DIE INSTITUTIONEN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT Die Kommission MICHAEL STABENOW

Wohl selten in ihrer dreißigjährigen Geschichte hatte sich der Kommission eine günstigere politische Konstellation geboten als 1988. Nach der Einigung über die Reform der europäischen Agrar-, Finanz- und Strukturpolitik auf dem Brüsseler Krisengipfel vom 11. bis 13. Februar 1988 schien bei den Regierungen der EG- Staaten in den Bemühungen um den schrankenlosen Binnenmarkt der Knoten ge- platzt1. Die Kommission wurde nicht nur bei Vorhaben zur Vollendung des Bin- nenmarktes häufig ihrer Rolle als Integrationsmotor gerecht. Vor allem Kommis- sionspräsident versuchte, den neuen Schwung im Ministerrat auf andere Felder des Einigungsprozesses zu übertragen und über das magische Da- tum des 31. Dezember 1992 hinaus weitere Zielmarken zu setzen. Zur persönlichen Bestätigung für Delors geriet der Europäische Rat am 27./28. Juni 1988 in Hannover. Die Staats- und Regierungschefs ernannten ihn dort für eine weitere zweijährige Amtsperiode an der Spitze der Brüsseler Behörde. Gleichzeitig beriefen sie Delors zum Vorsitzenden eines Sachverständigenaus- schusses, der bis zum Gipfeltreffen am 26.121. Juni 1989 in Madrid konkrete Vor- schläge zur stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion vorlegen sollte. Maßgeblich auf Betreiben des Kommissionspräsidenten standen 1988 vor dem Hintergrund der nunmehr als realistisches Ziel empfundenen Vollendung des Binnenmarktes2 neben der Währungsthematik die soziale Flankierung der Markt- integration und die Frage nach der „politischen Finalität" des europäischen Eini- gungsprozesses auf der EG-Tagesordnung. So brach Delors am 6. Juli mit einer Rede vor dem Europäischen Parlament eine unerwartet heftige europapolitische Grundsatzdebatte vom Zaun, in die sich zunächst die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit ihrer Rede in Brügge im September 19883, später aber auch andere Regierungschefs aus den Mitgliedstaaten einschalteten.

Zwischenbilanz auf dem Weg zum Binnenmarkt 41 Monate nach Vorlage ihres Weißbuchs zur Vollendung des Binnenmarktes4 und 49 Monate vor dem Termin des 31. Dezember 1992 zog die Kommission Ende November 1988 auftragsgemäß für den EG-Gipfel auf Rhodos am 2./3. Dezember eine Bilanz der erreichten Fortschritte5. Bis zum Jahresende waren von den auf 279 geschrumpften Vorschlägen des Weißbuch-Programms 109 endgültig verab- schiedet, weitere fünf Gegenstand einer Teilentscheidung und 16 in erster Lesung

56 Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 Die Kommission durch die Regierungen als Gemeinsamer Standpunkt gebilligt6. Weitere knapp 100 Weißbuch-Vorschläge lagen Parlament und Ministerrat zur Behandlung vor. Gut 50 der im Weißbuch angekündigten Vorlagen standen zu diesem Zeitpunkt noch aus. Weniger die Anzahl als die Tragweite der angenommenen Vorschläge bewog die Kommission, 1988 als ein „für die Verwirklichung des Binnenmarktes ent- scheidendes Jahr"7 zu werten. Teilweise seit Jahren im Ministerrat blockierte Vor- haben erhielten, überwiegend unter deutscher EG-Präsidentschaft im ersten Halbjahr, grünes Licht von den Regierungen: Liberalisierung des Kapitalverkehrs, des Straßengüterverkehrs, von Teilbereichen der Finanzdienste und des öffent- lichen Auftragswesens, gegenseitige Anerkennung von Diplomen. Außerdem wurden generell bei der Beseitigung technischer Handelshemmnisse beachtliche Fortschritte erzielt. Trotz der unerwartet günstigen Entwicklung der Marktintegration mahnte die Kommission ein noch höheres Arbeitstempo des Ministerrats an, da sonst das Binnenmarktprojekt kaum fristgerecht bis Ende 1992 zu verwirklichen sei. Beson- deren Nachholbedarf sah sie zur Jahreswende auf drei Feldern: Freizügigkeit für die EG-Bürger, Abbau der Steuerschranken, Tier- und Pflanzenschutz. Zu den wenigen negativen Ergebnissen des Jahres 1988, aus Sicht der Kommis- sion, zählte ausgerechnet die Wettbewerbspolitik, seit Jahren das Prunkstück der Brüsseler Behörde. Ende 1988 mußte der scheidende irische Kommissar Peter Sutherland seinen Plan für eine rigorose Fusionskontrolle aufgeben, mit der Brüs- sel die in den letzten Jahren stark gestiegenen grenzüberschreitenden Elefanten- hochzeiten unter die EG-Wettbewerbslupe nehmen wollte. Schwer tat sich die Kommission 1988 auch mit der „sozialen Dimension" des Binnenmarktes, die erstmals beim Gipfel in Hannover auf höchster politischer Ebene ausführlich zur Sprache kam. Einigkeit bestand dort über den Grundsatz einheitlicher Mindestvorschriften für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Dieser Konsens ermöglichte im Dezember 1988 die Billigung ei- ner Rahmenrichtlinie in erster Lesung, der 1989 weitere Einzelbestimmungen fol- gen sollen. Sogar innerhalb der Kommission umstritten war dagegen die Frage der rechtsverbindlichen Verankerung sozialer Grundrechte in einer europäischen Charta. Ungewiß erschien auch das Schicksal des 1988 von der Kommission in ei- nem Memorandum wiederbelebten Gedankens an ein Statut für eine europäische Aktiengesellschaft, mit dem Brüssel gleichzeitig EG-weit verschiedene Modelle der Arbeitnehmermitbestimmung festschreiben wollte.

„Das Haus ist in Ordnung" Ausschlaggebend für die ungewöhnliche europapolitische Dynamik des Jahres 1988 waren die am 11./12. Februar in Brüssel gefaßten Beschlüsse zur Agrar-, Fi- nanz- und Strukturpolitik (Delors-Paket) sowie die aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) möglichen Mehrheitsbeschlüsse. Stolz diagnostizierte Delors in einer Grundsatzrede bei seinem ersten Straßburger Auftritt an der Spit-

Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 57 DIE INSTITUTIONEN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT ze des neuen Kollegiums am 17. Januar 1989: „Europa ist in Bewegung. . . das Haus ist in Ordnung"8. Dazu gehörte, daß 1988 erstmals nach Jahren die EG- Haushaltskasse wieder stimmte. Die Gipfelbeschlüsse ebneten den Weg für die am 1. Juli in Kraft getretene „Interinstitutionelle Vereinbarung"9, die dem alljähr- lichen Haushaltsgerangel bis auf weiteres den Nährboden entzog. Mit der Ver- pflichtung, die für die einzelnen Ausgabenblöcke bis 1992 jährlich festgelegten Obergrenzen nicht zu überschreiten, bindet die Vereinbarung "Kommission, Rat und Parlament in die „Haushaltsdisziplin" ein. Während die Arbeiten am Binnenmarkt noch voll im Gange waren, dachte De- lors bereits laut über den Ausbau des „gemeinschaftlichen Hauses" nach: „Die Geschichte wartet nicht. 1992 liegt jetzt zu nahe vor uns, als daß wir nicht allmäh- lich an die Zeit nach 1992 denken sollten", rief der Kommissionspräsident im Ja- nuar 1989 den EG-Abgeordneten zu10. So ließ er bereits vor der Vorlage des Be- richtes der Ende Juni 1988 in Hannover unter seinem Vorsitz eingesetzten Sach- verständigengruppe durchblicken, daß zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion seiner Auffassung nach eine neuerliche EG-Vertragsreform un- umgänglich sei11. In der gleichen Straßburger Rede unterbreitete Delors den Vor- schlag, vor dem Hintergrund der Binnenmarktentwicklung über eine engere Zu- sammenarbeit von EG- und EFTA-Staaten mit gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsgremien nachzudenken.

Sand im institutionellen Getriebe Deutlich erkennbar wurde im Jahr 1988 ein Machtzuwachs der Kommission durch das in der EEA vorgesehene Verfahren der Zusammenarbeit. Rund 60% der von Mitte 1987 bis Ende 1988 in erster Lesung vom Europäischen Parlament einge- brachten Änderungswünsche wurden von der Kommission berücksichtigt. Davon fanden 72% Eingang in den Gemeinsamen Standpunkt des Rates. Dazu brachte das Parlament seinerseits zu 23 Vorlagen insgesamt 107 Änderungsanträge ein, von denen die Kommission sich 62 zu eigen machte, die aber in 43 Fällen vom Rat mit dem dann erforderlichen einstimmigen Votum unberücksichtigt blieben12. Selbst die EP-Abgeordneten räumten ein, „daß sich das Parlament in den Rechtsetzungsprozeß in größerem Maße einschalten konnte als vorher"13. Vor- rangig ließ sich die Kommission bei der Beurteilung der Änderungswünsche des EP davon leiten, ob ihre Berücksichtigung eine politische Patt-Situation im Rat heraufbeschwören würde oder nicht. Bezeichnend für die Anwendung der EEA- Spielregeln durch die Kommission war die Weigerung, den Änderungsanträgen zu einer Richtlinie über die Gefährdung von Arbeitnehmern durch Benzol Rech- nung zu tragen, obwohl die Abgeordneten lediglich die ursprünglichen Vorschlä- ge der EG-Behörde aufgegriffen hatten. Erstmals verwarf daher das Parlament am 14. Oktober 1988 einen Gemeinsamen Standpunkt des Rates. Die Kommis- sion mußte sich vorhalten lassen, sie sei zum „Sekretariat des Rates" herunterge- kommen14. Schließlich verhinderte Italien am 16. Dezember 1988 ein einstimmiges

58 Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 Die Kommission

Votum, mit dem der Rat ungeachtet der ablehnenden Haltung des Parlaments die Richtlinie hätte beschließen können. Daß es 1988 auch anderswo noch Sand im institutionellen Getriebe der Ge- meinschaft gab, zeigte sich an der weiterhin restriktiven Handhabung der Exeku- tivbefugnisse („Komitologie"), die der Kommission laut EEA für die Anwendung von Ratsbeschlüssen zukommen15. Nur in fünf Fällen ließ sich der Rat auf das Verfahren des Beratenden Ausschusses ein, durch das die Mitgliedstaaten eine Entscheidung nicht blockieren können. In den übrigen 11 Fällen wählte der Rat den Regelungs- oder den Verwaltungsausschuß, der die Kommission bei der Um- setzung der Beschlüsse einer stärkeren Mitwirkung seitens der Regierungen aus- setzt. Eine Nichtigkeitsklage des Parlaments gegen dieses System erklärte der Eu- ropäische Gerichtshof am 27. September 1988 für unzulässig16.

Blick nach vorn Aufschlußreich für das Rollenverständnis der Kommission unter Delors war der im Sommer 1988 plötzlich aufgeflammte Streit um die politischen Integrations- perspektiven. Stein des Anstoßes war seine Straßburger Rede vom 6. Juli 1988 über die Ergebnisse des Gipfels in Hannover, in der er mit folgender Begründung „den Grundstein für eine europäische Regierung" verlangt hatte: „In zehn Jahren werden 80 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung, vielleicht auch der steuerlichen und sozialen, gemeinschaftlichen Ursprungs sein"17. Der Delors-Vorstoß provozierte wiederholt Absagen Margaret Thatchers an die Politische Union. Höhepunkt war die Grundsatzrede am 20. September 1988 vor dem Europa-Kolleg in Brügge. Für Aufsehen sorgte vor allem die ideologisch motivierte Ablehnung eines von Brüssel aus dominierten europäischen Superstaa- tes, der selbst dem stark von zentralistischem Denken geprägten Delors nicht vor- schwebt. Den Kern der Auseinandersetzung traf die Premierministerin jedoch mit der Feststellung: „Die Gemeinschaft ist kein Selbstzweck. Sie ist keine institutio- nelle Einrichtung, die ständig unter dem Diktat einer abstrakten Theorie geän- dert wird"18. Dies war ein Aufbäumen gegen die von der Kommission unter Delors seit 1985 verfolgte Strategie, jeden integrationspolitischen Schritt nur als Zwischenetappe zu betrachten, der zwangsläufig andere Maßnahmen folgen müssen. Glänzend war diese Taktik 1987/88 mit der inhaltlichen Verflechtung verschiedener Sach- themen im Delors-Paket aufgegangen19. Da erschien es aus Brüsseler Sicht nur konsequent, daß sich der Einigungsprozeß nicht in der Vollendung des Binnen- marktes erschöpfen kann, sondern ebenso auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungs-, Außen- und letztlich auch Sicherheits- und Verteidigungspolitik zielt20. Diese Themen wurden im Herbst 1988 auch von mehreren EG-Regierungs- chefs (z. B. Bundeskanzler Helmut Kohl, Belgiens Premierminister Wilfried Mar- tens, Spaniens Premierminister Felipe Gonzalez) aufgegriffen. Beim EG-Gipfel- treffen auf Rhodos herrschte jedoch zwischen den Teilnehmern offenbar Über-

Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 59 DIE INSTITUTIONEN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT

einstimmung darüber, die Beratungen nicht durch politische Grundsatzdebatten zu belasten21.

Macchiavelli im Berlaymont Bereits 1987 geisterten erste Spekulationen über die Zusammensetzung der neu- en Kommission durch die Medien. Als mögliche Nachfolger von Delors galten da- mals u. a. die Premierminister Belgiens und der Niederlande, Wilfried Martens und Ruud Lubbers, die Kommissare Frans Andriessen, Henning Christophersen und Peter Sutherland sowie Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann. An- geblich soll Delors schon auf dem Brüsseler Gipfeltreffen Ende Juni 1987 Zusi- cherungen von Mitterrand, Kohl und Thatcher für eine weitere Amtszeit in Brüs- sel erhalten haben22. Bereits Ende 1987 schienen die Chancen Bangemanns, Delors Anfang 1989 zu beerben, auf dem Nullpunkt angelangt. Durch die Ernennung von Bundesvertei- digungsminister Manfred Wörner zum NATO-Generalsekretär war bereits ein prestigeträchtiges Brüsseler Spitzenamt einem Deutschen zugefallen. Noch stär- ker jedoch wurden die Chancen des liberalen Politikers durch die Art beeinträch- tigt, „wie der EG-Kandidat Bangemann von den Freunden demontiert"23 wurde. Delors hielt sich verständlicherweise aus dieser Personaldiskussion heraus. Sein Augenmerk schien ohnehin in den Monaten vor den französischen Präsident- schaftswahlen am 24. April und 8. Mai 1988 stärker der innenpolitischen Entwick- lung in seinem Heimatland als den Europa-Ambitionen Bonner Politiker zu gel- ten. Noch vor dem Wahlsieg Mitterrands und der nachfolgenden Ernennung des ihm politisch nahestehenden Michel Rocard zum Premierminister hatte Delors mehrfach erkennen lassen, daß er durchaus an einem Verbleib in Brüssel interes- siert sei. So war es nur noch reine Formsache, daß er Ende Juni auf dem Gipfel- treffen in Hannover für weitere zwei Jahre im Amt bestätigt wurde. Vor Delors hatte nur Walter Hallstein (von 1958 bis 1967) länger als vier Jahre an der Spitze der Kommission amtiert. Seinen Wunsch, bei der Ernennung der neuen Kommissare ein gewichtiges Wort mitzureden, konnte sich Delors jedoch nicht erfüllen. Die Ablösung seines Landsmannes soll der Kommissionspräsident aktiv - und erfolg- reich - betrieben haben24. Die Ernennung der liberalen Europaabgeordneten Christiane Scrivener zur Nachfolgerin Cheyssons galt als Bestandteil der Pariser Politik der Öffnung („l'ouverture") gegenüber den bürgerlichen Parteien Frank- reichs. Mit dem Briten Lord Francis Arthur Cockfield (Binnenmarkt) mußte je- doch ausgerechnet der Kommissar aus Brüssel weichen, den ein mit entsprechen- den Vollmachten ausgestatteter Delors mit Sicherheit wiederberufen hätte. „Würde man Delors die Namen seiner anderen 15 derzeitigen Mitstreiter vorle- gen, so wüßte zur Zeit in Brüssel niemand, wie wenige davon er ab 1989 neu enga- gieren würde," bemerkte Mitte Juli zutreffend die luxemburgische Zeitung „d'Letzeburger Land"25. Cockfield, dem wegen seines vorbehaltlosen Enga- gements für die wirtschaftliche Integration zunehmende Kritik aus London entge-

60 Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 Die Kommission

genschlug, und der ebenfalls nicht wieder ernannte Stanley Clinton Davis ver- schafften ihrem Ärger durch öffentliche Erklärungen Luft26. Mit dem Belgier Willy De Clercq (Außenbeziehungen), für dessen Verbleib Delors ebenfalls plädiert hatte, und Sutherland (Wettbewerb) mußten neben Cockfield Ende 1988 zwei weitere europapolitische Schwergewichte Brüssel ver- lassen, weil sie den Regierungen ihrer Heimatländer nicht mehr ins innenpoliti- sche Konzept paßten. Keine Überraschung war der Weggang von Karl-Heinz Nar- jes, der zuletzt als Industrie- und Forschungskommissar an Statur gewonnen hat- te. Cockfields Platz im Berlaymont übernahm der einstige britische Industriemini- ster und kurz vor seinem Umzug nach Brüssel geadelte Sir Leon Brittan - wegen seiner Treue gegenüber Margaret Thatcher von bösen Zungen auch das „Schoß- hündchen" der Premierministerin genannt. Die Regierung in Rom entschied sich erst im November für die Wiederernennung von und die Be- rufung des ehemaligen Agrarministers anstelle seines christdemokratischen Parteifreundes Lorenzo Natali. Schließlich behielten neben Delors sieben Kommissare nach dem 6. Januar 1989 ihre Amtszimmer im Berlaymont-Palast: Andriessen (NL), Christophersen (DK); Antonio Cardoso e Cunha (P), Manuel Marin (E), Abel Matutes (E), Carlo Ripa di Meana (I) und Peter Schmidhuber (D). Neulinge waren außer Bange- mann die Briten Leon Brittan und Bruce Millan (für Clinton Davis), der Luxem- burger Jean Dondelinger (für Nie. Mosar), der Ire Ray MacSharry (für Suther- land), Pandolfi, die Griechin Vasso Papandreou (für Grigoris Varfis), Scrivener und der Belgier Karel Van Miert (für De Clercq). Im Vorfeld einer Klausurtagung der 17 Kommissare im belgischen Villers-le- Temple am 16. Dezember 1988 hatte Delors die Ressortverteilung in der EG- Zentrale weitgehend abgeklärt. Wie Ende 1984 blieb daher die aus der Vergan- genheit berüchtigte „Nacht der langen Messer" erneut aus. Anders als 1984 wurde dies nicht mehr als Überraschung empfunden27. Nach dem Weggang von Cock- field, De Clercq und Sutherland hatte Delors sogar noch leichteres Spiel als da- mals. Ganz primus inter pares verfügte er, daß kein Ressort in gleicher Hand oder bei einem Kommissar gleicher Staatsangehörigkeit wie zwischen 1985 und 1988 verblieb. Daß Delors sich selbst von dieser Regel ausnahm und weiter persönlich über sein Steckenpferd Währungspolitik wachte, unterstrich seine unangefochte- ne Position, zeugte aber auch von „beeindruckendem Machiavellismus"28, mit dem er die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten neu ordnete. Das traditionelle Gezänk um vermeintliche Schlüsselposten ließ sich vermei- den, weil plötzlich Tätigkeitsfelder attraktiv erschienen, die noch vor wenigen Jah- ren Nebenschauplätze im EG-Geschehen waren. So wurden aus dem Bangemann anvertrauten Cockfield-Ressort die Aufgabenbereiche „Steuerfragen" (Scrivener) und „Finanzdienste" (Brittan) ausgegliedert. Als Trostpflaster erhielt Bangemann die Verantwortung für das Industrieressort. Aus diesem trennte Delors wiederum die Zuständigkeit für die zukunftsträchtigen Technologien zugunsten Pandolfis heraus. Scrivener wurde gleichzeitig mit der heiklen Materie der sozialen Sicher-

Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 61 DIE INSTITUTIONEN DER EUROPAISCHEN GEMEINSCHAFT heit betraut, die dem Sozialressort Papandreous entzogen wurde. Kompetenzge- rangel zwischen Kommissaren schien geradezu vorprogrammiert. Nur konsequent war es, daß Delors gleichzeitig auch die Position des ihm unmittelbar unterstellten Generalsekretariats zu Lasten der übrigen Dienststellen ausgebaut hatte. Noch stärker als zu Beginn der ersten Präsidentschaft von Delors zeichnet sich das neue Kollegium durch europapolitische Erfahrung aus. Dazu zählen fünf ehe- malige Finanzminister oder -Staatssekretäre (Delors, Andriessen, Brittan, Chri- stophersen, MacSharry), zwei Ex-Agrarminister (Cardoso e Cunha, Pandolfi) und zwei frühere Wirtschaftsminister (Delors und Bangemann). Neben den einstigen Europaparlamentariern Delors und Ripa di Meana verfügen auch vier Neulinge - Bangemann, MacSharry, Scrivener und Van Miert - über Erfahrung als Abgeord- nete in Straßburg. Die neue Sozialkommissarin Papandreou hatte als stellvertre- tende Handelsministerin ihres Landes im zweiten Halbjahr unter griechischer Präsidentschaft sämtliche „Binnenmarkt"-Tagungen des Ministerrates geleitet. Mit dem Luxemburger Dondelinger („Europa der Bürger", audiovisuelle und kul- turelle Angelegenheiten), kehrte einer der besten Kenner der EG-Szene nach Brüssel zurück. Vor einem fünfjährigen Intermezzo als Generalsekretär des lu- xemburgischen Außenministeriums war Dondelinger von 1960 bis 1970 zunächst zweiter Mann und danach bis 1984 Leiter der Ständigen Vertretung seines Landes bei der EG. Am 23. Januar 1989 schließlich beriefen die EG-Außenminister Andriessen, Bangemann, Brittan, Christophersen, Marin und Pandolfi zu Vizepräsidenten der Kommission. Vergeblich hatte zuvor die griechische Regierung einen siebten Stellvertreterposten für Vasso Papandreou beansprucht. Auf Vorschlag des spa- nischen EG-Vorsitzes sollte allerdings im Oktober 1989 erneut die Schaffung ei- nes zusätzlichen Vizepräsidentenamtes oder - was sinnvoller erscheint - die Ver- ringerung ihrer Anzahl von sechs auf drei zur Sprache kommen.

Ausblick Auch in seinem vierten Amtsjahr prägte Jacques Delors das politische Profil der EG-Kommission. Mit einer raffinierten Aufgabenverteilung in der neugebildeten Kommission stellte er zudem sicher, daß er künftig wohl noch mehr als in den Jah- ren 1985 bis 1988 das Sagen in der EG-Zentrale haben wird. Für Parlament und Rat ließ dies darauf schließen, daß die Kommission noch stärker als in der Ver- gangenheit als selbstbewußter und unbequemer Akteur im institutionellen Kräf- tedreieck der Gemeinschaft auftreten wird. Dies galt nicht nur für die nach den EG-Gründungsverträgen in die Zuständigkeit der drei Organe fallenden Themen. Bereits 1988 wurde unter dem impulsiven Delors das Bestreben der Kommission sichtbar, auch auf die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik verstärkt Ein- fluß zu nehmen.

62 Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 Die Kommission

Anmerkungen 1 Vgl. Weidenfeld, Werner: Die Bilanz der Eu- ischen Integration 1987/88, S. 65 f. ropäischen Integration 1987/88, in: Jahrbuch 16 ABI. der EG, C 284 v. 3. 11. 1988; vgl. Grabitz, 1987; Hort, Peter: Der Europäische Rat, ebd. Eberhard: Der Gerichtshof, in diesem Band. 2 In den Schlußfolgerungen des Europäischen 17 Verhandlungen des Europäischen Parla- Rates vom 27./28. Juni 1988 (abgedruckt als ments, ABI. der EG, Nr. 2-367 v. 6. 7. 1988, S. Dok. Nr. 2 in diesem Band) heißt es: „Der Eu- 157. Schon im Juni hatte Delors vor dem Par- ropäische Rat vertritt die Ansicht, daß der lament ausgeführt: „Wir brauchen bis 1993 ei- Prozeß der Verwirklichung dieses Hauptziels nen Anfang für eine europäische Regierung." der Einheitlichen Akte so weit vorangeschrit- Verhandlungen des Europäischen Parla- ten ist, daß er unumkehrbar geworden ist; dies ments, ABI. der EG, Nr. 2-366 v. 15. 6. 1988, wird von allen Kreisen des wirtschaftlichen S. 172. und sozialen Lebens als Tatsache akzeptiert." 18 S. Anm. 3. 3 Abgedruckt als Dok. Nr. 3 in diesem Band. 19 Vgl. Thalmann, Jörg, a.a.O., S. 62. 4 Kommisson der EG: Vollendung des Binnen- 20 Siehe auch Narjes, Karl-Heinz: Die Rolle der marktes, Weißbuch der Kommission an den Kommission der Europäischen Gemeinschaft Europäischen Rat, Luxemburg 1985. für eine europäische Sicherheitspolitik, in: 5 Dok. KOM (88) 650 v. 17. 11. 1988. Pöttering, Hans-Gert (Hrsg.): Sicherheit in 6 Vgl. 22. Gesamtbericht der EG, Brüssel-Lu- Freiheit für Europa. Plädoyer für eine euro- xemburg 1989, S. 98 ff; vgl. auch Scharrer, päische Sicherheitspolitik, Bonn 1988, S. 89 ff. Hans-Eckart: Binnenmarktpolitik, in diesem Häufiger als Narjes bezog Delors in der Ver- Band. gangenheit zu außen- und verteidigungspoliti- 7 Ebd., S. 98. schen Themen Stellung. 8 Europäisches Parlament: Ausführliche Sit- 21 Vgl. Hort, Peter: Der Europäische Rat, in die- zungsberichte, vorläufige Ausgabe, sem Band. 17. 1. 1989, S. 83. 22 Vgl. dazu z. B. General-Anzeiger v. 9 S. ABI. der EG, L 185 v. 15. 7. 1988. Vgl. auch 13. 8. 1987 und Neue Osnabrücker Zeitung v. Läufer, Thomas: Haushaltspolitik, in diesem 21. 8. 1987. Band. 23 FAZ v. 23. 12. 1987. 10 Europäisches Parlament, a. a. O., S. 92. 24 Frankfurter Rundschau v. 30. 7. 1988. 11 Ebd. 25 d'Letzeburger Land v. 15. 7. 1988. 12 Vgl. 22. Gesamtbericht der EG, a.a.O., S. 26 In „The Times" v. 25. 7. 1988 hatte Cockfield 30 ff. u. a. ausgeführt: „Es gibt gute Gründe, ein er- 13 Sitzungsdokumente des Europäischen Parla- folgreiches Team nicht auseinanderzubre- ments Dok. A2-0176/88, S. 17. (Berichterstat- chen." Clinton Davis zeigte sich überzeugt, ter: Carlo Alberto Graziani). Vgl. Schmuck, daß seine Arbeit als Umwelt- und Verkehrs- Otto: Das Europäische Parlament, in diesem kommissar „von unmittelbarem und anhalten- Band. dem Nutzen für Europas Bürger" gewesen sei 14 Verhandlungen des Europäischen Parla- (zitiert nach „Financial Times" v. 23. 7. 88). ments, ABI. der EG, Nr. 2-369 v. 12. 10. 1988, 27 Zu 1984 siehe Thalmann, Jörg: Die Kommis- S. 165. sion, in: Jahrbuch der Europäischen Inte- 15 Zu den Einzelheiten siehe Thalmann, Jörg: gration 1984, S. 59. Die Kommission, in: Jahrbuch der Europä- 28 Die Zeit v. 23. 12. 1988.

Weiterführende Literatur Fichna, Gudrun: EG-Kommission und Minister- in: Zeitschrift für Ausländisches Öffentliches rat als Gesetzgeber?, in: Recht der Internatio- Recht und Völkerrecht 2 (1988), S. 208-228. nalen Wirtschaft 11 (1988), S. 887-892. Schmitt von Sydow, Helmut: Organe der erweiter- Meng, Werner: Die Neuregelung der EG-Verwal- ten Europäischen Gemeinschaften - Die Kom- tungsausschüsse. Streit um die „Comitologie", mission, Baden-Baden 1980.

Jahrbuch der Europäischen Integration 1988/89 63