SECHSTE ÖSTERREICHISCHE ARMUTSKONFERENZ

MUTMUT ZUMZUM MÖGLICHEN!MÖGLICHEN! ARMUTARMUT ISTIST VERMEIDBARVERMEIDBAR Wie ökonomische Mythen wirken.

Warum soziale Alternativen realisierbar sind. DOKUMENTATION DOKUMENTATION Wir bedanken uns ...

... bei den FördergeberInnen der Sechsten Österreichischen Armutskonferenz:

BUNDESMINISTERIUM FÜR SOZIALE SICHERHEIT GENERATIONEN UND KONSUMENTENSCHUTZ

... beim Vorbereitungsteam der Konferenz und dem Redaktionsteam der Dokumentation:

Michaela Moser (ASB Schuldnerberatungen) Martina Kargl (Caritas der ED Wien) Martin Schenk (Diakonie Österreich) Hansjörg Schlechter (Neustart) Josef Mauerlechner (Die Armutskonferenz) Eugen Bierling-Wagner (Die Armutskonferenz)

... und allen weiteren MitarbeiterInnen, ReferentInnen, KünstlerInnen und ModeratorInnen.

Impressum:

Herausgeberin/Verlegerin: DIE ARMUTSKONFERENZ. Österreichisches Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung, Vereinsregister: ZL.: III-1656/VVM/2005 Redaktion: Michaela Moser, Martina Kargl, Martin Schenk, Hans-Jörg Schlechter, Josef Mauerlechner, Eugen Bierling-Wagner Fotos: Raphael Bolius Texte aus Kathrin Röggla „Draußen tobt die Dunkelziffer“ , Wiener Festwochen 2005 (Manuskript der Autorin) Erscheinungsjahr: 2006 Layout: hiasl/Matthias Fürpaß Logo-Armutskonferenz: Hans Heribert Dankl, Druck: Druckerei Berger, Horn

DIE ARMUTSKONFERENZ im Netz: www.armutskonferenz.at

1 Editorial...... 4-5 1) Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats 1.1 Sachzwangs- und Reformrhetorik als soziale und politische Alternativenlosigkeit? ...... 7-11 1.2 Sozialstaatskritik – aus Gründen der Gerechtigkeit ...... 12-17 1.3 Wenn Demografi e zu Demagogie wird ...... 18-20 1.4 Die Opfer als Verursacher? Ist Arbeitslosigkeit eine Folge des Sozialstaats? ...... 22-25

2) Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit 2.1 Hauptsache Arbeit? Soziale Sicherheit und „das Ganze der Arbeit“ ...... 27-29 2.2 Lächle mehr als andere! ...... 30-33 2.3 Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses ...... 34-35 2.4 Qualität und Quantität von Arbeit – ein Widerspruch? ...... 36-38

3) Wer will, kann gewinnen Ë Mythos: Soziale Mobilität 3.1 Drinnen und Draußen, Oben und Unten. Anfragen an Kategorien sozialer Ungleichheit...... 41-45 3.2 MigrantInnen für ihre Jobs oft überqualifi ziert ...... 46-49 3.3 Episoden sozialen Ausschlusses – am Beispiel irregulärer MigrantInnen in Wien...... 50-53 3.4 Armut bei Kindern – Lebenslage und Zukunftschancen durch Bildung...... 54-57 3.5 Kein Kind beschämen!...... 58-61

4) Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen 4.1 Die Architektur des neuen Sozialstaates und die Rolle der Sozialen Arbeit ...... 63-66 4.2 Vom Teilen zum Tauschen. Die (un)heimliche Ökonomisierung des Sozialen...... 67-69 4.3 Qualitätsmanagement – Ökonomisierung oder Professionalisierung Sozialer Arbeit ...... 70-75 4.4 Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsstaat ...... 76-78 4.5 Ausschluss und Strafe – Strategien gegen die „Unwilligen“ ...... 80-85

5) Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.1 Welthaushalt und Wirtinschaft: Entwürfe für eine erneuerte Politik des Sozialen...... 87-91 5.2 Hat das „europäische Sozialmodell“ noch eine Zukunft? ...... 92-96 5.3 Frauen – Vor! – Konferenz ...... 97-101 Inhalt 5.4 Gemeinsamer Einsatz für ein soziales Europa ...... 102-103 5.5 Lebenschancen und soziale Inklusion – der Beitrag der Daseinsvorsorge...... 104-107 5.6 Das Mindestsicherungs ABC der Armutskonferenz ...... 108-110 5.7 Social Banking für Österreich?! ...... 112-113 5.8 Participatory Economics ...... 114 5.9 Fair Steuern ...... 115 5.10 Erfolgreiche Strategien zur Arbeitsmarktintegration ...... 116 5.11 Neue Wege der Armutsprävention auf Gemeindeebene...... 117 5.12 Kriminalpolitische Initiative: Mehr Sicherheit durch weniger Haft! ...... 118-120 5.13 Sichtbar Werden! ...... 121

Serviceteil Programm der 6. Armutskonferenz ...... 122-123 10 Jahre Armutskonferenz ...... 124-125 „La Dolce Vita“ Filmwoche ...... 126-127 Wiener Spendenparlament ...... 128 Hunger auf Kunst & Kultur ...... 129 Armut und soziale Ausgrenzung in Österreich ...... 130-131 Bestellservice ...... 132 Werbung...... ab 134

3 Editorial: Mut zum Möglichen: Armut ist vermeidbar! Eugen Bierling-Wagner, Hansjörg Schlechter, Josef Mauerlechner, Martina Kargl, Martin Schenk, Michaela Moser

„Von TINA zu TAMARA“: Als wir im Zuge der Vorberei- Für Ambivalenzen und Unvorhersehbarkeiten ist in tungen für die 6. Österreichische Armutskonferenz, deren Mythen kein Platz: Dass es in 50 Jahren aus demographi- Themen, Diskussionen und Ergebnisse diese Publikation schen Gründen keine existenzsichernden Leistungen eines sichern soll, nach einem passenden Titel suchten, haben öffentlichen Pensionssystems mehr geben kann, scheint wir auch diesen erwogen. TINA steht für „there is no alter- ebenso selbstverständlich wie die Schlussfolgerung, dass native“, und damit für jenen von Margaret Thatcher ge- nur private Vorsorge vor Verelendung im Alter retten prägten Satz, der für viele zum Synonym für eine Politik könne. Das bewusste „Vergessen“ von Fakten macht aus der Sachzwänge wurde. Die widersprechende Antwort auf Debatten über Demographie Demagogie, weist Gerd Bos- TINA lautet TAMARA: „there are many and realistic alter- bach in seinem Beitrag nach. Nicht weiter erklärt werden natives“. muss, dass in diesem Konzept, in dem sich jedes Indivi- Auch wenn wir uns dann für einen anderen, selbst er- duum selbst die oder der nächste ist, für Solidarität kein klärenden Titel entschieden haben: das Konzept der 6. Raum ist. Armutskonferenz folgte dem Motto „von TINA zu TAMARA“. Das insofern, als es auf dieser Konferenz darum ging, Als Mythos entlarvt werden muss auch die Rede von gängige sozio-ökonomische Mythen aufzuzeigen und zu gleichen Aufstiegschancen für alle, „die nur wollen“. Nach dekonstruieren. Um dann gemeinsam mit den rund 400 wie vor werden Zukunftschancen von Kindern von deren TeilnehmerInnen aus sozialen Organisationen, Betroffe- sozialer Herkunft bestimmt. Aus armen Kindern werden nengruppen, Armutsforschung und politischen Instituti- arme Eltern, aus reichen Kindern reiche Eltern. Und die onen die vorhandenen sozialen Alternativen sichtbar zu armen Kinder von heute sind die chronisch Kranken von machen, zu diskutieren und weiterzuentwickeln. morgen. Das österreichische Bildungs- und Sozialsystem schafft es nicht trotz insgesamt guter sozialer Sicherung, Mythen entzaubern die Aufstiegschancen einkommensschwächerer Schüle- „Der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage“, schrieb der rInnen zu verbessern. französische Philosoph und Semiotiker Roland Bartes in seiner vor 50 Jahren erschienenen Aufsatzsammlung „My- Der Anstieg von Menschen, die arm trotz Arbeit sind then des Alltags“. Damit meinte er, dass Mythen den Din- widerlegt den Mythos, dass „sozial ist, was Arbeit schafft.“ gen den Anstrich der Natürlichkeit geben. Mythen lassen Unter dem Motto „Hauptsache Arbeit“ wird in der Folge der vergessen, dass Umstände nicht vom Himmel fallen, son- Blick auf die wachsenden Existenznotstände in Billigjobs, dern das Ergebnis geschichtlicher Ereignisse und damit in von denen in erster Linie Frauen betroffen sind, abgelenkt. der Regel menschlichen Handelns sind, zu dem es immer Wirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige Arbeiten auch Alternativen gibt. Mythen sind nicht einfach da: sie im Haushalt, in der Versorgung und Pflege von Angehöri- werden geschaffen, um genutzt zu werden. gen, der Kinderbetreuung, aber auch im gesellschaftlichen In der Politik begegnen uns Mythen in Gestalt von Sach- Umfeld müssen un- und unterbezahlt erbracht werden. zwängen, mit der die sogenannte „Reformpolitik“ legi- timiert wird, wie Sieglinde Rosenberger in ihrem Beitrag Um den vielfältigen „Mythen der Arbeit“ wirksam ent- unterstreicht. Sachzwänge erweisen einer Politik, die un- gegenzutreten braucht es deshalb, so Adelheid Biesecker, populäre Maßnahmen umsetzen will, einen unschätzba- eine „andere Rationalität“ und die Perspektive auf das ren Dienst: „Die Botschaft ist deutlich: es geht nur so und “Ganze der Arbeit“. Denn „soziale Sicherheit und Beschäf- nicht anders“. Auf Sachzwänge kann nur reagiert werden. tigung für alle kann dauerhaft nur erreicht werden, wenn Sie machen das Nachdenken über alternative Politik hin- das Verständnis von Arbeit sowie die Qualität von Arbeit, fällig und Begründungen obsolet. ihre ‚Natur‘, verändert werden: Arbeit ist dann lebensdien- lich und naturgemäß und umfasst alle Tätigkeiten, die Ob Talkshow, Zeitungs-Feuilleton oder so mancher Uni- gesellschaftlich nötig sind, um den gemeinschaftlichen Hörsaal: Dass wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten Produktions- und Reproduktionsprozess dauerhaft zu ge- können – weder finanziell noch in Hinblick auf die Ge- stalten.“ rechtigkeitsmuster, auf denen er aufbaut – wird längst als Faktum gehandelt. Das gilt auch für die Behauptung, der Mythen zu dekonstruieren, ist wichtig, um ihnen den Sozialstaat mache jene, denen seine Leistungen zugute Nimbus der Natürlichkeit und des Sachzwangs zu nehmen kommen, abhängig und halte sie in Armut gefangen. und deutlich zu machen, wie groß – und ungenutzt – der Spielraum der Politik ist. Empirische Belege sind zur Legitimierung dieser und ähnlicher Mythen nicht von Nöten oder werden – wenn Autoritative Sozialpolitik entlarven sie eine andere Sprache sprechen – einfach ignoriert. Armut, Erwerbslosigkeit und soziale Not werden aus Arbeitsmarkt“reformen“ bauen nicht nur in Deutschland neoliberaler Perspektive nicht als gesellschaftliches Pro- auf dem empirisch unhinterfragten Menschenbild des Ar- blem, sondern vielmehr als selbstverschuldetes Schicksal beitslosenfallen-Theorems auf, wie Gerhard Bäcker zeigt. präsentiert. Oder wie es der Theoretiker der US-amerika- So werden die Opfer der strukturellen Erwerbslosigkeit zu nischen und britischen workfare-Modelle, Lawrence M. TäterInnen gemacht, die aufgrund mangelnder Anreize Mead, formuliert: „Wenn Armut eher dem Verhalten der freiwillig erwerbslos bleiben. Armen zuzuschreiben ist als den sozialen Schranken, dann

4 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats muss man dieses Verhalten und nicht die Gesellschaft ver- wissenschaftlich-fachliche Expertise der Fachkräfte“, so ändern“. Diese Wende zu einer „autoritativen“ Sozialpo- Heinz Jürgen Dahme. litik koppelt sozialpolitische Leistungen strenger an Ge- genleistungen und möchte „erzieherisch“ wirken. Damit Die Entmythifizierung vermeintlicher Tatsachen stand wird auch die Soziale Arbeit an die Kandare genommen daher im Mittelpunkt des ersten Teils der 6. Österreichi- und bekommt einen neuen, repressiveren Stellenwert im schen Armutskonferenz. Gewand des Ökonomismus. Viele zeitgemäße Konzepte für soziale Alternativen Das Konzept des „aktivierenden Staates“ setzt einen liegen nämlich längst auf dem Tisch. Darunter das Min- „starken“, ja autoritären, wieder paternalistischen Staat destsicherungs ABC der Armutskonferenz, Konzepte für voraus, der steuert, kontrolliert und erzieht. Dies scheint eine sozial durchlässige Schule, Gesundheitsprävention der Forderung nach „weniger“ Staat zu widersprechen. für sozial Benachteiligte, den gerechteren Zugang zu ad- Der Widerspruch ist jedoch lediglich ein scheinbarer. Denn äquaten Finanzdienstleistungen, sowie innovative und die Forderung nach dem schlanken Staat bezieht sich im- nachhaltige Modelle der Arbeitsmarktintegration und mer nur auf einen Typus der Staatstätigkeit, den Keynsia- Strategien zur Verteilung von bezahlter und unbezahlter nischen Wohlfahrtsstaat. Sie richtet sich gegen seine so- Arbeit. zialen Sicherungssysteme und gegen eine staatlich bzw. öffentlich organisierte Daseinsvorsorge. Die Repressions- Politik ist am Beitrag zur und Kontrollfunktionen staatlicher Herrschaft wird nicht Armutsvermeidung zu messen infrage gestellt, da die Workfare-Konzepte nur durch ein Ein zukünftiges Europa wird sozial sein oder es wird Mehr an Kontrolle und Sanktion umzusetzen sind. nicht sein“, unterstrich Fintan Farrell vom europäischen Armutsnetzwerk EAPN die Notwendigkeit auch auf euro- Im Rahmen dieser Entwicklung zeichnet sich insbeson- päischer Ebene auf soziale Alternativen zu setzen. dere eine Aufwertung kontrollierender und repressiver Elemente staatlicher wie sozialstaatlicher Interventionen „Europa braucht starke Wohlfahrtsstaaten, starke ab. In deren Folge zeigen sich die Konturen einer neuen Wohlfahrtsstaaten brauchen ein soziales Europa“, so Sicherheitsgesellschaft, die Prävention als Soziale Kon- Farrell, der an das Versprechen der europäischen Staats- trolle und Disziplinierung organisiert und sich auch durch chefs, einen entscheidenden Beitrag zur Bekämpfung von eine (neue) Lust am Strafen auszeichnet. Diese Politik der Armut und Ausgrenzung zu leisten, erinnerte. Härte geht einher mit steigenden Inhaftierungsraten in Die vielen sozialen Alternativen müssen in diesem Sinne allen Industriegesellschaften und mit immer härterem zu einer gemeinsamen europäische Sozialstrategie zu- Vorgehen gegen als störend empfundene, marginalisierte sammengeführt werden. Entscheidende Impulse kommen „Elemente“ (Obdachlose, BettlerInnen) in den innerstädti- dabei auch aus Armutsnetzwerken der neuen Mitglieds- schen Räumen. Dem in der Workfare-Politik enthaltenen staaten. Zwang zur Inklusion stellt der starke Staat einen exklu- dierenden Zwang zur Seite: Wer sich nicht anpasst, wird Wahlentscheidungen und soziale Protestbewegungen bestraft durch Ausschluss; in seiner schärfsten Form durch belegen, dass immer mehr BürgerInnen immer weniger an Gefängnis oder durch den Ausschluss aus dem öffentli- die ökonomischen Mythen glauben, die ihnen seit Jahren chen Raum, willfährig unterstützt von Sozialer Arbeit. aufgetischt werden und Politik zunehmend an ihrem Bei- trag zur Armutsvermeidung gemessen wird. Zu kritisieren sind deshalb nicht „Auswüchse“ oder „Fehlentwicklungen“ oder „Ungerechtigkeiten“ des Stra- Wirksame Armutsbekämpfung wird dabei als einzig fens, sondern die Politik mit der Strafe, betont Helga von politischen Prioritäten abhängig, deutlich. Eine Poli- Cremer Schäfer. „Nicht zuletzt deshalb, weil Kriminalisie- tik des sozialen Ausgleichs würde dafür sorgen, dass der rung und staatliches Strafen eine der wichtigsten Ressour- Reichtum für alle reicht. Politik in diesem Zusammenhang cen sind Armutsfeindlichkeit zu legitimieren.“ heißt, wie Fabian Kessel ausführt, dass “Zivilgesellschaft- liche Öffentlichkeiten die Möglichkeiten und Kontexte Soziale Alternativen aufzeigen menschlicher Lebensführungsweisen skandalisieren, das Mythen blockieren Veränderungen. Solange ökonomi- heißt auf die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsver- sche Mythen wie „Jeder kann gewinnen, wenn er nur will“, hältnissen hinweisen – in privater und familiärer Abhän- „Sozial ist nur, was Arbeit schafft“ oder „Soziales schadet gigkeit ohne öffentliche Unterstützungsmöglichkeiten, der Wirtschaft“ nicht vom Tisch sind, wird es zur keiner auf die Zahl der Illegalisierten ohne Staatsbürgerschafts- Verbesserung der Lebenssituation sozial Benachteiligter rechte, derjenigen, die in Angst vor einem zukünftigen Le- kommen. ben im Alter, leben, und nicht zuletzt derjenigen, die sich immer häufiger mit einem moralischen Vorwurf konfron- „Die aktuelle Neuordnung des sozialstaatlichen Han- tiert sehen, die eigene Lebensgestaltung scheinbar nicht delns hat Konsequenzen für die sozialen Professionen. ausreichend verantwortlich übernommen zu haben“. Soziale Arbeit wird zwar offiziell zu einer wichtigen Stütze des neuen Sozialstaates, dieser hat aber andererseits auch konkrete Vorstellungen über Umfang und Ziel der Inter- Machen wir uns nichts vor: Armutsbekämpfung ventionen durch die sozialen Professionen. Stark infrage ist möglich. Armut ist vermeidbar. gestellt werden deshalb gegenwärtig nicht nur die Werte- orientierung der Träger sozialer Arbeit, sondern auch die

5 1 Wir können uns das nicht mehr leisten!

Ë Mythos: Ende des Sozialstaats 1.1 Sachzwangs- und Reformrhetorik als soziale und politische Alternativenlosigkeit?

Warum wird der Rede „Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten“ so gerne vertraut, warum wird sie nahezu kritiklos geglaubt? Warum bekommen gerade jene politischen Akteure, Themen und Maßnahmen, die sich nicht selten gegen soziale Sicherheitsgefühle ebenso wie ge- gen die Geldtaschen vieler Menschen richten, so viel Verständnis, ja Zustimmung?

In diesem Beitrag wird eine Antwort auf Zweitens, politische Entscheidungen dieses Phänomen über die omnipräsente über Reformen, die sich aus der Logik von Argumentationsfi gur Reform versucht. Ein Sachzwängen speisen, legen neben der Blick in offi zielle europäische Dokumente politischen Alternativlosigkeit auch eine (z.B. Lissabon-Erklärung) und national- politische Nicht-Gestaltbarkeit aufgrund staatliche Erklärungen (z.B. Regierungser- wirtschaftlicher Globalisierung und nati- klärungen in Österreich) stellen die Not- onaler Entgrenzung nahe. Politikverlust wendigkeit, der Unausweichlichkeit ganz wird suggeriert, faktisch geht damit aber bestimmter Reformen in den Mittelpunkt Demokratieverlust einher. Denn es ist zu ihrer Begründungszusammenhänge. Spä- fragen, was es demokratiepolitisch bedeu- testens seit den 1990er Jahren ist Reform- tet, wenn Politik primär innerhalb der Para- politik zum Inbegriff für wirtschaftlich digmen Sachzwang und Reform diskutiert bedingtes, dezisionistisches Entscheiden wird? Was geht damit u.a. in Bezug auf die –oft jenseits politischer Überlegungen– Bereitschaft zur politischen Gestaltung der geworden.1 Mehr noch, die Reform wurde wirtschaftlichen Entgrenzung einher? zum Sachzwang erklärt. Anders gesagt, Sachzwang und Reform sind auf der Ebene Bedingungen und Kontexte der politischen Akteure strategisches In- von Reformen als Sachzwang strumentarium der Rationalisierung, Kom- Die Konjunktur der Sachzwangsideologie munikation und Erklärung auf der Ebene und der Reformrhetorik, die viele europäi- der Betroff enen jedoch als politische Sinn- sche Regierungen des gesamten politischen strukturen zu betrachten. Spektrums in den letzten Jahrzehnten erfass- Zum Sachzwang gewordene Reformen te, enthält inhaltliche Richtungen, nämlich tauchen insbesondere in Politikfeldern auf, den Rückbau des Sozial- und Leistungsstaa- Sieglinde in denen Entscheidungen über öff entliche tes sowie die Durchfl utung der Gesellschaft K. Rosenberger ist Politikwissenschaf- Leistungen, Dienste und sozialstaatliche mit Marktlogiken. Diese Entwicklung kann terin an der Universität Solidarität einerseits sowie Liberalisie- als Ausdruck einer Interessenslage politi- Wien, Forschung und rung, Deregulierung und Privatisierung scher Eliten identifi ziert werden, sie fi ndet Lehre zu Demokratie- Geschlechterpolitik und andererseits verhandelt und getroff en aber auch vor dem Hintergrund geänder- Sozialstaat. werden. ter sozio-struktureller, wirtschaftlicher und technologischer Rahmenbedingungen Was ist das Problem dabei? Zwei Aspekte statt. Diese Rahmenbedingungen machen sollen in diesem Beitrag diskutiert werden. ihrerseits tatsächlich strukturelle Reformen Erstens, dass als Sachzwang dargestellte höchst notwendig. Drei dieser geänderten Reformen die Aufmerksamkeit und Wahr- Rahmenbedingungen, die Reformen des nehmung in bestimmte Richtungen lenken Sozialstaates bedingen, seien hier genannt: und dadurch nicht selten den Blick auf Al- ternativen verstellen. Unter diesem Blick- a) Die Bevölkerungsstruktur durchläuft winkel sind Referenzen auf Sachzwängen einen gravierenden Wandel sowohl im Hin- basierenden Reformen Instrumente der blick auf das Alter der Bevölkerung – Stich- sog. Defi nitionsmacht, die sowohl Proble- wort: „alternde Gesellschaften“ -, als auch me benennen und interpretieren als auch im Hinblick auf die ethnisch-kulturelle und die Lösungen zu diesen Problemen bestim- religiöse Zusammensetzung (Migration). men/begründen. Die politische Bedeut- In heterogenen Gesellschaften ist ein brei- samkeit liegt darin, dass Argumente in den ter sozialpolitischer Konsens für universel- Händen entscheidungsmächtiger Institu- le Rechte und Leistungen schwieriger zu tionen und Akteure soziale Realität her- erzielen als in kulturell homogenen Ge- stellen können, indem sie ganz bestimmte sellschaften. Vor diesem Hintergrund sind inhaltliche Ausrichtungen und Entwicklun- Sozialreformen zur Sicherung kollektiver gen von Politik normalisieren und als alter- Solidarität zu diskutieren und nachhaltig zu nativlos darstellen. entwickeln.

1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats 7 b) Anders als während des sog. Goldenen zwar sowohl auf der nationalen als auch Zeitalters des Sozialstaates fallen heute das der europäischen Ebene - als Resultat eines Terrain von Wirtschaftspolitik (damals Na- Sachzwanges dargestellt. Dabei beinhalten tionalökonomie) und Sozialpolitik (natio- diese Sachzwangargumente sowohl stra- nale Sozialpolitik) auseinander. Das heißt, tegische bzw. meta-politische als auch in- in der Vergangenheit hatte die politische haltliche Dimensionen. Weil im Sachzwang Einheit, die die Sozialpolitik gestaltete, im Alternativenlosigkeit eingeschrieben ist, Wesentlichen auch wirtschaftspolitische bedeuten in strategischer HHinsichtinsicht VVerweiseerweise Instrumente zur Hand. Unter den Bedin- auf handlungsbestimmende Sachzwänge gungen von Globalisierung und Europäi- Entpolitisierung. Die Botschaft ist deutlich: sierung driftet die Zuständigkeit für Sozial- Es geht nur so und nicht anders! Die bri- politik einerseits und für Wirtschaftspolitik tische Premierministerin M. Thatcher fand andererseits deutlich auseinander. Daraus damals bereits dafür die entsprechenden leitet sich die Forderung nach – zumindest Worte: „There is no alternative“. Gleichzeitig – europäischer Sozialpolitik ab. ist festzuhalten, dass die Rahmung einer politischen Entscheidung als alternativlos c) Globalisierung bedeutete lange Zeit zwar auf Entpolitisierung hinaus läuft, aber in erster Linie nationale Grenzenlosigkeit nichtsdestotrotz eine dezidierte politische des Kapitals und der Güter. Gegenwärtig Aktivität darstellt. Konsequenzen dieser befi nden wir uns in der Phase, bei der nicht Deutung von Politik sind u. a.: nur Produktionsstätten verlagert werden Erstens, der Inhalt des Sachzwangs er- sondern auch die Dienstleistungstätigkeit scheint für jene, die Politik über Medien nicht mehr an den Ort des Gebrauchs ge- konsumieren, als interessenslos. Wenn es bunden ist. Ein Beispiel für diese Entwick- keine Alternative gibt, kann es, so die Ra- lung ist etwa die indische Lehrerin, die tionalisierung, keine unterschiedlichen In- über das Netz Kindern in Europa oder in teressen geben – denn alle wollen doch im den USA Nachhilfeunterricht gibt. Die Kos- Sinne der gemeinsamen Sache das Gleiche. ten für die Nachhilfe betragen hierzulande Zweitens, wenn Politik als das Aushandeln den halben Preis, gleichzeitig liegt das er- von Interessensunterschieden interpretiert zielte Einkommen der indischen Lehrerin wird (für dieses Politikverständnis spricht um etwa die Hälfte über dem örtlichen einiges), dann erübrigt sich unter der Prä- Lohnniveau. Soll und kann im Interesse der misse des Sachzwanges das Verhandeln. Nachhilfe zahlenden Eltern ebenso wie der Denn wenn es keine Alternativen zum Nachhilfe gebenden Lehrerin diese Ent- „Reformkurs“ gibt, macht ein Kompromiss wicklung gestoppt werden? folglich keinen Sinn. Drittens, Gruppen und Diese wenigen Überlegungen unterstrei- Personen, die trotzdem andere Interessen chen die geänderten Rahmenbedingungen bzw. Alternativen verfolgen, werden in der für die Sozialpolitik und können vielleicht Öff entlichkeit tendenziell delegitimiert. auch als Zwang zum sozialpolitischen Han- Eine konfl iktorientierte Auseinanderset- deln für kollektive Solidarität interpretiert zung um Alternativen der Verteilung oder werden. Weiters gibt es großen politischen um unterschiedliche Rollen des Staates Reformbedarf hinsichtlich internationaler wird in diesem Setting nicht als legitim er- Standards des Arbeitens als auch sozialer achtet, sondern vielmehr als egoistisches Rechte und Sicherheit. Die Notwendigkeit Partikularinteresse diff amiert. Jene, die in zur sozialpolitischen Gestaltung ist also diesem Sinne Partikularinteressen äußern, akut, jedoch ist die Einförmigkeit und Ein- würden nicht das Ganze, sondern die ei- seitigkeit der Darstellung der politischen genen Privilegien im Sinne haben, so ein Perspektiven, die oft eine Unfähigkeit der nicht selten gehörtes Argument. politischen Gestaltbarkeit unterstellen, hier zu kritisieren. Die Sachzwangs-Ideologie betriff t also ganz grundlegend das Verständnis von Sachzwang und Reform Politik. Sie impliziert politisch-strategisch Was impliziert in sozialpolitischen De- eine Art Entleerung des Politischen, was batten die Rede vom Sachzwang und der aber analytisch gesehen keineswegs mit Reform? Im Folgenden wird die Ambiva- Alternativlosigkeit gleich zu setzen ist. lenz der politischen Entleerung einerseits Die sachzwangbedingte Reform birgt ein- und der gezielten politischen Veränderung deutig inhaltliche Dimensionen, nämlich andererseits refl ektiert. Alternativen zu den Sozialstaatsmodellen, die auf kollektiver Solidarität bei bestimm- Sachzwang – Entleerung von ten Risiken beruhen. Diese Alternative und Gestaltung durch Politik kann abermals zugespitzt mit Worten M. Politik im Umfeld von sozialer Sicherheit, Thatchers formuliert werden: „There is no Deregulierung und Privatisierung wird von such thing as society. There are individual EntscheidungsträgerInnen gerne – und men and women, and there are families”.2

8 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats Thatcher entwirft also eine Alternative zu sächlich und unausweichlich der Abbau Gesellschaft, nämlich die Vereinzelung der öff entlichen Dienstleistungen einher von Menschen und deren Bündelung in gehen muss, ob damit tatsächlich soziale Familien. Die Alternative ist demnach Sicherungssysteme auf private Beine ge- Individualisierung und Fragmentierung, stellt werden müssen oder ob nicht ein zusammen gehalten werden die Individu- kollektives, öff entlich-rechtliches Siche- en durch Familienbande, Solidarität läuft rungssystem zu besseren Ergebnissen und über Verwandtschaft. Das Motto lautet: Leistungen führen würde. Ich fühle mich für jemand verantwortlich, An dieser Stelle gehen wir zurück zum die/der mit mir verwandt ist; vice versa Aspekt, wonach es nach einer Reform gilt, dass ich mich nicht verantwortlich mehr Menschen besser gehen sollte als fühle, mit der/dem ich nicht verwandt bin. vorher. Dies mag die Erfahrung aus den Diese Form der Solidarität erzeugt höchs- 1970er Jahren sein, sie triff t nicht mehr tens Gemeinschaft, aber nicht eine stabile auf die Reformen der letzten zehn Jahre Gesellschaft. zu. Es gibt einige wenige sozialwissen- Diese inhaltliche Dimension, die in Groß- schaftliche Studien, die systematisch den britannien mit Zitaten von Margret That- Zustand des Vorher/Nachher untersuchen. cher kommuniziert und realisiert worden Ich möchte deshalb die Ergebnisse einer ist, heißt hierzulande oft nur „Reformnot- Studie, die sich mit Reformen befasst, re- wendigkeit“ oder „Reformstau“. Ein erst ferieren und die genau das Gegenteil von einmal konstatierter wirtschaftlicher Sach- dem, was mit dem Vorhaben „Reform“ zwang verlangt in der Folge nach Reformen propagiert wurde, nachweist - nämlich es und nach grundlegenden Veränderungen, wird nicht besser, sondern es wird auf al- die diesem wirtschaftlich defi nierten Sach- len Ebenen schlechter. Das untersuchte zwang folgen. Was aber bedeuten diese Art Beispiel für die Verschlechterung der Leis- von Reformen für die Betroff enen? tungen durch (Teil)Privatisierung sind die Eisenbahnreformen. Durch die Reformen Veränderung, aber nicht (mehr) in den 1990er Jahren ist die Performanz Verbesserung in drei untersuchten Ländern (Großbritan- Der Sinn von Reformbewegungen des nien, Frankreich, Deutschland) gesunken. 19. Jahrhunderts oder der Forderungen im Die Studie analysierte vier Dimensionen: Sog der 1968er Bewegung war Erneuerung, den Umfang des Fahrtennetzes, das Ange- Umgestaltung, Verbesserung. Die grundle- bot (im Hinblick auf Zeiten und Häufi gkeit gende Idee ist bzw. war, dass es nach einer der Züge), die Preisentwicklung und die Reform mehr M Menschenenschen s sozialozial besser g ge-e- Sicherheit. Bei allen vier Bereichen waren hen sollte als dies vor der Reform der Fall die Leistungen nach der Reform schlechter war. Solange dieses Reformverständnis als vor der Reform.3 Das ist nicht wirklich dominierte, wurde der politische Konfl ikt neu oder überraschend. Überraschend ist um Reformen, d.h. um eine liberale (siehe vielmehr, dass trotz dieser bekannten Er- Strafrechtsreform) oder eine chancenge- gebnisse weiterhin die Meinung besteht, rechte Gesellschaft (siehe Bildungsreform), dass mit Reformen die Lage besser werden überwiegend zwischen progressiven Kräf- würde oder dass nach wie vor der Slogan ten einerseits und konservativen, insbe- „der Staat ist ein schlechter Unternehmer“ sondere Hierarchien bewahrenden Kräften greifen kann. Warum? andererseits ausgetragen. Insbesondere seit den 1990er Jahren jedoch sind Flos- Zustimmungsmechanismen zu keln wie Reformstau zwar zum Inbegriff Sachzwanglogik und Reformpolitik für verkrustete Strukturen geworden, sie Welche machtpolitischen Mechanismen bedeuten aber oft Angriff e gegen Gleich- kommen bei der freiwilligen Zustimmung heit und Solidarität. Und doch bekennen und Konsensherstellung zu den für viele sich nahezu alle etablierten politischen Menschen nachteiligen Ergebnissen der Kräfte von links bis rechts zur Reformnot- Sachzwang- und Reformpolitik zur Anwen- wendigkeit. Ja, Reform per se, ohne die dung? Ich möchte zur Beantwortung die- eingelassenen Inhalte zu kommunizieren, ser Frage Argumentationsfi guren im politi- ist zur Vision geworden. Und fast alle poli- schen Prozess sowie Aspekte, die politische tischen Kräfte können sich dabei verlassen, Inhalte wie weniger Staat, niedrigere Steu- dass die Menschen mehrheitlich an „die“ ern und Preise betreff en, diskutieren. Reform glauben. Sozialpolitikabbau wird kommuniziert Globalisierung ist der kommunizierte als eine Agenda der Alternativen- und Sachzwang, der Deregulierung und Ab- folglich der Interessens- und Kompromiss- bau des öff entlichen Sektors bedingt. Um losigkeit. Das Selbstverständnis der refor- hier kein Missverständnis aufkommen zu morientierten Kräfte ist nicht jenes, nicht lassen: Globalisierung fi ndet statt, aber es verhandeln zu wollen – dies gilt als unde- darf infrage gestellt werden, ob damit tat- mokratisch -, sondern es wird die fehlende 9 effi ziente (wirtschaftliche) Alternativlosig- wird, dann braucht es Diskussionen über keit angerufen. AkteurInnen, die dieser Ar- die Bedeutsamkeit öff entlicher Leistungen, gumentationslogik nicht zustimmen, wird nicht zuletzt im Hinblick auf gesellschaftli- vorgeworfen, nicht im Sinne des Allge- che Stabilität und Solidarität. meinwohls zu agieren, sondern unberech- tigte Eigeninteressen oder gar Privilegien Niedrigere Steuern: Die Kehrseite der zu verteidigen. Sozialpolitik wird auf diese Reform des Sozialstaates sind Versprechen Weise dem politischen Prozess als Ausein- nach Steuersenkungen bzw. nach Senkung andersetzung unterschiedlicher Interessen der Staatsquoten. Warum greifen diese Ver- entzogen. sprechen? Eine Erklärung ist, dass subjek- Eine weitere Argumentationsfi gur der tiv viele Menschen glauben, dass es ihnen Sachzwang- und Reformrhetorik ist der besser geht als es objektiv der Fall ist. Men- Hinweis auf Professionalisierung der Sozi- schen schätzen sich eher als reich denn als alpolitikagenda. Dieses Moment trägt in arm ein. Und weil viele dieser Meinung sind, bestimmten Zusammenhängen ebenfalls glauben viele, dass sie zu viel an Steuern zur Entleerung von Politik bei, nämlich zahlen bzw. dass sie von der Reduktion von dann, wenn der Verweis auf Professionali- Höchststeuersätzen profi tieren würden. sierung zunehmend dazu dient, geregelte Dies ist eine Erklärung, weshalb Steuersen- Mitbestimmung zu ersetzen. Denn Partizi- kungsrhetorik und fl at-tax-Überlegungen pations- und Mitbestimmungsrechte sind auf fruchtbaren Boden fallen. Eine andere originäre Instrumente einer pluralistischen Erklärung ist, dass zu wenig kommuniziert Entscheidungsfi ndung. Mit dem Argument wird, was Steuern fi nanzieren, welche öf- der Professionalisierung anstelle der Inte- fentlichen Leistungen, die allen, und somit ressens- und Statussicherung wird somit auch jenen, die die Steuern zahlen, zugute ebenfalls eine Politik des Kompromisses kommen. und des Ausgleichs geschwächt. Was bekommen die Menschen bzw. was Niedrige Preise für Güter und Dienst- glauben Sie zu bekommen, wenn Sie der leistungen: Erinnern wir uns nochmals Sachzwangs- und Reformrhetorik die Zu- an die Arbeitsleistung und an die Kosten, stimmung geben? Exemplarisch werden die für die indische Nachhilfelehrerin zu hier drei „Leistungen“ dieser ideologischen bezahlen sind; oder denken wir an Billig- Praxis skizziert: Weniger Staat, niedrigere fl üge, die gebucht werden ohne etwaige Steuern, niedrigere Preise. arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Absicherungen der Beschäftigten als Weniger Staat: Reformmaßnahmen ge- Entscheidungshilfe heran zu ziehen. Nied- winnen dadurch an Zustimmung, weil sie rige Preise sind ein Argument, weshalb als weniger Verwaltung bzw. Entbürokra- sinkende Löhne und reduzierte soziale Ab- tisierung sowie als ein Mehr an Manage- sicherung nicht als gravierendes Problem mentüberlegungen kommuniziert werden. erachtet werden. Mit anderen Worten: „Weniger Staat“ hingegen wird nicht als WählerInnen scheinen in ihrem politischen Rückbau von sozialer Sicherheit und Chan- Verhalten in erster Linie KonsumentInnen cengleichheit, als Rückbau des Leistungs- zu sein und nicht Beschäftigte oder Per- staates, der zum Phänomen „öff entlicher sonen, die soziale Absicherung brauchen Armut“ führen kann, kommuniziert. (Eine und sie nicht mehr haben werden. politisch-mediale Diskussion konnte kurz- fristig nach dem Hurrikan in New Orleans Politische Alternativen? beobachtet werden, als der Umgang mit Im Zuge von Globalisierung und Euro- der Katastrophe selbst zum Desaster wur- päisierung wächst bei „uns“ – aber auch de und dies u.a. als Ergebnis der Armut jenseits der Grenzen - der Anteil von Men- des Staates kritisiert wurde – der schwa- schen, die unter verstärkten Druck geraten. che Staat, der nicht einmal mehr seine ur- Es erodiert das soziale Netz, die „Armen eigenste Aufgabe, nämlich für Recht und werden mehr und die Reichen werden rei- Ordnung zu sorgen, erfüllen konnte.) Was cher“. Gleichzeitig ist Teil der Globalisierung im Zusammenhang mit staatlichen Aufga- nicht nur die Abwanderung von Jobs im ben und Funktionen aber auch in vielen eu- Produktions- und Dienstleistungsbereich ropäischen Staaten bzw. in Österreich fehlt, sowie ein Verlust an Steuern, sondern auch ist die politische Auseinandersetzung über die Zuwanderung von Menschen. Was sind die Bedeutsamkeit öff entlicher Dienstleis- politische Spielräume und Instrumente, tungen bzw. über die Konsequenzen darü- um die aktuellen Entwicklungen im Span- ber, wenn sozialstaatliche Leistungen nicht nungsfeld zwischen Konkurrenzfähigkeit mehr öff entlich für alle Menschen erbracht und sozialer Sicherheit bzw. öff entlicher werden und zugänglich sind. Mit anderen Leistung politisch zu gestalten? Was sind Worten: Wenn „weniger Staat“ nicht als Antworten auf den Rückbau sozialer Rech- unhinterfragbarer Mainstream akzeptiert te und Einkommen „hier“ und besseren

10 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats Bedingungen als „zuhause“ für Zugewan- Persönliche Schlussbemerkungen: derte? Was heißt Weltinnenpolitik wenn Ich habe den Eindruck, dass nicht zuletzt nicht nur die Bedürfnisse der Menschen angesichts verheerender Folgen von öffentli- im relativ reichen Westen, sondern auch in cher Armut – ausgelöst durch Steuersenkung anderen Gebieten zu Interessen werden? und fortschreitende Privatisierung – wir Es gibt in politischer Hinsicht keine Alter- vielleicht bereits an einem Wendepunkt an- native zu Globalisierung und Europäisie- gelangt sind was den Glauben an die auch rung an sich, sondern Globalisierung und in Europa bisher so viel beschworenen Re- Europäisierung brauchen den politischen formen betrifft; dass vielleicht der „Mythos Willen zur weltinnenpolitischen Gestal- Ende des Sozialstaates“ bereits dabei ist, tung. Die Transnationalisierung der Wirt- unglaubwürdig zu werden. Initiativen, die in schaft verlangt nach Transnationalisierung der Armutskonferenz gebündelt sind, haben der Politik, selbst wenn sie national und lo- dazu zweifelsohne bereits eine Menge beige- kal agiert oder sich zumindest so darstellt tragen. und sie so wahrgenommen wird. Folglich können wir abschließend drei Überlegun- 1 Für eine radikale, allerdings auch undiff erenzierte Ab- rechnung mit der Reformpolitik siehe Albrecht Müller, Die gen im Zusammenhang mit der Alternati- Reformlüge. München 2004 vensuche festhalten: 2 Margaret Thatcher in einem Interview in der Zeitschrift “Women’s Own, 31. Oktobre 1987. Zitiert nach Alan Scott/ Brigitte Scott (2003): Der britische Sozialstaat – ein Experi- Erstens, aus der Perspektive von Weltin- ment in “Self Governance”. In: Sieglinde Rosenberger/Em- nenpolitik oder auch von „Europa-Innen- merich Tálos (Hg.): Sozialstaat. Probleme, Herausforderun- politik“ brauchtbraucht eses imim HinblickHinblick aufauf dasdas gen, Perspektiven, Wien, 28-46. 3 Adrienne Héritier, Public-intererst services revisited, in: Berufsarbeiten verstärkt vereinheitlichte ar- Journal of European Policy 9:6, Dec. 2002, p. 915-1019. beitsrechtliche Standards. Diese Standards sind europäisch zu formulieren, wenn dies auch de facto von den RepräsentantInnen des Nationalstaates zu erfolgen hat, und sie müssen in allen Mitgliedstaaten gelten.

Zweitens, mit Blick auf Sozialpolitik braucht es eine Art bedarfsorientierter Grundsicherung. Über diese muss im De- tail gesprochen werden. An dieser Stelle ist lediglich festzuhalten, dass, wenn politisch und gesellschaftlich gedacht und gespro- chen wird, diese nur erfolgreich sein wird können, wenn parallel dazu eine mittel- schichtorientierte Politik der öff entlichen Dienstleistungen verfolgt wird. Wenn diese Anliegen der Mittelschichtpolitik in Bezug auf öff entliche Dienst- und Sachleistungen aus dem Blick geraten, dann bleibt fraglich wie politisch – und dazu gehört mit zu be- denken wie Zustimmung und Mehrheiten hergestellt werden - die Entwicklung des die „Armen werden mehr und die Reichen werden reicher“ gestoppt werden wird können.

11 1.2 Sozialstaatskritik - aus Gründen der Gerechtigkeit

Seit etwa 30 Jahren ist von bürgerlichen und wirt- Außerdem könne der Sozialstaat gerade schaftswissenschaftlichen Eliten ein Feldzug gegen den jene persönliche Zuwendung nicht leisten, die von den Benachteiligten gewünscht Sozialstaat, das Ensemble von Arbeitsschutzrechten, wird. Tarifverträgen, Betriebsverfassung, unternehmerischer Mitbestimmung, solidarischer Absicherung gesellschaft- Chancengleichheit llauteaute dderer nneueeue NNameame licher Risiken und Fürsorgerecht geführt worden. Die für Gerechtigkeit. Damit ist ein allgemeiner und gleicher Zugang vor allem zu Bildungs- KritikerInnen argumentieren in der Regel damit, dass der gütern aber auch zur Beteiligung an der Sozialstaat im Verhältnis zu den Leistungen, die er bietet, gesellschaftlichen Arbeit gemeint. Bildung zu teuer sei, dass er die globale Wettbewerbsfähigkeit sei der Hauptschlüssel gesellschaftlicher der Wirtschaft beeinträchtige, dass er angesichts der Integration, irgendeine Arbeit sei besser als keine und sozial sei, was Arbeit schaff t. So demografischen Entwicklung an Finanzierungsgrenzen klingen die politisch eingängigen Überset- stoße, dass er die Hilfebedürftigen entmündige und ihre zungen dieses normativen Grundsatzes. Eigeninitiative lähme, dass er bürokratisch verkrustet Mehr Ungleichheit widerspreche nicht und auf die Umverteilung materieller Güter fixiert sei. der Gerechtigkeit. Denn der Grundsatz der Gerechtigkeit dürfe nicht mit Gleichheit Ein schwerwiegendes Argument be- verwechselt werden. Wenn die individuel- steht darin, dass der Sozialstaat gegen len Bedürfnisse der Menschen, insbeson- den Grundsatz der Gerechtigkeit verstoße dere ihr Verlangen nach Freiheit stärker und damit zum Widerspruch seiner selbst berücksichtigt werden, sei es ein Gebot der geworden sei. Denn der Sozialstaat sei Gerechtigkeit, die unterschiedlichen Talen- um der sozialen Gerechtigkeit willen ein- te und Leistungen stärker anzuerkennen gerichtet worden, damit er die Schiefl age und zu fördern. Für die Wettbewerbsfähig- der Machtverhältnisse in kapitalistischen keit einer Wirtschaft komme es entschei- Marktwirtschaften ausgleiche. dend darauf an, dass die vorhandenen Ta- lente mobilisiert und der Leistungswille der Der Sozialstaat im Widerspruch Bevölkerung angeregt werde. Eine unglei- Friedhelm Hengsbach SJ, zu Gerechtigkeit? che Verteilung der Einkommen und Vermö- ist emeritierter Professor Um die Kritik am Sozialstaat argumen- gen sei folglich gerecht, weil sie persönlich für Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, er tativ abzusichern, dass er nämlich dem verdient und gesellschaftlich verdienstvoll leitet das Oswald-von- Grundsatz der Gerechtigkeit widerspreche, sei. Je gespreizter die Einkommens- und Nell-Breuning-Institut an wird der Begriff der Gerechtigkeit gemäß Vermögensverteilung, umso größer das der Philosophisch-Theo- logischen Hochschule St. dem leitenden Interesse anders akzentu- Leistungsniveau und Leistungspotential, Georgen in Frankfurt. iert, profi liert und schließlich umgedeutet. so dass am Ende für alle mehr zu verteilen wäre. Die Gerechtigkeit, die unterschiedli- 1. Gerechtigkeit als Sozialstaatskritik che Begabungen und Leistungen berück- Ein neuer Begriff von Gerechtigkeit, der sichtigt, heißt Leistungsgerechtigkeit. Und an die großen Herausforderungen des 21. die Steuerungsform der Leistungsgerech- Jahr hunderts, insbesondere die Globali- tigkeit ist der Markt. Wie die Demokratie sierung, den demografi schen Wandel und als politische Ordnung der Freiheit ange- die technische Revolution angepasst ist, sehen wird, so könne die Marktwirtschaft solle die herkömmlichen Vorstellungen als eine Ordnung der Freiheit gelten. Die von Gerechtigkeit ablösen, die den öko- primäre Verteilung der Einkommen und nomischen, politischen und technischen Vermögen am Markt gemäß dem Äqui- Umbrüchen off ensichtlich nicht mehr ge- valenzgrundsatz belohne Eigeninitiative wachsen sind. und Übernahme von Eigenverantwortung. Die Markt- oder Tauschgerechtigkeit habe Ein Abschied von der Verteilungsgerech- demnach Vorrang vor der Bedarfs- und tigkeit sei überfällig. Diese sei nämlich auf Verteilungsgerechtigkeit. Sie verdiene es, die Umverteilung materieller Güter oder stärker gewichtet zu werden. fi nanzieller Mittel sowie die Gleichheit der Ergebnisse fi xiert. Materielle Güter seien Eine zivile Gerechtigkeit müssemüsse denden StaatStaat nicht mehr in erster Linie gefragt. Die öf- von seiner Aufgabe entlasten, Grundrechts- fentlichen Haushalte seien überfordert, die ansprüche auf Lebensunterhalt, Erwerbs- sozialen Leistungsansprüche zu bedienen. arbeit, Gesundheits- und Bildungsgüter

12 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats einzulösen. Der Staat kann den extrem schaftliche Beziehungen oder wirtschaftli- Bedürftigen Hilfe leisten, jedoch nicht che Machtverhältnisse vorweg bestimmt. die gesellschaftlichen Risiken für alle er- schöpfend absichern. Der Staat darf nicht Der Gesichtspunkt der Tausch- und zivilgesellschaftliche und familiäre Formen Marktgerechtigkeit gemäß dem Grundsatz der Solidarität aushöhlen und verdrängen. strenger Äquivalenz ist dem Grundsatz Er ist auf seine Kernaufgaben zu reduzie- der Verteilungsgerechtigkeit nachgeord- ren. Als „aktivierender Staat“ gebe er den net. Denn bei jedem Tausch von Gütern zivilgesellschaftlichen Kräften Raum, sich wird unterstellt, dass die Marktpartner das selbst zu organisieren und die eigenen Ta- Recht haben, über die getauschten Güter lente zu entfalten. In privaten Krankenhäu- zu verfügen. Nun könnte eingewendet sern, Bildungseinrichtungen, freiwilligen werden, dass die rechtmäßige Verteilung Schenkungen, Patenschaften und Stiftun- vor dem aktuellen Tausch auf frühere Tau- gen verkörpere sich das zivilgesellschaftli- schakte zurück geht. Wird jedoch die Ket- che Engagement. te der Marktbeziehungen immer weiter zurück verfolgt, endet die Reihe bei einer Eine Generationengerechtigkeit werdewerde gerechten Ausgangsverteilung. Also liegt verletzt, seitdem sich die wirtschaftlich die Verteilungsgerechtigkeit der Tauschge- aktive Generation zu “Zechprellern an den rechtigkeit auch logisch voraus. Sie bleibt eigenen Kindern” entwickelt habe. Wie weiterhin die „Königin“ politischer Gerech- sehr der Generationenvertrag außer Kraft tigkeit. gesetzt sei, lasse sich an der demographi- schen Entwicklung sowie an der hohen of- Die Zivilgesellschaft taugt nicht dazu, fenen und verdeckten Staatsverschuldung das sozialpolitische Vakuum, das ein Wett- ablesen. bewerbstaat hinterlässt, zu füllen. Zivil- gesellschaftliche Initiativen bilden den 2. Kritik der Kritik Klassencharakter der Gesellschaft ab. Sie Die nachgezeichnete öff entliche Ausein- setzten sichere Arbeitsplätze, Einkommen andersetzung um einen neuen Begriff der und PartnerInnenbeziehungen voraus. Sie Gerechtigkeit, mit dem die Sozialstaats- orientieren sich milieuabhängig und inte- kritik gerechtfertigt werden soll, ist pole- ressenbezogen an sportlichen und kultu- misch aufgeladen. Die dabei verwende- rellen Vorlieben. Unternehmen als zivilge- ten Argumentationsfi guren lassen sich als sellschaftliche Akteure verfolgen zu Recht interessengeleitet und selektiv gesteuert in erster Linie betriebliche und wirtschaftli- enttarnen. che, also partikuläre Interessen.

Beispielsweise beziehen sich gesell- Der Begriff der Generationengerech- schaftliche Verteilungsregeln nie bloß auf tigkeit bleibt bezüglich der Begriff steile materielle Güter oder Güter überhaupt, sowohl der Generation als auch der Ge- sondern gemäß verschiedener gesellschaft- rechtigkeit ziemlich diff us. Die familiäre Ge- licher Sphären auch auf Lebenschancen, schlechterfolge von Urahne, Großmutter, Machtverhältnisse, soziale Anerkennung Mutter und Kind lässt sich nicht auf die mo- und wirtschaftliche Verfügungsrechte. Ver- derne Erwerbsarbeitsgesellschaft übertra- teilungsfragen bilden weiterhin den Kern gen. Und der Grundsatz der Gerechtigkeit der Gerechtigkeitsfrage. regelt bloß die Rechte und Pfl ichten real existierender Personen und Personengrup- Die Präferenz der Bildung angesichts der pen. In einer Erwerbsarbeitsgesellschaft Tatsache, dass höherwertige Bildungsab- spielt die biologische Zusammensetzung schlüsse noch längst nicht eine gleichrangi- der Bevölkerung gegenüber den Wachs- ge Beteiligung am Erwerbssystem gewähr- tumserwartungen, dem Beschäftigungs- leisten, klingt wie ein Alibi, solange die Tür grad und der Produktivität eine nachran- zu sinnvollen, gesellschaftlich anerkannten gige Rolle. Unabhängig vom Lebensalter und sicheren Arbeitsgelegenheiten selbst erarbeitet die Gruppe der Erwerbstätigen höher qualifi zierten Männern und Frauen ein Volkseinkommen, das dem eigenen versperrt bleibt. Lebensunterhalt wie auch dem der nicht Erwerbstätigen dient. Solange unterschiedliche Einkommen und Vermögen auf persönliche Talente und Eine Zwischenbilanz Anstrengungen zurückzuführen sind, ist es Das normative Kampfgetöse um den angemessen, sie als Verdienste anzuerken- Gerechtigkeitsbegriff mag den Eindruck nen. Aber off ensichtlich ist die tatsächliche erzeugen, als müsse der Gerechtigkeits- Verteilung der Einkommen und Vermögen begriff ähnlich wie das Rad neu erfunden viel stärker durch den sozialen Status der werden. Doch lassen sich aus der öff ent- Eltern, sexistische Rollenmuster, gesell- lichen Auseinandersetzung drei positive 13 Einsichten gewinnen: Eine verbindliche 2. Situationsbezug Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage wird in Normative Grundsätze sind keine Natur- modernen demokratischen Gesellschaften gesetze. Sie fallen nicht fertig vom Himmel, nicht anders als durch öff entlichen Streit „lassen sich nicht melken“. Sie werden kol- und gesellschaftliches Einverständnis ge- lektiv entworfen, situativ ausgelegt und funden. Normative Leitbilder werden im kreativ angewendet. Das gilt auch für die Quasi-Dialog mit den Herausforderungen Grundnorm jeder politischen Ordnung: die einer aktuellen gesellschaftlichen Situation Gerechtigkeit. Auf den Spuren der Gerech- gewonnen. Ob die normativen Antworten tigkeit bei Platon, Aristoteles, Thomas von in einer Anpassung an die Situation oder Aquin, in den Stürmen der französischen in einem innovativen Gegenentwurf beste- Revolution, in der Aufl ehnung der Arbei- hen, bleibt vor dem vorläufi gen Abschluss terbewegung sowie in der demokratischen eines solchen Quasi-Dialogs off en. Theorie der Gerechtigkeit als Fairness schält sich die Einsicht heraus, dass norma- 1. Gesellschaftliche Verständigung tive Grundsätze eine Antwort auf die ge- Der öff entliche Streit um eine angemes- sellschaftliche Situation, die das kollektive sene Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage Handeln herausfordert, enthalten. Die Gü- ist ein positives Kennzeichen demokrati- terverteilung in der antiken Stadt, die ge- scher Gesellschaften. Moderne Gesellschaf- ordnete Verfügung des/der ChristIn über ten zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf die verfügbaren Güter im Einklang mit der der Befreiung des Menschen von selbstver- göttlichen Weltordnung, die Empörung schuldeter Unmündigkeit gründen sowie der Bürger über die Freiheitsberaubung dem individuellen Subjekt und der auto- durch absolute Monarchen, der Protest not nomen Vernunft eine herausragende Stel- leidender Arbeiter gegen die Übermacht lung einräumen. Die Sphären der Wissen- kapitalistischer Unternehmer und schließ- schaft und Wirtschaft, des Rechts und der lich die Spannung zwischen gleichen Frei- Politik sind nicht mehr von einer einzigen, heitsrechten und berechtigten sozio-öko- allgemein verbindlichen Religion bzw. Mo- nomischen Ungleichheiten sind in jeweils ral zusammen gehalten. Galilei unterwarf unterschiedlichen gesellschaftlichen Situ- sein Wissen noch der päpstlichen Doktrin. ationen geschichtlich variante Antworten Kaiser Heinrich IV trat noch den Gang nach auf die Frage: Was ist gerecht? Canossa an, um im Amt zu bleiben. Und Kö- nig Heinrich IV. von Navarra war Paris noch Daraus folgt für die heutigen Herausfor- eine Messe wert. Der gleiche Glaube und derungen, dass moderne Gesellschaften, die gemeinsame Moral umklammerten die indem sie über normative Grundsätze, die Gesellschaft, orientierten das individuelle in ihnen gelten sollen, refl ektieren, sich Handeln, stifteten kollektive Identität und gleichzeitig über die gemeinsame Deutung verpfl ichteten alle auf das Gemeinwohl. der sozio-ökonomischen Situation zu ver- ständigen haben. Und in diesem doppel- Ein solcher Bezug auf inhaltlich vorge- ten Verständigungsprozess ist noch nicht gebene, einheitliche Wertmuster, dem all- entschieden, ob der Grundsatz der Gerech- gemein verbindliche Normen entnommen tigkeit im Sinn einer Anpassung oder eines werden, ist in modernen Gesellschaften Gegenentwurfs zu bestimmen ist. nicht mehr möglich. Es gibt keine/n außen- stehende/n BeobachterIn und neutrale/n 3. Anpassung oder Gegenentwurf SchiedsrichterIn, dem/der das Urteil über Derzeit bestimmen diff use Trenderklä- das, was gut und gerecht ist, überlassen rungen, die eine einzige oder ganz wenige werden kann. Es können auch nicht die technische, biologische und ökonomische Angehörigen einer Teilgruppe der Gesell- Variablen als unabhängig erklären, denen schaft die eigenen Vorstellungen des guten gesellschaftliche und politische Entschei- Lebens, die ihrer Gruppenidentität entspre- dungen hinterherhinken, die öff entliche chen, den Angehörigen anderer Gruppe Debatte. Gegen die Megatrends der Glo- verpfl ichtend vorschreiben. Vielmehr sind balisierung, der demografi schen Entwick- die Mitglieder moderner Gesellschaften lung und der technischen Veränderungen gehalten, sich über die gemeinsamen nor- geben sich die politischen Entscheidungs- mativen Überzeugungen zu verständigen - trägerInnen ohnmächtig. Zu den angeblich über das, was sie einander schulden, wenn notwendigen Anpassungen persönlicher sie sich als Gleiche achten. Dies geht in der Bedürfnisse und gesellschaftlicher Lebens- Regel nicht ohne ernsthafte Auseinander- weisen gebe es „keine Alternative“. Die setzungen, bevor diese in einen Kompro- Regierenden betonen, sie könnten keine miss einmünden. andere Politik. In Wirklichkeit geht es je- doch um einen abwägenden Quasi-Dialog zwischen situativer Herausforderung und normativer Option. Die Hauptströmung

14 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats des Flusses zu beobachten, zum unabweis- formaler Gleichheitsgrundsatz lautet: „Glei- baren Trend zu erklären, dem die normati- ches ist gleich, Ungleiches ist ungleich zu ven Grundsätze lediglich anzupassen sind, behandeln“. Verhältnismäßige Gleichheit ist ein Verzicht auf politische Gestaltungs- ist dann gewahrt, wenn die Verteilung von macht und kreativen Gestaltungswillen. Gütern und Rechten auf Personen und Wer zuerst das Wehr hochzieht, darf sich Personengruppen im Verhältnis zu dem anschließend nicht wundern, dass er in der erfolgt, was ihnen zusteht - beispielsweise Hauptströmung den Halt verliert. „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

Das Gute und Gerechte könnte auch darin Moralische Gleichheit besagt, dass jede bestehen, den angeblichen Mega-Trends Person einen moralischen Anspruch dar- die gesellschaftlichen Lebensweisen real auf hat, mit der gleichen Achtung und existierender Menschen gegenüber zu Rücksicht behandelt zu werden wie jede stellen, elementare vitale Bedürfnisse und andere. Jede menschliche Person ist von Lebenspläne junger Menschen, die ein ei- einem unparteilichen Standpunkt aus als genständiges Leben führen möchten - in autonomes Lebewesen zu respektieren gelingenden Partnerschaften und mit Kin- und als Gleiche, jedoch nicht gleich zu be- dern. Sie suchen einen Zeitwohlstand zu handeln. Die moralische Gleichheit ist die gewinnen in der souveränen Aufteilung Lebensgrundlage einer demokratischen ihrer Zeit auf Erwerbsarbeit und Privats- Gesellschaft und die Geschäftsgrundlage phäre. Sie wollen im Einklang mit der Natur einer darin eingebetteten sozialen Markt- und ihrer inneren Uhr, dem Rhythmus von wirtschaft. Tag und Nacht, Werktag und Feiertag sowie dem Wechsel der Jahreszeiten folgen. Sie Der moralische Gleichheitsanspruch wird sind daran interessiert, ihr Arbeitsvermö- übersetzt in ein Verfahren der Beweislast- gen in der Arbeit am Menschen zu kultivie- verteilung: Die moralischen Subjekte kön- ren und zu veredeln. Wenn solche Absich- nen als konkrete Personen unterschiedli- ten tatsächlich existierender Menschen in che wirtschaftliche und soziale Positionen den Mittelpunkt der Unternehmenspläne beanspruchen, die sie auf Grund eigener und politischen Entscheidungsregeln rü- Talente und Anstrengungen erworben cken, könnten der tatsächlichen Ungleich- haben. Aber solche Ungleichheiten unter- heit der Lebenschancen und der wachsen- schiedlicher Güterausstattung bedürfen den Selektionsdynamik des Marktes die einer rechtfertigenden Begründung, die normativen Gegenentwürfe der Gleichheit sich auf verteilungsrelevante Unterschiede und der Solidarität entgegen gehalten der Personen bezieht. Sonst gilt die Gleich- werden. heitsvermutung.

Gerechtigkeit - eine Vorvermutung Für den Grundsatz der realen, nicht bloß der Gleichheit formalen Chancengleichheit bedeutet Die Situation wachsender Ungleichheit dies, dass die Individuen ungeachtet ihrer der Einkommen und Vermögen, eine Polari- unterschiedlichen Talente und Motivatio- sierung von Lebenschancen sowie ein dro- nen nicht nur die gleichen Startchancen hender gesellschaftlicher Ausschluss von für den Lauf, sondern auch eff ektiv die Bevölkerungsgruppen, die in Armut und gleichen Lebensaussichten während des prekärem Wohlstand leben, werden seit Laufs erhalten. Folglich sind die natürli- einem Vierteljahrhundert in den europäi- chen Benachteiligungen und gesellschaft- schen Ländern registriert. Die wirtschaftli- lichen Diskriminierungen, die nicht auf chen und bürgerlichen Eliten neigen dazu, ihre individuelle Leistungsfähigkeit und den Grundsatz der Gerechtigkeit als auto- -bereitschaft zurückzuführen sind, also die matischen Refl ex auf solche Herausforde- Zufallsergebnisse der natürlichen und ge- rungen zu bestimmen. Die Alternative dazu sellschaftlichen Lotterie, gesellschaftlich besteht in der Formulierung eines innova- auszugleichen. tiven Gegenentwurfs von Gerechtigkeit als Vorvermutung der Gleichheit. Anstelle einer direkten und unmittelba- ren Ableitung gleicher Verteilung soll im 1. Präzisierung Folgenden ein Umweg beschritten wer- Der Grundsatz der Gleichheit erfordert den, indem aufgewiesen wird, wie sehr der eine Präzisierung. Gleichheit meint nicht Grundsatz moralischer Gleichheit und eine Identität, sondern die Übereinstimmung demokratische Auslegung gleicher Men- in einem Merkmal, während andere Merk- schenrechte sowie eine demokratische An- male verschieden sind. In welcher Hinsicht eignung kapitalistischer Marktwirtschaften sind Menschen gleich? Hinsichtlich ihrer miteinander korrespondieren. Eine solche musischen oder technischen Begabung Korrespondenz bietet gute Gründe, um bzw. ihrer regionalen Herkunft. Ein erster den Grundsatz der moralischen Gleichheit 15 in eine Anerkennung gleicher Menschen- nung, materiellen Wohlstand und persön- rechte und in eine Vorvermutung gleicher liche Identität vermittelt. Es ist das gleiche Verteilung von Grundgütern, Zugang- Recht auf sinnvolle Arbeit und ein sicheres schancen, Verfügungsrechten und Macht- Einkommen für alle, die arbeiten können positionen zu übersetzen. und wollen - gemäß dem Maßstab der Leis- tungsgerechtigkeit. Diese wird jedoch nicht 2. Demokratische Auslegung der material, sondern formal durch das Ergeb- Menschenrechte nis kollektiver Vereinbarungen bestimmt, Die Proklamation gleicher Menschen- die zwischen Verhandlungspartnern auf rechte hat eine geschichtliche Abfolge: gleicher Augenhöhe getroff en werden. zuerst wurden die individuellen und insti- tutionellen Abwehrrechte gegen mögliche 3. Demokratische Aneignung Übergriff e des Staates proklamiert, dann kapitalistischer Marktwirtschaften die wirtschaftlichen, sozialen und kultu- Menschenrechte und Kapitalismus gel- rellen Leistungsansprüche auf eine Grund- ten als ein Kontrast wie Feuer und Wasser. ausstattung von Gütern, die zu einem Geschichtlich war die Ausbreitung des Ka- menschenwürdigen Leben erforderlich pitalismus von der Proklamation der Men- sind, und schließlich die politischen Betei- schenrechte in den genannten drei Dimen- ligungsrechte, die den Status verantwortli- sionen begleitet. Der Kapitalismus wird cher Bürgerinnen und Bürgern markieren. einerseits als wirtschaftliches Funktionsge- rüst verstanden. Seine Komponenten sind Folgt man dagegen der logischen Rang- der marktwirtschaftliche Wettbewerb, ein folge, wie sie die Option für die Demokratie hoher Technikeinsatz aus vorweg geleiste- als Lebensform nahe legt, dann steht den ter Arbeit, eine elastische Geldversorgung politischen Beteiligungsrechten der erste und eine private Unternehmensorganisati- Rang zu. „Beteiligung“ als Name für Ge- on. Mehr noch ist der Kapitalismus ein ge- rechtigkeit meint das gleiche Recht einer sellschaftliches Machtverhältnis - mit einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, vierfachen Schiefl age wirtschaftlicher und sich an den Prozessen der gesellschaft- gesellschaftlicher Macht. Im Unterneh- lichen, wirtschaftlichen und politischen men besteht das Entscheidungsmonopol Meinungsbildung und Entscheidungsfi n- derer, die EigentümerInnen der Produk- dung aktiv zu beteiligen und darin selbst tionsmittel sind oder rechtmäßig darü- zu vertreten. Beteiligungsgerechtigkeit ist ber verfügen. Diese Schiefl age der Macht in einer polarisierten, gespaltenen Gesell- überträgt sich auf den Arbeitsmarkt, auf schaft eine Suchbewegung auf diejenigen die Verhandlungspositionen der Arbeit- hin, denen die Mitwirkung an politischen geberInnen und ArbeitnehmerInnen und Entscheidungen versagt ist, als eine Par- die Tarifverträge als Formen friedlicher teinahme zugunsten der Schwächeren am Konfl iktregelung. Auf den Gütermärkten Rand der Gesellschaft. treten die ProduzentInnen meist stärker organisiert und konzentriert auf als die in Um dieses Beteiligungsrecht zu sichern, der Regel atomisierten VerbraucherInnen. ist ein gleicher Mindestanteil am gesell- Und an der Nahtstelle zwischen der mo- schaftlichen Reichtum, das sozio-kultu- netären und realwirtschaftlichen Sphäre relle Existenzminimum einschließlich des verfügt das Bankensystem über jene Geld- Zugangs zu Bildungs- und Gesundheits- und Kreditschöpfungsmacht, mit der das gütern zu garantieren, und zwar unabhän- Produktionsniveau und die Richtung der gig davon, ob Menschen in der Lage oder Produktion vorweg entschieden wird. bereit sind, sich an der gesellschaftlich or- ganisierten Arbeit zu beteiligen. Denn der Die Funktionsregeln kapitalistischer Wert eines Menschen gründet nicht in sei- Marktwirtschaften sind immer von ge- ner Arbeitsleistung, sondern in seiner Wür- sellschaftlichen Vorentscheidungen be- de als Mensch. Das wirtschaftlich-soziale einfl usst - welche gesellschaftlich gleich Grundrecht verhindert den Ausschluss der notwendige und nützliche Arbeit der Markt- Menschen von denjenigen Gütern, die für steuerung überlassen wird und welche der eine Gesellschaft als unverzichtbar gelten - privaten Sphäre, ob gesellschaftlich gleich gemäß dem Grundsatz der Bedarfsgerech- notwendige und nützliche Arbeiten mehr tigkeit. oder weniger geschlechtsspezifi sch zuge- wiesen werden, wie unterschiedlich kom- An dieses Recht auf ein sozio-kulturel- fortabel gesellschaftlich gleich notwendige les Existenzminimums schließt das glei- und nützliche Arbeiten entlohnt werden, che Recht auf Beteiligung an der gesell- wie stark gespreizt der Wert einzelner Ar- schaftlich organisierten Arbeit an, auf die beitsleistungen in einem arbeitsteiligen Beteiligung an der Erwerbsarbeit, die auf Produktionsprozess festgelegt wird und absehbare Zeit gesellschaftliche Anerken- wie die Anteile gesellschaftlicher Vorleis-

16 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats tungen und individuellen Arbeitsleistun- Jene Ungleichheiten, die durch freiwil- gen beurteilt werden. In demokratischen lige Optionen von Individuen verursacht Gesellschaften gilt eine Erstvermutung wurden und als voraussehbare Resultate gleicher Verteilung. Die Ungleichheiten diesen zugeschrieben werden könnten, der Verteilung müssen sich durch Gründe stehen in demokratischen, funktional aus- rechtfertigen, die ausschließlich in persön- diff erenzierten Gesellschaften unter einem lichen Leistungen, etwa der Mobilisierung Schrankenvorbehalt individueller Verant- natürlicher Talente und besonderen An- wortung. strengungen, verankert sind. Zum einen ist nicht eindeutig zu ermit- Der Grundsatz der realen Chancengleich- teln, wie weit jeweils persönliche Verant- heit geht über den der formalen Chancen- wortung, natürliche Talente und besonde- gleichheit hinaus. Formale Chancengleich- re Anstrengungen oder gesellschaftliche heit ist gewahrt, wenn die Startlöcher auf Verhältnisse den Zugang zu Gesundheits- exakt derselben Linie angelegt werden, und Bildungsgütern oder die Kultivierung so dass Menschen ungeachtet ihres un- und Veredelung des Arbeitsvermögens terschiedlichen Leistungsvermögens vom blockiert haben. gleichen Startpunkt aus auf das Ziel los- laufen. Reale Chancengleichheit jedoch ist Zum andern sind trennscharfe Unter- erst dann gegeben, wenn die Individuen scheidungen zwischen natürlicher Benach- ungeachtet ihrer unterschiedlichen Talen- teiligung und gesellschaftlicher Diskrimi- te und Motivationen nicht nur die gleichen nierung sowie zwischen privaten Risiken, Startchancen für den Lauf, sondern auch die auf individuelles Fehlverhalten zurück- eff ektiv die gleichen Lebensmöglichkeiten gehen, und Risiken, die gesellschaftlich während des Laufens behalten. Und wenn bedingt sind, nicht ohne weiteres möglich. natürliche Benachteiligungen und gesell- Folglich ist eine demokratisch-gesellschaft- schaftliche Diskriminierungen fortlaufend liche Nachsicht gegenüber den Schwächen korrigiert werden. Beispielsweise garantie- individueller Verantwortung und der Fahr- ren die gleichen Chancen im Bildungssys- lässigkeit persönlicher Lebensstile vertret- tem noch längst nicht die Chancengleich- bar. heit im Beschäftigungssystem. Und gleiche Chancen des Zugangs zu Bildungsgütern Seit der neuzeitlichen Wende zum oder zur Erwerbsarbeit sind noch keine Ga- Subjekt und seit der Proklamation der rantie gesellschaftlicher Integration. Eine Menschenrechte ist der harte Kern einer ungleiche Verteilung von Einkommen und Bestimmung der Gerechtigkeit die morali- Vermögen ist nur selten ausschließlich das sche Gleichheit sowie das Verfahren inter- Resultat der Mobilisierung natürlicher Ta- subjektiver Verständigung über das, was lente und besonderer Anstrengungen. Sie gerecht ist. Ein kreativer Transfer dieses wäre es, wenn nicht eingespielte Konven- Grundsatzes lassen ein gleiches Recht auf tionen, Rollenmuster und wirtschaftliche aktive Beteiligung in der politischen Sphä- Macht einen viel stärkeren Einfl uss ausü- re und eine Erstvermutung gleicher Vertei- ben würden. Folglich sind die natürlichen lung in der ökonomischen Sphäre überzeu- Benachteiligungen und gesellschaftlichen gend erscheinen. Diskriminierungen, die nicht auf die Mobili- sierung natürlicher Talente und besondere Anstrengungen zurückzuführen sind, also die Zufallsergebnisse der natürlichen und gesellschaftlichen Lotterie, gesellschaftlich auszugleichen.

17 1.3 Wenn Demografi e zu Demagogie wird

Ob Rot-Grün, Schwarz-Gelb oder die Kommissionen von Älteren hat sich letztes Jahrhundert Hartz, Rürup und Herzog - in einem sind sich alle einig: ähnlich entwickelt, wie es für die nächs- ten 50 Jahre erwartet wird. Und das bei Deutschland vergreist und schrumpft, immer weniger massiv steigendem Wohlstand für alle, Beschäftigte müssen für immer mehr Rentner und Rent- für Junge, Mittelalte und Ältere. Hier die nerinnen aufkommen. Die demografische Entwicklung Fakten des Statistischen Bundesamtes: ist ein entscheidendes Argument für den Sozialabbau. 1900 bis 1950: - Anteil der über 65-jährigen steigert sich um 100 Prozent. Johann Hahlen, Präsident des Statisti- 1950 bis 2000: schen Bundesamtes, ist kein Wahrsager, - Anteil der über 65-jährigen steigert sondern ein, durch die Politik eingesetzter sich um 70 Prozent. Beamter. Trotzdem weissagte er für 2050 2000 bis 2050: große Not. Die Alterung der Gesellschaft - Anteil der über 65-jährigen steigert werfe gewaltige Probleme auf. Und diese sich um 77 Prozent (Prognose). Entwicklung sei „unausweichlich“ sagte Hahlen bei der Vorstellung der 10. Bevölke- Die Vergangenheit zeigt also, dass Alte- rungsvorausberechnung vor zwei Jahren. rung und Geburtenrückgang zu meistern Seitdem gilt der „Umbau“ von Arbeitslo- sind. Die Gründe werden im nächsten Ab- sen-, Kranken- und Rentenversicherung als schnitt dargestellt, denn sie werden bei „zwingend notwendig“ (SPD-Fraktionschef dem heutigen, angstbesetzten Blick in die Franz Müntefering), die Sozialsysteme wä- Zukunft meist ausgeblendet. ren sonst „nicht mehr bezahlbar“ (Bundes- kanzler Gerhard Schröder). Und Frau Merkel „Vergessene“ Faktoren bei der möchte das noch überbieten: „All das, was Zukunftsbetrachtung heute hier gesagt wurde, reicht bei wei- Angenommen, die Vorhersagen würden tem nicht aus, um die demographischen genau so eintreten, wie es vom Statisti- Veränderungen in unserer Gesellschaft zu schen Bundesamt ausgerechnet wurde. beschreiben.“, sagte sie angesichts der Vor- Selbst dann kann nur mit sehr verengtem stellung der Agenda 2010 im Bundestag. Blickwinkel eine Dramatik erkannt werden. Die aufgesetzten Scheuklappen müssen Der Münchner Soziologe Ulrich Beck, die Entwicklung der Vergangenheit aus- über diese Rhetorik „bestürzt“, erklärte am blenden und lassen für 2050 nur Sicht auf Gerd Bosbach 6. Mai 2004 in der WDR-Sendung Monitor: ein einziges Zahlenverhältnis: ist Professor an der Fach- „Ich habe den Eindruck, dass diese Art der Auf 100 Erwerbsfähige kommen heute hochschule in Remagen und lehrt Mathematik, Dramatisierung eigentlich eine Art Gedan- 44 über 60-Jährige und 2050 werden es 78 Statistik und empirische kenlosigkeit voraussetzt.“ sein. Das entspricht einer Zuwachsrate von Wirtschafts- und Sozial- Eine Gedankenlosigkeit, politisch ge- 77 Prozent! forschung. wollt, faktisch aber längst widerlegt. Dieser dramatische Blick ist sowohl eindimensional – nur ein Merkmal wird Blick in die Vergangenheit betrachtet – als auch statisch, da alle Ver- Dazu einige Fakten der Fachleute des änderungen der nächsten 45 Jahre völlig Statistischen Bundesamtes1 ausgeblendet werden. ™ Im letzten Jahrhundert stieg die Lebens- erwartung um 30 Jahre und sank der An- Was wird mit dieser teil der Kinder und Jugendlichen von 44 Blickweise übersehen? auf 21 Prozent bei gleichzeitigem massi- ™ Nicht nur die Versorgung der Älteren ven Ausbau der Sozialsysteme. durch die Erwerbsfähigen ist zu berück- ™ Für die nächsten 50 Jahre wird eine Zu- sichtigen. Auch Kinder und Jugendliche nahme der Lebenserwartung um nur müssen ernährt werden. Deshalb spie- noch 6 Jahre erwartet und wird nach den gelt erst der Gesamtquotient, sprich das Annahmen des Statistischen Bundesam- Verhältnis der Jungen und Alten zu den tes der Anteil der Kinder und Jugendli- Erwerbsfähigen, die finanzielle Belastung chen um 5 Prozentpunkte von 21 auf 16 richtig wieder. Während der Quotient Prozent sinken. Ältere zu Erwerbsfähigen bis 2050 um Wir haben also letztes Jahrhundert sehr dramatisch wirkende 77 Prozent steigt, viel mehr gemeistert, als in den nächsten klettert der realistischere Gesamtquo- 50 Jahren kommen wird. Warum ist die Ge- tient nur um 37 Prozent. Allein die Ein- sellschaft des 20. Jahrhunderts dann nicht beziehung dieser simplen statistischen völlig kollabiert? Weisheit halbiert schon das angeblich so ™ Auch der Anteil der zu versorgenden dramatische Zahlenverhältnis.

18 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats ™ Noch überraschender ist der nächste („Nullwachstum“ des Bruttoinlandspro- Trick der Dramatisierer: Bei ihren Be- duktes) jeder –egal ob jung oder alt– mehr rechnungen nehmen sie nämlich immer bekommen können. Diese einfache Divisi- an, dass das Renteneintrittsalter 2050 onsrechnung – gleicher Kuchen, aufgeteilt gleich dem Heutigen ist. Sie nehmen für auf weniger Leute - stimmt übrigens immer ihre Horrorzahlen also an, dass die Men- noch, wenn man einen festen Anteil des schen 2050 sechs Jahre länger leben, Bruttoinlandsproduktes nicht der Bevölke- dass dadurch die Erwerbsfähigen über- rung, sondern den Arbeitgebern zuordnet, fordert sind, es also Arbeitskräftemangel beispielsweise wie heute ca. 30 Prozent. gibt, aber keinen Tag länger gearbei- Dann können in Zukunft die restlichen 70 tet werden muss! Selbst der vorzeitige Prozent auf weniger Leute aufgeteilt wer- Ruhestand, wie heute oft erzwungen, den, also mehr für Jeden. Und es kann ja bleibt in ihren Zahlen genauso erhalten. eigentlich nur noch besser werden, da ein Berücksichtigt man, wie auch vom Sta- dauerhaftes „Nullwachstum“ der Wirtschaft tistischen Bundesamt berechnet, eine höchst unwahrscheinlich ist. Angleichung des heutigen tatsächlichen Renteneintrittsalters (ca. 60 Jahre) an das Apropos Bevölkerungszahlen: Das Statis- gesetzliche (65 Jahre) im Jahre 2050, so tische Bundesamt geht in seiner Hauptva- verliert die demografische Entwicklung riante von einem Rückgang von 82 auf 75 vollends jede Dramatik. Der Gesamtquo- Millionen Menschen in Deutschland aus. tient steigt nämlich nur noch um knapp Das sind weniger als 10 Prozent Abnahme in 4 Prozent! 50 Jahren, bei weitem also kein aussterben- ™ Würde es stimmen, dass 2050 die „we- des Land. Und auch die erwartete Anzahl nigen“ jungen Menschen mit der Ver- von 12.100.000 Kindern und Jugendlichen sorgung überfordert wären, so müsste ist keinesfalls ein Land ohne Kinderlächeln. die Arbeitslosigkeit stark sinken. Auch Vielleicht schaff t das bisschen mehr Platz dies rechnen die Dramatiker nicht ein. sogar positiven Gestaltungsraum. Zumin- Denn Arbeitslosigkeit macht das heuti- dest in den heute überwiegend hoff nungs- ge Verhältnis Versorger zu Versorgenden los überfüllten Hochschulen könnte die schlechter, die Entwicklung bis 2050 also Arbeit deutlich eff ektiver werden. wesentlich undramatischer. Und noch ein weiterer Fakt des Statisti- ™ Und ebenso wird die Steigerung der schen Bundesamtes ist in der öff entlichen Produktivität von Erwerbstätigen in der Diskussion bewusst oder unbewusst nicht Diskussion völlig übersehen. Der verant- angekommen: Das nennenswerte Anstei- wortliche Fakt für die Erfolge der Vergan- gen der RentnerInnenzahlen erfolgt frü- genheit soll in Zukunft keine Rolle mehr hestens 2025, wenn die geburtenstarken spielen! Dabei würde selbst eine gering- Jahrgänge von Anfang der 60’er Jahre des fügige Steigerung von 1,25 Prozent pro letzten Jahrhunderts in Rente gegangen Jahr (Herzog-Kommission) in 50 Jahren sind. Ist diese undramatische Entwicklung die Leistung jedes Erwerbstätigen um 86 der nächsten zwei Jahrzehnte der Grund, Prozent steigen lassen. Und davon könn- dass alle nur auf 2050 gucken und sich für ten Junge und Ältere gleichermaßen Zwischenwerte nicht interessieren? profitieren, einschränken müsste sich keiner. Und wer glaubt, es gäbe in Zu- Zur Sicherheit von kunft keinen Fortschritt mehr, übersieht Langfristprognosen nicht nur die vielen schon heute bekann- Bei der Demografi e-Diskussion wird wei- ten Trends, sondern hat eigentlich mit terhin so getan, als ob die Entwicklung der Zukunft bereits abgeschlossen. Au- bis 2050 schon fest vorprogrammiert ist, ßerdem ignoriert derjenige, dass ein auf es also keine Bewegungsspielräume mehr Wettbewerb basierendes Wirtschafts- gibt. Dass dem bei Weitem nicht so ist, system zwangsläufig Neues entwickeln zeigen nicht nur der Vergleich früherer Vo- muss, die Produktivität des Einzelnen raussagen mit der tatsächlichen Entwick- also steigert. lung, sondern auch ganz einfache Überle- gungen: Wie gezeigt gibt es viele positive Einfl uss- ™ Vorhersagen der Bevölkerungsentwick- faktoren, die in der öff entlichen Diskussion lung sind nichts anderes als Modellrech- komplett ausgeblendet werden. Dass diese nungen, die bekannte Trends fortschrei- Faktoren trotzdem wirken, zeigt auch eine ben. Strukturbrüche können sie nicht einfache gesamtwirtschaftliche Betrach- prognostizieren. Eine 50-Jahres-Progno- tung: se aus dem Jahr 1950 hätte weder den Pillenknick noch den Babyboom, weder Da die Bevölkerung in den nächsten Jahr- den Zustrom ausländischer Arbeitneh- zehnten sinken wird, würde selbst bei einer mer und osteuropäischer Aussiedler, nicht mehr wachsenden Volkswirtschaft noch den Trend zu Kleinfamilie und Sin- 19 gle-Dasein berücksichtigen können. Eine Unglaubwürdige PolitikerInnen Berechnung aus dem Jahre 1900 für das Die Demografi e-Keule wird von der Po- Jahr 1950 hätte sogar 2 Weltkriege über- litik immer dann besonders mächtig ge- sehen müssen. Nur heute wird anma- schwungen, wenn sie aktuelle Löcher im ßend behauptet, man könne trotz aller Sozialsystem stopfen muss. Aber weder möglichen Veränderungen so weit in die Praxisgebühr, erhöhte Zuzahlung zu Me- Zukunft genauestens vorausschauen. dikamenten noch Nullrunden bei aktuel- Dumme Frage: Würden Sie einer Vorher- len Renten sind wesentliche Beiträge zur sage Konrad Adenauers aus dem Jahre Meisterung des 21. Jahrhunderts. Statt- 1955 (!) für heute trauen? Wenn ja, lesen dessen sind sie ein Ausgleich für aktuelle Sie mal bei ihm nach. Wenn nein, warum Einnahmeausfälle durch Arbeitslosigkeit glauben Sie heute an die Vorhersage- und Abbau sozialversicherungspfl ichtiger kraft? Arbeitsplätze! ™ Zwei der wichtigsten Stellschrauben des Rechenmodells der Statistiker - die Kin- Vollends unglaubwürdig wirken Sprüche, derzahl pro Frau und die Zuwanderung wie „Wir machen Deutschland zukunfts- von Ausländern - sind von der Politik di- fest.“, wenn man einfach nachrechnet: Die rekt beeinflussbar. Beispielsweise durch Generation, die 2050 die „vielen Alten“ zu kinderfreundliche Familienpolitik. ernähren hat, lernt heute für diese Aufgabe, befi ndet sich jetzt in Schule, Lehre oder oft Dass Bevölkerungsprognosen unsicher leider auch auf der Straße beziehungswei- sind, wissen auch die Fachleute des Statis- se in wenig eff ektiven Versorgungseinrich- tischen Bundesamtes. Deshalb haben sie in tungen. Um die „vielen Alten“ später aber ihren Rechnungen im Jahre 2003 neun ver- ernähren zu können, bräuchte die Jugend schiedene Varianten durchgerechnet. Die heute eine hervorragende Ausbildung. Spannbreite der Ergebnisse für 2050 reicht Stattdessen: Ausfallende Schulstunden, von 67 bis 81 Millionen Menschen, beträgt marode Schulgebäude, überforderte und also 14 Millionen Personen. Von Sicherheit teilweise ausgebrannte LehrerInnen, Man- keine Spur! gel an Ausbildungsplätzen, dramatisch überfüllte Hochschulen und zur Kaschie- Zukünftige Entwicklung ist also nicht rung der Misere im Bildungsbereich ein determiniert, wie uns die Auguren der Be- paar medienwirksame Tropfen auf den hei- völkerungskatastrophe ständig einreden ßen Stein. wollen. Politiker und Unternehmer, die wirklich Angst vor der demografischen Entwick- lung haben, müssten im Bildungsbereich „klotzen und nicht kleckern“. Und das jetzt, sofort. Ansonsten haben wir schon vor 2050 wirklich riesige Probleme, das aber wegen der schlecht qualifizierten Erwerbstätigen!

1 Mehr Details siehe. u.a. Bingler/ Bosbach in Deutsche Rentenversicherung 11/12-2004, S. 725-749 (Hg.: Verband Deutscher Rentenversicherungsträge

20 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats n hat. 4000 euro schulde e... lötzlich 4000 s macht es gibt si familie, die p fragt: „ja, wa ie sozialhilfe an hat sie ge ine und es gibt d ieter, und m ie hätten ke im stromanb n es nicht, s Schulden be gt, sie wisse waren sie euro e haben gesa und trotzdem da?“ und si ater gesagt keine ihr denn ts!“ hat der v badeofen hat nutzen nich lektrischen en eräte, „wir be ber an den e ein stückch g schulden, a zu da, ihnen ie 4000 euro r nämlich da milie. d.h. da, d e badeofen wa , die ganze fa er elektrisch adeten sie da „unser gedacht, d eden abend b n sie gesagt, affen, denn j gleich!“ habe xus zu besch ist unser aus lu ete da. „das einzelne bad chts leisten… durch die jeder sich sonst ni d wie sie sich “, sie könnten fefamilie, un ausgleich die sozialhil ir sie wieder: : da haben w 1 ! isst. 5. es frisst trik fr ochen 200 es haus die elek iener festw trik d durch stheater, w elek e sich hrung volk ilie, di er“, urauff ü ilfefam dunkelziff sozialh en tobt die 2: die gla „drauß kathrin rög

21 1.4 Die Opfer als Verursacher? Ist Arbeitslosigkeit eine Folge des Sozialstaats?

Unter dem Druck von steigender Arbeitslosigkeit und Sozialstaates einen Abbau der Massenar- wachsenden Finanzierungsdefiziten in den öffentlichen beitslosigkeit einzuleiten. Abbau der Arbeitslosigkeit durch den Haushalten hat in Deutschland eine politische Strategie Abbau von Sozialleistungen? Hinter diesem die Oberhand gewonnen, die die Wirtschafts- und Ar- Ansatz steht ein bestimmtes Verständnis beitsmarktkrise durch massive Einschnitte in den Sozi- der Ursachen der Wirtschafts- und Arbeits- alstaat lösen will. marktkrise. Danach wird der Sozialstaat nicht nur als Opfer der Massenarbeitslosig- keit gesehen, die durch die Scherenwirkung Gestützt durch die Berichterstattung in von arbeitsmarktbedingten steigenden den Medien und den Mainstream der (wirt Ausgaben und zugleich sinkenden Beitrag- schafts)wissenschaftlichen Politikberatung seinnahmen die Finanzierungsgrundlagen hat sich eine Stimmung breit gemacht, der Sozialversicherungssysteme aushöhlt. die den Sozialstaat mit seinen Prinzipien Zugleich gilt der Sozialstaat in Folge sei- und Leistungen als nicht länger trag- und ner Konstruktionsprinzipien und Finan- fi nanzierbar erachtet und deshalb tiefe zierungsregelungen sowie der gewährten Einschnitte für erforderlich hält. Nach der Leistungsniveaus als eine eigenständige Devise „Je radikaler, um so besser“ über- Ursache für die Entstehung und Verfesti- schlagen sich die Forderungen und Vor- gung von Arbeitslosigkeit. Dieses von der schläge. Je radikaler die Forderungen und neoklassisch orientierten Wirtschaftswis- je provokanter die Tabubrüche, um so grö- senschaft vertretene Theorem einer „sozial- ßer die Wahrscheinlichkeit, als „reformori- staatsinduzierten“ Arbeitslosigkeit erweist entiert“ eingestuft zu werden. Dass dabei sich als zentrale Begründung für die Ab- sozialstaatliche Grundlagen und Prinzipi- bau-Politik. Im Wesentlichen können dabei en, die in Deutschland über lange Jahre zwei Argumentationslinien unterschieden im gesellschaftlichen Konsens vertreten werden: worden sind, über Bord geworfen werden, ™ Die Arbeitslosigkeit ist Folge der unzu- scheint nicht mehr zu stören. Neoliberale reichenden Bereitschaft der Arbeitslo- Positionen, das System der sozialen Siche- sen, Arbeit aufzunehmen, dies insbeson- rung durchgängig zu privatisieren, denen dere im Bereich unterer Einkommen. Die Gerhard Bäcker bislang eine Außenseiterrolle zukam, sind dringend erforderlichen Arbeitsplätze ist Professor für Soziologie mittlerweile bis ins Zentrum der Politik vor- für einfache, niedrig qualifizierte Tätig- und praxisorientierte Sozialwissenschaften an gedrungen. keiten könnten sich, so die These, nicht der Universität Duisburg, entwickeln. Die Einschnitte bei der so- Essen. Die Kritik gegenüber dieser Politik kon- zialen Unterstützung von Arbeitslosen zentriert sich in der Regel auf den Vorwurf, sollen insofern dazu beitragen, Arbeits- dass bei diesen Maßnahmen der Maßstab bereitschaft und Arbeitsanreize zu erhö- der „sozialen Ausgewogenheit“ verletzt hen und den Weg für den Ausbau von werde und die schwächsten Gruppen der Beschäftigung im Niedriglohnsektor frei Gesellschaft die Folgen der Finanzierungs- machen. krise zu tragen haben, während auf der ™ Die Arbeitslosigkeit wird als Folge zu ho- anderen Seite die Unternehmen und die her Arbeitskosten und vor allem zu ho- Einkommensstarken noch begünstigt wür- her Lohnnebenkosten interpretiert. Die den. Diese Einschätzung, dass die Politik Leistungskürzungen, -ausgrenzungen gegen die Kriterien sozialer Gerechtigkeit und -umfinanzierungen in der Sozialver- verstößt, ist sicherlich gerechtfertigt. Der sicherung sollen insofern die Arbeitge- neue sozialpolitische Kurs wäre aber falsch berbeiträge und die Lohnnebenkosten verstanden, wenn sich die Betrachtung auf senken und über diesen Weg zur Schaf- die Fragen der Verteilungsgerechtigkeit fung von Arbeitsplätzen beitragen. beschränken würde. Hinter der Politik steht eine spezifi sche Die erste Argumentationslinie war und ist Orientierung in der Wirtschafts- und Ar- für die neue Arbeitsmarktpolitik nach Hartz beitsmarktpolitik: Über den schmerzlichen IV charakteristisch. Die Bezugsdauer der Weg von Sozialleistungskürzungen – so der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld Ansatz - sollen die Rahmenbedingungen wurde im Wesentlichen auf 12 Monate be- für mehr Wachstum und mehr Beschäfti- grenzt; zugleich ist die bisherige Arbeitslo- gung verbessert werden. Im Mittelpunkt senhilfe in eine Leistung „Arbeitslosengeld steht also das Ziel, durch den „Umbau“ des II“ überführt worden (die aufgrund ihrer

22 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats weitgehenden Anpassung an die Regulari- Sind die Arbeitsmarktregionen im Süden en der Sozialhilfe treff ender als „Sozialhilfe Deutschlands deswegen begünstigt (mit II“ bezeichnet werden sollte). Nach 12 Mo- Arbeitslosenquoten von 5,1% in Göppin- naten Arbeitslosigkeit müssen Arbeitslose gen oder 5,2% in Ludwigsburg), weil die mit gravierenden Einkommenseinbußen Menschen hier eine höhere Arbeitsbereit- rechnen. Verantwortlich dafür ist u. a., dass schaft aufweisen? Es bleibt die schlichte das neue Arbeitslosengeld II Erkenntnis, dass durch einen größeren An- ™ nahezu alle Einkommen anrechnet, reiz oder Druck, Arbeit aufzunehmen, nicht ™ in die Einkommensanrechnung auch das plötzlich neue Arbeitsplätze entstehen. Einkommen des/der (Ehe)PartnerIn voll einbezieht, Auch empirisch lässt sich die Annahme, ™ einen vollen Rückgriff auf verwertbare arbeitslose EmpfängerInnen von Sozialhil- Vermögensbestände (Gebrauchs-, Geld- fe und/oder Arbeitslosenhilfe würden für und Grundvermögen) des/der Arbeitslo- längere Zeit im Leistungsbezug bleiben, da sen und seines/ihres (Ehe)Partners ober- sich Arbeit nicht „lohnt“, nicht bestätigen. halb von Freibeträgen vornimmt. Die Befunde der Armutsforschung zeigen, ™ den Leistungssatz sehr niedrig ansetzt dass der Grundsicherungsbezug gerade (345 Euro im Monat für Haushaltsvor- bei den Arbeitslosen keine Dauererschei- stand zuzüglich Warmmiete). nung ist. Die Betroff enen versuchen, den Im Ergebnis wird also der materielle Zustand der Arbeitslosigkeit und Hilfebe- Druck auf Langzeitarbeitslose, unter allen dürftigkeit aktiv zu verändern. Qualitative Umständen Arbeit aufzunehmen, deutlich Studien kommen zu dem Ergebnis, dass verstärkt. Hinzu kommen erhöhte admi- sich die Menschen bei der Aufnahme von nistrative Anforderungen in dem neuen Erwerbsarbeit eben nicht vorrangig an mo- Leistungssystem. Beim Arbeitslosengeld II netären Nutzen-Kosten-Kalkülen orientie- ist im Grundsatz nämlich jedwede Arbeit ren. Die Anreizstrukturen und das tatsächli- zumutbar - auch niedrigstentlohnte, un- che Verhalten der Menschen können nicht tertarifl ich bezahlte Arbeit, auch Mini-Jobs gleichgesetzt werden, da andere Faktoren sowie die Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit und Beweggründe für die Bereitschaft zur bzw. der Arbeitsgelegenheiten. Erwerbstätigkeit viel entscheidender sind.

Was aber soll durch einen steigenden Die These von der „Arbeitslosigkeits- und Druck auf die Arbeitslosen erreicht wer- Armutsfalle“ setzt mit ihrer Annahme, we- den? Alle Arbeitsmarktanalysen verweisen gen der Doppelwirkung von fehlendem darauf, dass das Kernproblem der Lage auf Lohnabstand einerseits und nahezu voll- dem Arbeitsmarkt in der Diskrepanz zwi- ständiger Einkommensanrechnung ande- schen den vorhandenen Arbeitsplätzen rerseits seien die HilfeempfängerInnen gar und dem hohen Potenzial an Menschen, nicht daran interessiert, Arbeitslosigkeit die einen Arbeitsplatz suchen, liegt. Die Ar- und Leistungsbezug durch die Aufnahme beitsuchenden kommen deswegen nicht von niedrig entlohnter Arbeit bzw. Teil- in Arbeit, da die Zahl der angebotenen zeitarbeit zu überwinden, auf der Seite des Arbeitsplätze in der gesamten Breite des Arbeitsangebots an. Wären also die An- Arbeitsmarktes zu gering ist: Auch off ene, reize nur groß genug, komme es zu einer d.h. unbesetzte Stellen im Niedriglohnbe- Beschäftigung der Betroff enen und einem reich, deren Bezahlung sich nach den un- dementsprechenden Abbau der (Lang- teren Tarifgruppen richtet, gibt es in nen- zeit) Arbeitslosigkeit. Hinter dieser Argu- nenswerter Zahl nicht. mentationsfi gur steht die neoklassische, mikroökonomische Entscheidungstheorie: Einen treff enden Beleg für den Tatbe- sie konstruiert beim Arbeitsangebot ein stand, dass Arbeitslosigkeit Folge eines Ar- nutzenmaximierendes Individuum, das sei- beitsmarktungleichgewichtes ist und nicht ne Wahlentscheidung, einen Arbeitsplatz als Problem fehlender Arbeitsanreize oder anzunehmen oder aber stattdessen den unzureichender Sanktionsinstrumente um- Vorzug von Freizeit zu genießen, nach dem gedeutet werden kann, fi ndet man, wenn ökonomischen Rationalkalkül ausrichtet In die Arbeitslosigkeit regional aufgeschlüs- die plakative Formel gepackt: „Findet jede/r, selt wird. Sind Arbeitsmotivation und Ar- der/die arbeiten will, auch eine Arbeit?“ beitsanreize in jenen Regionen gering, die durch hohe Arbeitslosenquoten gekenn- Wenn man sich mit dieser populären, weil zeichnet sind? Soll etwa das Verhalten der auf den ersten Blick eingängigen Denkfi - Menschen im Ruhrgebiet oder in den neu- gur befasst, ist auch darauf zu verweisen, en Ländern für die dort hohe Arbeitslosig- dass es den betroff enen Leistungsempfän- keit (mit Arbeitslosenquoten (April 2005) gerInnen nach der Rechtslage keineswegs von 15,5% in Gelsenkirchen und 24,8% in freigestellt ist, darüber zu entscheiden, Neubrandenburg) verantwortlich sein? ob und in welchem Umfang (vollzeitig, 23 teilzeitig) sie ihren Lebensunterhalt durch Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit den Einsatz ihrer Arbeitskraft decken wol- aktiv zu verändern. Der Sozialhilfebezug len oder nicht. Durch die Bestimmung im wird als stigmatisierend empfunden, die SGB II, dass Hilfesuchende auf jeden Fall Betroffenen sind von sich aus bemüht, die eigene Arbeitskraft zur Bestreitung des einen Arbeitsplatz zu finden Lebensunterhalts einsetzen müssen und ™ Unstreitig nimmt die Zahl jener Langzeit- jedwede Arbeit oder Arbeitsgelegenhei- arbeitslosen zu, die als „Schwervermittel- ten ist festgelegt, dass keine Wahlfreiheit bare“ besondere Schwierigkeiten haben, zwischen der Einkommenserzielung durch auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu Erwerbsarbeit und dem Leistungsbezug fassen und in den Dauerbezug von Sozi- besteht. Erschwerend kommt die Sankti- al- und Arbeitslosenhilfe hineinwachsen. onsnorm hinzu, dass nämlich bei der Wei- Die Gründe für die Schwierigkeiten einer gerung, solche Arbeiten und Arbeitsgele- beruflichen Reintegration dieses Perso- genheiten anzunehmen, der Anspruch auf nenkreises liegen in einem mehrstufi- Hilfe entfällt. gen Selektionsprozess beim Weg in die Arbeitslosigkeit, durch die Arbeitslosig- Wichtiger aber noch als diese rechtliche keit und aus der Arbeitslosigkeit, durch Würdigung sind die Erkenntnisse aus der den eine Risikokonzentration bei Perso- Praxis und den vorliegenden empirischen nengruppen mit tatsächlichen oder an- Befunden, die allesamt die Annahme wider- geblichen Beeinträchtigung stattfindet. legen, fehlende fi nanzielle Anreize seien das Häufig liegen bei Langzeitarbeitslosen Haupthindernis für die betroff enen Hilfe- gesundheitliche und psycho-soziale Be- empfängerInnen eine Arbeit aufzunehmen: einträchtigungen vor; dabei ist allerdings ™ Wenn dies zuträfe, dann müssten gera- zu bedenken, dass die fortdauernde Ar- de jene Haushaltstypen, bei denen der beitslosigkeit selbst zum Auftreten bzw. Lohnabstand gering ist und bei denen zur Verstärkung derartiger Probleme zugleich Arbeitseinkommen in einem beiträgt. Gefordert sind hier umfassende hohen Maße angerechnet wird (implizi- Beratung, gezielte Qualifizierungs- und ter Grenzsteuersatz bis zu 100 vH), das Eingliederungsmaßnahmen sowie psy- sind Haushalte von Ehepaaren mit 2 und cho-soziale Betreuung, demgegenüber mehr Kindern, überproportional häufig kommt monetären Anreizen zur Arbeits- Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezie- aufnahme eine nur nachrangige Bedeu- hen. Genau das Gegenteil ist aber der tung zu. Fall: Unter den erwerbsfähigen Empfän- ™ Wie schließlich die Erfahrungen in vie- gerInnen nach dem SGB II sind Alleinle- len Kommunen belegen, ist die Zahl der bende, Ehepaare und Familien mit einem InteressentInnen an Arbeitsgelegenhei- Kind, bei denen das Problem wenig rele- ten (1-Euro-Jobs) sehr viel größer als die vant ist, besonders stark vertreten, wäh- der angebotenen Arbeitsplätze, selbst renddessen größere Haushalte mit 2 und wenn es sich um ungeschützte Beschäf- mehr Kindern nur einen kleinen Teil aller tigungsangebote handelt. Wie sich aus Bedarfsgemeinschaften ausmachen. empirischen Befunden ergibt, hat das ™ Zu erklären wäre zudem die zeitliche Ent- Entgelt einen deutlich geringeren Mo- wicklung der Arbeitslosigkeit: Der konti- tivationscharakter für die Betroffenen nuierliche Anstieg des Arbeitslosigkeits- selbst, als dies allgemein vermutet wird. niveau in den letzten Jahren ließe sich Wichtig für die Akzeptanz einer Tätigkeit nur dann mit fehlenden Anreizwirkun- sind die Arbeitsbedingungen“ (IW 1996: gen begründen, wenn das (Nettoäqui- 340). Das in ökonomischen Theorien valenz) Einkommen der Haushalte von unterstellte eindimensionale Modell, Arbeitslosen sich im Verlauf der letzten wonach das Arbeitsangebot nur von ei- Jahre günstiger entwickelt hätte als das nem Faktor, nämlich von der Höhe des Einkommen von Erwerbstätigenhaushal- Entgelts abhänge bzw. von der Höhe des ten. Auch hier trifft genau das Gegenteil Abstands zwischen Grundsicherung und zu. Arbeitseinkommen findet daher in die- ™ Auch die für die These der „Arbeitslo- ser wie auch in anderen Studien für die sigkeitsfalle“ maßgebende Annahme, Bundesrepublik keine Bestätigung. Viel- arbeitslose LeistungsempfängerInnen mehr handelt es sich um ein komplexes würden sich für längere Zeit in der So- Bündel von Faktoren, die aus der Sicht zialhilfe „einrichten“, lässt sich empirisch der Betroffenen einen Arbeitsplatz mehr nicht bestätigen. Die Befunde der dyna- oder weniger akzeptabel erscheinen las- mischen Armutsforschung zeigen, dass sen. Besondere Bedeutung scheint der der Grundsicherungs- bzw. Sozialhilfe- Tatsache zuzukommen, überhaupt wie- bezug gerade bei den Arbeitslosen keine der einen Einstieg in Erwerbsarbeit fin- Dauererscheinung ist. Die Betroffenen den zu können, die dauerhafte Beschäf- versuchen vielmehr, den Zustand der tigungsperspektiven eröffnet.

24 1 Wir können uns das nicht mehr leisten! Ë Mythos: Ende des Sozialstaats Diese Hinweis mögen genügen, um dar- Dass es unzureichend ist, eine höhere Be- zulegen, dass die These, Arbeitslosigkeit schäftigung allein durch Vergrößerung des sei Folge eines Motivationsproblems, nicht Angebotsdrucks auf dem Arbeitsmarkt zu haltbar ist. Ein solcher Ansatz kann allen- erreichen, wird nun auch von der neoklas- falls eine friktionelle Sucharbeitslosigkeit sischen Arbeitsmarkttheorie so gesehen. erklären, nicht jedoch ein gesamtwirt- Allerdings kommen nicht makroökonomi- schaftliches Arbeitsmarktungleichgewicht sche Zusammenhänge zwischen Wachs- mit einer massiven Diskrepanz zwischen tum, Investitionen, Produktivität, Gesamt- off enen Stellen und Arbeitsuchenden. Das nachfrage, Erwerbspersonenpotenzial und gegenwärtige Arbeitsmarktproblem be- Arbeitszeit ins Blickfeld. Nach dem Theo- steht eben gerade nicht darin, dass off ene rem der „markträumenden Löhne“ sind es Stellen (Teilzeit- oder Vollzeit) unbesetzt die überhöhten Löhne, die den Ausgleich blieben. Vielmehr fehlen Arbeitsplätze in auf dem Arbeitsmarkt verhindern. der gesamten Breite des Arbeitsmarktes, also auch im Niedrigeinkommensbereich, „Arbeit in Deutschland ist zu teuer“, heißt in dem es sich aus Sicht der „Fallentheoreti- es plakativ. Deswegen muss es parallel ker“ für einen Vier-Personen-Haushalt nicht zum steigenden Arbeitsangebot zu sinken- „lohnt“, Arbeit aufzunehmen. Es bleibt die den Arbeitskosten kommen, so dass auch schlichte Erkenntnis, dass durch einen grö- die Arbeitsnachfrage reagiert und dafür ßeren Anreiz oder Druck, Arbeit aufzuneh- sorgt, dass neue Niedriglohnarbeitsplätze men, nicht plötzlich neue Arbeitsplätze entstehen. Das aber - so die Konsequenz entstehen. - setzt nicht nur voraus, dass die niedrigen Lohn- und Gehaltsgruppen deutlich nach unten abgesenkt und die Barrieren der bis- herigen tarifl ichen Mindestlöhne wegge- räumt werden, sondern dass zugleich die Bindungswirkung von Tarifverträgen im unteren Beschäftigungssegment aufgelöst wird. Oder aber die Gewerkschaften müs- sen sich bereit zeigen, auch nicht existenz- sichernde Niedrigstentgelte (gemeint sind Stundenlöhne und nicht Teilzeiteinkom- men bei unveränderten Stundenlöhnen) zu tarifi eren.

25 2 Hauptsache Arbeit?

Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit 2.1 Hauptsache Arbeit? Soziale Sicherheit und „das Ganze der Arbeit“ - Mythen, Wirklichkeiten, Perspektiven -

Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit (in Produktionsprozessen von Waren für den Markt), Er- werbsarbeit durch Wachstum – dieser Argumentationskette wird (trotz Kritik und verschiedener Einwände) seit Adam Smith, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts also, d.h. seit der „Geburt“ der Wirtschaftswissenschaft als eigenständiger Disziplin Glauben geschenkt. Das gilt, ergänzt um sozialstaatliche Leistungen für diejenigen, die aus der Erwerbsarbeit herausfallen, bis heute. U.a. über diese Argumentation wird auch die neo-liberale Globalisierung legitimiert, Globalisierung über möglichst autonome Märkte (vgl. Wiss. Beirat von Attac 2005, Stichworte: Neoliberalismus, Globalisierung). Sozialstaaliche Leistungen gelten da als Hindernis.

Dies war und ist ein Mythos I. Alte Mythen Nicht nur, weil von Anbeginn der kapita- Mythos 1: Arbeit ist nur Erwerbsarbeit. listischen industriellen Ökonomie Arbeiten- Nur diese ist produktiv, wertschöpfend. de immer wieder entlassen und damit von Wirklichkeit: Arbeit ist vielfältig: es gibt der Grundlage der versprochenen sozialen Sorge-Arbeit, Erwerbsarbeit, bürgerschaft- Sicherheit getrennt wurden. Sondern auch liches Engagement, Eigenarbeit. Alle Arbei- und vor allem, weil in der Bestimmung von ten sind produktiv und tragen, gemeinsam Arbeit als das, was der Natur Wert zusetzt mit der Produktivität der ökologischen Na- (John Locke), und in der Reduktion dieser tur, zur Wertschöpfung bei (vgl. Biesecker Arbeit auf Erwerbsarbeit (Adam Smith) von 2000a). vornherein zwei produktive Kräfte aus die- sem „Fortschrittsmodell“ ausgeschlossen Mythos 2: Alle können gleichermaßen an waren – die sozial-weibliche Produktivität der Erwerbsarbeit teilhaben. der Sorge-Arbeit (die gesellschaftlich bis Wirklichkeit: Über die Anzahl der Ar- heute Frauen zugewiesen ist) und die Na- beitsplätze entscheidet das Management tur mit der ihr eigenen Produktivität. Beide der Unternehmen, hinter dem, wenn es Ka- werden zur „reproduktiven“ Voraussetzung pitalgesellschaften sind, die Aktionäre ste- Adelheid Biesecker der Produktion für den Markt. „Das Ganze hen. Deren Ziel ist nicht ein hoher Beschäf- ist Professorin am Institut für Ökonomie und der Arbeit“ ist daher von vornherein ein tigungsstand, sondern ein möglichst hoher Soziales Handeln an der Getrenntes, in dem das eine (die Erwerbs- Profi t (Shareholder-Value). Dieser lässt sich Universität Bremen. arbeit) im Licht, das andere (die Sorge-Ar- heute oft durch Entlassungen steigern. Da- beit und ökologische Natur) im Schatten mit entscheidet dieses Profi tinteresse über steht. Dabei braucht das Sichtbare das die Teilnahme an der Erwerbsarbeit. Unsichtbare, damit die gesellschaftliche Außerdem beruht die Organisation der Reproduktion gelingt. Und es bedarf der Erwerbsarbeit auf einem hierarchischen Hierarchie. Diese wird über Be- und Ent- Geschlechtervertrag, der die sorgenden wertungen hergestellt (vgl. Biesecker/ Tätigkeiten, die der Erwerbsarbeit voraus- v. Winterfeld 2004). gesetzt sind, den Frauen zuweist. Ihre im- mer noch fast vollständige Verantwortung In diesem generellen Mythos stecken ver- für diese Arbeiten schließt sie von vielen schiedene andere Mythen. Diese werden in Bereichen der Erwerbsarbeit aus, treibt Abschnitt I dargelegt. Der sich anschließen- sie in oft ungeschütze Teilzeit-Arbeit und de Abschnitt II geht neuen Mythen nach, macht sie, da sie kein oder nur ein geringes die sich im Prozess der Globalisierung he- eigenes Einkommen haben, abhängig vom rausgebildet haben und die alten Mythen Ehemann. verstärken. Schließlich geht es in Abschnitt III um eine alternative Perspektive, die von Mythos 3: Wachstum steigert die Er- vornherein „das Ganze der Arbeit“ als Un- werbsarbeit, Wachstum führt zu Vollbe- getrenntes, Gleichwertiges ansieht. schäftigung. Wirklichkeit: Seit der industriellen Revo- lution im 19. Jahrhundert gibt es immer wieder große Entlassungswellen durch technischen Fortschritt als Grundlage des Wachstums. Schon David Ricardo zweifelte

2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit 27 im 19. Jahrhundert an den Beschäftigungs- II. Neue Mythen im Prozess der eff ekten von Neuerungen, hoff t aber auf neo-liberalen Globalisierung Kompensation durch die Expansion neuer Mythos 6: Neo-liberale Globalisierung Industrien. Das hat sich aber als Trugschluss dehnt das Prinzip der Erwerbsarbeit glo- erwiesen, die neuen Industrien setzen im bal aus. Dabei entsteht als neuer Mythos: Reifestadium umso mehr Arbeitskräfte frei. Märkte „schaff en“ Erwerbsarbeit, wenn sie Das erleben wir gegenwärtig in Deutsch- nicht reguliert, sondern „frei“ gelassen wer- land in der Automobilindustrie, im Bereich den. Nur dann können sie ihre Wohlfahrts- der Telekommunikation und bei den Ban- wirkung entfalten. ken - in drei ehemals als „Jobmaschinen“ Wirklichkeit: Märkte sind keine sich selbst gefeierten Branchen also. regulierenden Automatismen, sondern ge- sellschaftliche Konstrukte. Ihre Fähigkeit Mythos 4: Für dieses Wachstum steht die besteht ausschließlich darin, über Preise Natur unbegrenzt zur Verfügung - als Res- eine bestmögliche Verteilung (Allokati- sourcenpool und als Aufnahmeraum von on) der Produktionsfaktoren zu erreichen. Abfall, als Senke. Man braucht sich um sie Dabei sind die Preise, die sich einspielen, nicht zu kümmern. systematisch zu niedrig, da viele Kosten Wirklichkeit: Die Fähigkeit der Natur externalisiert sind (z. B. Kosten der Umwelt- zu Produktion und Reproduktion ist die nutzung oder soziale Kosten) und nicht in Grundlage menschlicher Produktion und die Preisberechnung eingehen. Arbeit. Zukunftsfähiges oder nachhaltiges Nur diese „Allokationswohlfahrt“ wird Wirtschaften und Arbeiten heißt, diese im Wohlfahrtsbeitrag von Märkten ausge- (Re)Produktivität zu erhalten. Die „Natur drückt. Märkte haben keine soziale und der Arbeit“ ist dann eine nachhaltige. Sie keine ökologische Dimension, d.h. die ist geprägt „von einer bewussten Bezogen- durch sie geschaff ene Wohlfahrt hat nichts heit auf das ReProduktive und das ReGene- zu tun mit gerechter Verteilung und Erhalt rative.“ (Biesecker/ v.Winterfeld 2005, S.71.) der natürlichen Mitwelt (vgl. Biesecker/ Durch die gegenwärtige Ökonomie mit Kesting 2003, S. 413 ff .). Diese müssen ih- ihrer auf quantitative Vermehrung der pro- nen vielmehr durch die Gesellschaft, durch duzierten Mengen gerichteten Erwerbsar- den Staat gegeben werden. beit wird dagegen die Natur zerstört. Mythos 7: Es geht vor allem um Wettbe- Mythos 5: Diese Erwerbsarbeit schaff t so- werbsfähigkeit. Diese kann nur erhöht wer- ziale Sicherheit, sowohl über den Lohn als den, wenn die Löhne sinken (oder wenn auch über die an die Erwerbsarbeit geknüpf- die Arbeitszeiten bei konstanten Löhnen ten Versicherungssysteme (wie Arbeitslo- steigen). Löhne sind ein entscheidender sen-, Kranken-, Rentenversicherung). Kostenfaktor. Wirklichkeit: Der Lohn ist kein Garant für Wirklichkeit: Wettbewerb ist nicht End- eine selbständige Existenzsicherung. Es zweck, sondern Mittel zum Zweck. Wenn es gibt keinen „Mechanismus“ dafür, dass er den arbeitenden Menschen durch Wettbe- zu einem „guten Leben“ reicht. Er wird zwi- werb schlechter geht, ist das eben ein Hin- schen Gewerkschaften und Arbeitgebern weis darauf, dass der Markt nicht allein für ausgehandelt und hängt damit stark von die Wohlfahrt der Menschen sorgen kann, dem Machtverhältnis zwischen beiden ab. dass der Staat regulierend eingreifen muss. Ausserdem wird er von der Politk über das Denn der Lohn ist nicht nur Kostenfaktor, jeweilige Konzept der Arbeitsmarktpolitik sondern auch und gerade Einkommen und geprägt. So bedeutet z. B. die jüngste „Re- damit Lebensrundlage der arbeitenden form“ des Arbeitsmarktes in der BRD (über Menschen. Es gilt, diese mithilfe staatlicher die sog. Hartz IV - Gesetze) eine massive Politik gegen ein marktradikales Absenken Absenkung des Niveaus der Zahlungen an zu schützen. Arbeitslose. Und: Lohnsenkungen führen zu sinken- Die sozialen Sicherungssysteme sind der Nachfrage und damit zu Konkursen stark auf die Erwerbsarbeit fi xiert. Wenn von Unternehmen, die gerade auf die überhaupt, bieten sie Sicherheit für dieje- Binnennachfrage angewiesen sind (Hand- nigen, die an dieser Erwerbsarbeit wenn werk, kleine und mittlere Unternehmen nicht immer, so doch in langen Zeiten und mit Waren und Dienstleistungen für den in möglichst gut bezahlten Positionen lebensnahen Bedarf z.B.) Im Endeff ekt nüt- teilnehmen können und dürfen. Nicht er- zen Lohnsenkungen wieder nur den Aktio- werbstätige Frauen erhalten diese Sicher- nären, den Finanzmärkten. heit nur über den Ehevertrag. Es gibt aller- Und schließlich: Den Wettbewerb mit den dings Ansätze, die Sorge-Arbeit von Frauen osteuropäischen und asiatischen sowie afri- in der Rentenversicherung anzuerkennen kanischen Ländern können Unternehmen (z. B. werden in der BRD Rentenpunkte für der industriekapitalistischen Länder (Län- Kindererziehungszeiten berechnet). der des globalen Nordens) nicht auf Basis

28 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit der niedrigen Lohnkosten gewinnen, son- beiten allen zugänglich zu machen, sie zu dern nur durch Spezialisierung, Kundenbin- koordinieren und mit passenden Formen dung und technologischen Vorsprung. des Einkommens (z. B. mit einem quanti- tativ für ein gutes Leben ausreichenden Mythos 8: Diese Lohnsenkungen führen BürgerInneneinkommen) zu verbinden. zur Vollbeschäftigung zurück, denn bei Ein zentrales Gestaltungskriterium ist da- niedrigerem Lohn fragen die Unternehmen bei Gerechtigkeit – soziale Gerechtigkeit, mehr Arbeitskräfte nach. Geschlechtergerechtigkeit, Generationen- Wirklichkeit: Lohnsenkungen führen gerechtigkeit, Gerechtigkeit zwischen den nicht zu mehr Beschäftigung, sondern zu Ländern des globalen Nordens und denen mehr Profi t. Aufgrund der technologischen des globalen Südens. Ein anderes zentra- Entwicklung und der dadurch gestiegenen les Gestaltungskriterium ist der Erhalt der Arbeitsproduktivität werden immer weni- Produktivität der natürlichen Mitwelt (vgl. ger Menschen zum Herstellen des gesell- Biesecker 2000a und 2000b). schaftlichen Gesamtprodukts gebraucht. Es geht also um eine andere Rationalität Vollbeschäftigung alten Stils, d. h. als Nor- und um eine andere Perspektive - die Pers- malarbeitsverhältnis mit 40-( oder 35) Stun- pektive von den sorgenden Tätigkeiten aus den-Woche, gibt es nicht mehr. (Dieses Nor- auf das kooperativ - gleichwertige „Ganze malarbeitsverhältnis galt im übrigen nie für der Arbeit“. Um dorthin zu gelangen, sind die meisten Frauen).Vollbeschäftigung kann viele Fragen zu klären: Fragen der Vertei- nur erreicht werden über ein neues Arbeits- lung der Arbeiten, der Neubewertung, der konzept mit einem erweiterten Verständnis Eröff nung von Optionen für alle, sich an von Arbeit, Erwerbsarbeitszeitverkürzung den verschiedenen Tätigkeiten zu beteili- und Arbeitsumverteilung (s. Teil III). gen. Damit für solch Neugestaltung Raum ist, ist als erster Schritt eine radikale Ver- Mythos 9: Die globale Ausdehnung der kürzung der Erwerbsarbeit nötig. Wenn z.B. Märkte führt zur Integration aller weltweit jeder Erwerbsarbeitsplatz geteilt werden (Integrationsversprechen). würde, gäbe es nicht nur keine Arbeitslo- Wirklichkeit: Wir haben gesehen, dass sigkeit, sondern Überbeschäftigung. Da- die Konstruktion dieser kapitalistischen durch gewännen viele Männer Zeit, end- Marktgesellschaft, die eine Eigentümerge- lich ihren Anteil an der Sorge-Arbeit zu sellschaft ist, schon Ausschlüsse beinhal- leisten – und viele Frauen könnten sich an tet. Die Globalisierung transportiert auch guter, gesicherter Erwerbsarbeit beteili- dieses Ausschlussprinzip, führt zu neuen gen. Ein solches Arbeitskonzept integriert Ein- und Ausschlüssen. Diese betreff en z.B. und sichert alle Gesellschaftsmitglieder die Armen und viele MigrantInnen in den – und beseitigt Arbeitslosigkeit. Diese Ver- Ländern des Nordens sowie ganze Länder schwendung kann und will sich eine zu- und Kontinente des globalen Südens wie kunftsfähige Gesellschaft gar nicht leisten z.B. große Teile Afrikas. Und Einschlüsse – zum einen hat sie viel zu viel zu tun und bedeuten nicht, wirklich an der verspro- zum anderen genießt sie die Früchte ihres chenen Wohlfahrt teilzuhaben. So wird z.B. Fortschritts – freie Zeit, Muße. die Sorge-Arbeit von Thailänderinnen in Ländern des Nordens als billige Sorge-Ar- Mythos „Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit“? beit integriert, fernab der eigenen Familie Nein danke. und Kinder (vgl. Wichterich 2003, S. 57 ff .). Gesellschaftliche Integration und soziale Si- cherheit durch das neue „Ganze der Arbeit“? III: Alternative Perspektive: Ja bitte. Soziale Sicherheit und Beschäftigung für alle kann dauerhaft nur erreicht werden, Literatur: wenn das Verständnis von Arbeit sowie die Biesecker, Adelheid (2000a): Arbeitsteilung und das Ganze des Wirtschaftens - die Produktivi- tät sozio-ökonomischer Vielfalt. In: Held, Martin/ Nutzinger, Hans G. (Hg.): Geteilte Arbeit, ganzer Qualität von Arbeit, ihre „Natur“, verändert Mensch. Perspektiven der Arbeitsgesellschaft. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 204-255. werden: Arbeit ist dann lebensdienlich Biesecker, Adelheid (2000b): Arbeitsgesellschaft - Tätigkeitsgesellschaft - Mitgestaltungsge- sellschaft. Umrisse eines zukunftsfähigen Arbeitskonzepts. In: Berliner Zeitschrift INITIAL - Zeit- und naturgemäß und umfasst alle Tätig- schrift für sozialwissenschftlichen Diskurs 11(2000)4, S. 63-72. keiten, die gesellschaftlich nötig sind, um Biesecker, Adelheid/Kesting, Stefan (2003): Mikroökonomik. Eine einführung aus sozial-öko- den gemeinschaftlichen Produktions- und logischer Perspektive. München, Wien: Oldenbourg. Biesecker, Adelheid/v.Winterfeld, Uta (2004): Wertlos? Zur Ausgrenzung natürlicher Produk- Reproduktionsprozess dauerhaft zu gestal- tivität und weiblicher Arbeit bei John Locke und Adam Smith. Bremer Diskussionspapiere zur ten. Diese Arbeit ist vielfältig, es ist private Institutionellen Ökonomie und Sozial-Ökonomie Nr. 58, hrsg. Von Adelheid Biesecker und Wolf- Sorgearbeit, gesellschaftliche Sorgearbeit ram Elsner. Bremen: Universität. Biesecker/v.Winterfeld (2005): Möglichkeitsräume und Gesellschaftsverträge. Nachhaltig- oder bürgerschaftliches Engagement, Er- keit und Existenzsicherung II. In: Politische Ökologie Nr. 95, August 2005. München: oekom, werbsarbeit und Eigenarbeit. Dieses „Ganze S. 70-72. der Arbeit“ ist kooperativ strukturiert, alle Wichterich, Christa (2003): Femme global. Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral. Ham- burg: VSA-Verlag. Tätigkeiten sind gleichwertig und gleich- Wissenschaftlicher Beirat von Attac (Hg.), (2005): ABC der Globalisierung. Hamburg: VSA-Verlag. wichtig. Es ist eine Frage eines neuen Ge- sellschaftsvertrages, diese Vielfalt der Ar- 29 2.2 Lächle mehr als andere!

Einmal habe ich im Radio eine ratlose junge Trainerin ge- schlag befolgen: „Lächle mehr als andere!“ hört, die in aller Öff entlichkeit sagte, sie wisse nicht, wie Wir wurden belehrt, dass Frauen nichts Rotes zum Vorstellungsgespräch anziehen sie Jugendlichen ausländischer Herkunft erklären soll, sollen, weil dies eine Kampff arbe sei. Auch dass sie keine Chance auf eine Lehrstelle hätten. Aber das Handgestricktes, Trachten (außer man Gros der Coachs ist unbeirrbar. Wahrlich wie moderne stellt sich in einem Trachtengeschäft vor) Prediger lullen sie dich ein. Wie eine Gebetsmühle perpe- und Rüschen seien tabu, sie signalisieren Bequemlichkeit und Trägheit. Für die Rock- tuieren sie die Beschwörungsformel: „Wenn du nur wirk- länge gäbe es ganz einfache Vorschriften: lich willst, wenn du einfach besser bist als die anderen, zwischen eine Handbreit überm Knie und dann bekommst du einen Job.“ Auf die Frage an unsere eine Handbreit unterm Knie. Für Männer ab TrainerInnen, ob es nicht einfach zu wenig Jobs gäbe und einer Gehaltsvorstel lung über 1.800 Euro brutto bestehe Krawatten zwang. Und wei- deshalb, egal welche Ausschlusskriterien angewandt ße Socken seien noch immer die Todsünde werden, immer welche auf der Strecke blieben, sind sie Nummer eins. Zu guter Letzt: Du brauchst - welch Wunder - eine Schrecksekunde lang stumm. nirgends als Bittsteller aufzutreten, du hast etwas zu bieten, du verkaufst ja deine Stär- ken und Fähigkei ten. Sodann musst du nur Im ersten Monat meiner Arbeits- noch deine einzelnen konkreten Planungs- losigkeit wurde ich, 42-jährige Gei- schritte festlegen und verwirklichen, und steswissenschaftlerin in Wien, schriftlich der Traumjob ist dir sicher. Schließlich gibt zu einem „BewerbungsImpulstag“ ins Mes- es ja eine Million off ene Stellen pro Jahr. se-Kongresszentrum am Rande des Wiener Wurstel-Praters vorgeladen. Im Brief steht Folgende Bücher wurden uns wärmstens zuoberst in riesigen Lettern „Vorschreibung empfohlen: Von Joseph Murphy, dem Ur- eines Kontrolltermins gem. § 49 ALVG“ und großvater des positiven Denkens, „Werde unten die Rechtsmit telbelehrung: Bei Ver- reich und glücklich. Entdecke Deine unend- säumnis des Kontrolltermins, also bei nicht lichen Kräfte“. Von Chris Lohner, ehemalige Er scheinen zum Bewerbungs-Impulstag, Fernsehsprecherin und Österreichische- kann es zur Streichung des Arbeitslosen- Bundesbahn-Bahn hofs-Stimme, „Keiner geldes bis zu 62 Tagen kommen. Im bei- liebt mich so wie ich. Oder die Kunst in Har- liegenden Pro spekt klingt der Zwang zur monie zu leben“ und „Keine Lust auf Frust, Teilnahme so: keine Zeit für Neid“. Von Ute Ehrhardt „Gute Maria Wölfl ingseder „Wir lassen Sie nicht allein bei der Suche Mädchen kommen in den Himmel, böse ist Pädagogin und nach einem neuen Arbeitsplatz. ... Wei- überall hin“. Sowie ein Buch über spirituel- Psychologin und lebt in Wien. tere unterstützende Seminare sind vorge- le Intelligenz. sehen. Sie können effizient und erfolgreich starten! Die The men des Tages: Sie entde- Gary Lux, abgehalfterter Schlagersänger, cken die eigenen Stärken als Kapital auf hat einen Song für diesen Tag komponiert. dem Arbeitsmarkt. Marktanalyse leicht Ganglien verklebend schallte es in den gemacht - verdeck te Jobs suchen und Pausen über die Lautsprecher: finden. Formulieren und erreichen Sie Ihr „Geboren in diese Welt von Leidenschaft Ziel - Selbstmotivation kann jede/r lernen. und Geld, scheint manches Ziel oft uner- Körpersprache und Persönlichkeitsstil op- reichbar fern. Du fragst dich nach dem Sinn timal einsetzen. Selbstvertrauen und Über- von Ehrgeiz und Gewinn und zweifelst an zeugungskraft gewinnen - Erfolg beginnt dir selbst nur allzu gern. Doch irgendwo in im Kopf. Tipps und wertvolle Hinweise; da- jedem von uns lebt ein kleiner Traum, der mit Bewerben Freude macht. Unterlagen unaufhörlich nach Erfüllung brennt, und gestalten, Gehalt sicher verhandeln, Alter irgendwo in jedem von uns gibt es diese argumentieren.“ Kraft, die unsichtbar das Schick sal für uns lenkt. Mach was draus, geh hinaus, steh Fünfhundert Arbeitslose - vom Hilfsar- einfach zu dir selbst, übe dich in Zuver- beiter bis zur Akademikerin - saßen zwei sicht, bis du den Weg erkennst. Es kann so Coachs gegenüber. Wir wurden belehrt, einfach und so wunderbar sein auf dieser dass es keine Ver lierer gibt, nur welche, Welt, drum mach was draus und denk nicht die aufgeben. Dass es um nichts weniger ans Geld. Das Leben ist ein Spiel mit unbe- als um den „Traum unseres Lebens“ geht: kanntem Ziel, die Würfel hältst du selbst Arbeit soll ja Spaß machen. Jeder kann in Dei ner Hand. Oft kommt ein schlechter seinen Traumjob bekommen, man braucht Zug, man denkt, es ist ge nug, doch nur wer nur „von der Schattenseite in die Lichtseite durchhält, wird am Schluss erkannt.“ treten“ und Götz von Berlichingens Rat-

30 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit Wer bis zum Abend ausgehalten hat, be- einsetzen!“ Täglich hörten wir, dass wir im- kam eine CD mit einer Zusam menfassung merzu zu lächeln und puren Optimismus des Bewerbungs-Impulstages, inklusive auszustrahlen hätten - ganz besonders Gary Luxens Konzert, um sich zu Hause auch beim Telefonieren. Es war uns verbo- weiter stimulieren zu lassen. ten, im Kurs schlechte Erfah rungen bei der oft jahrelangen Arbeitssuche zu äußern. „Jeder Arbeitslose hat ein Defi zit!“ „Vergessen Sie all Ihre schlechten Erfahrun- Oder: Kollektiver Realitätsverlust gen! Sie sind kein Opfer, es liegt an Ihnen!“ Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit avan- Schließlich durfte ich noch ein Praktikum cierte ich in einen halbjährigen Kurs (vier- und ein paar Computerkurse machen. An mal die Woche) von „Come back urban“. manchen Tagen war ich von 8 bis 22 Uhr Eine aus China stammende Teilnehmerin unterwegs. konnte wenig Deutsch, eine war schwer krank und hatte nie einen qualifi zierten Das Klima im Kurs glich dem in einem von Job; eine aus Jugoslawien stammende schlechten Pädagogen geführten Schwer- Arbeiterin war über 50; ein junger Mann erziehbarenheim. Permanent diese subtile hatte viele Vor strafen; einer war hoch lohn- Unterstel lung: du bist schuld, du hast etwas gepfändet; einer war Sonderschulabgän- angestellt; du musst nur wirklich wollen. ger - und ich: Doktor der Philosophie, für Nach zehn Wachen löste sich der Kurs von alles überqualifi ziert. Wahrscheinlich ist selbst auf. Manche sind entlassen worden, das mein Defi zit. „Defi zit“ scheint ein magi- mit einer sechswöchigen Sperrfrist des sches Wort zu sein. Alle Arbeitslosen haben Arbeits losengeldes, für andere wurde der eins gemeinsam: das Defi zit. Wel ches, das Kurs als nicht geeignet erachtet. Eine Frau muss eruiert werden, um es dann (angeb- war bei einer Leiharbeitsfi rma des WAFF lich) zu beheben. (Wiener Arbeit nehmerförderungsfond) un- tergekommen. Ich habe kurzfristig für zwei Im Brustton der Überzeugung konterte Monate ein Angebot an der Uni Klagenfurt der Trainer den Hinweis auf meine bis dato als Gastprofessorin be kommen, weil die 150 Bewerbungen: Er könne sich nicht vor- vorgesehene Dozentin nach Berlin berufen stellen, war um ich arbeitslos sei, bei ihnen wurde. Danach war ich wieder arbeitslos. bekäme ich sicher einen Job. Sie hät ten auch Stellen, die sonst nirgends ausge- Eine Bekannte von mir ist Ärztin im All- schrieben seien. Nach zwei Wochen Psy- gemeinen Krankenhaus. Nach der Schil- chospielchen, von denen keiner wusste, derung meines Arbeitslosenkurses meinte wozu sie eigent lich gut sein sollten, dürf- sie erstaunt: „Und ich fragte mich immer, te ich bereits mit der Jobsuche beginnen, warum Arbeitslose ständig irgendwelche während die anderen erst in eine „Orien- Be stätigungen fürs Arbeitsamt brauchen. tierungsphase“ eintraten. Ich erhielt kein Jetzt ist mir auch klar, warum sich viele einziges Stellenangebot, das nicht aus der lieber ins Krankenhaus legen, um sich völ- Zeitung stamm te. Derartige Bewerbun- lig unnötigen Operationen zu unterzie- gen hatte ich bereits zuvor zur Genüge hen, als sich den Schikanen eines Arbeits- geschrieben, nur, dass ich jetzt auch auf losenkurses auszusetzen.“ völlig unpassende, also absolut aussichts- lose Stellenangebote reagieren musste. In Einmal habe ich im Radio sogar eine sieben Wochen verschickte ich 70 Bewer- ratlose junge Trainerin gehört, die in al- bungen. Daraufhin waren die TrainerInnen ler Öff entlichkeit sagte, sie wisse nicht, ziemlich kleinlaut. Aber vielleicht habe ich wie sie Jugendlichen ausländischer Her- noch immer keinen Job, weil ich einfach kunft erklären soll, dass sie keine Chance zu wenig Wein getrunken habe. Ja, nicht auf eine Lehrstelle hätten. Aber das Gros Alkohol suchtgefährdete sollen ruhig ein der Coachs ist unbeirrbar. Wahrlich wie Gläschen Wein trinken, um ganz ent spannt moderne Prediger lullen sie dich ein. Wie und beschwingt in das Bewerbungsge- eine Gebetsmühle perpetuieren sie die Be- spräch zu gehen, voll überzeugt, den Job schwörungsformel: „Wenn du nur wirklich zu kriegen. Wahlweise soll man zumindest willst, wenn du einfach besser bist als die an et was Schönes denken oder das Foto anderen, dann bekommst du einen Job.“ seiner Kinder, seines Mannes oder seiner Auf die Frage an unsere TrainerInnen, ob Frau betrachten, um ganz positiv gestimmt es nicht einfach zu wenig Jobs gäbe und zu sein. Nur so habe man überhaupt eine deshalb, egal welche Ausschlusskriterien Chance, einen Job zu kriegen. angewandt werden, immer welche auf der Strecke blieben, sind sie - welch Wunder Einmal wöchentlich trainierten wir vor - eine Schrecksekunde lang stumm; aber der Videokamera das richtige Be werben. nur, um danach wie ferngesteuert mit ihrer Mir wurde angeraten: „Sie, haben doch Leier umso erbar mungsloser wieder von soviel Charme, den müs sen Sie viel besser vorne anzufangen. 31 Auch die Medienmacher ziehen - unterm von Freunden kommt. Der Arbeitslose ist allgemeinen kollektiven Realitätsverlust nie mand. Deshalb kannst du auch nicht leidend - diese Masche beinhart durch, Recht haben. Deshalb bist du schuld, un- ohne Rücksicht auf Verluste. Kein Magazin, zufrieden und krank, kurz eine unbeliebte das nicht immerzu „frische Erfolgs stories“ Zeitgenossin! Recht haben die, die dem (O-Ton) auftischt - nach dem Motto: Ich allherrschenden Wahnsinn kein kritisches habe es geschaff t! - oder „ 100 Top-Jobs“ Wörtchen entgegenstellen. präsentiert, die zu haben sind. Na bra- vo, ein paar arme „Crashtest-Dummies“ No Money - Only Woman and Cry versuchen sich selbständig zu machen, Was meine Situation verschärft: die Hunderte, ja Tausende bewerben sich um Höhe meines Arbeitslosengeldes, 15 Euro eine Stelle. Ein wahrer Tri umph der Ar- pro Tag. Ich hatte nur 20 Wochenstunden beitsbeschaff ung! Und die Legionen von angestellt gearbeitet, ansonsten als frei- Arbeitslosen? Die scheint es nie leibhaftig berufl iche Wissenschaftlerin. Die 450 Euro zu geben. In den Medien kommen sie nicht Arbeits losengeld reichen gerade mal für vor, und selbst im persönlichen Gespräch die Miete meiner 60m2-Wohnung. Eine ist ihre Arbeitslosig keit kaum ein Thema - Freundin aus gemeinsamer Sozialakade- zumindest nicht in meinen Kreisen. Wer ar- mie-Zeit - sie arbeitet als Sozialarbeiterin beitslos ist, murmelt höchstens etwas von - im vollsten Brustton der Überzeugung: „die Zeit nützen - für Weiterbildung oder wenn mein Arbeitslosengeld so niedrig sei, eine neue Ausbildung“. bekäme ich doch sicher vom Sozial referat Unterstützung. Alle, die sich dort mal hin- eingetraut haben, wissen, warum viele die Ich und lebensuntüchtig? Brücke bevorzugen, aber viele Sozialarbei- Hör ich da die Hühner lachen? ter scheinen noch immer ans Märchen vom Als ich dennoch keinen Job fand, lernte Sozialstaat zu glauben. Die behördliche ich alle meine Lieben völlig neu kennen. Vorgabe auf diesem Amt lautet off enbar: „Aber Du mit Deinen vielen Erfahrungen loswerden, wer loszuwerden ist. Eigentlich und Beziehungen, wenn Du nichts fi n- ist jede Unterstützung ohnehin nur eine dest...!“, konterten sie meine erfolglosen Ermessenssache. Drei Monate nach Beginn Bewerbungen. Obwohl jeder weiß, wie meiner Arbeitslosigkeit wagte ich den Ver- hoch sie ist und dass sie nie wieder ver- such. Die Methoden, Antragstellerlnnen schwinden wird, wird Ar beitslosigkeit dem erst gar nicht vorzulassen, sind vielfältig. Einzelnen gegenüber geleugnet, versucht, Ich schaff te es erst beim dritten Mal. Zuerst sie ex emplarisch abzuwehren: Der konkre- schickten sie mich auf ein anderes - nicht te Arbeitslose „muss“ wieder einen Job fi n- zuständiges - Amt. Welche Unterlagen ich den. Freunde und Bekannte untermauern brauchte, wurde mir erst nach und nach das Unbedingte mit (meist völlig illusori- mitge teilt. Schließlich war ich mit der Be- schen) Ratschlägen und Tipps. Eine andere gründung, ich hätte ja (vor drei Monaten) Hilfe können sie auch gar nicht anbieten. 20.000 Schilling (1.450 Euro) Abfertigung Wie das Karnickel vor der Schlan ge sitzen bekommen, schnell wieder vor der Tür. Im sie vor mir, ihrer eigenen personifi zierten Gegensatz zu jenen am AMS sprechen die Angst vor Arbeits losigkeit. Ich bin in ers- Klienten am Sozialreferat miteinander. Sie ter Linie Arbeitslose; alles, was ich zuvor haben nichts mehr zu verlieren... sonst noch gemacht habe, ist kein Thema mehr: zuerst brauchst du einen Job, dann Ich hatte zuvor noch nie fi nanzielle Pro- kannst du dich deinen Vorlieben widmen. bleme gehabt. Auch war ich nie von den Das wäre ja noch schöner, wenn Arbeitslo- Eltern oder von einem Mann fi nanziell ab- se sich in Ruhe der Literatur, dem Gedich- hängig - für mich, in den 70er Jahren groß te Schreiben oder was weiß ich widmen Gewordene, eine Selbstverständlichkeit. könnten. Plötzlich tauchte regelmäßig der reiche Mann auf - nein, nicht persönlich, sondern Ein Freund, noch dazu ein ganz beson- seitens meiner Freunde als (scherzhaft?) derer, seines Zeichens Psycho loge und Psy- phantasierte Problemlösung. chotherapeut, äußerte ganz nonchalant, Von heute auf morgen nicht mehr für ob es nicht doch eine Frage der Lebens- mich, für mein fi nanzielles Aus kommen tüchtigkeit sei, einen Job zu haben oder sorgen zu können, stellt alles in Frage. sich selbst einen zu schaff en. Ich höre die Mich samt und son ders. Unfassbar, ja ein Hühner lachen, und trotzdem sitzt diese Phänomen, wie jemand, deren Selbstver- Ohrfeige! Refl ektiertheit schützt nicht vor trauen und Selbstbewusstsein stets blühte Schmach. Umso schmerzvoller, wenn sie und gedeihte, die nicht deshalb ei nen Job

32 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit braucht, weil sie sonst nicht wüsste, was der Schlüssel für ein erfolgreiches Umset- tun, oder der Aner kennung wegen, trotz- zen im Un ternehmen. Lassen Sie sich bera- dem plötzlich zum Nichts mutiert und sich ten, wie die Einfüh rung von Power Napping selbst verwünscht! als Marketing-Instrument eingesetzt wer- Auch jeder Handgriff , den ich mache den kann!“ (www.siesta-consulting.com) oder nicht, ist in Frage gestellt. Lähmung in jeder Hinsicht. Dringende Reparaturen, Ein typischer Fall der immer schlimmer die jährliche War tung der Heizung, An- wütenden Seuche Entmündigung: Nie- schaff ungen, Bücher, CDs, viele Dinge des mand darf mehr eigenständig lachen, fl ir- täg lichen Gebrauchs, aber auch Freunde ten, berühren, lieben, streiten, trauern, ge- zum Essen einladen, kann ich mir nicht schweige denn at men, wohnen, reden oder mehr leisten. Das fehlende Geld für Kultur arbeiten, auch nicht putzen und ausmisten. oder Bahnfahr ten lässt einen am besten Heute darf schließlich nur mehr ver- und zu Hause bleiben. Fast jeder Schritt in die gekauft werden: Lach-, Flirt- oder Trauer- Öff entlichkeit ist mit monetären Ausgaben arbeitsseminare, Emotions management, verbunden. Nicht zufällig habe ich Neuro- Feng Shui, Wegwerf-Seminare (der aktuelle dermitis. Renner), Key Mind, Human Design System, Kreatives Vi sualisieren, Atemtherapie, und Ein Consulting für optimiertes Streicheleinheiten aller Art. Denn bezahlte Schlafmanagement Berührung ist besser als gar keine, verkün- Da hat einer den Vogel abgeschossen, det jedes Lifestyle-Blättchen. Im Anzeigen- mitten in der Wiener Margaretenstra- teil des Standard wer den neben Autos und ße. Dort befi ndet sich der Sitz der Siesta- Antiqutäten, Booten und Büchern, „Ener- Consulting, eine Kreation von Mario Filo- gievolle Hände“, „Hautbeben!“, „Sensitive xenidis. Man neh me das Normalste auf der Berüh rungskunst“, „Asia Sensation“ und Welt, nein, einen kleinen Bruchteil davon, „Touch for Health - Sinnliche Momente mit verbräme ihn wissenschaftlich, gründe ein Freude erleben“ feilgeboten. Ferner „Strei- Consulting und vermarkte diese zuvor de- cheln, Stressabbau, Entspannen, 90 min. montierte Selbstverständlich keit glorreich. Körper und Seele verwöhnen“, „Tantramas- Der Wiener griechischer Herkunft, wohl in- sage“, „Grenzenlose Entspan nung fühlen“. spiriert durch die Siesta in seiner Heimat, Und gegen Aufpreis gibt‘s „Abstand von hat die zwei bis vierstündige Mittagspause der Masse! Massage mit Klasse! Ganze südlicher Länder auf 20 Minuten herunter- Menge neuer Hände!“. dividiert. Seit einigen Jahren verscherbelt er an Un ternehmer und Manager die Idee Aus: Dead Men Working eines kurzen Mittagschlafes -- im Business Speak Power Napping genannt. Es gehe nicht in erster Linie um die Gesundheit, sondern um den betriebswirtschaftlichen Nutzen! (Die Presse, 21. September 2002)

„Volle Konzentrations- und Merkfä- higkeit den gan zen Tag! Der Kurzschlaf hebt die Leistungskurve bis weit in den Abend hinein! Wettbewerbsvorteil bei Ver handlungen durch das Wissen um die Leistungskurve! Mehr Leistung in weniger Zeit erbringen! Gemeinsam entwickelt Si- esta-Consulting und die betreff ende Per- son ein optimiertes Schlafmanagement! Siesta-Consulting begleitet Sie bei der Überzeugungsarbeit, bei der Ge staltung Eine emanzipatorische Perspektive muss über der Rahmenbedingung, bei der Umset- die Arbeit und die Warengesellschaft hinausweisen! zung im Unternehmen! Bereichern Sie Ihr Veranstaltungspro gramm mit einem au- DEAD MEN WORKING ßergewöhnlichen Programmpunkt Power Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik durch Pause in Management-Lehrgän- in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs gen, in in ternen Bildungsprogrammen, in hg. v. Ernst Lohoff , Maria Wölfl ingseder u.a. Gesundheitsförde rungs-Veranstaltungen! Unrast Verlag, Münster, Profi tieren Sie von exklusiver Berichterstat- 2. Aufl age 2005, 302 Seiten, 18,60 Euro tung: Seriöse Presse-Berichterstattung ist Zeitschrift Streifzüge: www.streifzuege.org

33 2.3 Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses Prekäre Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen In der Prekarisierung von Migrantinnen wird dabei deutlich, was als „Autonomie der Migration“ bezeichnet werden kann, Bezahlte Dienstleistungen von Migrantinnen sind vom einer Art Prekarisierung „von unten“, in die aktuellen Kontext der Globalisierung von (prekären) die Wünsche der Einzelnen nach besseren Arbeitsverhältnissen stark beeinflusst und großteils Lebensperspektiven einfl ießen. So bietet die Unterwerfung unter die vielfältigen Ergebnis der vielfältigen Umgestaltung des Produk- prekarisierenden Zwangsverhältnisse zu- tionsprozesses in postfordistischen Gesellschaften:1 gleich erweiterte Handlungsspielräume. De-Industrialisierung, immaterielle Produktion, Femi- Bereits das Ausbrechen aus elenden öko- nisierung der Arbeit, transnationale Migration und die nomischen Verhältnissen und patriarcha- len Strukturen im Herkunftsland und der Mobilität von Kapitalinvestitionen. Schritt in die Lohnarbeit im Ausland kann eine erste Erfahrung von Selbstermächti- gung sein. Selbst in Ausbeutungsstruktu- Mit der Vielfalt prekärer Existenzen ren fi nden sich dabei Momente, die zum nehmen auch Rolle und Anzahl von Mi- Ausgangspunkt von Widerständigkeit wer- grantinnen in diesem Bereich rasant zu. den können. Bestehende Arbeitsverhältnisse sind da- bei überwiegend im Kontinuum „Sex-Für- Ob und wie wir beschreiben, wie sich sorge-Pfl egearbeit“ angesiedelt. Prekäre Betroff ene beim Verkauf von sexuellen Dienstleistungssektoren wie die Sexindus- Dienstleistungen in der Sexindustrie, beim trie oder der Reinigungsbereich, in denen Putzen für Reinigungsfi rmen oder in Pri- Migrantinnen besonders stark vertreten vathaushalten etc. ein Lebensverhältnis sind, dürfen deshalb nicht isoliert betrach- schaff en konnten, das auch ihren eigenen tet werden, sondern müssen im Zusam- Interessen entspricht, und welche „sexuelle menhang mit einer Reihe weiterer preka- oder putzende Mehrarbeit“ diese bestän- risierter Arbeitsbereiche im informellen dig aufwenden müssen, um sich den übli- Sektor, wie z.B. mit bezahlter Hausarbeit, chen Zuschreibungen zu widersetzen, ist Kranken- und Altenpfl ege, Kinderbetreu- demnach auch eine Frage der politischen ung, Mini-Jobs im Supermarkt oder in Strategie.2 Hotels, Beschäftigung in Callcentern, etc. gesehen werden. So unterschiedlich diese Entscheidend für diese Strategie sind Luzenir Caixeta neuen Arbeitswelt-Identitäten auch sein dabei Antworten auf die Frage, wie die arbeitet seit 10 Jahren mögen, der Ausschluss aus dem System bestehenden und zu entdeckenden Wi- bei maiz (Autonomes Integrationszentrum von der Arbeitsrechte und damit von deren dersprüchlichkeiten jenseits eines simplen & für Migrantinnen) u.a. Schutz ist allen gemeinsam. Verelendungsdiskurses begriff en werden mit Migrantinnen in der können, der die Subjektivität und Eigenak- Sexarbeit. Prekarisierung ist mehr als rechtliche, tivität der Einzelnen in der Prekarisierung soziale und fi nanzielle Unsicherheit. Gefor- unsichtbar werden lässt. dert ist auch die Fähigkeit, sich selbst krea- Die fl exible Gestaltung der alltäglichen tiv zu entwerfen und neue fl exible Formen Reproduktion etwa ist dabei nicht nur als von Kollektivität zu entwickeln. Immer Folge neuer ökonomischer Zwänge zu be- stärker ist dabei die individuelle Lebens- werten. Entscheidend ist jedoch, inwiefern qualität vom persönlichen Erfolg am freien das Aufbegehren gegen patriarchal-fordis- Markt abhängig. tische Normalitäten und die Suche nach al- ternativen Lebensweisen eine Bedingung Autonomie der Migration für die Durchsetzung neuer Arbeits- und Eine besondere Herausforderung stellen Produktionsverhältnisse darstellen und wie die vorhandenen Widersprüche im Prozess sie in kollektive Strategien überführt wer- der Prekarisierung dar. Die Unterwerfung den kann. Hinterfragt und neu organisiert unter hyperausbeuterische Verhältnisse werden müssen auch neue Formen der befreit nämlich die Betroff enen parado- Arbeit und Arbeitsteilung, die die Grundla- xerweise aus den rigiden Vorstellungen gen für transnationale Verteilung und da- patriarchal-fordistischer Normalität und er- bei auch neue Spaltungen schaff en. öff net den prekär Beschäftigten aus Sicht migrantischer und feministischer Theorie Ein Blick auf die konkreten Tätigkeiten und Praxis auch verbesserte Lebenspers- illustriert die Tendenzen widersprüchlicher pektiven. Verknüpfung von einerseits verstärkter Un- terwerfung3 und andererseits erweiterter Autonomie: So erhalten die einzelnen Be-

34 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit schäftigten oder Teams im Reinigungsge- maiz zeichnet sich dadurch aus, dass werbe z.B. die Säuberung ganzer Objekte wir als Migrantinnen-Selbstorganisation überantwortet, die Arbeit wird eigenver- versuchen auf all diesen Ebenen in gesell- antwortlich organisiert, der Chef ist meist schaftliche Auseinandersetzungen einzu- nicht vor Ort. Ganz ähnlich sind Arbeitsver- greifen. So gehören neben Beratungs- und hältnisse in Privathaushalten geregelt, die Bildungsarbeit auch politische Kulturarbeit meist (wenn auch nicht immer) in Zeiten und künstlerische Projekte zu unseren Tä- gereinigt werden, in denen die Auftragge- tigkeitsfeldern, in denen sich Migrantinnen berInnen außer Haus sind. In der Sexbran- zunächst über ihre jeweiligen Lebenssitu- che verdienen Migrantinnen das meiste ationen und Einschränkungen ihrer Hand- Geld, können ihre Tätigkeit als Nebenjob lungsfähigkeit austauschen, um dann in ausüben, müssen meist keine Ausbildung einem kollektiven Prozess zu erarbeiten, vorweisen, haben keine vertragliche Bin- wie man diese Erfahrungen der österreichi- dung und die Möglichkeit Kontakte zu schen Mehrheitsbevölkerung präsentie- knüpfen, eine Fremdsprache zu üben, usw. ren bzw. diese damit konfrontieren kann. Auf diese Weise sollen Migrantinnen die Nichtsdestotrotz bleibt der Kampf um die Möglichkeiten erhalten, aus ihrem Status als Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbe- Objekt, über das politisch verhandelt wird, dingungen von migrierten Sex- und Haus- herauszutreten und eigene Artikulationsfor- arbeiterinnen – wie auch für Migrantinnen men zu entwickeln, um in hegemoniale Dis- in anderen prekären Dienstleistungsver- kurse einzugreifen und diese zu verschieben. hältnissen - notwendig. Dabei gilt es vor al- Im Sinne des Sichtbarwerdens will maiz lem einer Anti-Prostitutions- und Anti-Mi- auch provozieren, mit den tradierten Reprä- grationspolitik entgegenzutreten, die vor sentationsstrukturen brechen und eine „Stö- allem auf die Rechte von in der Sexarbeit rung der Harmonie“ bewirken, z.B. nach dem tätigen Migrantinnen negative Auswirkun- Motto: „ we love you! Wir werden dich gen hat. Die meist moralistisch begründete nie verlassen!“ Verweigerung der Anerkennung von Sex- und Hausarbeit als mit Rechten ausgestat- Auf dem Weg zur kollektiven Organisie- 1 Caixeta / Gutierrez-Ro- driguez u.a. (2004): Haus- teter, stark ethnisierter Arbeit verringert rung im Sinne einer Verbesserung der wirt- halt, Caretaking, Grenzen… die Zahl der MigrantInnen in diesem Sek- schaftlichen Situation von Migrantinnen tre- Rechte von Migrantinnen tor nicht, sie ignoriert lediglich die Realität ten dabei erneut Widersprüche auf, diesmal und Vereinbarkeit von Beruf und Familie. vieler Frauen (und Männer). Repressive po- zwischen den Interessen der einzelnen Mig- 2 Caixeta (2005): Precarius litische Regelungen im Bezug auf Migrati- rantinnen und der allgemeinen Zielsetzung, labor et stuprum corporis. on, öff entliche Ordnung und Moral führen bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Prekarität und die bezahl- te sexuelle Dienstleistung. zu einer verstärkten Verwundbarkeit der So kommen Migrantinnen im Regelfall nach In: Kulturrisse 02/05 Dienstleisterinnen und zu negativen Kon- Österreich, um - egal mit welcher Tätigkeit 3 Ein Faktor, der die Pre- karisierung von Sexarbeit sequenzen für deren Gesundheit und Si- - möglichst schnell viel Geld zu verdienen. im Besonderen fördert, ist cherheit. Konsequenterweise haben sie deshalb zu- ihr sozialer Status. Sexarbeit nächst kein Interesse, sich kollektiv zu orga- ist in den meisten Gesell- schaften ein stigmatisier- Um nicht in partikularen Lösungen ste- nisieren. Da sie sich mit ihrer Tätigkeit etwa ter Bereich. Migrantinnen cken zu bleiben bedarf es also der Entwick- als Haus- oder als Sexarbeiterin nicht identi- (in Österreich ca. 90% der lung übergreifender politisch-ethischer Po- fi zieren, sondern diese als vorübergehenden Sexarbeiterinnen) werden mehrfach, als Ausländerin- sitionen, die als Grundlage für jene Kämpfe, Zustand betrachten, lohnt es sich nicht, für nen und als Prostituierte, die die hegemoniale gesellschaftliche Ord- kollektive Verbesserungen zu streiten. Hier ausgegrenzt und stigmati- nung in Frage stellen und dekonstruieren. gilt es deshalb Zusammenhänge zwischen siert. Die (Selbst-) Organisation der Betroff enen der individuellen Situation, in der Migrantin- ist dabei unverzichtbar. nen ihre jeweiligen Träume nicht verwirkli- chen können, und der Regulierung bestimm- maiz: Erfahrungen einer ter Arbeitsbereiche deutlich zu machen. Migrantinnen (Selbst-)Organisation Zu den wichtigen Tätigkeitsfeldern von maiz Seit über 10 Jahren ist maiz als Selbst- gehört deshalb auch die Auseinanderset- organisation von und für Migrantinnen zung mit und unter Migrantinnen selbst, aktiv. Migrantinnen, die sich an maiz wen- etwa wenn diejenigen, die bereits in Öster- den, arbeiten als Reinigungskräfte für Lea- reich leben, sich gegen die Einwanderung singfi rmen, als Putz- und Pfl egekräfte in von anderen wenden, weil dies verstärkte Privathaushalten, als Pfl egehelferinnen im Konkurrenz bedeutet. Gesundheitsbereich, und/oder sind in der Sexindustrie tätig. Ihre konkrete Situation Im Spannungsfeld aller vorhandenen ist nicht nur durch rechtliche Regulierun- Widersprüche will maiz weiterhin Raum für gen bestimmt. Vielmehr sind auch diskur- die kollektive Organisation verschiedener sive und wirtschaftliche Faktoren für ihre Migrantinnengruppen und deren Interessen konkreten Lebensverhältnisse entschei- schaff en und diese nach innen fördern und dend. nach außen fordern. 35 2.4 Qualität und Quantität von Arbeit – ein Wider- spruch? Zur Bedeutung von Qualitätsstandards im Arbeitsraum Europa

Der europäische Arbeitsraum ist geprägt durch hohe Er- auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen werbslosigkeit: Nach offiziellen Angaben sind in der Eu- Flexibilität und Sicherheit zu achten sowie die Qualität der Arbeitsplätze zu erhöhen. ropäischen Union gegenwärtig über 19 Mio. Menschen Darauf bezugnehmend möchte ich im erwerbslos gemeldet. Davon ist etwa ein Drittel schon Folgenden darlegen, dass Qualitätsstan- länger als ein Jahr auf Arbeitssuche und gilt damit als dards von Arbeit nicht per se im Wider- spruch zur Quantität von Arbeitsplätzen, langzeitarbeitslos. Die beschäftigungs- und sozialpo- sondern vielmehr in einem komplemen- litischen Debatten in den meisten EU-Mitgliedstaaten tären Verhältnis stehen und auch deshalb drehen sich daher um die Frage, wie Erwerbssuchende von enormer gesellschaftlicher Bedeutung in den Arbeitsmarkt (re-)integriert werden können. sind. Prekarisierung der Arbeit Insgesamt gestaltet sich die Sicherung Neben strukturellen Beschäftigungs- bzw. Schaff ung von Arbeitsplätzen als defi ziten stellt die Polarisierung der Ar- ein schwieriges Unterfangen. Ergriff ene beitsbedingungen im Arbeitsraum Europa Maßnahmen zeitigen vielfach nicht die ein zentrales Problem dar. Seit Ende der erhoff ten Resultate. Umso mehr geraten 1970er Jahre nimmt die Anzahl unbefris- unter der Devise „Hauptsache Arbeit!“ teter Vollzeit-Beschäftigungsverhältnisse qualitative Ansprüche an Arbeit unter kontinuierlich ab; demgegenüber wächst (Markt-)Druck. In dominanten arbeitspo- der Anteil befristeter Arbeitsverträge, von litischen Diskursen wird das Problem der Leih- und Gelegenheitsarbeiten stetig, und mangelnden Quantität als eine notwendi- auch Tätigkeiten im Bereich der (Schein-) ge Folgeerscheinung der vermeintlich zu Selbständigkeit und im Niedriglohnbereich hohen Qualität der Arbeitsbedingungen mehren sich merklich (vgl. Talos 1999). Da- betrachtet. Qualitätsstandards von Arbeit mit wächst die Kluft zwischen einer abneh- – wie bspw. Aus- und Weiterbildungsan- menden Anzahl von Arbeitsplätzen mit sprüche, Kündigungs- und Gesundheits- relativ guten Arbeitskonditionen und einer Ayla Satilmis schutz oder Mitspracherechte – gelten steigenden Anzahl mit relativ schlechten. ist dabei als Hemmnisse für die internationale Gegenwärtig stehen im Arbeitsraum Euro- Politikwissenschaftlerin; Lehrbeauftragte an der Wettbewerbsfähigkeit. Entsprechend hän- pa drei Viertel sog. „good jobs“ ein Viertel Universität Marburg und gen drohende Standortverlagerungen wie sog. „bad jobs“ gegenüber (European Foun- freie Mitarbeiterin an der ein Damoklesschwert über Verhandlungen dation 2004) – mit der Tendenz zu weiterer Forschungs- und Kooperationsstelle um höhere Löhne, moderate Arbeitszeiten, Verschiebung zulasten der Arbeitsplätze „GendA – Arbeit, verbesserten Gesundheitsschutz u.a. Auch besserer Qualität. Demokratie, Geschlecht“. Forderungen nach Geschlechtergleichstel- www.gendanetz.de lung oder nach ökologischer Nachhaltig- Abbau von Qualitätsstandards bedeutet keit werden im aktuellen politischen Klima ™Zunahme von entstandardisierten und als Standortgefährdung eingestuft. Quali- prekären Arbeitsformen tät und Quantität von Arbeit werden damit ™Anstieg der Lohnspreizung; Ausweitung als Widerspruch gefasst. von Niedrigeinkommen ™Arbeitsintensivierung; Zunahme der Demgegenüber wird auf EU-Ebene das Arbeitsbelastungen Ziel hoher Beschäftigung mit qualitativen ™Individualisierung und Privatisierung Aspekten von Arbeit durchaus in Verbin- sozialer Risiken dung gebracht: So stellt die Europäische Kommission einen Zusammenhang zwi- Die Absenkung von Qualitätsstandards – schen der Quantität an Arbeitsplätzen und bspw. im Hinblick auf Einkommen, Arbeits- der Qualität von Arbeitsverhältnissen her platzsicherheit, Gesundheitsschutz, soziale und verweist in verschiedenen Politikemp- Absicherung u. v. m. – lenkt das Problem fehlungen darauf, dass eine zukunftsfähige der Massenerwerbslosigkeit sukzessive in Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik das der prekären Beschäftigung um. Zu- qualitative Aspekte von Arbeit berück- sätzlich zu dem gesellschaftlichen Gefälle sichtigen muss. Sie plädiert dafür, bei der zwischen Erwerbslosen und Erwerbstäti- Modernisierung der Arbeitsorganisation gen entwickelt sich eine gesellschaftliche

36 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit Spaltungsdynamik zwischen jenen, die Wettbewerbsfähigkeit. Zudem wird der sich mit prekären, sozialrechtlich gering Akzent in den aktuellen beschäftigungs- abgesicherten Jobs gerade so über Wasser politischen Leitlinien (2005-2008) noch halten können und keine Planungssicher- stärker auf Wachstum und Beschäftigung heit haben, und jenen, die in regulären, gelegt und die Frage der sozialen Integra- unbefristeten Arbeitsverhältnissen ihre Le- tion bleibt ausgeklammert (vgl. Amtsblatt bensplanung in Angriff nehmen können.1 2005).

Im Zuge dieses Prekarisierungsprozesses Allerdings darf nicht übersehen werden, wird deutlich, dass Erwerbsarbeit zwar nach dass die Thematik um qualitative Anforde- wie vor als ein zentrales Vergesellschaf- rungen an Arbeit in den Mitgliedstaaten tungsmedium fungiert und eine wichtige durch die EU wichtige Impulse bekommen Voraussetzung für die gesellschaftliche Teil- hat, die nicht in Richtung Absenkung und habe darstellt2; gleichzeitig zeigt sich aber Aufhebung weisen: So werden in verschie- auch, dass nicht jede Arbeit verlässlich vor denen Richtlinien Mindeststandards for- sozialer Ausgrenzung und Armutsrisiken muliert, die die Flexibilisierungsgrenzen schützt und die bloße Erwerbsintegrati- nach unten abstecken, und damit der Ab- on nur bedingt gleichberechtigte gesell- wärtsspirale entgegenwirken.4 Dies deutet schaftliche Partizipationschancen eröff net auf Potenziale der europäischen Legislati- (vgl. Satilmis 2005). ve und Judikative. Europäische Vorgaben haben bisher vielfach Anknüpfungspunkte Arbeitsplatzqualität und die EU für Initiativen auf gesetzlicher und betrieb- Die EU hat sich dieser Problematik vor ei- licher Ebene geboten und ein gewisses Ge- nigen Jahren angenommen und das Thema gengewicht zu den dominanten beschäf- der sozialen Integration in Verbindung mit tigungs- und sozialpolitischen Debatten der Frage der Qualität von Arbeit auf die dargestellt. Welcher Stellenwert dem Qua- politische Agenda gesetzt. Unter der Devise litätsaspekt in der Zukunft beigemessen more and better jobs hat die EU schließlich wird, hängt insbesondere davon ab, inwie- einen Katalog mit zehn Qualitätskriterien weit es Gewerkschaften, sozialen Netzwer- von Arbeit vorgelegt (KOM 2001).3 Im Jahr ken u. ä. gelingt, diese Anstöße mit eige- 2003 wurde die Frage der Arbeitsplatzqua- nen Inhalten zu füllen und voranzutreiben lität auch als Ziel in die beschäftigungspo- (vgl. Kurz-Scherf 2005). litischen Leitlinien aufgenommen. Dadurch haben die von der Kommission festgeleg- Fazit ten Kriterien verpfl ichtenden Charakter für Während Politik und Wirtschaft Stand- die Arbeits- und Beschäftigungspolitik der ortschwächen und vermeintliche Wett- einzelnen EU-Mitgliedstaaten erhalten. bewerbsnachteile aufgrund (zu) hoher Qualitätsstandards von Arbeit beklagen, Die Steigerung der Arbeitsplatzquali- ignorieren sie, dass ohne die Zuerkennung tät und der Arbeitsproduktivität wurden gewisser qualitativer Ansprüche – wie hierbei miteinander verbunden und in bspw. existenzsicherndes Einkommen, dieser Kombination zu einem der drei soziale Absicherung oder etwa moderate „allgemeinen Ziele“ der europäischen Arbeitszeiten – kein Geld und/oder keine Beschäftigungspolitik erhoben. Damit Zeit für die Nachfrage nach Konsumgütern geht die EU von einem positiven Zu- oder Dienstleistungen bleibt. Deregulie- sammenhang zwischen der Qualität von rungs- und Kostenminimierungsstrategien Arbeit(sverhältnissen) und der Produktivi- verkennen mithin, dass die Frage der Qua- tät aus und weist auf die negative Korrelati- lität von Arbeit eng verwoben ist mit dem on zwischen niedrigen Qualitätsstandards Anspruch auf Sicherung und Schaff ung und geringerem Produktivitätswachstum von Arbeitsplätzen. hin (vgl. KOM 2003, S. 3 ff .). Nach einer Studie der European Foun- Wenngleich die Frage der Arbeitsplatz- dation von 2004 haben in den letzten qualität von der EU-Kommission zwischen- Jahrzehnten die Arbeitsbelastungen zuge- zeitlich zum „Herzstück des europäischen nommen; zu den alten Belastungen sind Sozialmodells“ (KOM 2001, S. 3) erklärt im Zuge der Arbeitsintensivierung zahlrei- worden war, kommt dem Qualitätsaspekt che neue hinzugekommen, und es bedarf im Kontext der europäischen Beschäfti- keiner prophetischen Gaben um voraus- gungspolitik insgesamt eine eher unterge- zusehen, dass infolge dieser Überlastun- ordnete Bedeutung zu. Dies zeigt sich u. a. gen qualitative Standards von Gütern und darin, dass beschäftigungspolitische Erfol- Dienstleistungen in Mitleidenschaft gezo- ge weniger an Verbesserungen im Bereich gen werden und auf diesem Wege sich die der Arbeitsplatzqualität bemessen werden Frage der Wettbewerbs- bzw. Absatzfähig- als am Wirtschaftswachstum und an der keit stellen wird. Das bedeutet, dass sich 37 Literaturhinweise die Thematik um die Qualität von Arbeit Amtsblatt der Europäischen Union 2003: Beschluss des nicht nur aus der Perspektive der Beschäf- Rates vom 22. Juli 2003 über die Leitlinien für beschäfti- tigten, sondern auch aus der Perspektive gungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten, Brüssel (2003/578/EG). der KonsumentInnen, Betreuten, KlientIn- Amtsblatt der Europäischen Union 2005: Entscheidung nen etc. stellt. des Rates vom 12. Juli 2005 über Leitlinien für beschäfti- Aus einer sozial- und geschlechterge- gungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten, Brüssel (2005/600/EG). rechten Perspektive erscheint es dring- European Foundation for the Improvement of Living lich, die derzeit scheinbar unverrückbare and Working Conditions 2004: Annual review of working conditions in the EU: 2003-2004, Dublin. Maßgabe des ökonomischen Wachstums KOM 2001: Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik: Ein zu durchbrechen. Eine große Herausfor- Konzept für Investitionen in Qualität, Mitteilung der Kom- derung für Politik und Wirtschaft besteht mission, Brüssel, 20. Juni 2001. KOM 2003: Die jüngsten Fortschritte in der Verbesse- darin, der fortschreitenden Prekarisierung rung der Arbeitsplatzqualität, Mitteilung der Kommission, von Arbeits- und Lebensbedingungen ins- Brüssel, 26. Nov. 2003. besondere auch durch die Förderung und Kurz-Scherf, Ingrid 2005: Qualitätskriterien von Arbeit– Ein Überblick. In: WSI-Mitteilungen, Heft 4, S. 193-199. den Ausbau qualitativ hochwertiger Ar- Satilmis, Ayla 2005: Qualitätsstandards in Zeiten andau- beitsplätze Einhalt zu gebieten. Schließlich ernder Massenerwerbslosigkeit: Luxus oder Notwendig- stellt die Entwicklung bzw. Gewährleistung keit? In: Lepperhoff , Julia/Satilmis, Ayla/Scheele, Alexandra (Hg.): Made in Europe. Geschlechterpolitische Beiträge zur von arbeitsbezogenen Qualitätsstandards Qualität der Arbeit, Münster, S. 266-281. eine zentrale Voraussetzung für die Zu- Talos, Emmerich (Hg.) 1999: Atypische Beschäftigung. kunftsfähigkeit des Arbeits- und Sozial- Internationale Trends und sozialstaatliche Regelungen, Wien. raums Europa dar.

1 Diese Problematik ist stark geschlechterspezifi sch ge- prägt, u. a. weil der Frauenanteil in entstandardisierten Beschäftigungsverhältnissen (z. B. geringfügiger Beschäf- tigung, Teilzeitarbeit, befristeter Beschäftigung u.a.) über- proportional hoch ist. 2 Eine exponierte Bedeutung für die soziale Inklusion erhält Erwerbsarbeit zum einen dadurch, weil wohlfahrts- staatliche Leistungen und (materielle) Sicherheit eng an die Teilhabe am Arbeitsmarkt gekoppelt sind. Zum an- deren werden Prozesse der Identitätsfi ndung, der eigen- ständigen Absicherung sowie des Wohlbefi ndens und der Sinnstiftung – nicht nur, aber auch – über Erwerbstätigkeit vermittelt. 3 Ohne hier auf einzelne Kriterien näher eingehen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass in dem vorgelegten Konzept ein breites Spektrum an Indikatoren ausgewählt wurde, das die Frage der Qualität der Arbeit nicht – wie vielfach üblich – auf ergonomische Aspekte reduziert und auch nicht ausschließlich auf den Arbeitsplatz bezogen defi niert. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Indikato- ren in einen engen Kontext mit Aspekten der sozialen Inte- gration bzw. des gesellschaftlichen Ausschlusses gestellt werden, sondern auch das Bekenntnis zur Arbeitnehmer- mitbestimmung und zur Geschlechtergleichstellung. 4 Infolge der Umsetzung diverser Vorgaben von EU- Richtlinien wurden bspw. in der Bundesrepublik Deutsch- land – die von Gewerkschaftsseite lange geforderten, jedoch nicht durchsetzbaren – Arbeitsschutzrechte er- zwungenermaßen novelliert und einige Standards erheb- lich angehoben („Arbeitsschutzgesetz“, BGBl. I 1996, S. 1246).

38 2 Hauptsache Arbeit? Ë Mythos: Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit e dunkel- ja, da ist ein lziffer ge ich euch, : jeder die dunke lziffer. das sa s schnell mal bt die dunke a. da heißt e g a draußen to en zutritt h er bevölkerun d der man kein . ein achtel d m gang, zu haushalt das gar nicht, ziffer i er jede achte wissen wir shalt dies od er im grunde issen zehnte hau d jeder 5. ab lziffer! wir w in schon, bal r: die dunke ißt es ohneh ich sage nu uns niemand he lich los ist – außen! weil ist, was wirk ht, ja, da dr r ganzen was los klich geschie ie, trotz ihre draußen wir en demoskop ngs- nicht, was z ihrer ganz marktforschu ten gibt. trot nstrumente, korrekten da oskopischen i .h. wir haben die otz ihrer dem wir nichts. d ngskultur, tr tien, wissen befragu hen zitterpar en biometrisc d.. rden segmente, d en in der han . dauernd we en von zahl ten überprüft len, unmeng von haushal nnte beinahe zah sie tausende uch, man kö chnell haben antworten a orten der sicher, s ie haushalte en und antw efragt, und d dieses befrag den haushalte b eres mehr als tworten, wer t nichts and ie niemals an n, es geschieh haushalte, d bst genügen, sage bt auch sie: , die sich sel te. Aber es gi halten wollen haushal sich da raus aushalte, die da- sie befragt. h icht, was sie ist. man weiß n n es peinlich zahlen und nte zahlen, dene nmengen von hlen, impote haben sie u schwache za lziffer, und dann sind aussage bt die dunke können. das d daneben to er it abbilden so wollen. un sse , die imm m len, wenn sie gewissen ma ächliche zah , also der un hinter den schw dunkelziffer um, sie tobt eche von der um uns her unter- ja ich spr elziffer tobt n haben, die ibt. die dunk ieb genomme i- ßen vor ble e wir in betr agte, ja löchr au d zahlen, di ehr als angen en ziffern un f. bis nichts m zerbröseln ander on hinten au igentlich am sie. frisst sie v en sind, die e ng jeg- wandert ard vorhand z, als lähmu im eu-stand e inkompeten e statistiken fürchterlich g eln als 5. derries ochen 200 ns nie iener festw , auf u stheater, w sind hrung volk er“, urauff ü ekraft. dunkelziff aussag en tobt die licher gla „drauß kathrin rög

39 3 Wer will, kann gewinnen!

Ë Mythos: Soziale Mobilität 3.1 Drinnen und Draußen, Oben und Unten. Anfragen an Kategorien sozialer Ungleichheit.

Statt als Ausgrenzung aus der Gesellschaft muss Exklusion als Ausgrenzung in der Gesellschaft verstanden werden. Erst dann werden die „Ausgeschlossenen“ wieder in den Verhältnissen sicht- bar, die sie ausschließen und mit denen sie sich auseinandersetzen.

Die OrganisatorInnen der Sechsten zung sollte deutlich werden, dass es nicht Armutskonferenz haben sich die Aufgabe um Wortklauberei und defi nitorische Spitz- gestellt, Mythen zu bekämpfen. In der Tat fi ndigkeiten geht, sondern um Unterschie- sind wir, wenn es um die Bezeichnung der de von eminent politischer Bedeutung. Ursachen, die Beschreibung der Folgen und die Suche nach Auswegen aus der Armut Die Kategorie der „sozialen Ausgren- geht, von Mythen eingekreist. Allerdings zung“ oder „Exklusion“ wurde zunächst sind es nicht allein ökonomische Mythen, in Frankreich prominent, dann Ende der die den Blick verstellen. Auch die Sozialwis- 1980er Jahre auf europäischer Ebene in die senschaften tragen gelegentlich kräftig zur politische und wissenschaftliche Debatte Mythenbildung bei. Ein sprudelnder Quell eingeführt. Sie sollte auf tiefgreifende öko- von Mythen stellt aber vor allem das, was nomische, gesellschaftliche und politische ich die „Alltagssoziologie“ nennen möchte, Veränderungen hinweisen und zugleich dar: die Bilder und Einteilungsschemata, dringlichen Handlungsbedarf anzeigen. mit denen wir uns die soziale Welt zurecht- „Exklusion“ ist eine kritische Kategorie, legen, um uns in ihr möglichst reibungslos und das in einem doppelten Sinn. Sie er- bewegen zu können. laubt es, begriffl ich geschärft, die Trag- weite jener Veränderungen off enzulegen Mythen sind eine zwiespältige Angele- und dazu beizutragen, Alternativen für die genheit. Sie enthalten immer Wahrheiten zukünftige Entwicklung hoch entwickelter und verbergen sie zugleich, verzerren sie kapitalistischer Gesellschaften zu umrei- durch Verschiebungen in den Proportio- ßen. „Kritisch“ bezieht sich in diesem Zu- nen, Verkehrungen von Ursachen und Wir- sammenhang auf den Wortursprung – Kri- kungen, die Vorspiegelung übermächtiger sis, ein entscheidender Wendepunkt. Sachverhalte. Vermutlich haben die Orga- nisatorInnen der Armutskonferenz nicht Daneben ist „Ausgrenzung“ oder „Exklu- Martin Kronauer an die ehrwürdigen Mythen der Antike ge- sion“ aber auch eine kritische Kategorie im ist Professor an der Fachhochschule für dacht, als sie den Begriff aufnahmen. Viel- umgangssprachlichen Sinn, eine „proble- Wirtschaft in Berlin. mehr dürften sie die eher kleinlichen, in- matische“ nämlich. Denn sie kann ebenso teressengeleiteten Spukgestalten gemeint dafür eingesetzt werden, die Tragweite der haben, die von sogenannten AnalystInnen Veränderungen unkenntlich zu machen, und den immer gleichen ExpertInnen in Alternativen auszublenden und eine Poli- Talkshows für die gesellschaftliche Realität tik zu fördern, die die Lage der in der Krise ausgegeben werden. lebenden Menschen möglicherweise noch erschwert. Im folgenden werde ich mich mit eini- gen Beschreibungen und Deutungen von Eine Auff assung von Exklusion in diesem Armut und Ungleichheit auseinanderset- zweiten, problematischen Sinn zeigt sich zen, die in den letzten Jahren für die Ge- vor allem in drei weit verbreiteten, eng un- sellschaftsdiagnose und Gesellschaftspoli- tereinander in Beziehung stehenden und tik auf nationaler wie europäischer Ebene für die Alltagssoziologie durchaus plausib- bedeutsam geworden sind. Sie gruppieren len Annahmen: sich alle um das Bild einer in ein „Innen“ und ein „Außen“ gespaltenen Gesellschaft. 1. „Exklusion“ handelt von gesellschaftli- „Exklusion“ „Ausschließung“ „Unterschicht“ chen Randphänomenen, den „Ausge- sind dabei die zentralen Kategorien. schlossenen“, „Ausgegrenzten“. Ziel dieser begriffl ichen Auseinanderset- zung ist es, Unterscheidungen vorzuneh- 2. Die „Ausgeschlossenen“ stehen außer- men: zu unterscheiden zwischen dem, was halb der Gesellschaft, wenn nicht von ich als den Wahrheitsgehalt der Kategorien Sozialität überhaupt. ansehe, und dem, was ich als ihre mystifi - zierende, den Blick verstellende Deutung 3. Das Ziel des „Kampfs gegen Exklusion“ betrachte. Im Zuge der Auseinanderset- ist die „Wiedereingliederung“.

3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität 41 Um das Problematische an diesen An- Gesellschaftliche Zugehörigkeit und nahmen zu verdeutlichen, konfrontiere ich Teilhabe wurde im ersten Vierteljahrhun- sie mit drei Gegenpositionen. Sie entsprin- dert nach dem Zweiten Weltkrieg in den gen einem kritischen Exklusionsbegriff im hoch entwickelten Industriegesellschaften zuerst angesprochenen Verständnis. Westeuropas im Wesentlichen auf zwei Wegen gefördert: durch ein starkes wirt- 1. Die Kategorie „Exklusion“ beschäftigt schaftliches Wachstum, das sich in Beschäf- sich nicht mit gesellschaftlichen Rand- tigungswachstum übersetzte (zunächst phänomenen. Sie verweist stattdessen allerdings vornehmlich für die männliche aus zwingenden Gründen vom gesell- Erwerbsbevölkerung), und durch die Aus- schaftlichen „Rand“ ins gesellschaftliche weitung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen „Zentrum“, auf die Konstitutionsbedin- und Absicherungen für Notsituationen – gungen und den Wandel von sozialer durch Arbeit, insbesondere Erwerbsarbeit und politischer Ungleichheit. Sie öffnet also und durch soziale Rechte. damit den Blick für neue soziale und po- litische Problemlagen. Die Bedeutung der Erwerbsarbeit für gesellschaftliche Zugehörigkeit ergibt 2. Ausgrenzung kann heute weniger denn sich daraus, dass sie die Menschen in je als Ausgrenzung aus der Gesellschaft wechselseitige Abhängigkeitsbeziehun- verstanden, sondern muss vielmehr als gen einbindet, in eine Arbeitsteilung, die Ausgrenzung in der Gesellschaft begrif- sie aufeinander angewiesen sein lässt. fen werden. Sie stellt ein gesellschaftli- Die französischen Autoren in der Exklu- ches Ungleichheitsverhältnis besonde- sionsdiskussion sprechen hier von „Inter- rer Art dar. Die Ausgegrenzten sind Teil dependenz“ und der durch sie gestifteten der Gesellschaft, auch wenn sie nicht an „sozialen Kohäsion“. Diese wechselseitigen ihren Möglichkeiten teilhaben. Die Vor- Abhängigkeiten schließen Machtungleich- stellung von Ausgrenzung aus der Ge- gewichte und Ausbeutungsverhältnisse sellschaft asozialisiert die Ausgeschlos- ein, aber auch Widerstandsmöglichkeiten senen. Die These der Ausgrenzung in und Anerkennungsbeziehungen. Die aus der Gesellschaft verortet dagegen die der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Aus- Ausgeschlossenen in gesellschaftlichen geschlossenen dagegen werden nicht ein- Bezügen und Verhältnissen, die sie aus- mal mehr ausgebeutet, wie Robert Castel schließen. es einmal formuliert hat. Die Wechselseitig- keit der Sozialbeziehungen wird gekappt, 3. Exklusion stellt die Demokratie in Frage. an ihre Stelle tritt die einseitige Abhängig- Das angemessene Ziel eines „Kampfs ge- keit der Betroff enen von der Unterstützung gen Exklusion“ ist nicht die „Wiederein- durch andere. gliederung“ von Individuen in ausgren- zende Verhältnisse, sondern vielmehr Die Bedeutung von Rechten für gesell- die Überwindung solcher Verhältnisse. schaftliche Zugehörigkeit liegt darin, dass Hierzu wäre eine Neubestimmung des mit ihnen die Einzelnen als Bürger eines Verhältnisses von Bürgerstatus und Er- Gemeinwesens anerkannt werden. Nicht werbsarbeit ein wichtiger Schritt. nur mit persönlichen und politischen, son- dern auch sozialen Rechten ausgestattet Im folgenden werde ich diese gegensätz- zu sein bedeutet, ein Anrecht auf Teilha- lichen Sichtweisen kurz kommentieren. bemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben entsprechend kulturell bestimm- Vom „Rand“ ins „Zentrum“ ter Bedürfnisse zuerkannt zu bekommen Die Kategorie „Exklusion“ wird entschärft, – einschließlich eines bestimmten Niveaus wenn sie lediglich als weiterer Beitrag zu ei- von Lebensstandard, sozialer Absicherung ner Randgruppentheorie verstanden wird. und Unterstützung bei der Entfaltung von Gewiss setzt sich der Exklusionsbegriff mit Lebenschancen. Die Kehrseite von Bürger- anhaltender Armut und Arbeitslosigkeit Innenrechten ist, dass sie diejenigen ganz auseinander. Er tut dies aber in einer Art oder teilweise ausschließen, denen der und Weise, die dazu zwingt, vom „Rand“ ins Bürgerstatus nicht oder nur partiell einge- gesellschaftliche „Zentrum“ vorzudringen. räumt wird. Auch beseitigen soziale Rechte (z.B. in der Form von Ansprüchen auf ge- Zunächst erfordert der Ausgrenzungs- setzliche Versicherungsleistungen) soziale begriff , sich darüber Rechenschaft abzu- Ungleichheiten nicht. legen, was Zugehörigkeit zur Gesellschaft und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Es ist hier nicht genug Raum, um den be- bedeuten – und dies nicht nur in einem sonderen historischen Umständen nachzu- allgemeinen Sinn, sondern in konkret-his- gehen, die ein Vierteljahrhundert lang re- torischer Weise. lative Vollbeschäftigung und den Ausbau

42 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität von Sozialstaaten ermöglichten. Die Folgen ten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten hat und Erfahrungen der Kriegs- und Vorkriegs- einen neuerlichen Schub in der Individu- zeit wären in diesem Zusammenhang zu alisierung von Lebensformen ausgelöst. erwähnen, aber auch die Konfrontation mit Damit erweiterten sich die Chancen, ei- der Sowjetunion im anschließenden „kalten gene Wege, losgelöst von herkömmlichen Krieg“. Jedenfalls hat in dieser Periode eine Bindungen, zu gehen. Die Kehrseite aber bis dahin nicht gekannte institutionelle Ein- ist, dass die Tragfähigkeit sozialer Netze bindung der arbeitenden Bevölkerung und gerade bei denen schwächer geworden zu der sie repräsentierenden Organisationen sein scheint, die ihrer am meisten bedürfen in die bürgerliche Gesellschaft stattgefun- – bei den Lohnabhängigen in prekärer Po- den, die bis heute unser Verständnis von sition am Arbeitsmarkt. gesellschaftlicher Teilhabe prägt. Der französische Soziologe Robert Castel Allerdings war diese „Integration“ sehr spricht von „Schockwellen“, die bereits seit voraussetzungsvoll und in ihrer Grundla- zwei Jahrzehnten von der Reorganisation ge keineswegs gefestigt. Die eingebaute der Unternehmen und dem politischen Instabilität entspringt dem besonderen Umbau der Weltökonomie ausgehen. Der Verhältnis der beiden bislang angespro- Exklusionsbegriff lenkt den Blick darauf, chenen Formen von gesellschaftlicher wie diese Schockwellen die institutionel- Zugehörigkeit und Teilhabe – Einbindung len Grundpfeiler der gesellschaftlichen in die gesellschaftlich anerkannte Arbeits- Einbindung und Teilhabe unterspülen: die teilung und sozialer BürgerInnenstatus über Erwerbsarbeit und gesellschaftliche – zueinander. Sie sind aufeinander ange- Arbeitsteilung vermittelte Einbindung in wiesen, können einander ergänzen, aber soziale Wechselseitigkeiten, die soziale auch zueinander in ein Spannungsverhält- Ausgleichsleistung von Sozialstaaten und nis treten. Denn Erwerbsarbeit kann zwar die Unterstützungskapazität sozialer Net- in wechselseitige Sozialbeziehungen ein- ze. Das Bild von den Schockwellen ver- gliedern, garantiert aber nicht einmal für deutlicht, dass das gesamte Gefüge der alle Erwerbstätigen Teilhabemöglichkeiten prekären Balance von Zugehörigkeits- und entsprechend einem kulturell angemesse- Teilhabeweisen „ins Rutschen“ gerät und nen Lebensstandard (Beispiel: die „arbei- nicht nur der gesellschaftliche „Rand“ be- tenden Armen“). Umgekehrt sind soziale troff en ist. Damit wird aber auch das Fun- Rechte und die sie tragenden Institutionen, dament unserer modernen Vorstellung von die für einen sozialen Ausgleich und ange- Demokratie in Frage gestellt: dass nämlich messene Lebensverhältnisse sorgen sollen, persönliche und politische Rechte sozial auf die fi nanziellen Erträge aus Erwerbs- abgesichert sein müssen, sonst lassen sie arbeit angewiesen, können aber ihrerseits sich nicht gewährleisten. nicht Erwerbsarbeit sicherstellen. Denn ein Recht auf Erwerbsarbeit gibt es im Kapita- Die Wirkungen betreff en die Menschen lismus nicht. Schon deshalb bleiben Zuge- allerdings in unterschiedlicher und abge- hörigkeit und Teilhabe hier immer bedroht. stufter Weise. Dabei kommen die klassi- Besonders deutlich wird dies im Fall an- schen Faktoren der sozialen Ungleichheit haltender Arbeitslosigkeit. Auf diesen Fall ins Spiel – die unterschiedliche Verteilung hin sind die sozialen Sicherungssysteme von Ressourcen nach sozialer Herkunft, nicht ausgelegt, sondern vielmehr darauf, Bildung und Ausbildung, Vermögen, sozi- kurzfristige Hilfen bereitzustellen. Anhal- alen Beziehungen. Äußert sich die Verun- tend Arbeitslose sind deshalb in hohem sicherung der/des mittleren Angestellten, Maße der Gefahr ausgesetzt, Lebens- und die/der vom Fusionsfi eber in ihrem/seinem Teilhabemöglichkeiten einzubüßen, auch Unternehmen erfasst wird, vielleicht in wenn ihnen der soziale Bürgerstatus nicht anhaltendem Stress, so kann die Unsicher- formell aberkannt wird. Die Wiederkehr der heit des/der ArbeiterIn am Band oder der Arbeitslosigkeit in den 1980er Jahren und Fertigungsinsel in demselben Unterneh- ihre Verfestigung in der Folgezeit stellen men bereits existenzbedrohliche Formen daher eine besondere Herausforderung für annehmen. Die/der gering qualifi zierte/n, „soziale Kohäsion“ in den hoch entwickel- ältere/n Arbeitslose/n wiederum können ten kapitalistischen Gesellschaften dar. die Schockwellen schon zu Boden gerissen haben, ohne dass sie/er noch die Möglich- Schließlich gilt es noch eine dritte Weise keit hätte, sich wieder aufzurichten. In der der sozialen Einbindung zu berücksichti- Tatsache, dass die Schockwellen weite Teile gen: diejenige in die informellen Wechsel- der Gesellschaft erfassen, liegen Potenzia- seitigkeiten persönlicher Nahbeziehungen, le der Solidarisierung; anhand der Unter- also in die Netzwerke von Verwandtschaft schiede jedoch, in denen sich die Schocks und Bekanntenkreisen. Die Phase der wirt- bemerkbar machen, lassen sich die Men- schaftlichen Prosperität und der erweiter- schen auseinanderdividieren. 43 „Ausgrenzung“ und „Exklusion“ sind be- erwächst. Selbsternannte Bildungsbürger- reits dem Wortsinn nach ebensosehr Pro- Innen erheben sich über eine Lebensform, zess- wie Zustandskategorien. Sie rücken in der sie nur das Gegenteil ihrer selbst damit die biografi schen Weichenstellun- wahrnehmen können. Wer in dieser frem- gen ebenso wie die unterschiedlichen den Welt lebt, hat es sich demnach selbst Gefährdungsgrade ins Blickfeld. Vor allem zuzuschreiben. „Eigenverantwortung“ ist aber zwingt die Prozessperspektive dazu, das Zauberwort der Zeit. Der Sozialstaat die Institutionen, AkteurInnen und Verfah- hat seine Schuldigkeit im Übermaß getan ren kenntlich zu machen, die Ausgrenzung – Armut ist nicht das Problem. in gang setzen und in gang halten. Sie lenkt den Blick auf Unternehmenszentra- Das Bild vom „Innen“ und „Außen“ der len und Finanzmärkte, Gesetzgeber und Gesellschaft, das in den Begriff en „Ausgren- sozialstaatliche Regeln, bis hinunter zu den zung“ und „Exklusion“ mitschwingt, leis- Diskriminierungen, denen Menschen in ih- tet solchen Vorstellungen von getrennten rem Alltag bei Behördengängen und in der Welten und damit zugleich einer moralisie- Nachbarschaft ausgesetzt sind. Wer und renden Be- und Verurteilung der „Außen- was ausschließt wird damit ebenso wich- seiter“ Vorschub. Die große Herausforde- tig wie die Folgen für die Angeschlagenen rung an die begriffl iche Anstrengung und und Ausgegrenzten selbst und deren sozi- für die praktische Auseinandersetzung mit ale Überlebensstrategien. Prozessen der Exklusion besteht darin, den alltagssoziologischen Mythos vom „Drin- „Drinnen“ und „Draußen“ nen“ der Gesellschaft, das dem „Draußen“ In Deutschland taucht derzeit in den Me- entgegengesetzt ist, zu überwinden. Statt dien ein altbekannter, aber lange Zeit ver- als Ausgrenzung aus der Gesellschaft muss schollener Begriff wieder auf, die „Unter- Exklusion als Ausgrenzung in der Gesell- schicht“. In den USA und Großbritannien, schaft verstanden werden. Erst dann wer- wo er schon länger in der öff entlichen De- den die „Ausgeschlossenen“ wieder in den batte kursiert, ist er heftig umstritten. Kriti- Verhältnissen sichtbar, die sie ausschließen kerInnen wenden sich vor allem gegen die und mit denen sie sich auseinandersetzen. Vorstellung, die Angehörigen der „Unter- klasse“ entwickelten ihre eigene Normen- Die Vorstellung von Ausgrenzung aus welt, ihre eigene „Kultur“, die sie vom Wer- der Gesellschaft hat ihre Vorbilder in jenen tekanon der Mittelschichten unterscheidet geschichtlichen Konstellationen, in denen und es ihnen deshalb unmöglich mache, Menschen durch Gesetz, formelle und in- sich in die Gesellschaft zu integrieren. formelle Regeln sowie schiere Gewalt von Einrichtungen der Fürsorge und/oder von In die Richtung einer „Kultur der Armut“ persönlichen Rechten ausgeschlossen zielen Beschreibungen von Unterschicht- werden. Das widerfuhr beispielsweise den verhalten, wie sie etwa in einer weit ver- Vagabunden im 15. und 16. Jahrhundert breiteten deutschen Zeitschrift zu fi nden und im 19. Jahrhundert den ins Arbeits- waren: Unterschichteltern stopfen ihre haus gesteckten Paupers. Es widerfährt Kinder mit Süßigkeiten voll, so dass sie fett heute noch den sogenannten „illegalen“ und krank werden; sie setzen sie der geis- EinwandererInnen. Mehr denn je muss tigen Billigware privater Fernsehsender Ausgrenzung heute aber zugleich und vor aus anstatt ihnen Bücher zu kaufen und allem als Ausgrenzung in der Gesellschaft vorzulesen; nicht materielle Armut sei das begriff en werden. Nicht obwohl, sondern Problem, sondern Bildungsarmut, und die- gerade weil die Menschen heute unter den se wiederum, legt der Artikel nahe, eine Sa- Bedingungen transnationaler Marktbe- che der Einstellung. ziehungen, universalisierter Normen und gesellschaftlich intern verallgemeinerter Über den Zusammenhang zwischen Bürgerrechte leben, ist Ausgrenzung als Schichtzugehörigkeit, Armut und Bildungs- Ausgrenzung in der Gesellschaft möglich. verhalten wäre viel zu sagen – nicht zuletzt Denn die Versprechungen der Zugehörig- die Pisa-Studien haben wieder gezeigt, wie keit bleiben in Kraft, häufi g sogar formale unsinnig es ist, Einkommensarmut und Bil- Berechtigungen, aber sie lassen sich für dungsarmut gegeneinander ausspielen zu viele Menschen nicht einlösen. wollen. Überdies: Entspricht das hier an- geprangerte Verhalten nicht genau dem, Ausgrenzungserfahrung ist Scheiternser- was mit der Privatisierung des Fernsehens fahrung. Sie erwächst aus der Diskrepanz und der Massenproduktion von „junk food“ zwischen dem, was in einer Gesellschaft gerade angestrebt wird, der Konditionie- allen ihren Angehörigen möglich sein soll, rung von Menschen zu unersättlichen aber auch von allen erwartet wird, und Konsumenten? Entscheidender aber ist die gleichwohl unerreichbar bleibt. Langzeit- Attitüde, aus der diese Unterschichtkritik arbeitslose haben nicht deshalb keinen Ort

44 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität in der Gesellschaft, weil sie ohne Erwerbs- Ich hatte darauf hingewiesen, wie not- arbeit sind – das gilt für viele andere auch wendig, aber auch wie prekär die Ver- – ,sondern weil in ihrem Fall Erwerbstätig- bindung von Erwerbsarbeit und sozialen keit verlangt wird, aber nicht zu haben ist. Rechten für Zugehörigkeit und Teilhabe in Sie fallen aus der Wechselseitigkeit sozialer unseren Gesellschaften ist. Die Einbindung Beziehungen heraus und bleiben gleich- in die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf wohl institutionell eingebunden – aber nur der einen Seite und die Anerkennung als als Objekt gesellschaftlichen Handelns, in Bürger mit Rechten und Pfl ichten auf der der einseitigen Abhängigkeit des Fürsorge- anderen tragen auf jeweils besondere und empfängers, wie dies der Soziologe Georg eigenständige Weise dazu bei, Zugehörig- Simmel bereits zu Beginn des zwanzigsten keit und Teilhabe zu vermitteln. Sie lassen Jahrhunderts dargelegt hat. Für jede der sich weder durch einander ersetzen, noch drei zuvor angesprochenen Dimensionen voneinander abhängig machen. Gerade von Zugehörigkeit und Teilhabe ließen das aber wird in den Eingliederungsverein- sich solche paradoxe Formen der Gleich- barungen versucht. Sollten soziale Rechte zeitigkeit vvonon „„Drinnen“Drinnen“ uundnd „„Draußen“Draußen“ aauf-uf- die Menschen ursprünglich vor völliger zeigen, in denen sich Ausgrenzung in der Marktabhängigkeit schützen, so wird nun Gesellschaft heute manifestiert.1 die Gewährung und Qualität sozialer Rech- te mehr und mehr an die Vorleistung einer „Wiedereingliederung“ oder Verpfl ichtung zur Erwerbsarbeit geknüpft Neubestimmung des Verhältnisses – um welchen Preis (sprich: Lohn) auch im- von sozialem Bürgerstatus und mer. Ein Recht auf Erwerbsarbeit aber gibt Erwerbsarbeit? Ein Ausblick es nach wie vor nicht. Allenthalben im Europa der Europäi- schen Union, und seit den letzten Jahren Die hier umrissene Analyse von Zuge- auch verstärkt in Deutschland, wird der hörigkeit und Exklusion weist dagegen in „Kampf gegen Exklusion“ mit dem Ziel der eine andere Richtung. Eine Politik gegen „Wiedereingliederung“ der „Ausgegrenz- Exklusion müsste von der relativen Eigen- ten“ geführt. Die Beseitigung ausgren- ständigkeit der Zugehörigkeits- und Teil- zender Verhältnisse steht demgegenüber habeweisen ausgehen. Sie müsste darauf kaum zur Debatte. Dabei sind die Formen, abzielen, den sozialen BürgerInnenstatus in denen Eingliederung betrieben wird, abzusichern, indem sie ihn weit stärker als selbst durchaus problematisch. Denn sie bisher von der Verpfl ichtung zur Erwerbs- verschieben zunehmend die Verantwor- arbeit entkoppelt. Zugleich aber wäre es tung für den Erfolg oder Misserfolg auf die ihre Aufgabe, Erwerbsmöglichkeiten – in Betroff enen selbst. Durch die Einführung welchem Zeitumfang und in welcher Ver- vertragsförmiger Elemente in die Bezie- teilung über die Lebenszeit auch immer hungen zwischen Behörde und KlientIn- – für alle, die diese anstreben, zu fördern. nen werden sozialstaatliche Leistungen Denn ein „Ende der Erwerbsarbeitsgesell- verstärkt an Vorleistungen gebunden. Die schaft“ ist (noch) nicht in Sicht. Verträge konstitutieren aber keine wech- selseitige Abhängigkeit im strikten Sinn. Denn die Behörde kann nicht zur Einhal- 1 Vgl. hierzu ausführlich Kronauer, Martin 2002: Exklu- sion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten tung verpfl ichtet werden, der/die KlientIn Kapitalismus. Frankfurt am Main, New York (Campus). aber kann an den Vertragsbedingungen scheitern und ist damit Sanktionen ausge- setzt. Es gibt auch kaum eine andere Wahl, als den Kontrakt einzugehen, will man sozialstaatliche Leistungen erhalten. Die Balance zwischen Rechten und Pfl ichten verschiebt sich zulasten der Rechte hin auf die Pfl ichten, insbesondere die Pfl icht zur Erwerbsarbeit.

45 3.2 MigrantInnen für ihre Jobs oft überqualifi ziert

Österreich hat eine qualifizierte Einwanderung, man ™Den höchsten Anteil an dequalifiziert nimmt sie weitgehend aber nicht zur Kenntnis. Nach der Berufstätigen findet man mit rund 44% bei jenen Berufstätigen, die weder in Ös- erfolgten Dequalifizierung findet kein beruflicher Auf- terreich geboren wurden noch die öster- stieg mehr statt. reichische Staatsangehörigkeit besitzen. In Österreich gab es im Mai 2001 rund Bei den Frauen beträgt der Anteil 46%, 586.000 Berufstätige, die für ihre Arbeit bei den Männern 43%. nicht so viel Bildung oder Ausbildung ™An zweiter Stelle stehen bei den Frauen brauchten, wie sie besaßen. Das waren mit rund 30% jene, die zwar die öster- 19% von allen Berufstätigen, die mehr als reichische Staatsangehörigkeit haben, die Pfl ichtschule abgeschlossen hatten, aber im Ausland geboren wurden. Bei rund 15% aller Berufstätigen insgesamt. den Männern stellen die in Österreich Das heißt, ca. ein Siebtel der Berufstäti- Geborenen ohne österreichische Staats- gen hat Qualifi kationen, die formal nicht angehörigkeit rund 31% der Berufs- genutzt werden. Sie sind im Verhältnis zu tätigen, die mit Lehre oder höherem Ab- den Tätigkeiten, die sie ausüben, übermä- schluss dequalifiziert worden sind. ßig gebildet. Darunter waren rund 252.500 ™An dritter Stelle stehen bei den Männern Frauen und 333.500 Männer. Bei den Frau- mit rund 28% Dequalifizierungsanteil die en entsprach das 20% all jener, die mehr im Ausland geborenen österreichischen als Pfl ichtschule abgeschlossen hatten, bei Staatsangehörigen, bei den Frauen mit den Männern 19%. Das heißt, knapp ein ebenfalls rund 28% die in Österreich gebo- Fünftel der verfügbaren Qualifi kationen renen ausländischen Staatsangehörigen. werden in Österreich gar nicht oder nur ™Mit großem Abstand an vierter Stelle teilweise genutzt. stehen die in Österreich geborenen ös- Der größte Teil, nämlich rund 463.200 terreichischen Staatsangehörigen mit dequalifi ziert Berufstätige, war sowohl in einem Anteil von nur rund 17% dequa- Österreich geboren als auch im Besitz der lifiziert Berufstätigen, wobei der Unter- österreichischen Staatsangehörigkeit. Bei schied zwischen den Geschlechtern zu dieser Gruppe machten die Dequalifi zier- vernachlässigen ist. ten 17% der Berufstätigen mit einem hö- Es spielt eine gewichtige Rolle –ob im heren Abschluss als Pfl ichtschule aus, also Ausland oder in Österreich geboren– wenn ungefähr ein Sechstel mit nur teils oder gar man die österreichische Staatsangehörig- nicht genutzten Qualifi kationen. keit hat. Und bei Geburt im Inland spielt August Gächter Rund 122.800 der dequalifi ziert Berufs- es eine ebensolche Rolle, ob man die ös- ist am Zentrum für tätigen hatten entweder nicht die öster- terreichische Staatsangehörigkeit hat oder Soziale Innovation (ZSI) in Wien in den Bereichen reichische Staatsangehörigkeit oder waren nicht. Geburt im Ausland und österreichi- Arbeit, Migration und im Ausland geboren. Das sind bei dieser sche Staatsangehörigkeit oder Geburt im Entwicklung tätig. Gruppe 38% der Berufstätigen mit einem Inland und keine österreichische Staats- höheren Abschluss als Pfl ichtschule, also angehörigkeit haben aber fast genau den mehr als doppelt so hoch wie bei Herkunft gleichen Eff ekt auf den Dequalifi zierungs- Österreich. Anders herum: nur rund 62% anteil. Außerdem zeigt sich, dass das Ge- der Qualifi kationen von Berufstätigen, schlecht auf dieser Ebene praktisch keine die eingewandert sind oder nicht die ös- Rolle für den Dequalifi zierungsanteil an terreichische Staatsangehörigkeit haben, den Berufstätigen spielt. werden voll genutzt. Unter den 122.800 sind rund 37.400 dequalifi ziert Berufstätige mit österreichischer Staatsange- hörigkeit, die im Ausland geboren wurden, und rund 3.700 ausländi- sche Staatsangehörige, die in Ös- terreich geboren wurden, sodass rund 81.700 verbleiben, die we- der in Österreich geboren wurden noch die österreichische Staats- angehörigkeit besitzen. Welchen Anteil bilden diese dequalifi ziert Berufstätigen an allen Berufstäti- gen ihrer jeweiligen Gruppe? Und wie sieht das aus, wenn nach Ge- schlecht unterschieden wird?

46 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität Anzahl und Anteil dequalifiziert Berufstätiger an den Berufstätigen mit einem höheren Abschluss als Pflichtschule nach Geschlecht, Geburtsort und Staatsangehörigkeit, Prozent Geburtsort Staatsbürgerschaft Frauen Männer Gesamt Anzahl Anteil Anzahl Anteil Anzahl Anteil Österreich Österreich 201.147 17,6 262.039 16,6 463.186 17,0 Eines/beide nicht Österreich 51.349 38,0 71.425 37,5 122.774 37,7 Ausland Österreich 18.362 30,1 19.022 28,2 37.384 29,1 Österreich Ausland 1.303 27,7 2.378 31,2 3.681 29,9 Ausland Ausland 31.684 45,6 50.025 43,3 81.709 44,1 Gesamt 252.496 19,8 333.464 18,8 585.960 19,2 Eigene Berechnungen aus Daten der Statistik Austria.

Der Dequalifi zierungsanteil sagt aus, Anteil dequalifiziert Berufstätiger an den Berufstätigen welcher Teil der Berufstätigen einer Grup- nach dem Geschlecht und dem Herkunftsland, Prozent pe zu viel Bildung für die aktuelle Tätigkeit Herkunft Frauen Männer Gesamt hat. Das unmittelbare Fazit aus all dem ist Gesamt 19,8 18,8 19,2 sicher, dass Österreich eine Einwanderung Österreich 17,6 16,6 17,0 von qualifi ziertem Personal hat, diese Qua- EU-15 + Schweiz 22,6 18,0 20,2 lifi zierungen aber nicht nutzt. EU 5 Neue 37,6 32,3 34,8 EU-20 + Schweiz 28,6 23,7 26,0 Je nach Herkunftsland war im Mai 2001 Nicht EU-20 46,9 46,6 46,6 der Anteil der Dequalifi zierten an den Be- Bosnien-Herzegowina 59,6 51,3 54,5 rufstätigen sehr verschieden groß. Rumänien 52,3 51,1 51,6 Serbien-Montenegro 47,0 48,3 47,9 ™ Waren die Berufstätigen in Österreich Kroatien 51,3 44,6 47,3 geboren und besaßen sie österreichi- Türkei 39,2 46,1 44,4 sche Staatsangehörigkeit, dann betrug Sonstige Länder 35,8 40,6 38,6 der Anteil nur rund 17%. Eigene Berechnungen aus Daten der Statistik Austria. ™ Waren sie aus der alten EU und der Herkunft heißt bei Österreich: dort geboren und 2001 Schweiz, dann betrug der Anteil 23% bei dortige Staatsangehörigkeit, bei allen anderen entweder den Frauen und 18% bei den Männern. dort geboren oder 2001 dortige Staatsangehörigkeit. EU-20 entspricht EU-25 ohne baltische Staaten, ™ Waren sie aus den fünf benachbarten Malta und Zypern. neuen EU Ländern von 2004, dann be- trug der Anteil 38% bei den Frauen und 33% bei den Männern, also circa das Dies zeigt, welch großen Unterschied Doppelte des Anteils bei österreichischer für beide Geschlechter in Österreich die Herkunft. Herkunft aus der EU für die Verwertung ™ Bei Berufstätigen aus der übrigen Welt der Bildung macht. Von den Berufstätigen betrug der Dequalifizierungsanteil rund mit einem höheren Abschluss als Pfl icht- 48%. Das heißt, fast die Hälfte der Berufs- schule, die entweder nicht in Österreich tätigen mit einem höheren Abschluss als geboren wurden oder keine österreichi- Pflichtschule und Herkunft von außerhalb sche Staatsangehörigkeit haben, arbeiten der heutigen EU sind unter ihrem eigent- rund 38% unter ihren Qualifi kationen. Bei lichen Qualifikationsniveau beschäftigt Herkunft aus den EU-20 sind das aber „nur“ oder zuletzt beschäftigt gewesen. 26%, bei Herkunft aus anderen Staaten ™ Bei einzelnen Herkunftsländern, beson- hingegen rund 47%. Es geht also von 17% ders Bosnien und Rumänien, sind die bei in Österreich geborenen österreichi- Anteile sogar noch deutlich größer und schen Staatsangehörigen über 26% bei liegen zwischen 50% und 55%. in EU-Ländern geborenen oder mit einer ™ Die Dequalifizierungsanteile sind bei den dortigen Staatsangehörigkeit versehenen Frauen meist größer als bei den Männern. Berufstätigen zu 47% bei solchen, die au- Nur bei Serbien, Türkei und sonstigen ßerhalb der EU geboren wurden oder eine Ländern ist es umgekehrt. Bei der Türkei dortige Staatsangehörigkeit haben. 47% ist besteht mit 6,9 Prozentpunkten auch der das Zweidreiviertelfache von 17%. Weiter größte Unterschied zwischen den Ge- unten wird sich zeigen, dass das auf allen schlechtern. Bei Kroatien beträgt er 6,7 Bildungsebenen genau so ist. Prozentpunkte, bei Bosnien 6,3 Prozent- punkte, bei den fünf neuen EU-Ländern Verteilung der dequalifi ziert Berufs- 5,3 Prozentpunkte, und zwar jeweils zu tätigen über die Bildungsniveaus Ungunsten der Frauen. Gegenüber den Von allen rund 586.000 dequalifi ziert Herkünften ist der Unterschied zwischen Berufstätigen hatten rund 301.400 eine den Geschlechtern gering. Lehre (51%) abgeschlossen, rund 117.100 eine Fachschule (20%), rund 78.600 hatten 47 Matura (13%) und rund 88.800 hatten eine am Schluss die Männer mit Fachschul- Ausbildung auf Hochschulniveau (15%). Bei abschluss (47%). Wie die nachstehende den Frauen war das stärker zu Hochschul- Abbildung zeigt, ergibt sich ein einfa- bildung hin verschoben, bei den Männern ches Muster. Bei den Frauen sind es die stärker zu Lehre. schulischen Abschlüsse (Fachschule, Ma- Betrachtet man nun nur die dequalifi ziert tura), welche die niedrigeren Dequalifi- Berufstätigen mit Geburtsort im Ausland zierungsanteile aufweisen, bei den Män- oder ohne österreichische Staatsangehö- nern die beruflichen Abschlüsse (Lehre, rigkeit und vergleicht ihre Bildungsver- Hochschule). teilung mit jenen, die sowohl österreichi- ™ Bei den Frauen aus den heutigen Drittstaa- sche Staatsangehörigkeit haben als auch ten beträgt der Dequalifizierungsanteil Geburtsort im Inland, dann zeigt sich bei bei Fachschulabschlüssen rund 34%, bei beiden Geschlechtern ein einheitliches Lehrabschlüssen aber 54%. Dazwischen Muster: Bei den „Ausländern“ hat ein deut- liegen die höheren Abschlüsse mit 45% lich größerer Teil der dequalifi ziert Berufs- bei Matura und 49% bei Hochschule. tätigen Matura oder Hochschulbildung. Bei ™ Bei den Männern aus Drittstaaten sind den „österreichischen“ Männern hatten nur schulische Abschlüsse mit 56% bei Fach- 10% der dequalifi ziert Berufstätigen Hoch- schulen und 55% bei Matura deutlich schulbildung, bei den „österreichischen“ stärker dequalifiziert als die anderen Bil- Frauen 19%, bei den „ausländischen“ Män- dungsniveaus. Bei Lehre beträgt der De- nern aber 17% und bei den Frauen 24%. qualifizierungsanteil 44% und bei Hoch- Desgleichen bei Matura 11% bei den „ös- schule 42%. terreichischen“ Männern, aber 22% bei den „ausländischen“, und 11% bei den „ös- Mögliche Ursachen der terreichischen“ Frauen, aber 24% bei den Dequalifi zierung „ausländischen“. Mehr als ein Drittel aller Über die Ursachen können wir eigentlich dequalifi ziert Berufstätigen mit Matura nur spekulieren. Oft ist es wichtig, rasch sind im Ausland geboren oder haben nicht ein Einkommen zu haben. Der Preis ist der die österreichische Staatsangehörigkeit Verzicht auf eine adäquate Beschäftigung. und mehr als ein Viertel jener mit Hoch- Diese kann dann auch später nicht mehr schulniveau. realisiert werden. Erst die Kinder oder die Enkel, falls es welche gibt, erreichen wie- Dequalifi zierungsanteile nach der höhere Bildungsstufen und adäquate dem Bildungsniveau Beschäftigung. Welche Bildungsabschlüsse leiden Nach der erfolgten Dequalifi zierung besonders unter Dequalifizierung? fi ndet kein berufl icher Aufstieg mehr ™ Bei Berufstätigen mit Geburt und / oder statt. Die Dequalifi zierung nach der Staatsangehörigkeit nicht Österreich war ersten Beschäftigung wird im Le- die Situation deutlich anders. Frauen mit benslauf nicht mehr überwunden. Fachschulabschlüssen hatten mit 28% Auf diese Weise bleibt viel vorhandenes den niedrigsten Dequalifizierungsanteil, Arbeitsmarktpotential in Österreich unge- gefolgt von den Männern mit Hochschul- nutzt. Österreich hat eine qualifi zierte Ein- abschluss mit 31%. Als nächstes kamen wanderung, man nimmt sie weitgehend die Frauen mit Matura (35%), dann die aber nicht zur Kenntnis. Männer mit Lehre (36%), die Frauen mit Der Ausbildungsstand von Ausländern Hochschule (43%), die Frauen mit Lehre wird am AMS nicht erhoben. In der Arbeits- und die Männer mit Matura (44%) und losenstatistik scheint nur auf, dass jemand als Putzhilfe gearbeitet hat, aber nicht, dass diese Putzhilfe eigentlich einen akademi- schen Abschluss hat. Dequalifi zierung geschieht, wie eine ge- sonderte Erhebung im Rahmen des EQUAL Projektes „Obersteirische Initiativen zur in- terkulturellen Öff nung der Region“ in Kap- fenberg und Leoben 2002 bis 2005 gezeigt hat, nicht immer erst bei der Arbeitssuche in Österreich, sondern oft schon beim Ein- tritt in den Arbeitsmarkt des Herkunftslan- des. Nicht zuletzt hängt das mit dem selben Grund zusammen, der wohl auch in Öster- reich die Dequalifi zierung erklärt – dass sie einer Minderheit angehören. Auf Minder- heiten wird herumgetrampelt, an ihnen be- weist man die eigene Überlegenheit.

48 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität Anteil dequalifiziert Berufstätige an den Berufstätigen nach dem Geschlecht, dem höchsten Abschluss und der Herkunft, Prozent Gesamt Geburtsort und Staatsangehörigkeit Stb & oder Geburt nicht Ö Frauen Beides Ö Nur Stb Ö Nur Geb Ö Beides nicht Ö Gesamt EU20 +CH Dritt Lehre 19,0 17,6 30,1 27,7 45,6 43,6 27,7 53,5 Fach 17,2 19,0 33,8 30,1 51,1 27,5 20,8 33,7 Matura 11,1 17,2 19,3 24,0 37,2 34,8 25,7 45,4 Hoch 22,6 11,1 27,3 22,4 42,9 42,6 38,3 48,7 Gesamt 19,8 22,6 39,5 34,3 45,6 38,0 28,6 46,9 Männer Lehre 15,7 16,6 28,2 31,2 43,3 36,3 20,1 43,9 Fach 30,6 15,7 25,2 32,3 41,5 47,2 35,2 56,4 Matura 11,8 30,6 32,3 38,9 57,2 44,1 30,0 55,2 Hoch 15,6 11,8 32,9 21,1 54,3 31,1 21,6 42,3 Gesamt 18,8 15,6 28,2 26,0 33,6 37,5 23,7 46,6 Gesamt Lehre 16,8 17,0 29,1 29,9 44,1 38,5 22,7 46,6 Fach 21,6 16,8 28,2 31,6 44,1 34,4 25,5 42,0 Matura 11,5 21,6 22,9 29,5 45,4 39,5 27,7 50,8 Hoch 19,1 11,5 30,0 21,7 48,8 36,1 29,2 44,9 Gesamt 19,2 19,1 33,3 29,1 38,7 37,7 26,0 46,6 Eigene Berechnungen aus Daten der Statistik Austria. EU-20 entspricht EU-25 ohne baltische Staaten, Malta und Cypern.

Wenn es keinen geförderten und gewoll- rens mit der nostrifi zierten Qualifi kation ten sozialen Aufstieg von Zugewanderten anstellen würden. Welcher Arbeitgeber gibt, muss man Qualifi zierte durch Dis- würde Jahre warten, bis ein solches Ver- kriminierung dazu bewegen, dass sie die fahren abgeschlossen wäre? Zudem sitzen schlechter qualifi zierten Tätigkeiten aus- in Nostrifi zierungskommissionen ja die führen. KonkurrentInnen mit drinnen. Hier wäre es dringend nötig, radikale Vereinfachungen Die objektiven Gründe für Dequalifi zie- und eine faire Entscheidungsinstanz zu rung und andere Ergebnisse von Diskrimi- schaff en. nierung sind rar. Diskriminierungsstudien in mehreren Ländern der EU haben ge- Die Gewerkschaften haben in Öster- zeigt, dass schon der geringfügigste „frem- reich von jeher eine ihrer allerwichtigsten de“ Akzent genügt, um am Arbeitsmarkt Aufgaben darin gesehen, die nationalen massiv diskriminiert zu werden. Es gibt Beschäftigten vor den internationalen zu aber keinen einzigen Beruf, wie hoch in der schützen. Sie haben stets Wert darauf ge- Hierarchie auch immer, den man wegen ei- legt, dass nationale ArbeitnehmerInnen nes bloßen Akzents nicht ebenso effi zient nicht nur zuerst in Beschäftigung kommen, ausüben könnte, wie jemand anderer. sondern auch zuerst aufsteigen. Bei fehlen- der Neueinwanderung bleibt aber in der In Österreich herrscht bei Betrieben und Tat nichts anderes übrig, als die bisherigen Behörden die völlig falsche Überzeugung, EinwandererInnen und ihre Nachkommen österreichische Abschlüsse seien von be- in kastengleicher Manier in den unange- sonders hoher Qualität. Dieses Vorurteil ist nehmen und schlecht angesehenen Tätig- durch nichts zu begründen. Die PISA Stu- keiten festzuhalten. Nur Diskriminierung dien zeigen leider nur für den schulischen kann das zuwege bringen. Bereich, wie falsch die Einbildung ist.

Beschäftigte mit nicht anerkannten Qua- lifi kationen sind billig. Sie haben Bildung und Ausbildung und sind entsprechend produktiv, fallen aber in viel niedrigere kollektivvertragliche Einstufungen. Die Be- triebsleitungen haben daher kein Interes- se, dagegen etwas zu unternehmen.

Zum Teil kommt die Dequalifi zierung zustande, weil es fast unmöglich ist, hö- here Abschlüsse in Österreich anerken- nen zu lassen. Nostrifi zierungsverfahren können nur begonnen werden, wenn es bereits ArbeitgeberInnen gibt, die Person bei erfolgreichem Abschluss des Verfah- 49 3.3 Episoden sozialen Ausschlusses – am Beispiel irregulärer MigrantInnen in Wien

Über „Episoden sozialen Ausschlusses“ im wörtlichen (Arbeits)MigrantInnen in die Stichprobe Sinn wird im Folgenden aus einem EU-Projekt berichtet, – ein empirisches Material, das selten er- hoben werden kann und daher einen der das im Zeitraum 2000 bis 2002 in acht europäischen Städ- Wiener Auswertungsschwerpunkte im Ge- 1 ten, darunter auch in Wien, durchgeführt wurde . Ziel samtprojekt bildete3. des Projekts war, Situationen von sozialem Ausschluss, die Leute erleben, zu erheben. Und zu untersuchen, was Teilhabebeschränkungen von (irregulären) MigrantInnen sie dagegen tun, welche Ressourcen sie dabei benützen Ausländische StaatsbürgerInnen (gemeint (können), und wie erfolgreich das Coping gelingt. Drittstaatenangehörige) sind bekannterma- ßen mit einer Vielzahl von Partizipationshin- dernissen konfrontiert, deren Besonderheit Unser im Projekt verwendete Begriff von darin besteht, dass sie nicht nur über die üb- sozialem Ausschluss versteht sich als gra- lichen Marktmechanismen laufen, d.h. über dueller Prozess der Teilhabe oder Nicht- die marktförmige Zuteilung von Ausbildung, teilhabe an Ressourcen und Bereichen der Arbeitsplatz, Einkommen etc., sondern vom Gesellschaft. In verschiedenen Dimensio- Staat selbst festgelegt werden. Das rechtli- nen des gesellschaftlichen Lebens (ökono- che Merkmal „Staatsbürgerschaft“ ist in un- misch-fi nanziell, sozial, kulturell, politisch- seren als Demokratie verfassten Gesellschaf- rechtlich etc.) bestehen für den Einzelnen ten nach wie vor ein legitimes Kriterium, abgestufte Teilnahmebeschränkungen Personen von gesellschaftlicher Teilhabe oder Partizipationschancen, die auch ge- und bestimmten Rechten auszuschließen. genseitig kompensierbar sein können. Erst In speziellen ausländerrechtlichen Rege- wenn die Teilhabebarrieren multidimensi- lungen wird ein stufenförmiger Zugang zur onal werden, verfestigt sich der Ausschluss Teilhabe (in Bezug auf Aufenthalt, Zugang und fi nden sich die Leute in einer margi- zum Arbeitsmarkt etc.) festgeschrieben, der nalisierten Position, abhängig vom Sozial- wiederum die Möglichkeiten und Strategien staat und abgeschnitten von den Ressour- beeinfl usst, die MigrantInnen als soziale Ak- cen autonomer Lebensbewältigung. teurInnen wählen können oder müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Leute, Inge Karazman-Morawetz Unsere Zielgruppe bei der Befragung die ohne entsprechende Berechtigungen ist Soziologin und arbeitet waren in erster Linie nicht Sozialstaatskli- hier leben oder arbeiten (was immer die am Institut für Rechts- und Sozialkriminologie enten oder Situationen am untersten Ende Ursachen dafür sind) sind von ganz basalen in Wien. Arbeits- und der Abstiegsspirale, weil man hier die ge- (BürgerInnen)Rechten und (sozialen) Sicher- Forschungsschwerpunk- glückte Abwendung von Ausschluss nicht heiten ausgeschlossen – allen voran vom te: Rechtsanwendungs- und Institutionenfor- erfahren kann, sondern wir haben die Recht, sich ihren Lebensunterhalt durch of- schung, Sicherheit und Wohnbevölkerung in zwei (leicht benach- fi zielle Arbeit verdienen zu können. Prävention, Evaluation, teiligten) Vierteln des 2. Wiener Gemeinde- Social Exclusion, Gender Mainstreaming. bezirks (in off enen, teilstrukturierten Inter- Veranschaulicht wird diese Situation ex- views, N=203) befragt. Die Suche nach den emplarisch in einem Interview mit einem pol- GesprächspartnerInnen erfolgte nach dem nischen Migranten, das im Nordbahnviertel Zufallsprinzip, durch Ansprechen oder Läu- (Bezirk Leopoldstadt) gemacht wurde: ten an der Wohnungstür. Der Befragte ist ein 42jähriger polnischer Die in Wien gesammelten über 500 Ge- Staatsbürger mit Matura, der seit drei Jah- schichten, in denen Leute Teilnahmebe- ren in Wien lebt. Er wohnt mit seiner Frau, schränkungen für sich wahrnehmen, bieten die nicht erwerbstätig ist, inoffi ziell in ei- eine breite Palette von Ausschlusserfah- ner Mietwohnung und hat einen „fi xen“ rungen, die in Hinblick auf die Schwere, schwarzen Arbeitsplatz als Haustechniker die Dauer und Überwindbarkeit der Exklu- bei einer Filmfi rma. Die 15-jährige Tochter sion natürlich von sehr unterschiedlicher der beiden wohnt nicht bei den Eltern, son- Qualität sind2. Im Zentrum dieses Beitrags dern bei seiner Schwester, die schon länger stehen Ausschlusserfahrungen und Ge- in Wien lebt, und kann aufgrund dieses Ar- genstrategien einer Gruppe von Migrant- rangements eine AHS besuchen. Er kommt Innen, die irregulär (d.h. ohne gültige Auf- für ihren Unterhalt auf. enthalts- und Arbeitsbewilligung) in Wien lebt. Durch Zufall gelangte in Wien eine Der Befragte kommt aus Schlesien, wo er nicht unbeträchtliche Zahl von irregulären 20 Jahre lang in einer Kohlenmine als Fach-

50 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität arbeiter tätig war. Als die Mine geschlos- 2. Das bedeutet Ausschluss nicht in der ak- sen wurde und er keine Chancen auf Ar- tuellen Lebenssituation, sondern auch beit vorfand, entschloss er sich, nach Wien in der Zukunftsdimension: es fehlt an zu kommen, zumal seine Schwester schon Planbarkeit der Zukunft, der künftigen länger in Wien lebte. Er hat als Arbeiter in existenziellen Absicherung für sich und der Schwerindustrie bereits Anspruch auf die Familie. Pension in Polen erworben, kann aber erst 3. Diskriminierung beim aktuellen Ver- im Alter von 55 Jahren die Pension bean- dienst, mit der Folge eines kärglichen tragen. Bis dahin muss er den Lebensunter- Einkommens und Lebensstandards. halt irgendwie verdienen. 4. Soziale Isolation, keine Partizipation am hiesigen sozialen und kulturellen Leben, Die Situation in Wien ohne Aufenthalts- aber auch kein Kontakt zu polnischen und Arbeitsbewilligung empfi ndet er als Landsleuten oder Vereinigungen. „Leben ohne Rechte und soziale Sicher- 5. Schließlich wird angesprochen, dass heiten“. In seiner Tätigkeit als Hauselektri- die Existenz als Schwarzarbeiter in Wien ker verdient er nur die Hälfte des Gehalts selbst eine Copingstrategie mit Verlust seiner österreichischen Kollegen. Er hat der Lebensgrundlagen im Herkunftsland keine Kranken- und keine Pensionsver- ist, die der Befragte aber mangels besse- sicherung (obwohl er arbeitet). Wenn er rer Alternativen in Kauf nimmt. krank ist, sucht er Hilfe bei den „Barmher- zigen Brüdern“4 oder er muss zurück nach Zugleich betreibt der Befragte ein ak- Polen. Er kennt die aufenthaltsrechtlichen tives und umsichtiges Coping, mit einer Bestimmungen5. Als Tourist darf er jeweils Menge eigener Ressourcen (was sich auch 3 Monate in Wien bleiben, dann muss er für im beachtlichen Informationsstand des Be- 2-3 Tage nach Polen fahren und wieder ein- fragten äußert): Immerhin hat er Zugang reisen. Zwei mal im Jahr darf er polizeilich zum Schwarzarbeitsmarkt und zu regelmä- gemeldet sein. Er beklagt, dass er keinen ßigem Einkommen gefunden; er hat (trotz Mietvertrag hat und die Wohnverhältnisse fehlender Meldung) eine Unterkunft, sogar unsicher seien. Aber solange er pünktlich eine eigene Wohnung, gefunden; und er die Miete bezahlt, darf er auch ohne poli- ist in der Lage, seine Familie hier zu haben zeilich gemeldet zu sein in der Wohnung und zudem für die Ausbildung der Tochter bleiben. Er hat kaum Kontakte zu anderen zu sorgen. Menschen, er hat Angst vor Abschiebung und bemüht sich, der Polizei nicht aufzu- Das alles ist nicht selbstverständlich für fallen. irreguläre MigrantInnen, wie etliche Bei- Der Haushalt kommt mit einem Ver- spiele in unseren Interviews demonstrieren. dienst gerade über die Runden, unter mas- Mitunter können sich irregulär Aufhältige siven Einschränkungen beim alltäglichen nur tageweise und unregelmäßig Arbeit Leben. Einen Mietrückstand kann er sich verschaff en, und sind nicht in der Lage, allerdings nicht leisten, weil er dadurch so- ihren Lebensunterhalt durch Schwarzar- fort die Wohnung verlieren würde. Um die beit zu sichern. Ein Beispiel von solcherart Wohnungskosten zu reduzieren, hatte der missglücktem Zugang zum Schwarzar- Befragte eine Zeit lang einen polnischen beitsmarkt liefert in unserem Material ein Mitbewohner einquartiert, aber es gab Palästinenser, der in Österreich um Asyl Probleme wegen Trunkenheit und Lärm ansuchen wollte. Er berichtet, dass er – der des Mieters, was die Aufmerksamkeit der überhaupt nicht deutsch spricht – über Be- Polizei6 nach sich ziehen hätte können, so- kannte zweimal einen Tagesjob als Möbel- dass er davon Abstand nahm. packer (Helfer beim Transport) gefunden hat, und jedes Mal um seinen Lohn geprellt Soweit die Darstellung aus dem Inter- wurde. Seitdem verzichtet er auf neuerli- view7. Es ist ein unspektakuläres Beispiel, che Arbeitsversuche, er lebt kärglichst von - eben weil es dem Befragten gelingt, die Spenden von Moscheebesuchern. Das Bei- Situation relativ erfolgreich zu meistern -, spiel verweist darauf, wie wichtig Sprach- das aber gut die Vielschichtigkeit der Di- kenntnisse als Ressource sind bzw. das mensionen des Ausschlusses zeigt: Bestehen einer „Netzwerkökonomie“ von 1. Das Leben ohne Rechte oder Schutz als Landsleuten, die ohne Sprachkenntnisse problematischer Gesamtzustand, der Zugang zu bezahlter Arbeit oder zu Wohn- Unsicherheit des Lebens in vielerlei Hin- raum vermitteln kann. sicht bedeutet: in faktischer (Angst vor Die Situation für MigrantInnen unter Be- Polizei im Alltag), in rechtlicher (kein dingungen der Illegalität wird dann sehr Mietvertrag), in sozialstaatlicher Hinsicht kritisch, wenn bestimmte Schicksalsschlä- (keine Krankenversicherung bzw. einge- ge eintreten, die normalerweise wohl- schränkte medizinischen Versorgung, fahrtsstaatlich abdeckt werden würden. keine Pensionsversicherung). Dann entstehen gravierende existenzielle 51 Notsituationen, bei deren Bewältigung die jegliche Unterstützungsansprüche, allein Betroff enen weitgehend auf sich gestellt blei- auf ihre Arbeitskraft angewiesen, die ge- ben. Davon handelt ein weiteres Interview sundheitlich selbst bereits erheblich beein- mit einer polnischen Arbeitsmigrantin. trächtigt ist. Alle Aspirationen nach einem besseren Leben für sich und die Kinder, die Die Befragte ist nostrifi zierte Diplom- hinter der Migrationsentscheidung gestan- krankenschwester, die seit 12 Jahren in den haben mögen, sind zunichte gemacht, Wien ohne Visum lebt. Sie lebt allein mit ih- weshalb im Interview auch kein Wort mehr ren zwei Kindern (6 und 7 Jahre alt) in einer darüber verloren wird. Einzimmerwohnung, arbeitet schwarz in einer Arztpraxis. Sie hat mehrmals erfolglos Bemerkenswert ist, dass die Befragte um Aufenthaltsbewilligung und Arbeitser- trotz aller Widrigkeiten bis jetzt das ma- laubnis angesucht. terielle Überleben sichern und sogar die Wohnung halten konnte. Ihr Coping fi ndet Ihr Lebensgefährte und Vater der Kinder unter höchstem persönlichem Einsatz und (ein polnischer Staatsbürger mit Arbeitsbe- weitgehend auf sich allein gestellt statt - willigung) hat vor einem Jahr Selbstmord außer der Unterstützung durch die Caritas begangen. Da er in Polen keine Pension gibt es keinen Hinweis auf eine helfende beantragt hat, bekommen die Kinder laut Familie oder auf FreundInnen - allerdings Bescheid der polnischen Sozialversiche- mit dem Preis, dass sie nervlich ziemlich am rung keine Waisenpension. In Österreich Ende ist, wie die Interviewerin anmerkt. war er zu kurz legal beschäftigt (es fehlten noch 17 Tage auf die 5-Jahres-Grenze, ab Ressourcen für Überlebensstrategien der Anspruch besteht), und so bekommen von irregulären MigrantInnen die Kinder auch hier keine Waisenrente. Im Grunde bleiben für MigrantInnen Sie erhalten auch keine Familienbeihilfe, ohne gültige Papiere nur drei Wege und da die Befragte kein Visum hat und daher Ressourcenquellen, auf die sie zurückgrei- nicht ununterbrochen in Wien gemeldet fen können, um ihr Leben zu fristen. sein kann. Die Befragte hat eine kleine Un- terstützung von der Caritas bekommen. 1. Individuelle Copingstrategien mit eige- Solange ihr Partner lebte, waren die Kinder nen Ressourcen, die man hat oder mit- bei ihm mitversichert. Nun sind sie unver- bringt. Das sind in der Regel nicht Geld, sichert und sie hat Angst vor ernsthaften sondern personenbezogene Ressourcen Erkrankungen, weil sie für die Behandlung wie: Ausbildung, soziale Kompetenz, nicht aufkommen kann. Immerhin kann sie Wissen, woher man Information be- Medikamente und kleine ärztliche Hilfe in kommt; Sprachkenntnisse. Das Vorhan- der Praxis ihres Chefs bekommen. Die Be- densein solcher individueller Ressourcen fragte hatte vor ein paar Monaten einen variiert mit dem Bildungsstand, mit dem Unfall (ein Fenstersturz aus dem ersten sozialen und kulturellen Hintergrund der Stock, bei dem sie mehrfache Brüche an MigrantInnen8. einem Fuß erlitt). Sie war monatelang im Krankenhaus. Da sie nicht versichert war, 2. An Möglichkeiten der institutionellen entstanden Kosten über 7.000 €. Gut die Unterstützung bleiben einzig private Hälfte davon hat die Caritas übernommen. Hilfsorganisationen, da kein Zugang zu Sie kann jetzt nichts unternehmen, um staatlich-kommunalen Einrichtungen den Rest zu bezahlen. Sie gibt an, dass sie besteht, sowohl hinsichtlich materieller in nächster Zeit noch einmal an der Ferse Unterstützung (kein Anspruch) wie auch operiert werden muss, darüber spricht sie hinsichtlich Beratung und Information. nicht weiter. Generell herrscht die Maxime der Kon- taktvermeidung gegenüber staatlich- Das Beispiel zeigt eindrücklich die Fol- kommunalen Institutionen. Konfessio- gen der versicherungs- und rechtlosen Si- nelle private Hilfsorganisationen sind tuation, die Brüchigkeit der zunächst gut die einzigen, die im Notfall einspringen bewältigten illegalen Arbeitsexistenz. Der und helfen9. Diese Situation für „Illegale“ Tod des Partners und seine Konsequen- ähnelt der privaten Armenfürsorge und zen verändert die Situation schlagartig Almosenvergabe im 19. Jahrhundert. zum Schlechteren. Es gibt keine fi nanziel- le oder wohlfahrtsstaatliche Absicherung 3. Eine dritte Ressource ist die informelle für die Kinder, ihr schwarzes Einkommen Unterstützung durch Familie oder Netz- als Krankenschwester verbleibt als einzige werke. In den Wiener Interviews sind es Einnahmequelle des Haushalts. Nach dem meistens die Familie bzw. einzelne Fami- Unfall erscheint die gesamte Zukunftsper- lienangehörige, (im ersten Fallbeispiel spektive der Befragten mehr als prekär: als z.B. die Schwester), die Unterstützung Alleinverdienerin mit zwei Kindern, ohne bieten. Informelle Netzwerke zwischen

52 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität Landsleuten bzw. Netzwerke der gegen- Ein generelles Ergebnis des Projekts ist, seitigen Unterstützung spielen hingegen dass es von der Schwere und Multidimen- kaum eine Rolle bzw. werden von den sionalität der Exklusion und von der Art Befragten kaum je erwähnt. Das ist ein der Verursachung abhängt, wie erfolgreich interessanter Befund, da wir eine größere und umfassend Individuen Ausschlusssitu- Bedeutung von informellen Netzwerken ationen überwinden können. Ausschluss gerade bei den sogenannten Illegalen aufgrund von Recht, also dort wo der Staat erwartet hätten und in einigen anderen selber Verursacher der Exklusion ist, ist am Ländern auch gefunden haben. schwersten zu überwinden. (Das wäre nur möglich durch Beseitigung der legalen Was die gesellschaftliche Teilhabe betriff t, Barriere, z.B. durch Amnestie für „Illegale“.) bietet das empirische Material über irregu- Kompensiert oder besser gesagt: gema- lär Aufhältige in Wien das Bild einer fast nagt werden können nur die Folgen des gänzlichen Nichtpartizipation an der Mig- Lebens „ohne Rechte“ in diversen Lebens- rationsgesellschaft. Partizipation besteht bereichen. Wobei die ansonsten in unserer allenfalls über den Sektor des Schwarzar- Gesellschaft gängigsten Copingstrategi- beitsmarkts (Teilhabe an Erwerbsarbeit), en, nämlich die Einschaltung von (wohl- ansonsten herrscht Ausschluss (in sozialer, fahrtsstaatlichen) Institutionen und Ver- kultureller, sprachlicher und politischer sorgungseinrichtungen, für diese Gruppen Hinsicht). Diese Situation der Isoliertheit, nicht verfügbar sind. des Rückzugs, getragen von der Angst vor Aufdeckung und Abschiebung widerspie- gelt möglicherweise die spezifi schen recht- 1 „Social Exclusion as a Multidimensional Process. Co- lichen Rahmenbedingungen einer äußerst ping with and Avoiding Social Exclusion (CASE). Projektlei- restriktiven AusländerInnen und Migrati- tung: Heinz Steinert (Universität Frankfurt/Main) und Arno onspolitik. In Ländern, wo die Chancen auf Pilgram (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie Wien). Weitere am Projekt beteiligte Länder waren: England, Legalisierung des Aufenthaltsstatus größer, Schweden, Deutschland, Italien, Spanien, Niederlande. und die Übergänge zwischen irregulärem Ausgewählte Projektergebnisse sind publiziert in: Steinert, und regulärem Status durchlässiger sind, Heinz / Arno Pilgram (Eds.): Welfare Policy from Below. Struggles Against Social Exclusion in Europe. Aldershot scheint für MigrantInnen ein Mehr an In- (Ashgate) 2003 klusion auch schon im Vorfeld der Regula- 2 Vgl. dazu Hanak, Gerhard/ Karazman-Morawetz, Inge rität möglich (z.B. Zugang zu kommunalen (2000): Episoden sozialen Ausschlusses. Zwischenergeb- nisse und methodologische Überlegungen aus einer Einrichtungen, materielle Hilfe von densel- Befragungsstudie. In: Steinert, Heinz/ Arno Pilgram (Hg): ben). In sozialpolitischer Hinsicht fällt hin- Sozialer Ausschluss – Begriff e, Praktiken und Gegenwehr, Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 2000, Baden- gegen in unserem Material das gänzliche Baden: (Nomos,) 157-182 Fehlen von (sozialstaatlicher) Verantwor- 3 Vgl. Karazman-Morawetz, Inge/ Rönneling, Anita tungsübernahme und Unterstützung in (2003): Legal Exclusion and Social Exclusion: ‘legal’ and ‘illegal’ Migrants , in: Steinert, Heinz / Arno Pilgram (Eds.): extremen Notfällen, insbesondere auch für Welfare Policy from Below. Struggles Against Social Exclu- Kinder, auf. sion in Europe. Aldershot (Ashgate) 2003 4 Ein privates, kirchliches Notversorgungsspital in Wien 5 Die Interviews wurden 2000-2001, also vor der EU-Mit- gliedschaft Polens geführt. 6 Unauff älligkeit gegenüber Polizei als wichtige Maxime der Lebensführung wird im Interview mehrmals erwähnt. 7 Der Befragte spricht nur schlecht deutsch, das Inter- view wurde in polnischer Sprache geführt. 8 MigrantInnen aus Polen bzw. Europa zeigen üblicher- weise günstigere Konstellationen in dieser Hinsicht als andere Gruppen 9 In unseren Interviews in erster Linie die Caritas, auch: Evangelische Diakonie, Israelitische Kultusgemeinde

53 3.4 Armut bei Kindern – Lebenslage und Zukunftschancen durch Bildung

Kindbezogene Armutskonzepte machen es erforderlich, geringem Einkommen und erhöhtem Risi- bisherige Konzepte der Armutsprävention und -bewälti- ko relativer Benachteiligung. Armut hat ein „Kindergesicht“. Dieses zu erkennen, ba- gung zu überdenken und weiterzuentwickeln. siert auf vier Grundbedingungen: Es ist ers- tens vom Kind auszugehen; zweitens muss Rund 1,1 Millionen Minderjährige lebten der familiäre Zusammenhang berücksich- Ende 2003 in Deutschland von „Hilfe zum tigt und drittens ein mehrdimensionales Lebensunterhalt“ (allgemein: Sozialhilfe), Verständnis zugrunde gelegt werden, um das machte 37 Prozent aller Sozialhilfeemp- Aussagen über die Entwicklungs- und Teil- fängerInnen aus. Bezogen „nur“ 3,4 Prozent habechancen der betroff enen Mädchen der Gesamtbevölkerung diese staatliche und Jungen treff en zu können. Schließlich Unterstützungsleistung, lag die Quote bei darf viertens Armut von Kindern nicht als den Minderjährigen mit 7,2 Prozent gut Sammelbegriff für alle benachteiligenden doppelt und bei den unter 3-Jährigen mit Lebenslagen verwendet werden. Nur wenn 11,1 Prozent mehr als dreimal so hoch. Die eine fi nanzielle Mangellage der Familie Altersgruppe der 7- bis 14-Jährigen weist vorliegt, kann auch bei Kindern von Armut noch 6,4 Prozent, also eine fast doppelt so gesprochen werden. hohe Quote aus (vgl. Abb. 1). Gefährdet sind vor allem Mädchen und Jungen im Kinder- Zur Bewertung der Entwicklungsbedin- tagesstätten- und im Grundschulalter, also gungen bzw. -möglichkeiten armer Kinder in den Altersphasen mit dem höchsten Po- im oben verstandenen Sinn – vor allem im tenzial an individueller Entwicklung. Vergleich zu ökonomisch besser gestellten Kindern – sind die vier zentralen Lebensla- Abb. 1: Sozialhilfequote bei Kindern und Jugendlichen 1993 gedimensionen zu berücksichtigen: bis 2003 a. materielle Lage des Kindes (Wohnen, Nahrung, Kleidung), b. Versorgung in der kulturellen Lage (Bil- dung, Lern- und Erfahrungsmöglichkei- ten), c. in der sozialen Lage (soziale Integration, Kompetenzen) sowie d. in der gesundheitliche Lage (Gesund- heitszustand, Gesundheitsverhalten).

Um einen umfassenden Blick auf die kindliche Lebenssituation zu erhalten, sind im Weiteren die vier Lebenslagedimensi- onen in einem Index zusammengefasst, der drei kindbezogene Lebenslagetypen Betroff en sind vor allem vier Gruppen: „Wohlergehen“, „Benachteiligung“ und Gerda Holz Kinder von erwerbslosen Eltern, in Ein-El- „multiple Deprivation“ umfasst.1 ist Sozialarbeiterin und tern-Familien, in Familien mit Migrations- Politikwissenschaftlerin. Forschungen zu Armut hintergrund oder mit mehr als zwei Ge- Dergestalt theoretisch entwickelt und von Kindern u.a. am schwistern. Weiterhin unterliegen Kinder empirisch erprobt, gelten folgende Bedin- Institut für Sozialarbeit in Großstädten – dort in benachteiligten gungen, wenn von Armut bei Kindern ge- und Sozialpädagogik, Frankfurt/Main, wo Stadtteilen/Quartieren – einem höheren sprochen wird: sie stellvertretende Risiko. Trotzdem leben in Deutschland bei- Direktorin ist. spielsweise die meisten armen Mädchen Ausgangspunkt ist die Einkommensarmut. und Jungen in deutschen Familien und auf Das Kind lebt in einer einkommensarmen Familie. dem Lande. Off enkundig wird: Einfache Es zeigen sich kindspezifische Erscheinungsformen Zuschreibungen und Erklärungsmuster rei- von Armut in Gestalt von materieller, kultureller, chen nicht aus. gesundheitlicher und sozialer Unterversorgung. Die Entwicklungsbedingungen des Kindes sind Kinderarmut ist komplex und beeinträchtigt, wobei dies ein Aufwachsen im mehrdimensional Wohlergehen, mit Benachteiligungen oder in Armut bleibt nicht auf die monetäre multipler Deprivation umfassen kann. Ressourcenlage beschränkt. Es gibt nach- Die Zukunftsperspektiven des Kindes sind eingeschränkt. weislich einen Zusammenhang zwischen

54 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität Armutsfolgen bei Kindern sind bereits Tab. 3: Kindspezifische Lebenslagen von Vorschulkindern im frühesten Kindesalter sichtbar – 1999 (N = 893) So lässt sich nachweisen, dass arme Lebenslagetyp Arme Kinder Nicht-arme Kinder Mädchen und Jungen im Vergleich zu Wohlergehen 23,6 % 46,4 % nicht-armen doppelt so viele Auff älligkei- Benachteiligung 40,3 % 39,8 % ten hinsichtlich der materiellen, sozialen, Multiple Deprivation 36,1 % 13,7 % kulturellen und gesundheitlichen Lebens- Gesamt 100,0 % 100,0 % lagedimensionen haben (vgl. Tab. 1). Die Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“. Unterschiede beispielsweise im Lebensla- gebereich „Kulturelle Lage“ zeigen sich im Sprach-, Spiel- und Arbeitsverhalten des Tab. 4: Kindspezifische Lebenslagen der 10-Jährigen am Ende der Grundschulzeit – 2003/04 (N = 500) Kindes. Besonders problematisch ist hier, dass „nur“ 69 Prozent der armen, aber rund Lebenslagetyp Arme Kinder Nicht-arme Kinder 88 Prozent der nicht-armen Kinder aus Wohlergehen 15,1 % 47,5 % der 1. AWO-ISS-Studie regulär eingeschult Benachteiligung 46,5 % 41,9 % wurden. Multiple Deprivation 38,4% 10,6 % Gesamt 100,0 % 100,0 % Tab. 1: Anteil armer und nicht-armer Kinder im Alter von sechs Quelle: „Armut im späten Grundschulalter 2003/04. Jahren mit Defiziten nach Lebenslagebereichen (N = 893) Lebenslagedimension Arme Kinder Nicht-arme Kinder Frühe und vor allem andauernde Grundversorgung 40,0 % 14,5 % Armutserfahrungen bei Kindern Gesundheitliche Lage 30,7 % 19,7 % wirken massiv Kulturelle Lage 36,0 % 17,0 % Armut verursacht nicht nur Unterver- Soziale Lage 35,6 % 17,6 % sorgung in der aktuellen Lebenssituation, Quelle: „Armut im Vorschulalter 1999“. sondern beeinträchtigt auch die zukünf- Ein vergleichbar defi zitäres Bild ist auch tigen Entwicklungschancen. Mehr als für das Grundschulalter festzustellen. Un- ein Drittel der erforschten Kinder hat seit terversorgung besteht nun vor allem in der 1999 Armutserfahrungen gemacht. Rund Grundversorgung (Kleidung, Ernährung, ein Sechstel der Kinder lebte permanent Wohnung), bei der Teilhabe am Konsum in Armut. Die Armutsbelastung steigt. Zur und im kulturellen Bereich (vgl. Tab. 2). Kindheit der meisten Migrantenkinder ge- hört die Bewältigung permanenter Armut. Tab. 2: Anteil armer und nicht-armer Kinder im Alter von zehn Die sich im Vorschulalter herausbildenden Jahren mit Defiziten nach Lebenslagebereichen (N = 500) Einschränkungen bzw. Defi zite verfestigen Lebenslagedimension Arme Kinder Nicht-arme Kinder sich in der Grundschulzeit massiv, gleich- Grundversorgung 51,6 % 5,9 % wohl fi ndet sich auch ein hohes Maß an Gesundheitliche Lage 25,8 % 19,1 % Entwicklungsdynamik. Nicht alle Mädchen Kulturelle Lage 34,6 % 12,9 % und Jungen, die als 6-Jährige arm waren, Soziale Lage 37,7 % 12,6 % sind es auch als 10-Jährige und nicht alle Quelle: „Armut im späten Grundschulalter 2003/04“. Kinder, die vor Schulbeginn multipel de- priviert waren, sind es noch am Ende der Das Spektrum des Aufwachsens Grundschulzeit. Generell gilt aber, je früher, reicht von „Wohlergehen“ bis je schutzloser und je länger Kinder einer „multiple Deprivation“ Armutssituation ausgesetzt sind, desto ra- Die Gesamtlebenssituation der Mädchen santer fährt der Fahrstuhl nach unten und und Jungen ist sehr diff erenziert. Armut ist um so geringer wird die Möglichkeit, indi- dabei die zentrale, aber nicht die alleini- viduell die eigentlichen Potenziale heraus- ge Determinante. Es ist von einem höchst zubilden, Zukunftschancen zu bewahren. komplexen Zusammenspiel verschiedener individueller, familiärer und sozialer Fak- Armut hat Bildungsarmut zur Folge toren auszugehen. Die Bewältigung der und wird zugleich durch diese Lebenssituation erfolgt durch Eltern so- verstärkt wie Mädchen und Jungen unterschiedlich. Auf den Zusammenhang zwischen so- Folglich sind die Einzelfaktoren ebenso wie zialer Herkunft – ein entscheidender Indi- deren Kumulation und das Bewältigungs- kator dafür ist Armut – und Bildungserfolg handeln zu betrachten. Das Spektrum aber muss nach PISA (Programme for Interna- auch die zum Teil gegenläufi ge Verteilung tional Student Assessment) kaum mehr der Lebenslagetypen für die Gruppen der verwiesen werden. PISA weist dies für die armen und nicht-armen Kinder zeigt sich formale Bildung bei 15-Jährigen nach. IGLU im Vorschulalter (vgl. Tab. 3) genauso wie (Internationale Grundschul-Leseuntersu- im späten Grundschulalter (vgl. Tab. 4). chung) zeichnet die Verbindung für das Grundschulalter auf. Die AWO-ISS-Studien belegen, dass dieser Prozess schon vor der Schulzeit beginnt und sich in der Grund- 55 schulzeit sowohl entscheidend ausprägt men Kinder auf das Gymnasium wechseln als auch verfestigt, sodass im Grunde der (vgl. Abb. 2). Der 2. Armuts- und Reich- weitere Lebensweg schon bei 10-Jährigen tumsbericht belegt eine Fortsetzung festgelegt ist. Woran wird das beispielswei- dieser sozialen Selektion. So erreichen in se sichtbar? Deutschland gerade mal 11 Prozent der ™ Der Weg armer Mädchen und Jungen Kinder aus der sozialen Herkunftsgruppe durch die Grundschule ist meist ein „niedrig“, dagegen sage und schreibe 81 verlangsamter mit großer Gefahr der Prozent der Kinder aus der sozialen Her- Klassenwiederholung(en). kunftsgruppe „hoch“ den Hochschulzu- ™ Schulerfolg drückt sich vor allem in den gang.2 Noten aus. Die besten Durchschnittsno- ten finden sich stets in der Gruppe der Abb. 2: Armutserfahrung im Vor- oder Grundschulalter und geplante* Schulform der Sekundarstufe I – 1999 bis 2003/04 Kinder mit relativ gesicherten Familien- finanzen und die schlechtesten in der Gruppe der armen Kinder. ™ Es besteht ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und der wirt- schaftlichen Lage der Eltern. Auch streben Eltern mit einem guten Bildungsabschluss eine bessere Bildung für ihre Kinder an. Gleich- wohl erhalten arme Mädchen und Jungen durch die Grundschule weitaus weniger Chancen für eine erfolgreiche Schulkarriere. Ein Beispiel: Bei gleich gutem Bil- dungsniveau einer nicht-armen *Die Frage an die Eltern lautete: „Welche Schule be- und einer armen Mutter sind die Chan- sucht Ihr Kind im nächsten Schuljahr (voraussichtlich)“ N = 159 arm, 341 nicht-arm. (Elternangaben). cen des nicht-armen 10-Jährigen, auf ein Quellen: „Armut im Vorschulalter 1999“, „Armut im späten Gymnasium zu kommen, mehr als vier- Grundschulalter 2003/04“ mal höher, als die eines armen Kindes. Bei gleich schlechtem Bildungsniveau Schule als Schutzfaktor für arme einer nicht-armen und einer armen Mut- Kinder – Keine Utopie, sondern ter sind diese Chancen für nicht-arme gesellschaftliche Aufgabe Kinder immer noch mehr als doppelt so Bei Betrachtung von Abbildung 2 ist gut. nochmals in Erinnerung zu rufen, dass ™ Neben familiärem Wohlstand und elterli- mehr als jedes dritte der in den AWO-ISS- cher Bildung gibt es weitere Indikatoren, Studien erforschte Kind Armut während die für den Erfolg in der Grundschule der Grundschulzeit erlebte. Armut gehört und die Wahl der weiterführenden Schu- zum Lebensalltag von 6- bis 10-Jährigen le wichtig sind. Am stärksten wirken die und damit zum Alltag von Grundschulen Noten und damit ein notenbasiertes genauso wie von Kindertageseinrichtun- kindliches Leistungsniveau. Die zweit- gen. wichtigste Variable ist der Bildungshin- Die Abbildung wirft aber auch die Frage tergrund der Eltern. Dieser birgt in sich auf, warum es immerhin noch 20,4 Prozent einen Doppeleffekt: Die Kinder aus bil- der Kinder mit Armutserfahrung auf eine dungsnäheren Elternhäusern erhalten Realschule und 12,2 Prozent auf ein Gym- nicht nur im Durchschnitt bessere Noten, nasium schaff en. Die Grundschule selbst sondern wechseln – unabhängig von den stellte für diese Kinder eine kulturelle und Noten – auch auf die „besseren“ Schu- soziale Ressource im Sinne von Schutzfak- len. Als weitere, aber längst nicht mehr toren3 dar und trug so zum Schulerfolg bei. so starke Variable nimmt das Lernklima Bei der Gruppe der Kinder ohne Armutser- – im Sinne von schulischer Umgebung fahrung mit Wechsel auf Realschule/Gym- – Einfluss auf die Schullaufbahn. Dieses nasium hatte diese Funktion zunächst das kommt vor allem den Mädchen und Jun- Elternhaus, und die Grundschule bildete gen aus nicht-armen und bildungsnähe- die Ergänzung. Daraus ist ableitbar, dass ren Elternhäusern zugute. Schulen –und ganz besonders Grundschu- ™ Die schulische Zukunft von Kindern mit len– für arme Kinder mehr sind und sein oder ohne Armutserfahrung ist vollkom- müssen als Institutionen der formalen Bil- men unterschiedlich: Die größte Gruppe dung. Was aber diese Schutzfaktoren der der Kinder mit Armutserfahrung erreicht Schule ausmacht, das erfordert dringend maximal die Realschule, während mit einer grundlegenden Erforschung. Die Ver- großem Abstand (36 %) die niemals ar- mittlung sozialer Kompetenzen, eine gelin-

56 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität gende soziale Integration in Peer-groups lichkeiten der Minderjährigen sowie auf oder auch ein positives Lernklima sind be- die Stützung und Stärkung des kindlichen reits heute benennbare Faktoren. Umfeldes, ganz besonders der Familie, ab. Die schulisch erfolgreichen Mädchen und Armutsprävention bei Mädchen und Jungen mit Armutserfahrungen suchten Jungen meint im Kern die Vermeidung und fanden off enbar in ihren Grundschulen und/oder Bewältigung von Folgen familiä- einen Entwicklungs- und Gestaltungsraum, rer Armut. Sie zielt auf die Herausbildung der ihnen Schutz bot sowie Kompensation von Potentialen und Ressourcen der Kinder und Förderung ermöglichte. Wird armen und soll die Selbst-, die sozialen und die Kindern durch die LehrerInnenschaft das Alltagskompetenzen fördern. Grundlage immense Gestaltungsvermögen von Schu- dessen sind allgemeine Bildungsziele, ent- le zugänglich gemacht, dann zeigen sich sprechend dem Motto „Stärken stärken und unmittelbar und nachhaltig die positiven Schwächen schwächen“. Erste Elemente Folgen, nämlich bessere Lebens- und Zu- lassen sich heute benennen. Hierzu zählen kunftsperspektiven. Dieses Ergebnis ist beispielsweise die Sicherung der existenzi- sicherlich im Kontext weiterer Schutzfakto- ellen Lebens- und Entwicklungsmöglich- ren zu sehen –wie gesagt: eindimensionale keiten jedes Kindes, die Verwirklichung kausale Zusammenhänge gibt es nicht–, des Leitziels „Aufwachsen des Kindes im Gleichwohl nimmt die Schule im Leben der Wohlergehen“ oder auch die Förderung Mädchen und Jungen und darüber hinaus und Stärkung der Potenziale und Ressour- in ihrem Familienleben einen Stellenwert cen des Kindes. Die zentralen Garanten ein, wie keine zweite Institution. Darin dafür sind soziale, nämlich Bildung und unterscheiden sich arme von nicht-armen Erziehung, Betreuung sowie Beratung von Kindern kaum. Eltern und Kindern. Herausragende Bedeu- tung kommt den außerfamiliären Sozialisa- Notwendig wird eine kindbezogene tionsinstanzen Kindergarten-/tagesstätte Armutsprävention mit dem Leitziel und Schule zu. Die Zukunft ist folglich der „Stärken stärken und Schwächen Prävention und nicht der Reaktion auf ver- schwächen“. passte Chancen geschuldet. Materielle Armut geht fast immer mit 1 Von ‚Wohlergehen‘ wird ausgegangen, wenn in Bezug einer Verringerung von humanen und so- auf die zentralen Lebenslagedimensionen aktuell keine zialen Ressourcen einher, die Folge eines ‚Auff älligkeiten‘ festzustellen sind, das Kindeswohl also Verarmungsprozesses sind und damit ei- gewährleistet ist. Eine ‚Benachteiligung‘ liegt gemäß Defi - nition dann vor, wenn in einigen wenigen Bereichen ‚Auf- nen Verlust gesellschaftlicher Partizipation fälligkeiten‘ festzustellen sind. Das betroff ene Kind kann bedeuten. Daher muss Armutsprävention in Bezug auf seine weitere Entwicklung als eingeschränkt primär darauf ausgerichtet sein, (noch) beziehungsweise benachteiligt betrachtet werden. Von ‚multipler Deprivation‘ schließlich ist dann die Rede, wenn vorhandene Ressourcen der Betroff enen das Kind in mehreren zentralen Lebens- und Entwick- wahrzunehmen und zu sichern bzw. aus- lungsbereichen ‚auff ällig‘ ist. Das Kind entbehrt in mehre- zubauen. Armutsprävention beinhaltet ren wichtigen Bereichen die notwendigen Ressourcen, die eine positive Entwicklung wahrscheinlich machen. insofern das Erlangen und den Erhalt ei- 2 Deutscher Bundesdtag 2005: 90. nes existenzsichernden Einkommens, die 3 Vgl. Wustmann 2005; Holz/Richter/Wüstendörfer/Gie- gesellschaftliche Teilhabe sowie die Akti- ring 2005: 150-160. vierung des Selbsthilfepotentials und die Literaturhinweise Stabilisierung des Selbstwertgefühls im Deutscher Bundestag (2005): Lebenslagen in Deutsch- land. Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bun- Kontext ihrer Lebenswelt und ihres Alltags. desregierung. (DS 15 / 5015). Berlin. Wird ein kindbezogenes Armutskonzept Hock, Beate; Holz, Gerda; Wüstendörfer, Werner (2000): zugrunde gelegt, dann sind bisherige Kon- Frühe Folgen – Langfristige Konsequenzen? Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Vierter Zwischenbericht zepte der Armutsprävention und Armuts- zu einer Studie im Auftrag des Bundesverbandes der Ar- bewältigung zu überdenken und weiterzu- beiterwohlfahrt. Frankfurt am Main. entwickeln. Holz, Gerda; Puhlmann, Andreas (2005): Alles schon entschieden? Wege und Lebenssituation armer und nicht- Eine kindbezogene Armutsprävention armer Kinder zwischen Kindergarten und weiterführender beginnt spätestens mit der Geburt, eigent- Schule. Frankfurt am Main. lich schon der Schwangerschaft. Sie hat die Holz, Gerda; Richter, Antje; Wüstendörfer, Werner; Gie- ring, Dietrich (2005), Zukunftschancen von Kindern- Wir- Sozialisationsbedingungen allgemein und kung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit, Bonn/ speziell vor Ort in den Blick zu nehmen. Sie Berlin. wird besonders durch die Arbeit von Fach- Holz, Gerda; Skoluda, Susanne (2003): Armut im frühen Grundschulalter. Eine vertiefende Untersuchung zu Le- kräften in den Einrichtungen und Projekten benssituation, Ressourcen und Bewältigungshandeln von ermöglicht bzw. überhaupt erst gesichert. Kindern. Frankfurt am Main. Daneben kommt dem Engagement von Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Schlussbericht des zweiten europäischen Programms zur Einzelnen im sozialen Netzwerk der Mäd- Bekämpfung der Armut 1985-1989, Brüssel 1991 chen und Jungen große Bedeutung zu. Wustmann, Claudia (2005): Die Blickrichtung der neue- ren Resilienzforschung. Wie Kinder Lebenslagen bewälti- Eine präventiv ausgerichtete Arbeit für gen. In: Zeitschrift für Pädagogik, 2/2005, S. 192-206. Kinder zielt auf die Schaff ung und Gestal- tung von existentiellen Entwicklungsmög- 57 3.5 Kein Kind beschämen!

Abb.2: Schulbesuch des Kindes in Abhängigkeit der berufli- Zukunft trotz(t) Herkunft: Schule kann ihre Besten für chen Position der Eltern: Spitzenleitungen qualifizieren, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass der Abstand der schwächsten SchülerInnen zu den besten gering ist.

Selina hat gerade ihren Hautschulab- schluss gemacht. Vor über einem Jahr war die junge Frau vom österreichischen Schul- system bereits abgeschrieben worden. Sie wäre es noch immer, wenn es da nicht die Pädagoginnen des Vereins „Jugendchance“ gegeben hätte, die Hauptschulabschluss- Hilfsarbeiter= ungelernte und angelernte Tätigkeiten, wie z.B. kurse für benachteiligte Jugendliche an- Fabrikhilfsarbeiter(in), Portier(in), Bediener(in)/ Facharbeiter, bieten. Die Kurse sind kostenlos, da sich einfache Angestellte = gelernte Tätigkeiten, Lehrabschluss oder gleichwertige betriebliche Ausbildung im aktuellen der Verein an junge Menschen wendet, die Beruf/ Mittlere Tätigkeit, Meister = Vorgesetzte(r) für Arbei- keine ausreichenden Mittel haben. ter, qualifizierte Büroberufe, wie (einfache/r) Buchhalter(in), Was zwingt junge Leute ins Out, obwohl Verkaufsleiter(in) im Kaufhaus, qualifizierte(r) Sekretär(in) usw./ Höhere Tätigkeit = z.B. Lehrer(in), Referent(in), sie alle Möglichkeiten in sich tragen, zu ler- Programmierer(in), Betriebsingenieur(in)/ Hochqualifizier- nen und sich zu entwickeln? Selina will jetzt te, führende Tätigkeiten = z.B. Amtsleiter(in), Schulleiter(in), Betriebsleiter(in), Abteilungsleiter(in) einer größeren Abtei- noch eine weitere Ausbildung machen. Sie lung hat gut und richtig schreiben gelernt, was ihr vorher immer schwer gefallen ist. Da Quelle: Bacher, Johann (2003): Soziale Ungleichheit und Bil- dungspartizipation im weiterführenden Schulsystem Öster- verschwinden off ensichtlich Jugendliche reichs. bloß wegen ihrer sozialen bzw. ethnischen Herkunft im Bildungs-Abseits. Da hängt Je weniger die Eltern verdienen, desto die Zukunft von der Herkunft ab. Nirgends eher wechseln die Kinder nicht in die AHS- wird die soziale Vererbbarkeit von Zukunft- Unterstufe, - auch wenn sie laut Volkschul- schancen – eine Erblichkeit, die nicht ge- zeugnis die AHS-Reife gehabt hätten. Das netisch, sondern soziokulturell bestimmt setzt sich fort über die Oberstufe bis zum ist – deutlicher als in der Verfasstheit des Studium1 (siehe Abb 3 und 4). Schulsystems. Das Haushaltseinkommen bestimmt in Österreich maßgeblich den Bil- Abb.3: Kinder nach Einkommen im Haushalt in der Unterstufe: dungsweg der Kinder (siehe Abb1 und 2).

Abb.1: Schulbesuch des Kindes in Abhängigkeit vom Erwerbs- einkommen der Eltern:

Quelle: Schlögl, Peter und Lachmayr, Norbert (2004): Soziale Situation beim Bildungszugang. Motive und Hintergründe von Bildungswegentscheidungen in Österreich. Österreichi- sches Institut für Berufsbildungsforschung.

Quelle: Bacher, Johann (2003): Soziale Ungleichheit und Bil- Abb.4: Kinder nach Einkommen im Haushalt in der Oberstufe: dungspartizipation im weiterführenden Schulsystem Öster- reichs.

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich und Mitglied des Koordinationsteams der Quelle: Schlögl, Peter und Lachmayr, Nor- Armutskonferenz. bert (2004): Soziale Situation beim Bil- dungszugang. Motive und Hintergründe von Bildungswegentscheidungen in Öster- reich. Österreichisches Institut für Berufs- bildungsforschung.

58 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität Mädchen profi tieren von einer höheren „Wo stehst du, wenn du 30 Jahre alt bist?“, Bildungsschicht der Eltern schulisch stär- wurden die 15-Jährigen in ganz Europa im ker als Burschen, während sie in unteren Rahmen der PISA-Studie gefragt. Ergebnis: Bildungsschichten stärker benachteiligt In Österreich trauen sich Kinder aus Famili- sind als junge Männer (vgl. Bacher 2004).2 en mit geringem sozioökonomischen Sta- tus weniger zu als Kinder aus vergleichba- Insgesamt hat „die Bildungsexplosion ren Familien in Finnland oder Kanada. Man zwar zu einer höheren Bildungsbeteili- weiß, wer wohin gehört. Auch wer im un- gung, insbesondere von Mädchen, nicht tersten Stockwerk eingeschlossen bleibt. In aber zu einem Verschwinden der Bildungs- Österreich erwarteten sich die 15-Jährigen, ungleichheit geführt“3, fasst Christoph die bereits nach ihrer vermeintlichen Leis- Reinprecht vom Wiener Institut für Soziolo- tungsfähigkeit zugewiesen wurden, deut- gie zusammen. lich weniger von ihrer Zukunft als in Län- dern, in denen soziale Aufstiegschancen Diese Unterschiede haben sich über besser gewährleistet werden. Aus armen Jahrzehnte nicht verändert. „Konnte bis Kindern werden arme Eltern, aus reichen zum Jahrgang 1960 noch ein Anstieg in Kindern werden reiche Eltern. den unteren Bildungsschichten beobach- „Jeder kann gewinnen, wenn er nur will“, tet werden, sind ab diesem Zeitpunkt keine heißt es. Oder umgekehrt: Selber schuld, wesentlichen Niveauverschiebungen mehr wer es nicht schaff t. Diese Ideologie ist feststellbar“ (Spielauer, 2003).4 besonders wirkungsvoll, weil sie „Verlie- rer-Innen“ beschämt und „GewinnerInnen“ Der Sozialstaat österreichischer Prägung bestätigt. Sie stützt die, die es geschaff t schaff t es trotz insgesamt guter sozialer haben, und hält die, die „unten“ sind, still. Sicherung nicht, die Aufstiegschancen An die „VerliererInnen“ ergeht die Auff or- einkommensschwächerer SchülerInnen zu derung fair zu bleiben, die Niederlage mit verbessern. Wie ein Fahrstuhl wird die Ge- einer Gratulation an den „GewinnerInnen“ sellschaft in die Höhe gefahren, was auch hinzunehmen, sich schlussendlich mit den die unteren Schichten zu höherem Lebens- „GewinnerInnen“ zu identifi zieren. Das Le- standard führt, die Unterschiede aber rela- ben – ein olympischer Gedanke. „Dabei sein tiv konstant und die soziale Durchlässigkeit ist alles“, aber bitte im unteren Stockwerk. relativ gering belässt. Spitzenleistungen und geringe Mangelnde Aufstiegschancen Streuung der Ergebnisse schließen Das Essensgeld ist noch immer nicht ge- einander nicht aus zahlt. Sie kommen in der Früh hungrig in „Finnland hat ja nur wenige Kinder, den Kindergarten. Im Winter stapfen sie die die Unterrichtsprache nicht beherr- mit Turnschuhen durch den Schnee. Das schen, da können die leicht PISA-Sieger sind Kinder, die in knappen fi nanziellen im Lesen werden“, eine der hundert Aus- Verhältnissen aufwachsen. Der Schulan- reden, warum im Schulsystem zwischen fang macht große Probleme, wenn Zirkel, „unten“ und „oben“ nichts verändert wer- Hefte, Stifte, Einbände und Werksachen den muss. Die kanadische Provinz Alber- gekauft werden müssen. Die Eltern versu- ta mit 21% MigrantInnenkindern liegt in chen zuerst einmal sich selbst einzuschrän- „Mathematik“ vor dem PISA-Sieger Finn- ken, um den Kindern weiter ein normales land, im „Lesen“ mit Finnland gleich und Leben zu ermöglichen. Das geht auch in „Naturwissenschaften“ unter den bes- einige Zeit gut, aber nicht auf Dauer. In ten vier. 13% der PISA getesteten Kinder Haushalten, die unter der Armutsgrenze sprechen in Kanada die Unterrichtsspra- leben, muss das vorhandene Einkommen che nicht zu Hause. 9% in Österreich.5 für das Notwendigste ausgegeben werden: Die Spitzenleistungen der 15-Jährigen Wohnen, Heizen und Ernährung. Für Sozi- im Lesen werden in Kanada nicht nur von alkontakte, Bildung, gar Nachhilfestunden SchülerInnen, deren Eltern im Inland ge- bleibt da nichts mehr übrig. Dann schlägt boren sind, angeführt, sondern auch von die angespannte fi nanzielle Situation in SchülerInnen, die als Nachkommen von Armutshaushalten auch auf den Alltag EinwandererInnen geboren wurden. Ne- der Kinder durch. Und auf ihre Zukunft. ben den höher qualifi zierteren MigrantIn- Die Chance aus der Armut herauszukom- nen setzt sich die kanadische Einwande- men, steht in enger Wechselbeziehung zu rung zur anderen Hälfte auch aus weniger gesellschaftlicher Ungleichheit insgesamt. qualifi zierten Familienangehörigen und Je sozial gespaltener eine Gesellschaft ist, Flüchtlingen zusammen. „Die zweite Hälf- desto mehr Dauerarmut existiert. Je mehr te wird in den europäischen Diskussionen Dauerarmut, desto stärker beeinträchtigt gerne unterschlagen“, so Barbara Herzog- sind die Zukunftschancen sozial benach- Punzenberger, Bildungsexpertin an der teiligter Jugendlicher. Akademie der Wissenschaften.6 59 Gute Ergebnisse von Kindern, die die Un- In der erfolgreichen kanadischen Provinz terrichtssprache nicht zu Hause sprechen, Alberta gibt es eine gemeinsame Vorschu- sind nicht nur in Kanada zu beobachten. In le für alle Kinder – keine die nach Sprach- „PISA-Ländern“ mit hohem Anteil an Schü- können selektiert. Auch hier gilt wieder in lerInnen mit Migrationshintergrund schnei- heterogenen Gruppen individuell fördern. den diese SchülerInnen nicht schlechter Und nicht: homogene Ausländergruppen ab als in Ländern mit geringem Anteil. Die mit Sprachunterricht bilden. Spracherwerb Größe des Anteils von MigrantInnen an erfolgt am besten, wenn in der gemeinsa- der GesamtschülerInnenzahl kann nicht men Vorschule Muttersprache und Unter- als Erklärung für die großen Leistungs- richtssprache gleichzeitig gefördert wer- unterschiede herangezogen werden. den. Denn es ist sprachwissenschaftlich Von den 10%, die beim Lesen in Öster- erwiesen, dass, wer seine Muttersprache reich am schlechtesten abgeschnitten gut kann, auch viel leichter eine neue Spra- haben, kommen mehr als zwei Drit- che erlernt. tel (68%) aus deutschsprachigen, ös- Für die Frühförderung und den sozialen terreichischen Familien. Rund 14% der Ausgleich wichtig: eine Vorschule für alle, SchülerInnen mit Migrationshintergrund die spielerisch Kinder ab 3 oder 4 Jahre an- erreichten sogar die beiden höchsten regt, die Welt zu entdecken. Leistungsstufen. Ganze 45 % lagen im „In Alberta gibt es abgesehen von Son- Durchschnitt aller getesteten 15-Jährigen. dereinrichtungen für schwer behinderte Das heißt: 59% der Migranten lesen gleich Kinder keine vom Schulsystem vorgesehe- gut oder besser als der Durchschnitt ne Selektion während der Pfl ichtschulzeit. der Schüler deutscher Muttersprache. Es besuchen alle 6- bis 15-Jährigen mitein- Hier ist nicht der ethnische, sondern der ander die ersten sechs Jahre die Primary sozioökonomische Hintergrund bestim- School und dann ebenso die nächsten drei mend. Jahre die Junior High School.“ (Herzog- Punzenberger 2005). In Finnland (6%), Schweden (13%) und den Niederlanden (11%) fi nden sich deut- Die Schulorganisation allein macht aber lich weniger SchülerInnen am unteren noch keine gute und sozial durchlässige Ende der Leistungsverteilung als in Öster- Schule. Das hängt immer davon ab, was in reich (21%). Gleichzeitig erreichen 15% der der Schule qualitativ passiert. In Alberta fi nnischen, 11% der schwedischen und 9% gibt es keine starren 50-Minuten-Einheiten, der niederländischen SchülerInnen mit Le- sondern Themenfl ächen und eine durchge- vel 5 den obersten Leistungsbereich im Le- hende Fächeraufl ösung im Kernunterricht, sen (Österreich 8%). Spitzenleistungen und die Schulen haben ein breites Angebot an geringe Streuung der Ergebnisse schließen Wahlpfl ichtfächern, Projekt- und Teamar- einander nicht aus. Die Förderung von beiten. Das hilft, individuell Schwächen zu Spitzenleistungen muss nicht auf Kosten beheben und Stärken auszubauen. Ganze der Förderung von schwachen SchülerIn- Jahrgänge wiederholen zu lassen fi ndet nen gehen. Vielmehr können Schulsyste- man pädagogisch dumm, Noten gibt es me ihre Besten für Spitzenleistungen qua- erst in den letzten Pfl ichtschuljahren. Und lifi zieren, gleichzeitig aber dafür sorgen, im Team arbeiten ist für die PädagogIn- dass der Abstand der schwächsten Schüle- nen einfach lustvoller als das Lehrer-Ein- rInnen zu den besten gering ist. Das zeigt, zelkämpferInnentum mit seinem hohem „dass Schulsysteme, die Risikogruppen Burn-Out Risiko. Für eine andere Schulqua- möglichst klein halten, allen Kindern bes- lität braucht es auch eine andere Schular- sere Möglichkeiten bieten. Die Förderung chitektur wie die fl exibleren Schulräume von Kindern, die aus armutsgefährdeten in Alberta zeigen: Gemeinschaftsräume, Haushalten kommen, geht somit ganz und „Homerooms“ der PädagogInnen, Ecken gar nicht auf Kosten der Entwicklung von zum Arbeiten. Talenten und Fähigkeiten aller Kinder oder besonders begabter Kinder.“ (Herzog-Pun- Eine Schule, in der zu wenig gelernt und zenberger, 2005). zu viel gelehrt wird, rechnet fi x mit Nach- hilfestunden anderswo. Das stellt in jedem Individuelle Förderung in hetero- Fall eine Benachteiligung für einkommens- genen Gruppen schwache und ressourcenarme Haushalte In den Ländern, in denen die Aufstiegs- dar. Wenn sich SchülerInnen in eine Sache chancen für Kinder aus sozial schwachen vertiefen, darf sie keine Glocke nach 50 Mi- Familien besser gewährleistet werden, nuten wieder herausreißen. Das wäre ein wird vor allem die starke individuelle För- anderer Unterricht, der den für alle Betei- derung von Kindern in relativ heterogenen ligten fatalen Kreislauf (auswendig) Ler- Gruppen praktiziert. nen, Prüfung, Vergessen zu durchbrechen versucht; ein Unterricht, der, statt sequen-

60 3 Wer will, kann gewinnen! Ë Mythos Soziale Mobilität 1 In einer deutschen Studie zur Schulwahlempfehlung tiell angelegte Vergessensabschnitte zu von 13.000 Kindern in der 5. Schulstufe wurde herausge- produzieren, Lernprozesse gestaltet. funden, dass bei gleicher Schulleistung ein Kind bildungs- ferner Eltern eine ungleich geringere Chance hat, eine Gymnasiumsempfehlung zu erhalten als ein Akademiker- Anstelle eines defi zitorientierten Ansat- Innenkind. Kinder mit bildungsbürgerlichem Hintergrund zes zeichnen sich die sozial erfolgreichen konnten im Vergleich zu Kindern aus bildungsferneren Schulkonzepte durch die Orientierung an Elternhäusern ein deutlich niedrigeres Leistungsniveau erreichen, um eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhal- den unterschiedlichen Lebenswelten ihrer ten (vgl. Kristen, Cornelia (1999): Bildungsentscheidungen SchülerInnen aus: in heterogenen Grup- und Bildungsungleichheit – Ein Überblick über den For- schungsstand. Arbeitspapiere 5. Mannheimer Zentrum für pen individuell fördern. Das funktioniert Europäische Sozialforschung.) weder mit dem „Trichterkonzept“ (Schüler- Innen sind leere Köpfe, in die Wissen für 2 Bacher, Johann (2004): Geschlecht, Schicht und Bildungspartizipation. In: Österreichische Zeitschrift die Zukunft eingefüllt wird) noch mit der für Soziologie Vol. 29 (4), 71-96. „Osterhasenpädagogik“ (LehrerInnen ha- ben Wissen versteckt, das die SchülerInnen 3 Reinprecht, Christoph (2005): Die „Illusion der Chan- chengleichheit“. Soziale Selektion im Bildungswesen. In: suchen müssen), sondern besser mit einem Paulo Freire Zentrum et al. (Hrg), Ökonomisierung der Bil- dialogischen Zugang: Eine Schule, in der dung. Tendenzen, Strategien, Alternativen, 129-153. Lernprozesse initiiert werden, die Vorer- 4 Spielauer, Martin (2003): Familie und Bildung. Interge- fahrungen und Lebenswelten der Schüle- nerationelle Bildungstransmission in Familien und der Ein- rInnen zum Ausgang des Arbeitens nimmt. fl uss der Bildung auf Partnerwahl und Fertilität. Analysen Von einem solchen Setting können Kinder und Mikrosimulationsprojektionen für Österreich. Öster- reichisches Institut für Familienforschung. aus ressourcenarmen und benachteiligten Familien profi tieren. 5 OECD (2004): Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003, S/194, Abb.2.

Als ich Ende September 2004 in Finnland 6 „Weder sind EinwanderInnen in Kanada alle hochbe- war, dessen Schulsystem ähnlich dem Ka- gabt, noch sprechen sie notwendigerweise die Landes- nadas ist, besuchte ich eine Schule im Os- bzw. Unterrichtssprache. In Kanada wandern jährlich rund 40.000 Kinder unter 15 Jahren ein, die weder Englisch noch ten Finnlands, in einer Region mit relativ Französisch sprechen, das sind 70% der gesamten Einwan- hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Proble- derInnen in dieser Altersgruppe und die werden unmittel- bar in die Schulklassen integriert. Ebenso sprechen 30% men. Als ich die Direktorin fragte, was ihre der erwachsenen EinwanderInnen weder Englisch noch Schule denn ausmache, zeigte sie auf zwei Französisch zum Zeitpunkt der Einwanderung. Durch die Bilder hinter sich an der Wand, dort waren kostenlosen und freiwilligen Sprachkurse allerdings tun die meisten das nach 3 Jahren. Die EinwanderInnen sind in fi nnisch zwei kurze Sätze gerahmt. Das auch nicht alle hochausgebildet, sondern verteilen sich ist mir wichtig, sagte sie: „Keinen Schüler über die berufl ichen Positionen ungefähr so wie die ansäs- aufgeben“ und „Kein Kind beschämen“. sige Bevölkerung mit einem leichten Überhang an Polen, d.h. etwas höhere Anteile bei den Wenig- ausgebildeten Selina ist nicht aufgegeben worden. Sie sowie bei den Hochausgebildeten.“ (Herzog-Punzenber- hat Glück gehabt, dass sie auf die Pädago- ger, 2005: Wie Aufstiegschancen unabhängig von sozialer gInnen von „Jugendchance“ gestoßen ist. Herkunft gewährleistet werden können. Presseunterlagen Die Armutskonferenz.) Aber vom Glück soll es wohl nicht abhän- gen, dass es für Jugendliche Zukunft gibt - trotz Herkunft.

61 4 Alles Management!

Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen 4.1 Die Architektur des neuen Sozialstaates und die Rolle der Sozialen Arbeit

Der Sozialstaat befindet sich in einem epochalen Transformationsprozess. Der Umbau des Sozialstaates findet unter der Losung statt, dass nur ein grundlegend neu konzipierter Sozial- staat die Probleme der Gegenwart und Zukunft lösen könne. Zu den Herausforderungen der letzten Jahre gehören - neben Problemen wie Renten- und Krankenversicherung, demografi- scher Wandel u.ä. - vor allem die sich verfestigende Armut größerer Bevölkerungsteile.

In Deutschland ist die Armut seit den en Sozialstaatsarchitektur geht es deshalb 1970er Jahren langsam, aber stetig gestie- auch darum, eine eff ektivere Verzahnung gen. Armut ist für viele seit dem Ende der der beiden bislang relativ unabhängig von „golden Jahre“ der Nachkriegsjahrzehnte einander operierenden wohlfahrtsstaatli- nicht nur eine kurzfristige Episode, sondern chen Teilsysteme zu schaff en: der „Sozial- ein Zustand dauerhafter Ausgrenzung. Die versicherungsstaat“ und das System der Gruppe der mehrfach Benachteiligten: sozialen Dienste sollen besser als bislang geringes Einkommen, schlechte Woh- integriert arbeiten und dabei einer neuen nung, Arbeitslosigkeit, geringe Rücklagen, Interventionslogik folgen; Sozialtransfers wächst und ist in den letzten 20 Jahren von sollen zukünftig nicht primär die Kaufkraft 7,5 auf 10 % der Bevölkerung angestiegen Benachteiligter und Armer stärken und (vgl. Groh-Samberg 2005). Armutsforsche- als Form sozialen Helfens deren Teilhabe rInnen neigen zu der Aussage, dass die am gesellschaftlichen Leben ermöglichen; Neue Soziale Frage eigentlich immer noch Sozialtransfers wie die sie unterstützen- die alte sei. Die unteren sozialen Schichten den sozialen Dienste sollen vor allem als und Klassen sind in vieler Hinsicht benach- Investition in die „employabilty“ (Beschäf- teiligt geblieben und deren Benachteili- tigungsfähigkeit) der Bürger verstanden gung wächst sogar kontinuierlich an, sei werden „Vorfahrt für Arbeit“, so heißt das es nun in materieller Hinsicht oder im Hin- Umbau-Motto nicht nur in der Bundesre- blick auf Bildungschancen. publik Deutschland.

Aufgrund des (bundesrepublikanischen) 1. Aktivierungspolitik: die Durch- Sozialstaatspostulats muss man die Be- setzung von Eigenverantwortung Heinz-Jürgen Dahme kämpfung von Ungleichheit, Benachtei- und Selbstdisziplin ist Professor für Verwaltungswissenschaft ligung und Armut in der Gesellschaft als Überall in Europa lassen sich sozialpo- im Fachbereich Sozial- oberstes Ziel sozialstaatlichen Handelns litische Umbauarbeiten dieser Art beob- und Gesundheitswesen ansehen und der neue Sozialstaat muss achten. Betrachtet man diese Entwicklung an der Hochschule Magdeburg. sich daran messen lassen, was er zur ge- genauer, dann scheint es so, als hätte sich sellschaftlichen Teilhabe benachteiligter die schon seit längerem von konservativer Bevölkerungsgruppen leistet bzw. vorgibt und neoliberaler Seite entwickelte Kritik leisten zu wollen. Gelingt es dem neuen am Wohlfahrtsstaat allmählich weltweit Sozialstaat also besser als zuvor, benach- durchgesetzt: Der „generöse“ Wohlfahrts- teiligte und von Exklusion bedrohte soziale staat – so die Kritik – vergäbe Leistungen Gruppen gesellschaftlich zu integrieren? ohne Gegenleistungen, in dessen Folge nicht nur die individuelle Leistungsbereit- Der Umbau des „Keynesianischen Wohl- schaft, sondern auch das Fundament der fahrtsstaats“ wird damit begründet, dass in Zivilgesellschaft, Eigenverantwortung und Zeiten der Globalisierung der Sozialstaat bürgerschaftliches Engagement, unter- zwar weiterhin zur Sicherung des gesell- graben würde. Die mangelnde Beschäfti- schaftlichen Zusammenhalts gebraucht gungsfähigkeit von Personen und sozialen wird, aber aus Wettbewerbsgründen mit Schichten in einer globalisierten Wirtschaft anderen Wirtschaftsstandorten Leistung- wird deshalb auch vorrangig als durch stiefe und Finanzierung neu organisiert den Wohlfahrtsstaat und seine Institutio- werden müssten. Die „Baustelle Sozial- nen selbst verursacht betrachtet und we- staat“ ist deshalb überall davon bestimmt, niger als Folge des strukturellen Wandels eine neue Verantwortungsteilung zwi- der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten. schen Staat, Markt und Zivilgesellschaft zu Wichtigstes Ziel der Sozialpolitik müsste fi nden und die Rechte und Pfl ichten gesell- deshalb die Aktivierung aller erwerbsfä- schaftlicher Akteure und Gruppen neu aus- higen LeistungsbezieherInnen sein, mit zutarieren. Bei der Entwicklung einer neu- dem Ziel, sie zur Selbstverantwortung und

4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen 63 Selbststeuerung (besser: Selbstdisziplin) Schröder erstmals öff entlichkeitswirksam, anzuhalten. Die fehlenden Arbeitsplätze in welche Richtung der sozialpolitische Pa- für gering Qualifi zierte hoff t man durch radigmenwechsel jenseits der Rhetorik von den Ausbau eines Niedriglohnsektors der Eigenverantwortung und der Wich- schaff en zu können; auch der Ausbau be- tigkeit der Bürgergesellschaft gehen soll. stimmter Segmente des personenbezoge- Diese Richtung war der Fachöff entlichkeit nen sozialen Dienstleistungssektors gilt als aufgrund der wohlfahrtsstaatlichen Ent- hoff nungsvolle Strategie, da man glaubt, wicklungen in anderen Ländern schon län- neue oder zusätzliche Dienstleistungen ger bekannt. Denn überall wird das Aktivie- für solvente Kundengruppen aufbauen zu rungsparadigma - ob populistisch oder in können (wie z.B. in der wachsenden Ge- wohl gesetzter Form vorgetragen - davon sundheitswirtschaft). getragen, dass der Staat seine BürgerInnen als nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Auff ällig ist: das Hauptaugenmerk gilt Pfl ichten ausgestattet betrachtet. Die Akti- vor allem dem Umbau der sozialpolitischen vierungsmaßnahmen, ein Mix aus Fördern Institutionen, denn deren Umgestaltung und Fordern, sollen ihn daran erinnern. wird gegenwärtig als notwendige Vorbe- dingung einer effi zienten Problembear- 2. Sozialinvestitionen: Selektivität beitung betrachtet, um dann im Rahmen statt Gleichheit eines Fallmanagements mittels „Anreizen Die (personenbezogene) Aktivierungspo- und Sanktionen“ KlientInnen passgenau litik beginnt, wenn Leistungsansprüche gel- fordern und fördern zu können. Der Um- tend gemacht werden, also sozialpolitisch bau der Transfersysteme zu einem „System oder sozialarbeiterisch der Bürger zum Fall komplexer sozialer Dienstleistungen“ - so wird. In den USA lassen sich die Wurzeln der die Sprache des Sozialgesetzgebers in der Aktivierungspolitik bis in die 1970er Jahre Bundesrepublik - ist Ausdruck dieser Ent- zurückverfolgen: wer sozialstaatliche Leis- wicklung. Die zwei bislang getrennt ope- tungen in Anspruch nehmen will, muss die rierenden sozialstaatlichen Säulen, das Leistung „abarbeiten“, so das Motto der kon- System der fi nanziellen Transferleistungen servativen Workfare-Politik. Später wurde und das auf kommunaler Ebene angesie- der Fall auch zur Weiterbildung und Quali- delte System sozialer Dienstleistungen, fi zierung verpfl ichtet. Workfare erweiterte sollen zukünftig stärker vernetzt arbei- sich zu Learnfare. Von der Fürsorge sollte ten. Die Aktivierungspolitik: „Fordern und eine präventive Wirkung ausgehen, die dem Fördern“ ist dabei die Klammer, die beide erneut zum Fallwerden vorbeugen soll. Die- Teilsysteme zusammenhalten soll, bzw. - ser Formwandel hat die Workfare-Politik systemtheoretisch - die beiden Teilsysteme auch für die europäische Sozialdemokratie penetriert. Aktiviert werden durch diese akzeptabel werden lassen und entstanden Politik demnach nicht nur Hilfe- und Trans- ist allmählich die Idee von der Fürsorge als ferbezieherInnen, also diejenigen, die es einer Investition: sozialpolitische Transfer- sich angeblich in den „solidarisch fi nanzier- und Dienstleistungen zu Investitionsmaß- ten Ruhezonen bequem gemacht haben“, nahmen umzubauen, hat sich heute in allen (Streeck 1998), sondern in gleichem Maße westlichen Ländern durchgesetzt und ist auch die träg gewordenen Institutionen seit der Lissabon-Erklärung der EU vom März sozialer Hilfe. 2000 europäische Politik.

Sozialpolitische Aktivierungsstrategien Der Umbau der Sozialsysteme in Europa sehen die Ursachen für Armut und Arbeits- soll vor allem helfen, die Wettbewerbsfä- losigkeit weniger in strukturellen, wirt- higkeit Europas zu stärken. Aktivierungs- schaftlichen und gesellschaftlichen Ver- politik soll hierbei der Exklusion aus dem hältnissen und tektonischen Umbrüchen, Arbeitsmarkt dienen. Da Aktivierungspo- sondern vorrangig als Verhaltensresultat, litik wegen ihres komplexen Dienstleis- also als Folge mangelnden Bemühens tungscharakters aber auch kostspielig ist, (Faulheit) oder als Folge individuellen Fehl- wird sie nur als zweitbestes Mittel betrach- verhaltens, individueller fehlerhafter Le- tet. Sozialpolitik müsse - so die Forderung bensentscheidungen des Einzelnen. „Wer des politischen und wissenschaftlichen arbeiten kann, aber nicht will, der kann Mainstream - stärker präventiv und als In- nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein vestitionspolitik betrieben werden. Der Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft! „statuskonservierende Sozialstaat“ zum Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, „sozialinvestiven Sozialstaat“ umgebildet aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem werden, heißt es in der Bundesrepublik kann die Unterstützung gekürzt werden. (vgl. R. G. Heinze 2003) und investiert wer- Das ist richtig so.“ - In einem Interview den müsse vorrangig in Erziehung, Bildung mit der Bild-Zeitung vom 06.04.2001 ver- und Familie, um zu verhindern, dass Bürger- deutlichte der damalige Bundeskanzler Innen später zum Fall werden.

64 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen Beide Strategien sind Bestandteil einer sozialpolitischen Zuständigkeiten. In der sozialpolitischen Gesamtstrategie: Aktivie- Bundesrepublik fordern die Länder im Rah- rungspolitik ist ursprünglich und primär men der anstehenden Födera-ismusreform „Sozialhilfepolitik“, weil an Sozialtransfer- mehr Zuständigkeiten und im Rahmen empfängerInnen adressiert. AdressatInnen von Kommunalisierungsstrategien werden der investiven Sozialpolitik sind dagegen mehr Aufgaben seitens der Länder an die NormalbürgerInnen und Durchschnittsfa- Kommunen durchgereicht und von diesen milien, die sog. „Neue Mitte“, deren Qua- wiederum weiter auf geografi sch defi nierte lifi kationsniveau verbessert und deren Sozialräume. Die Dezentralisierung sozialer Erziehungsarbeit unterstützt werden sol- Aufgaben ist auf den ersten Blick weniger len. Investive Sozialpolitik soll als sozial- spektakulär als die alles beherrschende ak- politische Generalprävention vor allem tivierende Arbeitsmarkt- und soziale Inves- die Mobilitäts- und Arbeitsmarktchancen titionspolitik. Bei genauerer Betrachtung fördern, damit zukünftig weniger Sozialfäl- muss man aber die Dezentralisierungs- le anfallen und sozialstaatliche Leistungen strategie als dritten Baustein der neuen in Anspruch nehmen. Aktivierungspolitik Sozialstaatsarchitektur ansehen. Durch De- und investive Sozialpolitik dienen beide zentralisierung fi ndet eine Verschiebung der Herstellung bzw. Wiederherstellung der sozialstaatlichen Prioritäten- und Stan- individueller Wettbewerbsfähigkeit. „Hilfe dardsetzung statt: Hilfen sollen „vor Ort“ zur Selbsthilfe“ wird in der neuen Sozial- fl exibel und situationsgerecht organisiert staatsarchitektur zur „Hilfe im Wettbewerb“ werden, um sich verändernden Bedarfsla- (Streeck 1998) und Sozialpolitik wird ver- gen schneller anpassen zu können, so die standen als Teil der Wirtschaftspolitik, weil Begründung. Das hat Konsequenzen für man der Wirtschaft mittlerweile wieder den Sozialstaat. zutraut, die von ihr verursachten Probleme selbst lösen zu können. Der Wohlfahrtsstaat alter Prägung war vor allem Nationalstaat, der dem Prinzip Die Sozialinvestitionsstrategie hat aber „normativer Ubiquität“ folgte, d.h. oberste noch andere Fallstricke: Investitionen sind Handlungsmaxime war die Gleichbehand- immer selektiv und dürfen nicht nach dem lung der BürgerInnen und die Durchset- Gießkannenprinzip verteilt werden; deshalb zung einheitlicher nationaler Versorgungs- muss sozialpolitisch entscheidbar gemacht standards über alle Regionen hinweg werden, in welche gesellschaftlichen Grup- (Priddat 2003). Die im Grundgesetz der Bun- pen knappe Ressourcen investiert werden desrepublik verankerte Maxime der Gleich- sollen und in welche nicht. Wenn sich der wertigkeit der Lebensverhältnisse sorgte Status der BürgerInnen vor allem über de- dafür, dass Disparitäten und Ungleichhei- ren Marktteilnahme defi niert, verwundert ten politisch auszugleichen waren; nicht es nicht, wenn eine wirtschaftsorientierte nur soziale Aufgaben wurden dadurch Sozialpolitik die Gesellschaft in förderungs- immer höher gezont und (zentral)staatlich würdige und weniger förderungswürdige reguliert. Die neue Sozialpolitik will diese soziale Gruppen einteilt. Förderungswür- Entwicklung zurückdrehen und Teile des dig wären vor allem produktive und poten- Risikoausgleichs wieder in die Hand der tiell produktive Gruppen (Familien, Kinder, Gesellschaft rückverlagern. Dafür muss Frauen). Für aus dem Wirtschaftsleben Aus- das Staatsziel der „Gleichwertigkeit der Le- scheidende und Nichtintegrierbare bliebe bensverhältnisse“ abgeschaff t (GG Art. 72) dann nur noch die Existenzsicherung oder und ein Mehr an „sozialer Diversität“ (Prid- Grundversorgung, weil diese Gruppen ihre dat 2000) akzeptiert werden. Die lebhaf- Zukunft schon hinter sich haben und kein te Diskussion über Bürgerkommune und produktiver Beitrag von ihnen mehr er- aktive Bürgergesellschaft (wie aber auch wartbar ist. Verlierer der neuen investiven die wirtschaftspolitische Debatte über die Sozialpolitik wären Nicht-Leistungswillige Förderung von Wachstumskernen) scheint wie aber auch die Nicht-(mehr)-Leistungs- mir Folge dieser Entwicklung zu sein. Zen- fähigen. Eine konsequent durchgeführte tralstaatlich organisierte Standardsetzung soziale Investitionspolitik wäre das Einfall- und Umverteilung sollen durch lokale bzw. tor für eine neue selektive Sozialpolitik, der situationsorientierte Lösungen abgebaut nicht mehr alle gesellschaftlichen Gruppen werden. Der zentrale Gewährleistungsstaat gleich viel wert sind. setzt - so sein Selbstbild - nur noch Rah- menbedingungen, die dann vor Ort durch 3. Dezentralisierung: freies Ermessen, umgesetzt werden. Die die Legitimation der Selektivität Folge wäre in jedem Fall eine noch unein- Betrachtet man die sozialpolitischen heitlichere Versorgung der Bevölkerung als Entwicklungen etwas genauer, dann lässt bisher: arme Länder und arme Kommunen sich noch ein weiterer sozialpolitischer leisten für die Bürger gezwungenermaßen Trend erkennen: die Dezentralisierung von weniger. Das bedarf jedoch der Legitimie- 65 Literaturhinweise rung, was durch den Gerechtigkeitsdiskurs Dahme, Heinz-Jürgen u. Norbert Wohlfahrt, 2003: Ak- geleistet wird. tivierungspolitik und der Umbau des Sozialstaats. Gesell- schaftliche Modernisierung durch angebotsorientierte Sozialpolitik. In: Dahme, H.-J., Otto, H.-U., Trube, A., Wohl- Gefordert wird eine neue Gerechtigkeits- fahrt, N. (Hg.), Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. konzeption, die die auf Umverteilung und Opladen, S. 75 – 102 Gleichheit fokussierten Gerechtigkeitsprin- Dahme, Heinz-Jürgen u. Norbert Wohlfahrt, 2003a: Die „verborgene“ Seite des aktivierenden Staats. Sicherheit zipien des alten Sozialstaats ersetzen sol- und präventive Kontrolle als Leitbild von Sozialinterventi- len. Die sich aus der Investitionsstrategie onen. In Sozial-extra H. 8 - 9, S. 17 - 21 ergebende Diskussion um mehr „Chancen- Dahme, Heinz-Jürgen u. Norbert Wohlfahrt, 2005: So- zialinvestitionen. Zur Selektivität der neuen Sozialpolitik gerechtigkeit“ (statt Verteilungsgerechtig- und den Folgen für die Soziale Arbeit. In: Dahme, H.-J., keit) ist ein erster Versuch, neue Gerech- Wohlfahrt, N. (Hg.), Aktivierende Soziale Arbeit. Theorie, tigkeitsprinzipien gesellschaftsfähig zu Handlungsfelder, Praxis. Baltmannsweiler, S. 6 - 20 machen. Da durch die Dezentralisierung Esping- Andersen, Gøsta u.a., 2003: Why We Need a New Welfare State? Oxford (UK) staatlicher Aufgaben gerechtes Handeln Giddens, Anthony, 1999: Der dritte Weg. Die Erneue- gegenüber Bedürftigen, Schwachen und rung der sozialen Demokratie. Frankfurt/M. Benachteiligten faktisch entstaatlicht und Göschel, Albrecht, 2004, Gleichwertigkeit der Lebens- in die Hände der kleineren Gemeinschaften bedingungen. Zur Neuinterpretation einer Norm. In: difu- rückverlagert wird, muss eine neue Gerech- Berichte (Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin), H. 4, S. 2 – 3 tigkeitsformel gefunden werden, die ihrer Heinze, Rolf G., 2003: Vom statuskonservierenden zum zentralstaatlichen Konnotationen entbun- sozialinvestiven Sozialstaat (Vortrag bei der Tagung „Zu- den ist. Eine dezentralisierte Sozialpolitik kunft der sozialen Demokratie“ der Friederich-Ebert-Stif- tung in Bad Münstereifel 29.9 - 5.10.2003) für eine radikale Markt- und Wirtschafts- Homann, Karl u. Ingo Pries, 1996: Sozialpolitik für den gesellschaft soll durch Fairnessregeln und Markt.Markt. TheoretischeTheoretische PerspektivenPerspektiven konstitutionellerkonstitutioneller Ökono-Ökono- weniger durch zentralstaatlich gesatzte Ge- mik. In: Pries, Ingo u. Martin Leschke (Hg.). James Bucha- rechtigkeitsprinzipien bestimmt werden, nansnans kkonstitutionelleonstitutionelle ÖÖkonomik.konomik. TTübingen,übingen, SS.. 221010 ff was zur Folge hat, dass lokale sozialpoliti- Jessop, Bob, 1994: Veränderte Staatlichkeit. Verände- rungen von Staatlichkeit und Staatsprojekten. In: Grimm, sche Entscheidungen nicht mehr durch hö- Dieter (Hg.). Staatsaufgaben. Baden-Baden, S. 43 –73 here Gerichtsbarkeit kontrollierbar wären. Lessenich, Stephan, 2004: Auf welcher Baustelle wollen Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, die wir leben? Die „Krise“ des Wohlfahrtsstaats, die „Reform“ der Sozialpolitik und die Chancen soziologischer Diagno- nicht nur einfach den Sozialstaat umbaut, se. In: Soziologische Revue, 27. Jg., S. 29 - 43 sondern radikal mit den klassischen Prinzi- Lessenich, Stephan, 2005: „Activation without work“. pien des Verwaltungshandelns bricht und Das neue Dilemma des “konservativen” Wohlfahrtsstaats. In: Dahme, H.-J., Wohlfahrt, N. (Hg.), Aktivierende Soziale darüber hinaus dem Bürger auch die ihm arbeit. Theorie, Handlungsfelder, Praxis. Baltmannsweiler, zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln S. 21 – 29 zur Korrektur ihn belastender Entscheidun- Lødemel, Ivar u. Heather Trickey, 2001: Ein neuer Ver- trag für Sozialhilfe. In: Christine Stelzer-Orthofer (Hg.). gen nehmen will. Zwischen Welfare und Workfare. Soziale Leistungen in der Diskussion. Linz, S. 123 - 165 Das bringt mich zur Ausgangsfrage zu- Merkel, Wolfgang, 2003: Die unverzichtbare Verantwor- tung des Einzelnen. Auf dem Weg zum aktivierenden Staat rück: was leistet der neue Sozialstaat zur sind Reformen dringend geboten: Soziale Gerechtigkeit Behebung von Ungleichheit, Armutslagen und der Umbau des Sozialstaats. In: Frankfurter Rund- und Benachteiligungen? Die Antwort fällt schau 4.6. 2003 leicht: weniger als der alte! Dass sich der Neumann, Volker., 2003: Raum ohne Rechte? Zur Re- zeption von Sozialraumkonzeptionen durch die Sozialpo- Umgang mit Armutslagen aufgrund einer litik. In: Recht sozialer Dienste und Einrichtungen, H. 55, veränderten Interventionslogik qualitativ S. 30 – 46 und quantitativ verändert, spüren die da- Nullmeier, Frank, 2003: Spannungs- und Konfl iktlinien im Sozialstaat. In: Der Bürger im Staat, Heft 4: Der Sozial- von Betroff enen zuerst. Die Dezentralisie- staat in der Diskussion (Internetausgabe) rungstendenzen machen darüber hinaus Priddat, Birger, 2000: Soziale Diversität. Skizze zur Zu- auch deutlich, dass die Leitidee der euro- kunft des Sozialstaates. In: K.D. Hildemann (Hg.). Abschied vom Versorgungsstaat? Erneuerung sozialer Verantwor- päischen Wohlfahrtsstaaten (Vermeidung tung zwischen Individualisierung, Markt und bürger- von Ungleichheit, Armut und Benachteili- schaftlichem Engagement. Institut für interdisziplinäre und angewandte Diakoniewissenschaft, Universität Bonn, gung) sich aufl öst und nicht mehr oberstes S. 89 - 109 sozialstaatliches Ziel ist. Der ursprüngliche Priddat, Birger, 2003: Umverteilung. Von der Ausgleichs- wohlfahrtsstaatliche, ethisch fundierte subvention zur Sozialinvestition. In. St. Lessenich (Hg.). Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriff e. Historische und aktu- Grundkonsens in der Armutsbekämpfung elle Diskurse. Frankfurt/M., S. 374 - 394 wird durch ordnungs- und fi skalpolitische, Rüb, Friedbert W., 2004: Vom Wohlfahrtsstaat zum „ma- technokratische effi zienzfokussierte Ziele nageriellen Staat“? Zum Wandel des Verhältnisses von Markt und Staat in der deutschen Sozialpolitik. In: R. Cz- ersetzt, so dass der Umbau des Sozialstaa- ada/R. Zintel (Hg.). Politik und Markt. Wiesbaden, S. 256 tes sich als das erweist, was er bestreitet zu - 299 sein: nämlich, ein Abbau der sozialstaatli- Streeck, Wolfgang, 1998: Einleitung: Internationale Wirt- schaft, nationale Demokratie? In: Streeck, W. (Hg.). Interna- chen Leistungstiefe. tionale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderun- gen für die Demokratietheorie. Frankfurt/M., S. 11 - 58 Wilson, William J., 1987: The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy. Chicago

66 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen 4.2 Vom Teilen zum Tauschen. Die (un)heimliche Ökonomisierung des Sozialen

Zeitgleich mit dem Abbau des Sozialstaates und der Auslagerung Sozialer Dienste an privatwirt- schaftlich geführte Organisationen, geht der Begriff KlientIn verloren und wird durch den Kunden- begriff ersetzt. „Eines der deutlichsten Zeichen des Ökonomisierungsbestrebens ist die Transforma- tion nahezu aller Formen sozialer Interaktion in Kunden-Anbieter-Beziehungen. Bürger, Schüler und Studenten, Gemeindemitglieder, Patienten und Klienten werden zunehmend zu ´Kunden` “. (Thielemann 2004, 69)

Ökonomie der Ware und Ökonomie nicht sich über das Verfahren zu einigen. der Gabe Vorstellungen über das Gute Leben sind Neben der Warenökonomie, die von ei- aufs engste mit der Ökonomie der Gabe ner grundsätzlichen Knappheit und einer verknüpft, während beim Warentausch das Unbegrenztheit von Bedürfnissen der Kun- Verbindende die Vorstellungen über das dInnen ausgeht, existiert aber auch noch gerechte Verfahren ist. eine Ökonomie der Gabe, der die Vorstel- lung von einer Fülle von Gütern und einer Der Kauf Begrenztheit an Bedürfnissen zugrunde Voraussetzung für das Kaufgeschehen liegt. Die Ökonomie der Gabe ist eng mit ist, dass sich freie, aber voneinander iso- dem Begriff der KlientIn verbunden. Die lierte Individuen fi nden, die idealerweise beiden Ökonomien gründen auf zwei For- nicht miteinander in Beziehung stehen. Je men sozialen Handelns: auf Tausch- und freundschaftlicher sie miteinander verbun- auf Teilungsakte. den sind, desto schwieriger ist die Abwick- lung des Kaufs. Das Teilen von Gaben (schenken) und das Tauschen von Waren (kaufen) sind zwei Weiters muss zwischen den beiden ein Arten sozialen Handelns, die auf unter- Gleichgewicht der Macht herrschen. Wa- schiedliche Weise die Teilnahme an Gütern rentausch, der etwa zwischen Erwachse- sichert. Jede dieser Ökonomien, die Waren- nen und Kindern stattfi ndet, wird zu Recht Ökonomie und die Gaben-Ökonomie, wird problematisiert. Gleichheit ist oberstes durch ihre eigene Ethik legitimiert. So steht Prinzip. Der Preis der Ware ist für alle Kun- Andrea die Gerechtigkeitsethik, bzw. die davon ab- den gleich, und das setzt voraus, dass alle Trenkwalder-Egger Management Center leitbare Diskursethik in engem Zusammen- KundInnen vor der/dem VerkäuferIn gleich Innsbruck/ hang mit dem Konzept der Marktwirtschaft. sind, d.h. dass der/dem VerkäuferIn alle FH für Sozialarbeit Sowohl in der Marktwirtschaft als auch KundInnen gleich gültig sind. Das Gleich- in der Diskursethik einigen sich freie und heitskonzept macht den Erfolg des Kaufs gleiche, aber voneinander isolierte Indivi- aus, da Diff erenzen einfach vernachlässigt duen über das Verfahren, nicht aber über werden können. gemeinsame Werte und Präferenzen (vgl. Schneider 2001, 65). Im Zentrum steht die Eine andere Eigenschaft homogener Frage nach der Verfahrensgerechtigkeit. TauschpartnerInnnen ist ihre Kaufkraft. Erst die Kaufkraft macht einen Menschen Die ethische Fragestellung bei der Vertei- zum Kunden bzw. zur Kundin. lung von Gaben dreht sich um Prinzipien Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wie Fürsorge und Mitgefühl. Die Ökonomie tauschen autonome homogene Subjek- der Gabe fi ndet sich vor allem im familiä- te gleichzeitig Waren oder Dienstleistun- ren Bereich. Dort werden die Güter nicht gen gegen Geld. Die PartnerInnen teilen nach Gerechtigkeits- sondern meist nach miteinander die Überzeugung, dass das Fürsorgekriterien verteilt. Tugenden wie Verfahren gerecht abläuft. Überlegungen Fürsorge und Mitgefühl gehören zur soge- über die Sinnhaftigkeit des Tauschhandels, nannten aristotelischen Ethik, die sich mit ob Waren wie etwa Wegwerfprodukte, für der Frage auseinandersetzt, was denn gu- ein gutes Leben notwendig sind, spielen tes Leben ausmacht und welche Tugenden zwar für die Tauschanbahnung eine Rolle, dafür entwickelt werden müssen. In der nicht aber für das Tauschgeschehen. Ökonomie der Gabe wird versucht ethische KlientInnen der Sozialen Arbeit können Ziele mit Hilfe der Gaben zu realisieren. Die keine KundInnen sein, da sie die genann- Ökonomie der Gabe verlangt daher eine ten Voraussetzungen für das Kaufgesche- Abklärung über ethische Ziele. Es genügt hen nicht erfüllen. 67 KlientInnen sind keine autonomen un- fähig, seine Bedürfnisse durch Tauschpro- abhängigen Subjekte. Es ist die soziale In- zesse zu befriedigen. Und auch in diesen stitution, die die Defi nitionsmacht darüber wenigen Jahren des arbeitsfähigen Er- besitzt, wer zum Kreis der KlientInnen ge- wachsenenalters, erhalten immer weniger zählt wird, und wer nicht. Die sozialen In- Menschen die Chance, sich in Tauschpro- stitutionen richten ihr Angebot an speziel- zesse einzuklinken, wie die Entwicklung le Zielgruppen. Sehr wohl kann jeder oder am Arbeitsmarkt zeigt. Trotzdem gewinnt jede einen Rollstuhl kaufen, aber es kann das Prinzip des Tauschens zunehmend an nicht jeder bzw. jede in einer Behinderten- Bedeutung, auch in sozialen Bereichen, beratungsstelle ohne Grund auf eine Sozi- während das Teilen in den Privatbereich alberatung bestehen. abgedrängt wird. Es besteht auch kein Gleichgewicht der Macht zwischen SozialarbeiterIn und Kli- Vielleicht auch deshalb, weil der Ökono- entIn. Die hilfesuchende Person ist schon mie der Gabe der Geruch von Mildtätig- allein aufgrund der Notsituation, in der sie keit, Gefühlsduselei und Unprofessiona- sich befi ndet, in einer schwächeren Positi- lität anhaftet. Das hängt vor allem damit on als die SozialarbeiterIn. Durch das Kun- zusammen, dass nicht zwischen Gabe und dInnenkonzept wird das real existierende Almosen unterschieden wird. Beim Almo- Machtungleichgewicht zwischen Hilfesu- sen handelt es sich um ein einseitiges Ge- chender und SozialarbeiterIn verschleiert schenk, das vor allem Hierarchie produziert und dadurch auch nicht problematisiert. und stabilisiert. Der gleich undiff erenzierte Damit wird der Willkür Tür und Tor geöff net. Blick auf die Ökonomie der Ware gerichtet, würde bedeuten, dass auch der Tausch und Weiters verfügt die KlientIn über wenig seine Sonderform der Raub gleichgesetzt bis gar keine Kaufkraft. Sehr problematisch würden, weil sie ebenso wie die Gabe und ist es, wenn die Verwendung des Kun- das Almosen fl ießend ineinander überge- denbegriff s in der Sozialen Arbeit damit hen können. begründet wird, dass der Hilfesuchenden größerer Respekt entgegengebracht wird. Gabe Kauf und Almosen: Zum einen begründet sich dieser Respekt Im Unterschied zum Kauf wird die Gabe auf eine Eigenschaft, die KlientInnen in nicht zwischen Gleichen ausgehändigt, der Regel nicht besitzen, nämlich die Kauf- sondern an Personen, die für die GeberIn kraft. Zum anderen ist es auch außerhalb etwas Besonderes darstellen. GeberIn und der sozialen Arbeit höchst problematisch, NehmerIn stehen in einem besonderen Be- die Würde der Person mit ihrer Kaufkraft zu zug zueinander. Dabei muss es sich nicht verknüpfen. unbedingt um eine persönliche Beziehung handeln. So werden auch unbekannte Per- Das wirklich Skandalöse an der Einfüh- sonen unterstützt, allein aufgrund der Be- rung der Warenökonomie im sozialen Be- sonderheit ihrer Situation. reich besteht aber darin, dass ethische und damit auch sozialpolitische Fragen auf die Dieses Aufeinander-Bezogen-Sein ist Frage nach der Verfahrensgerechtigkeit aber auch der scheinbare Schwachpunkt beschränkt werden. Nicht mehr die Frage der Ökonomie der Gabe. Es erfordert viel steht im Mittelpunkt, welche Vorstellun- Zeit und Geduld, wenn von der konkre- gen vom Guten Leben wollen wir durch die ten Besonderheit der anderen Person aus- Sozialarbeit realisiert sehen, sondern: was gegangen wird als von einer abstrakten bietet die KundIn zum Tausch an für die so- Gleichheit. ziale Leistung. Die Fixierung auf die Verfah- rensgerechtigkeit führt daher unweigerlich Von zentraler Bedeutung in der Ökono- in die Sozialschmarotzerdebatte. mie der Gabe ist die Frage, wer zur Grup- pe der Besonderen gehört, die eine Gabe Gegenkonzept: Aufwertung der Gabe erhalten, und wer davon ausgeschlossen Eine Möglichkeit, gegen den Mythos wird. Die Kriterien müssen transparent sein Markt aufzutreten, sehe ich darin, die Öko- und dürfen der Ethik der Sozialen Arbeit, nomie der Gabe aufzuwerten. die den Menschenrechten verpfl ichtet ist, nicht widersprechen. Genügend Beispiele Obwohl die meisten Menschen in den aus der Geschichte haben gezeigt, wie das ersten zwanzig Jahren fast ausschließlich Prinzip der Gemeinschaft für menschen- von Teilungsprozessen abhängig waren verachtende Handlungen mißbraucht wur- und wahrscheinlich in ihren letzten Le- de. Will man die Ökonomie der Gabe für die bensjahrzehnten wieder davon abhängig Soziale Arbeit verwenden, ist es daher er- sein werden, weist die Ökonomie der Gabe forderlich sich auf konkrete ethische Ziele kaum einen gesellschaftlichen Einfl uss auf. festzulegen, wie etwa der sozialen Gerech- Nur für wenige Jahrzehnte ist der Mensch tigkeit oder der Menschenwürde.

68 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen Die Besonderheit, die einen Menschen Ein großer Bereich der Sozialen Arbeit legitimiert an den Gaben teilzuhaben, besteht darin Situationen zu schaff en, in sehe ich in erster Linie in seiner Bedürftig- denen KlientInnen aus der Rolle der Emp- keit. Die Bedürftigkeit des Menschen ist fängerIn schlüpfen und eine aktive Rolle ein kulturüberschreitendes Phänomen. Der wieder einnehmen. Von zentraler Bedeu- Grad der Bedürftigkeit macht ihn zu einem tung ist dabei die Freiheit der KlientInnen: besonderen Menschen, für den Gaben zur sie müssen frei entscheiden können, ob sie Verfügung gestellt werden müssen, um die Gabe erwidern und wenn ja, was ihre sein Recht auf ein menschenwürdiges Da- Gegengabe sein wird und wann sie gege- sein zu garantieren. ben wird.

Im Unterschied zum Kaufgeschehen Mit der Ausdehnung der Märkte ist werden Gaben nicht zwischen Gleichen eine Zunahme von Kaufhandlungen aber ausgetauscht. Es besteht kein Machtgleich- auch von Almosentätigkeit festzustellen. gewicht zwischen GeberIn und Gabenemp- Gleichzeitig ist ein Verschwinden von Tei- fängerIn. Dafür ist aber dieses Machtun- lungshandlungen im Sinne von Gaben zu gleichgewicht unstabil. Der Rollentausch bemerken. Um der unheimlichen Waren- ist prinzipiell möglich und auch wün- Ökonomisierung des Sozialen etwas ent- schenswert. Dabei handelt es sich nicht um gegenzusetzen, ist es erforderlich sich der einen Zwang zum Rollentausch. Die Gabe Ökonomie der Gabe wieder zu erinnern zeichnet sich durch ihr ambivalentes Ver- und sie bewußt im öff entlichen Raum zu hältnis zur Reziprozitätspfl icht aus. Auf der installieren. Das bedingungslose Grund- einen Seite kann von einer Gabe nur dann einkommen wäre ein Schritt in diese Rich- als Gabe gesprochen werden, wenn kei- tung. ne Vergeltungspfl icht besteht, ansonsten, handelt es sich um einen Tausch. Auf der anderen Seite aber, muss die Möglichkeit Thielemann, Ulrich (2004): Integrative Wirtschaftsethik als Refl exionsbemühung im Zeitalter der Ökonomisierung zur Erwiderung der Gabe off enstehen. Die In : Refl exionsfelder integrativer Wirtschaftsethik Mieth, Freiheit der Ökonomie der Gabe besteht Dietmar / Schumann, Olaf / Ulrich, Peter (Hrsg.) Tübingen. darin, dass diejenigen, die zuvor beschenkt S. 69 -102. Grams, Wolfram (2000): Sozialarbeit als Ware oder: Das wurden, bestimmen können: ob sie prin- Soziale zu Markte tragen. In: Wilken, Udo (Hrsg.): Soziale zipiell die Gabe erwidern, aber auch von Arbeit zwischen Ethik und Ökonomie. Freiburg im Breis- welcher Art die Gegengabe sein wird und gau. S. 77 – 98. Sahle, Rita (1987):Gabe Almosen Hilfe: Fallstudien zur wann sie zurückgegeben wird. Wenn diese Struktur und Deutung der Sozialarbeiter-Klient-Bezie- Möglichkeit zur Gegengabe nicht existiert, hung. Opladen. handelt es sich um ein Almosen. Schneider, Johann (2001): Gut und Böse – Falsch und Richtig. Zu Ethik und Moral der sozialen Berufe. 2. Aufl . Frankfurt am Main. Das Almosen wird, wie die Gabe auch einem Schützling (KlientIn) gegeben, aber es kommt nicht zu einer Veränderung der Rollen. Auch wenn das Ziel die Linderung einer Notlage ist, so darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass mit jedem Al- mosen gesellschaftliche Hierarchien etab- liert werden, und eine prinzipielle Verände- rung der Notlage verunmöglicht wird. Die Person, die ein Almosen erhält, wird auf ihre Rolle festgeschrieben. Sie besitzt eine als legitim anerkannte arme Existenz (Sah- le 1987, 24), die keinem gesellschaftlichen Veränderungsdruck unterworfen ist. Das Almosen lindert die Not, verändert aber nicht die Ursachen.

69 4.3 Qualitätsmanagement - Ökonomisierung oder Professionalisierung Sozialer Arbeit ?

(1) Qualität geht auf den lateinischen Begriff qualitas (2.5) In diesem Sinne wäre Qualitätsma- zurück, d.h. Beschaffenheit, Eigenschaft, und bezeichnet nagement multiperspektivisch angelegt, wobei kein Monopol anspruch auf eine in der Regel die Gesamtheit von Merkmalen oder Wer- „objektive“ Norm behauptet würde. ten, die Produkten, Dienstleistungen oder Institutionen, aber auch Personen, Ideen oder Handlungen aufgrund von normativen Vorstellungen bzw. Konventionen zu- geschrieben werden. Der Begriff der Qualität an sich ist also eigentlich inhaltsleer und füllt sich nur über Wert- setzungen im Hinblick darauf, was für gut, geeignet oder angemessen usw. gehalten wird. Demgemäß stellt sich die Qualitätsfrage nicht nur als Fachfrage, sondern auch als Machtfrage.

[2]

(3) Ebenso wenig Sinn macht es, die Qua- [1] lität monolithisch zu bestimmen, etwa ge- mäß der schlichten Vorstellung: „Entschei- (2) Wenn es um die Qualität Sozialer Ar- dend ist ja letztlich nur, was hinten dabei beit geht, sind demgemäß mindestens drei rauskommt.“ Dies unterschlägt die Vielfalt Perspektiven angefragt, die erforderlichen- der Dimensionen des Qualitätsbegriffs: falls um eine vierte zu ergänzen wären. (3.1) Zum einen geht es sicherlich auch im (2.1) Dies ist zum einen die Sicht der Betrof- Sozialen Sektor um die Ergebnis-, Out- fenen / KlientInnen selbst, die sowohl put- bzw. Produktqualität, wobei jedoch ExpertInnen in eigener Sache als auch in der Sozialarbeit typischerweise das Er- Achim Trube möglicherweise hilfsbedürftig im Hin- gebnis einer Handlung durch die Hand- lehrt Politikwissenschaft blick auf ihre Selbstwahrnehmung und lung selbst vielfach gar nicht eindeutig an der Universität Siegen mit den Schwerpunkten Problemeinsicht sind. zu bestimmen ist. Soziale Arbeit ist näm- „Sozial- und Arbeits- (2.2) Zum Zweiten ist es die Sicht der profes- lich vor allem eine Ko-Produktion zwi- marktpolitik“ sowie sionellen HelferInnen, die eine fachliche schen Helfendem und Hilfsbedürftigem, „Sozialadministration“. Ehrenamtlich arbeitet Vorstellung von qualitativ guter Arbeit sodass der/die Professionelle in dem Er- er in der Memoran- haben sollten, wobei sie sicherlich nicht gebnis seiner Handlung konstitutiv auf dum-Gruppe an den immer unbefangen oder unberührt von sein Gegenüber angewies en ist. jährlichen Alternativ-Gutachten einer „déformation professionnelle“ sind. (3.2) Demgemäß ist auch der Prozess der zur Beurteilung der (2.3) Zum Dritten sind für das Qualitätsma- Arbeit, also das, was im Verlauf der Hil- sozialen und wirt- schaftlichen Lage in der nagement die Vorgaben / Vorstellungen feerbringung / Interaktion sich abspielt, Bundesrepublik mit. des Gesetzgebers bzw. Finanziers von wie etwa die Bildung von Vertrauen, entscheidender Bedeutung, die sowohl Selbstbewusstsein etc., d. h. die Prozess- in der Sache aufgrund hoheitlicher Funk- qualität, in das Qualitätsmanagement tionen (Eingriffsverwaltung etc.) als auch mit einzubeziehen, da sie oftmals die im Verständnis von Sparsamkeit bzw. Bedingungen der Möglichkeit eines „gu- Wirtschaftlichkeit ganz erheblich von ten“ Ergeb nisses oder einfach auch „nur“ dem Verständnis anderer AkteurInnen gelungene Abläufe beschreibt. differieren können. (3.3) In einem weiteren Sinne ist die Reich- (2.4) Last not least mag es sinnvoll sein, weite –selbst ausgezeichnet durchge- Experten (Wissenschaftler, Supervisoren führter– Sozialarbeit grundsätzlich be- etc.) in das Qualitätsmanagement mit schränkt, da für sie selbst oftmals die einzubeziehen, da sie externe Erkennt- entscheidenden Bedingungen des Er- nisse in den Prozess einbringen können, folgs bzw. Misserfolgs gar nicht beein- die alle Vor- und Nachteile einer von der flussbar sind. So ist z.B. die Reintegration Sache selbst losgelösten Perspektive ha- von Langzeitarbeitslosen vorwiegend ben. zumeist nicht eine Funktion gelungener Sozialer Arbeit (Stabilisierung, Training

70 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen etc.), sondern vielmehr entscheidend AuftraggeberInnen usw. Ein solcher poten- eine Funktion der Aufnahmefähigkeit tieller Nutzen des Qualitätsmanagements der regionalen Arbeitsmärkte, wobei liegt grundsätzlich... die Verfahrensqualität Sozialer Arbeit – wenn auch nicht entscheidend - je- (4.1) für die AdressatInnen der Sozialen doch äußerst wichtig sein kann. Diese so Arbeit z.B. im möglichen Schutz vor genannte Prozederequalität erfasst, ob schlechten Leistungen und einem erhöh- das Vorgehen bzw. die Methoden der So- ten Verteidigungspotential gegenüber zialen Arbeit nach den Stand der Kunst wenig kompetenten Anbietern im Sinne angelegt und angewendet worden sind, optimierter „Konsumentensouveränität und zwar unabhängig davon, ob ein Er- (4.2) für die AnbieterInnen von Sozialen folg in der Sache (Output-Qualität) zu Leistungen z.B. in der Chance zur Erhö- verzeichnen war. hung der Professionalität und durch die (3.4) Auch Soziale Arbeit schwebt nicht im klare Definition von Zielen und Bewer- materiell luftleeren Raum, d.h., sie ist auf tungsgrößen im Schutz vor Burning-out ganz konkrete „Produktionsbedingun- (4.3) die AuftraggeberInnen in der Mög- gen“, wie etwa ausreichend Zeit, Raum, lichkeit der Steuerung von Effektivität Personal, eine entsprechende Finanz- und Effizienz der Leistungen sowie einer ausstattung, ein technisches Equipment Optimierung der Mittel-Allokation usw. angewiesen. Diese Strukturqualität (4.4) für die ExpertInnen ggf. in der Ein- Sozialer Arbeit, die ebenso die formale bringung von fachlichen bzw. wissen- Qualifikation der MitarbeiterInnen oder schaftlichen Kriterien in die Arbeit, was auch die Ungestörtheit von Beratungs- auch den Theorie-Praxis-Transfer und die settings und andere Rahmenbedingun- Standardisierung von Evaluationsverfah- gen umfasst, ist eine notwendige – wenn ren verbessern helfen kann. auch keine hinreichende Bedingung für [4] Erfolg. (3.5) In diesem Sinne wäre Qualitätsma- nagement multidimensional angelegt, indem sie neben der Produktqualität auch die Prozess- und die Procederequa- lität sowie die Strukturqualität als Rah- menbedingen der Arbeit in die Betrach- tungen mit einbezieht.

[3]

(5) Neben dem potentiellen Nutzen eines Qualitätsmanagements muss man gerade unter den Prämissen knapper öffentlicher Mittel andererseits auch die Gefahren für die verschiedenen AkteurInnen in der So- zialen Arbeit sehen, die typischerweise in fünf „Kurzschlüssen“ eines primär ökono- misch motivierten Vorgehens liegen. Dies sind die Gleichsetzungen von Effektivität mit Effizienz, von Betriebswirtschaft mit Volkswirtschaft, die Gleichsetzung von Quantifizierbarkeit mit Objektivierbarkeit, die Vermischung von Qualitätsanalyse und Wirkungsanalyse sowie die Vorstellung, dass endogene Steuerung automatisch exogene Effekte erzeugen würde. Wie lau- (4) Wenn man vor diesem Hintergrund die ten nun die Unterstellungen im Einzelnen Frage stellt, wem denn die Einführung eines und was sind ihre Konsequenzen? Qualitätsmanagements im Sozialen Sektor nutzt, dann ergeben sich die Antworten (5.1) Die erste Verkürzung besteht darin, auf zwei differenten Ebenen. Einerseits ist Effektivität mit Effizienz gleichzusetzen. es die Ebene der Opportunitäten, d.h. der Erstere bezeichnet aber –genau genom- denkbaren Möglichkeiten des Zugewinns men– den Grad der inhaltlichen bzw. für die Betroffenen, die Professionellen, die fachlichen Zielerreichung, d.h. den Grad 71 der Wirksamkeit, Letztere hingegen de- dann aus der Qualitätsbetrachtung aus- finiert den Grad der Wirtschaftlichkeit geblendet bleiben. – also den erforderlichen Aufwand für (5.4) Qualitätsanalysen bzw. Qualitätsma- die jeweilig erzielte Wirksamkeit. Schaut nagement betrachten jene Parameter man sich nur den Aufwand an, so kann der Leistung, die zuvor als Kenngrößen man etwas über Sparsamkeit, aber nicht des Erfolgs bestimmt und operationa- über Wirtschaftlichkeit aussagen. Effekti- lisiert worden sind. Dieser Blick auf die vität und Effizienz sind nur identisch in intendierten Wirkungen verstellt die erwerbswirtschaftlichen Organisationen, Sicht auf Fragen der Evaluation bzw. wo das inhaltliche Ziel zugleich das wirt- Wirkungsanalyse, die gezielt auch (nicht- schaftliche ist, was ausdrücklich nicht in beabsichtigte) Nebenwirkungen oder öffentlichen und gemeinnützigen Orga- Alternativstrategien im Fokus haben. So nisationen der Fall ist. könnte Soziale Arbeit z.B. auch zur Pro- (5.2) Die Gleichsetzung der betriebs- blemerzeugung (Entmündigung o.ä.) wirtschaftlichen Perspektive mit der und nicht nur zur Problemlösung beitra- volkswirtschaftlichen Sicht ignoriert gen, was allerdings für eine Gesamtbe- systematisch, dass die Summe einzel- wertung im Sinne einer Netto-Wirkungs- wirtschaftlich rationalen Verhaltens Analyse nicht unbedeutend wäre. nicht automatisch auch die gesamtwirt- (5.5) Qualitätsmanagement im Zeichen schaftlich rationalste Strategie ist. Kon- knapper Kassen setzt auf die Optimie- zentrieren sich die TrägerInnen sozialer rung der endogenen Steuerung von Trä- Dienste beispielsweise jeweils nur auf gern bzw. Einrichtungen Sozialer Arbeit, jene Klienten mit den geringsten Beein- und zwar zumeist in der Hoffnung, dass trächtigungen, um so die größten Chan- damit generell die übertragenen Aufga- cen eines Integrationserfolgs zu haben, ben besser lösbar wären. Dies führt sys- so wird dies insgesamt dazu führen, dass tematisch immer dann zum Scheitern, jene potentiellen AdressatInnen, die wenn die Ursachen der Probleme auf eines Förderangebots vergleichsweise exogene Bedingungen zurückführbar am nötigsten bedürften, die geringsten sind (z.B. strukturelle Massenarbeitslo- Chancen hätten, dies tatsächlich zu be- sigkeit), die der Bewirkungsreichweite kommen, was volkswirtschaftlich völlig sozialer Organisationen überhaupt nicht kontraproduktiv ist. zugänglich sind. Ohne Differenzierung (5.3) Die Verwechselung des Quantifizier- zwischen endogener Steuerung und baren mit dem Objektivierbaren lässt für exogenen Wirkungen ist oftmals funkti- die Qualitätsbeschreibung letztlich nur onaler Dilettantismus vorprogrammiert, jenes gelten, was messtechnisch erfass- der einerseits zwar ständig bessere Ar- bar ist, wie etwa Geld, Zeit, Anzahl der beit macht, aber damit andererseits KlientInnen etc., obwohl es möglicher- nichts Substanzielles zu Problemlösung weise relativ unbedeutend ist für die Be- beizutragen in der Lage ist. wertung der Leistung. So kommt es dann oftmals zur Reduzierung des Wesentli- chen auf das Zählbare, weil Phänomene wie beispielsweise „psycho-soziale Sta- bilisierung“ empirisch außerordentlich Typische Risikoszenarien des Qualitätsmanagements schwer messbar sind und demzufolge im Zeichen „knapper Kassen“ [5]

Risikoszenarien des Unterstellungen Folgen (exemplarisch) Austeritäts-Managements Effizienz Präferenz der preiswerten vor der pro- I = Gleichsetzung von Wirtschaftlichkeit mit Wirksamkeit fessionellen Problemlösung Effektivität Ë Creaming-the-Poor Betriebswirtschaft Externalisierung der sozialen Kosten in die Gesellschaft Gleichsetzung von einzelwirtschaftlichem II = Ë Privatisierung der Gewinne / Nutzen mit gesamtwirtschaftlichem Nutzen Volkswirtschaft Sozialisierung der Verluste Quantifizierbarkeit Gleichsetzung des messtechnisch Erfassbaren Reduzierung des Wesentlichen auf das Zählbare III = mit dem qualitativ Verallgemeinerbaren Ë Technisierung des Qualitätsmanagements Objektivierbarkeit Qualitätsanalyse Ausblendung der Opportunitäts kosten und Gleichsetzung der intendierten Wir- IV = nicht-intendierten Nebenwirkungen kungen mit allen Wirkungen Wirkungsanalyse Ë Evaluation als „beschränkte Auftragsforschung“ Endogene Steuerung Binnenmodernisierung/-optimierung beeinflusst Funktionaler Dilettantismus V = externe Rahmen-/ Strukturbedingungen Ë Vorprogrammierung systematischen Scheiterns Exogene Effekte

72 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen (6) Diese Verkürzungen der Qualitätsde- batte führen zu typischen Risiken im Qua- litätsmanagement Sozialer Arbeit, die die möglichen Chancen solcher Innovations- prozesse massiv konterkarieren können:

(6.1) Auf der Ebene der AdressatInnen der Arbeit kann es zu Creaming-the-poor- Effekten kommen, indem nur noch die Besten unter den Benachteiligten eine Förderung erhalten, weil sie am ehesten Erfolg versprechend sind. (6.2) Auf der Ebene der DienstleisterInnen bzw. TrägerInnen Sozialer Arbeit kann es z.B. zur „Schmutzkonkurrenz“ kommen, indem mit Billigangeboten der Gesichts- punkt der Sparsamkeit bei öffentlichen Ausschreibungen bedient wird, wobei die Wirtschaftlichkeit qualifizierter Ange- bote dann hoffnungslos abgeschlagen [6] sein wird, wenn nicht Effektivität und Ef- Qualitätsmanagement - Chancen und Risiken fizienz integriert bewertet werden. (7) Will man angesichts dieser Risi- (6.3) Selbst auf der Ebene der Finanziers ken gleichwohl auf ein Qualitätsma- und AuftraggeberInnen Sozialer Leistun- nagement in der Sozialen Arbeit nicht gen, also der staatlichen Ebene, werden verzichten, dann müssten hierfür selbst solche Prozesse langfristig auch mit er- wiederum Qualitätsstandards als ver- heblichen Schäden verbunden sein, in- bindliche Essentials formuliert werden. dem sich die Folgen von Sozialdumping (z.B. Minijobs bei TrägerInnen etc.) beim (8) Fragt man sich vor dem Hintergrund Fiskus bzw. den Parafiski (gesetzliche So- der Haushaltsrestriktionen und der damit zialversicherungen etc.) niederschlagen verbundenen Risiken für ein professionelles und dort zu erheblichen Einnahmeaus- Qualitätsmanagement, ob es grundsätzlich fällen bzw. zu zusätzlichem Bedarf an sinnvoll ist, sich auf solche Prozesse in der Fürsorgeleistung führen können. Wenn Sozialen Arbeit einzulassen, so begegnet überdies die Träger Sozialer Arbeit im man vielfach einem typischen Abwehrmus- Sinne einer falsch verstandenen Quali- ter, das sich wie folgt skizzieren lässt: „Das, tätskonkurrenz vor allem die gering be- was Soziale Arbeit macht, ist als solches lasteten AdressatInnen für ihre Angebo- ’unermesslich’ und damit auch von außen te präferieren, wird der Staat letztlich auf gar nicht beurteilbar, wobei sich jedoch der den meist belasteten Benachteiligten Blick in die Black-Box der Arbeit mit den „sitzenbleiben“, für die dann entweder KlientInnen aus persönlichkeits- und da- Dauertransferleistungen oder mit zu- tenschutzrechtlichen Gesichtspunkten von nehmender Ausgrenzung ein immer hö- vornherein verbietet.“ Ein solches Abwehr- herer Integrationsaufwand erforderlich muster impliziert Dreierlei: werden wird. (8.1) Zum einen immunisiert sich Sozialar- (6.4) Die beschränkte Betrachtung nur beit als Disziplin damit gegen jegliche intendierter Erfolge in einem verkürz- Kritik von Dritten und wird so zu einer ten Qualitätsmanagement hat unter Art Geheimwissenschaft, die wenn über- wissenschaftlichen Gesichtspunkten haupt nur von Druiden selbst bewertet den Charakter reiner Auftrags- bzw. werden kann. In der Konsequenz bedeu- Gefälligkeits forschung, die nur das prüft tet dies, dass sich Soziale Arbeit kaum als und bewertet, was ihr die Auftragge- lernendes System entwickeln kann und berInnen als Untersuchungshorizont sich somit einer kontinuierlichen Profes- vorgegeben haben. Neue wissenschaft- sionalisierung weitgehend verschließt. liche Erkenntnis ist unter solchen Vor- (8.2) Zum anderen weist ein solches Ab- bedingungen schwer möglich, da dann wehrmuster die Legitimität des Nach- nur das betrachtet wird, was man schon weises angemessener Verwendung öf- immer kannte, also oftmals das Nicht- fentlicher Mittel für die Soziale Arbeit Erwünschte systematisch ausgeblendet grundsätzlich zurück, was sowohl ge- bleibt. genüber der Gesellschaft, die diese Fi- nanzierungsmittel aufbringt als auch ge- genüber den AdressatInnen ihrer Arbeit eher vordemokratische Züge hat.

73 (8.3) Zum Dritten überlässt eine solche (10) Wenn es weder inhaltlich noch „Defensivstrategie“ oftmals gefährlich fachpolitisch sehr sinnvoll ist, sich dem schnell das Feld den allerorten aktiven Qualitätsmanagement in der Sozialen UnternehmensberaterInnen und Control- Arbeit völlig zu verschließen (s.o.), dann lerInnen, die in der Regel eher betriebs- kommt zuletzt oft das messtechnische wirtschaftlich ausgerichtet sind, kaum Argument, das darauf abzielt, dass die zwischen Effektivität und Effizienz diffe- wesentlichen Sachverhalte in der Sozial- renzieren können oder wollen und über- arbeit nicht messbar sind und deswegen dies von Sozialer Arbeit auch inhaltlich vor allem die methodische Qualität und weitgehend unberührt geblieben sind. psychosoziale Prozesse kaum zu bewerten wären. Richtig ist, dass es für beides keine (9) Angesichts dieser Probleme einer Standards gibt, was vermutlich wegen der Abwehrstrategie ist eher ein offensiver Vielfältigkeit von legitimen Perspektiven Umgang der Sozialen Arbeit mit der Qua- und der Verschiedenartigkeit von Sach- litätsdebatte zu empfehlen, in dem sie ihre verhalten auch gar nicht sinnvoll ist. Eine eigenen Gesichtspunkte von Fachlichkeit, Lösung des Problems liegt in der gezielten aber auch eine professionelle Bescheiden- Entwicklung von Kriterien und Instrumen- heit einbringen sollte, die die Möglichkei- ten mit den Akteuren gemeinsam in ihrem ten ebenso wie die Grenzen des Erfolgs um- Arbeitsfeld, wie sich an Beispielen gut zei- reißt. So gilt es... gen lässt. Dabei ist zumeist entscheidend, dass man induktiv und diskursiv von den (9.1) die notwendigen Bedingungen des unmittelbaren Erfahrungen und Vorstel- Erfolges, d.h. die Strukturqualität, zu de- lungen der Betroffenen auszugehen be- finieren, und zugleich darauf hinzuwei- ginnt, d.h., was ihrer Ansicht nach gut, sen, dass das Vorhandensein notwen- angemessen, wünschbar usw. ist, um dies diger Bedingungen des Erfolgs (Raum, dann instrumentell zu operationalisieren Zeit, Geld etc.) noch keine hinreichend und im darauf folgenden Schritt an solchen Erfolgsgarantie ist; Qualitäts kriterien die Verfahren und Pro- (9.2) die Kriterien für die Professionalität des zesse für alle nachvollziehbar zu bewerten. Handelns, d.h. die Procederequalität, fest- An zwei Beispielen aus der Praxis soll ein zulegen, um klarzustellen, was dem Stand solches Vorgehen verdeutlicht werden, wo- der Kunst in der Profession entspricht, bei sich Ersteres auf die Procederequalität und zugleich zu verdeutlichen, dass Me- (Schaubild 8) und Letzteres auf die Prozess- thodenqualität nicht automatisch die ge- qualität (Schaubild 9) bezieht. Hier wurden wünschte Ergebnisqualität erzeugt; mit den AkteurInnen gemeinsam, d.h. mit (9.3) die Reichweite Sozialer Arbeit bei den Professionellen bei der Procederequa- Problemlösungen, d.h. die mögliche Er- lität und den von Arbeitslosigkeit Betroffe- gebnisqualität der Arbeit, sorgfältig zu nen bei der Prozessqualität, die jeweiligen beschreiben, wobei sie sicherlich kein Kriterien der Messung entwickelt und ope- Allheilmittel für Markt- und Staatsversa- rationalisiert. gen ist, was jedoch die Profession nicht davon freistellt, ihre (begrenzten) Wir- Bei allem Bemühen um Qualität wäre die kungen nebst Wirtschaftlichkeit offen Soziale Arbeit jedoch qualitativ letztend- darzulegen; lich schlecht beraten, wenn sie die sozial- (9.4) last not least den angestrebten Verlauf politische Arbeit an den Konditionen ihres der Koproduktion, d.h. die Prozessquali- Erfolgs bzw. Misserfolgs vergäße, da eine tät, als Anspruchshorizont zu definieren, operativ gute Arbeit nicht das Bemühen indem zugleich darauf zu verweisen ist, um bessere Strukturbedingungen für stra- wie abhängig hier der Erfolg bzw. Miss- tegische Erfolge ersetzen kann. erfolg von AdressatInnen der Arbeit ist, was eine professionelle Dokumentation der Abläufe verlangt. Obligatorische Nachweise Professionelle Kautelen Notwendige Bedingungen des Das Vorhandensein notwendiger Bedingungen des A Erfolges (Strukturqualität) Erfolgs ist noch keine hinreichende Erfolgsgarantie. Professionalität des Handelns Der Stand der Kunst ist zu gewährleisten, auch B Nachweis- und (Procederequalität) wenn dies nicht automatisch zum Erfolg führt. Bescheidenheitspflicht Sozialer Arbeit Soziale Arbeit ist kein Allheilmittel für Markt- Reichweite der Sozialen Arbeit und Staatsversagen, was sie jedoch nicht da- C (Produktqualität) von freistellt, ihre (begrenzten) Wirkungen nebst Wirtschaftlichkeit offen zu legen. Verlauf der Koproduktion sozialer Soziale Arbeit ist abhängig im Erfolg, ebenso wie im D Dienstleistungen (Pro- Misserfolg, von den Adressaten ihrer Leistung, wobei deren [7] zessqualität) Entwicklung sorgfältig zu erfassen und zu fördern ist.

74 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen [8]

ProcederequalitätProcederequalität BBeratungeratung ((Auszug)Auszug) und -problemen Beurteilung von Alltagssituationen, ikten -konfl

[9]

Prozessqualität soziale Stabilisierung – Produktive und kontraproduktive Entwicklungen

75 4.4 Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsstaat

„Der Anstieg der Armut in Österreich ist kein Naturge- wir uns aktuell befi nden. Sie zieht diese setz. Armut muss und darf nicht fassungslos hingenom- angesichts der wachsenden Zahl von Ge- sellschaftsmitgliedern, die in Armut leben, men werden“. eben auch in Zweifel. Sie hinterfragt also das Verhältnis von politischer und ziviler So formuliert die Vorbereitungsgrup- Gesellschaft. pe der Armutskonferenz auf ihrem Einla- dungsschreiben 2005 und damit sprechen Zivilgesellschaften sichern den jeweili- die OrganisatorInnen nicht weniger als das gen Konsens, wie wir unser Leben gestal- Verhältnis zwischen politischer und ziviler ten (sollen), und stabilisieren damit staat- Gesellschaft an, könnte man mit Antonio liche Arrangements, wie beispielsweise Gramsci übersetzen. Denn in der Gestal- das wohlfahrtsstaatliche, durch das unser tung dieses Verhältnisses wird Hegemonie Zusammenleben seit dem 19. Jahrhundert hergestellt: der Staatsapparat (politicá civi- geprägt ist. Wenn Zivilgesellschaften den le) versucht einen Konsens in der Zivilge- Konsens sichern, können sie ihn auch in sellschaft (societá civile) herzustellen. Vom Zweifel ziehen – vorausgesetzt sie verwei- Staatsapparat geht also Zwang aus. Zu- gern sich der Konsensstiftung und lassen gleich kann sich eine politische Führung al- sich von staatlichen Zwangsdrohungen leine als Staatsapparat aber nicht behaup- nicht abhalten. Und als eine solche Kon- ten. Daher muss sie versuchen, den Zwang sensverweigerung möchte ich die ersten auf einen Konsens der Mehrheit in den Zeilen des Einladungsschreiben verstehen. zivilgesellschaftlichen Institutionen (Schu- Zweifel an der herrschenden Gestal- len, Universitäten, Vereine, ...) zu stützen. tungsform des Sozialen wird im vorliegen- Hegemonie bezeichnet demnach politi- den Fall in und von zivilgesellschaftlichen sche Führung auf konsensualer Grundlage. Instanzen also dadurch formuliert, dass so- Gramsci folgert aus dieser Annahme, dass ziale Ungleichheiten, die radikal ungleich der Staat nicht nur mit den Staatsappara- verteilten Teilhabemöglichkeiten, skanda- ten identisch ist, sondern neben diesem lisiert werden, das heißt eine Öff entlichkeit auch die zivile Gesellschaft umfasst (inte- für andere als die vorherrschende Gestal- graler Staat). Hegemoniekritische Analysen tungsweise des Sozialen hergestellt wird. stehen daher vor der Aufgabe die aktuelle Hegemonie als eine solche aufzudecken: Das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und „Der Anstieg der Armut in Österreich ist Zivilgesellschaft zu thematisieren, heißt Fabian Kessl kein Naturgesetz.“ Denn der Kampf um die somit die Frage nach der Legimität der ist wissenschaftlicher Hegemonie ist keineswegs entschieden, er aktuellen Gestaltungsformen des Sozialen Assistent an der Universität Bielefeld in muss nur geführt werden und nicht den aufzuwerfen – oder nochmals in der Spra- der Arbeitsgruppe Sozial- herrschenden Gruppen überlassen blei- che von Antonio Gramsci: es geht darum, arbeit/Sozialpädagogik ben, so war sich der Vorsitzende der Kom- die kulturelle Hegemonie zu stützen oder der Fakultät für Pädagogik . munistischen Partei Italiens (PCI), Antonio in Zweifel zu ziehen, das heißt entweder Gramsci, sicher: „Armut muss und darf nicht an ihrer Stabilisierung oder ihrer Verschie- fassungslos hingenommen werden.“ bung und Vervielfältigung zu arbeiten. Und zwar dadurch, dass zivilgesellschaftliche Hegemoniekritik zieht die Legimität der Öff entlichkeiten hergestellt werden: dies aktuellen Herrschaftsformation in Frage. kann in Form einer Kritik bisheriger wohl- Genau das scheinen auch die Organisato- fahrtsstaalicher Schutzstrukturen gesche- rInnen der Armutskonferenz tun zu wollen hen, wie dies aktuell in der Bundesrepublik – zumindest, wenn man den von ihnen unter anderem die „Initiative Neue Soziale verfassten Einladungstext hegemoniet- Marktwirtschaft“ unternimmt. Ziel der Ini- heoretisch liest. Denn in diesem zweifeln tiative sei, so der Kuratoriumsvorsitzende sie an der Legitimität der Formen, wie das Prof. Dr. Hans Tietmeyer, „das bewährte Zusammenleben aktuell gestaltet wird, Ordnungssystem der Sozialen Marktwirt- wenn Armut nicht skandalisiert, sondern schaft an die Umfeldbedingungen des 21. weitgehend toleriert wird. Die Armutskon- Jahrhunderts anzupassen: an die Globali- ferenz fragt also nach der Form, in der wir sierung, die Wissensgesellschaft, die Ver- in Österreich – aber wir könnten auch über änderungen in der Arbeitswelt und den die bundesrepublikanische oder andere demografi schen Wandel.“ Das erfordere nationalstaatlich gefasste Formationen des Strategien der Ökonomisierung, Privati- Sozialen sprechen – unser Zusammenle- sierung und der Individualisierung (http:// ben gestalten. Die Organisationsgruppe www.chancenfueralle.de/Die_Initiative. fragt aber nicht nur nach der Legitimität html, Stand: 30.9.2005)1 Zivilgesellschaftli- der Form unseres Zusammenlebens, in der che Öff entlichkeiten können aber auch die

76 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen Möglichkeiten und Kontexte menschlicher derung, aber auch Ausgleichsleistungen Lebensführungsweisen skandalisieren, im Fall eingetretener Notlagen werden das heißt auf die zunehmende Prekarisie- öff entliche Instanzen implementiert. Sozi- rung von Arbeitsverhältnissen hinweisen alversicherungen, Versorgungsinstanzen – in privater und familiärer Abhängigkeit und Fürsorgeeinrichtungen. Eine dieser öf- ohne öff entliche Unterstützungsmöglich- fentlich beauftragten Instanzen war seither keiten, auf die Zahl der Illegalisierten ohne die Soziale Arbeit. Soziale Arbeit war somit Staatsbürgerschaftsrechte, derjenigen, die bisher als eine wohlfahrtsstaatliche Instanz in Angst vor einem zukünftigen Leben im zu verstehen, die im Fall von Lebensla- Alter, leben, und nicht zuletzt derjenigen, gen, die als sozial problematisch markiert die sich immer häufi ger mit einem mora- werden, Lebensführungsweisen von Ge- lischen Vorwurf konfrontiert sehen, die sellschaftsmitgliedern aktiv unterstützen eigene Lebensgestaltung scheinbar nicht und geplant beeinfl ussen soll – um deren ausreichend verantwortlich übernommen Normalität wiederherzustellen. Soziale Ar- zu haben. In beiden Fällen stellen solche beit konnte somit funktional als eine Nor- Öff entlichkeiten Markierungen der Kon- malisierungsinstanz beschrieben werden, sensverweigerung dar – allerdings mit ra- die an der zivilgesellschaftlichen Konsens- dikal unterschiedlichem Ziel. bildung einen entscheidenden Anteil hat. Doch das war immer nur der eine Teil der Wenn wir über das Verhältnis von Wohl- Geschichte. Denn die öff entliche Selbstver- fahrtsstaat und Zivilgesellschaft sprechen, pfl ichtung auf einen Schutz für die Gesell- sprechen wir also einerseits über kultu- schaftsmitglieder, die menschlichen Notla- relle Gültigkeiten und institutionelle Fi- gen ausgesetzt sind, war immer auch ein xierungen eines bestimmten Modells, das Hinweis auf die sozialen Verwerfungen. In menschliche Zusammenleben zu gestalten. diesem Sinne hatte Klaus Mollenhauer in Dieses Modell konnten wir in Österreich seiner Einführung Soziale Arbeit als eine oder der Bundesrepublik Deutschland seit Gesellschaftskritikerin per se bezeichnet. dem 19. Jahrhundert und zumindest bis in Denn sie erinnere die Gesellschaft an die das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts als existierenden sozialstrukturellen Konfl ikt- wohlfahrtsstaatliches Arrangement be- linien. Allerdings gilt diese paradoxale zeichnen. Und andererseits sprechen wir Situation für die Soziale Arbeit – zugleich über Versuche, diesem Modell seine Gültig- sanfte Kontrolleurin und konstitutive Ge- keit abzusprechen, das heißt das Verhältnis sellschaftskritikerin zu sein – nur solange, von ziviler und politischer Gesellschaft in wie die wohlfahrtsstaatliche Vereinbarung ein neues Verhältnis zu bringen, wie dies gültig ist. Wenn das Verhältnis von politi- in den letzten 30 Jahren und verstärkt seit scher und ziviler Gesellschaft kein wohl- den 1990er Jahren zu beobachten ist. fahrtsstaatlich reguliertes Verhältnis mehr sein soll, wie dies die jüngsten neo-sozia- Als Wohlfahrtsstaat kann somit das insti- len Neujustierungen nahe legen, verliert tutionelle Arrangement bezeichnet werden, Soziale Arbeit ihren Legitimationsboden das – im Fall Österreichs, der Bundesrepub- als Gesellschaftskritikerin. Soziale Arbeit ist lik und anderer westlicher Nationalstaaten keine Gesellschaftskritikerin per se mehr, – seit dem 19. Jahrhundert implementiert wenn keine öff entlich gültige Übereinkunft wurde. Ein Arrangement, mit dem unter- mehr existiert, dass menschliche Notlagen schiedliche menschliche Notlagen verhin- nicht als privates Problem, sondern als so- dert bzw. die von diesen Notlagen Betrof- ziales Problem verstanden werden sollen. fenen unterstützt und beeinfl usst werden Allerdings könnte sich Soziale Arbeit in sollen. Notlagen, die in wachsendem Maße dieser Situation wieder eines eher verlo- als Folge des Zusammenlebens von Men- ren gegangenen Teiles ihres Gedächtnisses schen defi niert werden. Oder nochmals an- erinnern, um mit Susanne Maurer zu spre- ders gesprochen: Grundlage der Installie- chen: ihrer Verankerung in sozialen Bewe- rung wohlfahrtsstaatlicher Arrangements gungen (Frauenbewegung, ArbeiterInnen- ist die Bestimmung menschlicher Notlagen bewegung, NutzerInnengruppen). als soziale Risiken. Ein Unfall – sei es ein Autounfall oder ein Arbeitsunfall – ist da- Doch dazu müssen wir uns gegen die af- mit nicht mehr göttlich verantwortet, aber fi rmative Bezugnahme auf Zivilgesellschaft auch nicht mehr ausschließlich als Ergeb- oder der „Bürgergesellschaft“ wehren, wie nis individuellen Versagens zu begreifen. sie aktuell an allen Ecken und Enden ge- Er wird vielmehr als ein Ergebnis mensch- schieht. Denn ein solcher affi rmativer Zivil- licher Zusammenhänge verstanden. Dem- gesellschaftsbegriff s führt mindestens zu zufolge kann auch nicht mehr ein Gott einem dreifachen Problem. oder die/der Einzelne für die Übernahme Erstens unterstellt ein affi rmativer Begriff möglicher Folgen menschlicher Notlagen der Zivilgesellschaft eine klare Trennlinie zuständig erklärt werden. Für die Verhin- zwischen Sphären von Markt, Staat und 77 Zivilgesellschaft. Allerdings mussten mo- Damit wird deutlich, dass Verein- derne nationalstaatliche Instanzen immer barungen, wie die sozialen Zusammenhän- in gesellschaftlichen Institutionen rückge- ge gestaltet werden, welche Schutz- und bunden werden, nur dadurch ist der Kon- Freiheitsrechte die Gesellschaftsmitglie- sens über das bestehende Arrangement der in welcher Weise in Anspruch nehmen des Sozialen herzustellen und zu sichern können oder welche ihnen zunehmend – das zeigt der Blick in die Geschichte des genommen werden, immer Ausdruck von Wohlfahrtsstaats, aber auch der aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind. Kampf um seine Abschaff ung. Denn in den In welcher Form sich zivilgesellschaftli- Situationen, in denen die Staatsmacht (Al- che und staatliche Instanzen selbst und thusser) nicht mehr in der Zivilgesellschaft gegenseitig arrangieren, ist Ergebnis und rückgebunden ist, das heißt, die staat- zugleich immer Inhalt der damit verbunde- lichen Instanzen ihre Legimität verlieren, nen politischen Kämpfe. gerät das ganze Arrangement ins Wanken, Die öff entlichen Proteste nach der wie die 1980er Jahre in den osteuropäi- rechtsnationalen Regierungsübernahme in schen Staaten gezeigt haben. Österreich waren ein deutliches histori- sches Beispiel dafür. Der Konsens über die Das heißt die Zivilgesellschaft erweist bestehenden Verhältnisse wurde von einer sich aus einer kritisch-refl exiven und nicht- beachtlichen Zahl zivilgesellschaftlicher affi rmativen Sicht – beispielsweise im An- AkteurInnen in Frage gestellt. Damit war schluss an Gramsci – als notwendiger Be- die „Staatsmacht“ herausgefordert. Viel- standteil eines Arrangements des Sozialen. leicht gelingt das gleiche auch hinsichtlich Staatliche Instanzen, zivilgesellschaftliche der Fragen sozialer Sicherung, der Fragen Akteure und Wirtschaftsorganisationen also, wie wir mit menschlichen Notlagen sind politisch aufeinander verwiesen. kollektiv umgehen – und sie nicht, wie dies die inzwischen zunehmend vorherrschen- Das heißt Staat, Zivilgesellschaft und den Denkweisen glauben machen wol- Ökonomie fallen zwar auch in einer kri- len, in die Verantwortung der Einzelnen tisch-refl exiven Bestimmung nicht in eins, überweisen. werden aber als verschiedene Teile einer Denn: „Armut ist kein Naturgesetz.“ Herrschaftskonstruktion gefasst. Denn die jeweiligen historischen Strukturen von 1Die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ wird jähr- lich mit etwa 10 Millionen Euro aus den Kassen des Arbeit- Staat und Ökonomie sind nur dadurch auf- geberverbandes unterstützt. recht zu erhalten, dass sie zivilgesellschaft- lich, das heißt in den gesellschaftlichen In- stitutionen – Schulen, Universitäten, freien Assoziationen oder Vereinen, aber auch freien Trägern Sozialer Arbeit – verankert werden (kulturelle Hegemonie). An diesen Stellen muss hinsichtlich der bestehenden Herrschaftsverhältnisse ein mehrheitlicher Konsens hergestellt werden. Umgekehrt heißt das aber eben auch, dass hier der bestehende und herrschende Konsens in Frage gestellt werden kann, unterwandert, verschoben, vervielfältigt usw.

78 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen bestimmt. träumt jetzt tenkind, das acht. wiegenlied ser kreditkar lles richtig m da schläft un einem, der a n- ien sie still, alismus. von t, sondern ei se unden kapit ehämmert is umt vom ges der nicht so b en kapita- es trä ismus, einer, einen krank anen kapital hat man ihr en aus einem ros ft riecht. da es will kein roduktivkra ingten, aber en eutig nach p ankheitsbed hblutet ist, d d ert, einen kr der gut durc s eingehämm schen, einen, schläft das lismu einen organi , da hinten wür, sondern seien sie still s erst- krebsgesch sie still. ja, kt, und ist e ht. also seien in sich ertrin zt iefern sie nic nz langsam t, ist doch jet l das jetzt ga ehen sie nich tkartenkind, ß gemacht, s icht, ist es kredi schnell schlu e währung d wacht, wird ald schon jed ien sie mal aufge nkt, macht b eben sieht. se ze geld erkra an sich umg eit chon das gan t, von dem m geldkrankh s tionshaushal as zieht eine inziger infla artenkind, d in, seien sie ein e t das kreditk ewacht – ne inten schläf einmal aufg achen still, da h h, aber ist es eine pause m eren nach sic , das wach k ach der and itkartenkind n s kred 5. t es, da ochen 200 schläf iener festw l, noch ie still. stheater, w stil seien s hrung volk äft es, er“, urauff ü ch schl dunkelziff aber no en tobt die kann, gla „drauß kathrin rög

79 4.5 Ausschluss und Strafe – Strategien gegen die „Unwilligen“

Man wird wohl keine Phase der Entwicklung des Kapita- der populistischen „Null Toleranz“ Politik ist lismus finden, in der es nicht die „Armen“ waren, die das die Ersetzung der sozialen Degradierung der „Unterschicht“ durch Armutsfeindlich- Gefängnis bevölkerten. Welche Institution und welche keit gegenüber den „Überfl üssigen“. sozialen Ak teure und welches Wissen für diese Konstan- te sorgt, ist so häufig „besprochen“ worden, dass das Um uns darzustellen, worin die neue Wissen über den Zusammenhang von Armutsproduk- Phase der Kriminalpolitik besteht bzw. wo- hin sie führen kann, wird im wissenschaft- tion und Strafenpolitik damit regelmäßig neutralisiert lichen und im fachlichen Diskurs gerne auf wurde. Nicht zuletzt durch die beliebten Theorien, nach die reale Dystopie des „strafenden Staates“ denen Armut kriminell mache. Auf diesem Hintergrund der USA zurück gegriff en. Nach einer nun können für bestimmte „soziale Orte“ der Gesellschaft schon mehr als 20 Jahre dauernde Entwick- lung verdichten sich in einem „nationalen“ nur „mildernde Umstände“ beantragt werden. Raum Entwicklungen, die in der einen oder anderen Form „global“ zu beobachten sind. Die auch in wohlfahrtstaatlichen Zeiten Über folgende Prozesse und Muster sind sich in der Institution „Verbrechen & Strafe“ verschiedene Fraktionen der Kritik einig: strukturell verankerte Armutsfeindlichkeit ™ Festgestellt werden Verschiebungen der verlangt eine Perspektive, die das staatli- Straf- und Gefängnisregime von kontrol- che Strafen und damit auch die Kategorie lierenden, disziplinierenden Typen zu „Kriminalität“ radikal und für jeden sozi- Regimen der Verwahrung, der Isolierung, alen Ort entlegitimiert. Zu kritisieren sind der behavioristischen Verhaltenskon- nicht „Auswüchse“ oder „Fehlentwicklun- trollen, der äußerlichen Disziplinierung. gen“ oder „Ungerechtigkeiten“ des Stra- Zumindest werden Degradierung, Res- fens, sondern die Politik mit der Strafe. sourcenentzug, Leidzufügung, kalte Ge- Nicht zuletzt deshalb, weil Kriminalisierung rechtigkeit im Reden für notwendig und und staatliches Strafen eine der wichtigs- legitim erachtet. „Reden und Tun“ gehen ten Ressourcen sind, Armutsfeindlichkeit zudem enger zusammen. zu legitimieren. ™ „Law and Order“-Kampagnen, Sicher- Helga Cremer-Schäfer heits- und Moralpaniken, populistische ist Professorin für Erzie- hungswissenschaft an der Ich werde dies mit drei Fragenstellungen Bewegungen, die Verbreitung von krimi- Johann Wolfgang Goethe und Argumenten begründen und anschlie- nologischem und anderem Ausschluss- Universität in Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: ßend auf die Frage „Was tun?“ eingehen. wissen haben auf der Ebene der Diskurse, Analysen von Prozessen Die Fragen lauten: der Ebene des „Redens“, Bilder von sozial sozialer Ausschließung (1) Ist Strafe im Kontext der Produktion Delinquenten durch Bilder von Krimi- und der Bewältigung von Ausschluss-Situatio- einer als ökonomisch „überflüssig“ nellen als den „gefährlich“ gewordenen nen durch soziale definierten Bevölkerung außer Menschen durchgesetzt. Nach einem AkteurInnen; die Kontrolle geraten? Viertel Jahrhundert Ideologieprodukti- Arbeitsweise und das Verhältnis von (2) Was ermöglicht „Punitivität“ on gilt als gefährlich, wer keine „inneren wohlfahrtsstaatlichen ohne Schuldgefühl? Kontrollen“ aufgebaut hat, wer also die und strafend-punitiven (3) Wem nützt die Kriminalisierungs- geschlossene Disziplinaranstalt nicht in Institutionen; Analysen von Gesellschafts- und Strafenpolitik? sein Inneres verlegt hat. Unterstellt wird entwicklung und dies nicht nur einzelnen, sondern den öff entliche Diskurse 1. Ist Strafe „außer Kontrolle“ geraten? üblichen verdächtigen Kollektiven: den über Jugend und ihre Kontrolle, über Krimi- Der Hintergrund meiner Durchleuchtung Fremden, den jungen Männern, den nie- nalität, Gewalt und der Politik mit der Strafe in den vergangen deren Klassen. Legitimierung sozialer 20 Jahren ist keineswegs eine Verklärung ™ Politische AkteurInnen, Polizei und Jus- Ausschließung. der „wohlfahrtsstaatlichen Strafe“. Zu einer tiz legitimieren (und kontrollieren) sich angemessenen Beurteilung der Entwick- nicht mehr durch demokratische und lung der staatlichen Strafe in der Phase auch nicht einmal mehr durch sozialtech- des „fordistischen“ Kapitalismus kommen nologische Anforderungen (wie „Huma- wir nur, wenn wir Elemente der Moderni- nität“, „Gerechtigkeit“, „Reintegration“, die sierung des „Strafwesens“ im zugehörigen „Verhältnismäßigkeit“ bzw. „Wirksamkeit“ Wohlfahrtsstaat ebenfalls als notwendige, ihrer Interventionen). Sie orientieren sich wenn auch nicht hinreichende Bedingun- populistisch an der von ihnen selbst er- gen für die Möglichkeit einer „Gegenauf- zeugten „Kriminalitätsfurcht“ des Volks, klärung“ in der Politik mit dem staatlichen an dessen von oben organisierten „mo- Strafrecht sehen. Ein wesentliches Element ralischen Entrüstungen“, kurz: an den auf

80 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen „die Bevölkerung“ projizierten „Strafbe- nomen Delinquenten“: Armut oder Arbeits- dürfnisse“ sowie an Forderungen nach losigkeit oder das Ghetto als „Brutstätten“ „Sicherheit“ von privilegierten Gruppen. für Verbrecher zu skandalisieren erschien ™ Kriminalitätsereignisse werden auf eine uns jahrelang als eine „soziale“ Haltung, „Täter-Opfer“-Polarität reduziert und Ge- weil damit eine „Verbesserung“ von „Struk- rechtigkeit als ein Nullsummenspiel zwi- turen“ und „sozialen Umständen“ gefordert schen „Opfer und Täter“ definiert. Daher, werden konnte, die das Problem pädago- so wird propagiert, muss gegenüber „Tä- gisch, durch Disziplinierung der Personen tern“ die „kalte Seite“ der Gerechtigkeit regeln – also ohne eine Veränderung ge- praktiziert werden. sellschaftlicher Basisinstitutionen.

Kalte Rechtschaff enheit und kühle So- Ganz losgeworden ist das Strafrecht „die zialtechnologie amalgamieren auf eine so Armutsfrage“ nie. Wenn man das Strafrecht noch nicht erfahrene Weise und erzeugen delegitimieren will, muss man „Armuts- eine wieder repressivere, expressivere, ver- frage“ systematisch mit Formen der Kri- geltendere, verdammendere, separieren- minalisierung, mit der Zuschreibung der dere staatliche Strafpraxis als die, die wir in „Kategorie „Verbrechen“ und des Status der „wohlfahrtstaatlichen“ Phase hatten. Es „Verbrecher“ verbinden: ist der Aufmerksamkeit mancher professio- ™ Was macht es möglich, dass die Verwal- nellen BeobachterInnen nicht entgangen, ter des Strafrechts diejenigen für krimi- dass mit der Intensivierung der „Punitivität“ nell, gefährlich und schuldig, für nicht einige nie ganz verschwundene Merkmale gesellschaftsfähig und unmoralisch hal- von Strafj ustiz wieder sichtbarer wurden. ten, die sie gleichzeitig als arm, in ihrer Das sind Bildung blockiert, als fremd, als jung und ™ Der Klassencharakter von Kriminalisie- in Entwicklung, als marginalisiert, diskri- rung und miniert und als ausgeschlossen von Par- ™ Das Zusammengehen der moralisch le- tizipation wissen? gitimierten Ausschließung im Inneren durch das Wegsperren von „schuldigen Die Kategorie des „Verbrechens“ bzw. Verbrechern“ bzw. „gefährlichen Subjek- der „Kriminalität“ ist zugeschnitten auf die ten“ mit rassistisch/nationalistisch moti- Legitimierung und Durchsetzung sozialer vierten Formen sozialer Ausschließung. Ausschließung, die ausstoßende und elimi- nierende Formen umfasst. Die Infl ation der Gefängnisstrafe (und in ™ Welche gesellschaftlichen Bedingungen nicht wenigen Ländern der Todesstrafe), machen es möglich, sie vorzugsweise die politische und polizeiliche Strategie auf bereits mehr oder weniger Ausge- der „Zero Tolerance“, die Wiedereinführung schlossene, auf Grenzgänger, auf die des Lagers für Zwecke der Absonderung jeweilige Paria-Bevölkerung und daher und der autoritären, militärischen Diszipli- verletzliche und oft rechtlose Gruppen nierung (z.B. in Form der boot camps), die anzuwenden? Etablierung einer Sicherheits- und Gefäng- nisindustrie und die Ergänzung der Krimina- Diese gesellschaftliche Praxis wird, wie litätsfurcht durch Armutsfeindlichkeit1 „pri- gesagt, in den meisten Fällen hingenom- vilegiert“ global den Bevölkerungsteil, der men, jedenfalls soweit es „nur“ die nied- bereits im Paria-Sektor lebt und arbeitet: rigen Klassen betriff t. Meist müssen noch ™ Die verarmte, städtische Ghettobevölke- weitere Diskriminierungen hinkommen, rung, dass die „Armutsfrage“ gestellt werden ™ Die schwarzen und anderen „nicht-wei- kann. Die Kriminalisierungs- und Bestra- ßen“ jungen Männer, fungsprozessen off ensichtlich zugrun- ™ Die durch für die kapitalistische Warenö- deliegende „Armutsdisproportionalität“ konomie „Überflüssigen“ und erreichte z.B. erst durch die „Rassendispro- ™ Die durch Bildungsinstitutionen in ihren portionalität“ der in den USA eingesperr- Entwicklungsmöglichkeiten blockierten ten jungen Männer (so Loic Wacquant) und Disqualifizierten, sowie und durch die „ethnonationale Dispropor- ™ Die in Schattenwirtschaft und illegale tionalitäten“ bei den Gefängnisinsassen in Geschäfte Gedrifteten. europäischen Staaten eine politische Auf- ladung. Zumindest vor dem Hintergrund Diese Kumulation von ökonomischer, einer politisch liberalen Weltsicht – die von symbolischer und von Ausschließung jedoch, wie es scheint, die „Armutsdispro- durch Strafe wird zu fast allen Zeiten als portionalität“ für selbstverständlicher hält. eine gesellschaftlich erzeugte „Naturtat- sache“ hingenommen. Eine zentrale Rolle dabei spielt dabei die Vorstellung von „Ur- sachen“ der Kriminalität und dem „hetero- 81 2. „Punitivität ohne Schuldgefühl“? sigkeit“ der Strafe unterstützen und welche Was ermöglicht, dass Strafe nach sie hemmen. einem „kurzen Traum immer- Ausgangspunkt von Christie ist der Ar- währender Humanisierung“ beitsmarkt bzw. der ökonomische Aus- außer Kontrolle gerät? schluss. Im Kontext einer Situationsdefi ni- Nils Christie hat bereits zu Beginn der tion, dass nicht mehr alle als Arbeitskräfte 90er-Jahre sowohl die Strafdystopie der („Humankapital“) „gebraucht“ werden und USA analysiert wie auch die Gründe da- mit einer als „überfl üssig“ bestimmten Be- für, dass auch andere Staaten nach den völkerung verfahren werden muss, führt gemeinsamen „Modernisierungen“ der die Logik von „Rationalität“ (von instrumen- staatlichen Strafe sich in der Phase des tellem Denken), die uns einmal das „Resozi- „globalisierten Kapitalismus“ und neolibe- alisierungsideal“ und die Pädagogisierung raler Sozialpolitik auf neue Strafkulturen der sozialen Frage gebracht hat, nun dazu, und Einsperrungsniveaus hinbewegen. Ich „Kriminelle“ (und andere „Störende“ und wähle die Bezeichnung „Modernisierung“, „Lasten“) in einer Weise zu internieren, die weil in den 60er und 70er Jahren –vor mehr „auf ihre Kosten geht“. Als Denkweisen und als einem Viertel Jahrhundert– zwar einige institutionelle Voraussetzungen, die eine Entpönalisierungen und Liberalisierungen modernisierte Kultur der „kalten Recht- zu verzeichnen waren, der Schwerpunkt schaff enheit“ ermöglicht, nennt Christie: der „Strafrechtsreformen“ jedoch darin lag, ™ Das reaktive Denken über Strafe als Kri- „Kriminalität“ zum Anlass zu nehmen Diszi- minalitätskontrolle; Strafe reagiert auf plinierungsprozesse nachzuholen. Kriminalität. „Kriminalitätsereignisse“ waren kein An- ™Die Abschaffung der aufwendigen De- lass für eine Politik des Sozialen, sondern gradierungsrituale, die Bürokratisierung Gelegenheit für „disziplinierende Integra- der Strafzumessung, die nicht einmal tion“. Diskutiert haben wir dies als „sanfte mehr eine angeklagte, zu verurteilen- Kontrolle“ oder als „Kolonialisierung der de konkrete Person kennt, sondern nur Lebenswelt“ oder als „herrschaftlich ge- noch MerkmalsträgerInnen und Katego- währte Hilfe“. Diese fungiert nicht schlicht rien. Das Courtroom-Drama, in dem die „repressiv“, sondern der Zugriff auf die Per- AnklägerInnen in der Regel eine schlech- son und ihre Formierung verbindet sich te Figur machen, findet sich nur noch in mit Investitionen in die Person. Unter wel- der Kulturindustrie. (Es führt uns auch chen Bedingungen und für wen sich damit ohnehin nur vor, dass Strafe die „Richti- Chancen für eine „Politik der Befreiung“ gen“ treffen soll.) ergeben (haben), das müssen wir immer ™ Die Vorstellung von einer ordentlichen noch aufklären. Gesellschaft und einem gesäuberten, reinen Raum; der Glaube und Plan, das Das Interessante der Studie „Kriminali- durch technologische Steuerung von tätskontrolle als Industrie“ ist immer noch, Menschenkategorien umzusetzen. Die- dass Christie zwar einen „Trend“ benennt, se Vorstellung driftet leicht in die einer der von diesem Modell wegführt, jedoch „sachnotwendigen“ und damit legiti- auch nationale „Abweichungen“ davon un- mierten Ausstoßung. tersucht. Der Fall der USA zeigt für Christie, ™ Die Möglichkeit, Kriminalitätskontrolle dass „moderne Gesellschaften“ im Gegen- und Steuerung privat als ein Produkt, satz zu unseren Annahmen über die Hu- als eine Ware anzubieten und als ein manisierung der (besser: Rationalisierung profitables Geschäft zu betreiben; oder, der) Herrschaftstechniken gerade keine gewendet auf die Bürokratien, „effektiv“ „natürliche Grenze“ für das Wachstum und nach einer Kosten/Nutzenrechnung von Kriminalitätskontrolle und damit auch „effizient“. keine „natürliche Grenze“ von Ausschlie- ™ Und schließlich wird die bürokratische ßungspolitiken und Strafe kennen. Die Indifferenz durch soziale Indifferenz und wohlfahrtsstaatliche, „integrative“ Phase, soziale Verachtung der TäterInnen er- die Strafen auch disziplinierende Phase, gänzt. Wenn „Verwalter der Kriminalität“ war off ensichtlich eine Ausnahmesituati- keine Erfahrungen mit „überflüssigen“ on. Da wurde der Dynamik eine politische und „nutzlosen“ Gruppen der Gesell- Grenze gesetzt. Da beide Entwicklungen schaft teilen und ohne „Mitleid mit den sich nicht einfach durchsetzen, sondern Armen“ auskommen, kann sich das Bild Bedingungen haben und Politik erfordern, (und die Angst vor) einer „gefährlichen geht Christie diesen nach. Man kann das Klasse“ durchsetzen, die „ihre Strafe ver- eine Theorie des strukturell ungebremsten dient“ hat. Es genügt auch dem Einzel- Wachstums von Ausschließung und Be- nen eine „Selbstausschließung“ zu attes- strafung nennen, die gleichzeitig Hinweise tieren, eine „Lebensführungsschuld“, auf gibt, welche zunächst inklusiv gemeinten grund derer wir leider keine mildernden Praktiken und Politiken diese „Naturwüch- Umstände mehr geben können.

82 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen Diese Bedingungen ermöglichen das ex- keine/r beklagen, sie oder er ist selbst am zessive Strafen. eigenen Schicksal schuld, weil (per Defi ni- tion) eine „selbstverantwortliche Person“. 3. Gesellschaftliche Arbeitsmoral Das ist eine herrschaftlich gewendete Vari- und Politik mit Verbrechen & ante der bürgerlichen, kontrafaktischen An- Strafe. Wem nützt die Krimina- nahme der „Autonomie des Individuums“ lisierungs- und Strafenpolitik? oder wie es heute lieber gesagt wird der Zu der Frage, warum die Politik mit der “Selbstverantwortung der BürgerInnen“, Institution „Verbrechen & Strafe“ überhaupt aus der sich wiederum deren Schuldfähig- bzw. exzessiv und in Zeiten auch weniger keit ergibt, aus der wieder Schuldvorwürfe exzessiv (zivilisiert) eingesetzt wird, gehört oder auch „Lebensführungsschuld“ abge- auch eine Antwort, die die gesellschaft- leitet wird. Mit ist hier der Hinweis wichtig, lichen Funktionen dieser Institution the- dass selbst in der als Dystopie dargestell- matisiert. In der Phase des „fordistischen“, ten Strafenpolitik in den USA, der „strafen- wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalis- de Staat“ seine Legitimation, einzelne und mus ist die Funktionsweise des Strafrechts ganze soziale Kategorien „nach draußen zu als Ausschlussinstitution etwas in den Hin- stellen“ („You are out“), dadurch behauptet, tergrund getreten. dass „Chancen“ gewährt würden. Untersuchungen zur Strafgesetzgebung und zur Interessenspolitik des Moral-Unter- „Sind Arme krimineller?“ nehmerInnentums zeigten, dass Strafge- Zur Abschaffung dieser „Armutsfrage“ setze selten einen instrumentellen Nutzen Um das Zusammentreff en von „arm und haben, sondern „symbolische Funktionen“. kriminell“ aufzuklären, gab es in der Ge- Das Strafrecht fungiert auf der Ebene von schichte der Kriminologie zwei Fragestel- Kultur, als ein „ideologischer Staatsappa- lungen und zwei Antworten. Das ätiologi- rat“, wie es Heinz Steinert ausgedrückt hat; sche Paradigma der Kriminologie nimmt „Es stellt nichts her, sondern stellt etwas VerbrecherInnen ins Visier (blickt auf die dar“ (Cremer-Schäfer/Steinert 1986). Dar- Straff älligen) und fragt: Sind Arme kriminel- gestellt werden die Prinzipien einer durch- ler als Nicht-Arme? Und weshalb sind oder zusetzenden oder gültigen „Arbeitsmoral“. werden sie so? Im etikettierungstheoreti- Das Konzept meint keine Arbeitshaltung, schen Paradigma der Strafrechtssoziologie sondern Prinzipien, die einer Produktions- und der Gesellschaftstheorie gilt das Inter- weise, den politischen Institutionen und esse dem Zusammenhang von wirtschaftli- der Lebensweise bzw. Sozialstruktur zu- chen Verhältnissen, der Sozialstruktur und grunde liegen. Strafgesetzgebung und An- der Funktion der Kriminal- und Strafpolitik wendung gehen dabei in der Regel zusam- darin. Die Fragestellungen lauten: Werden men, können in Transformationsphasen arme Leute durch das Strafrecht häufi ger aber auch umstritten und „ungleichzeitig“ kriminalisiert als andere? Und weshalb ist sein. das so? Ein Perspektivenwechsel macht Kriminalisierung und Strafen regulieren nicht nur theoretisch, sondern auch poli- kaum den Arbeitsmarkt durch Diszipli- tisch einen Unterschied aufs Ganze. Man nierung (zur Arbeit bringen) bzw. durch wird nur im Rahmen des etikettierungsthe- Repression (massenhafte Einsperrung un- oretischen Denkens die implizite Armuts- ter „grausamen“ Bedingungen). Vielmehr feindlichkeit des Strafrechts überwinden. werden auf den unterschiedlichen Ebe- Immer noch richtungweisend bei der nen der Strafgesetzgebung, der selekti- Aufklärung der Mechanismen der Zu- ven Normanwendung, der Strafen und der schreibung von Kriminalität ist die Stu- Gefängnisregime kulturelle „Botschaften“ die von Dorothee Bittscheidt-Peters über abgegeben: von welchem Teil der Bevölke- „Richter im Dienst der Macht“ (Peters 1973) rung Gefahren ausgehen („von unten“, von Die schichtspezifi sche Verteilung von Kri- „Fremden“, von den „Jungen“), welcher Ty- minalität spiegelt nach ihrer Untersuchung pus von „Arbeitsmoral“ gelten soll und vor und Theorie die Regeln wider, nach denen allem, welche Herrschaftsmechanismen zu AkteurInnen der Institution „Verbrechen & ihrer Durchsetzung zur Verfügung stehen: Strafe“ Kriminalnormen anwenden. Ist Integration und Kontrolle möglich oder sozialer Ausschluss erlaubt? Nach welchen Zur Unterschicht gehören nach den Kriterien darf sozialer Ausschluss erfolgen? Theorien der Strafrechtsanwender „Arbei- Das Prinzip der Strafenpolitik in den USA terInnen“, „manuelle Berufe“, „Asoziale“, wurde mit der Metapher „Three strikes and „Obdachlose“, „Leute in schlechten wirt- you are out!“ charakterisiert. Im veränderten schaftlichen Verhältnissen“, „Leute, die Kontext mutiert die „Spielregel“ der Sport- nicht bildungsfähig sind“, „VolksschülerIn- Veranstaltung in eine soziale Drohung mit nen“, oft „abgebrochene“, Leute, die aus „Chancen“, die einem vorgegeben wer- „Trinkerfamilien“ kommen. Dokumentiert den. Bei dreifachem Misserfolg kann sich hat Peters nicht nur eine „Bedeutungskon- 83 vergenz von Unterschicht und Kriminali- urteilung begründen, verstärkt. Die Strafe tät“ in den Theorien von RichterInnen. Der und insbesondere die Gefängnisstrafe tun Unterschicht wird ihre soziale Position als das ihre, um die Kriminellen in ihre Position selbstverschuldete vorgeworfen: des Paria zu bringen oder zu halten. „Dabei ist mit der Zuordnung krimineller Die Redeweise über den „Kriminellen“ Neigungen zu unterprivilegierten sozialen und damit den „Armen“ sind zwischen- Positionen (bzw. den damit verbundenen durch weniger sozialdarwinistisch und sozialen Merkmalen) zugleich fast immer durchaus „benevolent“ gewesen. Für eine eine Legitimation der Unterprivilegierung Zivilisierung von Kriminalisierung und Stra- selbst verbunden. Unterprivilegierung wird fenpolitik reicht das jedoch nicht aus. Die dabei entweder durch Zuschreibung von für Armutsfeindlichkeit notwendige (wenn als angeboren wahrgenommenen Minder- auch nicht ganz hinreichende) Denkweise wertigkeiten legitimiert oder durch eine hat in der Form der milderen fürsorglichen Darstellung der sozialen Lage (als asoziales Degradierung überwintert und ist in mo- Milieu, als ‚ungeordnet‘, ‚ungeregelt‘, ‚sozial dernisierter Form als Theorie der „gewalt- gestört‘), die die Lebensbedingungen (...) bereiten Modernisierungsverlierer“, der als individuell disponibel, die Zugehörig- Ausgegrenzten als „soziale Sprengsätze“, keit zu unterprivilegierten gesellschaft- der Gemeinheit der „Underclass“, des „Tat- lichen Gruppen als eine Art ‚Lebensfüh- motivs Armut“, der „Parallelgesellschaft“ rungsschuld‘ erscheinen läßt“ (Peters 1973, uvm. zurückgekehrt. S. 71). 4. Was tun? Unter der Bedingung einer verschulde- Ereignisse, die „Verbrechen” genannt ten Notlage begründen die anormalen, werden, anders benennen, um sich damit vorwerfbaren Motive bzw. Handlungsdis- in die Lage zu versetzen, eine andere Politik positionen um so mehr die Annahme einer und öff entliche Reaktionen auf „Ärgernisse moralischen Schuld und verdienten Strafe. und Lebenskatastrophen“, auf Irritationen Zu den Kriminellen wird gerechnet, wer der Alltagsroutinen und Interessenkonf- keinen „geregelten Lebenswandel“ vorwei- likte zuerst einmal anders zu denken, ist sen kann, wer nicht „arbeitswillig“ scheint, eine notwendige Voraussetzung, der Ar- auf keine „Bindungen an eine Familie“ bau- mutsfeindlichkeit Ressourcen zu entzie- en kann. hen. Dafür ist unsere Phantasie nicht sehr Sozialgeschichtliche und aktuelle Ana- weit entwickelt, wir können aber an aktiv lysen von Gesetzgebungsprozessen und vergessene Denkweisen ansetzen. Z.B. hat Moral-UnternehmerInnentum, historische Nils Christie vor mehr als zwanzig Jahren und politische Analysen der Bestrafungs- und vor seiner Analyse der „Gulags west- formen (insbesondere auch im Anschluss licher Art“ vorgeschlagen, Ereignisse, die an die Arbeiten von Rusche/Kirchheimer) „Kriminalität“ genannt werden, als Konfl ik- haben gezeigt, dass der Zusammenhang te zu verstehen und sie damit vermittelnd von „arm“ und „kriminell“ tatsächlich über und regulierend den beteiligten Parteien mehrere Stufen hergestellt wird. Das Straf- zurückzugeben. Dies mitsamt der „Verge- gesetz mißbilligt in seinen wichtigsten sellschaftung“ (nicht „Privatisierung“) der Teilen (und „Delikten“) die Handlungsstra- Ressourcen, die dafür notwendig sind. In tegien und Mittel, auf die junge, mittellose, Österreich haben (hatten?) Konfl iktregulie- undisziplinierte, fremde Männer zurück- rung und Außergerichtlicher Tatausgleich greifen, wenn sie die Existenzschwierig- einiges an Institutionalisierung erreicht. keiten in dem Paria-Sektor bzw. Konfl ikte Und genau da müssen wir wohl wieder an- bearbeiten und dabei auch noch Männ- fangen, doch das Projekt auszuweiten. Was lichkeit darstellen: Wer die Verbindung also tun? von Lohnarbeit und Konsum ignoriert, ™ Unterschätze nicht die Produktivität des wer –ohne Eigentum, Beziehungen oder Negativen. Kriminalisierungs- und Stra- geschickter Nutzung von Netzwerken– als fenpolitik brauchen Kritik – auch wenn letztes Machtmittel Gewalttätigkeiten be- kein Vorschlag zur Hand ist, wie es ohne nutzt, um sich durchzusetzen, wer sich da- Strafe gehen soll. bei opportunistisch und willkürlich gegen ™ Unterlasse fürsorgliche Degradierungen andere mittel- oder wehrlose Personen (z.B. Drohungen mit „sozialen Sprengsät- wendet oder gegen besonders machtvolle, zen“) und gibt eine bessere „Gelegenheit für Anzei- ™ Arbeite am Verstehen von Armutsöko- gen“ als andere. Aufgrund der in die Theori- nomien – auch der der Fremden und der en der Strafrechtsanwender eingelagerten Befremdenden. Theorien und „Bedeutungskonvergenzen ™ Es schadet nichts, die eigenen Normali- von „Paria“ und „Krimineller“, wird dies tätsvorstellungen und Anforderungen über die Zuschreibung illegitimer Motive zu prüfen, sowohl die an die jungen, und Handlungsdispositionen, die eine Ver- fremden Männer der Unterschicht wie

84 4 Alles Management! Ë Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Fördern und Strafen die an nonkonforme Frauen in prekären Literaturhinweise und Glossar Lebenssituationen und riskanten Le- bensweisen. Empirische Analysen, Begriff e und gesellschaftstheo- retische Perspektiven zur Kriminalisierungs- und Strafen- ™ Es schadet nichts, Ressourcen bedin- politik im Kontext der „fordistischen“ und der „neolibera- gungslos zu vermitteln und Konflikte si- len“ Phase des Kapitalismus fi nden sich u.a. in folgenden tuativ zu regulieren; das fördert die Erfah- (insbesondere auf gemeinsamer Arbeit mit dem Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie beruhenden) Veröff ent- rung, dass die Gesellschaft nicht durch lichungen: das Prinzip „something for nothing“ aus den Fugen gerät. Kriminalsoziologische Bibliografi e Heft 60 (15 Jg.) „Kri- minalisierungsphasen“, Wien 1988. ™ Es schadet nichts, gegenüber der eige- Cremer-Schäfer, Helga: Wenn Kontrolle zur Strafe wird nen helfenden oder theoretischen Pra- und Strafe außer Kontrolle gerät. Anmerkungen zur The- xis kritisch zu bleiben und nach eigenen oretisierung und Moralisierung von Kriminalitätskontrolle in kritischen Kriminologien, in: A. Pilgram, W. Stangl, C. Grenzziehungen und Ausschlüssen zu Prittwitz (Hg.), Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziolo- fahnden. gie 2004 „Kriminologie als Akteurin der Kriminalpolitik“, ™ Baden-Baden 2005, S. 189-202. Dann versuche Dich mit einem vorläu- Cremer-Schäfer, Helga: Formen sozialer Ausschließung. figen Entwurf einer neuen Alternative Über den Zusammenhang von Armut und Kriminalisie- zum Strafen. rung, in: Anhorn, Roland, Bettinger, Frank (Hg.), Kritische Kriminologie für Soziale Arbeit. Impulse für professionelles

1 Selbstverständnis und kritisch-refl exive Handlungskomp- Vergl. dazu meine zusammenfassende Darstellung der etenz, Weinheim und München 2002, S. 125-146. durch das Strafrecht und seine Anwendung organisierten Cremer-Schäfer, Helga/ Steinert, Heinz, 1986: Sozial- „schichtspezifi schen Kriminalisierung“ und ermöglichten struktur und Kontrollpolitik: Einiges von dem, was wir Armutsfeindlichkeit (Cremer-Schäfer 2002). glauben, seit Rusche & Kirchheimer dazugelernt zu haben, in: Kritische Kriminologie heute. 1. Beiheft zum Kriminolo- gischen Journal: S. 77-118. Cremer-Schäfer, Helga/Steinert, Heinz, 1998: Strafl ust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminolo- gie, Münster.

Gesellschaftlich gültige „Arbeitsmoral“: ist ein Kon- zept, das Heinz Steinert in Anlehnung an das Konzept des „impliziten Gesellschaftsvertrags“ von Barrington Moore entwickelt hat. „Moral“ benennt die historisch spezifi sche Logik der Regeln, die dem gelebten (aber nicht kodifi zier- ten) “impliziten Gesellschaftsvertrages” zugrunde liegen. “Wer was wie viel unter welchen Bedingungen für wen was arbeiten soll, welche Auszahlungen und Partizipati- onsrechte ihm zustehen und welche Herrschaftsmechanis- men zur Verfügung stehen, eine bestimmte Arbeits- und Lebensweise bzw. eine politische Form durchzusetzen”. Fragen der “Arbeitsmoral” beziehen sich also auf Entschei- dungen über Zugehörigkeit und auf das ökonomische bzw. das Herrschafts-Verhältnis zwischen Klassen, Geschlech- tern und Generationen. Gesellschaftliche Institutionen sind in verschiedener Intensität an der Organisierung und Herstellung einer “Arbeitsmoral” beteiligt. Darüber hinaus kann die Art, wie in einer Institution Dinge getan werden, und können die Kategorisierungen und Kriterien, nach denen Personen eingeteilt werden, die Regeln eines “im- pliziten Vertrages” legitimieren (Cremer-Schäfer/Steinert 1986, 1998, Kap.3). Verbrechen & Strafe: Um die organisatorischen Prak- tiken und die gesellschaftlichen Funktionen von Instituti- onen zu benennen, sowie ihre Nutzung durch soziale Ak- teurInnen zu analysieren, benutzen Heinz Steinert und ich selbst einen Begriff , der sich nicht in den Selbstbeschrei- bungen der Institutionen und auch nicht in Diskursen über Herrschaft durch Institutionen fi ndet. Die Benennungen der Institutionen setzen sich zusammen aus den Kategori- en, die Institutionen verwalten, also aus den Etiketten, die sie zuschreiben und zur Verfügung stellen, und aus dem Interventionstypus bzw. der Herrschaftstechnik, den sie repräsentieren: „Verbrechen & Strafe“ benennt das Straf- wesen, „Schwäche & Fürsorge“ das Sozialwesen (Cremer- Schäfer/Steinert 1998).

85 5 Ermutigungen

Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.1 Welthaushalt und Wirtinschaft: Entwürfe für eine erneuerte Politik des Sozialen

Welthausfrauen und Wirtinnen streiten sich manchmal – einig sind sie sich darin, dass die Mitte ihres Handelns nicht die Geldvermehrung ist und auch nicht das Gesetz des Eigennutzes. Die Mitte, um die sich ihr Handeln konzentriert, die Mitte postpatriarchaler Sozialpolitik also, ist der Wunsch, eine wohnliche Welt zu gestalten.

Kürzlich bin ich mit meiner Familie umge- festigtes Gesamt-Arrangement durchein- zogen. Jetzt leben wir nicht mehr im Dorf, ander. Ich nenne dieses Arrangement die sondern in dem Ort, wo wir schon vorher „androzentrische symbolische Ordnung“.1 grössere Einkäufe erledigt haben. Bahnhof, Der Begriff „Androzentrismus“ leitet sich Kino und Schule sind jetzt nur noch wenige ab vom altgriechischen Wort für Mann Gehminuten entfernt, aber auf der Strasse (aner) und bedeutet Mann-Zentriertheit. treff e ich noch dieselben Leute, und auch Nach Elisabeth Schüssler Fiorenza ist der die Gesichter der Frauen, die an den Kassen Androzentrismus die „Weltanschauung“, im Supermarkt sitzen, sind mir vertraut. die das sozio-kulturelle System Patriarchat Einige Leute haben erwartet, dass es uns, stützt, indem sie es durch bestimmte „Kon- wenn wir schon die Mühen eines Umzugs struktionen der Wirklichkeit“ legitimiert.2 auf uns nehmen, mindestens nach Berlin Ich möchte von der Analyse dieser Ord- ziehen würde. Ich will aber weiterhin in nung ausgehen, die sich heute, in der Zeit diesem Tal wohnen, das von Zürich aus des ausgehenden Patriarchats, allmählich gesehen sonntags als attraktives Erho- aufl öst. Danach werde ich anhand zweier lungsgebiet, werktags aber als verschlafe- Begriff e, „Welthaushalt“ und „Wirtinschaft“, ne Provinz gilt. Warum? Es liegt nicht nur skizzieren, wie sich eine postpatriarchale an der schönen Landschaft. Hinter unserer Sozialpolitik, verstehen und organisieren Entscheidung steht etwas, das ich mein könnte. „Zuhausegefühl“ in diesem Tal nennen möchte, in dem ich nun, wohlgemerkt: als Die androzentrische Ordnung Ausländerin, schon lange wohne. Der antike Philosoph Aristoteles schreibt: „Da es sich empfiehlt, das Höhere von dem Zuhause sein: das ist ein Zustand, den Geringeren zu trennen, deswegen ist überall, Ina Praetorius die meisten Leute schätzen, der aber trivi- wo und wieweit es möglich ist, vom Weibli- ist Germanistin und evangelische Theologin, alisiert und, zum Beispiel in Form des Dis- chen das Männliche getrennt. Denn rang- zur Zeit tätig als freie kurses um die „Heimat“, von eigenartigen höher und göttlicher ist der Bewegungsur- Autorin. Gruppierungen vereinnahmt worden ist. sprung, der als männlich in allem Werdenden Zahlreiche Publikationen zur 3 Heute ist man, so behauptet man jeden- liegt, während der Stoff das Weibliche ist.“ Feministischen Ehtik, falls, fl exibel und in der ganzen Welt zuhau- speziell Bio- und se. Tatsächlich ist solche Ungebundenheit Mit diesem Satz ist gesagt, die Welt sei Wirtschaftsethik. attraktiv, und man kann sie sich auch leis- von Natur aus zweigeteilt in eine höhere ten in jungen Jahren – oder wenn man sich geistig-göttlich-männliche und eine nied- ein privates Nest gebaut hat, dessen Funk- rige körperlich-weltlich-weibliche Sphäre. tion darin besteht, das Gefühl des Zuhau- Diese Zweiteilung bestimmt auch das so- seseins gezielt gratis herzustellen. Solche ziale Leben der Menschen. Das erläutert Nester sind bis zu einem gewissen Grad Aristoteles, in seiner „Politik“: transportabel. Die Geschichten sogenannt „Endlich verhält sich Männliches und Weib- erfolgreicher Manager oder Fachärzte, de- liches von Natur so zueinander, dass das eine ren Kinder bis zur Volljährigkeit fünf- bis das Bessere, das andere das Schlechtere und zwölfmal den Wohnsitz gewechselt ha- das eine das Herrschende, das andere das ben, sind bekannt. Bekannt wird allerdings Dienende ist.“4 auch, dass die Frauen, das ehemals priva- tisierte Geschlecht, immer weniger bereit Eine Folge dieser Wesensbestimmung sind, als mobile Sinnstiftungsinstanzen der Geschlechter, von der schon Aristote- ihren Ehemännern rund um den Globus zu les profi tierte, ist die Aufteilung des Ge- folgen und so den Schein männlicher Un- meinwesens in eine öff entliche Sphäre gebundenheit zu wahren. freier Männlichkeit und die Oikoi, die Fami- Die Konsequenzen solchen weiblichen lienhaushalte, in denen Frauen und Skla- Freiheitsgebrauchs reichen weit hinaus vInnen unter der Aufsicht des Hausherrn über Einzelschicksale. Sie bringen ein ver- arbeiten, um Bedürfnisse zu befriedigen,

5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 87 für den Nachwuchs zu sorgen und die Frei- bewirkt, sondern auch Natur- und Kultur- heit der Polisbürger zu erschaff en. Obwohl katastrophen, die fast täglich vor Augen die zitierten Sätze den meisten Philoso- führen, dass die zweigeteilte Art zu denken phen bekannt sind, werden sie heute nur und zu handeln keine lebenswerte Zukunft noch selten zitiert. Man nimmt an, dass sie bieten kann. spätestens mit der europäischen Aufklä- rung obsolet geworden sind. Schliesslich Androzentrische Sozialpolitik hätten schon die Stoiker und die frühen Auch die herkömmliche, d.h. androzen- christlichen Gemeinden, die ihrerseits auf trisch konzipierte Sozialpolitik stößt an die jüdische Tradition zurück greifen, die ihre Grenzen. Es wird off ensichtlich, dass zweigeteilte Welt mit dem Gedanken der ein Gemeinwesen, in dem „das Soziale“ gleichen Würde aller Menschen konfron- als dienstbare Ehefrau eines starken Ehe- tiert. Und später sei dieser Gedanke zum mannes Marktwirtschaft aufgefasst wird, Allgemeingut geworden, weshalb man nicht zukunftsfähig ist. Hier wird nämlich sich nicht mehr mit der aristotelischen Me- das, was laut Lehrbuch Mitte und Zweck taphysik befassen müsse. des Wirtschaftens ist: die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, an den Rand Nun hiess der Wahlspruch der Aufklä- gedrängt – so wie auch die Arbeit der tat- rung allerdings „Freiheit, Gleichheit, Brü- sächlichen Hausfrauen verschwiegen und derlichkeit“. Und wer genau hinsieht, stellt trivialisiert wird. Als die „weibliche“ Seite fest, dass die zweigeteilte Weltsicht auch der Ökonomie muss sich die reale Bedarfs- in den Köpfen aufgeklärter Dichter und deckung seit langem sogenannt höheren Denker, etwa Immanuel Kant, Karl Marx Zwecken unterordnen, die sich im Zentrum oder Sigmund Freud, noch sehr lebendig der Ökonomie, inzwischen auch der Politik ist. Bis heute wird die Rede von der all- angesiedelt haben: der Eigengesetzlichkeit gemeinen Menschenwürde unterlaufen des Tauschmittels Geld, das sich zum Sym- von der Zweiteilung der Welt.5 Und wie bol männlicher Potenz gewandelt hat und schon bei Aristoteles bleibt auch heute gleichzeitig zum „Lebensmittel“ geworden die Zweiteilung nicht beschränkt auf eine ist, auf das alle angewiesen sind. Kaum ein hierarchische Sicht der Geschlechterdiff e- Satz ist heute weniger umstritten als die- renz. Schon die antiken Denker haben ihre ser: „Nur wenn die Wirtschaft (sprich: der Vorstellung vom kontrollierenden Mann marktvermittelte, symbolisch „männliche“ und der funktionierenden Frau mit diver- Teil des Wirtschaftens) fl oriert, können wir sen anderen Gegenüberverhältnissen ver- uns sozialen Problemen zuwenden“. Der knüpft, etwa denjenigen von Lehrern und Schweizer Wirtschaftsminister brachte Schülern, Vätern und Kindern, Freien und diese Logik beim World Economic Forum SklavInnen, von Freiheit und Dienstbar- 2005 in Davos als Kurzlitanei unters Volk: keit, Politik und Familie usw.. Diese Manier, „Wir müssen immer reicher werden, da- die Welt als zwei Sphären zu denken, hält mit wir den Armen helfen können.“ Drückt sich durch bis in unsere Zeit. Noch heute man diesen Satz präziser aus, kommt seine unterscheiden viele Leute, ohne sich viel Absurdität ans Licht: Erst wenn sich im- dabei zu denken, zwischen Kultur und Na- mer mehr Menschen mit der Produktion tur, Geist und Körper, Markt und Haushalt, und dem Konsum überfl üssiger Dinge wie Wissen und Glauben, Okzident und Orient, Talkshows oder Präzisionswaff en befassen, Öff entlichkeit und Privatheit, Ökonomie kann man darüber nachdenken, wie verhin- und Sozialem etc. und haben dabei so et- dert werden soll, dass täglich Tausende von was wie ein virtuelles Ehepaar vor ihrem Menschen an Unterernährung sterben. inneren Auge: Wie der Mann in der patri- archalen Ehe die Frau führt und dominiert, Diese im Kern verkehrte Logik ist das we- so soll auch die Vernunft das Gefühl leiten, sentliche Problem heutiger Sozialpolitik. der Okzident den Orient dominieren, der Zwar gibt es androzentrische Verkehrun- sogenannt freie Markt der Sozialpolitik vor- gen auch innerhalb der Struktur der Sozial- geordnet sein usw. politik selbst. So stand im 19. Jahrhundert, als man anfi ng, die „soziale Frage“ als Kon- Es ist nicht leicht, aus der Struktur der fl ikt zwischen Kapitalisten und Arbeitern begriffl ichen Ehepaare auszusteigen. So- wahrzunehmen, stets „der Arbeiter und gar wer begriff en hat, wie das Ganze funk- seine Familie“ im Zentrum, also das klassi- tioniert, kann nicht plötzlich ganz anders sche zweiteilige Ensemble, obwohl schon sprechen und handeln, denn die dualisti- damals die Verhältnisse nicht dieser Norm sche Art und Weise, die Welt zu benennen, entsprachen. Inzwischen hat man allerlei hat sich der Sprache selbst eingeprägt. nachgebessert, hat zum Beispiel verstan- Allerdings befi nden sich heute die begriff - den, dass Mütter eine unabhängige Exis- lichen und die realen Ehepaare in der Kri- tenzsicherung brauchen, weil nicht jede se. Nicht nur die Frauenbewegung hat das auf einen treuen Ehemann zählen kann.

88 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele Bei solchen Nachbesserungen handelt es Die feministische Kritik an der ontolo- sich aber vorerst um das, was Luce Irigaray gischen Identifi zierung von Frausein und „temporäre“ Rechte nennt, die „durch ... Bedarfsdeckungswirtschaft hat auch mich örtlichen Druck zustandegekommen“6 und längere Zeit veranlasst, meine Freude am daher jederzeit von Rückschritten bedroht Haushalten zu verleugnen. Vor allem aber sind. Es wird also ein Doppeltes sichtbar: habe ich durch sie gelernt zu unterschei- Die Sozialpolitik selbst muss sich jenseits den zwischen der patriarchalen Organisa- patriarchaler Vorurteile neu organisieren tion des Haushälterischen und der Frage, und sie muss den Status der abhängigen was in Haushalten tatsächlich geleistet Ehefrau ablegen und sich als Mitte der po- wird. Als ich anfi ng, die Patriarchatskritik zu litischen Ökonomie verstehen lernen. trennen von der anthropologischen Funk- Wenn ich vom „Ende des Patriarchats“ tion haushälterischen Tuns, entdeckte ich spreche,7 so ist also keineswegs ein para- zunächst die einfache Tatsache, dass Haus- diesischer Zustand gemeint. Im Gegen- halten auch in postpatriarchalen Zeiten teil: es handelt sich um eine Zeit grösster nicht verschwinden wird. Denn auch in ei- Verunsicherung, gleichzeitig um eine Zeit, ner globalisierten Welt gehört es weiterhin in der Neudenken und –handeln gefor- zum Menschsein, das heißt: zum Kindsein, dert ist. Dass die vermeintlich bewährte Altsein, Kranksein, Gesundsein, Mann- Zweiteilung der Welt sich aufl öst, zieht und Frausein usw., zu essen, zu schlafen, verschiedene Reaktionen nach sich: Rat- gepfl egt und beschützt zu werden, sich losigkeit, Desorientierung, angestrengte irgendwo auf der Welt zuhause zu fühlen Besitzstandswahrung, postpatriarchales und einen Sinn im Leben zu sehen. Nur Raubrittertum (das „Phänomen Berlusco- wer, wie die gängige Marktideologie, „den ni“), Depression, Gewalt – und hoff nungs- Menschen“ als erwachsenen Mann denkt, volle Bewegungen wie zum Beispiel die der aus dem Nichts entsteht und im Nichts Österreichische Armutskonferenz. verschwindet, sobald er krank, alt oder ver- In diese komplexe Situation bringe ich rückt wird, kann auf die Idee kommen, die zwei Begriff e ein, die sich als Orientierun- Befriedigung solcher Bedürfnisse sei vo- gen – manche sprechen auch von „Visio- rökonomisch oder eine Sache nur für „die nen“ – für eine erneuerte Sozialpolitik eig- Schwachen“.8 nen: Welthaushalt und Wirtinschaft. Dass ich mit zwei Begriff en arbeite, hat nicht nur In Haushalten wird also das ernstgenom- biographische Gründe. Die beiden Begriff e men, was die zweigeteilte Weltordnung in bereichern und korrigieren einander. Und die Trivialität abgedrängt hat: dass Men- diese Zweiheit, die kein Oben und Unten schen nicht entweder frei oder abhängig, meint, trägt dazu bei, dass wir frei bleiben, sondern immer beides gleichzeitig sind: mit den Wörtern spielerisch umzugehen, zuhausebedürftig und frei, verletzlich und statt uns vorschnell auf ein Patentmodell handlungsfähig. Haushalte sind Orte ge- festzulegen. lebter Versorgungswirtschaft, gleichzeitig der Beziehungsarbeit, der Sinnstiftung und Welthaushalt des politischen Verhandelns. Anders als der Ich bin Hausfrau. Von den meisten an- Markt basieren sie notwendigerweise auf deren Hausfrauen unterscheide ich mich einem realistischen Menschenbild, denn dadurch, dass ich öff entlich über mein sie haben keine Instanz mehr unter sich, Hausfrausein spreche. Ich war schon immer die die Sorge ums Dasein im Notfall über- gern haushälterisch tätig, zuerst in meiner nehmen könnte. Wer in einem Haushalt Herkunftsfamilie, dann in Wohngemein- tätig ist, weiß – im Gegensatz zum homo schaften, in einer Single-Wohnung, später oeconomicus -, dass Menschen nicht uner- im Pfarrhaus und heute in einem Dreiper- sättlich sind, sondern irgendwann genug sonenhaushalt. Allerdings habe ich auch haben und sich ausruhen möchten, dass schon immer allergisch reagiert, wenn das sie sich ständig wandeln und dass, was sie Hausfrausein mein ganzes Leben zu über- brauchen, zuweilen knapp ist, oft aber in formen begann oder wenn jemand mir das Fülle vorhanden. Gefühl gab, ich sei als Frau für diese Art Tä- tigkeit geboren. Meine Freude am Kochen, Bis hierher habe ich lediglich meine Er- Aufräumen, Zuhören, Sinnstiften hat sich fahrungen als Hausfrau so auf den Begriff trotz solcher Zuschreibungen durchgehal- gebracht, dass deutlich wurde: Haushalte ten. Allerdings ist die emotionale Nähe zu sind nicht „vorpolitische Gemeinschaftsfor- solchen Tätigkeiten keine notwendige Vo- men“,9 sondern der Anfang und die Mitte raussetzung dafür, die Idee vom Welthaus- von Ökonomie und Politik und also – im halt mitzuvollziehen. Auch sogenannte Sinne der Rede vom Welt-Haushalt - geeig- Haushaltsmuff el sind angesprochen, denn net als Modell fürs Ganze. Wie meine An- es geht bei dieser Idee nicht um beliebige fangsgeschichte vom Zuhausegefühl zeigt, Vorlieben, sondern um Notwendigkeiten. ist Zuhausesein ja nicht an die patriarchale 89 Organisationsform des Haushalts gebun- der Austausch von was auch immer möglich den, sondern kann sich auch in einer Re- ist. Denn ohne den Ort, ein Haus, und ohne gion einstellen, dann nämlich, wenn ich in Gesetz, die Autorität der Wirtin, wird die Wirt- dieser Region weiss, wo ich hingehen muss, schaft zu dem, wofür manche so genannten wenn ich Rat oder Geld oder Lebensmittel Experten sie heute tatsächlich schon halten: oder Sinn oder Gespräch oder Pfl ege brau- Seelenlose Zahlen, die ohne Sinn um den che. Zuhausesein heisst Aufgehobensein in Globus schwirren.“12 einem Bezugsgewebe, aus dem niemand heraus fallen kann, auch nicht die papier- Meine eigenen Erfahrungen mit Wirtin- lose Asylbewerberin, die Rollstuhlfahrerin nen und diese Idee, dass der Austausch von oder der Psychotiker. Verstehe ich also un- Nahrung, Sinn, Liebe usw. gebunden blei- ter einem Haushalt nicht, wie bisher, die ben muss an reale Orte und an lebendige abhängige Konsumeinheit, sondern den Personen, hat in mir den Begriff der „Wirtin- Ort der Erschaff ung von Zuhausesein, dann schaft“ entstehen lassen. Wirtinschaft geht wird er zum Modell einer wohnlichen Welt. über den Begriff des Welthaushaltes hinaus Die ganze Welt als wohnlichen Ort zu ge- oder ergänzt ihn, indem sie ausdrücklich stalten ist aber auch der Sinn von Sozialpo- Geld als ein mögliches Tauschmittel einbe- litik. Denn zumindest postpatriarchal ver- zieht, es durch die Rückbindung an den re- standen kann sich Sozialpolitik eben nicht alen Ort und die reale Frau entdämonisiert mehr erschöpfen in fi nanziellen Transfer- und die Grenze zwischen öff entlichen und leistungen samt einigen therapeutischen privaten Tauschprozessen überschreitet. Begleitveranstaltungen. Sozialpolitik, ver- Wirtinnen, so verschieden sie im einzel- standen als Mitte politischer Ökonomie, nen sein mögen, haben keine Angst vor bedeutet, einen Welthaushalt zu gestalten, dem Geld; sie fi nden es nicht unweiblich, in der alle sechseinhalb Milliarden Würde- sondern nützlich; sie beten es nicht an als trägerInnen sich zuhause fühlen. Symbol männlicher Potenz, sondern set- zen es in Bewegung, um Zuhausegefühl für Wirtinschaft Einheimische und Fremde zu erzeugen. Mit „Wirtinschaft“ ist ein neues Wort, das nur den Welthausfrauen streiten sich die Wir- zwei Buchstaben von dem entfernt ist, was tinnen manchmal, zum Beispiel darüber, uns allen, in Gestalt des symbolischen Ehe- wie wichtig Kosten-Nutzen-Rechnungen manns „kapitalistische Marktwirtschaft“ so sind oder wie weit off en die Haustür ste- viel Kummer macht. „Wirtinschaft“ ist inspi- hen darf. Beide sind sich auch nicht einig in riert von einem Denkprozess, der vor drei der Frage, ob Gäste profi tabel sein müssen Jahren hier in Salzburg mit einem Sympo- oder ob man ihnen notfalls auch die Rech- sion zur postpatriarchalen Weltgestaltung nung erlassen sollte. Einig aber sind Welt- einen neuen Anstoß bekommen hat10 und hausfrauen und Wirtinnen sich darin, dass der sich zum Beispiel niedergeschlagen die Mitte ihres Handelns nicht die Geld- hat in einem Text der Politologin Antje vermehrung ist und auch nicht das Gesetz Schrupp.11 Antje Schrupp beschreibt hier des Eigennutzes. Die Mitte, um die sich ihr zuerst verschiedene reale und literarische Handeln konzentriert, die Mitte postpatri- Wirtinnen, die –je unverwechselbar– virtu- archaler Sozialpolitik also, ist der Wunsch, os mit menschlichen Bedürfnissen umge- eine wohnliche Welt zu gestalten. hen. Und dann schreibt sie: „Der Wert von Wirtschaften liegt gerade Postpatriarchale Sozialpolitik darin, dass sie die falsche Alternative von pri- Welthaushalt und Wirtinschaft sind keine vat und öffentlich überwinden. ... Wirtschaf- abgeschlossenen wohldefi nierten Konzep- ten sind Orte, Lokale eben, an denen Men- te, sondern Begriff sbildungen, um die sich schen, Ressourcen, Dinge und Tätigkeiten das gemeinsame Nachdenken über die sich zu einem Ganzen verbinden, das einen postpatriarchale Weltgestaltung versam- produktiven Austausch zum gegenseitigen meln kann. Ein bisschen liegen Hausfrau- Nutzen ermöglicht. Sie leben vom Aufeinan- en und Wirtinnen im Streit miteinander, dertreffen von Einheimischen und Fremden, und dann sind sie sich wieder einig. Beide von Leuten, die etwas haben, und anderen, existieren in unendlichen realen und litera- denen genau das fehlt: Umschlagplätze für rischen, fi lmischen, gemalten und fotogra- Waren, Dienstleistungen, Informationen, Lie- fi erten Varianten, lassen sich also nicht auf be. Getauscht wird Geld gegen Essen, Neu- ein Ideal reduzieren – und verkörpern doch igkeiten gegen Ratschläge, Unterhaltung eine gemeinsame Orientierung. In unserer gegen ein Bett und, warum nicht, auch mal Mailingliste „Gutesleben“, einem Folgepro- Sex gegen Moral. Jedes Einzelne davon kann jekt des Salzburger Symposions, haben wir wegfallen... Was aber nicht wegfallen kann, begonnen, eine Sammlung literarischer das ist der reale Ort, der die Begegnung von Wirtinnen anzulegen. Da sitzt dann Ehrli- Menschen in Fleisch und Blut ermöglicht, und chers Friederike am Tisch mit Lottika aus die Person der Wirtin..., die dafür sorgt, dass Ivo Andrics „Brücke über die Drina“, Wie-

90 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 1 Vgl. dazu z.B. Ina Praetorius, Handeln aus der Fülle. ner Kaff eehauswirtinnen plaudern mit der Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition, Gütersloh Motelbetreiberin aus dem Film „Out of 2005, 57-90. Rosenheim“. Überall auf der Welt gibt es 2 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christ- Welthausfrauen und Wirtinnen weiblichen, lichen Ursprünge, München/Mainz 1988, 62. männlichen und sonstigen Geschlechts. 3 Aristoteles, Über die Zeugung der Geschöpfe, Buch II, Sie unterscheiden sich voneinander, aber Paul Gohlke Hg., Paderborn 1981, 72. 4 Aristoteles, Politik, übersetzt und mit erklärenden An- sie stehen mit ihrer persönlichen Autorität merkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1981, 10. dafür ein, dass die Welt auf unterschiedli- 5 Dazu haben vor allem Frauen zahlreiche Untersu- chungen verfasst, z.B.: Ursula Pia Jauch, Immanuel Kant che Weise zu einem wohnlichen Ort wird zur Geschlechterdiff erenz. Aufklärerische Vorurteilskritik – durch Nachbarschaftshilfe und staatliche und bürgerliche Geschlechtsvormundschaft, Wien 1988; Geldtransfers, durch Feste, gemeinsames Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exempla- rische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und lite- Essen und Gespräche, durch Bildungsver- rarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt anstaltungen und zivilen Ungehorsam und a.M., 2. Aufl . 1980; Christel Neusüss, Die Kopfgeburten der durch immer neues Verhandeln darüber, Arbeiterbewegung, oder: Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander, Hamburg 1985; Luce Irigaray, Spe- wie es allen, die in der Welt zusammen le- culum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a.M. ben, möglichst wohl sein kann. 1980; Ina Praetorius, Anthropologie und Frauenbild in der deutschsprachigen protestantischen Ethik seit 1949, Gü- tersloh, 2. Aufl . 1994 uam. 6 Luce Irigaray, Genealogie der Geschlechter, Freiburg i.B.1989, 13, 22. 7 Ina Praetorius. Zum Ende des Patriarchats. Texte zur theologisch-politischen Neuorientierung, Mainz 2000. 8 Vgl. Ina Praetorius, Die Starken und die Schwachen, in: Maria Halmer ua. Hg., Anspruch und Widerspruch. Evi Krobath zum 70. Geburtstag, Klagenfurt/Ljubljana/Wien o.J., 89-98. 9 Helmut Thielicke, Theologische Ethik III, Tübingen 1964, 316. 10 Michaela Moser, Ina Praetorius Hg., Welt gestalten im ausgehenden Patriarchat, Königstein/Ts. 2003. 11 Antje Schrupp, Die Wirtin – Sozialgefüge der Geburt, in: Andrea Günter Hg., Maria liest, Das heilige Fest der Ge- burt, Rüsselsheim 2004, 139-146. 12 Ebd. 145-146.

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91 5.2 Hat das „europäische Sozialmodell“ noch eine Zukunft?

Ein europäisches Sozialstaatsmodell, das auch Elemen- Wir fi nden in Europa, auf engsten Raum, te einer institutionalisierten transnationalen Sozialpoli- eine enorme Vielfalt von Sozialstaaten, die allesamt das Resultat historischer Kom- tik im EU-Maßstab einschließt, wäre ein reformistisches promisse unter sehr unterschiedlichen Projekt. Nur ein klarer Bruch mit der Lissabon-Strategie Bedingungen sind. Um mit dieser Vielfalt könnte es in Gang bringen. Vor allem braucht es in der hantieren zu können, nehmen die meisten Tat „neues Denken“, also ein par radikale Brüche mit den Sozialwissenschaftler heute eine Typolo- gie von drei bis fünf „Modellen” zu Hilfe, heute vorherrschenden Ideen von „Reichtum“, von „gu- die auf Esping-Andersen (1990) zurück- tem Leben“, von „Investitionen“ insbesondere „Zukunfts- geht: Vom „liberalen” Sozialstaat (Großbri- investitionen“ und „Innovation“, also eine Befreiung der tannien, Irland), über den „konservativen” Köpfe von den Marktmythen der Gegenwart. (Frankreich, Deutschland, Österreich), den „sozialdemokratischen” (Schweden, Däne- mark) bis zum „residualen” oder „rudimen- Von außen gesehen, erscheint Europa als tären” Typus (Griechenland, Spanien). Mit Einheit. Von innen besehen, ist es mit der Hilfe einer solchen Typologie lassen sich Einheit nicht so weit her. Von außen, etwa die wichtigsten Unterschiede zwischen von Asien oder von Lateinamerika aus ge- den Sozialstaaten Europas im Blick auf ihre sehen, mag Europa als ein nachahmens- sozialen Sicherungssysteme, deren Finan- wertes Modell erscheinen, ein Modell, das zierung, ihre (Um)verteilungseff ekte, ihre zumindest eine diskutable Alternative zum sozialen Dienstleistungen, ihre Mindest- US-amerikanischen Kapitalismus bietet. standards usw. beschreiben, aber nicht Von innen betrachtet, herrschen Unsicher- erklären. Trotz sehr ähnlicher Problemlage heit und tiefe Zweifel an der Überlebensfä- sind die europäischen Sozialstaaten in den higkeit des eigenen „Modells”. Von Osteuro- vergangenen Jahren in aller Regel ganz pa her gesehen, erscheint das „europäische unterschiedlich mit Erwerbslosigkeit, Ver- Modell” als eine Sache des „alten”, des west- armung, Überalterung, irregulärer Beschäf- lichen Europa, vor allem aber als überholt. tigung, Schwarzarbeit usw. umgegangen - Europa ist seit jeher ein geographisch entsprechend den historisch gewachsenen schlecht defi nierter Begriff gewesen; als Strukturen und institutionellen Formen Michael R. Krätke kulturelle Einheit ist es kaum eindeutig zu ihrer Sozialsysteme; pfadabhängig, wie die ist Politökonom und bestimmen. Europa ist keine Gesellschaft, SozialwissenschaftlerInnen sagen. Dabei Professor an der Universität Amsterdam. obwohl es mittlerweile von „EuropäerIn- haben einige europäische Sozialstaaten nen” wimmelt; Europa ist ein Verbund durchaus vergleichbare Strategien verfolgt von Nationen, also Staatsgesellschaften, - wie z.B. die Strategie der Frühverrentung die vom Nationalismus, also Kunstfi guren als Antwort auf die anhaltende Massenar- der Politik des 19. Jahrhunderts, leben. beitslosigkeit. Darüber hat sich eine neue Kunstfi gur, die europäische Union gelagert. Sie beruht bis Daher: so etwas wie ein „europäisches So- heute in erster Linie auf einem Elitenkon- zialmodell”, wie es zahlreichen Dokumen- sens, den die Masse der WahlbürgerInnen ten der EU-Kommission, des Ministerrates mit einer Mischung aus Furcht und Skepsis und des Europäischen Parlaments stets betrachten. wieder beschworen wird, gibt es nicht.

Sozialstaatlichkeit in Europa - die Auch der Hinweis auf das im Durchschnitt Vielfalt der Sozialstaats”modelle” höhere Sozialleistungsniveau in den eu- Wenn es etwas gibt, das die Kapitalis- ropäischen Sozialstaaten macht die Rede men in Europa vom Kapitalismus in ande- vom „europäischen Sozialmodell” nicht ren Teilen der Welt auszeichnet, dann ist plausibler. Denn für die Sozialstaaten der es der Sozialstaat. Die Mitgliedsstaaten USA und Japans gilt schlicht, dass ein nied- der EU, mit Ausnahme der osteuropäi- rigeres Niveau öff entlicher (staatlicher) So- schen Beitrittsländer, gehören zur kleinen, zialleistungen dadurch kompensiert wird, aber feinen Spitzengruppe der am höchs- dass die Elemente der „company welfare” ten entwickelten Sozialstaaten, nicht nur (betriebliche Sozialpolitik) und der „fi scal weltweit, auch in der OECD, also im Club welfare”(Sozialpolitik mittels Steuern) eine der führenden Industrie- und Welthan- weit größere Rolle spielen als in den meis- delsländer. Aber diese Sozialstaaten sind ten europäischen Sozialstaaten (wo sie al- alles andere als einheitlich, im Gegenteil. lerdings auch nicht fehlen). Das denkbare

92 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele Argument, das europäische Sozialmodell SozialstaatsbürgerInnen an ihren wohl- beruhe vor allem auf der Anerkennung erworbenen Rechten festhalten, wie er- sozialer BürgerInnenrechte (die in der Tat folgreich sich die Sozialstaatsbürokratien in vielen europäischen Verfassungen ge- in ihren Institutionen verschanzen. Ohne nannt, mitunter sogar detailliert beschrie- Regierungsbeteiligung der Sozialdemokra- ben werden, wie in der Verfassung der tie, der traditionellen Schutzmacht derer, Republik Italien), verfängt nicht. Denn nur die auf den Sozialstaat angewiesen sind, einige europäische Sozialstaaten haben in ist bisher noch keine der im Lissabon-Pro- der Tat ein Recht auf „universalistische” für zess angestrebten „Reformen” zustande alle ihre BürgerInnen institutionalisiert; gekommen. Die europäische Sozialdemo- auch diese Rechte gelten nur für einige kratie selbst ist daher das erste Opfer die- wenige Sozialleistungen und keineswegs ser Reformpolitik, die sie ihre/n WählerIn- bedingungslos. nen und AnhängerInnen entfremdet. Den SozialstaatsbürgerInnen war nur mit Hilfe Umbau oder Zerstörung der Sozial- ständig wiederholter Katastrophenszena- staaten in Europa? rios plausibel zu machen, dass die Verluste Europäisierung vor Globalisierung. Dies an Rechten und Transferleistungen, die ih- Politikmuster hat mit dem so genannten nen überall abverlangt wurden, notwendig Lissabon-Prozess, d.h. mit der gemeinsa- und legitim seien. Im Reformprozess sind men Strategie, die auf dem EU-Gipfel in die Sozialstaaten in allen europäischen Lissabon 2000 vereinbart wurde, einen Ländern beschädigt worden, die Masse neuen Schub bekommen. Und zwar ei- der SozialstaatsbürgerInnen hat überall nen Schub, der in eine deutlich andere Leistungen und Rechte verloren, aber eine Richtung weist, als das bisher in der eu- Strukturreform an Haupt und Gliedern ist ropäischen Union üblich war. EU-Europa in keinem der europäischen Sozialstaaten sollte bis 2010 zum wettbewerbsfähigs- bisher gelungen. ten, dynamischsten Wirtschaftsraum der Mit dem Lissabon-Prozess sind drei Pa- Welt werden, EU-Europa sollte im Kampf tentrezepte in den Rang offi zieller Politik- um die Weltmärkte den wichtigsten Kon- ziele erhoben worden: Das Konzept des kurrenten USA, Japan und China die Stirn „aktivierenden” Sozialstaats und das Kon- bieten. Mit der Lissabon-Strategie hat die zept der Privatisierung der sozialen Siche- EU einen Politikwechsel vollzogen, an dem rung, die der gewünschten „Eigenverant- schon seit langem gearbeitet wurde. Statt wortung” der SozialstaatsbürgerInnen auf einen „gemeinsamen Binnenmarkt” mittels die Sprünge helfen würde, und das Kon- Angleichung und/oder „Harmonisierung” zept der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, der marktrelevanten Regulierungen in den d.h. der Förderung irregulärer, prekärer Be- Mitgliedsländern herbei zu führen, setzt schäftigungsverhältnisse und eines wach- die EU nunmehr offi ziell auf den „Wettbe- senden Niedriglohnsektors. werb” zwischen den Mitgliedsländern um die jeweils besten, d.h. wettbewerbstaug- Die Politik der „Aktivierung” des Sozial- lichsten Politiken. Sie institutionalisiert und staats ist in einigen europäischen Sozial- fordert die „Standortkonkurrenz” zwischen staaten bereits in Gesetzesform gebracht den Mitgliedsstaaten, die fortan mitein- worden (das „Jobaktivgesetz” und die ander um die Gunst des Kapitals kämpfen Hartz-Gesetze in Deutschland, der „Plan sollen. Statt des altehrwürdigen liberalen d’aide au retour à l’emploi” in Frankreich, Ziels, eine annähernde Gleichheit der Kon- ähnliche Programme in Belgien, Dänemark, kurrenzbedingung in der Großregion EU- den Niederlanden, Irland). Alle folgen der Europa herbei zu führen, setzt die offi zielle simplen Logik, jeden „Sozialfall” zu lösen, europäische Politik nunmehr auf die Un- indem mit hartem und hartnäckigem bü- gleichheit der Konkurrenzbedingungen, rokratischem Druck, unterstützt von einem die dem mobilen Kapital das unschlagbare System von Geldstrafen (Leistungskürzun- Droh- und Druckmittel des Standort- oder gen) die Anpassung an die Imperative des sogar des Regime-Shopping zwischen den Arbeitsmarkts, die Unterwerfung unter das Mitgliedsstaaten der Union an die Hand heilige Prinzip der „Verwertung” und „Ver- gibt. Die Mitgliedsstaaten sollen sich im marktung” jedes Individuums (im Jargon ständigen Wettbewerb gegenseitig fi t ma- „employability” oder „Arbeitsmarktfähig- chen für den Kampf mit der globalen Kon- keit”) erzwungen wird. Diese Sozialpolitik, kurrenz. die nicht weniger, eher mehr kostet als die bisherige (vor allem an bürokratischem Sozialstaatsreform ist ein mühsames Aufwand), hat zwar so gut wie keine Be- Geschäft. In allen europäischen Ländern, schäftigungseff ekte gehabt, dient aber in denen in den letzten 10 bis 15 Jahren dazu, die kollektive Illusion einer Rückkehr „Reformen” des Sozialstaats betrieben wur- zur Vollbeschäftigung am Leben zu halten. den, hat sich gezeigt, wie hartnäckig die 93 Es gibt in Europa nur drei Länder, in de- gewollt, bei den prekären Beschäftigungs- nen Pensionsfonds in den sozialen Siche- verhältnissen. Prekär Beschäftigte und rungssystemen eine große und tragende NiedriglöhnerInnen sind die HelotInnen Rolle spielen - Großbritannien, die Nie- des Sozialstaats; nur in den europäischen derlande und die Schweiz. In den übrigen Sozialstaaten, die „universalistische” und europäischen Ländern sind in den letzten steuerfi nanzierte Sozialleistungen von ei- Jahren viele Versuche unternommen wor- nigem Gewicht kennen, ist die Ungleich- den, die vorhandenen Betriebsrentensyste- heit zwischen dem neuen Proletariat der me zu „deregulieren”, d.h. für eine europa- prekär Beschäftigten und den „Normalar- weite Konkurrenz zu öff nen, und zugleich beiterInnen” weniger krass. den SozialstaatsbürgerInnen den Sprung in private Alters-, Kranken- und Berufsun- Als Wachstums- und Beschäftigungsstra- fähigkeitsversicherungen schmackhaft tegie ist der Lissabon-Prozess vorerst ge- zu machen. Der Renten- oder Pensions- scheitert. Ihre Folgen sind bereits sichtbar fonds-Kapitalismus steht in den meisten bzw. absehbar. Wir erleben eine massive europäischen Ländern am Anfang und hat Reproletarisierung und zugleich Spaltung, noch viel Boden zu gewinnen - zu Lasten ja Fragmentierung der abhängig Beschäf- der vorhandenen, staatlich organisierten tigten (und vieler kleiner „Selbständiger”) Sozialversicherungen. Für diesen Umbau in allen europäischen Ländern. Gewiss gibt der europäischen Sozialstaaten eifern in es NutznießerInnen der gegenwärtigen erster Linie die großen Finanzmarktakteu- Reformpolitik: Gutbezahlte, hochqualifi - rInnen, die ein gigantisches Marktpotential zierte, privat versicherte ArbeitnehmerIn- von Hunderten von Millionen Versiche- nen in einigen Hochtechnologie-Branchen rungskundInnen vor sich sehen. Um die und wenigen (multinationalen) Großunter- gut verdienenden und relativ stabil be- nehmen, die den Sozialstaat nicht mehr zu schäftigten LohnarbeiterInnen in die Arme brauchen meinen, obwohl gerade sie von der Privatversicherer zu treiben, müssen betrieblichen Sozialleistungen und Steuer- die Leistungen der Sozialversicherungen subventionen abhängig sind. Für die Mas- weit drastischer reduziert werden als das se der abhängig Beschäftigten dagegen ist bisher der Fall war. Für die FanatikerInnen die soziale Sicherheit, die der Sozialstaat der Sparpolitik gibt es hier in den nächsten bieten sollte, nicht nur geringer, sondern Jahren noch viel zu tun, um endlich einen vor allem selbst unsicher geworden. Die Massenmarkt für „private Vorsorge” in allen altbekannte „Unsicherheit der Lebenslage”, europäischen Ländern zu schaff en. Die EU einst das hervorstechende Merkmal der unterstützt diesen Prozess mit der geplan- Proletarität, ist wieder da - nur ist es dies- ten Schaff ung eines integrierten europäi- mal der „reformierte” Sozialstaat, der sie schen Finanzmarkts. Auf dem könnten sich mit erzeugt. Dazu kommt die wachsende konkurrierende Pensionsfonds und Kran- Ungleichheit zwischen den Sozialstaats- kenversicherungen EU-weit tummeln. bürgerInnen, insbesondere zwischen „nor- mal” und „prekär” Beschäftigten, zwischen Die Förderung prekärer, irregulärer Be- denen, die noch in den Arbeitsmarkt inte- schäftigungsverhältnisse neben und zu- griert sind, und der wachsenden Zahl der nehmend auch an Stelle regulärer, „norma- Marginalisierten und Ausgeschlossenen, ler” Beschäftigungsverhältnisse ist ebenso die im reformierten Sozialstaat als Teil der mit Erfolg betrieben worden wie die Ent- offi ziellen „Arbeitsreserve” behandelt wer- wicklung von Niedriglohnsektoren. Damit den, dennoch keine Chance auf eine regu- hat die „europäische Beschäftigungspoli- läre, dauerhafte Beschäftigung haben. Im tik” eine ganz andere Dynamik bekommen, „reformierten” Sozialstaat wird selbst der als ihre BefürworterInnen gedacht hatten. Anspruch aufgegeben, diese Spaltungen Befristet- und Teilzeitbeschäftigte gab es der bürgerlichen Gesellschaft mildern oder schon früher, auch NiedriglöhnerInnen und gar verhindern zu können. alle möglichen Formen prekärer Beschäfti- gung, obwohl erst einige davon in jüngs- Die wichtigsten und altbekannten Proble- ter Zeit legalisiert worden sind. Aber sie me der „alten” Sozialstaaten Europas wer- wurden nicht angestrebt, schon gar nicht den mit den heutigen Reformen jedenfalls zur Norm für einen „fl exiblen” Arbeitsmarkt nicht gelöst. Die Armut und die Armutsbe- erhoben. Obwohl „Normarbeitsverhältnis- völkerung ist in den meisten europäischen se” (orientiert am Leitbild des männlichen, Ländern gewachsen, die Verarmungsrisi- hochqualifi zierten Facharbeiters mit de ken für wachsende Teile der ArbeiterInnen- facto lebenslanger Beschäftigung in der- bevölkerung gestiegen. Die „reformierten” selben Branche oder demselben Betrieb) Sozialstaaten zeigen Härte gerade denen keineswegs marginalisiert oder „ausge- gegenüber, die sie am meisten brauchen. höhlt” worden sind, liegt der Schwerpunkt Mit Erfolg. Denn nach wie vor leben die der Beschäftigungsentwicklung, politisch entwickelten Sozialstaaten Europas mit

94 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele einem altbekannten Schandfl eck - der gar ökonomische Integration in EU-Europa nicht geringfügigen Nicht-Inanspruchnah- verstärken. Nur ein klarer Bruch mit der me von Sozialleistungen durch BürgerIn- Lissabon-Strategie könnte es in Gang brin- nen, die darauf einen wohlbegründeten gen. Vor allem braucht es in der Tat „neu- Anspruch hätten. Im Gegensatz zum all- es Denken”, also ein paar radikale Brüche seits beliebten Missbrauchsverdacht wird mit den heute vorherrschenden Ideen von dieser Dauerskandal lieber verschwiegen. „Reichtum”, von „gutem Leben”, von „Inves- Aber die Nicht-Inanspruchnahme von Sozi- titionen” (insbesondere „Zukunftsinvesti- alleistungen gibt es nach wie vor - und ihr tionen”) und „Innovation”, also eine Befrei- Umfang scheint nicht geringer zu werden, ung der Köpfe von den Marktmythen der im Gegenteil (vgl. OECD 2004). Gegenwart: Der Wert eines Menschen ist nicht sein Marktwert; es gibt einen Zusam- Alternativen: Lässt sich die Gegen- menhang zwischen dem „guten Leben” für reform reformieren? einzelne und dem „guten Leben” für alle; Wir brauchen eine Reform der europä- gesellschaftlicher Reichtum ist nicht gleich ischen Sozialstaaten, aber nicht die, die der Summe der privaten Geldvermögen; in derzeit - aus den falschen Gründen, mit üb- einer Gesellschaft ohne Armut lässt es sich len Folgen - im Gang ist. Die wirklichen Pro- besser leben, als in einer Marktgesellschaft bleme der „alten” europäischen Sozialstaa- mit ihrem unvermeidlichen Bodensatz an ten werden mit den derzeitigen Reformen Marginalisierten und Ausgeschlossenen; keinesfalls gelöst. Von einer ernsthaften „Investititionen” oder Zukunftsausgaben Bemühung um eine Harmonisierung der sind keineswegs nur solche, die Privatleu- sozialen Sicherungssysteme kann keine ten einen Profi t abwerfen; vieles, was nach Rede sein, die transnationale europäische heutiger Konvention als „Konsum” oder gar Sozialpolitik stagniert auf niedrigstem als „unproduktiv” (Unkosten) gilt, wie die Niveau; von einem einheitlichen europäi- Masse der Bildungsausgaben, viele Sozial- schen Arbeitsmarkt sind wir in EU-Europa ausgaben, ist eine Investition mit dauern- so weit entfernt wie eh und je. dem Nutzen (und sogar „Erträgen“ in der Form künftiger Produktivitätsgewinne) für Das „europäische Sozialmodell” hat seine die lebenden und zukünftigen Generatio- Zukunft noch vor sich. Noch immer erfreut nen. sich in den meisten europäischen Ländern das Konzept des Sozialstaats, der nicht nur Eine Strategie für ein europäisches Sozial- KapitaleigentümerInnen, sondern allen modell, das auf eben diesen Grundgewiss- seinen BürgerInnen verpfl ichtet ist, brei- heiten aufbaut, braucht drei komplemen- tester Unterstützung. Das neoliberale Ideal täre Komponenten - national, interstaatlich des minimalen Staats, der sich auf reine Ar- und transnational. Auf der nationalen Ebe- menfürsorge zurückzieht, hat noch lange ne gilt es das zu tun, was die VordenkerIn- nicht gewonnen, auch wenn die dazu ge- nen des sogenannten „Dritten Weges” im- hörenden Marktideologien in den Köpfen mer versäumt haben: Eine glaubwürdige der so genannten Eliten dominieren. Heute und rationale Strategie gezielter „sozialer spricht alles für einen „starken” Sozialstaat: Investitionen” zu betreiben. Die setzt aller- Auch eingefl eischte Globalisierungsskepti- dings nicht weniger, sondern wenigstens kerInnen werden nicht bestreiten, dass die ebenso viel an „sozialer Sicherheit” mittels „sozialen Risiken” (Erwerbslosigkeit, Verar- Transferleistungen voraus, wie wir heu- mung, Ausschließung) für die meisten Er- te haben (vgl. Esping-Andersen 2002, S. werbstätigen gewachsen sind und weiter 5). Sie bedingt eine Neuorientierung der wachsen. Mittlerweile sind auch bislang Familien- oder besser der Kinder- und Ju- privilegierte Gruppen (FacharbeiterInnen, gendpolitik und sie führt unweigerlich zu AkademikerInnen, öff entlicher Dienst) vom einer Neubestimmung dessen, was im rei- Risiko des sozialen Absturzes bzw. der dau- chen EU-Europa das „soziale Alter”, der so- erhaften Unsicherheit der Lebenslage (bei genannte „Ruhestand” bedeuten soll und prekärer Beschäftigung) betroff en. Neben wie dieser zu institutionalisieren ist. der Kinder- und Frauenarmut werden wir es schon bald wieder mit wachsender Al- Auf der zwischenstaatlichen Ebene gilt tersarmut zu tun bekommen. Auch im alten es, einen europäischen Arbeitsmarkt her- Europa haben wir wieder „working poor” zustellen, der den Erwerbstätigen in Eur- (arbeitende Arme) in wachsender Zahl. opa Freizügigkeit, berufl iche und soziale Mobilität gewährt, ohne die Form des Ein europäisches Sozialstaatsmodell, das Lohn- und Sozialdumpings, die gegenwär- auch Elemente einer institutionalisierten tig, dank der von oben verordneten Ver- transnationalen Sozialpolitik im EU-Maß- schärfung des innereuropäischen Konkur- stab einschließt, wäre ein reformistisches renzdrucks, im Schwange ist. Ein „soziales” Projekt. Es würde die schon vorhandene Europa braucht erheblich mehr Mobilität 95 der LohnarbeiterInnen als bisher; das heu- Auf der transnationalen Ebene brauchen tige Niveau ist geradezu lächerlich niedrig. wir eine weit stärkere Rolle für die eu- Dazu bedarf es einer Harmonisierung statt ropäischen Fonds (den Sozialfonds, den der von oben betriebenen „Konkurrenz” Kohärenzfonds usw.) als bisher. Allein der europäischen Sozialsysteme, die im diese Fonds sorgen zur Zeit in bescheide- Abschotten des jeweils eigenen, nationa- nem Umfang dafür, dass das auf nationaler len Arbeitsmarkts gegen unerwünschte Ebene in der Regel akzeptierte Prinzip der Konkurrenz ihr notwendiges Gegenstück Gleichheit der Lebensbedingungen und fi ndet. Notwendig ist eine solche Harmo- -verhältnisse im EU-Europa der Regionen nisierungspolitik, weil es die enorme Ver- nicht völlig in Vergessenheit gerät. Wenn schiedenheit der nationalen Sozialsysteme diese Fonds mehr Gewicht und Wirkung ist, die das wichtigste Mobilitätshindernis haben sollen, muss die bisherige Finan- im heutigen EU-Europa, selbst für junge zierung der Union, und damit der Fonds, und hoch qualifi zierte Fachleute, bildet. gründlich reformiert werden. Wer die eu- Ohne wirkliche Harmonisierung der Sozial- ropäischen Sozialsysteme harmonisieren systeme, einschließlich der Bildungs- und will, kommt um eine europäische Steuer- Gesundheitssysteme, wird es keinen eu- reform nicht herum. Wer sich dem aber ropäischen Arbeitsmarkt geben. Zu einer stellt, wird einer Neubestimmung der Rolle konsequenten Harmonisierungspolitik, EU-Europas in der Weltökonomie nicht die nicht auf die wundersamen Wirkun- ausweichen können. Damit sind wir beim gen der von oben entfesselten Dumping- entscheidenden Punkt: Wie halten wir es Konkurrenz setzt, gehört ein europäischer mit der Weltwirtschaftsmacht EU-Europa, Mindestlohn ebenso wie ein europäisches die sich seit längerem in einem unerklärten Tarifrecht, europäische Mindeststandards Kampf um die Vorherrschaft in Ost-Europa für Berufsausbildungen und Diplome aller und Asien befi ndet, einem Kampf, in dem Art, eine europaweit einheitliche Regelung die USA der Hauptgegner sind, ob uns das von Pensions- und Rentensystemen, die gefällt oder nicht. Wer diesen Kampf für die Mitnahme und Anrechnung von erwor- aussichtslos oder unmoralisch hält, wer ihn benen Pensions- und Rentenansprüchen vermeiden will, kann das europäische Sozi- über alle Landesgrenzen hinweg ermög- almodell vergessen und darf sich über die licht. Zur Harmonisierung gehört die Um- Lissabon-Strategie des innereuropäischen setzung der europäischen Sozialcharta in Wettbewerbs nicht beklagen. ein europäisches Sozialrecht (mit entspre- chender Gerichtsbarkeit). Dieser Beitrag ist die gekürzte Version eines Artikels, der zuerst in „Widerspruch“ Nr. 48 (2005) erschienen ist.

Literaturhinweise

Esping-Andersen, Gosta 1990: The Three Worlds of Wel- fare Capitalism, Oxford

OECD 2004: Take up of Welfare Benefi ts in OECD - Coun- tries. A Review of the Evidence, OECD: Paris

Schmidt, Vivien A. 2002: The Futures of European Capi- talism, Oxford; Oxford University Press

96 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.3 Frauen – Vor! – Konferenz

Alle BürgerInnen sind erstklassig! Für eine geschlechter- und sozialgerechte Steuerpolitik

Im Frühjahr 2004 – die jüngste Steuer- 2) Der „schlanke Staat“ kann kein Selbst- reform durchlief gerade den notwendi- zweck sein. Er hätte stets gen politischen Prozess – haben wir in der - zuwenig Mittel, um gerechte Strukturen AG „Frauenarmut“ Steuern zum Schwer- und Rahmenbedingungen zu schaffen punktthema gemacht. Ausgangspunkt: und zu erhalten, 200.000 Frauen in akuter Armut, fast 3mal - wenig Macht, um den ständigen Interes- so viele armutsgefährdet. sensausgleich zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen „moderie- Unsere Position ist, dass ren“ zu können und letztlich - das Steuer- und Abgabensystem ein - zuwenig Legitimität, weil dafür das Maß machtvolles Instrument sein könnte, der an verwirklichter Gerechtigkeit entschei- sozialen Ausgrenzung von Frauen entge- dend ist. gen zu wirken! Unser Ziel soll ein „vermögender“ Staat sein, der nicht zuletzt auch durch die Demgegenüber ist zu beobachten, dass Mittel, über die er verfügt „vieles vermag“. durch Steuersenkungen für bestimmte Gruppen Einnahmensausfälle für den Staat 3) Im Steuerdiskurs ist der Begriff der in Kauf genommen werden. In der Folge Leistungsfähigkeit zentral. Im gängi- werden diese als Argument dafür genutzt, gen Verständnis wird damit ein sehr ver- öff entliche Ausgaben und öff entliche Infra- kürzter Zusammenhang angesprochen: struktur im Bereich Bildung, Gesundheit, jene mit höheren Einkommen tragen Pfl ege, Kinderbetreuung, Energie, Verkehr einen größeren Anteil an der „Steuer- reduzieren zu müssen. Die Folgen für ein- last“. Es sollte aber konsensfähig sein kommensschwache Frauen sind eklatant. zu sagen, dass diejenigen mit höheren Dazu einige Anmerkungen aus ethischer Einkommen mehr Steuern zahlen, weil Sicht. Diese Perspektive einzunehmen sie einen größeren Vorteil aus steuerfi- heißt, Fragen nach der Gestaltung der Ge- nanzierter Infrastruktur und öffentlichen sellschaft zu stellen; nach dem Ziel und der Gütern ziehen können / konnten! Besitz, Güte politischen Handelns und Gestaltens. Vermögen, hohe Erwerbseinkommen Nicht die Ebene des individuellen Ver- entstehen nicht ohne erhebliche ge- haltens (guter Mensch sein), sondern die sellschaftliche Vorleistungen und sind Überprüfung der gesellschaftlichen Ver- auch in demokratischen Rechtsstaaten Margit Appel hältnisse (gerechte Strukturen) steht dabei nicht losgelöst von patriarchalen und ksoe - Katholische Sozial- akademie Österreichs. im Mittelpunkt. machtbesetzten Denkmustern. Von die- sem Zusammenhang her gedacht, ist die 1) Aus ethischer Perspektive sind Besteuerung von Besitz und Vermögen - gerechte Strukturen und Rahmen- gerecht, weil es in keinster Weise dem bedingungen die Voraussetzung für Gemeinwohl dient, „Gelddynastien“ zu menschenwürdiges Leben, fördern. Damit Freiheit nicht ein Privileg - die Basis für gesellschaftliche Teilhabe der Einkommensstarken ist! und damit das Hauptziel von Politik. Steuern sind ein zentrales Instrument 4) „Leistung muss sich lohnen“ ist ein är- zur Erreichung dieses Ziels. In diesem gerlicher Gemeinplatz in den Reden Sinn sind sie gerecht, auch wenn es stän- politisch und wirtschaftlich Verantwort- dig gesellschaftliche Aushandlungspro- licher. Der Leistungsbegriff, mit dem hier zesse braucht, um zu „gerechteren“ Steu- operiert wird, ist schmal. Er spielt mit ern zu kommen. Gegenstand solcher der Absicht, die BürgerInnen in mehrere Aushandlungsprozesse muss sowohl Leistungsklassen zu spalten: in die Leis- die Evaluation sein, wie es gelingt, ver- tungsträgerInnen, die entlastet werden einbarte Ziele (Vermeidung von Armut, müssen (egal in welchem Ausmaß sie Verteilungsgerechtigkeit, Finanzierung ihre steuerlichen „Gestaltungsspielräu- gesellschaftlicher Aufgaben) zu errei- me“ wahrnehmen) und die Leistungs- chen; es muss aber auch darum gehen, empfängerInnen, die wieder stärker zur Dinge zu bewegen (Innovation zu för- Kasse gebeten werden müssen (obwohl dern, Wirtschaftsprozesse in Richtung sie relativ zu ihren Einkommen ohnehin Nachhaltigkeit zu lenken, neue Lebens- mehr Verbrauchssteuern zahlen). Aus ei- formen und veränderte Geschlechterrol- ner ethischen Perspektive aber gilt: len zu fördern und abzusichern). Steuern sollen steuern! Alle BürgerInnen sind erstklassig! 97 Steuern gegen Frauenarmut. Direkte Steuern Direkte Steuern sind solche, wo jene/r Daten, Fakten, Forderungen die/der die Steuern bezahlt, auch tatsäch- lich die Last trägt. Direkte Steuern können Für die meisten Menschen ist nach wie also nicht „überwälzt“ werden. vor der Erwerb die wichtigste – oft auch Zu den direkten Steuern gehören die einzige – Form, zu einem Einkommen zu Einkommens- und Lohnsteuer sowie die gelangen. Dennoch hat die Bedeutung von Gewinn- und Vermögenssteuern. Besitzeinkommen in den letzten Jahren Beispiel: eine Arbeiterin zahlt auf ihr enorm zugenommen. So haben sich die monatliches Einkommen Steuern in be- Gewinneinkommen zwischen 1964 und stimmter Höhe. Sie kann zwar unter Um- 1997 verachtfacht, die Besitzeinkommen ständen Vergünstigungen beim Finanzamt (inklusive Vermietung und Verpachtung) geltend machen, die restlichen Steuern im gleichen Zeitraum verfünfzigfacht!1 kann sie aber auf niemand anderen abwäl- Einkommen aus Vermögen verteilen sich zen. Die Steuerlast bleibt bei ihr. wesentlich ungleicher als Erwerbseinkom- men, weil nur relativ hohe Einkommen die Indirekte Steuern Möglichkeit haben, relevante Ersparnisse Hier zahlt jemand die Steuern, der/die anzulegen. Frauen sind aber bei diesen aber nicht die tatsächliche Last trägt, son- hohen Einkommen deutlich unterreprä- dern diese weitergeben kann. sentiert. Die Einkommenssteuerstatistik Das sind die Mehrwertsteuer (Umsatz- zeigt, dass sich unter den 60.000 am besten steuer) sowie andere Verbrauchssteuern Verdienenden nur 13 % Frauen fi nden, von (zB Tabaksteuer, Mineralölsteuer...) den obersten 600.000 sind 22% weiblich. Beispiel: Ein/e UnternehmerIn muss mo- Es ist daher davon auszugehen, dass die natlich die Umsatzsteuer für seine/ihre Ver- Unterschiede zwischen den Geschlechtern käufe an das Finanzamt zahlen, er/sie holt bei Besitz- und Vermögenseinkommen die sich aber diese von den KonsumentInnen bei den Erwerbseinkommen noch deutlich zurück, in dem er/sie die Waren um 20% übersteigen. teurer verkauft. Die Steuern sind für ihn Andererseits hat sich der Anteil von Steu- also nur ein „Durchläufer“. ern auf Gewinn- und Vermögen am gesam- ten Steueraufkommen in den letzten 20 Progressive Steuern Jahren stark verringert: Grundsätzlich sollen Steuern nach der Leistungsfähigkeit einer Person gezahlt Anteil an Bundessteuern in % 1985 2005 werden, das heißt, jemand der mehr Ein- Umsatzsteuer 37 34 kommen hat, soll auch mehr Steuern be- Sybille Pirklbauer Lohnsteuer 27 30 zahlen. Dieser Grundsatz ist in der pro- AK Frauenabteilung Gewinnsteuern 15 12 gressiven Lohn- und Einkommenssteuer Vermögenssteuern 1,2 0,3 umgesetzt: jemand mit einem geringen Einkommen zahlt einen geringeren Pro- Die Besteuerung der Unternehmensge- zentsatz an Steuern als jemand mit einem winne in Österreich liegt deutlich unter sehr hohen Einkommen. dem EU-Schnitt (4,9% des Abgabenauf- Dahinter steht die Vorstellung, dass das kommens gegenüber 8,9% in der EU-15), Finanzamt vom 100. Euro eines Monats- Vermögenssteuern (Vermögen-, Erb- einkommens nichts wegnehmen darf, weil schafts-, Grundsteuern) tragen in Öster- das Geld zur Gänze für die Lebenshaltung reich mit 1,3% den geringsten Anteil zum gebraucht wird. Von 1.000. Euro darf es Steueraufkommen von allen OECD- Län- ein bisschen was wegnehmen und vom dern bei. 10.000. Euro kann es schon die Hälfte sein, Würden die Vermögens- und Gewinn- weil dieses Geld nicht mehr für die Exis- steuern nur so viel zur Staatsfi nanzierung tenzsicherung benötigt wird. beitragen wie im EU-Durchschnitt, hätte Österreich in den letzten Jahren rund 7 Regressive Steuern Milliarden Euro pro Jahr mehr eingenom- Hier verhält es sich umgekehrt: je nied- men und damit beispielsweise 2004 einen riger das Einkommen ist, umso größer ist Budgetüberschuss von 3 Mrd. Euro gehabt der Anteil, der für Steuern aufgewendet (Defi zit 2004: 4 Mrd. Euro). werden muss. Dieser Eff ekt ist zwar nicht beabsichtigt, aber ergibt sich vor allem bei der Umsatzsteuer, weil niedrige Einkom- Steuerarten men kaum etwas sparen können und fast Es wird grundsätzlich in direkte und in- alles ausgeben müssen. direkte Steuern unterschieden. In ihrer Beispiel: Eine Arbeiterin verdient 800 Wirkung können Steuern progressiv oder Euro netto im Monat, sie muss das gesam- regressiv sein. te Geld ausgeben, um die Lebenshaltungs-

98 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele kosten für sich und ihren Sohn abdecken Die Lohnsteuer macht mit 17 Mrd. Euro zu können. Im Schnitt sind diese Ausgaben rund ein Drittel des gesamten Steuerauf- mit 20% Umsetzsteuer belegt. Da sie ihr kommens aus. gesamtes Einkommen konsumieren muss, macht die Steuer 20% ihres Einkommens Forderungen:2 Schaff ung eines transpa- aus. renten Gehaltssystems ohne steuerliche Ein höherer Angestellter bezieht ein Ein- Begünstigungen und diverse Zulagen (z.B. kommen von netto 3000 Euro monatlich, Umwandlung der Pendlerpauschale in ei- davon kann er relativ leicht 500 Euro spa- nen auszuzahlenden Fixbetrag)3 ren. Die restlichen 2500 Euro gibt er aus, ËErhöhung der Negativsteuer auf 240 wobei er ebenfalls im Schnitt 20% Umsatz- Euro im Jahr. steuer zahlt. Damit hat er 500 Euro Steuern ËAutomatische ArbeitnehmerInnen-Ver- gezahlt, was nur knapp 17% seines Netto- anlagung zur Sicherung des Anspruchs einkommens entspricht. Der gesparte Teil auf Negativsteuer. bleibt steuerfrei. ËEinführung der Negativsteuer auch für PensionistInnen. 1. Einkommens- und Lohnsteuer ËAbschaffung des Alleinverdiener-Ab- Lohnsteuer zahlen alle unselbstständig setzbetrages, Beibehaltung des Absetz- Beschäftigte und PensionistInnen. Die Ein- betrages für AlleinerzieherInnen.3 kommenssteuer zahlen Selbstständige. Die Lohnsteuer ist eine direkte und pro- 2. Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer) gressive Steuer, d.h. besser Verdienende Jeder Kauf einer Ware oder Dienstleis- zahlen eine höhere Steuer. Einkommen bis tung ist mit der Umsatzsteuer belegt. Diese rund 1.100 brutto im Monat zahlen keine beträgt üblicherweise 20% des Verkaufs- Lohnsteuer und profi tieren daher nicht von preises, für bestimmte Güter und Leistun- Steuererleichterungen. gen (Miete, Lebensmitteln, Bücher) ist sie Die Steuerstufen liegen bei 23%, 33,5% auf 10% ermäßigt. und 50 %. Zahlreiche Ausnahmen bewir- Die Umsatzsteuer ist eine indirekte Steu- ken, dass die tatsächlich gezahlte Steuer er, die regressiv wirkt. Niedrigere Einkom- deutlich unter diesen Prozentsätzen liegt. men zahlen also mehr als höhere. Hier einige wichtige Ausnahmen: Früher waren besondere Waren wie Pel- - die Sozialversicherungsbeiträge und alle ze, Parfüm, Auto usw. auch mit einer Luxus- beruflichen Aufwendungen (Arbeitsklei- steuer belegt, diese wurde jedoch in den dung, Kosten für Pendeln, Fortbildung, neunziger Jahren abgeschaff t. usw.) gelten nicht als Einkommen und Die Umsatzsteuer ist eine der wenigen werden daher nicht besteuert Bereiche, in denen es eine EU-weite Har- - bei Unselbstständigen wird das 13. und monisierung gibt. Es gibt eine einheitliche 14. Monatsgehalt fix mit 6 % versteuert, Art der Berechnung (einheitliche Bemes- egal wie hoch das Einkommen ist sungsgrundlage) sowie ein Mindestsatz - der Alleinverdienerabsetzbetrag steht von 15 %. Zudem sind ein bis zwei ermä- zu, wenn der/die EhepartnerIn nichts ßigte Sätze für bestimmte Güter möglich, oder wenig verdient. Er beträgt zumin- die mindestens 5 % betragen müssen. dest 364 Euro im Jahr und wird höher, je Auf Grund dieser EU-weiten Harmoni- mehr Kinder vorhanden sind. sierung ist es jedoch nicht möglich, neue Steuern auf Verbrauch einzuführen. Begünstigungen im Bereich der Einkom- mensteuer kommen – wie selbst vom Fi- Die Umsatzsteuer macht mit 16,5 Mrd. nanzministerium argumentiert wird - über- Euro rund ein Drittel des gesamten wiegend den männlichen Steuerzahlern Steueraufkommens aus. Das bedeutet, zugute. auch eine nur relativ geringe Senkung Alle Einkommen – auch steuerfreie - zah- dieser Steuer hätte massive Einnah- len zudem Beiträge zur Sozialversicherung meausfälle für den Staat zur Folge. in der Höhe von rund 18% (ab 323 Euro Monatseinkommen). Um diese zu entlas- Forderungen: ten wurde die so genannte Negativsteu- ËErhöhung der Steuersätze für Luxusgü- er eingeführt: 10% der Beiträge, maximal ter und niedrigere Steuersätze für Ver- aber 110 Euro im Jahr werden zurückge- brauchsgüter des täglichen Bedarfs. zahlt, wenn das Einkommen so niedrig ist, ËSteuer-Rückerstattung der Mehrwert- dass keine Lohnsteuer bezahlt wird. Dafür steuer für niedrige Einkommen. muss eine ArbeitnehmerInnenveranlagung (vulgo Jahresausgleich) beim Finanzamt gemacht werden, was nur rund die Hälfte aller ArbeitnehmerInnen auch tut.

99 3. Gewinnsteuern ËEinführung der einheitsmäßigen Besteu- Bei kleineren Unternehmen (Personen- erung: dabei wird der Anteil der realen gesellschaften) ist Gewinn automatisch Tätigkeit in einem Land anhand der Fak- zugleich das Einkommen der Personen, de- toren Kapital, Umsatz und Beschäftigung nen das Unternehmen gehört und unter- genommen, der entsprechende Anteil liegt daher der Einkommenssteuer. wird dann mit dem Steuersatz des jewei- Wenn von Gewinnbesteuerung die Rede ligen Landes versteuert. ist, geht es vor allem um größere Unter- nehmen. Diese sind zumeist als Kapitalge- 4. Vermögenssteuern sellschaften organisiert, das heißt sie sind Eine „echte“ Vermögenssteuer auf Besitz eigene „Rechtspersönlichkeiten“ (juristi- gibt es in Österreich seit 1993 nicht mehr, sche Personen). Bei Kapitalgesellschaften jedoch gehören auch Grund-, Erbschafts- kann der Gewinn nicht bestimmten Perso- und Schenkungssteuern dazu. Diese Steu- nen zugeordnet werden und wird daher als ern werden zum Teil auf Basis der Einheits- gesamt auf der Ebene des Unternehmens werte berechnet, das sind fi x festgelegte besteuert. Diese Steuer nennt sich „Körper- Werte für Grundstücke und Immobilien, schaftssteuer“ (KöSt). die seit 1983 nicht mehr angepasst wurden In Österreich sind nur rund ein Viertel und somit im Schnitt nur mehr ein Zehntel der Unternehmen KöSt-pfl ichtig, der Rest des tatsächlichen Marktwertes ausmachen. der zumeist kleinen Unternehmen zahlt Dem entsprechend ist auch die Steuerleis- Einkommenssteuer. Allerdings zahlen tung dann sehr niedrig. selbst von den KöSt-pfl ichtigen Unterneh- Eine Änderung der Einheitswerte würde men zwei von drei mangels ausreichenden eine Umverteilung innerhalb der in der Gewinns keine Steuer. Darunter sind auch Landwirtschaft Tätigen zur Folge haben. prominente Großunternehmen, die die Größere landwirtschaftliche Betriebe wä- Möglichkeiten des Steuersystems, Steuer- ren davon betroff en, KleinbäuerInnen zah- zahlungen zu reduzieren, voll ausschöpfen. len ohnehin (fast) keine Steuern. Gerade für international tätige Unterneh- Die Rechtsform der eigennützigen Privat- men ist es relativ leicht, zumindest einen stiftung ermöglicht es, dass in Österreich Teil der erzielten Gewinne in Ländern mit ausgerechnet die Reichsten die geringsten extrem niedrigen Gewinnsteuern („Steuer- Steuersätze auf ihre Kapitaleinkommen oasen“) zu verschieben, auch wenn dort zahlen. Während etwa die kleinen Sparer- gar keine tatsächliche Produktion erfolgt. Innen 25% Kapitalertragssteuer auf ihre Obwohl die Unternehmensgewinne stei- Zinserträge zahlen müssen, ist der Steuer- gen, sinkt ihr Beitrag zum Steueraufkom- satz in einer Privatstiftung mit 12,5% nur men laufend. Neben den Möglichkeiten halb so hoch.4 zum Steuersparen ist der Grund dafür der so genannte „Steuerwettlauf“. Die einzel- Der Beitrag von Steuern auf Vermö- nen Länder versuchen Unternehmen durch gen zur Staatsfinanzierung hat sich besonders niedrige Gewinnsteuern anzu- in den letzten 30 Jahren um zwei Drit- locken und unterbieten sich dabei laufend. tel verringert, obwohl die Vermögen Auch in Österreich wurden die Konzerne stark angewachsen sind. Damit tragen durch die Absenkung des Körperschafts- Steuern auf Vermögen in Österreich steuersatzes von 34% auf 25% entlastet. nur 1,3% des gesamten Abgabenauf- kommens bei – der niedrigste Wert von Die Körperschaftssteuer trug 2001 noch allen Industrieländern (OECD 2002). 6,2 Mrd. Euro zum Steueraufkommen bei, 2005 werden es voraussichtlich Forderungen: nur mehr 3,6 Mrd. Euro sein. Das ist ein ËDeutliche Anhebung der Einheitswerte. Rückgang von 42 % in nur vier Jahren. ËErhöhung des Steueraufkommens auf Basis von Vermögen, Erbschaft und Forderungen: Schenkung. ËEU-weite Mindestbesteuerung: eine Das könnte erfolgen durch: einheitliche Bemessungsgrundlage und ËWiedereinführung einer Vermögens- einheitliche Gewinnsteuersätze auf ho- steuer mit hohen Freibeträgen (die nicht hem Niveau sollen eingeführt werden der Steuer unterliegen) und progressi- (35 - 40%). vem Verlauf des Steuersatzes. ËFür EU-Tochterfirmen im Ausland muss ËErhöhung der Erbschafts- und Schen- das Wohnsitzlandprinzip angewandt kungssteuer. werden: Liegt der Gewinnsteuersatz in ËAbschaffung der Steuerprivilegien der diesem Land niedriger, muss die Diffe- eigennützigen Privatstiftungen. renz zum Steuersatz in der EU nachver- steuert werden. Damit werden Gewinn- verschiebungen in Steueroasen sinnlos.

100 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5. Wertschöpfungsabgabe Allerdings werden dadurch auch Inves- Derzeit ist der Faktor Arbeit extrem stark titionen teurer, was zu weniger Beschäfti- mit Abgaben (Sozialversicherungsbei- gung führen kann. Allerdings sind Investi- träge, Lohnsummensteuern, Lohnsteuer) tionen auch von vielen anderen Faktoren belastet. Das Nettoeinkommen der Arbeit- (Höhe der Zinsen, Erwartungen über die nehmerInnen beträgt nur rund 60% der Ar- Nachfrage und Kaufkraft usw.) abhängig, beitskosten der ArbeitgeberInnen. sodass eine nicht zu hohe Wertschöpfungs- abgabe keine Auswirkung haben muss. Eine Wertschöpfungsabgabe würde er- möglichen, die Grundlage für die Abgaben Forderungen: zu verbreitern und auch andere Faktoren ËEinführung einer Wertschöpfungsab- einzubeziehen. Gründe für eine solche Än- gabe zur Entlastung des Faktors Arbeit. derung sind: · breitere Finanzierungsquellen für die So- zialversicherung 1 Guger/Marterbauer: Die langfristige Einkommensver- teilung in Österreich; WIFO; publiziert im Sozialbericht · Hohe Abgabenlast auf Arbeit hemmt Be- 2003/04 schäftigung 2 Diese sowie die weiteren genannten Forderungen · Sinkende Beschäftigung durch technolo- wurden im Rahmen der AG Frauen und Armut, sowie der Frauen-Vor!-Konferenz diskutiert und von vielen beteilig- gischen Fortschritt und Rationalisierung ten Frauen als sinnvolle Instrumente für ein „Steuern ge- · Einkommen aus Besitz und Vermögen gen Frauen-Armut“ unterstützt. sind weit überproportional gestiegen 3 Zu dieser Forderung wurde besonders kontrovers diskutiert und kein Konsens erreicht. 4 Ab ein bis zwei Millionen Euro wird von Finanzbera- Damit würde die Einführung der Wert- terInnen die Einrichtung einer Privatstiftung empfohlen. schöpfungsabgabe dazu führen, dass ar- In Österreich gibt es rund 2.500 [eigennützige] Privatstif- tungen, darunter Prominenz wie Karl Wlaschek, Martin beitsintensive Betriebe entlastet werden. Bartenstein oder Thomas Prinzhorn. Der Dienstleistungsbereich, und damit die vielen Frauen, die in diesem Sektor arbei- ten, könnten davon profi tieren.

„1000 Stunden sind genug“ Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitik als Instrumente zur Vermeidung von Frauenarmut

Forderungen der Frauen-VOR!-Konferenz 19. Oktober 2005

1) Offensive gesellschaftliche Debatte über gesellschaftlich notwendige Arbeit und ihre Bewertung

2) Zur Arbeitszeit: ËReduktion der gesetzlichen Normalarbeitszeit auf 30 Std/ Woche mit Lohnausgleich für niedrige Einkommen ËLebensarbeitszeit-Konto – gespeist aus: • Herkömmlicher Erwerbsarbeit • Sorgearbeit und ehrenamtlicher Arbeit (derzeit unbezahlte Arbeit) • Eigenarbeit

3) Zur Arbeitsmarktpolitik: ËHöhere Qualifizierung und Frauenlaufbahnberatung statt Kurz-Kurse durch das AMS, besonders für niedrig qualifizierte Frauen und Personen mit Behinderungen ËKonsequente Umsetzung des Anti-Diskriminierungsgesetzes ËMehr und bessere Kinderbetreuungseinrichtungen ËGrundeinkommen mit Individualprinzip ËVergabegesetz NICHT anwenden im Bildungs- u Sozialbereich ËEntkoppelung von Erwerbstätigkeit und Sozialversicherung

101 5.4 Gemeinsamer Einsatz für ein soziales Europa

Armutsnetzwerke aus ganz Europa setzen sich im Der Kampf gegen Armut in Ungarn Europäischen Armutsnetzwerk EAPN seit über 15 Jahren Izabella Marton (EAPN Ungarn) Zu den am stärksten von Armut betroff e- gemeinsam für einen effektiveren Kampf gegen Armut nen Gruppen zählen (auch) in Ungarn Kin- und soziale Ausgrenzung ein. dern, kinderreiche Familie, Alleinerziehende, Erwerbsarbeitslose, Familien mit einem Man- Seit seiner Gründung im Jahr 1990 hat gel an Bildung. das Europäische Armutsnetzwerk EAPN Im besonderen Maße von Armut und so- nicht nur einen Zuwachs an nationalen zialer Ausgrenzung betroff en sind Roma. So Mitgliedsnetzwerken – derzeit sind es 21 liegt beispielsweise die generell niedrige un- Netzwerke – sondern auch jede Menge Er- garische Beschäftigungsquote von 57% für fahrungszuwachs im Hinblick auf den not- Roma bei nur 21%. wendigen Kampf gegen Armut und sozia- Sparsame Sozialausgaben (Sozialquote ler Ausgrenzung auf europäischer Ebene von nur 19,8%), ein die Ungleichheiten ver- zu verzeichnen. stärkendes Bildungssystem und wachsende Dabei arbeitet das EAPN nach den Prin- Einkommensdiff erenzen, sowie starke regio- zipien der Partizipation und Basisnähe und nale Unterschiede verstärken die Probleme. Michaela Moser versteht sich nicht nur als Lobbyingorga- Zur Vermeidung und Bekämpfung von ist Sozialexpertin und nisation, sondern auch und vielmehr als Armut und sozialer Ausgrenzung fehlen Ethikerin. Langjährige „Stimme derer, die keine Stimme haben“, ein gesetzliches Mindesteinkommen, viele Mitarbeit in der Armutskonferenz nämlich der beinahe 70 Millionen armuts- der notwendigen grundlegenden sozialen und dem European Anti betroff ener Menschen innerhalb der EU. Dienstleistungen, sowie eine ausreichende Poverty Network (EAPN). Derzeit leitet sie das PR- Finanzierung und Stärkung sozialer Organi- Büro der ASB Schuldner- Zu den zentralen Aufgaben des EAPN sationen, die nur in geringem Maße soziale beratungen GmbH. zählt es dafür zu sorgen, dass Armutsver- Dienstleistungen anbieten können.

Weitere Informationen: meidung und –bekämpfung nicht von der Für die Zukunft wurde von Seiten der Re- Das vierteljährliche politischen Agenda der Europäischen Uni- gierung ein „100-Schritte-Programm“ ange- Informationsblatt on verschwinden, sondern vielmehr Nach- kündigt, das u. a. Verbesserungen im Hinblick Network News, die Dokumentationen der druck und Eff ektivität im Hinblick auf die auf die Gesundheitsversorgung, Integration Treff en von Menschen für die Armutsreduzierung notwendigen in den Erwerbsarbeitsmarkt, Bildung, Kin- mit Armutserfahrungen Strategien gesteigert werden. derbeihilfen sowie gerechteres Steuersystem u.v.m. fi nden sich – in englischer und französi- verspricht. scher Sprache – auf der Neben Informations-, Monitoring- und Das 2004 gegründete Ungarische Anti-Ar- Website des EAPN Lobbyingarbeit im Hinblick auf relevante mutsnetzwerk besteht aus mehr als 70 Mit- www.eapn.org. EU-Strategien und –Pläne bildet die Or- gliedsorganisationen, darunter sehr große Umfassende Informa- ganisation und Koordination des interna- nationale Organisationen wie das Rote Kreuz, tionen zu aktuellen tionalen Austauschs und die Weiterent- aber auch kleine lokale und Basis-Organisati- sozial-politischen Entwicklungen auf wicklung von Armutsnetzwerken in den onen. Einzelpersonen können das Netzwerk EU-Ebene sind – in verschiedenen Ländern einen Schwer- als fördernde Mitglieder unterstützen. deutscher Überset- punkt der Arbeit. Die Aktivitäten des Netzwerks umfassen zung – im Europa- Corner der Website Zunehmend wird auch die globale Di- laufendes Monitoring nationaler Politik, der Armutskonferenz mension von Armut in die politisch-strate- Beiträge zu nationalen Aktionsplänen zur www.armut.at gischen Ansätze integriert, was u. a. in der Armutsbekämpfung, themenspezifi sche nachzulesen. Vernetzung mit und der Beteiligung des Veranstaltungen und Workshops und Infor- EAPN an Europäischen und Weltsozialforen mationsverbreitung, u. a. durch eine eigene seinen Ausdruck fi ndet. Zeitschrift. Im Herbst 2005 wurde ein erstes unga- Große Bedeutung haben auch die seit ei- risches Treff en von Menschen mit Armut- nigen Jahren jeweils im Rahmen der Früh- serfahrungen organisiert, an dem auch der jahrspräsidentschaft von EAPN organisier- Premierminister, der Vizepräsident der Nati- ten jährlichen Treff en von Menschen mit onalversammlung, der Sozialminister sowie Armutserfahrungen, die dazu dienen deren ein Mitglied des Europäischen Parlaments Rolle als relevante AkteurInnen zu stärken teilnahmen. und dafür zu sorgen, dass deren Stimme Zentrale Herausforderungen für die Zu- und Vorschläge in der Weiterentwicklung kunft liegen in der kontinuierlichen Weiter- und Umsetzung politischer Maßnahmen arbeit mit Menschen mit Armutserfahrungen Gehör fi nden und Einfl uss nehmen. und der Umsetzung, der beim ersten Treff en erarbeiteten Forderungen, sowie in der Um- wandlung des ungarischen Armutsnetzwerks von einem Netzwerk der Armuts-Professiona- listInnen in ein Netzwerk von Betroff enen.

102 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele Das vorliegende dritte Buch des EAPN analysiert beste- hende EU-Strategien, die ei- nen entscheidenden Beitrag zur Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung leisten sollen und disku- tiert jene Ansätze, die nötig wären, um die Vision eines Europas ohne Armut und soziale Ausgrenzung in die Realität umzusetzen.

Die Publikation enthält eine Reihe von Beiträgen, die das dramatische Versagen der Politik im Hinblick auf eine effiziente Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU aufzeigen. Neben der Analyse der Ur- sachen für dieses Versagen werden Ansätze für eine Poli- tik vorgestellt, die die alltäg- Armutsbekämpfung in der Slowakei lichen Hoffnungen der Bür- Laco Oravec (Milan Simecka Foundation) arbeitet am gerinnen und Bürger der EU Aufbau eines slowakischen Armutsnetzwerkes mit. bzw. aller in der EU lebenden Menschen aufgreifen und Die Slowakei gehört gemeinsam mit Ir- dass nur wenige von ihnen an die Wirksam- umzusetzen suchen. land und Griechenland zu den drei EU-Mit- keit solcher Maßnahmen glauben. Darüber hinaus enthält gliedsländern mit der höchsten offi ziellen das Buch Porträts von Men- Armutsrate von 21% (vgl. Österreich 13%, Die slowakische Regierungspolitik ist schen, die in verschiedenen Ungarn 10%, EU-Schnitt 15%). stark am Wirtschaftswachstum orientiert, Ländern der EU von Armut damit einhergehend wird Beschäftigungs- und sozialer Ausgrenzung Auch der positive Einfl uss sozialer Trans- politik als wirksamstes Mittel im Kampf betroffen sind. Ihre Porträts bieten einen Einblick in die ferleistungen (mit Ausnahme von Pensio- gegen Armut betrachtet, aktivierende Wirklichkeit, die sich hinter nen) gehört mit 25% zu den geringsten der Workfare-Programme ersetzen fehlende der statistischen Zahl von EU (vgl. Österreich 45%, Ungarn 33%, Grie- Sozialleistungen. 68 Millionen Menschen chenland 12%, EU-Schnitt 36%). Zusätzlich verbirgt, die in der EU von muss hier angemerkt werden, dass jegliche Direkte Maßnahmen und Projekte zur Armut und sozialer Aus- Daten aus dem slowakischen Mikrozensus Vermeidung und Bekämpfung von Armut grenzung betroffen sind. Sie zeigen auf, welcher Schaden in ihrer Qualität zu hinterfragen sind. und sozialer Ausgrenzung werden fast aus- Menschen durch die Verwei- schließlich mit europäischen Mitteln fi nan- gerung von Grundrechten Armut hat in der Slowakei „Tradition“, im ziert. zugefügt wird, aber auch, Zuge der postkommunistischen Transfor- wie Menschen, die von Ar- mationsprozesse hat sich jedoch vor allem Es gibt eine starke Zunahme und positive mut und sozialer Ausgren- zung betroffen sind, große der Grad an Erwerbsarbeitslosigkeit dra- Entwicklung von NGOs, die vielerorts nicht Hürden überwinden und zur matisch erhöht und liegt derzeit bei etwa nur notwendige, sondern auch innovative Verwirklichung jener EU bei- 14%. soziale Dienstleistungen anbieten. Diese tragen, die wir wollen. haben jedoch vor allem im Bereich der Fi- Insgesamt hat die Armut zugenommen, nanzierungen mit erheblichen Benachteili- Das Buch kann gegen einen Unkostenbeitrag von € 3,- insbesondere im Blick auf die aufgrund gungen gegenüber staatlichen Einrichtun- bei der Armutskonferenz ethnischer Diskriminierung besonders ar- gen zu rechnen. bezogen werden. mutsbetroff enen Roma muss neben der Berücksichtigung der Dimension sozialer Neben innovativen Dienstleistungsan- Ausgrenzung auch von absoluter Armut geboten muss also in Zukunft auch mehr gesprochen werden. Augenmerk auf Öff entlichkeitsarbeit und politisches Lobbying gesetzt werden. Roma werden überproportional diskri- miniert, vor allem im Hinblick auf ihren Ein slowakisches Armutsnetzwerk befi n- Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt. Auch det sich derzeit im Aufbau, die Vernetzung wenn Roma-Angehörige in den letzten und Zusammenarbeit mit dem EAPN und Jahren verstärkt in entsprechende Trai- einzelnen nationalen Netzwerken ist be- ningsprogramme vermittelt wurden, liegt reits im Gange und soll zukünftig noch ver- ihre Arbeitslosenquote – gemessen an der stärkt werden. ILO-Defi nition – bei 64%. Kein Wunder also, 103 5.5 Lebenschancen und soziale Inklusion – der Beitrag der Daseinsvorsorge1

„Öffentliche Dienstleistungen“ bezeichnen nicht nur die rakteristikum es war und ist, nicht-gewinn- Art der Dienstleistungen, sondern insbesondere auch orientiert zu arbeiten. die Art der Erbringung: staatlich bzw. unter staatlicher Das Konzept der öff entlichen Verantwortung. Ein wichtiges Merkmal ist, dass die Erbringung Dienstleistungen von allen (über Steuern und Abgaben) „Öff entliche Dienstleistungen“ bezeich- finanziert auch allen in gleicher Qualität zu Verfügung nen nicht nur die Art der Dienstleistungen, sondern insbesondere auch die Art der Er- stehen. Ob eine Dienstleistung als öffentliche Dienstleis- bringung: staatlich bzw. unter staatlicher tung angeboten wird, ist primär eine politische, keine Verantwortung. Ein wichtiges Merkmal ist, ökonomische Entscheidung. dass die Dienstleistungen von allen (über Steuern und Abgaben) fi nanziert, auch al- len in gleicher Qualität zu Verfügung ste- In den drei Jahrzehnten nach dem zwei- hen. Ob eine Dienstleistung als öff entliche ten Weltkrieg kam es beinahe in ganz Dienstleistung angeboten wird, ist primär Europa zum Aufbau eines umfassenden eine politische, keine ökonomische Ent- Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaates. Dieser er- scheidung. Diese Öff entlichkeit impliziert brachte nicht mehr nur die klassischen auch, dass diese Dienstleistungen (und Funktionen des liberalen Staatswesens des Güter) Teil des öff entlichen bzw. Gemein- 19. Jahrhunderts (Gewährleistung innerer eigentums sind. Sie werden verbunden und äußerer Sicherheit, Durchsetzung und mit den Stichworten Ausgleich von Be- Garantie von Eigentumsrechten und indi- nachteiligungen, Verteilungsgerechtigkeit, viduellen Freiheiten), sondern sein Aufga- gesellschaftliche Teilhabe und Solidaritäts- benfeld wurde auf eine ganze Reihe neuer prinzip sowie universeller Zugang, Qualität Bereiche ausgedehnt, welche zwei zentra- und Versorgungssicherheit. len Zielen dienten. Ganz off ensichtlich ist dieses Staatsmo- dell, das auch die überwiegende Mehrzahl Einerseits der Zurverfügungstellung der der Mitgliedsstaaten der europäischen Uni- für das Funktionieren industrialisierter on seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Volkswirtschaften zentralen Infrastrukturen geprägt hat, sowohl von der gesellschaft- Veronika Litschel in Bereichen wie Schienen- und Straßen- lichen Entwicklung als auch dem politi- ist Arbeiterkammerrätin. verkehr, Elektrizitäts- und Gasversorgung, schen Diskurs in den letzten Jahren massiv Erfahrungen zum Thema konnte sie als Leiterin des Telekommunikation und Postverkehr. in Frage gestellt worden. Globale Prozesse Netzwerkes Sozialwirt- Andererseits aber auch der Gewährleis- der Deregulierung, Liberalisierung und Pri- schaft (Equal 1) sammeln. tung des sozialen Zusammenhalts und der vatisierung von staatlichen Aufgaben ha- Werner Raza politischen Legitimation des demokrati- ben stattgefunden, gleichzeitig erlebte das ist Mitarbeiter der schen Staates durch die solidarische Absi- liberale Staatsverständnis in einer ökono- Abteilung EU und Inter- cherung existentieller Risiken der/des Ein- mistisch radikalisierten Form eine Renais- nationales der AK Wien und Lehrbeauftragter zelnen aufgrund von Unfall, Krankheit und sance. Und der Wohlfahrtsstaat mit seinem an der Wirtschaftsu- Alter in Form solidarisch fi nanzierter So- umfangreichen öff entlichen Sektor wurde niversität Wien. For- schungsschwerpunkte: zialversicherungssysteme; der Förderung einer systematischen Kritik ausgesetzt, in Politische Ökologie, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe Folge delegitimiert und sukzessive zurück- Internationale Politi- durch die Einrichtung eines frei zugängli- gefahren. Dazu trug auch die Bedeutungs- sche Ökonomie und Regulationstheorie. chen, allgemeinen öff entlichen Schul- und zunahme der Finanzmärkte und der paral- Bildungswesens und des Auf- und Ausbaus lel dazu vollzogene Politikwechsel zu einer öff entlicher Kultur- und Medieneinrichtun- restriktiveren Geld- und Fiskalpolitik (Stich- gen, sowie verschiedener anderer Formen wort: Stabilitäts- und Wachstumspakt) bei, öff entlicher Aktivitäten. welcher öff entliche Haushalte (scheinbar) Diesen beiden zentralen Funktionen unter einen permanenten Spar- und Kon- diente der moderne Wohlfahrtsstaat mit solidierungskurs zwang. seinem umfangreichen öff entlichen Sektor. Zentrale öff entliche Dienstleistungen wur- Entwicklung auf nationalstaatlicher den und werden daher vom Staat selbst Ebene: Sparpolitik verstärkt erbracht oder unter Vorgabe gesetzlicher Privatisierungsdruck Standards an Dritte wie Genossenschaften Neben den großen Infrastruktur- und oder anderen Formen der Selbstverwal- Verbunddienstleistungen (wie z.B. Eisen- tung, Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen bahn, Energie, Post) werden öff entliche u.a. übertragen, deren gemeinsames Cha- Dienstleistungen oft von Kommunen und

104 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele Gemeinden erbracht. Bereits in den 1980- Grundkonsens, rückt der freie Wettbewerb er Jahren ist die Finanzkrise der Kommu- und der Rückbau des Staates auf seine nen bemerkbar (in Deutschland noch Kernfunktionen europaweit in den Vorder- stärker als in Österreich). Die Null-Defi - grund. zit-Politik der österreichischen Bundesre- gierung triff t die Länder und Gemeinden Ein starker, nationaler öff entlicher Sektor zusätzlich dadurch, dass sie seit dem Jahr steht mit der vollkommenen Umsetzung 2000 verpfl ichtet wurden, ihre Haushalte der Grundfreiheiten und vor allem dem ausgeglichen zu halten bzw. budgetäre freien Dienstleistungsverkehr im Binnen- Überschüsse zu erzielen2 und damit zum markt in Widerspruch. Auch das europäi- Ausgleich nationaler Defi zite beizutragen. sche Wettbewerbs- und Beihilfenrecht un- terwirft den öff entlichen Sektor einer Fülle Die Maastricht-Kritierien und die damit von einschränkenden Bestimmungen. Öf- verbundene Beurteilung bestimmter Bud- fentliche Dienstleistungen sind jedoch getgestaltungen haben ebenso Anteil an Umverteilungsinstrumente. Sie kommen dieser Entwicklung. Es kam und kommt zu sowohl den NutzerInnen als auch den in einer beträchtlichen Zahl von Ausgliede- diesem Sektor Beschäftigten zugute. Da sie rungen3. Ausgliederungen erweitern den durch nationale oder regionale Steuermit- Budgetspielraum: unter anderem werden tel fi nanziert werden, macht es durchaus Kreditfi nanzierungen von Investitionen Sinn, damit regionale oder nationale Ziele, im Rahmen der Maastricht-Kriterien wie- namentlich die Beschäftigungsförderung, der möglich und Personalkosten z.B. des sicherzustellen. Magistrats scheinen als Sachkosten von ei- genständigen Einheiten auf. Die zur Zeit viel diskutierte Dienstleis- tungsrichtlinie6 spiegelt diesen speziellen Internationale Entwicklungen: Finanz- Ansatz der öff entlichen Dienstleistungen kapital erhöht Verwertungsdruck nicht wider. Nach dem gültigen Entwurf Die Verschiebungen von Realkapital zu werden weite Teile der Daseinsvorsorge Finanzkapital zeigen auch in Hinblick auf unter die Richtlinie fallen. den Wohlfahrtsstaat ihre Wirkung.4 In ei- Damit unterliegen auch die öff entlichen nem auf die Entwicklung des Binnenmark- Dienstleistungen zunehmend dem Kon- tes orientierten Wirtschaftsmodell haben zept des freien Marktes und dem Wett- Unternehmen bzw. das auf die Waren- bewerb. Das führt zu einer Abkehr vom produktion gerichtete sog. Realkapital ein Konzept der öff entlichen, gemeinwohlori- starkes Interesse an einem gut ausgebau- entierten Erbringung. ten, von der öff entlichen Hand bereitge- Ähnliche Probleme, wenn auch etwas stellten Wohlfahrtsstaat. Ermöglicht dieser aus der Diskussion gerückt, sind mit dem doch eine relativ stabile Inlandsnachfrage. GATS im Rahmen der WTO verbunden.7

Für die zunehmend international agie- Welche Gegenstrategien gibt es? rende und dem Shareholder Value, d.h. Privatisierung verhindern! der größtmöglichen Gewinnerzielung zu- Privatisierung ist kein populäres politi- gunsten der AktionärInnen, verpfl ichteten sches Programm. Eine Umfrage der Sozi- Großindustrie verliert der Inlandsmarkt an alwissenschaftlichen Studiengesellschaft Bedeutung. Hier dominiert das Interesse (SWS) vom Oktober 2003 belegt eindrucks- an profi tablen Verwertungsmöglichkeiten. voll, dass die überwiegende Mehrheit der Mit der Forderung nach Effi zienzsteigerung ÖsterreicherInnen (67%) die Privatisierun- und Leistungsverbesserung wird daher gen der letzten Jahre ablehnt. Nur 22% die Privatisierung staatlicher Wirtschafts- fanden auch positive Aspekte. Haben die bereiche und öff entlicher Unternehmen BürgerInnen eine Chance zu artikulieren, verlangt. Dies ungeachtet der zahlreichen was sie von Privatisierungen halten, sind schlechten Erfahrungen mit privatisierten die Resultate eindeutig, wie auch die nach- öff entlichen Dienstleistungen weltweit.5 folgenden Beispiele von verhinderten Pri- Das trägt zur Delegitimierung eines um- vatisierungen zeigen: fangreichen öff entlichen Sektors bei. Störrische Schweizer: Energieliberalisie- rung abgelehnt! Schweizer Uhren gehen Entwicklungen in der bekanntlich anders. Einen der Bevölkerung europäischen Union im September 2002 von ihrer Regierung Der Ausbau des europäischen Binnen- vorgelegten Gesetzesentwurf zur Libera- marktes verstärkt diese Tendenzen. Galt lisierung des Strommarktes lehnten sie in den meisten Ländern der Europäischen mehrheitlich ab. Angesichts der Erfahrun- Union eine gesellschaftliche Umvertei- gen in Kalifornien und anderswo lag den lung durch solidarische Finanzierung über SchweizerInnen die Versorgungssicherheit Steuern und Abgaben als sogenannter und der Erhalt ihrer kommunalen Betriebe 105 stärker am Herzen als eine die EU-Energie- kratzt. Die Fixierung auf ein rein betriebs- liberalisierung nachvollziehende Politik ih- wirtschaftliches Denken – Kostenreduktion rer Bundesregierung. und Gewinnmaximierung – geben den öf- fentlichen Einrichtungen den Rest, und füh- Noch störrischere „Schweizer“ in Süda- ren zur Schließung von Nebenbahnen und merika: In Uruguay, das in der ersten Hälfte Postämtern, zu überfallsartigen Kürzungen des 20. Jahrhunderts aufgrund seiner poli- von Pensionsleistungen und zu Einschnit- tischen Stabilität und seines Wohlstands ten im Bildungs- und Gesundheitssystem. auch die „südamerikanische Schweiz“ ge- Die Lösung ist allerdings nicht Privatisie- nannt wurde, teilt die Bevölkerung noch rung, sondern die radikale Verbesserung eine weitere Eigenschaft mit den Eidgenos- und Demokratisierung der öff entlichen sInnen im Norden: schon dreimal wurden Dienstleistungen! Privatisierungen von Staatsunternehmen Ein erster Schritt besteht darin, die Trans- in Volksabstimmungen abgelehnt. 1995 parenz in der Entscheidungsfi ndung zu ging es dabei um die staatliche Telekomge- erhöhen und Konzepte zur Partizipation sellschaft, 2003 stimmten 60% der Wähler- der NutzerInnen und Beschäftigten zu ent- Innen gegen ein Gesetz zur Privatisierung wickeln. Die NutzerInnen müssen in allen der staatlichen Erdölgesellschaft und 2004 öff entlichen Einrichtungen aktiv vertreten wurde die Privatisierung der Wasserversor- sein und die Qualität der Dienstleistungen gung mit großer Mehrheit abgelehnt. eff ektiv kontrollieren können. Auch haben Beschäftigte oft mehr Einblick, wo etwas Die öff entliche Hand als „Unter- verbessert werden soll und kann, als eine nehmerin“ neu positionieren! bürokratische Zentrale. Eine gesetzliche In Bezug auf öff entliche Dienstleistungen Verankerung von Mitentscheidungsrech- tritt die öff entliche Hand immer stärker als ten aller Stakeholder ist unabdingbar. Alle Unternehmerin auf. Die besondere Rolle Entscheidungsgremien in zentralen öf- der öff entlichen Hand (etwa zur Konjunk- fentlichen Versorgungsunternehmen und turstabilisierung, zum ökologischen Um- Regulierungsbehörden sollten gleichbe- bau, sozialen Ausgleich, oder zur Beschäf- rechtigt durch EigentümerInnen, Manage- tigungsförderung) im unternehmerischen rInnen, ArbeitnehmerInnen und NutzerIn- Handeln und im Tätigen von Investitionen nen besetzt sein. wird zu Gunsten kurzfristiger Kostenre- duktionsziele außer Acht gelassen. Gleich- Mutuality – ein Ansatz für ein zeitig muss sie aber früher oder später für partizipatorisches Wirtschaften8 die Folgen dieser Sparpolitik aufkommen, In Großbritannien wurde in den letzen denn demokratische Politik benötigt zu 10 Jahren eine alte, auf das 6. Jahrhundert ihrer Legitimation ein gewisses Maß an zurück gehende Idee wieder belebt - die sozialem Ausgleich. Die öff entliche Hand so genannte „Mutuality“. Dahinter verbirgt könnte ihre Rolle als potente Nachfragerin sich eine neue Vision für den Staat, die nicht und Anbieterin von Leistungen viel stärker darauf aufbaut, die BürgerInnen mit öff ent- für Formen von alternativem und nach- lichen Dienstleistungen zu versorgen, son- haltigem Wirtschaften nutzen. So ist zum dern mit ihnen zu kooperieren. „Mutuality“ Beispiel nicht einzusehen, warum der Preis bedeutet, dass eine Organisation in enger im Rahmen von Ausschreibungsverfahren Zusammenarbeit oder unter Kontrolle stärker gewichtet wird als Fragen der Nach- der wichtigsten Stakeholder geführt wird. haltigkeit. Oder warum Ausschreibungen Damit verbunden ist eine weitgehende nicht mit Instrumenten der aktiven Arbeits- Übertragung des Eigentums und der Ver- marktpolitik im Bereich der Qualifi zierung antwortlichkeit direkt auf die Stakeholder und der Integration verbunden werden. (NutzerInnen, MitarbeiterInnenstab, aber auch andere Stakeholder aus dem kom- Öff entliche Dienste demokratisieren munalen Bereich). Durch die Einbeziehung und weiterentwickeln! der NutzerInnen in die Erstellung öff entli- Neben der Verhinderung weiterer Libe- cher Leistungen können diese effi zienter ralisierungen und Privatisierungen von erbracht werden. Zusätzlich ist damit die öff entlichen Dienstleistungen ist eine Erwartung einer weitreichenden und parti- Verbesserung der bestehenden dringend zipatorischen Erneuerung in einer Zeit stei- notwendig. Denn natürlich sind auch öf- gender Politikverdrossenheit verbunden. fentliche Dienstleistungen nicht perfekt. Schmerzvolle Erfahrungen wie unachtsa- Auf dem Weg zum „Staat auf Gegen- me oder gar menschenunwürdige Behand- seitigkeit“ („Mutual State“) sind fünf lung in Spitälern oder Altersheimen oder Schlüsselelemente von Bedeutung: monatelanges Warten auf die Installation ™ Eine institutionalisierte partizipative eines Telefonanschlusses haben das Image Kontrolle („audit“) zur Verbesserung der mancher öff entlichen Dienstleistung ange- Qualität der Beziehungen zu den Nutzer-

106 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele Innen über den gesamten Prozess der Auswirkungen von Entscheidungen im Be- Leistungserstellung. reich der Erbringung von Dienstleistungen ™ Dezentralisierung: Die kommunalen Be- durch die öff entliche Hand darzulegen. hörden sollten zu kleinen, strategischen Nicht zuletzt ist die Selbstbestimmung eine Einheiten umgestaltet werden, die die wichtige Voraussetzung für die Verbesse- Koordination und Verantwortlichkeit der rung des Bestehenden. Die Unterwerfung kommunalen Dienstleistungen über- von öff entlichen Dienstleistungen unter blicken können. Die öffentlichen Ein- das Wettbewerbsrecht der EU und damit richtungen sollten unter gleichzeitiger verbundene Ausschreibungszwänge, die Festlegung von Qualitätsstandards mit WTO-weite Öff nung der Bereiche durch Li- einem höheren Ausmaß an Autonomie beralisierung und damit die Schaff ung von ausgestattet werden: mehr Freiheiten globalen Märkten beschneidet notwendi- bei der Aufbringung von Mitteln und gen politischen Handlungsspielraum auf beim finanziellen Management. nationaler und lokaler Ebene und führt zur ™ Zur Förderung der „Mutuality-Idee“ be- Erosion der speziellen Zielsetzungen von darf es eines klaren rechtlichen Rah- öff entlichen Dienstleistungen. mens, der die öffentlichen Leistungen als selbstverwaltete soziale Unternehmen wieder herstellt. Es handelt sich dabei 1 Der Begriff Daseinsvorsorge kommt aus der deutschen Tradition des wilhelminischen um Unternehmen, die nicht der verlän- Wohlfahrtsstaates und wurde von Ernst Forsthoff 1938 in die verwaltungsrechtliche Dis- gerte Arm der Regierung sind, sondern kussion des faschistischen Deutschland eingebracht. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein sinnvolles menschliches Dasein notwendigen Güter und Leis- um ein unabhängiges Modell außerhalb tungen. In der deutschen Debatte ist der Begriff „Daseinsvorsorge“ in Zusammenhang mit des traditionellen öffentlichen Sektors. wirtschaftlicher Betätigung von Gemeinden und der Verfassungsgarantie der kommunalen Sie werden geführt von sozialen Un- Selbstverwaltung durch Art.28 Abs. 2 Grundgesetz gebräuchlich, wobei die rechtliche Re- levanz und die Abgrenzung des Begriff s Anlass zur Diskussion gibt. In der europäischen ternehmerInnen, befinden sich in ge- Debatte wird mit dem Begriff „Daseinsvorsorge“ auf die Termini „service public“ und „Dienst- sellschaftlichem Eigentum oder stehen leistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse“ requiriert. Derartige Leistungen sind in aller Regel durch besondere Gemeinwohlverpfl ichtungen charakterisiert, die über unter sozialer Verantwortung. Allfällige das Wirken des freien Marktes allein nicht gewährleistet wären. Oft wird „Daseinsvorsorge“ Gewinne werden sozial reinvestiert. auch mit „öff entlichen Dienstleistungen“ synonym verwendet. ™ Beim Übergangsprozess von staatlicher * Unser Dank gilt Valentin Wedl für hilfreiche Anmerkungen. Die in diesem Beitrag ver- tretenen Auff assungen geben ausschließlich die persönlichen Ansichten der AutorInnen Leistungserstellung zum sozialen Unter- wider. nehmen ist ein anerkanntes Genehmi- 2 Vergleiche dazu: Johannes Jäger/Rainer Tomassovits: Politik der leeren Kassen. Budget, gungsverfahren, darunter die Wahl durch politics of scale und kommunale öff entliche Dienstleistungen, in: Privatisierung öff entlicher Dienstleistungen, Kurswechsel 3/2004 die Belegschaft, von großer Bedeutung. 3 So wurde beispielsweise seitens der Gemeinde Wien der Vollzug der Leistungen der ™ Der Staat wird in diesem Modell seiner Soziahilfe für Erwachsene aus dem Magistrat in den Fonds Soziales Wien ausgegliedert. Managementrolle entkleidet, er fungiert Das führte neben unklaren politischen Verantwortlichkeiten vor allem zu einem Verlust der demokratischen Kontrolle. Budgets von ausgegliederten Einheiten sind im Allgemeinen nur mehr als Garant für die Regulierung gedeckelt, die Entscheidungen im Rahmen des Budgets und des Auftrags können von der und Finanzierung von Leistungsanbiete- betriebswirtschaftlichen Einheit (dem Fonds) „eigenständig“ getroff en werden, sie sind kei- rInnen auf Gegenseitigkeit. Die Aufgabe ner parlamentarischen Debatte mehr ausgesetzt. 4 Dazu: Werner Raza/Valentin Wedl/Silvia Angelo: Liberalisierung öff entlicher Dienstleis- der Rechnungshöfe besteht nunmehr tungen; eine konzeptuelle, begriffl iche und rechtliche Einführung ins Thema, Band 1, AK darin, die Stakeholder mit dem erfor- Wien, Jänner 2004 derlichen Wissen für die Selbst-Kontrolle 5 Dazu: Michel Reimon/Christian Felber: Schwarzbuch Privatisierung. Wasser, Schulen, Krankenhäuser – was opfern wir dem freien Markt, Wien 2003; AK Wien: Schriftenreihe „Zur auszustatten. Zukunft öff entlicher Dienstleistungen“, mehrere Bände; Barbara Dickhaus, Katharina Dietz: Öff entliche Dienstleistungen unter Privatisierungsdruck. Folgen von Privatisierung und Li- Es gibt zwischenzeitlich in Großbritanni- beralisierung öff entlicher Dienstleistungen in Europa, WEED, Berlin. November 2004; 6 Die Dienstleistungsrichtlinie birgt eine Reihe von Problemen, nicht nur für öff entliche en viele Beispiele erfolgreicher „Mutuality“, Dienstleistungen. Sie stellt gleichzeitig einen Paradigmenwechsel in der Politik der europä- in den Bereichen Gesundheit (Selbsthilfe- ischen Kommission dar. Wurde bisher sektorenweise, verbunden mit langen Prozessen der gruppen etc.), Wohnen, Bildung, Freizeit, Harmonisierung, liberalisiert, wird jetzt die Liberalisierung des gesamte Dienstleistungsbe- reichs ohne eine Harmonisierung der nationalstaatlichen Regelungen angestrebt. soziale Dienstleistungen und Umwelt- Für eine interessante Darstellung der Problematik und Diskussion siehe: Beiträge zur schutz. Besonders bewährt hat sich dieses Wirtschaftspolitik, Wettbewerbsbericht der AK 2005, Teil 1 AK Wien 7 Das GATS ist aus der aktuellen öff entlichen Debatte in Österreich verschwunden, weil Modell für Organisationen mit kleinem zum einen die Verhandlungen in der WTO darüber zur Zeit eher stocken und zum zweiten Umfang. Beispiele aus den USA (Wasser) die vorgeschlagenen Regelungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie noch weitergehender und Japan (Gesundheit) zeigen, dass die sind, als die des GATS. Trotzdem sollte das GATS und der Widerstand dagegen nicht aus den Augen verloren werden. „Mutuality-Modelle“ ein besseres Ergebnis 8 Vgl. Rossmann, Bruno: Optionen zur Verbesserung der demokratischen Governance und in fi nanzieller und sozialer Hinsicht aufwei- des Managements öff entlicher Dienstleistungen, in: AK Wien: Zwischen Staat und Markt sen als der private Sektor. – aktuelle Herausforderungen der öff entlichen Dienstleistungserbringung, Schriftenreihe „Zur Zukunft öff entlicher Dienstleistungen, Nr 6, Dezember 2005, S. 28f.; dazu auch: Birchall, J.: The mutualisation of public services in Britain: a critical commentary, in: Kurswechsel Herstellen von Öff entlichkeit für 3/2004; soziale Rechte Ergänzend zu direkten Beteiligungsmög- lichkeiten in Bezug auf eine Dienstleistung oder Einrichtung bedarf es eines breiten gesellschaftspolitischen Diskurses über soziale Menschenrechte und Grundrechte. Dazu ist es nötig, die Zusammenhänge und 107 5.6 Das Mindestsicherungs ABC der Armutskonferenz

A) MATERIELLE MINDESTSICHERUNG: Fortsetzung der Lohnunterschiede zwi- „das Netz vor dem Keller“ schen Männern und Frauen in die Sozi- Armutsbekämpfung alversicherungsleistungen) ausschließen können und der personenbezogene Vielmehr braucht die Sozialhilfe eine mo- Leistungsbezug die Verhandlungspositi- derne Orientierung an sozialen Grundrech- on von Frauen in Beziehungen tendenzi- ten, die für alle gelten und Existenzsiche- ell stärkt. rung garantieren. Die Sozialhilfe muss den ™weil nur personenbezogene Leistungen Charakter des Gnadenrechts völlig ablegen, gegenüber der jeweiligen Lebensform, und zu einer bürgerInnenfreundlichen, für die sich die Anspruchsberechtigten transparenten und mit Rechtsansprüchen gerade entschieden haben, neutral sind. versehenen Sozialleistung werden. Dieses Gestaltungselement einer be- darfsorientierten Grundsicherung ist in Denn für ein modernes soziales Netz Zeiten der von zahlreichen Sozialwissen- nach unten muss gelten: von der Unsicher- schafterInnen analyiserten „Erosion der heit zur Rechtsicherheit, vom Armenwesen Familie“ eine wichtige Basis für die ma- zur Armutsvermeidung. terielle Ressourcenverteilung innerhalb von Beziehungen. Eine armutsbekämpfende und armuts- vermeidende Wirkung materieller Exis- 3. Rechtssicherheit durch Bescheid tenzsicherung ist gegeben, wenn sich Die bedarfsorientierte Grundsicherung ihre Ausgestaltung an folgenden Kriterien ist gesetzlich so zu verankern, dass die Er- orientiert - stellung eines – dann individuell einklag- baren - Bescheides verpfl ichtend ist. ™Existenzsichernde Höhe ™Individueller Anspruch Wir gehen davon aus, dass die Gewähr- ™Rechtssicherheit durch Bescheid leistung des Menschenrechts auf soziale ™Versicherungsschutz Sicherheit ein so hohes Gut ist, dass die für die Bedarfsprüfung zuständige Behör- 1. Existenzsichernde Höhe de die Ablehnung der Zuerkennung auf Leistungen aller bestehenden Systeme Grundsicherung entsprechend begründen (Arbeitslosenversicherung, Pensionsversi- muss und dass diese Begründung auf dem cherung, Krankenversicherung, Notstands- Rechtsweg (mit entsprechender Verfah- hilfe, Sozialhilfe) dürfen nicht niedriger renshilfe) angefochten werden kann. www. armutskonferenz.at sein als die Einkommensarmut-Schwelle (60% des Median-Pro-Kopf-Haushaltsein- 4. Versicherungsschutz kommens) und sind daher in dieser Höhe Der Bezug einer materiellen Leistung zu sockeln. bedarfsorientierter Grundsicherung ist in jedem Fall mit einem Anspruch auf Unfall- 2. Individueller Anspruch und Krankenversicherung verbunden. Die Leistungen sind personenbezogen, Einkommen anderer im Haushalt leben- ACHTUNG ! der Personen werden auf diese Leistungen Modelle der Grundsicherung, die von nicht angerechnet. einer Bedarfsprüfung ausgehen, müssen insbesondere in zwei Aspekten weiterent- Diese Forderung stellt eine Abweichung wickelt werden, die ansonsten dazu füh- vom bisherigen Ansatz bedarfsorientierter ren, armutsvermeidende Eff ekte wieder Grundsicherungsmodelle dar, die für die zunichte zu machen: Leistungsberechnung vom Haushaltsein- - die Pflicht, für die Zuerkennung von Sozi- kommen ausgehen und damit auch von alhilfe das Auto, jegliches Erspartes oder einer Aufrechterhaltung bestehender ma- jeden Wohnraum, wenn er im Eigentum terieller Unterhaltspfl ichten. ist, aufgeben zu müssen, hat armutsver- festigende Auswirkungen. Wir treten für einen individuellen An- - diese Maßnahmen (zusammen mit einer spruch auf bedarfsorientierte Grundsiche- rigiden Handhabung der Unterhalts- und rung ein: Regresspflicht im bestehenden Sozialhil- ™weil nur personenbezogene Leistungen fesystem) führen zu einer hohen Rate der die Benachteiligung von Frauen in den Nichtinanspruchnahme an sich zuste- bestehenden sozialen Sicherungssys- hender Grundsicherungsleistungen. temen (z.B. Anrechnung des PartnerIn- neneinkommens bei der Notstandshilfe,

108 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele B) SOZIALE DIENSTLEISTUNGEN C) QUALITÄT DER ARBEITSMARKTPOLITIK und SOLIDARISCHE VERSICHERUNG „Off ene Stiegenhäuser und Aufzüge“ DER LEBENSRISKEN Soziale Integration und Armuts- „Off ene Stiegenhäuser und Aufzüge“ vermeidung Soziale Integration und Armuts- vermeidung ™Recht auf fähigkeitenorientierte Qualifizierung Öff entliche Dienstleistungen beziehen ihre Legitimität und gesellschaftliche Aner- ™Recht auf berufliche Ausbildung kennung daraus, dass sie, von allen fi nan- ziert, auch allen in gleicher Qualität und ™Flächendeckende Mindestlöhne Verfügbarkeit zugänglich sind. Ihre Bereit- stellung bildet einen integralen Bestand- ™Ressourcenorientierte Angebote der teil, nicht bloß des österreichischen, son- Arbeitsmarktintegration dern des europäischen Wohlfahrtsmodells. Öff entliche Güter und Dienstleistungen Bewertungskriterien: Freiwilligkeit, gehören zum Reichtum einer Gesellschaft. Armutsbekämpfung, Perspektive, Und sie sind Ausdruck institutionalisierter Respekt Solidarität: Einkommensschwache Perso- ™Sind die Maßnahmen auf freiwilliger Ba- nen können Dienstleistungen in guter Qua- sis organisiert? lität nicht kaufen. Sie haben keine Wahl. In- sofern ist ihre Bereitstellung wesentliches ™Sind sie Bestandteil einer Politik, die dar- Element einer präventiven Politik gegen auf abzielt, Arbeitslosigkeit, Armut und Armut. soziale Ausgrenzung zu bekämpfen? Welche Folgen es für den sozialen Zu- sammenhalt hat, öff entliche Güter und ™Bieten sie für die betroffene Zielgruppe Dienstleistungen aus dem sozialstaatlichen eine längerfristige Perspektive ? Aufgabenkatalog auszugliedern, zeigt der Blick auf Länder wie Großbritannien. Dort ™Bieten sie für die Zielgruppe Chancen, heißt es: poor services for poor people. Möglichkeiten und Anreize? Armselige Dienste für arme Leute. Nur all- zu schnell verselbständigt sich der Trend ™Sind sie vornehmlich im Interesse der Be- weg von universellen sozialen BürgerIn- troffenen? nenrechten hin zur selektiven, unsicheren, almosenhaften Armenfürsorge. ™Tragen Sie zu einer Verbesserung des Alle Armutsstudien weisen darauf hin: sozialen Zusammenhalts und zu einem Staaten mit der Absicherung sozialer Ris- sozialen und gesellschaftlichen Fort- ken für eine breitere Bevölkerung und mit schritt bei? solidarisch fi nanzierten Dienstleistungssys- temen haben die geringsten Armutsquo- ™Sind die Maßnahmen von einem respekt- ten. Diese Systeme wirken off ensichtlich vollem Umgang mit den Betroffenen ge- stark präventiv. tragen?

Für die Armutsvermeidung und 1. Freiwilligkeit soziale Integration zB wichtig: Als eine erste, unabdingbare Bedingung ™Rechtsanspruch auf soziale Dienst- kann das Kriterium der Freiwilligkeit ange- leistungen: • Schuldenberatung • ge- sehen werden. Dies alleine reicht jedoch meindenahe Dienste für Menschen mit nicht aus. psychischer Beeinträchtigung • Delogie- rungsprävention • niederschwellige Ge- 2. Armutsbekämpfung sundheitsangebote • MigrantInnenbera- Es geht beispielsweise auch darum, zu tung • Frauenberatung, etc. prüfen, ob die Hilfe-zur-Arbeit-Maßnahmen Teil einer Politik sind, die sich gegen Armut ™„Freie Fahrt“ für arme Menschen mit öf- und soziale Ausgrenzung wendet oder die- fentlichen Verkehrsmitteln se Teil eines gegenteiligen Konzepts sind. Hilfe zur Arbeit, sei es im Rahmen der Sozi- ™Gesetzliche Rahmenbedingungen für alhilfe oder durch Maßnahmen der aktiven eine faire Teilung der Versorgungsarbeit: Arbeitsmarktpolitik, sollte darauf abzielen, Väterkarenz, qualitativ hochwertiges Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Un- Angebot an Kinderbetreuungsplätzen gleichheit zu verringern.

™Bildung: egalitäres Schulsystem ohne „soziale Vererbung“, Vorschulische För- derung 109 3. Perspektive Was unterscheidet nun „best Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die practice“ von „bad practice“: Frage, ob Hilfe-zur-Arbeit-Maßnahmen für die KlientInnen eine längerfristige, positive ™Arbeitsangebot soll an den Stärken und Perspektive eröff nen. Wenn aktivierende Fähigkeiten der Betroffenen orientiert Maßnahmen bloß auf einen vorüberge- sein henden, kurzfristigen Eff ekt abzielen, dann bieten sie keine wirkliche strukturelle Al- ™die „Soziale Aktivierung“, d.h. Unterstüt- ternative zum Sozialhilfebezug. zung bei persönlichen Problemen und bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt 4. Respekt durch entsprechende sozialpädagogi- Wenn man grundsätzlich davon ausgeht, sche Begleitung steht im Vordergrund dass Armut primär im Verschulden der be- dürftigen Person begründet liegt, dann ist ™Bezahlung und Versicherungsschutz der Weg zu disziplinierenden Maßnahmen entsprechen den Standards am ersten nicht mehr weit. Daher gilt es immer wieder Arbeitsmarkt – kollektivvertragliche Ent- den respektvollen Umgang mit denjenigen lohnung einzufordern, die auf das zweite soziale Si- cherungsnetz angewiesen sind. ™Den Betroffenen wird eine angemessene Anzahl an Arbeitsmöglichkeiten ange- Denn für besonders schwer vermittelba- boten re Arbeitslose (und Sozialhilfeempfänger- Innen) muss bei arbeitsmarktpolitischen ™Freiwilligkeit (da Dienstverträge nur in Maßnahmen der Integrationsgedanke im beiderseitigem Einvernehmen abge- Vordergrund stehen. schlossen werden können) und positive Anreize (Weiterbildung) müssen gege- ben sein

™Längerfristige Perspektive im Arbeits- verhältnis, das gegenüber dem Regel- arbeitsmarkt offen (keine geschützte Werkstatt), aber nicht automatisch auf eine gewisse Transitzeit begrenzt ist

™individuelle Abstimmung der Arbeitszei- ten sollen möglich sein (zB Beginn mit weniger Arbeitsstunden)

110 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele sie uns ig angst, dass r haben richt ge- zitterpartie hr mit. ja, wi it in ihr aus wieder mit i ungsblödigke ittern schon eine verarm uns mit. sie wir z t. denn es ist bewegen wir ammenbrich gsblödigkeit nn. das jetzt zus rer verarmun n denken ka mit dieser ih ur noch dara les rochen, und opf, weil sie n sie sich an al b atschig im k heimer, weil schon ganz m art gegenalz ihr eigenes ist ja heimer, eine h ständig an eigenster alz e erinnert sic gen an ist ihr ur nnern mit. si ehen. unmen . Und wir eri erbindung st en rinnern muss e damit in v sich verweb e ie zahlen, di alkosten, die ck und an d essen, minim ändig sind unglü , die sie anfr keln wird. st leinstbeträge z um sie wic schon zahlen. k sich noch gan . Ja, sie hängt gertuch, das , die vergeht ie u einem hun und die zeit t ihr mit, w z ngen im kopf ir zittern mi e ratenzahlu ngen mit. w ängstlich ihr di und wir hä in, wir sehen hungertuch armut hine ungs- wieder am geht. in ihre em umschuld sten schritte ie sie vor ihr d e jetzt die er e dabei zu, w r schritt, un si uch kein aug in, schritt fü d drücken a ie bank hine nicht, an zu, un mit ihr in d t, sie weiß ja zt. wir gehen tritt. sie sag t, und kredit sit t, auf der sie was geschieh die stelle mi ja gar nicht, ehmen stets oll. sie weiß n nden s 5. sich we ochen 200 lle sie iener festw che ste stheater, w wel . hrung volk r nicht er“, urauff ü mit ih dunkelziff ssen es en tobt die wir wi gla „drauß kathrin rög

111 5.7 Social Banking für Österreich?!

Der Social Banking-Gedanke, den es früher auch in kaum kreditwürdige Menschen zu bezeich- Österreich gegeben hat, hat längst dem alles überra- nen. genden Ziel des Profit Banking Platz gemacht. Und heute? Erklären Sie einmal einem Bankier der Eine allgemeine Defi nition von Social obigen Einrichtungen, der Erfolg seiner Banking gibt Prof. Dr. Udo Reifner, Direk- Bank wäre nachrangig hinter dem fi nanzi- tor und Gründer (1987) des IFF (Institut für ellen Wohl der Kundschaft. Der Gedanke Finanzdienstleistungen e.V. in Hamburg): des Social Banking hat längst dem alles „Social Banking bezeichnet die Entwick- überragenden Ziel des Profi t Banking Platz lung und Verbesserung von Finanzdienst- gemacht. Heute wird bei den meisten Men- leistungen, mit denen gewinnbringend schen die Tatsache, dass Banken einmal wirtschaftliche Strukturen benachteiligter andere vorrangige Inhalte hatten, sogar Gebiete, Gruppen und Wirtschaftsbereiche Erstaunen hervorrufen. erfolgreich erhalten und gefördert wer- den.“ Die viel beanspruchten Werbeslogans „In jeder Beziehung zählen die Menschen“, In der Praxis wird das beispielsweise „Geld ist das Geld nicht wert ohne den in Irland angeboten. Sogenannte „Credit Menschen“ usw. verlieren allzu oft ihre Gül- Unions“ vergeben dort an ihre Mitglieder tigkeit bei „notleidenden“ Kreditverhältnis- Kredite, wobei zuvor eine Zeit lang in den sen. gemeinsamen Topf „eingespart“ werden muss. Die „Volkskreditbank Niederlande“ Bedarf an Social Banking (NVVK) bietet als Vollbank auch Umschul- Die Basis aller Finanzdienstleistungen dungs- und Ausgleichsfi nanzierung samt ist wohl ein Girokonto. Es ist unabdingbar Beratung für SchuldnerInnen. Ein weiteres für Gehaltsüberweisung und Zahlungsver- Beispiel ist „Microlending“: Die Vergabe kehr, trotzdem wird Überschuldeten und von Kleinkrediten zur Begründung und KonkursantInnen meist keines eröff net, Verbesserung selbstständiger Tätigkeit oder das bestehende aufgekündet. Hier wird insbesondere in Entwicklungsländern besteht dringendster Bedarf nach Social (mit Unterstützungsprogrammen) prakti- Banking, egal ob nun eine eigens zu grün- ziert. Beispielsweise erhält ein Bauer einen dende Bank die Aufgabe übernimmt, oder Kredit, um eine Bewässerungsanlage zu er- sich die bestehenden Banken die Aufgabe Thomas Pachl richten. Auf Sicherheiten wird dabei weit- teilen, allen KundInnen ein Girokonto (auf ist Geschäftsführer der gehend zu verzichten sein. 1 Habenbasis) einzurichten. Schuldnerberatung Tirol. Früher auch in Österreich Auch bei der Ausgleichsfi nanzierung gibt WEBTIPPS: Regionale Banken hatten die ursprüng- es Bedarf an einer sozialeren Praxis: Wenn www.schuldner- beratung.at liche Aufgabe, ihre Zielgruppe wirtschaft- in einem Ausgleich eine Sofortquote ange- Webportal der lich zu fördern, sogar bei fi nanzieller Not boten werden kann, steigen die Chancen Schuldnerberatungen beizustehen, so jedenfalls beschrieb Moriz auf Annahme. Auch der Schuldner bzw. Österreichs Ertl dies 1899 im „Handbuch für die genos- die Schuldnerin zahlt leichter an einen www.iff -hamburg.de senschaftliche Praxis“. Ziel der Genossen- (Umschuldungs-) Gläubiger als über Jahre

www.verantwortliche- schaftskassen sei u.a. die „Ergreifung von an mehrere „alte“ Gläubiger. Vor allem: Die kreditvergabe.net Maßnahmen zur Erhaltung des Grundbe- Gläubiger können die Sache abschließen sitzes in den Familien, und, wo letzteres und sich ihren Geschäften widmen, die nicht mehr möglich, Vorkehrung gegen jahrelange Beobachtung von kleinen und Verschleuderung und Zerstückelung des kleinsten Raten entfällt. Wieder könnte Grundbesitzes“. eine Social Bank diese Aufgabe überneh- men - oder mehrere Banken fi nden einen Die Sparkassen für die Gemeinden und Schlüssel, die Ausgleichsfi nanzierung auf- deren BürgerInnen, die Raiff eisen-Genos- zuteilen. senschaften für ihre bäuerlichen Mitglie- der sowie die Landeshypothekenbanken, Die Schuldnerberatung wird weiterhin die LandesbürgerInnen bei Ankauf und versuchen, die Inhalte des Social Bankings Aufbau von Liegenschaften mit günstigen zu verbreiten und PartnerInnen zur Umset- Krediten zu versorgen - sie alle waren Social zung suchen, denn es gibt zahlreiche Tätig- Banks im Sinne obiger Defi nition, denn zu keiten bzw. Produkte einer solchen Bank, ihrer Gründungszeit Ende des 19., Beginn die neben Vorteilen für die direkt Beteilig- des 20. Jahrhunderts waren die Zielgrup- ten auch von hohem volkswirtschaftlichem pen durchaus als fi nanziell Benachteiligte, Nutzen sind, wie beispielsweise:

112 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele ™Kleinkredite für Finanzschwache (für Ab- schlagszahlungen oder notwendige An- schaffungen) ™Überziehungsrahmen für gescheiterte Selbständige (Überbrückung bis zur Ar- beitsaufnahme) ™Hilfe für verschuldete Jugendliche und Überschuldungsprävention ™Haushaltsbudgetplanung ™Lobbying für das Klientel (oder „die Kundschaft“) ™Konsumentenschutz (z.B. über Zinssatz- gestaltung)

Unter anderem werden auch im Rahmen eines europäischen Projekts, das von der österreichische Schuldnerberatungs-Dach- organisation ASB Schuldnerberatungen koordiniert wird, Lösungsansätze gesucht, die den Zugang von armutsgefährdeten und -betroff enen Personen zu für Sie not- wendigen und adäquaten Finanzdienst- leistungen verbessern sollen.

1 Für weitere Informationen zu Credit Unions und Volks- kreditbank vgl. ASB Informationen 51, „Social Banking“, Aug 05; www.schuldnerberatung.at

blicken. en patienten dsleiche ausgesetzt d mittelstan h ausgesetzt, sind wir noc 1: einstweilen patienten? 2: was für r patienten. entblicken de : den perman füßen. 3 scharrenden n. sgesetzt ihren tienten wäre 4: au ob wir die pa en uns an als 1: sie seh l abkürzen. atienten? b will er woh rum, 2: was für p millionengra e mit uns he : den weg ins elstandsleich ie sagen sich da eine mitt ttelstandslei- 1: s ? wir tragen agen eine mi ür patienten ngrab und tr lässt. 2: was f ng millione wegbewegen uns in richtu örpern nicht s so wir bewegen on unseren k wohl man da m, die sich v gemacht, ob mit uns heru och nie spaß mmer in be- che leiche hat n en werden, i mittelstands gung gehalt 3: diese muss in bewe agt. aber sie leichtfertig s ewegt? ng gehalten. che wieder b wegu ittelstandslei at sich die m icht. drehen 4: ach, h ich um uns n nicht umzu e kümmert s wo man sich : quatsch, di illionengrab, 2 r im m 5. den wi ochen 200 nn lan iener festw nd wa ist? stheater, w 1: u für da hrung volk latz da er“, urauff ü enig p dunkelziff eil so w en tobt die hat, w gla „drauß kathrin rög

113 5.8 Participatory Economics

ParEcon ist die Abkürzung für Participatory Economics, also partizipative Ökonomie und stellt eine Vision bzw. konkrete Utopie dar. Dieses Konzept ist sehr genau durchdacht und zeigt, wie mit einer partizipativen Öko- nomie die Welt „besser“ organisiert sein könnte.

Eine kritische Auseinandersetzung mit Weitere Informationen: diesem Konzept ist daher viel verspre- www.zmag.org/ParEcon chend. ParEcon ist ein Modell, welches Albert, Michael and Hahnel, Robin (1991): sowohl wirtschaftliche Notwendigkeiten The Political Economy of Participatory Economics. erfüllt, als auch Solidarität und Vielfalt för- Princeton: Univ. Press. dert. Gleichzeitig sollen Selbstverwaltung Albert, Michael (2003): Parecon. und Gerechtigkeit ermöglicht werden, so- Life After Capitalism. London: Verso. ziale Schichten oder Klassen aufgehoben werden. Als Basis fungieren einige wenige grundlegende Institutionen wie Arbeiter- Innen- und KonsumentInnen-Versammlun- gen. Diese nutzen verschiedene Methoden demokratischer Entscheidungsfi ndung für Selbstverwaltung. Dabei wird vom Grund- satz ausgegangen, jeder Person in dem Ausmaß Mitsprachemöglichkeit bei einer Entscheidung zu gegeben, wie sie selbst von dieser betroff en ist. Ausgeglichene Ar- beitsfelder (Mischung von Hand- und Kopf- arbeit) stellen sicher, dass jede Person über den Arbeitsprozess eine ähnliche Men- ge an Machtressourcen erhält, um damit strukturelle Ungleichheiten in demokrati- schen Entscheidungsprozessen vorzubeu- Johannes Jäger gen. Der Lohn hängt von der Arbeitszeit, ist Ökonom und Lektor dem Ausmaß der Anstrengung und der Art der FH des bfi Wien und Lehrbeauftragter an der Arbeit ab. der Universität Wien im Partizipative Planung der Wirtschaft er- Bereich Internationale möglicht im Gegensatz zu zentraler Pla- Entwicklung. nung oder reiner Marktwirtschaft eine Rainer Tomassovits kollektive und demokratische gesellschaft- ist Ökonom, am Intitut liche Entscheidung über den Einsatz von für politöknomische Forschung Wien und Ressourcen. in der politischen Zentrales Ziel von Parecon ist es, die Bildungsarbeit tätig. Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und ihnen zu erlauben, in gleichem Aus- maß ihre Fähigkeiten zu entwickeln.

114 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.9 Fair Steuern

Gerade jene Länder, die über ein hohes Maß an sozialer Sicherung verfügen, haben geringe Ar- mutsraten und ein höheres BIP pro Kopf. Ökonomisch erfolgreiche Länder in Europa liegen mit ihrer Sozialquote über dem EU-Durchschnitt. Mit sinkenden Abgabenquoten hingegen kann man soziale Investitionen nicht finanzieren.

Der Ökonom Michael Förster (OECD), Nicht leistbare Steuersenkungen heute kommt in einer vergleichenden Studie erzeugen ein Budgetdefi zit morgen, das über Kinderarmut zum Schluss: Ein wichti- durch Ausgabenkürzungen bei Sozialem, ges Element um Armut eff ektiv zu verhin- Gesundheit und Bildung gegenfi nanziert dern, ist die absolute Höhe der Transfers wird. In dieser Strategie sind die heutigen (Sozialquote) sowie die progressive Vertei- Entlastungen für oben, die morgigen Be- lungswirkung des Steuersystems. lastungen für unten.

In den Beratungsstellen der Mitglied- Ein faires Steuersystem ist möglich. sorganisierungen der Armutskonferenz Folgende Schritte sind dafür sehen wir: Leute mit kleinem Einkommen dringend nötig und auch machbar: können sich keine private Pensionsver- ™ Vermögen wieder besteuern sicherung leisten, außer sie zahlen nicht ™Stopp dem Steuerwettlauf: einheitliche mehr die Miete oder die Heizkosten. Wer Unternehmensbesteuerung in der EU geringes Einkommen hat, ist stärker auf ™Kapital- und Arbeitseinkommen gleich die öff entliche Infrastruktur angewiesen: besteuern bei Kinderbetreuung, öff entlichen Verkehr, Schule oder sozialem Wohnbau. Einer Frau im Niedriglohnsektor nützt ihr ohnehin geringes Einkommen von 700 Euro gar nichts, wenn gleichzeitig die Miete massiv ansteigt, es keine Kinderbetreuung gibt, bei Ärzten immer gezahlt werden muss, Gebühren steigen, die U-Bahn keinen So- zialtarif kennt, die Schule keine kostenlose Nachmittagsförderung für ihr Kind anbie- tet, die Pensionsversicherung privat ge- Steuerwettlauf nach zahlt werden soll. unten beenden: www.fairsteuern.at Die Senkung der Abgabenquote ist kei- ne Entlastung für alle. Was haben Ärmere davon, wenn gleichzeitig ihre persönliche Abgabenquote für Selbstbehalte, indirekte Steuern, Privatpension rasant anwächst?

Während die öff entliche Abgabenquote auf 40% sinkt, steigt die persönliche Ab- gabenquote der Einkommensschwäche- ren. Im Rahmen der Steuersenkungen wird tendenziell die besserverdienende und einfl ussreichere Klientel bedient, im dar- aus entstehenden Budgetdefi zit mit Aus- gabenkürzungen bei Gesundheit, Bildung und Sozialem tendenziell die unteren Ein- kommen belastet. Diese Zangenbewegung ist eine politische Bastelanleitung zur Her- stellung von Sachzwängen. Das geben die- jenigen, denen diese Entwicklung nützt, nicht gerne zu. Den Ärmeren schadet diese soziale Polarisierung.

115 5.10 Erfolgreiche Strategien zur Arbeitsmarktintegration

Wenn sich Langzeitarbeitslose, SozialhilfebezieherIn- …zur Handlungskompetenz nen , Personen mit physischen und psychischen Beein- Der innovative Ansatz des Projekts stellte nicht Vermittlungs- und Kosteneffi zienz trächtigungen, Angehörige autochtoner Minderheiten, in den Vordergrund, sondern öff nete den Suchtkranke oder Haftentlassene auf die Suche nach Raum für Individualität und fl exible Gestal- einer Beschäftigung machen, reagiert der Arbeitsmarkt tungsmöglichkeiten. KlientInnen entschie- häufig mit der Einschätzung „unvermittelbar“. den selbst, wann und wie lange sie an Ak- tivitäten teilnahmen. Zugangsbarrieren zu den einzelnen Maßnahmen gab es nicht. Höchstens die Zahl der vorhandenen Ar- Auch das diff erenzierte Instrumentarium beitsplätze bedeutete manchmal eine Re- der österreichischen Arbeitsmarktpolitik striktion. Die TeilnehmerInnen hatten die stößt bei Arbeitsuchenden mit komplexen Möglichkeit, Arbeitsabläufe mitzubestim- Vermittlungshemmnissen an Grenzen. Vor men und nahmen aktiv an der Gestaltung dem Hintergrund dieser Erfahrungen ent- des Projektalltags teil. Unterschiedliche wickelten Caritas, ÖSB Consulting, Wiener Arbeitsfelder (Gartenarbeiten, Recycling, Hilfswerk, Verein „Der Würfel“ und das WIFO handwerklich kreative Tätigkeiten, Dienst- im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative leistungsaufträge) boten die Möglichkeit EQUAL ein Modell zur Heranführung ar- Erfahrungen zu sammeln und Fähigkeiten beitssuchender Menschen an den Arbeits- und Grenzen auszuloten. markt. Über 800 Personen in fünf Bundes- ländern nahmen zwischen Mai 2002 und Die Modelle haben gezeigt, dass eine Mai 2005 teil. Die Möglichkeit, stundenwei- schrittweise Arbeitsmarktintegration se in unterschiedlichen Arbeitsgebieten zu Arbeitsuchender mit komplexen Ver- arbeiten und Aufträge durchzuführen, bo- mittlungshemmnissen möglich ist, vo- ten vielen TeilnehmerInnen erstmals nach rausgesetzt Maßnahmen der Arbeitsm- Jahren wieder Einblick in einen geregelten arktintegration gehen Hand in Hand mit Arbeitsalltag. Beratungsangebote, die ins- Angeboten zur sozialen Integration. Dies besondere die soziale Stabilisierung im erfordert in der Praxis mehr Abstimmung Auge hatten, halfen die mit einer langen zwischen AkteurInnen der Arbeitsmarktpo- Barbara Reiterer Erwerbslosigkeit verbundene soziale Aus- litik und der Sozialpolitik. Es erfordert aber ist Mitarbeiterin der grenzung zu durchbrechen. Individuelle Caritas Österreich und auch ein hohes Maß an Kreativität und die koordinierte die Equal Qualifi zierungsmaßnahmen, Aktivitäten Bereitschaft zum Experiment. Entwicklungspartner- zur Gesundheitsförderung und Maßnah- schaft „Erweiterter Ar- men zur Stärkung der Handlungskompe- beitsmarkt – Integration durch Arbeit“. tenz ergänzten das Instrumentarium.

Vom Vermittlungsproblem… Arbeitsuchenden mit komplexen Vermitt- lungshemmnissen werden nicht nur am regulären Arbeitsmarkt ausgegrenzt, son- dern haben oft auch auf dem erweiterten Arbeitsmarkt ein „Vermittlungsproblem“. SozialhilfeempfängerInnen beispielsweise haben kaum Zugang zu arbeitsmarktpoli- tischen Maßnahmen. Wer sich im Rahmen eines Kurses weiterqualifi zieren will muss eine gewisse Vormerkzeit in Kauf nehmen, Menschen mit Suchterkrankung müssen clean sein, und wer schon einmal eine Aus- bildung abgebrochen hat, bekommt nicht so rasch eine neue Chance. Einer Ganz- tagsbeschäftigung in einem sozialöko- nomischen Betrieb fühlen sich viele nicht gewachsen.

116 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.11 Neue Wege der Armutsprävention auf Gemeindeebene

Die Debatte um steigende Sozialkosten im Bundesland Salzburg hat mittlerweile auch die Gemeindeebene erfasst und Fragen der strukturellen Weiterentwicklung lokaler Armuts- und Sozialpolitik großteils verdrängt.

„Wir können uns das nicht mehr leisten“ ™ Markant war auch die mehrfach formu- ist daher auch zu einem Leitspruch zahlrei- lierte Einteilung in Personengruppen, cher GemeindevertreterInnen geworden. die Anspruch auf soziale Leistungen (z. B. Und wenn steigende Kosten auch zu ver- kurzfristige Geldaushilfen) besitzen und zeichnen sind, so gibt es doch auch gute in jene, die „selbstverschuldet“ in Not ge- Gründe, gerade auch die lokale Ebene raten sind. weiterhin in eine umfassend gedachte Ar- mutsprävention einzubeziehen: Die zentralen Ergebnisse des Work- shops – Perspektiven für Gemeinden ™Zum Ersten bietet sich gerade auf Ge- ™ Die Gemeindeebene bietet sich an, ge- meindeebene eine Unzahl von Mög- gen Stigmatisierung und gesellschaftli- lichkeiten an, soziale Integration voran- che Ausgrenzung aktiv zu werden, sind zutreiben und zu unterstützen. Oftmals hier die Kontakte mit den Armutsbetrof- auch, ohne finanzielle Mittel in die Hand fenen doch am intensivsten nehmen zu müssen. ™ Modelle und Methoden der Partizipation ™Zum Zweiten stehen auch bei Fragen können gut auf Gemeindeebene umge- der Finanzierung neue Wege offen, wie setzt werden, ob im Rahmen professio- Beispiele anderer Bundesländer zeigen neller Bewohnerservice- bzw. Stadtteil- („reiche“ Gemeinden leisten mehr als zentren oder in anderer geeigneter Form „arme“) (Vereinsleben, kulturelle Aktivitäten) ™Zum Dritten werden Salzburger Gemein- ™ Gemeinden bieten sich für niedrig- den aktuell durch eine Neuaufteilung schwellige, dezentrale Anlaufstellen (So- der Sozialhilfekosten finanziell besser zialzentren, Case Management) an gestellt. Dafür werden Mittel für andere ™ Information zu unterschiedlichen sozia- Projekte und Bereiche frei. len Themen wäre gerade in Gemeinden zielgruppengerecht zu verbreiten (z. B. Robert Buggler 118 Salzburger Gemeinden befragt Sozialhilfe) Salzburger Armutskonferenz Grund genug also, Leistungen und De- ™ Die Zusammenarbeit mit sozialen Ein- fi zite der insgesamt 118 Salzburger Ge- richtungen vor Ort oder in angrenzen- meinden im Bereich soziale Integration den sollte intensiviert werden (welche abzufragen. Insgesamt wurden 18 unter- Leistungen werden angeboten, Vernet- schiedliche Themenbereiche in der Umfra- zung etc.). ge berücksichtigt. ™ Bewusstseinsbildung, dass auch Ge- meinden für eine umfassend gedachte Die zentralen Ergebnisse: Armutspolitik und soziale Integration ™ In allen 18 Kategorien gab es Antworten/ verantwortlich sind, ist notwendig. Aktivitäten von Gemeinden. Dies zeigt auch die Dichte und Fülle unterschiedli- Fazit: Soziale Integration auf Gemein- cher Möglichkeiten zur sozialen Integra- deebene fi ndet statt, ebenso gibt es aber tion auf lokaler Ebene. eine Fülle von noch nicht realisierten Mög- ™ Wohnen, Kinderbetreuung, kurzfristige lichkeiten und Perspektiven. Eine nähere finanzielle Unterstützungen und Infor- Betrachtung und Würdigung verdienen mationen über soziale Leistungen sind beide! jene vier Bereiche, die am öftesten ge- nannt wurden ™ Bei der Integration von MigrantInnen und AsylwerberInnen oder bei Maßnah- men in benachteiligten Siedlungen (Ge- meinwesenarbeit) gab es dagegen kaum Rückmeldungen. Dies betraf auch das Thema Gesundheit oder Wohnungslo- senhilfe.

117 5.12 Kriminalpolitische Initiative: Mehr Sicherheit durch weniger Haft!

Vorbemerkungen: gestatten, wenn der Beschuldigte einer be- sonders gefährlichen Tat verdächtig ist. ™ Die Überfüllung in den österreichischen Bei der Beurteilung der Verhältnismä- Justizanstalten beeinflusst die Wirkungs- ßigkeit von Untersuchungshaft sind die weise des Strafvollzuges negativ. Es be- Möglichkeit einer bedingten Strafnach- steht die massive Gefahr, dass die müh- sicht und die Möglichkeit einer bedingten same langjährige Aufbauarbeit in den Entlassung in die Verhältnismäßigkeitsprü- Justizanstalten sowie die damit verbun- fung einzubeziehen. denen Resozialisierungsbemühungen der aktuellen Entwicklung zum Opfer 3. Mehr Wirksamkeit der Freiheits- fallen und der Strafvollzug immer mehr strafe durch neue Möglichkeiten zum krisenanfälligen Verwahrvollzug Die Ausgestaltung von Freiheitsstrafen verkommt. Gegensteuernde rasche Maß- soll breiter aufgefächert sein. Es bieten sich nahmen sind daher dringend geboten, bei kurzen Freiheitsstrafen und mit Ein- um einen weiteren positiven Beitrag des schränkungen auch bei der Ausgestaltung Strafvollzuges zur öffentlichen Sicherheit des Vollzuges in der letzten Phase vor der zu gewährleisten. Entlassung an: ™ Die österreichischen Erfahrungen wie ™Gemeinnützige Arbeiten (auch anstelle auch zahlreiche internationale Studien von Ersatzfreiheitsstrafen) belegen, dass eine Reduktion von Inhaf- ™Tageweiser Vollzug und Halbgefangen- tierungen und Haftdauer keineswegs schaft einen Sicherheitsverlust für die Bevölke- ™Elektronisch überwachter Hausarrest. rung bedeuten. Diese Maßnahmen erfordern eine qualifi - ™ Es ist angezeigt, im Interesse der Sicher- zierte Betreuung der Straftäter und ein effi -

Christian Grafl , heit der Bevölkerung den Freiheitsentzug zientes Vollzugsmanagement. Sie machen Universität Wien, bezogen auf den erfassten Personenkreis Haftplätze im geschlossenen Vollzug frei Institut für Strafrecht und die Zeitdauer so zu begrenzen, wie und sind bei entsprechender Ausgestal- und Kriminologie, Wolfgang Gratz, dies die tatsächlich bestehende Gefähr- tung sehr gut geeignet, die soziale Rehabi- Fortbildungszen- lichkeit erfordert. litation der Strafgefangenen und damit die trum Strafvollzug, ™ Die von uns vorgeschlagenen Reformen Sicherheit der Bevölkerung zu fördern. Frank Höpfel, Universität Wien, beruhen größtenteils auf früheren Vor- Institut für Strafrecht schlägen oder europäischen Vorbildern. 4. Weniger Rückfälle durch mehr und Kriminologie, Sie sind pragmatisch und mit Augenmaß bedingte Entlassungen Christine Hovorka, Sozialarbeiterin, formuliert. Die Entscheidungen über bedingte Ent- Arno Pilgram, lassungen aus der Freiheitsstrafe sollten Institut für : vor allem geprägt sein von Erfahrungswis- Rechts- und Mai 2004 / Vorschläge Kriminalsoziologie, sen und Sachverstand bezüglich der Person Hans-Valentin Schroll, 1. Für qualifi zierte Delikte eine des Strafgefangenen, seiner Prognose und Richter Oberster qualifi zierte Zuständigkeit den Möglichkeiten, diese günstig zu beein- Gerichtshof, Richard Soyer, Die Qualifi kation der Gewerbsmäßigkeit fl ussen. In erster und zweiter Instanz sollen Rechtsanwalt. führt zu einer bis zehnfachen Erhöhung in Entlassungssachen Senate tätig werden, des Strafrahmens. Sie ist daher an objekti- die aus einem Berufsrichter und zwei fach- ve Kriterien wie die mindestens fünff ache männischen Laien zusammengesetzt sind. Tatwiederholung anzubinden. Angesichts Mehr bedingte Entlassungen bedeuten des besonderen Gewichts gewerbsmäßi- weniger Rückfälligkeit und damit mehr gen Handels wäre es geboten, die durch Sicherheit. Bedingte Entlassungen sollen Gewerbsmäßigkeit qualifi zierten Delikte erweitert werden durch: ausschließlich den Schöff engerichten zu- ™Den Wegfall generalpräventiver Über- zuweisen. legungen für eine bedingte Entlassung (wie beispielsweise in Deutschland und 2. Untersuchungshaft: orientiert an der Schweiz) Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit ™Die Möglichkeit der bedingten Entlas- Bei der Verhängung der Untersuchungs- sung auch aus teil-unbedingten Strafen haft sind nach dem Vorbild der deutschen ™Die Möglichkeit der bedingten Entlas- StPO die gewöhnlichen Haftgründe auf sung bereits nach Verbüßung von einem Flucht bzw. Fluchtgefahr sowie Verdun- Monat Freiheitsstrafe kelungsgefahr zu beschränken. Eine an- ™Für Strafgefangene mit besonderem Ri- derweitige Untersuchungshaft ist nur zu siko die Möglichkeit der bedingten Ent-

118 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele lassung nach Verbüßung von 5/6 der ™Sie ermöglichen es dem Vollzug, sich auf Freiheitsstrafe, um Bewährungshilfe und den harten Kern der Kriminalität zu kon- Weisungen möglich zu machen. zentrieren ™Sie schaffen somit mehr Sicherheit durch 5. Für noch mehr Qualität in der weniger Haft. Strafrechtspfl ege Das Qualitätsmanagement in der Straf- Juni 2005 / Follow up: rechtspfl ege sollte durch folgende Maß- nahmen gefördert werden: 1. Einschätzung der Entwicklung ™Eine einheitliche Statistik justizieller Erle- ™Die Gesamtsituation lässt sich mit „Normali- digungen sierung der Überbelegung“ umschreiben. ™Eine kontinuierliche Evaluation straf- ™Der Anstieg des Standes an Insassen auf rechtlicher Maßnahmen rund 9.000 in den letzten drei Jahren ™Eine Gerichtshilfe auch in der allgemei- bedeutet nicht nur Überfüllung der An- nen Gerichtsbarkeit stalten, sondern auch eine Erhöhung der ™Eine Beteiligung der Justiz an interdiszi- Personal- Insassen-Relation von rund 1 zu plinären Präventionsprogrammen. 2 auf rund 1 zu 2,6. Solch eine Entwicklung bedeutet Dominanz von Verwahrvollzug. Einsparungspotentiale: Daran ändern auch Neubauten nichts, da es für sie kaum zusätzliches Personal ge- ™Eine Reduktion der in Untersuchungs- ben wird. haft genommenen Tatverdächtigen ™Der geplante Bau einer zusätzlichen Justi- schon um 5% würde ca. 100 Haftplätze zanstalt in Wien mit über 500 Haftplätzen ersparen. ist durchaus hinterfragenswert. Er wäre ™Die Verringerung der durchschnittlichen nach sehr optimistischen Prognosen Ende Dauer der Untersuchungshaft (Durch- 2008, realistischerweise erst 2009 abge- schnittsdauer 2002: 42,2, Tage) würde schlossen. Die von uns vorgeschlagenen pro Tag 14 Haftplätze, also beispiels- Maßnahmen im Bereich bedingter Ent- weise bei einer Reduktion um 5 Tage 70 lassung und alternativer Vollzugsformen Haftplätze ersparen. könnten bereits heuer zu greifen begin- ™Unter der Annahme, dass von den 2002 nen und somit eine raschere Entlastung rund 12.000 unbedingt ausgesproche- des Strafvollzuges bedeuten. nen Geldstrafen ca. 10% uneinbringlich ™Eine Absenkung des Überbelages ist nicht sind und hierbei gemeinnützige Arbeit nur geboten, um einen zeitgemäßen und in 2/3 der Fälle anstelle von Ersatzfrei- auf die Sicherheitsbedürfnisse der Gesell- heitsstrafen eingesetzt werden kann, schaft Bedacht nehmenden Strafvollzug ergibt sich eine weitere Reduktion um zu garantieren. Er bietet zudem einen rund 100 Haftplätzen. willkommenen Anlass, auch ohne Über- ™Wenn ein Viertel aller zu Freiheitsstrafe belegung angezeigte Reformen in Angriff von weniger als einem Jahr Verurteilten zu nehmen. Wir halten daher unsere Vor- die Strafe in alternativen Formen des schläge vom Mai 2004 aufrecht. Freiheitsentzuges verbüßen würden, ™Im Bereich der Politik ist über alle Parteien könnten allein damit ca. 430 Haftplätze hinweg eine Aufgeschlossenheit gegenü- eingespart werden. ber gemeinnützigen Leistungen und Elec- ™ Wenn die Möglichkeiten zur Erweiterung tronic Monitoring sowie für mehr beding- der bedingten Entlassung (sowohl mehr te Entlassungen erkennbar. wie auch frühere bedingte Entlassun- ™Wir sind weiterhin der Auffassung, dass gen) auch nur annähernd ausgeschöpft Electronic Monitoring lediglich als eine würden, könnten sich bei vorsichtiger Möglichkeit des Vollzuges von Freiheits- Schätzung die Anzahl der inhaftierten strafen sowie als eine Form der Entlas- Strafgefangenen um ca. 10% der Haft- sungsvorbereitung bei längeren Freiheits- plätze im Strafvollzug, also um ca. 550 strafen eingesetzt werden sollte. Plätze verringern. ™Wir bedauern, dass die – durchaus kon- struktiven – Diskussionen über alterna- Unserer Vorschläge wären nicht zum tive Formen des Freiheitsentzuges und Nulltarif zu realisieren. bedingte Entlassung bisher nicht zu legis- ™Sie ersparen jedoch die Errichtung (1 tischen Maßnahmen geführt haben. Wir Haftplatz: ca. 100.000 Euro) und den Un- halten eine rasche Umsetzung unserer terhalt („Tagsatz“: ca. 80 Euro) zusätzli- Vorschläge von Mai 2004 für erforderlich. cher Haftplätze. ™Sie sind im Vergleich zu Anstaltsneubau- 2. Maßnahmen zur Absenkung ten wesentlich billiger. der Zahl ausländischer Häftlinge ™Sie erleichtern wesentlich die soziale Der Anteil von Insassen der Strafvoll- Reintegration der Häftlinge. zugsanstalten mit ausländischer Staats- 119 bürgerschaft steigt in den letzten Jahren 3. Die beste Kriminalpolitik ist eine beständig. Für diejenigen unter ihnen, die andere Migrationspolitik keinen Wohnsitz oder sonstigen sozialen Die Zahlen polizeilich ermittelter Straf- Bezugspunkt (Arbeit, Verwandte etc) in täter in Österreich sind zwischen 2001 und Österreich haben, ist eine Resozialisierung 2003 um insgesamt 12% gewachsen, die im Inland mit erheblichen Schwierigkeiten Anzahl der Straftäter fremder Nationali- verbunden. Mangels ausreichender Kon- tät um 24%, davon solcher im Status des trollmöglichkeiten in Österreich wirkt sich Asylwerbers bzw. des irregulär Aufhältigen dies zumeist auch auf eine bedingte Ent- um 48%. Am Durchschnittsbelag der öster- lassung aus. reichischen Justizanstalten ist der Anteil Für diese Personengruppe sollten daher Gefangener mit fremder Staatsbürger- andere Lösungsmöglichkeiten erwogen schaft seit 2001 von 31 auf 45% gestiegen. werden, um die Haft im Inland zu ver- Wer sich mit Kriminalpolitik und Gefäng- kürzen. Bei Strafgefangenen, welche die nissen befasst, kann an der Migrationspo- Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Staa- litik nicht vorbeisehen. tes besitzen und keine sozialen Bezugs- Österreich reguliert Migration nach dem punkte zu Österreich aufweisen, wäre eine Arbeitsmarktbedarf und nicht den Bedürf- vereinfachte Übernahme der Strafvollstre- nissen von MigrantInnen. Es gibt dennoch ckung durch den Heimatstaat des Inhaf- Migration, die sich dieser Räson nicht fügt. tierten anzustreben. Über die Größenordnung dieser irregulä- Werden illegal in Österreich aufhältige ren Migration herrscht Unklarheit, als Fak- Fremde kriminell, so führt dies deutlich tum sollte sie aber zur Kenntnis genom- häufi ger als bei Inländern zu (zumindest men werden. teilweise) unbedingten Haftstrafen. Dies Einzig auf dem Wege des Asylantrags schlägt sich in der Statistik der Häftlings- kann Anerkennung für individuelle Wan- zahlen nieder: Die Zahl der inhaftierten derungsgründe gesucht werden. Das Fremden ist in den letzten Jahren deutlich Asylrecht respektiert zumindest einige gestiegen. Die Kriminalpolitische Initiati- Fluchtgründe und hat daher eine Aus- ve schlägt vor, vorerst befristet einen § 4a weichfunktion. Asylverfahren dauern dabei StVG einzuführen, der ein vorläufi ges Abse- in Österreich wegen ihrer defi zitären Ver- hen vom Strafvollzug ermöglicht, wenn der fahrensorganisation ungewöhnlich lange. Verurteilte auf Grund eines rechtskräftigen Deshalb bleiben AsylwerberInnen oft Aufenthaltsverbotes in seinen Heimatstaat jahrelang sozial rudimentär bis unterver- abgeschoben werden soll. sorgt und von den Möglichkeiten der re- Voraussetzung dafür ist, dass der Verur- gulären Selbstversorgung (vom Arbeits- teilte die Hälfte der über ihn verhängten markt) weitgehend ausgeschlossen. Viele Freiheitsstrafe verbüßt hat, er der Vollstre- Menschen bleiben auch trotz negativer Be- ckung der Abschiebung in seinen Heimat- scheide in Österreich. Sie leben in einer be- staat unwiderrufl ich zustimmt und einer sonders prekären Situation. Abschiebung keine anderen Hindernisse In dieser werden für manche Asylwer- entgegenstehen. Kehrt der abgeschobene berInnen wie irregulär Aufhältige die „Be- Verurteilte in das Bundesgebiet zurück, so schäftigungs- und Sozialprojekte“ der Or- ist der Rest der über ihn verhängten Strafe ganisierten Kriminalität zur Hoff nung. Die zu vollziehen. Perspektivlosigkeit entfremdet MigrantIn- Die Vollziehung eines Aufenthaltsverbo- nen zudem subjektiv von der Aufnahme- tes scheitert sehr oft daran, dass die Perso- gesellschaft, lässt Normbrüche weniger naldaten des Häftlings nicht gesichert sind schlimm, ja entschuldbar erscheinen. und sich daher der vom Verurteilten ange- gebene Heimatstaat weigert, den aus der Kriminaljustiz und Strafvollzug büßen Haft Entlassenen zurückkehren zu lassen, mit hohen Kosten für eine unzulängliche weil dessen Staatsbürgerschaft nicht fest- Migrationspolitik, nämlich für steht. Tatsache ist, dass derzeit bei einem ™schlecht organisierte Asylverfahren, erheblichen Teil der illegal in Österreich ™Schikanen für AsylwerberInnen beim Zu- aufhältigen Ausländer im Strafvollzug eine gang zu Grundversorgung und Arbeits- nach Strafende verfügte Abschiebung markt, nicht vollstreckt werden kann, weil die ™fehlende soziale Mindestrechte und Identität unklar ist oder eine falsche Iden- Rechtshilfe auch für irregulär Aufhältige, tität vorliegt. ™Eine zunehmende „Kriminalisierung“ Ziel sollte daher sein, den ausländischen irregulärer Wanderung, Verurteilten zu einem kooperativen Ver- ™mangelnde Anerkennung für soziale In- halten bei dessen Rückführung in sein Hei- tegrationsleistungen von asylrechtlich matland zu bewegen. Abgewiesenen, ™unzureichende Rückkehrberatung und -hilfen.

120 5 Ermutigungen Ë Soziale Alternativen, Ansätze und Beispiele 5.13 Sichtbar Werden!

Ein Projekt von Selbstorganisationen, Initiativen und Selbsthilfegruppen armutsgefährdeter und -betroffener Frauen und Männer.

Ziel ist die Stärkung von Initiativen, Alle Erfahrungsberichte zeigten die man- Selbsthilfegruppen und Organisationen gelnde Existenzsicherung der Sozialhilfe, armutsgefährdeter und betroff ener Frau- die österreichweit im Zugang und ihren en und Männer im Sinne von Wissenaus- Leistungen verbessert werden muss. tausch + Vernetzung, dem Sichtbarmachen Weitere Ergebnisse: (gemeinsamer) Anliegen und der Entwick- ™Statt Alleinerziehende mit ihren Kindern lung (gemeinsamer) politischer Strategien: ins finanzielle Out zu stellen, besser den Dabei geht es auch um den Wissens- und Unterhalt an Bedürfnissen der Kinder Erfahrungsaustausch in der konkreten Ar- orientieren. Um die Chancen der Kinder beit, z.B. rund um Fragen Vereinsgründung, zu verbessern wünschen sich alle, die für Öff entlichkeitsarbeit, Finanzierungsgrund- das finanzielle Überleben auch am Nach- lagen, Förderwesen, Rhetorik, Moderation, mittag arbeiten müssen, eine kostenlose Menschenrechte, Konfl iktlösung, etc. Nachmittagsbetreuung an der Schule. ™Statt Zugangsbarrieren zum Gesund- Mit dabei sind AkteurInnen aus Selbst- heitssystem: endlich e-card auch für organisationen, Selbsthilfegruppen und SozialhilfebezieherInnen einführen. Initiativen von verschiedenen Betroff enen- ™38% aller MigrantInnen arbeiten in Jobs, für Das Projekt „Sichtbar Werden!“ wird von der gruppen (MigrantInnen, Erwerbsarbeits- die sie überqualifiziert sind. Die vielen Qua- Armutskonferenz koor- lose, Alleinerzieherinnen, Wohnungslose/ lifikationen von Zugewanderten sollen an- diniert und gemeinsam MitarbeiterInnen von Straßenzeitungen, erkannt und als Potential genützt werden. mit: Verein Arbeitslosen- psychisch Erkrankte, Menschen mit Behin- ™Hilfesuchende werden von einem Amt sprecherIn, derungen …) zum anderen geschickt. Statt Bürokratie- Initiative Arbeitslosigkeit, dschungel wünschen sich alle ein One- pro mente Österreich, HPE – Hilfe für Ange- „Wir sind keine Bittsteller, wir wollen Re- Desk Prinzip bei Sozialleistungen: eine hörige und Freunde spekt“, so die TeilnehmerInnen des ersten Stelle, wo man Informationen und Hilfe- psychisch Erkrankter, österreichweiten Treff ens von Menschen stellung bekommt. Österreichische Platt- form für Alleinerzie- mit Armutserfahrung, das als Auftakt vom ™Für die Begutachtungen bei Pflegegeld hende, 21. bis 27. April 2006 stattfand. Erstmals und Invalidität fordern die Betroffenen Selbstorganisationen sind dabei Erwerbsarbeitslose, Mitarbei- kompetente ÄrztInnen oder Fachleute von Migrantinnen (Equal-EP wip: work in terInnen von Straßenzeitungen, psychisch aus anderen Gesundheitsberufen. process), Erkrankte, Menschen mit Behinderungen, ™Sozialanwaltschaften, die soziale Rechte Selbstvertretungs- organisationen von Alleinerzieherinnen und MigrantInnen mit Rechtsmitteln durchsetzen können. Menschen mit Behin- drei Tage zusammen gekommen, um ge- ™Freifahrt für Einkommensschwache auf derungen, meinsam über Strategien gegen Armut zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Straßenzeitung Kupfer- muckn – Augustin TV beraten. ™Die Schwerpunkte der drei Tage lagen u.a. durchgeführt. auf dem Zugang, Durchsetzung und Ver- „Sichtbar Werden sollen unsere Alltags- besserung von Sozialleistungen, Maß- erfahrungen. Sichtbar Werden sollen un- nahmen gegen Diskriminierung und ser Können und unsere Stärken. Sichtbar Ausgrenzung, Bewältigungsstrategien werden sollen unsere Forderungen und in akuter Armut, die Erfahrungen an der Wünsche zur Verbesserung der Lebenssi- Schnittstelle Existenzsicherung und Ar- tuation.“ beitsmarkt.

Sechs TeilnehmerInnen des Treff ens nahmen Mitte Mai am 5. Europäischen Treff en von Menschen mit Armutserfahrungen in Brüssel teil, in dessen Zentrum ebenfalls die konkreten Lebensbedingungen von Menschen mit Armutserfahrungen, sowie die sich daraus ergebenden politischen Forderungen, standen. Gefordert wurden u.a. ein existenzsicherndes Einkommen, qualitätvolle Arbeitsplätze, der garantierte Zugang zu sozialen Dienstleistungen für alle und ein sozial- und arbeitsmarktpolitisches System, das eine sinn- volle Kombination von Arbeitsmarktbeteiligung, Training, Einkommen und Sozialleistungen entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen ermöglicht. Hervorgehoben wurde die Notwendigkeit eines qualitätsvollen Bildungssystems nach dem Prinzip der Chancengleichheit, leistbarer Wohnraum und Gesundheitsversorgung, Zugang zu Information, Kunst und Kultur. Ernsthaftere Anstrengungen zur Bekämpfung und Vermeidung von Diskriminierung und Rassismus sowie mehr Rechte für ethnische Minderheiten, AsylwerberInnen und illegalisierte MigrantInnen.

Das österreichische Projekt wird im Herbst mit Seminaren zu Öff entlichkeitsarbeit, Durchsetzung sozialer Rechte und Stärkung des Selbstwerts und einem zweiten österreichweiten Treff en fortgesetzt. 121 Programm • Mittwoch 19.Oktober 2005 14.00 Begrüßung – Einstieg mit Ad-Hoc-Theater Forum 3: Wer will, kann gewinnen! (Aniko KAPOSVARI und Ed WATZKE u.a.) Mythos soziale Mobilität 15.00–18.00 Wie ökonomische Mythen wirken. Referat „Drinnen und Draußen, Oben und Unten“. Forum 1: Wir können uns das nicht mehr leisten! Anfragen an Kategorien der Ungleichheit.“ Mythos Ende des Sozialstaats Martin KRONAUER (Univ.Prof., Fachhochschule für Wirtschaft Berlin) Moderation: Martin SCHENK (Diakonie Österreich)

Referat Wie Sachzwangdiskurse soziale Alternativen blockieren Arbeitsgruppen Sieglinde Katharina ROSENBERGER 3a. Bildung und soziale Herkunft (Univ.-Prof., Inst. f. Politikwissenschaft, Wien) „Bildung als Privileg? Aktuelle Befunde und Zusammenhänge“ Workshops Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten... Birgit LANG (PISA-Projektzentrum), 1a … aus Gründen der Gerechtigkeit Simon BURTSCHER (Institut Okay. zusammen leben), Friedhelm HENGSBACH SJ Gerhard WOHLFAHRT (Univ.-Ass., Inst. f. Volkswirtschaftslehre, Uni Graz) (Prof., Philosophisch-Theologische Hochschule St. Georgen, Frankfurt) Moderation: Waltraut KOVACIC (Diakonie Österreich) Moderation: Peter BRAUN (St. Virgil, Salzburg) 3b. Migration und soziale Mobilität 1b … aus ökonomischen Gründen „Sozialer Aufstieg nicht vorgesehen?“ Christine MAYRHUBER (Wirtschaftsforscherin, Wien) August GÄCHTER (Zentrum für soziale Innovation) Moderation: Robert BUGGLER (Salzburger Armutskonferenz) Moderation: Maria RÖSSLHUMER (Autonome Österr. Frauenhäuser) 1c … aus demographischen Gründen 3c. Gesundheit und soziale „Vererbung“ Gerd BOSBACH (Prof., FH Koblenz) „Arme Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen“ Moderation: Stefan EWALD-WALLNER (Caritas Österreich) Willibald STRONEGGER (Univ.-Prof., Inst f. Sozialmedizin, Uni Graz) Moderation: Werner SCHÖNY (pro mente austria) 1d … weil er Armut erzeugt und verfestigt, statt sie zu beseitigen Gerhard BÄCKER 3d. Sozialer Ausschluss auf Zeit? (Prof., Institut f. praxisorientierte Sozialwissenschaften, Duisburg) „Episoden sozialen Ausschlusses“ Moderation: Sylvia HOFMANN (Wiener Hilfswerk) Inge KARAZMAN-MORAWETZ (Inst. für Rechts- und Kriminalsoziologie, Uni Wien) 1e ... weil der Markt auch im Bereich der Daseinsvorsorge effizienter ist „SozialhilfebezieherInnen und Zeit“ als die öffentliche Bereitstellung Christine STELZER-ORTHOFER Karin KÜBLBÖCK (Ass.-Prof., Inst. für Sozialpolitik, Uni Linz) (Österr. Forschungsstiftung für Entwicklungshilfe, Attac Österreich) Moderation: Werner BINNENSTEIN-BACHSTEIN (Caritas d. ED Wien) Moderation: Erich FENNINGER (Volkshilfe Österreich) 1f ... weil private Vorsorge sicherer & lukrativer ist Michael R. KRÄTKE (Prof., Department of Political Science, Universität Forum 4: Alles Management! Amsterdam) Mythos: Armutsbekämpfung durch Fordern, Moderation: Judith HABERHAUER-STIDL Fördern und Strafen (Österr. Berufsverband der SozialarbeiterInnen) Inputs und Podiumsdiskussion Forum 2: Hauptsache Arbeit? • Wohlfahrtsstaatsentwicklung und die Folgen für die Soziale Arbeit Mythos Soziale Sicherheit durch Erwerbsarbeit - der neue (starke) Staat? Heinz Jürgen DAHME (Prof., Hochschule Magdeburg-Stendal) Referat Hauptsache Arbeit? • Vom Teilen zum Tauschen. Soziale Sicherheit und "das Ganze der Arbeit" Die (un)heimliche Ökonomisierung des Sozialen Adelheid BIESECKER (Univ.-Prof., Universität Bremen) Andrea TRENKWALDER- EGGER (Management Center Innsbruck/FH für Sozialarbeit Kurzreferate • Qualitätsmanagment - Ökonomisierung oder Professionalisierung? • Fetisch Arbeit. Über die totalitäre Arbeitsreligion und die begriffliche Achim TRUBE (Prof., Politikwissenschaft, Universität Siegen) Identität von Arbeit und Unmündigkeit Maria WÖLFLINGSEDER (Mitherausgeberin von „Dead Men Working“) • Wohlfahrtsstaat und/oder Zivilgesellschaft? Soziale Arbeit als neosoziale Aktivierungsinstanz - der Bürger wird´s schon richten • Prekäre Verhältnisse: MigrantInnen in Haus- und Sexarbeit Fabian KESSL (Fakultät für Pädagogik, Universität Bielefeld) Luzenir CAIXETA (maiz) • Ausschluss und Strafe - Strategien gegen die Unwilligen • Quantität statt Qualität. Helga CREMER-SCHÄFER Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen – mit welchem Ziel? (Univ.-Prof., Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt) Manuela VOLLMANN (Bundesdachverband für Soziale Unternehmen) Moderation: Hansjörg SCHLECHTER (NEUSTART) • Fordern und fördern. Erfahrungen mit Hartz IV Alfred SCHLEIMER (Deutscher Caritasverband) 18.30 Abendessen • Qualitätsstandards von Arbeit – Luxus oder Notwendigkeit 19.30 Lesung: Autorin Kathrin RÖGGLA, “Wir schlafen nicht“und Ayla SATILMIS (Universität Marburg) „Draußen tobt die Dunkelziffer“ 20.30 Theater: Dreck. Ein Stück von Robert SCHNEIDER. Anschl. Gesprächsgruppen mit den ReferentInnen und Konzept/Spiel: Werner BINNENSTEIN-BACHSTEIN Plenumsdiskussion Konzept/Regie: Rainer VIERLINGER Moderation: Michaela MOSER, ASB Schuldnerberatungen GmbH

122 Programm der 6. Armutskonferenz Programm • Donnerstag 20.Oktober 2005 09.15 Wie ökonomische Mythen wirken Werkstatt 7 Schlaglichter mit Ad-Hoc-Theater Jenseits von Strafe und Ausschließung Moderation: Margit APPEL (ksoe) Helga CREMER-SCHÄFER (Prof., Johann Wolfgang Goethe Univ. Frankfurt) Arno PILGRAM (Univ.-Prof., Institut für 10.00 Referat Welthaushalt und Wirtinschaft. Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien) Entwürfe für eine erneuerte Politik des Sozialen Moderation: Leo SCHILCHER (NEUSTART Salzburg) Ina PRAETORIUS (Germanistin, Theologin und Ethikerin, Wattwill/CH) Anfragen und Diskussion Werkstatt 8 Ein soziales Europa für alle! Europäische Zusammenarbeit von Armutsnetzwerken 11.00 Pause Izabella MARTON (Ungarisches Armutsnetzwerk) Laco ORAVEC (Slowakisches Armutsnetzwerk) Patrizia BRANDELLERO (European Anti Poverty Network) u.a. 11.30 Referat Europas soziale Utopie. Werkstatt in englischer Sprache! Sozialstaat für EU-Europa? Michael R. KRÄTKE Werkstatt 9 (Prof., Department of Political Science, Universität Amsterdam) Wohlfahrtsstaat und Zivilgesellschaft Anfragen und Diskussion Fabian KESSL (Fakultät für Pädagogik, Universität Bielefeld) Heinz-Jürgen DAHME (Prof., Hochschule Magdeburg-Stendal) Moderation Peter SPIELER (SOS Menschenrechte OÖ) 12.30 Mittagessen Werkstatt 10 14.00–17.00 Werkstätten Parecon – Ein Konzept der partizipativen Ökonomie Johannes JÄGER (Ökonom der FH des bfi Wien) Rainer TOMASSOVITS Werkstatt 1 (Ökonom, Institut f. politökonomische Forschung, Wien) Grundeinkommen – Mindestsicherung – Sozialstaat Margit APPEL (Katholische Sozialakademie Österreich) Werkstatt 11 Severin RENOLDNER (Theologe, Pastoralamt der Diözese Linz) Social Banking Zugang zu adäquaten Finanzdienstleistungen für alle Werkstatt 2 Thomas PACHL (Schuldnerberatung, Tirol) Lebenschancen und soziale Inklusion – der Beitrag der Moderation: Hans W. GROHS (ASB Schuldnerberatungen) Daseinsvorsorge Werner RAZA (Ökonom, AK Wien) Werkstatt 12 Veronika LITSCHEL (Sozialwirtschafts-Expertin) Fair Steuern! Zur Finanzierung des Sozialen Moderation: Martina KARGL (Caritas der ED Wien) Christian FELBER (Wirtschaftspublizist)

Werkstatt 3 17.00 Gemeinsames Forum: Erfolgreiche Strategien zur Arbeitsintegration Vom Vermittlungsproblem zur Handlungskompetenz Austausch und Präsentation von "Ermutigungen" – Barbara REITERER (Caritas Österreich) Ein Filmexperiment von Paul WEIHS und Manuel RENNEIS (Verein rewalk) Werkstatt 4 17.45 Warum soziale Alternativen realisierbar sind Zukunft trotz(t) Herkunft Wie Bildungschancen unabhängig von sozialer Herkunft 18.30 Konzert Gustav gewährleistet werden können Karl Heinz GRUBER (Univ.-Prof., Institut f. Erziehungswissenschaft, Wien) Gerda HOLZ (Inst. f. Sozialpädagogik, Frankfurt) Moderation: Josef MAUERLECHNER (Die Armutskonferenz) FRAUEN-VOR!-KONFERENZ Mut zum Möglichen: Frauenarmut ist vermeidbar! Werkstatt 5 Die Stärke der Schwachen Partizipation, Empowerment oder Widerstand Diskussion – Vernetzung - Strategieentwicklung Rudolph BAUER (em. Prof., Institut f. lokale Sozialpolitik und Non-Profit-Organisationen, Bremen) Moderation: Heinz HARRICH (Erwachsenenbildner) Dienstag, 18. Okt., 19.00-21.00 Steuern gegen Frauenarmut. Geschlechtergerechte Steuerpolitik Werkstatt 6 Soziale Arbeit – Jenseits des Marktes Mittwoch, 19. Oktober 2005, 9.00-12.00 Zukunft der Sozialen Arbeit Michael KLASSEN (Management Center Innsbruck) „1000 Stunden sind genug“ - Arbeitsmarkt- und Wundermittel „Private Public Partnership“ in der sozialen Arbeit Arbeitszeitpolitik als Instrument zur Vermeidung von Georg DIMITZ (Österr. Berufsverband der SozialarbeiterInnen) Frauenarmut mit Adelheid BIESECKER Gewerkschaftliche Strategien in der sozialen Arbeit Eva SCHERZ (GPA) Detailprogramm: www.frauenarmut.at

123 10 Jahre Armutskonferenz 10 Jahre kompromisslos auf Seiten der sozial Benachteiligten. 10 Jahre Stimmen gegen Armut. 10 Jahre Öffentlichkeit gegen Verharmlosen und Verdrängen. 10 Jahre Forschung für weniger Armut.

“Armut ist ein Faktum, davor darf man die Augen nicht verschlie- ßen. Der Unterschied zwischen Arm und Reich wird nicht kleiner, sondern eher größer. Darum muss man sich kümmern.“ Die letzte Armutskonferenz war wieder “Die Armutskonferenz zeigt Fakten auf und diese müssen Eingang einmal Spitze und ein großer Erfolg. in die politische Diskussion fi nden.“ Fischer wies in dem Zusam- Ich wünsche mir, dass Ihnen die Ideen menhang auf die „Zusammensetzung der Armutskonferenz“ hin, nicht ausgehen. Bertl Weißengruber, Verkäufer und Redakteur der in der „Organisationen wie die Diakonie, die Caritas oder auch Straßenzeitung Kupfermuckn verschiedene Beratungsstellen vertreten sind.“ Wenn diese „ ein gemeinsames Ziel formulieren“, werde man „sich dem nicht ent- ziehen können.“ Kolping Österreich wünscht der Armutskonfe- Heinz Fischer, Bundespräsident renz zum 10. Geburtstag, dass sie weiterhin das soziale Gewissen unseres Landes bleibt und Mo- tor ist für die konkrete Armutsbekämpfung. ...Namens des Wiener Hilfswerks wünsche ich der Renate Draskovits, Kolping Österreich Armutskonferenz: 1) Einen politischen Beschluss als Willenskund- Im Namen der Österreichischen Plattform für Alleiner- gebung zur Bekämpfung von Armut und sozialer ziehende wünsche ich der Armutskonferenz zu ihrem Ausgrenzung. 10-jährigen Jubiläum, 2) Frauen und Männer, die dafür Sorge tragen, • dass sie von den Entscheidungsträgern in Politik und dass Armut und soziale Ausgrenzung keine Rele- Gesellschaft noch stärker als bisher als Stimme der Ar- vanz haben. men und Ausgegrenzten gehört, wahr und ernst ge- 3) und dass Frauen und Männer ihren Kindern ein nommen wird Märchen von „Armut“ erzählen können, dass mit: • dass in Zukunft keine politischen Entscheidungen „Es war einmal“ beginnt!Sylvia Hofmann, Wiener Hilfswerk mehr ohne Einbeziehung der Armutskonferenz getrof- fen werden Für mich gehört die Armutskonferenz zu den weni- • und dass ihre Forderungen aufgegriff en, diskutiert und gen unverzichtbaren Einrichtungen in Österreich, die einer positiven Lösung zugeführt werden. allen Menschen mit geringen Teilhabechancen in un- Durch das tatkräftige und oft auch selbstausbeuteri- serer Gesellschaft (im umfassenden Sinn - nicht nur sche Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter materiell) eine unüberhörbare Stimme verleihen. Die konnte die Armutskonferenz in relativ kurzer Zeit einen Armutskonferenz wird von den Medien und Interes- nicht mehr wegzudenkenden Platz in der Gesellschaft senvertretungen, aber auch von Verantwortlichen der erringen. Danke für Euren unermüdlichen Einsatz! Politik, Wirtschaft und Kirche als wichtiger Partner und Ingrid Piringer, Vorsitzende der Österr. Plattform für Alleinerziehende Mahner ernst genommen, auch wenn die Umsetzung der Anregungen und Forderungen noch viel Geduld erfordern wird. Entscheidend für diesen erfreulichen Stellenwert der Nach 10 Jahren Armutskonferenz kann ich nur darü- Armutskonferenz sind ber staunen, dass immer noch Politiker akzeptieren, - die nachvollziehbaren Fakten und Argumente, dass Hilfesuchende bei der Sozialhilfe in jedem Bun- - praxisnahe und umsetzbare Lösungsvorschläge, desland unterschiedlich viel wert sind. Staunen darü- - eine breite Palette an Mitgliedsorganisationen und ber, dass es noch immer Leute gibt, die Armut in erster kein Naheverhältnis zu einer der politischen Parteien, Linie für selbstverschuldet halten. Staunen darüber, - und in ganz besonderer Weise jene Personen, die in dass Bildungsverantwortliche nicht alles tun, um die der Öff entlichkeit als VertreterInnen und SprecherIn- Zukunft von Kindern unabhängig von ihrer Herkunft nen dieser gesamtösterreichischen Einrichtung auf- zu gewährleisten. Staunen darüber, dass Gesundheits- treten und auch wahrgenommen werden - allen voran politiker nicht rotieren, wenn Arme früher sterben als Martin Schenk und Michaela Moser. Reiche. Ich wünsche allen Verantwortlichen der Armutskonfe- Hinter die Standards, die die Armutskonferenz in die- renz weiterhin Kreativität und viele Energien bei ihrem sen 10 Jahren gesetzt hat, kann niemand mehr zurück. Engagement als AnwältInnen für die große und leider Diese 10 Jahre waren erst der Anfang. Die Armutskon- steigende Zahl der von Armut betroff enen bzw. ar- ferenz hat bewegt und bewegt aktuell. Wir werden er- mutsgefährdeten Menschen in Österreich und darüber staunt sein, was sie alles noch bewegen wird. hinaus. Michael Chalupka, Direktor der Diakonie Österreich Hans Riedler, Mitbegründer, ehem. Bischöfl iche Arbeitsstiftung Linz

124 10 Jahre Armutskonferenz Der Armutskonferenz ist es gelungen, sich regelmäßig und beharrlich zu Wort zu melden und sich einzumi- schen. Die Themen Armut und Armutsbekämpfung können von keiner Regierung mehr übersehen oder als Ich wünsche der Armutskonferenz, dass sie sich in 10 nicht relevant abgetan werden. Jahren wegen außerordentlich erfolgreicher Arbeit auf- In dem Sinne wünsche ich der Armutskonferenz weiter- lösen muss ... hin einen langen Atem, viele kreative Ideen und eine Die Armutskonferenz ist für mich DER Garant /DIE Ga- große Portion Humor, so lange, bis sie überfl üssig ge- rantie dafür, dass die Schwächsten der Schwachen eine worden ist. Stimme haben, die auch zunehmend gehört wird. Die- Waltraut Kovacic, Evangelische Akademie Wien: sen Weg muss die Konferenz weitergehen, um politisch klar fordern zu können: GEHT´SMichael DEN Felten,ÄRMSTEN pro mente GUT austria - GEHT´S UNS ALLEN GUT ... Die Armutskonferenz steht seit zehn Jahren für die eindeutige Botschaft, dass Armut und soziale Ausgren- zung keine Naturgesetze sind und nicht als unvermeid- lich hingenommen werden müssen. Wir wünschen der Armutskonferenz zum 10- Die ksoe als Mitbegründerin der Armutskonferenz un- jährigen Bestehen terstreicht die Verantwortung der Politik für den sozi- ... eine öff entliche Basisfi nanzierung, damit die alen Ausgleich. Dabei spielt die Sicherung der steuer- Arbeit professionell und ausschließlich inhalts- lichen Finanzierung des Sozialstaates eine besondere bezogen (also ohne Armutsgefährdung der Rolle. Statt auf einem „schlanken Staat“, der Risiken Armutskonferenz) auch die nächsten 10 Jahre privatisiert, hat das Augenmerk vielmehr auf solidari- durchgeführt werden kann. Das könnte in Form schen Lösungen und mehr Steuergerechtigkeit zu lie- einer gesetzlichen Verankerung der Armutskon- gen. ferenz erfolgen so wie auch andere Lobbygrup- Für ein weiteres gemeinsames und kraftvolles Engage- pen (Jugend, Senioren etc...) und Organisatio- ment in diesen Themenfeldern wünscht die ksoe der nen gesetzlich verankert sind und damit einem Armutskonferenz alles Gute! gesellschaftspolitisch erwünschten Auftrag un- Markus Schlagnitweit, Direktor der abhängig nachkommen können. Katholischen Sozialakademie Österreichs Hans W. Grohs, Geschäftsführer der ASB Schuldenberatung

Bei der 6. Armutskonferenz hat man wieder ge- Ich wünsche der Armutskonferenz, dass sie als Graswurzel- spürt, wie viele Menschen und Organisationen Bewegung lebendig bleibt und sich weiter ausbreitet, als sich für den sozialen Zusammenhalt in Österreich ein Ferment der gesellschaftlichen Erneuerung. engagieren. Das gibt Kraft für die tägliche Arbeit, Armut stört, muss verschwiegen werden. Die Armen sind denn gemeinsam bringen wir doch etwas weiter. die „unsichtbaren Menschen“. Ich wünsche der Armutskon- Ich wünsche der Armutskonferenz einen langen ferenz, dass sie als Menschenrechtsbewegung nicht müde Atem. Damit sie nicht nur alle 10 Kerzen in einem wird, den Skandal der Armut in der Öff entlichkeit zu hal- Atemzug ausblasen kann, sondern auch noch ge- ten. nug Luft hat, sich als Stimme derer die keine Lobby Ich sehe als Verdienst der Armutskonferenz, dass sie, jen- haben, weiterhin Gehör zu verschaff en. seits der etablierten politischen Lager, für eine innovative, Heinz Zauner , Arge für Obdachlose, Linz zeitgemäße und zukunftsfähige Sozialpolitik eintritt. Die Armutskonferenz bleibt ein Stachel für die großen Partei- en, der sie, inmitten der Schönen Neuen Wirtschaftswelt, an ihre christlichenErnst und Fürlinger, sozialistischen Mitbegründer, Werte ehem. erinnert. Bildungshaus St.Virgil

10 Jahre gibt es die Österreichische Armutskonferenz Armut ist vielen Menschen peinlich. Die Betrof- nun und dazu möchte ich ihr im Namen der Caritas der fenen tun alles, um ihre Lage zu verbergen. Die Erzdiözese Wien sehr herzlich gratulieren! In diesen 10 Armutskonferenz vernetzt die Initiativen zur Be- Jahren ist das Netzwerk beständig gewachsen, und es kämpfung von Armut und schaff t es immer wie- hat in dieser Zeit nicht nur wichtige und kluge Analysen der aufs Neue, mit kreativen Ideen die Schein- zu armutsrelevanten Fragen geliefert, Studien angeregt werfer auf die Ursachen dieser versteckten Not in und Projekte durchgeführt, sondern war auch immer be- Österreich zu richten. Durch die Konferenzen und dacht, konstruktive Vorschläge für eine eff ektive Politik den regen Austausch zwischen den Mitgliedern gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu präsentieren. und Meinungsbildnern fördert sie den Dialog So ist die Armutskonferenz heute aus der sozialpoliti- zwischen Wissenschaft, Praxis, Verwaltung und schen Debatte nicht mehr wegzudenken. Zugleich aber Politik. wünschen wir der Armutskonferenz und uns allen für die So gelingt es ihr auch, das Thema Armut auf die nächsten 10 Jahre, dass es der „Mut“ ist, der beim Blick politische Agenda zu bringen. Zehnjährig hat die auf die arMUT großgeschrieben wird. Denn Armut ist Armutskonferenz nichts von ihrer „Unbequem- kein Schicksal, schon gar nicht in einer wohlhabenden heit“ eingebüßt. In diesem Sinne gratuliere ich Gesellschaft wie der unseren.

ihr ganz herzlich zu ihrem Jubiläum und wünsche Michael Landau, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien: weiterhin alles Gute. Franz Küberl, Caritas-Präsident

125 6.01 Filmwoche „La Dolve Vita. Armut im Film“ Bilderreichtum: Filme, die den Bildern von Armut nachgehen und Orte an den Rändern aufsuchen.

grafi khiasl

126 Filmwoche „La Dolce Vita“ Wien Oberösterreich 23.- 29.9.2005 • De France 7.- 14.10.2005 •Linz•Freistadt•Wels•Lenzing•Vöcklabruck

„Ein Kino hat eine Woche lang ihren BesucherInnen Filme jenseits der Klischees vom würdi- gen oder unwürdigen Armen gezeigt, Bilder jenseits der üblichen Darstellungen von Armen als Objekt erobernder Fürsorge oder als verewigtes Opfer“, zieht die ARMUTSKONFERENZ positiv Bilanz. „Orte, die sonst im Dunkeln bleiben. Blickwinkel, die nicht gezeigt werden. Bilder, die nicht vorkommen. Die Schicksale der Betroffenen bleiben anonym. Dabei hat Armut viele Gesichter. Und konkrete Ursachen.“ In Oberösterreich startete die Filmwoche mit „Schnelles Geld“, einer Dokumentation von Regis- seurin Sabine Derflinger, die ein Jahr lang das Leben von obdachlosen Jugendlichen, die sich ihren Lebensunterhalt auf der Mariahilfer Straße erschnorren, begleitet und dokumentiert hat.

Isabella Reicher, Der Standard: Stefan Grissemann, profi l: Die Diebin von St.Lubin „Y’aura-t-il de la neige à Noel? / Wird “Die Diebin von St. Lubin greift ein vom es zu Weihnachten Schnee geben?“ zeitgenössischen Kino vernachlässigtes Schönheit und Abgrund liegen in diesem Thema auf und beschreibt sehr nüchtern Film nah beieinander: Eine junge Mutter und genau die alltägliche Zwangslage ei- sieht sich gezwungen, ihre sieben Kinder, ner working poor. Regisseurin Claire De- Feld- und Hausarbeit sowie einen Mann zu vers geht es nicht darum, vordergründige versorgen, der sich alle paar Tage davon- Betroff enheit zu erzeugen, stattdessen stiehlt, um sich einer zweiten, seiner „legiti- macht sie nach und nach institutionelle men“ Familie zu widmen. Das bestechende und politische Zusammenhänge sichtbar. Regiedebüt einer Neunundzwanzigjähri- Die konkrete Geschichte kann somit auch gen: Die französische Filmautorin Sandrine im Hinblick auf vergleichbare Verhältnisse Veysset hält in ihrer Beschreibung des Ar- anderswo gelesen werden.“ beits- und Landlebens virtuos die Balance zwischen Depression und Lebensmut, in Gabriele Flossmann, ORF: semidokumentarischen, melancholiege- „Darwin‘s Nightmare“ Hubert Sauper tönten Bildern. – er hat es viel überzeugender als alle Live-Aid-Konzerte zusammen geschaff t, „Ressources humaines“ sein Publikum für die Armut Afrikas und für Wie sich politische Analyse zu einem die teils verheerenden Folgen der Globali- hochemotionalen Filmdrama verdichten sierung zu sensibilisieren. Im wohltuenden lässt, ohne aber dabei Kitsch oder Sozialpor- Gegensatz zu herkömmlichen Film- und nografi e zu bemühen, führt der Filmema- Fernsehdokumentationen stellt er nicht die cher Laurent Cantet („L’emploi du temps“) eigene Wahrnehmung in den Vordergrund, hier schlüssig vor: Seine kühl inszenierte sondern er lässt die Betroff enen erzählen. Erzählung vom jungen Wirtschaftsexper- Sehr gut fi nde ich auch „Lilja 4ever“. ten, der durch gut gemeinte Interventio- Ein ebenso spannender wie schockieren- nen in jener Fabrik, in der auch sein Vater der Film über Menschenraub und Kinder- angestellt ist, erst eine Entlassungsserie, prostitution, der - obwohl er seine Themen dann einen Streik heraufbeschwört, kann schonungslos und off en anpackt – ohne jederzeit als Basismaterial zu seriöser poli- Voyeurismus auskommt und die Würde tischer Bildung herangezogen werden. seiner Protagonisten bewahrt. Und dann noch . Der Titel ist zu Recht Michael Omasta, Falter: eine Hommage an den georgischen Regis- Depuis qu‘Otar est parti seur Otar Iosseliani, der ja auch in seiner Otar ist tödlich verunglückt. Marina wortkargen, lakonischen Art ungemein pa- und Ada, seine Schwester und seine Nich- ckend von Landschaften, Menschen und ih- te, sehen sich fortan gezwungen, Briefe ren Schicksalen erzählen konnte. Mir hat er zu fälschen und Fotos zu türken, um sei- sehr viel vom Leben in Georgien nach dem ner Mutter, der greisen Eka, die schlimme Fall des eisernen Vorhangs erzählt. Die drei Nachricht zu ersparen. Mit dieser aus der Frauen, die im Mittelpunkt der Geschichte Not des Herzens geborenen Lüge beginnt stehen, haben unendlichen Charme und eine „Geschichte, die mit dem falschen Fuß ihre Wünsche, Sehnsüchte und Lebenslü- wegsteigt, als ob sie nie dort wäre, wo man gen erzählen viel von den Gegensätzen sie vermutet“ (Bertuccelli). Ein beglücken- und den Gemeinsamkeiten zwischen West- des, in Tifl is und Paris gedrehtes Spielfi lm- und Osteuropa. debüt. 127 Wiener Spendenparlament: Stimmen gegen Armut! Spenden mit Stimmrecht.

„Es hat mich sehr beeindruckt, wie viel En- gagement und Phantasie die einzelnen Sozi- al-initiativen aufwenden, um Menschen auf- zufangen, zu ermutigen und zu begleiten.“ Renate Schütz ist eine Unterstützerin des Wiener Spendenparlaments. Die 60jährige Pensionistin ist seit Grün- dung des Spendenparlaments mit dabei: „Als Bürgerin dieser Stadt ist es mir nicht egal, wie es Menschen neben mir geht.“

Wer im Jahr mindestens 75 € spendet, erwirbt einen Sitz im Wiener Spendenpar- lament. In jährlichen Versammlungen wird gemeinsam diskutiert und abgestimmt, welche sozialen Initiativen wieviel Geld be- kommen sollen. Dieses in Österreich ein- zigartige Projekt sammelt „Stimmen gegen Armut“ durch „Spenden mit Stimmrecht“.

Das Wiener Spendenparlament unter- stützte in der letzten Versammlung im Wie- ner Rathaus den Hauptschulabschluss für benachteiligte Jugendliche, die Betreuung Aids-Kranker, Rechtsschutz für Frauen mit geringem Einkommen, Deutschkurse und ein Medienprojekt für junge Flüchtlinge.

Seit Gründung des Spendenparlaments vor sechs Jahren wurden 100.000 € an 36 Projekte für Menschen in Not vergeben. Es geht um die Verbesserung der Lebensbe- dingungen benachteiligter Menschen.

SchülerInnen engagieren sich gegen Armut Unter den SpendenparlamentarierInnen engagieren sich auch drei Wiener Schulen für Menschen in Not. „Wir haben 75 Euro gesammelt, uns mit den Sozialprojekten vertraut gemacht, in der Klasse diskutiert und abgestimmt“, erzählt Katharina aus der 4b am Gymnasium Schuhmeierplatz. Auch in der HBLA Reumannplatz und an der Hauptschule Kinkplatz haben die jun- gen Leute soziale Fragen in ihren Klassen öff entlich gemacht und sich mit Armut auseinandergesetzt.

www.spendenparlament.at

128 Stimmen gegen Armut Hunger auf Kunst und Kultur!

Der Kulturpass öffnet Theater, Film, Tanz und Musik für die, die sich`s nicht leisten können.

„Der Kulturpass ist wirklich ein Lichtblick in WIEN SÜDWIND meinem derzeitigen Alltag.“ ssagtagt SSabineabine RR.,., SZENE ALTE SCHMIEDE / KUNSTVEREIN WIEN TANZIMPULSE Kulturpassinhaberin. ARNOLD SCHÖNBERG CENTER THEATER BODI END SOLE Die von Schauspielhaus und Armutskon- DAS WIENER KINDERTHEATER THEATER ECCE THEATER YBY ferenz initiierte Aktion „Hunger auf Kunst DIETHEATER KONZERTHAUS DIETHEATER KÜNSTLERHAUS und Kultur“ öff net seit drei Jahren Theater, DONAUFESTIVAL TOIHAUS Film, Tanz und Musik auch für diejenigen, DRACHENGASSE THEATER/BAR VEREIN TANZ_HOUSE VEREIN ZUR FÖRDERUNG ZEITGENÖSSISCHER die es sich nicht leisten können. Menschen, DSCHUNGEL WIEN ENSEMBLE THEATER FOLKMUSIK die Sozialhilfe oder Mindestpension bezie- HERBERT VON KARAJAN CENTRUM ZONE11 hen, Arbeitlose und Flüchtlinge. JEUNESSE - MUSIKALISCHE JUGEND ÖSTERREICHS GRAZ JÜDISCHES MUSEUM WIEN www.schauspielhaus.at JOSEF HADER IM AUDIMAX DER UNI WIEN ALTE GALERIE KLANGFORUM WIEN www.armutskonferenz.at DIAGONALE KONSERVATORIUM WIEN PRIVATUNIVERSITÄT DRAHTSEILAKT KUNSTHALLE WIEN DRAMAGRAZ LILARIUM FREIGANGPRODUKTIONEN MAK - MUSEUM FÜR ANGEWANDTE KUNST GRAZER EVANGELISCHE GEMEINDEN MUSEUM FÜR MODERNE KUNST GRAZER OPER ODEON/SERAPIONSTHEATER INTERACT PORGY & BESS KUDDEL MUDDEL THEATER SAMMLUNG ESSL KUNSTHAUS GRAZ SCHAUSPIELHAUS KÜNSTLERHAUS SCHIKANEDER KINO LANDESMUSEUM JOANNEUM SECESSION LANDESZEUGHAUS TAG-THEATER AN DER GUMPENDORFERSTR. LITERATURHAUS GRAZ TANZQUARTIER WIEN NATURWISSENSCHAFTLICHE SAMMLUNGEN THEATER OHNE GRENZEN NEUE GALERIE TOP KINO NEXT LIBERTY ’S ENGLISH THEATRE RÖMERSTEINSAMMLUNG VOLKSOPER WIEN SCHAUBÜHNE GRAZ VOLKSTHEATER / VOLKSTHEATER IN DEN SCHAUSPIELHAUS GRAZ BEZIRKEN SCHLOSS EGGENBERG WIENXTRA-CINEMAGIC KINDERKINO STEIRISCHE KULTURVERANSTALTUNGEN WIENER KAMMEROPER GMBH ZOOM KINDERMUSEUM STEIRISCHER HERBST TANZTHEATER GE(H)ZEITEN SALZBURG THEATER ASOU

ARGEKULTUR GELÄNDE SALZBURG ARTGENOSSEN BAD DÜRNBERGER KONZERTE BIERKABARETT OBERTRUM DAS KINO DAS ZENTRUM EROSTEPOST GRAZER AUTORENVERSAMMLUNG JAZZIT JUGEND- UND KULTURZENTRUM KELTENMUSEUM HALLEIN KULTURFORUM HALLEIN KULTURVEREIN PONGOWE KULTURVEREIN SCHLOSS GOLDEGG KULTURVEREIN WAKUUM KUNSTBOX SEEKIRCHEN KUNSTHAUS NEXUS LITERATURHAUS SALZBURG LUNGAUER KULTURVEREINIGUNG MARK.FREIZEIT.KULTUR NEUMARKTER KULTURVEREINIGUNG OENM: ÖSTERREISCHISCHES ENSEMBLE FÜR NEUE MUSIK OFFSCREEN: OFFENES FILM FORUM SALZ- BURG PROLIT ROCKHOUSE SALZBURG SALZBURGER AUTORENGRUPPE, SALZBURGER KUNSTVEREIN (KÜNSTLERHAUS) SALZBURGER LITERATURFORUM LESELAMPE SEAD: SALZBURG EXPERIMENTAL ACADEMY OF DANCE STERNENKINO

Hunger auf Kunst und Kultur 129 Arm ist nicht nur, wer in Pappschach- Armut und soziale teln am Bahnhof übernachten muss, son- dernauch wer am Alltagsleben nicht teil- Ausgrenzung in Österreich nehmen kann. Die Statistik spricht von Armut und sozialer Ausgrenzung, wenn ne- ben einem geringen Einkommen* schwie- rigste Lebensbedingungen auftreten: Die Betroff enen können abgetragene Kleidung nicht ersetzen, die Wohnung nicht angemessen warm halten, keine un- DIE ARMUTSKONFERENZ. erwarteten Ausgaben tätigen, sie weisen einen schlechten Gesundheitszustand auf, sind chronisch krank, leben in feuchten, schimmligen Wohnungen. Erwerbslos, alleinerziehend, working poor, zugewandert 460 000 Menschen (6 % der Wohnbevöl- kerung) in Österreich sind von Armut und sozialer Ausgrenzung betroff en, Frauen stärker als Männer. Ein Viertel der Armuts- bevölkerung sind Kinder. Ihre Eltern sind zugewandert, erwerbslos, alleinerziehend oder haben Jobs, von denen sie nicht leben können. Ein Drittel der Betroff enen sitzt dauer- haft unter den Bedingungen von Armut und Ausgrenzung fest. Die Hälfte aller akut armen Personen ist nur für ein Jahr dieser Situation ausgesetzt. Nie gedacht Das Risiko, ohne Halt abzustürzen, ist ge- stiegen - auch für Personen, die sich`s in ih- rem Leben nie gedacht hätten. Eine Million Menschen gilt als „armutsgefährdet“. Ihr Einkommen liegt unter der Armutsgrenze. Armut macht krank Menschen, die in Armut leben, sind dop- pelt so oft krank wie Nicht-Arme. Arme Kin- der von heute sind die chronisch Kranken ARMUT BEKÄMPFEN von morgen. Armut ist Stress ARMUT VERMEIDEN! Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armutsbetroff enen 3mal häufi ger auf als bei ManagerInnen. HIASL

GRAFIK Armut macht einsam Wer arm ist, hat weniger freundschaftli- che und nachbarschaftliche Kontakte. Armut nimmt Zukunft Menschen, die am Limit leben, haben geringere Aufstiegschancen. Ihre Zukunft wird von der sozialen Herkunft bestimmt. Mangel an Möglichkeiten Konkret bedeutet Armut: kaum Mög- lichkeit, in zentralen gesellschaftlichen Be- reichen zumindest in einem Mindestmaß teilhaben zu können: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Wer verarmt, verliert substantielle Freiheiten.

* 60% des mittleren Einkommens bilden nach europäi- schem Standard die Armutsgefährdungsschwelle: das sind 848 Euro pro Monat. Die meisten Einkommen liegen weit darunter.

130 Armut und soziale Ausgrenzung in Österreich Armut bekämpfen, Armut vermeiden Die Mitgliedsorganisationen:

Die Armutskonferenz ist seit über 10 Jahren als ArbeitslosensprecherIn Österreich, Lobby derer, die keine Lobby haben, aktiv. Sie ARGE MigrantInnenberatung Österreich, engagiert sich, um das verschwiegene Problem ASB Schuldnerberatungen GmbH, von Armut und sozialer Ausgrenzung in Österreich Autonome Österreichische Frauenhäuser, zu thematisieren und eine Verbesserung der St. Virgil, Salzburg, Lebenssituation Betroffener zu erreichen. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Bundesdachverband für Soziale Unternehmen, Caritas Österreich, Bunte Konferenz 1995 fand in Salzburg die erste öster- Dachverband berufliche Integration, reichweite Armutskonferenz statt. Dort Diakonie Österreich, formierte sich ein breites und buntes Bün- Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung, del von zivilgesellschaftlichen Kräften: Evangelische Akademie Wien, Wohlfahrtsverbände, Dachverbände von Forum Kirche und Arbeitswelt, Sozialinitiativen, kirchliche und gewerk- Katholische Aktion der Erzdiözese Wien, schaftliche Organisationen, Bildungs- und Katholischer Familienverband Österreichs, Forschungseinrichtungen und Zusammen- Katholische Frauenbewegung Österreichs, schlüsse von Armutsgefährdeten wie Al- Katholische Sozialakademie Österreichs, leinerziehende und Arbeitslose. Kolping Österreich, Die in der ARMUTSKONFERENZ zusam- Netzwerk Österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, mengeschlossenen Sozialorganisationen Neustart, Bewährungshilfe, Konfliktregelung und soziale Arbeit, betreuen und unterstützen über 100 000 Österreichische Hochschülerschaft, Hilfesuchende im Jahr. Österreichische Plattform für Alleinerziehende, Österreichischer Berufsverband der Sozialarbeiterlnnen, Regionale Netzwerke Österreichischer Gewerkschaftsbund/ Frauenabteilung, In den Bundesländern sind regionale pro mente austria, Netzwerke und Plattformen gegen Armut aktiv. Die Beteiligung von Betroff enen und Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft & Bewohnervertretung, sozialen Initiativen vor Ort wird u. a. in SOS Mitmensch, österreichweiten Aktionswochen bei Film- Volkshilfe Österreich, tagen und Kulturinitiativen umgesetzt. Wiener Hilfswerk,

Europäische Vernetzung Regionale Armutsnetzwerke DIE ARMUTSKONFERENZ ist im European • Salzburg Anti-Poverty Network (EAPN) organisiert. • Oberösterreich ARMUT BEKÄMPFEN ARMUT VERMEIDEN! Das EAPN wurde 1990 gegründet und hat • Kärnten als vorrangiges Ziel die Vernetzung von NGOs, die im Bereich der Armutsbekämp- fung arbeiten, um den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung auf die Tagesord- nung der EU-Politik zu setzen.

Wissenschaftlicher Beirat Alles was in Österreich in der Armutsfor- schung Rang und Namen hat, bildet den wissenschaftlichen Beirat der ARMUTS- KONFERENZ. Die im Beirat versammelten WissenschaftlerInnen arbeiten an ökono- mischen, juristischen, sozialpolitischen und lebenslagenbezogenen Fragestellungen.

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¢ WAS REICHTÜMER VERMÖGEN Warum reiche Gesellschaften bei Pensionen, Gesundheit und Sozialem sparen. Aktuali- sierte Ausgabe mit Beiträgen von Christine MAYRHUBER (Ökonomin, Beigewum), Ger- hard WOHLFAHRT (Institut für Volkswirtschaft, Uni Graz), Karin KÜBLBÖCK (Ökonomin, Attac), Martin SCHENK (Die Armutskonferenz). Verlag Mandelbaum Wien 2002 (€ 14,- zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ MUT ZUM MÖGLICHEN! ARMUT IST VERMEIDBAR Dokumentation der Sechsten Österreichischen Armutskonferenz zum Thema „Wie ökonomische Mythen wirken. Warum soziale Alternativen realisierbar sind.“ (€ 12,- zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ PFLICHT ZUM RISIKO Dokumentation der Fünften Österreichischen Armutskonferenz zum Thema „Armut macht Krank, Krankheit macht arm“, „Zu wessen Diensten“, „Empowerment als Pflicht“ und „Soziale Sicherheit“ (€ 6,- zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ UND RAUS BIST DU Dokumentation der Vierten Österreichischen Armutskonferenz zum Thema „Soziale und räumliche Ausgrenzung“ (€ 6,- zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ ARMUT Ausstellungskatalog des Historischen Museums der Stadt Wien in Zusammenarbeit mit der Ausstellungswerkstatt. Dokumentation von Armut in Bildern, in Zahlen, in Objekten. (€ 15,- zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ BEDARFSORIENTIERTE GRUNDSICHERUNG Buch mit Beiträgen von Petra WETZEL, Katharina WROHLICH, Peter ROSNER, Nikolaus DIMMEL, Emmerich TALOS (Herausgeber) (€ 18,00 zuzügl. € 3,- Porto/Versandspesen).

¢ ARMUT KANN IHRE GESUNDHEIT GEFÄHRDEN Leseheft Nr. 2 des „Oberösterreichischen Armutsnetzwerkes“ zu sozialer Ungleichheit und Krankheit. Informationen, Daten, Zusammenhänge, mit Karikaturen von Michael PAMMESBERGER, 28 Seiten, 2003. Wird gegen Versandspesen versendet.

¢ ARBEITSLOSIGKEIT KANN JEDEN TREFFEN Leseheft Nr. 3 des „Oberösterreichischen Armutsnetzwerkes“. Informationen, Daten, Zusammenhänge, mit Karikaturen von Michael PAMMESBERGER, 30 Seiten, 2004. Wird gegen Versandspesen versendet.

¢ DAS EUROPA DAS WIR WOLLEN Ansichten von AkteurInnen im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung zur künfti- gen Entwicklung der EU. EAPN, 110 Seiten, 2006. Wird gegen Versandspesen versendet.

Bestellungen an DIE ARMUTSKONFERENZ per mail: [email protected] per telefon: +43-1-402 69 44 per fax: +43-1-402 69 44-19 per post: Gumpendorferstr. 83, 1060 Wien, Austria

Sie erhalten die Bücher per Post zugesendet, inkl. Rechnung. Sie können die Bücher nach telefonischer Anmeldung auch gerne abholen.

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wir bringen Wissen & Erfahrung zusammen

Psychotherapeutisches Propädeutikum Lebens- und Sozialberatung Mediation Systemische Beratung Gestaltberatung Sexualberatung Diplomlehrgang für sozialpsychiatrische Arbeit Sozialpsychiatrischer Grundkurs Empowerment Sozialmanagement KONTAKT Diversity Management pro mente Akademie Grüngasse 1A Train the Trainer 1040 Wien T 01 513 15 30 [email protected] Ein Unternehmen von pro mente Wien. www.promenteakademie.at

Anzeige FGÖ DIN A4 2 SW abf. 25.04.2006 13:56 Uhr Seite 1

Das Magazin Gesundes Österreich dient dem Informationsaustausch über Gesundheitsförderung und Prävention. Es erscheint viermal im Jahr und gibt einen umfassenden Überblick über aktuelle Aktivitäten und Themen.

Die SIGIS-Broschüren liefern regelmäßig aktualisierte Informationen über Selbsthilfe- gruppen und Selbsthilfeunterstützung durch Dachverbände und Kontaktstellen.

Die Programmbroschüre „Gesundheitsförderung Bildungsnetzwerk“ fasst die vom Fonds Gesundes Öster- reich angebotenen regionalen Seminarreihen zusammen.

Nähere Informationen zu den Aktivitäten und Schwerpunkten des Fonds Gesundes Österreich bzw. den geförderten Projekten finden Sie in unseren Berichten.

Alle Publikationen erhalten Sie gratis beim Fonds Gesundes Österreich, Mariahilfer Straße 176, 1150 Wien, Tel.: (01) 895 04 00, Fax: (01) 895 04 00-20, E-Mail: [email protected]; Web: www.fgoe.org

Im Zentrum unserer Bildungsarbeit steht die Suche nach einem umfassenden Denkrahmen für grüne Politik, der neben dem Grundwert der Ökologie auf Solidarität, Basisdemokratie, Selbst- bestimmung, Gewaltfreiheit und auf einer feminis- tischen Grundhaltung beruht. Armutsbekämpfung ist dabei ein zentrales Thema der Grünen, dem die Grüne Bildungswerkstatt im Rahmen ihres Jahres- schwerpunktes 2006 „Zukunftstrends“ Rechnung trägt. Diese Trends sind derzeit wesentlich von zwei gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt: der zu- neu! nehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der damit verbundenen Entsolidarisierung. Das w w w . p o l i t i s c h e b i l d u n g . a t hat Polarisierungserscheinungen zur Folge, deren eklatantestes Beispiel das rapide wachsende Un- gleichgewicht zwischen Reichtum und Armut ist, ein Ungleichgewicht, das für die Armutsbetroffenen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt fata- le Folgen hat. Deshalb „raus aus der Armut“ durch Grundsicherung und Steuergerechtigkeit. www.gruene.at und dialogbü[email protected] • Betriebshilfe bei Krankheit, Unfall oder Mutterschutz Mittlerweile werden den UnternehmerInnen in allen Bundesländern Ersatzkräfte vermittelt. Insbesondere KleinstunternehmerInnen können so ohne den Betrieb zu schließen in schwierigen Zeiten über die Runden kommen.

• Hilfe für UnternehmerInnen in Not Die Wirtschaftskammern stellen gemeinsam mit der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) UnternehmerInnen bei existenzbedrohenden Ereignissen (zB Hochwasser 2002 und 2005) bis zu 10.000 Euro Soforthilfe zur Verfügung.

• Erwerbslosigkeit in Folge Arbeitslosigkeit Bestehende Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung bleiben für UnternehmerInnen weiter erhalten. Zukünftig soll ein Modell der Arbeitslosenversicherung für Selbständige und die Neugestaltung des Krankengeldes für UnternehmerInnen weitere Verbesserungen bringen.

• Unbürokratischer Heizkostenzuschuss der SVA Die anhaltend hohen Energiepreise, insbesondere bei den Heizkosten, bedeuten für manche Menschen in unserem Land eine große Belastung. Die SVA hat daher auch 2005 wieder mit einem Heizkosten- zuschuss geholfen. Dieser wurde im Dezember ohne Erfordernis eines Antrags an alle von der Rezeptgebühr befreiten Versicherten ausgezahlt.

• Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Österreich Die Wirtschaftskammer Österreich arbeitet in Form von Beiträgen und Expertisen am Ziel mit, faire Lösungen für die Zukunft positiv zu gestalten. Ratgeber

HansHans W.W. GrohsGrohs AlexanderAlexander AA.. MMalyaly � SoSo wwerdeerde ichich meinemeine SSchuldenchulden loslos � � � � � SchuldenregSchuldenregulierung undund PPrivatkonkursrivatkonkurs 2006,2006, 111212 SSeiteneiten � � � � � � € 14,9014,90 � � � � � � � � Für vieleviele hat es unscheinbarunscheinbar begonnen: A nschaffungen wurdenwurden g emacht, Rech- � � � � � � � � � � nungen wur wurdenden bezahl bezahlt.t. D Dankbarankbar nahm man zur Kenntnis, dass durch das Geld von Kreditinstituten vieles möglich wurde, was man sich sonst nicht hätte leisten können. Aber an Stelle eines Gefühles von Wohlstand und Zufriedenheit trat die Erkenntnis, dass das Monatsbudget immer knapper wurde. Und dann kam der Tag, an dem alles nicht mehr bezahlt werden konnte ... ����������������� Das Buch beschreibt keine Wundermittel oder Tricks, gibt aber viele ����������������������� Ratschläge, die leicht umzusetzen sind. Wichtige Schritte werden ���������������������� in Form von Checklisten zusammengefasst. Beispiele aus der Praxis ��������������������� ��������������� und ein umfangreiches Adressenmaterial runden das Buch ab. ������������������������ �������������������� �������������� Im Buchhandel oder beim ����������������������� Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH ���������������������� Buch-Media-Service Telefon: 01 / 534 44 / 132, Fax: DW 136 ����������������� ������������������������ Wipplingerstr. 37, A-1010 Wien E-Mail: [email protected]

Kontaktieren Sie uns: Blumengasse 4/10 1180 Wien Tel: 01/408 06 95-0 Mail: [email protected] Innovative Sozialprojekte für Linz! Internet: http//www.evang.at/akademie

Das Team: kick d dasas jjugendprojektugendprojekt Waltraut Kovacic (Direktorin) time die zeittauschbörse Roland Ritter-Werneck (Studienleiter) Vera Cekic (Sekretariat) learn das lerncenter Giselheid Wagner (Sprachreferentin) woman die frauenberatung factory die produktionsschule move die jugendhilfe

Kontaktieren Sie uns: Blumengasse 4/10 1180 Wien Tel: 01/408 06 95-0 Mail: [email protected] Internet: http//www.evang.at/akademie

Das Team: Waltraut Kovacic (Direktorin) Roland Ritter-Werneck (Studienleiter) Vera Cekic (Sekretariat) Giselheid Wagner (Sprachreferentin) Die Druckerei Berger wird derzeit in der 4. und 5. Familiengeneration mit großer sozialer Verantwortung geführt. Das ständige Bemü- hen die Arbeitsplätze der 250 Mitarbeiter in der strukturschwachen Region Waldviertel zu sichern, bedeutet für die Mitarbeiter und deren Familien gesichertes Ein- kommen - frei sein von Existenzsorgen!

GRAFIK HIASLH I A S L MATTHIAS FÜRPASS LANGENLOIS/WIEN [email protected] +43/(0)664/2148225

Waff – neue Chancen für Wiener ArbeitnehmerInnen. Wir fördern sie!

Der Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (waff) wurde 1995 auf Initiative der Interessensvertretungen der Arbeit- nehmer als Instrument der Gemeinde Wien für die Förderung beruflicher Entwicklungschancen von Wiener Arbeitnehme- rInnen und für kommunale Arbeitsmarktpolitik gegründet. In den Organen des waff haben die Wiener Sozialpartnern eine tragende Rolle. Die Finanzierung der Aktivitäten des waff erfolgt weitgehend aus Mitteln der Gemeinde Wien.

Die „Mission“ des waff : „Neue Chancen für ArbeitnehmerInnen – wir fördern sie!“ Die Förderung neuer Chancen für Wiener ArbeitnehmerInnen durch den waff baut auf zwei grundlegenden Säulen auf. ‹ Die eine Säule umfasst Maßnahmen, Projekte und Programme, um die nachteilige Folgen des wirtschaftlichen Struk- turwandels für ArbeitnehmerInnen abzufedern und bestehende Benachteiligungen von verschiedenen Gruppen von ArbeitnehmerInnen abzubauen ‹ Die zweite Säule ist auf die aktive Mitgestaltung von bestmöglichen Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsstandort Wien und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Wiener Wirtschaft ausgerichtet. Vorrangiges Ziel dabei ist es, zusätzliche Beschäftigungschancen für Wiener ArbeitnehmerInnen zu schaffen.

Die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Unterschieden und Benachteiligungen von Frauen am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt ist ein weiterer wesentlicher Grundsatz der Arbeit des waff. Über gender mainstreaming hinaus ent- wickelt der waff ganz gezielt mädchen- und frauenspezifische Maßnahmen und Programme.

Was tut der waff konkret? Das Leistungsangebot des waff ist im wesentlichen auf vier Schwerpunkte ausgerichtet: ‹ Förderung beruflicher Entwicklungschancen von Beschäftigten, ‹ Programme und Projekte zur Integration arbeitsloser Personen, ‹ Maßnahmen zur Verbesserung der Standortattraktivität und zur Unterstützung von Wiener Unternehmen sowie ‹ Förderung lokaler und überregionaler Kooperationen und Netzwerke einschließlich der Beteiligung an Programmen der Europäischen Union.

Nordbahnstraße 36, 1020 Wien, Tel.: 217 48 - 0, www.waff .at Es ist genug für alle da! FAIRteilen von Arbeit, Zeit und Geld DIE GRÜNEN R AI F

N T E I L E VON ARBEIT, ZEIT UND GELD

www.ooe.gruene.at

Wichtigstes Ziel der Landesregierung in der Armutsbekämpfung war der gemeinsame Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Die Mittel des Landes für die aktive Arbeitsmarktpolitik wurden verdoppelt, eine Lehrlingsoffensive gestartet, ein neues Standortabkommen mit der In- dustriellenvereinigung geschlossen. Die Früchte dieser langfristig angelegten Arbeit werden jetzt spürbar:

• Die Arbeitslosigkeit sinkt in Salzburg seit einem halben Jahr - Österreichweit hat Salzburg am Arbeitsmarkt die Nase vorn • 2006 wird es uns gelingen, die Arbeitslosenquote erstmals seit langen wieder unter 5% zu drücken • Die Jugend konnten mit vielen neuen, vor allem technisch orientierten Lehrplätzen versorgt werden. Bei den Langzeitarbeits- losen oder bei Menschen mit Behinderungen sinkt die Arbeitslosigkeit sogar noch stärker

Arbeit ist für mich besonders wichtig, weil sie den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben selbst zu bestimmen. Arbeits- marktpolitik ist daher auch Sozialpolitik. Aber auch in der klassischen Sozialpolitik wurde viel erreicht. Trotz der großen Herausforderungen – unsere Gesellschaft wird immer älter, um nur eine zu nennen, ist es uns gelungen, die hohe Qualität der sozialen Dienstleistungen zu sichern und punktuell zu verbessern.

• Ausbau der Altenbetreuung: In Pfl egeheimen bis 2008 entstehen 10 neue Pfl egeheime mit rund 500 Betreuungsplätzen. • Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Behinderte: Jedes Jahr wird ein Wohnheim und eine Tagesbetreuungseinrichtung neu geschaffen, um den Bedarf zu decken – wie etwa das neue, vorbildliche Heim für Schwerstbehinderte in der Salzburger Pfeststrasse. • Durch einen fairen 50:50 Schlüssel wurde es den Gemeinden leichter gemacht, die steigenden Kosten im Sozialbereich zu fi nanzieren. • Neubau der Geschützten Werkstätten (GW) – das Land investiert hier 5 Mio., um für die über 400 Beschäftigten mehr Platz und bessere und produktivere Arbeitsbedingungen zu schaffen. • Mit der integrativen Berufsausbildung und der Teillehre wurden für jungen Menschen mit Beeinträchtigung neue Möglichkei- ten der Berufsausbildung geschaffen. • Im Pinzgau werden mit dem neuen Streetwork-Standort in Saalfelden und mit einer zusätzlichen Jugend-WG neue Akzente für die junge Generation gesetzt.

Nicht zuletzt haben wir den Dialog mit den Partnerorganisationen im Sozialbereich vorangetrieben:

• 3-jährige Rahmenverträge für die Sozialvereine bringen mehr Rechtssicherheit • Der neue Kollektivvertrag bringt Verbesserung für fast 3.000 Mitarbeiterinnen in den Sozialen Diensten • Ein neues Sozialleitbild wurde gemeinsam von Bürgern, Sozialvereinen und Verwaltung entwickelt

Viel mehr kann ich in dieser Kürze nicht berichten – wichtig bleibt: Salzburg ist ein soziales Musterland. Bei aller Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit zählen bei uns trotzdem zuallererst die Bedürfnisse der Menschen.

LHF Gabi BurgstallerBurgstaller Kinderarmut +++ Armut macht verletzlich +++ Working Poor +++ ArbeitsLos +++ Armut macht krank +++ Anstieg der SozialhilfebezieherInnen +++ Altersarmut +++ Armut macht fremd +++ Überschuldung +++ Psychische Krise +++ Armut nimmt Zukunft +++ Selber schuld! MUT ZUM MÖGLICHEN! ARMUT IST VERMEIDBAR!

Mit Beiträgen von:

Sieglinde K. Rosenberger Friedhelm Hengsbach SJ Gerd Bosbach Gerhard Bäcker Adelheid Biesecker Maria Wölflingseder Luzenir Caixeta Ayla Satilmis Martin Kronauer August Gächter Inge Karazman-Morawetz Gerda Holz Martin Schenk Heinz-Jürgen Dahme Andrea Trenkwalder-Egger Achim Trube Fabian Kessl Helga Cremer-Schäfer Ina Praetorius Michael R. Krätke Margit Appel Michaela Moser Veronika Litschel Werner Raza Thomas Pachl Johannes Jäger Rainer Tomassovits Barbara Reiterer Robert Buggler Hansjörg Schlechter