunächst am Aufbau des rende der Zoologie hat z. B. damals schon neuen Instituts am Hindenburgplatz. Das

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Gebäude war viele Jahre für die organi- den Vorsitz der Kommission für Lehre und sche Chemie zugeschnitten gewesen, in- studentische Angelegenheiten inne hatte. zwischen aber heillos veraltet und her- Dies war nicht nach dem Geschmack von untergekommen; für eine stoffwechsel- Ernst Zebe. Obwohl die Arbeit in den physiologische Ausrichtung bedurfte es Gremien nicht sein Metier war (Original- einiger Umbauten, die er mitkonzipierte zitat: „dieses Parkett ist mir zu glatt“), und deren Ausführung er auch teilweise verschloss er sich den Aufgaben der überwachte. Es mussten mehrere moder- Selbstverwaltung nicht, übernahm turnus- ne Geräte für den Lehrstuhl angeschafft mäßig auch das Amt des Dekans und füll- und Praktika aufgebaut werden, deren In- te diese Funktion präzise und geradlinig halt für die Münsteraner Studenten völlig aus. neu war. Trotz seines etwas trockenen, Ernst Zebe hat eine große Anzahl an dozierenden Vorlesungsstils, erfreuten Staatsexams-, Diplom- und Doktorarbei- sich seine Vorlesungen zur Stoffwechsel-, ten betreut; jedoch keiner seiner „Schü- Muskel- und Sinnesphysiologie großer ler” hat in Deutschland eine C4-Stelle be- Beliebtheit unter den Studierenden. Oft setzt. Es lag wohl daran, dass zwischen gehört war seine Vorlesung „Die Biologie Ende der 70er Jahre und 1992 fast alle einheimischer Tiere“, in der vor allem für tierphysiologisch ausgeschriebenen angehende Lehrer ein umfassendes Wis- Lehrstühle an Neuro- oder Sinnesphysio- sen über Verhaltensweisen, Physiologie logen vergeben wurden, nicht zuletzt und Biochemie, nicht von dem Frosch und deshalb, weil deren mächtige Altherren- der Schnecke sondern von Rana tempo- riege über größere Eloquenz verfügte raria und Helix pomatia, gelehrt wurde. In oder mehr im Vordergrund der DZG den Praktika allerdings wurde die Spreu stand und ihre Kandidaten daher besser vom Weizen getrennt. Ernst Zebe und sei- „verkaufen” konnte. Ernst Zebe hat natür- ne Assistenten stellten hohe Anforderun- lich mit der geleisteten Forschung Ein- gen an das in Vorlesungen und Prakti- gang in die Lehrbücher gefunden und kumsbesprechungen erworbene Wissen auch mit seiner Arbeitsgruppe Einfluss sowie an das experimentelle Geschick auf die deutsche Zoologie genommen. Er der Studierenden. war als pragmatischer, unbestechlicher Der Anfang der Münsteraner Zeit, Gutachter gefragt und hat auf diesem We- 1968, zeichnete sich durch einige Be- ge die Geschicke der Zoologie in sonderheiten am Fachbereich Biologie Deutschland aus dem Hintergrund mit ge- der Westfälischen-Wilhelms-Universität lenkt. Aber er blieb dabei immer beschei- aus: die Standesgruppe der Professoren den, stellte seine eigene Person in den war am wenigsten homogen, da einige Dienst der Sache und niemals darüber. der „Primadonnen” permanent miteinan- Anfang 1970 kristallisierten sich die der in Fehde lagen; die Assistenten schlu- Hauptforschungsgebiete der Arbeits- gen sich häufig auf die Seite der stark en- gruppe Zebe heraus: „Stoffwechsel unter gagierten Studenten, so dass z.B. ein Extrembedingungen, besonders bei Sau- Student (und eben nicht ein C4 Professor) erstoffmangel“ sowie „Biochemische und

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physiologische Mechanismen ökologi- funde am Wattwurm als Modelltier für scher Anpassung“. Während Doktoran- Stoffwechsel in Sedimenten zusammen den verschiedene Muschelarten und Süß- (18). wasseranneliden untersuchten, entlockte Ernst Zebe und seine Mitarbeiter wur- Ernst Zebe in seinem ersten Forschungs- den international mit ihren Arbeiten be- semester in Münster dem Wattwurm Are- kannt, die sich mit Tieren beschäftigten, nicola marina seine stoffwechselphysiolo- deren anaerobes Endprodukt nicht Laktat gischen Geheimnisse und legte damit die sondern Kondensationsprodukte einer Grundlage für sein zukünftiges For- Aminosäure (Arginin, Alanin, Glycin oder schungsgebiet. Kurz zuvor war dem Taurin) mit der Ketosäure Pyruvat sind, Fachbereich Biologie von der Universität nämlich die sog. Opine wie Oktopin, Ala- Münster ein Haus in Carolinensiel an der nopin, Strombin oder Taurin (19). Andere Nordseeküste direkt hinter dem Winter- Tiere überleben ohne Sauerstoff wie He- deich als Exkursionsstätte übereignet fen: sie produzieren Äthanol, wie z. B. ei- worden. Vor dieser Station konnte man ne Mückenlarve und auch einige Süßwas- Ernst Zebe mit dem Spaten nach dem serfische. Die lesenswerten Ergebnisse Wattwurm grabend entdecken. Der tiefe über den anaeroben Stoffwechsel extrem Wattboden sowie die unbändige Kraft des angepasster Tiere begründeten 1974 si- Grabenden haben so manchen Spaten- cher maßgeblich seine Berufung auf den stiel zerbrechen lassen. Nach erfolgrei- Lehrstuhl für Tierphysiologie an der Uni- cher Materialbeschaffung, manchmal mit- versität Heidelberg in der Nachfolge von ten im Winter bei klirrendem Frost, zog er Professor Duspiva. Nach kurzer Verhand- sich im Münsteraner Institut in sein „Chef- lung lehnte er jedoch diesen ehrenvollen labor“ zurück und wurde für Wochen Ruf ab. nicht mehr gesehen.. Das Ergebnis konn- Im folgenden Freisemester arbeitete te sich nach einjähriger Arbeit sehen las- Ernst Zebe an der meeresbiologischen sen: Hauptendprodukt des anaeroben Station Friday Harbour. Dort verglich er Glucose-Abbaus beim Wattwurm ist die den anaeroben Stoffwechsel zweier im flüchtige Fettsäure Propionat, die sowohl Schlick lebender Krustazeen, Upogebia im Gewebe angehäuft als auch ins umge- pugettensis und Calianassa californiensis. bende Wasser abgeschieden wird (17). Wie bei unzähligen anderen Krebsen pro- Dies war ein völlig neuer Befund bei frei- duzieren auch diese beiden Arten auf lebenden Anneliden und erinnerte an die dem allbekannten Stoffwechselweg der Situation bei bestimmten Darmparasiten, Glykolyse als einziges Endprodukt des deren anaerober Stoffwechsel bislang als Abbaus von Glykogen unter Sauerstoff- einmalige Sonderentwicklung galt. Der entzug Laktat. Das war nicht weiter aufre- Wattwurm und weitere marine Invertebra- gend. Interessanterweise konnte er aber ten sollten noch für Jahrzehnte beliebte nachweisen, dass die Produktionsrate von Studienobjekte der Gruppe bleiben. In Laktat einher ging mit Biotop und Lebens- einer seiner letzten Arbeiten fasst Ernst weise der Arten (20). Dieser ökophysiolo- Zebe in einem Übersichtsartikel die Be- gischen Ausrichtung der Forschung sollte

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in Zukunft noch größere Bedeutung zuge- le immer nach botanischen oder/und messen werden. zoologischen Gesichtspunkten aussuchte. Ein weiteres Beispiel seiner „For- Er musste aktiv durch die Natur wandern schung im Alleingang“ mit überraschen- und besondere Arten sehen und begut- dem Ergebnis oder neuer Ausrichtung achten. Dies konnte er besonders einge- der Forschung sei im Folgenden be- hend in der Umgebung seines Zweit- schrieben. Gleich nach seiner Emeritie- wohnsitzes in Seibersbach im Hunsrück. rung flog Ernst Zebe nach Südafrika, wo- Hier bearbeitete er durch Sammeln und hin es einen seiner ehemaligen Doktoran- Photographieren die Lepidopterenfauna den als Lehrstuhlinhaber für Zoologie an um Seibersbach. Dem Besucher zeigte er die Universität Kapstadt verschlagen hat- stolz sein Flugfallensystem und die impo- te. Für ein halbes Jahr untersuchte Ernst sante Photoausrüstung sowie die hochka- Zebe dort den Flugstoffwechsel des rätigen Photos. Bis zu seinem Tod zog es Fruchtkäfers Pachnoda sinuata: Im Gegen- ihn immer wieder in dieses Refugium in satz zu seinen Untersuchungen zu Beginn Seibersbach. Dort fühlte er sich wohl, war seiner wissenschaftlichen Laufbahn konn- unterwegs in Wald und Flur und ging te er nachweisen, dass weder Kohlenhy- weiterhin seinem Beruf als Hobby nach. drate noch Lipide von den kontrahieren- Ernst Zebe ist nach kurzer Krankheit in den Flugmuskeln als energielieferndes Münster verstorben. Er wird seinen frühe- Substrat genutzt werden, sondern haupt- ren Mitarbeitern und den physiologisch sächlich die Oxidation der Aminosäure arbeitenden Biologen und Chemikern in Prolin das nötige ATP dazu liefert (21). Deutschland und in vielen Ländern der Damit rundete er nach vielen Jahren sei- Welt als wohl einer der letzten umfassen- ne ersten Analysen zum Energiestoffech- den Stoffwechselphysiologen in Deutsch- sel von Insekten ab. land im Gedächtnis bleiben. Wir trauern Er genoss die Zeit am Kap sehr. Er um Ernst Zebe mit seiner Frau Hannelore entdeckte für sich die üppige Pflanzen- und seinen Kindern Christiane und Wolf- welt der Kapregion. Botanik hat ihn seit gang. seiner Jugend immer fasziniert und hier erlebte er eine besondere Fülle von Ar- (Aus Platzgründen kann das Literatur- ten auf kleinster Fläche. Er unternahm verzeichnis nur in der digitalen Version der lange Wanderungen am Tafelberg und Mitteilungen eingesehen werden: verfolgte genauestens die Biodiversität http://www.dzg-ev.de/de/publikationen/ dieses Pflanzenreiches.. mitteilungen_zoologie.php) Seine Naturverbundenheit ist auch da- durch charakterisiert, dass er Urlaubszie-

Prof. Dr. Gerd Gäde Prof. Dr. Manfred K. Grieshaber Universität Kapstadt Heinrich-Heine Universität Düsseldorf [email protected] [email protected]

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Nachruf auf Klaus Fischer 7. 3. 1936 – 15. 12. 2013

Hans J. Rolf und Rüdiger Hardeland

Am 15. Dezember 2013 verstarb Profes- sor Dr. Klaus Fischer unerwartet im Alter von 77 Jahren. Sein plötzlicher Tod riss ihn aus seinen Zukunftsplänen, zu denen ne- ben geplanten Exkursionen nach Skandina- vien auch die Fertigstellung eines umfang- reich angelegten Buches über Biologie, Geweihzyklus und weitere Jahresrhythmen beim Damwild gehörte. Mit ihm verlieren wir nicht nur einen hervorragenden Tier- physiologen mit breiten wissenschaftlichen Interessen, sondern auch einen Menschen, dem die Liebe zur Natur und ihren Ge- schöpfen von hoher Bedeutung war. Er ver- stand sich selbst als Bewunderer von Kon- rad Lorenz und nicht zuletzt deshalb war ihm der artgerechte Umgang mit den le- bendigen Wesen immer besonders wich- Foto: privates Bildarchiv Norbert Fischer tig. Nicht allein aufgrund der konzeptionel- len Vorteile, sondern auch aus einem inneren Antrieb heraus arbeitete er in ei- hämatologischen Parameter unter natür- ner wichtigen Schaffensphase mit handauf- lichen sowie künstlich veränderten photo- gezogenen Tieren, weil deren Vertrautheit periodischen Bedingungen. ihm bis dahin ungeahnte Möglichkeiten re- Mit den Fragestellungen der Chronobio- gelmäßiger und langfristiger Untersuchun- logie kam Klaus Fischer bereits im Rahmen gen eröffnete. seiner Dissertation in Freiburg mit Georg Der Schwerpunkt seiner Forschungsar- Birukow in Berührung, dem er im An- beiten lag auf dem Gebiet der Saisonalität, schluss an dessen Berufung nach Göttin- unter Einbeziehung circannualer und circa- gen dorthin folgte. Hier wurde er dann dianer Rhythmen und deren Regulation 1961 mit einer Arbeit über die Sonnen- durch die Photoperiode. Um die saisonalen kompassorientierung und Laufaktivität von Änderungen am und im Organismus zu er- Smaragdeidechsen promoviert. In seinen fassen, untersuchte er mit seiner Arbeits- frühen Experimenten dressierte er die Tie- gruppe die verschiedensten anatomischen, re auf Kompassrichtungen und untersuchte histologischen, endokrinologischen und die Beeinflussung der Orientierung durch

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Phasenverschiebungen der circadianen in besonderem Maße die Lichtperzeption Uhr. durch zerebrale Photorezeptoren in den Nach einigen Monaten als DFG-Stipen- Fokus rückte. diat ging er von 1962 bis 1963 als Postdok- Darauf aufbauend wählte er als näch- torand an die Duke University, Durham, stes Versuchsobjekt ein Tier mit bekannter- North Carolina, wo er über die Sonnen- maßen besonders ausgeprägter Jahres- kompassorientierung von Meeresschild- rhythmik, den Siebenschläfer. Seine kröten arbeitete. interessantesten Arbeiten hierzu basierten Nach seiner Rückkehr aus den USA er- auf Experimenten, bei denen die Tiere bei hielt er zum Oktober 1963 eine Assisten- der Wahl ihres Aufenthaltsortes zwischen tenstelle am damaligen I. Zoologischen In- Licht und Dunkelheit selbst entscheiden stitut in Göttingen, habilitierte sich 1968 konnten. Mit diesen Versuchen war es ihm und wurde noch im selben Jahr zum Ober- möglich, Erkenntnisse über freilaufende assistenten ernannt. Die Ernennung zum Rhythmen zu gewinnen, die sowohl auf cir- apl. Professor erfolgte im September 1977 cadianer als auch circannualer Basis unter und im Dezember 1978 wurde ihm eine bestimmten Bedingungen auftreten. C3-Professur übertragen. Im Rahmen die- Einer der wichtigsten Schritte in der ser Professur baute er eine eigenständige wissenschaftlichen Laufbahn von Klaus Fi- Arbeitsgruppe für vergleichende Hormon- scher erfolgte in den 1980er Jahren, als er physiologie auf, die er bis zu seinem Ein- sich den Europäischen Damhirsch (Cervus tritt in den Ruhestand im Jahr 2001 leitete. dama) als Versuchstier seiner Studien zu In den ersten Jahren am I. Zoologischen Saisonalität und circannualen Rhythmen Institut in Göttingen führte Klaus Fischer wählte. Im Institut waren seine damaligen seine Arbeiten zur Jahresrhythmik zu- Kollegen zunächst überrascht, dass er sich nächst an Ruineneidechsen fort. Im Vorder- ein derart großes, raumbedürftiges und grund standen dabei die histologischen scheinbar „unhandliches“ Tier für seine und physiologischen Änderungen des Re- weiteren Studien ausgesucht hatte, das sich produktionssystems und deren spezifische zudem auch nur vergleichsweise langsam Kontrolle durch Photoperiode und Tempe- reproduzieren konnte. Seine Überlegungen ratur. Gegenstand seiner experimentellen hierzu waren allerdings sehr wohl begrün- Arbeit war in dieser Zeit nicht zuletzt auch det. Als passionierter Jäger konnte er ge- die Unterscheidung zwischen exogen ge- wissermaßen eines seiner „Hobbies“ in steuerten Faktoren und endogen-circannu- den Beruf integrieren, indem er seine Er- alen Komponenten in ihrem zeitlichen Auf- fahrung mit den heimischen Cerviden und treten und in der Dauer von Progressions- seine intensiven, freundschaftlichen Kon- und Regressionsphasen. Diese Untersu- takte zur Niedersächsischen Jägerschaft chungen zum Photoperiodismus führten, und zum Institut für Wildbiologie und Jagd- dem damaligen Fortschritt der Erkenntnis kunde der Göttinger Universität gleicher- folgend, zu einem besonderen Interesse an maßen in seine Forschungen einbeziehen extraretinalen Einflüssen, was für ihn nicht und auch noch ausbauen konnte. nur das Pinealorgan betraf, sondern auch

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Die Göttinger Wildbiologen waren es größte Herausforderung war zu dieser Zeit auch, die ihm als Erste ein Gehege für sei- für alle Diplomanden und Doktoranden die ne Damhirsche zur Verfügung stellten, wo ständige Suche nach Möglichkeiten für ei- er die Möglichkeit hatte, individuelle Lang- ne weitere Unterstützung der Arbeitsgrup- zeitstudien an den Tieren durchzuführen. pe, sei es durch Kooperationen mit an- Nicht zuletzt handaufgezogene Tiere er- deren Forschungsgruppen oder durch laubten es ihm, eine bemerkenswert große Sachspenden von verschiedenen Firmen. Anzahl an Parametern über Jahre hinweg Die Forschungsansätze, die Klaus an bestimmten Individuen zu studieren. Fischer mit seiner Arbeitsgruppe auf diese Der freundschaftliche und fast schon famili- Weise verwirklichen konnte, führten zu äre Umgang, den Klaus Fischer in seiner geradezu einzigartigen Studien und Er- Arbeitsgruppe mit seinen Diplomanden kenntnissen über die Fähigkeiten von Wir- und Doktoranden pflegte, war die eigentli- beltieren, sich veränderten photoperiodi- che Basis für den arbeitsintensiven und schen Bedingungen anzupassen. In jahre- letztlich äußerst erfolgreichen Aufbau einer langen Experimenten mit verkürzten größeren Herde von Damhirschen für For- photoperiodischen Jahreszyklen, bei de- schungszwecke, die zeitweilig eine Anzahl nen er zum Beispiel eine Gruppe von Hir- von 30-40 Tieren erreichte. Mit Unterstüt- schen in einem Versuchsstall unter künst- zung der landwirtschaftlichen Fakultät der licher Beleuchtung gehalten hat, wurden Universität Göttingen und der tatkräftigen die zeitliche Komprimierbarkeit von Jah- Hilfe seiner Arbeitsgruppe konnte er in resrhythmen und deren Grenzen offenkun- Holtensen bei Göttingen einen Komplex dig. von größeren und kleineren Gehegen er- Bedauerlicherweise wurden diese Da- richten, in dem die Hirsche einerseits für ten unter den Chronobiologen nicht in ge- die Untersuchungen leicht zugänglich wa- bührender Breite wahrgenommen, was ren, andererseits aber auch ausreichend höchstwahrscheinlich dem für diese For- Freigelände zur Verfügung hatten. schungsrichtung eher ungewöhnlichen Enttäuscht von der Förderpraxis der Versuchstier geschuldet werden muss. Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Unter den Cerviden-Forschern genoss ihn zwar anfangs unterstützt, später aber Klaus Fischer allerdings höchste Anerken- beim Umstieg auf Arbeiten mit Cerviden nung für seine Arbeiten, was unter ande- eine weitere Förderung versagt hatte, fi- rem auch international zu einer engen nanzierte er seine Forschung aus anderen Kooperation seiner Arbeitsgruppe mit Quellen. Er war dankbar, dass er die not- weltbekannten Forschern aus Kanada, wendige Unterstützung für seine Ideen Neuseeland, Polen und Tschechien geführt über lange Jahre aus den Kreisen der Jä- hat. Auch national wirkt das hohe Ansehen gerschaft erhielt und so das Fortbestehen von Klaus Fischer bei Jägern und Jagdwis- seiner Arbeitsgruppe gesichert war. Die senschaftlern heute noch nach, da er sich so eingeworbenen Mittel wurden überwie- besonders intensiv mit der Jahresrhythmik gend für den Unterhalt und die medizini- männlicher Damhirsche und dabei speziell sche Versorgung der Tiere verwendet. Die mit dem Geweihzyklus beschäftigt hat.

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In diesem Zusammenhang hatte er eine Ostdeutschland mit Fernglas und Spektiv besondere Freude daran, dass seine Ideen „auf Jagd“ zu gehen. Die Ornithologie und und Überlegungen zur jährlichen Regene- ornithologische Exkursionen waren in Er- ration des Cerviden-Geweihs zur Grundla- gänzung zur Forschung und zur Jagd eine ge der Forschungen des Mitverfassers die- weitere große Leidenschaft von Klaus Fi- ses Nachrufs, seines Schülers und Freun- scher. Die ornithologischen Exkursionen, des Hans J. Rolf, geworden sind, der sich die er während seiner beruflichen Tätig- aufbauend auf den Erkenntnissen der Ar- keit am I. Zoologischen Institut in Göttingen beitsgruppe Fischer seit Jahren im medizi- gemeinsam mit seinem Freund und Kolle- nischen Bereich mit Knochenstammzellen gen Hans-Jürgen Lang in schöner Regel- beschäftigt und mit dem er bis zu seinem mäßigkeit organisierte, waren unter seinen Tod einen intensiven Austausch von Ideen Studenten außerordentlich beliebt. Welche pflegte. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Wertschätzung diese Veranstaltungen be- um Hans Rolf, die als Erste nachweisen saßen, lässt sich daran ermessen, dass die konnte, dass die alljährliche Geweihrege- Exkursionen fast immer ausgebucht waren, neration auf der Basis von mesenchymalen obwohl sie in der Regel zu einer für Stu- Stammzellen funktioniert, haben Klaus Fi- denten durchaus unüblichen und eher un- scher gleichermaßen begeistert wie faszi- beliebten Uhrzeit, nämlich zwischen 3 Uhr niert. und 4 Uhr morgens, begannen. Abschließend sollte ein für den Privat- Jeder, der ihn kannte, wird sich auf sei- mann Fischer sehr trauriges Datum nicht ne Weise an Klaus Fischer erinnern und unerwähnt bleiben: Nach einem auf tragi- ganz bestimmt seine eigenen, spezifischen sche Weise erlittenen Schlaganfall starb Erlebnisse mit diesem angenehmen und die „Seele“ seiner Arbeitsgruppe, nämlich liebenswerten Menschen gehabt haben. seine zweite Ehefrau Ulrike, nach einem Als Wissenschaftler wird er uns jedenfalls längeren Koma am 12. November 1999. als kompetenter Ansprechpartner und Danach zog er sich in vielen Dingen etwas Ideengeber sehr fehlen. Als Lehrer, Förde- zurück und besann sich auch auf das, was rer und Freund wird er darüber hinaus ei- ihm außer seiner wissenschaftlichen Arbeit ne nicht zu füllende Lücke hinterlassen. am meisten bedeutet hatte. Dazu gehörten Klaus Fischer wird uns immer als ein neben einem intensiveren Kontakt zu sei- freundlicher, liebenswürdiger und anre- nen Söhnen und deren Familie vor allem gender Lehrer und Kollege in Erinnerung ausgedehnte Jagdausflüge und Exkursio- bleiben. Die Menschen, die ihn kannten, nen. Er nutzte fortan immer die Gelegen- ihm wissenschaftlich und freundschaftlich heit, zu Zeiten des Vogelzuges in Nord-und verbunden waren, vermissen ihn sehr!

Dr. rer. nat. Hans Rolf Prof. Dr. Rüdiger Hardeland Universitätsmedizin Göttingen (UMG) Institut für Zoologie und Anthropologie Arbeitsgruppe Experimentelle Osteologie Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen Berliner Str. 28, 37073 Göttingen [email protected]

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Nachruf auf Gerd Weidemann 14. 8. 1934 – 21. 12. 2013

Hartmut Koehler

Am 21. Dezember 2013 verstarb Prof. Dr. Gerhard Weidemann. Mit ihm verlieren wir einen Ökologen, der mit seinen Ideen und Visionen die Ökologie an der Univer- sität Bremen und weit darüber hinaus we- sentlich geprägt hat. Gerd Weidemann promovierte 1964 in Kiel bei Adolf Remane und Berndt Heyde- mann über die Hautflügler-Familie Proctro- trupidae. Daraufhin war er als Ökologe in der Arbeitsgruppe von Peter Ax an der Universität Göttingen maßgeblich an der Entwicklung des Solling-Projektes beteiligt, dem deutschen Beitrag zum Internationa- len Biologischen Programm (IBP). Im Kon- text dieses ersten international ausgerich- teten Forschungsprogramms auf öko- systemarer Grundlage erforschte Gerd Foto: privates Bildarchiv Weidemann die Lebenszyklen und den Energieumsatz dominanter Laufkäferarten des Buchenwaldes. ein erhebliches Maß an Selbstverantwor- Im November 1974 wurde er als ordent- tung, Eigeninitiative und Engagement ab- licher Professor für Ökologie an die Univer- verlangt und interdisziplinäres Denken för- sität Bremen berufen, wo er eine erfolgrei- dert. Mit seiner Naturverbundenheit und che Arbeitsgruppe mit den Schwerpunkten Artenkenntnis, seiner modernen ökologi- Ökosystemforschung, Rekultivierung und schen Sichtweise und durch seine mensch- Ökotoxikologie aufbaute und sich wesent- liche Wärme konnte er die Studierenden lich am Aufbau des interdisziplinären Zen- für die Ökologie interessieren. Fünf seiner trums für Umweltforschung und nachhaltige zahlreichen Doktoranden habilitierten sich Technologien (UFT) beteiligte. an der Universität Bremen. Mit dem Projekt- Schon frühzeitig war Gerd Weidemann team Naturschutz im Agrarraum erhielt er hochschuldidaktisch engagiert. So gehörte 1994 den Preis für ausgezeichnete Lehre er zu den Architekten des Bremer Projekt- und ihre Innovation (Berninghausen Preis). studiums, jener richtungsweisenden akade- Ende des Sommersemesters 1999 ging mischen Lehrform, die den Studierenden Weidemann in den Ruhestand und übergab

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kollegial-freundschaftlich den Stab an sei- organismen sowie mit der Bodenentwik- ne Nachfolgerin Prof. Juliane Filser, die den klung als ökosystemarem Prozess (Sukzes- so fruchtbar vorbereiteten wissenschaft- sion). Seine Expertise auf dem Gebiet der lichen Boden mit großer Dankbarkeit Bodenkunde gaben hierfür wesentliche übernahm. Impulse. Als profunder Kenner der Biodi- Die zentralen Lehr- und Forschungsthe- versität (Wirbellose, Wirbeltiere, Pflanzen) men von Gerd Weidemann waren die förderte er Artenkenntnis als Grundlage Weiterentwicklung ökologischer Theorie, ökologischer Forschung sowohl im allge- Ökosystemforschung, Bodenökologie und meinen Überblick als auch spezialisiert auf Ökotoxikologie. Er vertrat eine holistisch Gruppen der Bodenfauna (Protozoen, Ne- syn-ökologische Sichtweise, bei der die matoden, Collembolen, Bodenmilben, u.a.). Bedeutung der Interaktionen von Organis- Die in den weitreichenden Arbeiten seiner men betont und die Komplexität auf unter- Arbeitsgruppe gewonnenen Erkenntnisse schiedlichen Maßstabsebenen berücksich- kommen bei der Risikobewertung von tigt werden. Dies führte Gerd Weidemann Chemikalien und neuen Technologien so- zur Entwicklung seines systemischen For- wie in Konzepten zur Rekultivierung, Rena- schungsansatzes, der interdisziplinäre Ko- turierung und in letzter Zeit bei der Be- operation mit anderen Fachdisziplinen, wie kämpfung von Bodendegradation und Bodenkunde, Chemie und Sozial- und Desertifikation zur Anwendung. Rechtswissenschaften einschließt. Gerd Sein Interesse an den biologischen Sys- Weidemanns Forschungskonzeption ist the- temen der Küsten (Salzwiesen und Dünen) oriegeleitet mit klaren Begrifflichkeiten, da- führte ihn zu Forschungen zu den Auswir- bei jedoch immer in den naturräumlichen kungen von Klimaänderung. Realitäten verwurzelt. Die Ökotoxikologie war ein weiterer Aufbauend auf den Erfahrungen aus Forschungsschwerpunkt von Gerd Weide- dem Solling-Projekt entwickelte Gerd Wei- mann. Er definierte sie als fächerübergrei- demann die Ökosystemforschung an der fende Wissenschaft, die sich mit den Aus- Universität Bremen. Mit der Einrichtung der wirkungen von Stoffen auf die belebte Forschungsfläche "Siedenburg'sche Bau- Umwelt befasst und hierbei insbesondere schuttdeponie Bremen Walle" etablierte er den indirekten, nur im Systemkontext her- 1980 die ökologische Langzeitforschung an vortretenden Effekten nachspürt. So sah er der Universität Bremen. Der Standort war nicht nur die Wirkung von Chemikalien auf neben Nationalparks und Großprojekten der organismischen Ebene, sondern auch eines von 17 deutschen Gebieten im welt- Effekte, die sich auf höheren Organisations- weiten Netzwerk "Long Term Ecological ebenen manifestieren, dem Nahrungsgefü- Research (LTER)”. ge, der ökosystemaren Ebene und dem Als terrestrischer Ökologe befasste sich Landschaftskontext. Übergeordnetes Ziel Gerd Weidemann intensiv mit den Eigen- seiner ökotoxikologischen Arbeiten war es, schaften und Funktionen von Böden als Re- zu einer Verbesserung der Bioindikation sultat des Zusammenwirkens von abioti- und der Risikoabschätzung und -bewer- schen Gegebenheiten und den Boden- tung von Chemikalien beizutragen und

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dies für unterschiedliche Praxiszusammen- Zusätzlich zu seinen universitären Tätig- hänge nutzbar zu machen. Hierbei bezog keiten - und verstärkt nach seiner Pensio- er auch Position in der politischen Ausein- nierung - war er in der Kommunalpolitik andersetzung insbesondere zu Fragen der seines Wohnortes Worpswede aktiv. Hier Chemikalienregulation und des Natur- war er ein engagierter Verfechter von Be- schutzes. langen des Umwelt-, Natur- und Land- Neben dieser empirisch dominierten schaftsschutzes, unter anderem im Konflikt- Arbeit war er an der theoriegeleiteten Ver- feld von Raumordnung und Entwicklung allgemeinerbarkeit ökologischer Erkennt- des öffentlichen Nahverkehrs. nisse interessiert. So gingen von seiner Ar- Seit 2007 hatte Gerd Weidemann eine beitsgruppe wichtige Impulse für die Querschnittslähmung zu bewältigen. Diese ökologische Systemtheorie und Modellbil- radikal veränderte Situation seines Lebens dung aus. Dies umfasst Ökosystem-Simula- meisterte er mit Hilfe seiner Frau Elin und tionen, ökologische Systemtheorie sowie seiner Familie auf bewundernswerte individuenbasierte Modellierung. Das Weise. Neben seiner wissenschaftlichen komplexe Themenspektrum der Arbeits- Leistung bleiben vor allem sein Blick auf gruppe Ökologie haben seine Doktoran- das Ganze, sein gesellschaftspolitisches den in dem Band "Bodenökologie interdis- Engagement und seine Menschlichkeit in ziplinär" zu seinem 65. Geburtstag Erinnnerung. zusammengetragen1 . Gerd Weidemann war in Fachverbän- (An dem Text wirkten mit:, Karin Mathes, den auf Grund seiner Kompetenz und Broder Breckling, Juliane Filser) ideenreichen konstruktiven Mitarbeit ger- ne gesehen. Der Deutschen Zoologischen Gesellschaft gehörte er seit 1964 an.

Prof. Dr. Hartmut Koehler Universität Bremen, Zentrum für Umwelt- forschung und nachhaltige Technologien (UFT) Leobener Str., 28359 Bremen [email protected]

1 KOEHLER H., MATHES K., BRECKLING B. (HRG),1999: BODENÖKOLOGIE INTERDISZIPLINÄR, BERLIN (SPRINGER), 241 S.

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Nachruf auf Ernst-Albert Arndt 22. 9. 1927 - 13. 2. 2014 Ragnar Kinzelbach

Ernst-Albert Arndt war Rostocker Ur- gestein. Er liebte seine Stadt. Er hat in ihr in seinen 86 Jahren wahrhaftig viele Um- brüche gesehen. Er hat sich in dieser Zeit bewährt, hat Geschichte konstruktiv mit- gestaltet. Wir werden ihn nie aus unserem kollektiven Gedächtnis verlieren. Er wurde am 22. September 1927 in Rostock geboren. Sein Vater Walter Arndt war seit Anfang der 1950er Angestellter in der Zoologie, seine Mutter Marie Arndt war Hausfrau. Zunächst in der Städtischen Knabenschule in der Kröpeliner-Tor-Vor- stadt, dann Besuch der Großen Stadtschu- le, im zweiten Weltkrieg fiel er in die Ge- neration der Luftwaffenhelfer, vom Fe- bruar 1943 bis zum Herbst 1944, kam er dann noch zum Reichsarbeitsdienst, aus dem er am 8. Mai 1945 von der Britischen Foto: privates Bildarchiv Besatzung entlassen wurde. Abitur 1946, ab Februar 1946 Studium in Rostock, ab- geschlossen 1951 mit dem Diplom in Bio- 1960 erfolgte jedoch die Berufung von logie. Seine Promotion zum Dr. rer. nat. Ludwig Spannhof zum Professor für Allge- folgte am 13. Mai 1954. Ebenfalls unter meine Zoologie nach Rostock. Es folgte Prof. Dr. Josef Spek habilitierte er sich die Umwidmung in einen Lehrstuhl für 1959. Seit 1955 übernahm er die Vertre- Tierphysiologie. Infolge der veränderten tung seines erkrankten Chefs in Amtsge- Arbeitsrichtung wurde die zum Institut schäften und allen Vorlesungen. Gerolf gehörige Zoologische Sammlung von Steiner, einer der Vorgänger des Unter- 1775 unter erheblichen Verlusten verklei- zeichnenden an der TU Darmstadt (“Rhi- nert. Arndt wurde 1960 Abteilungsleiter nogradentia“) schrieb: „Gute Menschen für Spezielle Zoologie und Meeresbiolo- haben sich um ihn, Spek, gekümmert, be- gie, 1968 Leiter des Fachbereichs für sonders Familie Arndt.“ Meeres- und Fischereibiologie, 1977 Di- Es galt als ausgemacht, dass Arndt rektor der Sektion Biologie, schließlich Nachfolger Speks sein sollte. Im Jahre 1993-1995 Mitglied des Senats.

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Er war Leiter der Zoologischen Samm- lung. Deren Wiedererstarken nach den Verlusten der Nachkriegszeit und im Zu- ge der 3. Hochschulreform erfüllte ihn später mit besonderer Genugtuung. 1964-1992 war er Professor für Meeres- biologie am Zoologischen Institut, 1992- 1995 Univ.-Prof. i.R. als Vertretungsprofes- sor für Allgemeine und Spezielle Zoologie und Meeresbiologie. In die Zeit der 3. Hochschulreform der DDR von 1967 fällt die verwirrende Ge- schichte der Rettung der von Schließung bedrohten Biologie durch Schwerpunkt- Arbeitsgruppe Prof. Dr. Josef Spek um 1958. bildung in den Fachrichtungen Fischerei- Obere Reihe von links: Joachim Leverenz, und Meeresbiologie. Die komplizierten Wolfgang Baudisch, Werner Stüwe. Mittlere Einzelheiten schilderte E. A. Arndt 2003, Reihe von links: Heinz Penzlin, Josef Spek, Heino Woohsmann. Vordere Reihe: Günter belegt durch Dokumente, in seiner Schrift Dietz, Christa Köpke. Ernst Albert Arndt. „50 Jahre Biologie an der Universität Ro- Foto privates Bildarchiv stock“. Lehre. Frühzeitig übernahm Arndt vie- Südwestafrika. Es gibt Publikationen zur le Vorlesungen und Übungen in der ge- Ökologie des Schatt el-Arab aus einer samten Breite des Fachs Zoologie, dane- Gastprofessur 1972-1974 an der Univer- ben Meeresbiologie. Er war ein begei- sität Basrah. Der Popularisierung der sterter Lehrer mit einem großen Schatz Meereszoologie diente das beliebte Buch an eigener Erfahrung. Bis 1991 entstan- von 1964: Die Tiere der Ostsee. den 7 abgeschlossene Promotionen, 3 Weitere Tätigkeiten. Mitwirkung beim weitere folgten. Aufbau der neuen Strukturen nach der Forschung. Die Ergebnisse sind abzu- Wende bis zum WS 1992/3. Dazu verfass- lesen an einer Fülle von Publikationen: 34 te er zwei dokumentarische Schriften als Erstautor, 10 als Zweitautor, 8 Bücher 7 1998 und 2003. Buchbeiträge, die Arndt unverdrossen Er war Gründungspräsident (1968-75) der scientific community vorlegte. Fachli- und Präsident (1981-1985) sowie Mitglied che Schwerpunkte sind Arbeiten zur Hi- des Nationalkomitees der Baltic Marine stochemie und Histologie, zur Entwick- Biologists (BMB), das seit der Gründung lungsbiologie (seit langer Zeit ein roter in Rostock durch Symposien, Advisor-Sta- Faden an der Rostocker Zoologie). Bear- tus für die HELCOM und Zusammenar- beitet wurden Brackwasserfauna und de- beit mit vielen internationalen Organisa- ren Ökophysiologie, die Lebensgemein- tionen hervorgetreten ist. schaften der Ostsee, Material der Fische- Er war Vorsitzender im Beirat des reiflotte aus dem Atlantik vor Nord- und Meeresmuseums Stralsund von 1992-

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Die Rostocker Professoren der Zoologie im Jahr 2000 bei der 225. Jahrfeier der Zoologischen Sammlung. Von links: Ludwig Spannhof, Ernst Albert Arndt, Dieter Weiss, Ragnar Kinzelbach Foto privates Bildarchiv

2002. Dadurch wurde ein fortdauernd gu- Rattenschwanz an grauer Literatur, die tes Verhältnis zum Stralsunder Meeresmu- zwangsläufig an jedem Leistungsträger seum begründet. seines Ranges hing. Er war seit der Wende Vorsitzender Nach der Wende erfolgte problemlos des Verbands Ehemaliger Rostocker Stu- seine Übernahme. Ein eindrucksvoller denten (VERS). Er war Advisor für das Leistungsbericht von 1991 liegt vor. Im führende Periodicum „Marine Ecology“. Jahre 1995 folgte die Emeritierung. Und – Er war beteiligt an Gründung und Redak- oh seltenes Wunder: Arndt erhielt nicht tion der Reihe „Rostocker meeresbiologi- nur einen, sondern zwei Nachfolger: den sche Beiträge“, weiterhin im Redaktions- Unterzeichnenden für die Allgemeine und beirat des „Archiv der Freunde der Spezielle Zoologie und Prof. Dr. Gerhard Naturgeschichte Mecklenburgs“. Hinzu Graf für die Meeresbiologie. Das Fach kam eine große Zahl von Mitgliedschaften Biologie veranstaltete Festkolloquien zu in nationalen und internationalen Gre- Arndts 70. und 80. Geburtstag sowie zum mien, besonders im Bereich der Meeres- 50. Promotionsjubiläum. forschung, verbunden mit Stellungnah- Ernst-Albert Arndt verließ uns am 13. men, internen Berichten, Gutachten, dem Februar 2014. Er folgte seiner 2012 ver-

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storbenen Frau Doris (geb. Gaudes), Bio- durch das Gymnasium vermittelt, da- login. durch immun gegenüber propagandisti- Man fragt sich nach dem Geheimnis scher Verzerrung. Er bleibt unvergessen. seines Erfolgs: Ein großer, sportlicher Mann, von norddeutscher Beharrlichkeit. Ein vollständiges Verzeichnis der Schrif- Bei aller stoischer ataraxia hatte er eine ten von E.A. Arndt findet sich in der digita- freundliche und heitere Art im Umgang len Version der Mitteilungen unter: mit seinen Mitmenschen. Er führte diese http://www.dzg-ev.de/de/ Eigenschaften selbst zurück auf sein hu- publikationen/mitteilungen_zoologie.php manistisches Menschenbild, authentisch

Prof. Dr. Ragnar K. Kinzelbach (em.) Allgemeine & Spezielle Zoologie Universitätsplatz 2, 18055 Rostock [email protected]

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