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Philosophie des Schönen als politische etwas verfrühter Abgesang vielleicht auf die Beschäftigung mit einem Krondoku- Anthropologie. Schillers Augustenburger ment philosophischen Schrifttums um 1800! Briefe und die Briefe über die ästhetische Wenn der Eindruck nicht täuscht, ist das Erziehung des Menschen Interesse an den Ästhetischen Briefen seit Er- scheinen dieses Forschungsberichts eher

wieder gewachsen, vorwiegend mit Blick Wolfgang Riedel auf den politischen Diskurs, der in ihnen Institut für deutsche Philologie geführt wird.2 Dass überhaupt gegenwärtig Julius-Maximilians-Universität Würzburg dem politischen Schiller vermehrte Auf- (Deutschland) merksamkeit geschenkt wird, dürfte auf Hans-Jürgen Schings’ bahnbrechende Stu- Hans-Jürgen Schings zum 75. Geburtstag die Die Brüder des Marquis Posa aus dem Jahr 1996 zurückgehen. Sie lenkte den Fo- 1. Wiederentdeckung des kus nicht nur auf Schillers (so zuvor nicht politischen Schiller bekannte) Auseinandersetzung mit den Il- luminaten im vorrevolutionären Jahrzehnt, ie Briefe über die ästhetische Er- sondern auch auf sein Verhältnis zur Fran- ziehung des Menschen seien »all- zösischen Revolution selbst, insbesondere mählich ›ausinterpretiert‹«, hielt in der Phase der Grande Terreur (1793/94).3 HelmutD Koopmann 1998 in seinem großen Bericht über die Schillerforschung seit 1950 als damaligen Gesamteindruck fest und ließ Sigle B steht bei der Zitation der Ästhetischen Briefe als Abkürzung für Brief. dieses Resümee auch noch 2011, in der ak- 2 Freilich war der enge sachliche und argumentative tualisierten Neuauflage seines Schiller- Zusammenhang von Ästhetik und Politik der älte- Handbuchs, stehen: »Sehr viel ist dem The- ren Forschung nicht verborgen geblieben; gute ma wohl nicht mehr abzugewinnen«.1 Ein Übersicht über die reiche Literatur zu den Ästheti- schen Briefen bei Koopmann 22011 (Anm. 1), S. 898f., 932-936, 976-978, 980-984, 1020, 1045, 1050, 1 Helmut Koopmann: Forschungsgeschichte. In: 1053f., 1067f.; s. auch u. Anm. 21. ders. (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 22011, S. 3 Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Po- 864-1076, hier S. 981f. (vgl. 11998, S. 921f.); im Fol- sa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. genden nach 22011 zit. – Schiller wird nach NA zit.: Tübingen 1996. Zuvor schon ders.: Die Illuminaten Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. Julius Peter- in Stuttgart. Auch ein Beitrag zur Geschichte des sen, Norbert Oellers u.a. Weimar 1943ff. – Die jungen Schiller. In: Deutsche Vierteljahrsschrift (= Briefe über die ästhetische Erziehung [...] firmieren im DVjs) 66 (1992), S. 48-87. Im Anschluss daran: Folgenden als Ästhetische Briefe, Ästhetische Erzie- Walter Müller-Seidel, Verf. (Hg.): Die Weimarer hung oder auch nur Briefe, die Briefe an den Prinzen Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2003; von Augustenburg als Augustenburger Briefe. Die Jean Mondot: Schiller et la Révolution française.

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Damit rückten, schon bei Schings, die sonst perspektivenreiches Kapitel.6 Alles andere eher im Schatten stehenden Briefe an den als eine bloße Summe der älteren For- Prinzen von Augustenburg aus dem Jahr schung, läutet es vielmehr eine neue Phase 1793, in denen Schillers Revolutionskom- der Beschäftigung mit den Augustenburger mentar Theorieform annimmt, in den Blick- Briefen ein.7 punkt.4 Und damit auch wieder die aus Schon bald darauf stieß Jeffrey L. High ihnen hervorgegangenen Ästhetischen Briefe mit Schillers Rebellionskonzept und die Franzö- selbst, wobei nun aber, wie mir scheint, sische Revolution (2004) ins Herz der Sache mehr als früher der genetische und ge- vor. Auch er, nicht anders als Schings und dankliche Zusammenhang mit den Briefen Alt, auf der Basis umfangreicher Quellen- von 1793 und deren unmittelbarem Zeitbe- 5 zug die Perspektive bestimmte. Vergleicht 6 Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 man die aktuelle Standardbiographie und Bde. München 2000. Bd. 2, S. 111-129, Antworten verbindliche wissenschaftliche Gesamtdar- auf die Französische Revolution: Briefe an den Au- stellung, Peter-André Alts Schiller (2000), gustenburger (1793), S. 129-153, Visionen der mit ihrem langjährigen Vorgänger, Benno Kunstautonomie: Ueber die ästhetische Erziehung des von Wieses (1959), fällt Menschen (1795); s. auch ders.: »Arbeit für mehr als ein Jahrhundert«. Schillers Verständnis von Ästhe- dieser Unterschied sofort ins Auge. Wäh- tik und Politik in der Periode der Französischen rend von Wiese die Augustenburger Briefe Revolution (1790-1800). In: Jahrbuch der dt. Schil- als eine noch weniger selbständige und lergesellschaft (= JDSG) 46 (2002), S. 102-133. – ausgereifte Vorform der eigentlichen, Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, »endgültigen Fassung« schnell in dieser S. 446-506, Politik und Ästhetik in Schillers Denken hier S. 478-503 zu den Ästhetischen Briefen, das Zitat aufgehen lässt und nur mehr mit ihr sich S. 479; den Augustenburger Briefen widmen sich beschäftigt, widmet Alt, bevor er sich der nur die einleitenden Absätze S. 478f. – Aber immer- Ästhetischen Erziehung zuwendet, dem Brief- hin, von Wiese war unter den Nachkriegsgermani- konvolut von 1793 ein eigenes großes und sten der erste, der die »entscheidende Bedeutung der Französischen Revolution für Schillers Philosophie« erkannte (ebd., S. 835); vgl. schon ders.: Schiller und die Französische Revolution. In: ders.: Der Mensch in der Dichtung. Düsseldorf 1958, S. 148- D’un silence, l’autre. In: Revue Germanique Inter- 169. nationale (= RGI) 22 (2004), S. 87-102. 7 Aus der älteren Literatur hervorzuheben ein nütz- 4 Schings 1996 (Anm. 3), S. 210-226, Epilog. Ästhe- licher Sammelband, der auch einen Abdruck der tischer Staat. ›Augustenburger Briefe‹ bot: Jürgen Bolten (Hg.): 5 Man hat ihn indes immer gesehen und sehen kön- Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. nen; s. nur Benno von Wieses und Helmut Koop- Frankfurt/M. 1984, hier S. 33-87; dazu auch die manns bis heute in vielem maßgeblichen Komm. zu Hg.-Einleitung, ebd., S. 7-29. – Vorbildlich ediert den Ästhetischen Briefen in NA 21 (1962), hier bes. S. wurden diese Briefe dann 1992 von Edith und Horst 232-242, Entstehungsgeschichte. Nahler in NA 26.

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studien, die Schillers Äußerungen zu den Mit alledem ist der Blick auf Schillers Äs- Pariser Ereignissen, besonders seit 1793, im thetische Erziehung und ihren historischen Stil einer ›thick description‹ einbetten in breit und gedanklichen Kontext neu justiert wor- verwebte Diskussionszusammenhänge, die den; man sieht die politische Dimension des man so zuvor nicht durchleuchtet sah.8 Hö- Textes wieder klarer – und auch, was es hepunkt dieser ›dichten Beschreibungen‹ heißt, dass er, nicht nur annalistisch gese- von Schillers Revolutionsanalysen und - hen, ein Kind der Grande Terreur ist.10 Zwar kritik ist zweifellos das Ende 2012 erschie- nene Buch Revolutionsetüden von Hans- den Augustenburger und Ästhetischen Briefen hier Jürgen Schings. Schmal von Umfang, ist es v.a. S. 136ff. Die Vortragsfassung dieser Studie war nach Ertrag ein Schwergewicht. Der Prä- im Jahr zuvor erschienen: Posa in Paris oder Schil- misse folgend, dass wir, um Position und lers Revolution. In: Verf. (Hg.): Würzburger Schil- lervorträge 2009. Würzburg 2011, S. 1-22. – Der Urteil eines Beobachters aus Weimarer Fer- Moniteur erschien seit 1789, seit 1790 mit umfangrei- ne richtig einschätzen zu können, möglichst chen Sitzungsprotokollen der französischen Natio- genau vor Augen haben müssen, was und nalversammlung; Schiller las ihn spätestens seit wie viel er von den Vorgängen in Frank- Herbst 1792 (an Körner, 26.11.1792, NA 26, S. 169f., Nr. 145). reich eigentlich wusste und wissen konnte, 10 rekonstruiert Schings minutiös Schillers ein- Natürlich hatte schon Benno von Wiese den Konnex von »Politik und Ästhetik« für die Ästheti- schlägigen Lektürehorizont, vor allem an- schen Briefe prononciert geltend gemacht (s.o. Anm. hand seiner Hauptquelle, der quasi-offi- 6), jedoch war die ihn damals inspirierende, ihm ziellen Tageszeitung der Revolution und von links nach rechts über die Ritter-Schule noch in zugleich deren Protokollorgan, der Gazette seiner Münsteraner Zeit vermittelte Lukács- national ou le Moniteur universel.9 Perspektive (von Wiese 1959 [Anm. 6], S. 448f., 835) eine andere als heute, nach dem Durchgang

8 durch die ›postmoderne‹ Verabschiedung der Ge- Jeffrey L. High: Schillers Rebellionskonzept und schichtsphilosophie. – Lukács hatte sich schon seit die Französische Revolution. Lewiston/NY u.a. Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) mit Schiller 2004. – Die Metapher der ›dichten Beschreibung‹ auseinandergesetzt (Georg Lukács: Werke. Neu- nach Clifford Geertz: Thick Description: Toward wied/Berlin 1962ff. Bd. 2, S. 319); einflussreich ge- an Interpretive Theory of Culture. In: ders: The In- worden sind aber vor allem zwei spätere Abhand- terpretation of Cultures. Selected Essays. New York lungen von ihm, Schillers Theorie der modernen Lite- 1973, S. 3-30 (dt. 1983). ratur (1935) und Zur Ästhetik Schillers (1935), beides 9 Und zwar so sehr, dass dieses Buch, je mehr es sich verbreitet durch Goethe und seine Zeit (1947) und in diese Quelle vertieft, streckenweise zu einer Ge- Beiträge zur Geschichte der Ästhetik (1954); s. Werke, schichte der Pariser Ereignisse selbst wird, wie wir Bd. 7, S. 125-163; Bd. 10, S. 17-106. – Zu Schiller sie – so akzentuiert und mit dieser wirkungsge- selbst und seinem (zunehmend kritischen) Verhält- schichtlichen Perspektivierung – auf deutsch bis- nis zur Geschichtsphilosophie Verf.: »Weltge- lang nicht lesen konnten: Hans-Jürgen Schings: Re- schichte ein erhabenes Object«. Zur Modernität volutionsetüden. Schiller – Goethe – Kleist. Würz- von Schillers Geschichtsdenken. In: Peter-André burg 2012, hier S. 13-144, Schillers Revolution; zu Alt u.a. (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur

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nahm Schiller für die Publikation in den Ho- mit dem Umschlag in Terror zugleich das ren, gemäß der Vorschrift, in diesem Blatt Paradigma abgab für den »Rückfall in Bar- über Politik zu schweigen, eine gewisse barei« als mögliche Verlaufsform von Revo- Dämpfung des Tons vor, aber keine Ab- lutionen, ist sie dieses Schlüsselereignis auch schwächung in der Sache. Der Bezugspunkt als Menetekel moderner Umsturz- und Be- Französische Revolution – als weltge- freiungsbewegungen.14 Insofern zeigt sich schichtliches Ereignis einerseits und Um- Schiller hier einmal mehr als exemplarischer schlag in Terror zugleich – bleibt klar und ›Denker der Sattelzeit‹; mit der ihm eigenen deutlich erkennbar, zumal in den einschlägi- Klarheit und Sicherheit diagnostiziert er ein gen Briefen zwei und fünf.11 Ungeschmälert Dilemma, an dem die politische Moderne bis übernehmen so die Ästhetischen Briefe so- heute laboriert. Denn nur wenig will so wohl den politischen Problemdruck wie schlecht zu ihrem Selbstbild passen wie die auch die politische Intention der Version Tatsache, dass ihre Revolutionen mehrheit- von 1793. Auch sie wollen ein »politische[s] lich, wie unter Wiederholungszwang, jenen Problem« »lösen«.12 Nicht irgendeines, son- fatalen Umschlag durchexekutierten. Die dern ein Zentralproblem moderner Politik Ästhetischen Briefe, dafür sind sie berühmt, (hier verstanden als Politik nach der Auf- klärung). Die Französische Revolution ist ja demie-Textausgabe. Berlin 1968 (= AKA). Bd. 7, S. das Schlüsselereignis der Epochenschwelle 1-116, hier S. 79-93, Erneuerte Frage: Ob das zwischen Früher Neuzeit und Moderne – menschliche Geschlecht im beständigen Fortschrei- der so genannten »Sattelzeit« um 1800 – ten zum Besseren sei, das Zit. S. 84. 14 nicht nur als das »Geschichtszeichen« des Der Topos vom »Rückfall in Barbarei«, zumeist politischen Fortschritts, als welches Kant auf den Nationalsozialismus gemünzt, aber darauf 13 nicht festzulegen, war zumal nach 1945 von links bis und viele nach ihm sie ansahen. Indem sie rechts geläufig; vgl. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Pro-

bleme der industriellen Gesellschaft (1957). In: Ge- deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. samtausgabe. Hg. Karl-Siegbert Rehberg. Bd. 6. FS Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 193- Frankfurt/M. 2004, S. 1-137, hier S. 127; s. ebd. S. 214. – Annalistisch: Lucian Hölscher: Neue Annali- 566-675, Über Barbarei (1977); Theodor W. Ador- stik. Umrisse zu einer Theorie der Geschichte. Göt- no: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Ge- tingen 2003. spräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hg. Gerd 11 NA 20, S. 311f., 319f. Kadelbach. Frankfurt/M. 1970, S. 92-110, Erzie- 12 Ebd., S. 312, B 2 (Hervorh. v. Verf.). hung nach Auschwitz (1968), hier S. 92; S. 126-139, 13 »Sattelzeit«: Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Erziehung zur Entbarbarisierung (1968). – Als einer Otto Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbe- der frühesten Belege für diese Denkfigur darf Schil- griffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen lers 2. Augustenburger Brief vom 7.7.1793 (NA 26, Sprache in Deutschland. Stuttgart 1972-97. Bd. 1, S. S. 257–268, Nr. 184) gelten: Europa und »ein ganzes XV. – »Geschichtszeichen«: Immanuel Kant: Der Jahrhundert«, das der Aufklärung, »in Barbarey [...] Streit der Fakultäten (1798). In: Kants Werke. Aka- zurückgeschleudert« (S. 262).

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reden vom »Spiel«,15 doch Ursprung und Seidel nennt daher die Ästhetische Erziehung Motiv dieser Rede ist blutiger Ernst, ist eine eine »politische Ästhetik«.19 Nicht im Sinne Fatalität der Geschichte, die der aufgeklärte »ästhetischer Politik« (vulgo ›Ästhetisierung Blick in sie einerseits nicht verleugnen, aber der Politik‹) natürlich, sondern einer Ästhe- andererseits auch nicht hinnehmen kann.16 tik, die politisch ist, weil sie »auf einen Akt Zuletzt hat dies, mit Nachdruck, Walter staatlichen Tötens antwortet«, also auftritt Müller-Seidel festgehalten. Sein bedeutsa- als Reflexion und Kritik der politischen Ge- mes Buch Friedrich Schiller und die Politik walt, der Politik als Gewalt.20 So scharf wie von 2009 stellt gleich im ersten Kapitel, heute bei Müller-Seidel und Schings, aber »Weltereignis einer Hinrichtung«, das Kon- auch bei High und Alt, wurde dieser Zu- zept der ästhetischen Erziehung in den Ho- sammenhang in der älteren Schillerfor- rizont der Enthauptung des französischen schung kaum je gezeichnet. Die Ernsthaf- Königs am 21. Januar 1793.17 Diese war als tigkeit, mit der die Briefe derzeit wieder dis- die Todesstrafe, als die sie etwa Robespierre kutiert werden, rührt denn auch nicht zum deklariert hatte, rechtlich zweifelhaft, aber wenigsten von diesem Einstellungswechsel auch, da Ludwig XVI. längst entmachtet her, den die so entschiedene Neuanbindung war, kein Tyrannenmord, und daher nur des Textes an seinen historischen Kontext mehr barbarische Symbolpolitik. Schiller war empört, wollte sich auch mit einem Schrei- ben für den König verwenden, kam aber schließlich nicht damit zurecht.18 Müller- den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da ligt sie mir nun noch 15 NA 20, S. 353ff., B 14-27. da [...]« (ebd., S. 183, Nr. 151). 16 Erst vor diesem aktuellen Hintergrund, noch nicht 19 Müller-Seidel 2009 (Anm. 17), S. 11 u. ff. – Der allein vor dem historischen des Dramas selbst, ermisst Ausdruck selbst war freilich keineswegs neu; vgl. nur man das verborgene Pathos des Prologschlusses aus Klaus L. Berghahn: Nachwort. In: ders. (Hg.): Fried- dem Wallenstein. rich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Men- 17 Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die schen. Stuttgart 2000, S. 253-286, hier S. 254. Politik. »Nicht das Große, nur das Menschliche ge- 20 Müller-Seidel 2009 (Anm. 17), S. 13. – Zu ›Schiller schehe«. München 2009, S. 9-22. – Dass Müller- und die Politik‹ jetzt ferner: Bern Rill (Hg.): Zum Seidels letztes Buch ein Schillerbuch war, noch dazu Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension. über diese Thematik, will zur Vita dieses großen Ge- München 2009, hier bes. S. 133-144, Helmut Koop- lehrten besonders gut passen. mann: Schillers Staatsdenken; Nils Ehlers: Zwischen 18 En detail dazu Schings 2012 (Anm. 9), S. 69-118, schön und erhaben. Friedrich Schiller als Denker des Der Prozeß gegen den König; s. zuvor schon Jeffrey Politischen. Im Spiegel seiner theoretischen Schriften. L. High: Schillers Plan, Ludwig XVI. in Paris zu ver- Göttingen 2011; Thomas Ulrich: Anthropologie und teidigen. In: JDSG 39 (1995), S. 178-194. – Vgl. Schil- Ästhetik in Schillers Staat. Schiller im politischen Dia- ler an Körner, 21.12.1792 (NA 26, S. 170-172, Nr. log mit Wilhelm von Humboldt und Carl Theodor 146) u. 8.2.1793: »Ich habe wirklich eine Schrift für von Dalberg. Frankfurt/M. u.a. 2011.

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mit sich brachte.21 Die Schillerphilologie ist ches Wissen über die Ästhetische Erziehung in heute in der glücklichen Lage, dass ihr rei- ausgezeichneten Handbuch-Artikeln nie- dergelegt ist. Neben der genannten Schiller- 21 Vgl. zuletzt Ulrich 2011 (Anm. 20), S. 314-374. – biographie von Alt, die ja über weite Strec- Auch die Traditionslinien werden neu vermessen: ken wie ein Handbuch benützt werden Antje Büssgen: Glaubensverlust und Kunstautono- kann, sind hier vor allem die Beiträge von mie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Rolf-Peter Janz, Lesley Sharpe und Carsten Friedrich Schiller und Gottfried Benn. Heidelberg 2006; Balasundaram Subramanian: Die Ästhetischen Zelle zu den neueren Schiller-Handbüchern 22 Briefe als ›Fürstenspiegel‹ der politischen Moderne. zu nennen. Von ihnen muss ausgehen und Zum Einfluß Edmund Burkes auf Schiller. In: Georg an ihnen muss Maß nehmen, wer sich heute Bollenbeck, Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. an den Briefen versuchen will. Vergleicht Der unterschätzte Theoretiker. Köln u.a. 2007, S. 87- man die beiden Artikel zu den deutschen 121; Rajendra Dengle (Hg.): Schiller and Aesthetic Education Today. Goethe Society of India Yearbook Handbüchern, zeigt sich eine für die philo- 2006. New Delhi 2007; Walter Hinderer: Martin Hei- sophisch-ästhetische Schillerdiskussion degger, Übungen für Anfänger – Schillers Briefe über durchaus charakteristische Antithetik. Bei die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Zeitschrift Koopmann eröffnet Janz (nach entste- für dt. Philologie 131 (2012), S. 553-569; grundlegend hungsgeschichtlichem Eingang) seine Dar- jetzt Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kantrezeption. Berlin/New York 2011; ders.: Die Sendung Moses. wichtigste zum Thema; seine deutsche Rezeption Ägyptische und ästhetische Erziehung bei Lessing, hinkt indes nach; auch in Koopmanns Forschungsbe- Reinhold, Schiller. In: Riedel 2011 (Anm. 9), S. 109- richt (Anm. 1) findet er keine Erwähnung (wie aller- 174; zuletzt Yvonne Nilges: Schiller und das Recht. dings weite Teile der nichtdeutschsprachigen Schiller- Göttingen 2012, S. 167-222, Revolutions- forschung, z.B. der italienischen und iberoromani- Reminiszenzen. Über die ästhetische Erziehung im schen). – Seitens der Politikwissenschaft (ohne Bezug »großen Rechtshandel« der Zeit (1795). – Seitens der auf die neuere germanistische Forschung): Ehlers Philosophiehistoriker: Marion Heinz: Schönheit als 2011 (Anm. 20), S. 129-167. Bedingung der Menschheit. Ästhetik und Anthropo- 22 Rolf-Peter Janz: Über die ästhetische Erziehung des logie in Schillers ästhetischen Briefen. In: Manfred Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Koopmann Baum (Hg.): Transzendenz und Existenz. FS Wolf- 22011 (Anm. 1), S. 649-664 (s. 11998, S. 610-626; in gang Janke. Amsterdam/New York 2001, S. 121-137; der Neuaufl. unverändert); Lesley Sharpe: Con- Birgit Sandkaulen: Die »schöne Seele« und der »gute cerning Aesthetic Education. In: Steven D. Martin- Ton«. Zum Theorieprofil von Schillers ästhetischem son (Hg.): A Companion to the Works of Friedrich Staat. In: DVjs 76 (2002), S. 74-85; dies: Schönheit Schiller. Rochester/NY 2005, S. 147-168 (vgl. und Freiheit. Schillers politische Philosophie. In: schon dies.: Schiller. Drama, Thought and Politics. Klaus Manger, Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Cambridge 1991, S. 141-169, Aesthetic Education); Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 37- Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des 55; Frederick Beiser: Schiller as Philosopher. A Re- Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Mat- Examination. Oxford 2005, S. 119-168, Argument and thias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch. Le- Context of the Ästhetische Briefe. Beisers Schiller ist ben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. aus der englischsprachigen Literatur fraglos das Ge- 409-445.

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stellung gleichsam programmatisch mit ei- pus der Ästhetischen Briefe, sondern auch das nem Kapitel »Ästhetische Versöhnung«.23 schlagende Herz der Janzschen Ausführun- Ihrem »utopische[n] Gehalt« bleibt er, eige- gen. Ganz anders dagegen Zelle im 2005 er- nen Zweifeln und Einwänden der Schiller- schienenen zweiten (verwechslungsförder- forschung zum Trotz, bis ins letzte Kapitel licherweise gleichnamigen) Schiller-Hand- hinein verpflichtet.24 Das »Schöne« als Ver- buch von Matthias Luserke-Jaqui. Er geht mittlungs- gleich ›Versöhnungs‹-Instanz vom fundamentalen Bruch in Schillers Äs- zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, mit thetik aus, vom Unzureichenden einer blo- seinem Konkretwerden in Spiel, Schein, ßen Theorie des Schönen und von der Schmuck usw. und seinem Effekt der »Frei- Notwendigkeit einer die ästhetische Erzie- heit«, ist hier nicht nur der unstrittige Sko- hung erst komplettierenden Theorie des 25 Erhabenen. Und da die Ästhetischen Briefe 23 Janz 22011 (Anm. 22), S. 650f., Ästhetische Ver- dieses Erhabene mit den nicht ausgeführten söhnung. – Das Versöhnungsparadigma hatte einst Partien über die »energische Schönheit« fal- Benno von Wiese kanonisiert: Das Problem der ›äs- lengelassenen haben, sind sie, ob nun der thetischen Versöhnung‹ bei Schiller und Hegel. In: Konzeption nach oder weil eine geplante JDSG 9 (1965), S. 169-188. Spiritus rector dieser Fortsetzung nicht mehr realisiert wurde, Deutungslinie war der Ritterschüler Günter Rohr- 26 moser mit dem damals berühmt gewordenen und Fragment. Erst durch Überschreitung ih- mehrfach nachgedruckten, von Lukács (Anm. 10), Joachim Ritters epochaler Studie Hegel und die Französische Revolution (Opladen 1956) und von 25 Hierzu schon Carsten Zelle: Die Notstandsge- Wieses frisch erschienenem Schiller (Anm. 6) aus- setzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische gehenden Aufsatz: Zum Problem der ästhetischen Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Versöhnung. Schiller und Hegel, zuerst in: Eupho- Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. rion 53 (1959), S. 351-366; auch in: Bolten 1984 Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. (Anm. 7), S. 314-333. Stuttgart/Weimar 1994, S. 440-469; ders.: Die dop- 24 Janz 22011 (Anm. 22), S. 651, 664. Vgl. Walter pelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schö- Hinderer: Utopische Elemente in Schillers ästheti- nen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart/Weimar scher Anthropologie. In: Hiltrud Gnüg (Hg.): Lite- 1995. rarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt/M. 1982, S. 26 Zelle 2005 (Anm. 22), S. 427, 431, 436. Noch die 173-186; auch in ders.: Von der Idee des Menschen. Textanordnung in den Kleineren prosaischen Schrif- Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, S. 132-141. ten von 1801 muss dieses Angewiesensein der Briefe Als den entschiedensten (blochianisch geprägten) auf das von ihnen Ausgeschlossene belegen. Durch Utopiker unter den Schillerforschern wird man Voranstellung der 1793er Schrift Über das Patheti- Klaus L. Berghahn ansprechen dürfen; vgl. sche und Nachstellung des 1801 erstpublizierten Berghahn 2000 (Anm. 19); auch ders.: La revolución Aufsatzes Über das Erhabene komplettiere diese estética del citoyen Schiller. In: Brigitte E. Jirku, Ju- ›Ausgabe letzter Hand‹ extern, was der Ästhetischen lio Rodríguez Gonzáles (Hg.): El pensamiento fi- Erziehung intern fehle und lege so den beschränkten losófico de Friedrich Schiller. València 2009, S. 67- Geltungsanspruch der Ästhetischen Erziehung offen 80. (S. 436).

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rer Erziehung durch das Schöne auf die nicht sich etwa von ihm löst). Die gedank- strengere Schule des Erhabenen hin (inklu- liche Reichhaltigkeit beider Texte verlangt sive Abspaltung der Sinnlichkeit) gewinne von der Darstellung einen gewissen Re- man demnach den wahren, den »›besseren‹ duktionismus; Konzentration auf die ar- Schiller«.27 Jedenfalls einen anderen, herbe- gumentativen Hauptlinien Schillers ist ren, als bei Janz. Maßgabe des Folgenden. Dabei war den Hier also der Schiller der Versöhnung, Augustenburger Briefen, weil wesentlich dort der der Entzweiung. Selbst wenn man schlechter durchleuchtet als die Ästheti- von dieser Pointierung einiges abzieht, schen,29 wesentlich mehr Raum zu geben. bleibt evident, dass die Wahrheit dazwi- schen liegen muss. Die folgenden Seiten plädieren daher in politicis für einen prag- matischen Schiller, für den »Realisten«.28 Sie wollen daher den argumentativen Zu- sammenhang von Augustenburger und Ästhetischen Briefen neu ins Auge fassen 29 und dabei das seltener untersuchte frühere Man kann dies schon an der Kommentarsituation Briefkonvolut einmal genauer als bisher ablesen. Zu den Ästhetischen Briefen liegt, nach Grundlegung in NA 21 (von Wiese/Koopmann betrachten. Drei Thesen sollen in den Ka- 1962, s.o. Anm. 5), eine Reihe neuerer Kommentare piteln zwei bis vier belegt werden. Erstens: vor, sowohl in den Schiller-Gesamtausgaben (Wer- Die Augustenburger Briefe stellen einen ke und Briefe. Frankfurt/M. 1988ff., hier in Bd. 8, eigenständigen, in sich schlüssigen Theo- 1992, Hg. Rolf-Peter Janz [Nachdr. als Einzausg., rieentwurf dar – kein Extempore bloß vor- ebd. 2008]; Sämtliche Werke. Hg. Helmut Koop- mann. Düsseldorf 1997, hier in Bd. 5; Sämtliche läufiger Geltung, sondern ein durchdach- Werke. München/Wien 2004, hier in Bd. 5, Hg. tes Konzept. Zweitens: Schillers Überle- Verf. [22008]) wie auch auch in Tb.-Einzelausg. der gungen sind unmittelbar anschlussfähig an Briefe (Hg. Berghahn 2000 [Anm. 19]; Hg. Stefan gegenwärtige philosophische Fragestellun- Matuschek. Frankfurt/M. 2009). – Ganz anders bei gen und Diskussionen. Drittens: Für die den Augustenburger Briefen: Bolten 1984 (Anm. 7) Ästhetische Erziehung waren die Augusten- hatte nur allerknappste Anm. (S. 85-87); mehr bot Janz 1992 (s.o., hier S. 1379-1385); gleich darauf burger Briefe nicht die berühmte hinter folgte NA 26 mit dem wiederum grundlegenden sich zu lassende Leiter, sondern das tra- Komm. (Nahler/Nahler 1992 [Anm. 7]), der aller- gende Fundament, auf dem sie steht (und dings noch sehr empfindliche Lücken aufweist (S. 788: Fehlanzeige zwischen 305,5-6 und 313,16, zu zentralen Passagen im Br. vom 11.11.1793). 27 Ebd., S. 440. Berghahn 2000 (Anm. 19), der verdienstvollerweise 28 Nicht ganz im Sinne von Über naive und sentimen- auch die Augustenburger Briefe mit abdruckt, gibt talische Dichtung vielleicht, aber auch nicht ganz hierzu nur eine, freilich nützliche, Konkordanz (S. fern davon (vgl. NA 20, S. 492-503). 210-212).

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2. Humanität aus Distanzgewinn: Brand des Kopenhagener Schlosses ver- Die Augustenburger Briefe brannt. Grundlage aller postumen Drucke sind überlieferte Abschriften von sechs ch kann seit 14 Tagen keine Briefen (vom sechsten ist nur der Anfang französischen Zeitungen mehr erhalten) aus den Monaten Februar bis De- lesen, so ekeln diese elenden zember 1793.32 Argumentativ, auch durch Schindersknechte»I mich an«. Am 8. Februar explizite Aufnahme des Gedankenfadens 1793, keine drei Wochen nach der Hinrich- jeweils zu Briefbeginn, schließen sie nahtlos tung Ludwigs XVI. am 21. Januar, schrieb aneinander an, so dass nichts der Annah- Schiller diese berühmten Zeilen an den me entgegensteht, die überlieferte Serie Freund Gottfried Körner.30 Vom Tag dar- könnte in sich komplett sein. Da es aber ei- auf datiert der erste der Augustenburger ne Äußerung von Schiller gibt, die nahe- Briefe. Prinz Friedrich Christian von Au- legt, es habe noch Weiteres gegeben, ist gustenburg-Sonderburg (1765-1814), spä- nicht auszuschließen, dass der fragmentari- terer Herzog von Schleswig-Holstein, hat- sche sechste Brief vielleicht nicht der letzte te Schiller, nachdem er von dessen schwe- war.33 Doch wieviel auch immer hier fehlen rer Erkrankung im Mai 1791 erfahren hatte mag – was wir haben, präsentiert sich als (im Sommer glaubte man ihn in Dänemark ein Ganzes, vielleicht nicht ganz vollstän- gar tot), am 27. November 1791 eine jährli- dig, aber doch hinreichend integral. Folgen che Rente auf drei Jahre zugesprochen.31 wir also dem Gang seiner Argumente. Mit dem Schreiben vom 9. Februar 1793 eröffnete Schiller die Serie philosophischer Briefe an ihn – als Dankesgabe für die mä- zenatische Förderung und zugleich, die Verwandtschaft mit der Gattung Fürsten- 32 NA 26, S. 183-187, 9.2.1793, Nr. 152 [1]; S. 257- spiegel nicht verleugnend, als kulturpoliti- 268, 13.7.1793, Nr. 184 [2]; S. 295-314, 11.11.1793, sches Mémoire aus gegebenem Anlass für Nr. 208 (mit einem »Einschluß«, S. 301-314) [3]; S. einen aufgeklärten Landesherrn in spe. 314-322, 21.11.1793, Nr. 209 [4]; S. 322-333, 3.12.1793, Nr. 210 [5]; S. 337f., Dez. 1793, Nr. 213 Die Originalschreiben sind 1794 beim [6]. Danach im 2. Kap. oben im Text mit Seitenzah- len in Klammern zit. 30 An Körner, 8.2.1793, NA 26, S. 183, Nr. 151. 33 Zur Überlieferungsgeschichte NA 26, S. 671f., 31 Sie wurde schließlich fünf Jahre gezahlt; o.g. Komm. Aufgrund einer Briefstelle vom 10.6.1794 Schenkungsbrief des Prinzen: NA 34.I, Nr. 97; (an den Prinzen von Augustenburg, NA 27, S. 8) Schillers Antwort und Dank vom 19.12.1791: NA vermuten Nahler/Nahler Fehlendes innerhalb des 26, S. 124-126, Nr. 101; zu Verursachung und nähe- auf uns gekommenen Bestands (NA 26, S. 672). Die ren Umständen dieser für Schiller existentiell wich- lückenlos erscheinende Argumentation über diese tigen Förderung NA 26, S. 562-578, Komm. zu Nr. Briefe hinweg stützt diese Vermutung nicht unbe- 97-103. dingt.

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2.1 Theoretische Voraussetzungen. Wohlgefallens«, die in einem gänzlich be- Schiller und Sulzer griffslosen »Gefühl der Lust« (oder im ge- genteiligen Fall der »Unlust«) gründet.34 rief eins, vom 9. Februar 1793 (183- Kant wiederholt hier indes nur die com- 187, Nr. 152), schlägt das Thema munis opinio des 18. Jahrhunderts. Johann vor. Eine »Aesthetick« oder »Phi- Georg Sulzers Handbuch Allgemeine Theo- Blosophie des Schönen« (186) soll entwickelt rie der Schönen Künste (1771/74) etwa, weit werden, im Anschluss an »Kant«, der aller- verbreitet und benutzt und sowohl Kant dings in der Kritik der Urteilskraft nur »die wie Schiller bestens bekannt, traktiert in Fundamente« einer solchen »Kunsttheo- jedem einschlägigen Artikel diesen Grund- rie«, »wo nicht gegeben, doch vorbereitet« satz, dass »über das, was gefällt oder miß- habe (184). Das Gebäude selbst stehe indes fällt«, allein die »Empfindung entscheidet«, noch aus. An seinen Bau, oder doch we- also ein Gefühl von »Lust« und »Unlust«, nigstens an ein erstes Stockwerk, will sich nicht aber die »Erkenntniß«, die nur »über Schillers »philosophischpoetische Vision« das urtheilet, was wahr, oder falsch ist«.35 (187) wagen. Warum ausgerechnet Theo- Sulzer war es auch, der, im Anschluss an rie der Kunst? Nicht aus kunstinternen David Humes Treatise of Human Nature Gründen, sondern wegen der über die (1739/40), immer wieder die anthropologi- Sphäre des rein Ästhetischen hinausgrei- sche Asymmetrie zwischen Erkennen und fenden, psychodynamischen Wirkungen Empfinden, ihre unterschiedliche Einfluss- des Schönen auf den Menschen. Als »see- kraft auf das menschliche Verhalten beton- lenbildende« téchne wird die »Kunst« hier te. »Keine einzige deutliche Idee kann be- eingeführt, ja mehr noch, als »die wirksam- wegen«, also eine Handlung auslösen, ste aller Triebfedern des menschlichen sondern nur der subrationale Impuls der Geistes« (185). Und auch der Grund für diese Wirkungskraft wird genannt, die 34 Tatsache, dass wir das Schöne, sei es der Kritik der Urtheilskraft (1790), § 1, AKA 5, S. 203f. Natur oder der Kunst, und hier sowohl der 35 Malerei, der Dichtung wie der Musik, »füh- Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer len und nicht erkennen« (185). Nicht der Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Intellekt ist das Organ der ästhetischen Artikeln abgehandelt. Neue verm. Aufl. [Hg. Fried- Rezeption, sondern das Gefühl, die Emp- rich von Blanckenburg]. Leipzig 1786-87, Bd. 2, S. findung. 43-45, Art. ›Empfindung‹; S. 297, Art. ›Geschmack‹; Schiller folgt hier in der Tat Kant, der Bd. 4, S. 331, Art. ›Sinnlich‹; u.ö. – Im Einzelnen dazu und mit weiteren Belegen Verf.: Erkennen und das ästhetische oder »Geschmacksurtheil« Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und nicht als »Erkenntnisurtheil« fasst, sondern Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: als nicht-kognitive »Empfindung des Schings 1994 (Anm. 25), S. 420-439.

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Lust: »Empfindungen« seien die einzigen ste auf die Empfindung wirken, beeinflus- »wahren antreibenden Kräfte in der See- sen sie direkt das menschliche Verhalten. le«. In der Psyche, wie Sulzer und die »em- In diesem affektpsychologischen Sinne pirische Psychologie« der Aufklärung sie »seelenbildend«, sind sie zur Menschenfüh- entwarfen, war das cartesische cogito rung wie geschaffen. Schiller war schon schon nicht mehr der Herr im Haus.36 früh von der pädagogischen Kraft der Wir beginnen zu verstehen, warum sich Künste überzeugt. Was kann eine gute ste- Schiller ausgerechnet 1793 in die Philoso- hende Schaubühne eigentlich wirken? So frag- phie der Kunst vertiefen will. Da die Kün- te die Mannheimer Theaterrede von 1784, und gab bereits zur Antwort: Fast alles, was

36 der »Beförderung allgemeiner Glückselig- Vgl. Johann Georg Sulzer: Vermischte philoso- keit« durch »Menschen- und Volksbil- phische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Aka- demie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 dung« aufhilft. Als »öffentliche« Institution Tle. Leipzig 1773-81 (Nachdruck Hildesheim/New eines aufgeklärten Gemeinwesens ist sie York 1974). Hier v.a. Tl. 1, S. 225-243, Anmerkun- Schule der Gesellschaft, Medium der sozia- gen über den verschiedenen Zustand, worinn sich len Integration – machtvoller noch als die die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, »Religion« (beide machen »den Zusam- nämlich das Vermögen, sich etwas vorzustellen [= menhang der Gesellschaft [...] inniger«) – erkennen] und des Vermögens zu empfinden, befin- det (1763); ebd., S. 199-224, Von dem Bewußtseyn und in diesem Sinne eine »moralische«, das und seinem Einflusse in unsre Urtheile (1764), hier Zusammenleben der Menschen verbes- S. 213, das Zit. oben. Dazu im Einzelnen Verf. 1994 sernde »Anstalt«.37 Schillers Zutrauen in (Anm. 35), S. 410-423, Psychologia empirica oder die soziale Macht der Bühne ist nur von die Theorie der Empfindungen. – Vgl. David Hu- seinen affektpsychologischen Prämissen me: Ein Traktat über die menschliche Natur. Hg. Reinhardt Brandt. 2 Tle. Hamburg 1989, bes. Tl. 2, her verständlich. Wenn es primär Empfin- S. 150–156, Von den Motiven des Willens, bes. S. dungen und nicht Einsichten sind, die das 152f. (»Die Vernunft ist nur der Sklave der Affek- menschliche Tun und Lassen lenken, und te«). Zumal dies Kapitel scheint mir zu den zentra- wenn die Kunst den Menschen primär über len psychologischen Quellen Sulzers zu gehören. Zu das Empfindungs- und nicht über das Er- Humes Anthropologie bündig die Hg.-Einleitung, kenntnisvermögen anspricht, dann müssen ebd., S. XI–L. – Schiller war über diese und ver- wandte Positionen, zumindest grob, aus dem Philo- Bildungseffekte der Kunst (hier des Thea- sophieunterricht bei Jacob Friedrich Abel im Bilde; vgl. Verf.: Exoterik, Empirismus, Anthropologie. 37 NA 20, S. 87-100, die Zit. S. 88, 91f.; beim Neu- Abels Philosophie im Kontext der deutschen Spät- druck 1801 änderte Schiller den Titel in Die Schau- aufklärung. In: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellen- bühne als moralische Anstalt betrachtet um; zur edition zum Philosophieunterricht an der Stuttgar- Schaubühnenrede vom Verf.: Schriften zum Thea- ter Karlsschule (1772-1782). Hg. Verf. Würzburg ter, zur bildenden Kunst und zur Philosophie vor 1995, S. 402-450; ders.: Schiller und die Popularphi- 1790. In: Koopmann 22011, S. 595-610, hier S. 595- losophie. In: Koopmann 22011, S. 162-174. 601, Theater.

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ters), weil sie subkutan »die Empfindungen werden könnte, liegt außerhalb von Sul- bestimmen«, »tiefer und daurender zers Vorstellungshorizont. Für ihn weist sie wirk[en]« als jede philosophische Aufklä- den nach allen rationalistischen Irrungen rung, ja als »Moral und Geseze« selbst.38 endlich gefundenen, einzig erfolgverspre- Dieser Überzeugung war schon Sulzer, chenden Weg zur Zivilisierung des Men- und es ist kein Zufall, dass von allen kunst- schen auf. Denn weder Vernunftgründe theoretischen Autoritäten der Zeit er als noch staatliche Gewalt können moralisches einziger in der Schaubühnenrede einmal Handeln erwirken, schon gar nicht erzwin- namentlich erwähnt wird.39 Schon damals gen, wohl aber unwillkürlich-unbewusst hatte Schiller mit der Allgemeinen Theorie ›triggernde‹ Lust/Unlust-Stimuli, auch die gearbeitet; die Artikel Schauspiel, Schauspie- der Kunst: sie »reizen« den Menschen le und Schauspielkunst zählen zu den maß- »unwiderstehlich zu seiner Pflicht«.42 Äs- geblichen Quellen der Rede. Und auch thetische Erziehung als Instrument des Sulzer hatte aus seiner Einsicht in die na- aufgeklärten Wohlfahrtsstaates! Mit ihrer hezu vollständige Affektgesteuertheit des Hilfe werde der »gute Regent wie ein an- menschlichen Verhaltens bereits die soziale drer Orpheus die Menschen selbst wider und politische Utopie einer ästhetischen ihren Willen, aber mit sanftem liebenswür- Psychagogik im Dienste der Aufklärung digen Zwange, zu fleißiger Ausrichtung al- gezogen. In den Künsten besitze der »wei- les dessen bringen, was zu ihrer Glückse- se« Gesetzgeber und jeder Aufklärer und ligkeit nöthig ist«.43 Hier kommt Schillers »Menschenfreund« das »Werkzeug«, »aus Hoffnung auf theatralische »Beförderung dem Menschen [...] alles [zu] machen, des- allgemeiner Glückseligkeit« in der Schau- sen er fähig ist«.40 Die neue, erfahrungs- bühnenrede her. seelenkundliche »Theorie der Sinnlichkeit« Und nicht nur in dieser. Wir sehen nun liefere ihm den Schlüssel zur »völligen auch, welcher zeitgenössische philosophi- Herrschaft über den Menschen«, denn wer sche Diskurs eigentlich angezapft wurde, die Empfindungen regiere, regiere die als Schiller zehn Jahre später dem Augu- ganze Person.41 Eine recht unverhüllte stenburger Prinzen die »Kunst« als eine Theorie der psychischen Manipulation ha- »seelenbildende« Macht, ja als »die wirk- ben wir hier vor uns. Dass sie nicht nur samste aller Triebfedern des menschlichen zum Wohle des Menschen angewandt Geistes« (185) zu tieferem Bedenken an- empfahl. Mit Kant und den »Grundsätze[n] 38 NA 20, S. 93. 39 NA 20, S. 90. 42 Ebd. 40 Sulzer 21786/87 (Anm. 35), Bd. 3, S. 58-81, Art. 43 Ebd., S. 64. Einlässlicher zu Sulzers ›ästhetischer ›Künste; Schöne Künste‹, hier S. 62, 64. Erziehung avant la lettre‹ Verf. 1994 (Anm. 35), S. 41 Ebd., S. 76. 427ff.

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der kritischen Philosophie« (184) hatte all thetik. Keineswegs wird die Französische dies zunächst einmal wenig zu tun. Son- Revolution hier schon nach Intention und dern mit den Überzeugungen der ›empiri- »Innhalt« (260) von vornherein verwor- schen Psychologie‹ oder ›Anthropologie‹ fen. Vielmehr werde durch dieses »politi- der Spätaufklärung, mit denen Schillers sche Schöpfungswerk« das »grosse Schick- Denken von früh an in der Wolle gefärbt sal der Menschheit zur Frage gebracht«, war. Nicht nur für den Historiker ist daher das »dem Menschen das Heiligste seyn die Verbeugung vor Kant, mit der die Au- muß«, nämlich das nach hundert Jahren gustenburger Briefe einsetzen, in gewisser Aufklärung schon längst drängende Pro- Weise eine Nebelkerze. Sie war aber auch blem des richtigen »Gesellschaftszu- mehr als nur ein Tribut an den allerneue- stand[s]«: »Eine Angelegenheit, über wel- sten Diskussionsstand. Schiller sah bei che sonst nur das Recht des Stärkeren und Kant und den Kantianern seiner Umge- die Konvenienz zu entscheiden hätte, ist bung vieles in philosophisch zünftiger Ma- vor den Richterstuhl reiner Vernunft an- nier ausgeführt, was ihm als Ziel seiner ei- hängig gemacht« (260). Nicht daran also genen Überlegungen – jedenfalls partiell – setzt Schillers Kritik an, sondern am Wie auch vorschwebte. Um aber zu verstehen, dieses »grossen Rechtshandel[s]«, an »sei- wie seine Texte aus dieser Zeit funktionie- ner Verhandlungsart«, seinem konkreten ren, müssen wir erst einmal klar sehen, Verlauf. In ihm sei aber gerade nicht das von wo er eigentlich gedanklich herkam. Erhoffte »eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, 2.2 Unzeitgemäße Betrachtungen der Mensch als Selbstzweck respektiert und oder Woran scheiterte die behandelt, das Gesetz auf den Thron er- Revolution? hoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden« wä- rief zwei, vom 13. Juli 1793 (257- re (ebd.). Für Schiller eine Erfahrung von 268, Nr. 184), stellt sich den er- schockhafter Qualität. Alle Erwartungen wartbaren Einwand, dass »Unter- der Aufklärung mit einemmal dahin. »Ehe Bsuchungen über das Schöne« (257) im Jah- diese Ereignisse eintraten«, konnte man re 1793 unzeitgemäße Betrachtungen sei- sich vielleicht doch dem »lieblichen Wah- en: »Ist es nicht ausser der Zeit, sich um ne« hingeben, »daß der unmerkliche aber Bedürfniße der aesthetischen Welt zu be- ununterbrochene Einfluß denckender kümmern, wo die Angelegenheiten der po- Köpfe, die seit Jahrhunderten ausgestreu- litischen ein so viel näheres Interesse dar- ten Keime der Wahrheit [...] die Gemüther bieten?« (259) Damit ist Schiller bei der allmählich zum Empfang des Besseren ge- Revolution, und damit bei der argumenta- stimmt und so eine Epoche vorbereitet ha- tiven Verkoppelung von Politik und Äs- ben müßten, wo die Philosophie den mora-

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lischen Weltbau übernehmen, und das keit [...] vom Physischen« dränge (263). Licht über die Finsterniß siegen könnte«. Die Unterschichten hingegen wurden von Doch der »Versuch des Französischen der Aufklärung gar nicht erreicht; sie – Volks, sich in seine heiligen Rechte einzu- und hier ist Schillers Erschrecken noch setzen, und eine politische Freiheit zu er- größer – sind auf der Stufe vorzivilisatori- ringen«, entpuppte dies als leere Illusion; scher »Thierheit« (262) stehen geblieben. »Unvermögen« und »Unwürdigkeit« der Der Mob auf den Pariser Straßen belegt Revolutionäre, der Führer sowohl wie der ihm nur, dass das ungebildete ›Volk‹ nicht Massen, schürten nur die Risiken dieses rousseauistisch idealisierter populus, son- ungeheuren Experiments und haben am dern vernunftloser vulgus sei, der von Ende, den Zeitpfeil der Geschichte gleich- oben regiert werden müsse. Eine heute sam umkehrend, »einen beträchtlichen nicht mehr mehrheitsfähige Ansicht, ge- Theil Europens, und ein ganzes Jahrhun- wiss auch perhorresziv übersteuert, aber dert, in Barbarey und Knechtschaft zu- Schiller bringt Argumente bei, um seine Il- rückgeschleudert« (261). lusionslosigkeit zu begründen: Wie konnte es zu dieser – in Schillers Augen – welthistorischen Katastrophe In den niedern Klassen sehen wir nichts als rohe, kommen? Das Scheitern der Revolution, gesetzlose Triebe, die sich nach aufgehobenem so seine scharf gezeichnete Diagnose, ist in Band der bürgerlichen Ordnung entfeßeln, und mit unlencksamer Wuth ihrer thierischen Befriedigung einem banz gestimmten Sinne schon das zueilen. Es war also nicht der moralische Wider- Scheitern der Aufklärung. Als »bloß theo- stand von innen, bloß die Zwangsgewalt von außen, retische Kultur« war sie zu schwach, ›die was bisher ihren Ausbruch zurück hielt. Es waren Gemüther allmählich zum Empfang des also nicht freye Menschen, die der Staat unterdrückt Besseren zu stimmen‹. Mit dem Ergebnis, hatte, nein, es waren bloß wilde Thiere, die er an heilsame Ketten legte. Hätte der Staat die Mensch- dass die »Generation«, die dieser »günstig- heit [in ihnen] wirklich unterdrückt, wie man ihm ste« »Moment« der Geschichte vorfand, Schuld gibt, so müßte man Menschheit sehen, nach- »ihn nicht wert«, ja »verderbt« war. So- dem er zertrümmert war. Aber der Nachlaß der äu- wohl in den »civilisierten Klassen«, hier ssern Unterdrükung macht nur die innere sichtbar, durch »Erschlaffung«, wie im einfachen und der wilde Despotismus der Triebe heckt alle je- Volk, dort durch »Verwilderung« (262f.). ne Unthaten aus, die uns in gleichem Grad aneckeln und schaudern machen (263).44 Die Dekadenz der Oberschichten ist für Schiller Resultat der »Aufklärung« selbst, nämlich, zumal in Frankreich, ihrer Wende 44 zu einem sinnlichkeitsfixierten Materialis- Von welchen Untaten man in Weimar aus dem Moniteur wusste, berichtet jetzt Schings 2012 (Anm. mus (»Epikureism«), der, anstatt Mündig- 9), als einstiger Barockforscher ein erprobter atroci- keit, Mut und Tatkraft zu befördern, den tas-Experte. – Zu diesem Kapitel aus der Geschichte Menschen in »Passivität« und »Abhängig- der Grausamkeit ferner grundlegend Daniel Arasse:

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In beiden Klassen zeigt sich für Schiller, um Theorie und Praxis des Schönen »be- dass nicht vom Wissen, sondern vom »Ka- kümmern« (265f.). rakter«, nicht so sehr vom Inhalt des Den- kens, auch nicht vom richtigen, sondern 2.3 Schwenk in die Anthropogenese: »von der Denkungsart«, der ›Mentalität‹ Urszene der Distanzgewinnung der Bürger alles abhängt, wenn es um »Re- forme[n]« geht, die »politische und bürger- rief drei, vom 11. November 1793 liche Freiheit« »realisiren« wollen, die »Be- (295-314, Nr. 208) besteht aus zwei stand haben« und einen entsprechenden Teilen, einem kürzeren Anschrei- »Staat« stabil halten sollen (264). Den »Ka- Bben (295 -301) und einem längeren Anhang rakter« aber zu beeinflussen, blieb nach oder, so von Schiller überschrieben, »Ein- Schiller (der hier wieder nah bei Sulzer schluß« (301-314). Den argumentativen steht) der »philosophische[n] Kultur« der Fortgang leistet nicht das Anschreiben Aufklärer schon von ihrem rationalisti- selbst, sondern dieser »Einschluß«, den schen Ansatz her verwehrt. Ihr Programm man als das theoretische Kernstück der der »Berichtigung der Begriffe« griff von Augustenburger Briefe bezeichnen muss. vornherein zu kurz; »Reinigung der Ge- Das Anschreiben selbst hingegen stellt ein fühle« wäre gefragt gewesen: »Aufkläh- retardierendes Zwischenstück dar. Schiller rung der Begriffe kann es allein nicht aus- hält die Argumentation an, um auf den richten, denn von dem Kopf ist noch ein Einwand des Prinzen einzugehen, ob nicht gar weiter Weg zu dem Herzen, und bey doch der »Mangel an theoretischer Kul- weitem der größere Theil der Menschen tur«, an Aufklärung der Köpfe, »der grö- wird durch Empfindungen zum Handeln ßere Theil des Übels« sei (297). Schiller will bestimmt«. Solche Herzensbildung aber, sich dadurch nicht beirren lassen, aber dem siehe oben, »ist vorzugsweise das Geschäft Prinzen doch die Ehre einer ausführlichen [...] der ästhetischen Kultur«; als »wirksam- Antwort geben. Sie enthält keine neuen ste[s] Instrument der Karakterbildung« ist Argumente, weshalb wir sie hier überge- sie die Antwort auf das eigentliche »Be- hen können, und führt nach kurzem Um- dürfniß unsers Zeitalters«, nämlich über weg geradewegs zu dem Punkt zurück, an die reine Verstandesaufklärung hinauszu- dem Brief zwei schon einmal geendet hatte. gehen und durch »Veredlung der Gefüh- Danach, im »Einschluß« (der wohl schon le« die »Reinigung des Willens« herbeizu- vor dem kritischen Brief des Prinzen als führen. Gerade jetzt also muss man sich Folgeschreiben vorbereitet war und fertig vorlag), schreitet der Gedankengang wie- der voran, wiederum als in sich schlüssiges

La guillotine et l’imaginaire de la terreur. Paris 1987 Kapitel. (dt. 1988).

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Es gilt zu erweisen, dass und wie die Auch eine ästhetische Erziehung, und frag- Kunst eigentlich auf die Seele wirkt. Der los in genauestem Schillerschen Sinne!47 zeitgenössischen ästhetischen Systematik Und vielleicht, weil er es hier bereits aus- entsprechend,45 faltet Schiller dies in zwei geführt hatte, behandelt Schiller dieses Richtungen aus, die des »Schönen« und Hauptstück seiner Ästhetik in den Augu- die des »Erhabnen«; in diesem erkennt er stenburger Briefen gleichsam nur noch im das Heilmittel gegen die »Erschlaffung« Vorbeigehen (und lässt es später in den Äs- der Ober-, in jenem das wider die »Verwil- thetischen Briefen, kaum dass es unter dem derung« der Unterklassen (305). Dass die Stichwort »energische Schönheit«48 aufge- Dynamik des Erhabenen – Ermächtigung bracht wird, alsbald wieder fallen). Ein- der ›geistigen Natur des Menschen‹ durch leuchtender aber wäre bei einem so ge- Depotenzierung der ›tierischen‹ – dem wichtigen Textfaktum ein Motiv auf der ›Epikureism‹ und seiner ›Abhängigkeit Ebene von Schillers Fragestellung und An- vom Physischen‹ aufhelfen sollte, musste satz selbst. Schiller mehr als naheliegend scheinen. Im Wer allerdings rein argumentationslo- Anschluss an Kants »Analytik des Erhabe- gisch sucht, wird es nicht finden. Man nen« hatte er vor allem in Über den Grund muss, gleichsam mit Sulzer und Schiller des Vergnügens an tragischen Gegenständen selbst, der Spur der Empfindungen und Af- (1792) und Vom Erhabenen (Zur weiteren fekte im Text folgen, der Spur des größe- Ausführung einiger Kantischen Ideen.) (1793) ren Schreckens. Und danach saß der die erhabene, genauer: erhebende Wir- Schock angesichts der destruktiven Ener- kung auf das Gemüt von der Größen- und gie der revolutionären Massen (›Wildheit‹) Schreckenserfahrung im Naturerleben auf offenbar noch tiefer als der Abscheu vor die Erfahrung des Tragischen im Theater der Dekadenz der Oberschichten. Denn übertragen und dergestalt die Tragödie als letztere stellt ein historisch spätes, ein se- Einübung in ein letztlich stoizistisch zu kundäres ›Kultur‹-Phänomen dar. Anders nennendes Selbstverhältnis entworfen.46 hingegen die entfesselte Barbarei des ›Vol- kes‹. Denn in ihm, das an der Aufklärung 45 Vgl. nur Kants Beobachtungen über das Gefühl nicht teilhatte, ja überhaupt den Zivilisati- des Schönen und Erhabenen (1764), AKA 2, S. 205- onsprozess höchstens ansatzweise oder gar 265. 46 Vgl. Kant, Kritik der Urtheilskraft, §§ 23-29, AKA 5, S. 244-266; Schiller, NA 20, S. 133-147, 171- Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik. Frankfurt/M. u.a. 2006. 195. Zum stoizistischen Profil dieses Theoriekapi- 47 tels bei Schiller Verf.: Die Freiheit und der Tod. Auf ihr liegt, wie angesprochen, der Akzent bei Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung Zelle 2005 (Anm. 26). beim späten Schiller. In: Bollenbeck/Ehrlich 2007 48 NA 20, S. 361, B 16; dazu der Komm., NA 21, S. (Anm. 21), S. 59-71; Trinidad Piñeiro Costas: 266f.

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nicht durchlaufen hat, tritt eine ältere, na- muss die Menschlichkeit des Menschen wo- turnähere Schicht im Menschen zutage, anders herkommen, aus einer Transfor- was immer auch ›Natur‹ sei. Von den Au- mation seiner ursprünglichen Natur, einem gustenburger Briefen her wird daher klar, Prozess der »Humanisierung« (315) und dass die »Verwilderung«, die Schiller den ›Entbarbarisierung‹, einem ›Prozess der Zi- Unterschichten zuschreibt, eher missver- vilisation‹. Damit schlägt die aktualitätsge- standen wird, wenn man sie als Denaturie- steuerte Frage, wie die in der Revolution rung begreift. Er meint die Rückkehr zur wiedererwachte Bestie Mensch (»Hyäne«, tierischen Wildheit, oder was dasselbe ist, »Panther«)50 zivilisiert werden könnte, die Wiederkehr der ursprünglichen Natur unmittelbar um in die anthropogenetische, des Menschen. Auf deren entsetzliche wie dieses Wesen, das in gebildeten Klas- Epiphanie unter den Franzosen – am Ende sen und Nationen ja auch zu nichtbestiali- eines Jahrhunderts der Aufklärung! – ant- scher Gestalt gefunden hat, überhaupt wortet sein Schrecken, und auf ihn die einmal zivilisiert werden konnte. Unverse- theoretische ›Reaktionsbildung‹ der über- hens gelangt Schiller so in ein ganz neues – eindeutigen und systematisch nicht ge- und scheinbar ganz fernes – Feld, in die deckten, vielmehr durch Ausblendung des menschliche Entwicklungsgeschichte. Aber Erhabenen erkauften Konzentration allein nicht um dem Heute auszuweichen! Ganz auf das Schöne. Dieses Erschrecken zwingt Schiller zu- Rousseau: Discours sur l’origine et les fondemens gleich die Auseinandersetzung mit seinem de l’inégalité parmi les hommes (1755). In: ders.: rousseauistischen Gedankenerbe auf. Schriften zur Kulturkritik. Frz.-dt. Hg. Kurt Wei- gand. Hamburg 21971, S. 61–269, hier S. 169f., 173. Wenn der vorzivilisierte, voraufgeklärte – Zum Kontext Verf.: Die Anthropologie des jun- Mensch nicht der bonté naturelle unter- gen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen stand, sondern das »wilde Tier« (263) war, Schriften und der Philosophischen Briefe. Würzburg als welches er jetzt, des Außenhalts der so- 1985, S. 176-182, »Eigennuz« und »Wohlwollen«; zialen Ordnungen ledig, auf den Pariser ders.: Für ein Naturprinzip der Sittlichkeit. Motive Straßen wiederkehrt, dann ist von einem der Mitleidsdiskussion im 18.Jahrhundert. In: Nina Gülcher, Irmela von der Lühe (Hg.): Ethik und Äs- sittlichkeitsbegründenden Naturinstinkt, er thetik des Mitleids. Freiburg/Br. u.a. 2007, S. 15-31. heiße »pitié«, »moral sense«, »Mitleid« oder – Zu Schiller selbst in diesem Kontext ebd., S. 24-31 »Sympathie«, nichts zu erwarten.49 Dann (zum tragödienpoetischen Mitleidsbegriff des späte- ren Schiller); Verf. 1985 (s.o.), S. 176-203, Apologie der Liebe (zur »Sympathie«-gestützten Moralphilo- 49 Zur »pitié« als einer sogar schon Tieren eigene sophie des jüngeren). »vertu naturelle«, die dem (ebenfalls natürlichen) 50 Zum Kontext der Hyänen- und Panthermetapho- Egoismus und Aggressionstrieb steuert und aus der rik (keineswegs ein ausschließliches Privileg der alle weiteren Tugenden fließen (»de cette seule quali- »Weiber«) aus der Glocke (NA 2.I, S. 237) s. té découlent toutes les vertus sociales«): Jean-Jacques Schings 2012 (Anm. 9), S. 122f.

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im Gegenteil, er sucht dort nach einem fe- Drei-Stufen-Modell der menschlichen sten, anthropologischen Fundament für die Entwicklung will er diese Frage beantwor- Möglichkeit einer ästhetisch vermittelten ten (311-313). »Karakterbildung«. Die »erste Stuffe« zeigt den Menschen als Aus diesen Gründen schwenkt die Ar- reines »Naturwesen«, seinen »Lust« gumentation im dritten und zentralen Au- /»Unlust«-Empfindungen gänzlich ausgelie- gustenburger Brief von der synchronen fert und damit der unnachgiebigen Logik Achse in die diachrone um, von der Ge- des Selbsterhaltungsprinzips – »Hunger und genwartsanalyse zur menschlichen Vor- Liebe«52 im Rohzustand: »Entweder stürzt er und Frühgeschichte, dorthin zurück, wo al- sich auf die Gegenstände und will sie in sich les begann, zum Übergang vom »Thier« reissen, in der Begierde; oder die Gegen- zum Menschen. Was hat »den rohen Sohn stände stürzen sich feindlich auf ihn, und er der Natur verfeinert« (306), was ihn aus stößt sie von sich, in der Verabscheuung« dem animalischen Zustand herausgetrie- (311). Gier und Furcht, ausagiert in direkter ben zu, wenn auch eingeschränkter, »Ra- Brutalität, beherrschen Schillers hypotheti- tionalität« und »Freyheit« (310)? Sind mo- schen Naturmenschen, der hier als der »trot- ralische Autonomie und Vernunftbe- zigste Egoist unter allen Thiergattungen« stimmtheit bei einem trieb- und empfin- (314) immer nach Hobbes und nicht nach dungsgesteuerten Wesen wie ihm über- Rousseau modelliert ist.53 Stets muss er wol- haupt möglich, und was wären die anthro- pologischen ›Bedingungen ihrer Möglich- es war, übergehen lassen wollen. – Zu Nietzsche keit‹? Oder noch einmal mit Schiller selbst: und Schiller Gilbert Merlio: Schiller-Rezeption bei »wie werde ich von dieser sinnlichen Ab- Nietzsche. In: Bollenbeck/Ehrlich 2007 (Anm. 21), hängigkeit zu der moralischen Freiheit den S. 191-213; Verf.: Homo Natura. Literarische An- Uebergang finden« (ebd.)?51 In einem thropologie um 1900. Würzburg 22011, S. 144ff. 52 Die Weltweisen (1795, u.d.T. Die Thaten des 51 Die Augustenburger Briefe stellen hier schon die- Philosophen), NA 1, S. 268f., hier S. 269. selben Fragen wie später Menschliches, Allzumensch- 53 Nach Hobbes’ De cive (1647), aus dessen Wid- liches: »Wie kann etwas aus seinem Gegensatz ent- mungs-Vorrede heraus sich das Plautus-Zitat »lupus stehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlo- est homo homini« verselbständigt und als Topos ver- sem, [...] interesseloses Anschauen aus begehrli- breitet hat. ›Nach Hobbes‹ ist systematisch, nicht chem Wollen, Leben für andere aus Egoismus [...]« einflussphilologisch gemeint (Schillers Kenntnis der (Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschli- Egoismus-Anthropologie, vielfach gut untersucht, ches [1878]. In: Sämtliche Werke. Studienausgabe. geht vielmehr auf frühe Auseinandersetzung mit Hg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin/New Helvétius’ De l’homme, 1773, dt. 1774, zurück; vgl. York 1980. Bd. 2, S. 23, I.1). Nur dass sie im Unter- zuletzt Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la schied zu Nietzsche diesen Gegensatz nicht sogleich tentation du matérialisme. Paris 2006). – Vgl. Tho- als einen scheinbaren erklären, sondern den Men- mas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger (Ele- schen wirklich in etwas anderes, als sein Ursprung mente der Philosophie II/III). Hg. Günter Gaw-

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len, gleich, ob er etwas haben, fressen, flie- Ja bis – »auf der zweyten Stuffe« etwas hen oder töten will; und er muss dieses Wol- »ihn frey macht«. Dieses etwas ist »die Be- len sofort realisieren, auf der Stelle. Zwi- trachtung« (ebd.). Schon hier meint Schil- schen Ich und Objekt gibt es keinerlei Ab- ler die ästhetische, hier als ganz elementare stand; der Reflexbogen, mit einem moderne- Erfahrung verstanden: »Das Wohlgefallen ren Ausdruck gesprochen, schließt beide der Betrachtung ist das erste liberale unmittelbar kurz. »In dieser drückenden Verhältniß des Menschen gegen die ihn Dependenz von Naturbedingungen« – den umgebende Natur. Wenn das Bedürfniß inneren der Empfindungen und den äuße- seinen Gegenstand unmittelbar ergreift, so ren der sie auslösenden Reize – »vegetiert rückt die Betrachtung den ihrigen in die der Mensch« der ersten Stufe, bis [...]« Ferne. Die Begierde zerstört ihren Gegen- (311). stand, die Betrachtung berührt ihn nicht« (ebd.). Eine kühne Übertragung! Schiller entnimmt dem ästhetischen Diskurs der lick. Hamburg 31977, S. 59 u. 75ff., Kap. 1. – Schil- Zeit das Rezeptionsmodell des ›interesselo- lers sonstiges Votum für den antihobbes’schen Na- sen Wohlgefallens‹, transferiert es aus der turtrieb der »moralischen Empfindungen« (moral kulturell hoch elaborierten Kunstsphäre in sense und sympathy der Schotten, Rousseaus und die historische Anthropologie und platziert Lessings Mitleid) findet sich in diesem »Einschluß« zu Br. 3 denn auch gut kantianisch marginalisiert es dort an den Anfang aller menschlichen (»bloß Affecktionen der leidenden Kraft«) und bei- Zivilisationsgeschichte überhaupt, als ›Ur- seite geschoben (307f.). Sprechend in diesem Zu- szene‹ der Anthropogenese. sammenhang auch, dass die Tragödienschriften die- Der Begriff des interesselosen Wohlge- ser Jahre den poetischen Mitleidsbegriff zwar auf- fallens, für die Nachwelt vor allem mit nehmen, ihm aber doch eine einigermaßen unkon- 54 ventionelle Wendung geben, indem sie in ihm – Kants Geschmackstheorie verbunden, Lessing oder Rousseau hätten dies für paradox war schon vorher ein geläufiger ästheti- gehalten – eine ästhetische Distanzstruktur betonen scher Topos, und nicht nur dank Sulzers (Verf. 2007 [Anm. 46], S. 26ff.). Sie ist zwar etwas Allgemeiner Theorie.55 Schiller selbst hatte anderes als Käte Hamburgers bekannte »Distanz- struktur des Mitleids« (Das Mitleid. Stuttgart 1985, 54 21996, S. 100ff., 114), dafür passt sie aber gut zum Kritik der Urtheilskraft, § 2, Das Wohlgefallen, weiter unten in diesem Kap. zu Entwickelnden. – welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist ohne Gier und Furcht ließen sich aber auch als eine Vari- alles Interesse, AKA 5, S. 204f., hier S. 205: »Man ante des Humeschen hopes and fears-Topos aus des- will [beim Schönen] nur wissen, ob die bloße Vor- sen Natural History of Religion (1757, dt. 1759) lesen, stellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen der sich ja, Schiller bestens bekannt, ebenfalls auf begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in An- den Naturmenschen bezieht; s. Verf.: Abschied von sehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vor- der Ewigkeit. In: Norbert Oellers (Hg.): Interpreta- stellung sein mag«. tionen. Gedichte von Friedrich Schiller. Stuttgart 55 Friedrich Just Riedel: Theorie der Schönen Kün- 1996, S. 51-63 (zu Resignation von 1784). ste und Wissenschaften. Jena 1767, S. 17: »Schön ist,

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ihn schon als Karlsschüler für die Jahres- und Liebe, die ›tierische‹ Gier, sind auf Sei- prüfungen 1777 zu lernen.56 ›Ohne alles In- ten des Betrachters suspendiert, und eben teresse‹ und in diesem Sinne ›frei‹ ist da- dies rückt das Objekt der Betrachtung, wie nach die ästhetische Wahrnehmung, weil Schiller schreibt, »in die Ferne« (311). Das sie nur auf die in der ›bloßen Vorstellung‹ ist sein Punkt! In dieser Abstraktionslei- gegebene »Form« (312) eines Gegenstan- stung erkennt er ein Humanum erster des schaut (und auch nur diese per ›Ge- Ordnung, das über die Sphäre des Ästheti- schmack‹ beurteilt), dabei aber seiner ›Exi- schen weit hinaus greift, tief ins Politische stenz‹ gegenüber gleichgültig ist, also von und Moralische hinein. Indem Schiller die dessen möglichem realen ›Wert‹ oder ästhetische Sphäre ins Elementare wendet, ›Nutzen‹ für den Betrachter völlig absieht. weitet er sie anthropologisch aus, zu etwas Durch dieses Absehen, diese Abstraktion Allgemeinem und jenseits bloßer Kunster- von der Wirklichkeit des Angeschauten, fahrung allgemein Durchgreifendem. Da- wird die Anschauung aus den Vitalbezügen her seine einerseits gewagte, aber anderer- und Selbsterhaltungsfunktionen, die sie seits auch plausible Intuition, dass die ›äs- sonst beeinflussen, ausgekoppelt. Hunger thetische‹ Wahrnehmungsform, die doch ein spätes, hochkulturelles Phänomen zu was ohne intereßirte Absicht sinnlich gefallen und sein scheint, in Wirklichkeit am Anfang der auch dann gefallen kan, wenn wir es nicht besitzen«; Anthropogenese aufgetreten sein, ja ihren S. 34: »Probierstein der Schönheit« ist das »an sich eigentlichen Beginn ausgemacht haben unintereßirte Wohlgefallen«; Sulzer 21786/87 muss. Was mit dem modernen Kunstbe- (Anm. 35), Bd. 4, S. 247-253, Art. ›Schön‹, hier S. trachter im Akt der ästhetischen Wahr- 248f.: »Das Schöne gefällt ohne Rüksicht auf den Werth seines Stoffs, wegen seiner Form [...] Für nehmung geschieht, nämlich dass für die den Eigennützigen ist Schönheit nichts, weil man sie Dauer dieses Aktes die »blinde Macht der durch bloßes Anschauen genießt«; vgl. Bd. 2, S. Natur in ihm [...] gebrochen« wird (304), 296-304, Art. ›Geschmack‹, hier S. 296: »Man nennt muss schon mit dem ersten Menschen ge- dasjenige schön, was sich ohne Rücksicht auf irgend schehen sein. eine andre Beschaffenheit, unsrer Vorstellungskraft Schiller entwirft in diesem Brief so et- auf eine angenehme Weise darstellt, was gefällt, wenn gleich man nicht weiß, was es ist, noch wozu was wie eine historische Anthropologie des es dienen soll«. Kulturerwerbs aus dem Distanzgewinn. 56 Er war Respondent der Prüfungsthesen zur Äs- Der Mensch als Mensch – im Unterschied thetik, die sein Philosophielehrer Abel den Eleven zum Menschen als Tier – lebt in habitueller in diesem Jahr vorgelegt hatte: Aesthetische Säze. Abständigkeit, ist ein Distanzwesen. Des- In: Abel (Anm. 36), S. 37-43, hier S. 39, § 1: »Der halb ist die ästhetische (›freie‹) Betrachtung Geschmack [...] beschäftiget sich nur mit Gegen- ständen, die Vergnügen und Misvergnügen durch der Schlüssel zu seinem Dasein und die ›in- ihre blosse Vorstellung, ohne eigenthumliche Be- teresselose‹ Subjekt-Objekt-Relation die ziehung der Gegenstände auf uns, erzeugen«. Wurzel seiner Sittlichkeit. In konsequenter

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Rückprojektion ›erfindet‹ Schiller so eine geradezu war. Und zwar rücken sie hier an entwicklungsgeschichtliche Urszene, in der eine prominente Stelle, die allerdings schon genau dies zum ersten Mal geschieht, der besetzt ist – durch Herder, von dem die psychodynamische (›seelenbildende‹) Auf- philosophische Anthropologie sich seit Ar- bau einer solchen, der ›ästhetischen‹ analo- nold Gehlen (in der »Einführung« zu Der gen Distanz. Sie entfernt den Menschen Mensch, 1940) herleitet. Allerdings bezieht aus der Natur, setzt ihn heraus aus dem fe- Gehlen dies weniger auf den Begriff der sten Korsett der Empfindungen, die als in- »Weltoffenheit« als auf sein damit eng nere Instanzen der Außenweltreize ihn in verbundenes »Mängelwesen«-Theorem, seine natürliche Umwelt hineinpassten wie das er in Herders Abhandlung über den Ur- ein Organ in den Organismus. Dieses enge sprung der Sprache von 1772 »genial« vor- Gehäuse der unmittelbaren Natureinbet- formuliert findet.58 Methodisch geht er in- tung öffnet sich nun: »es wird Raum zwi- des von Zeitgenössischem aus, von Jakob schen dem Menschen und den Erscheinun- von Uexkülls epochemachender Unter- gen«; die »Naturkräfte, welche vorher scheidung von menschlicher »Welt« und drückend und beängstigend auf den Scla- tierischer »Umwelt«.59 Danach ist das Tier ven der Sinnlichkeit eindrangen, weichen über den »Funktionskreis von Merk- und bei der freyen Kontemplation zurück« Wirkwelt« (ein ›Reiz-Reaktions‹-Kreis) in (311). seine Umwelt nicht nur eingepasst, son- ›Es wird Raum ...‹ – der fast schon dern regelrecht fixiert. Beim Menschen schöpfungsgeschichtliche Beiklang der hingegen sind diese Automatismen so weit Formulierung markiert die Relevanz dieser Textabschnitte. Von ihnen her müssen gabe (Anm. 14), Bd. 3.I, S. 34ff.; in gewisser Weise Schillers Augustenburger Briefe, zumal der auch Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Me- dritte, als einer der frühesten anthropolo- taphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit gischen Versuche angesehen werden, (1929/30), §§ 42ff. In: Gesamtausgabe. Abt. II. Bd. 3 avant la lettre die ›Weltoffenheit des Men- 29/30. Frankfurt/M. 2004, S. 261ff.; guter Über- blick: Peter Probst: Art. ›Weltoffenheit‹. In: Histo- schen‹ und ihren Ursprung zu thematisie- risches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim ren. Sie rücken damit unvermutet in die Ritter, Karlfried Gründer. Basel 1971-2007 (= Vorgeschichte der philosophischen An- HWPh). Bd. 12, Sp. 496f. thropologie des 20. Jahrhunderts ein, de- 58 Gehlen 1940 (Anm. 57), S. 90-93 (»Herder als ren Leittopos ja diese »Weltoffenheit«57 Vorgänger«), das Zit. S. 90; vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Spra- che (1772). In: Werke. Hg. Wolfgang Pross. Bd. 2. 57 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kos- München 1987, S. 251-357, hier S. 266ff. mos (1928). In: Gesammelte Werke. Bd. 9. Bonn 59 Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der 21995, S. 31; Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Na- Tiere (1909). Berlin 21924; ders.: Theoretische Bio- tur und Stellung in der Welt (1940). In: Gesamtaus- logie (21928). Frankfurt/M. 1973.

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abgeschwächt, dass die Welt auf Abstand nenheit« gehörte etwa hierher, auch me- rückt und sich seinem Blick in ihrer Gänze taphorologisch. Wie Schiller ging es War- darbietet, auch weit jenseits lebensweltli- burg, wenn auch im Blick auf einen ande- cher Größenordnungen. Er allein ist da- ren historischen Kontext, um die durch ei- her, wie Gehlen es resümierend auf den nen solchen »Raum« zwischen »Mensch Begriff bringt, »umweltenthoben«, eben und Objekt« erwirkte »Befreiung« vom ›weltoffen‹.60 Das ist aber, ebenso wie das- panischen Affektdruck (hier der Furcht), jenige Herders, Schillers Thema gewesen, um eine durch Distanzgewinn erkämpfte der diese Offenheit überdies aus einem be- Emanzipation des Betrachters vom Gegen- haviour, der Verhaltensform des Distanz- stand seiner Anschauung – aus den ge- blicks, und nicht aus der Sprache ableitet. fürchteten Göttern des antiken Mythos Der Platz seines Mit-Weimaraners in der und der mittelalterlichen Magie werden die Vorgeschichte der philosophischen An- nur mehr ästhetisch aufgefassten Götter- thropologie wäre daher gerechterweise zu bildnisse der Renaissancekunst.62 Und so, teilen.61 Jedenfalls ließe sich der Weltof- ganz analog, schon bei Schiller, der hier fenheitsdiskurs des 20. Jahrhunderts be- zwar nicht an die Renaissance denkt, son- stens an Schillers Theorie der Anthropo- dern an die Antike selbst, hier aber dassel- genese aus dem Distanzgewinn anschlie- be Phänomen erkennt: »Weil sie [die alten ßen. »Götter«] nicht mehr als bloße Naturkräfte Und dies auch außerhalb der philoso- phischen Anthropologie selbst! Aby War- 62 burgs berühmter »Denkraum der Beson- Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920). In: Ge- sammelte Schriften. Hg. Horst Bredekamp u.a. Abt. 60 2 Gehlen 1940 (Anm. 57), S. 34; vgl. Uexküll 1928 I. Bd. 1. Tl. 2. Berlin 1998, S. 487-558, 647-656, hier (Anm. 59), S. 334-340, Welt und Umwelt; auch für S. 491f., 531, 534 (»Denkraum der Besonnenheit«). – Heideggers Differenzierung zwischen tierischem Auch hier weist das Wort auf Herder, aber die Sa- und menschlichem »Welt«-Verhältnis war Uexküll che auch auf Schiller. Als Übersetzung von sophro- wichtig (Heidegger 1929/30 [Anm. 57], S. 284ff., syne lag »Besonnenheit« zwar als geläufiger Begriff 327, 351, 365, 383). der klassischen Ethik vor, aber Warburg benützt ihn 61 Weit voneinander entfernt liegen die Konzepte nicht als Bezeichnung einer Tugend, sondern im freilich nicht, Herder und Schiller nähern sich nur Sinne Schopenhauers als Begriff für ein ›nicht- oder von verschiedenen Seiten aus derselben Sache. Ein vorethisches Humanum‹, für die, so auch hier, ›Di- Grund mehr, sie hier zusammenzunehmen. – Geh- stanz‹ zur Welt, die den Menschen vom Tier unter- len, der historisch mehr kannte als philosophische scheidet; diesen Sprachgebrauch hatte Schopenhau- Anthropologen sonst, hatte immerhin schon beide er wiederum von Herder übernommen, bei dem die- in einem Atemzug seiner Ahnengalerie einverleibt, se Distanz allerdings, seinem Ansatz entsprechend, Schiller freilich unter anderem Blickwinkel und mit durch die Sprache geschaffen wird; vgl. Herder 1772 anderem Textbezug (Über Anmut und Würde) als (Anm. 58), S. 273f.; zur Begriffsgeschichte E. Hein- hier (Gehlen 1940 [Anm. 57], S. 30f.). tel: Art. ›Besonnenheit‹, in: HWPh 5, Sp. 848-850.

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auf ihn stürmen [und entsprechende Af- 2.4 Der Grund der Sittlichkeit: fektattacken auslösen], so gewinnt er Wechselseitige Anerkennung Raum, sie mit dem ruhigen Blick der Be- trachtung zu fixieren. [...] Das göttliche rechung des Absolutismus der Ungeheuer des Morgenländers [...] zieht Wirklichkeit, Distanzierung der sich in der griechischen Phantasie in die Außenweltreize, Dämpfung des freundliche Form der Menschheit zusam- EmpfindungsdrucksB – wie immer man es men«; die Götter »werfen die Gespenster- nennt, hieraus soll etwas entspringen, was larven ab« und verlieren, wie die Natur nicht mehr in diesem Sinne ›Natur‹ ist, selbst, ihren Schrecken und ihre Macht sondern ihr ›Anderes‹ oder Gegenteil,64 (318). Der gewonnene ›Raum‹ bei Schiller »Logos«65 (Blumenberg), »Besonnenheit« ist kein anderer als Warburgs ›Denk- (Warburg), »Vernunft« (Schiller): »Ich ha- Raum‹. Hans Blumenberg, dessen Mythos- be also bei dem Wohlgefallen der freyen theorie an Warburg ebenso anschloss wie Betrachtung meine Rationalität eröfnet« der von ihm mitinspirierte Poetik und Her- (312). Und wie später bei Warburg wird meneutik-Band Terror und Spiel schon im die so eröffnete Rationalsphäre bei Schiller Titel, nannte, was in diesem Raum gewon- betreten durch den ›Übergang‹ der ästheti- nen wurde, die Depotenzierung des »Ab- schen Erfahrung. Gegenüber der nur we- solutismus der Wirklichkeit« und bezeich- nig älteren Fassung seiner Urszenen- nete damit die hypothetische Urszene sei- Erfindung, der Vorlesung Etwas über die er- ner eigenen »Anthropogenese«-Erzäh- ste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden lung, des Ausgangs des Menschen aus dem der mosaischen Urkunde aus dem Jahr 1790, – wir kennen ihn nun schon – trieb-, af- ist diese Denkfigur neu. Schon dort stellte fekt- und reiz-reaktions-bestimmten »sta- sich Schiller die Frage nach dem »Ueber- tus naturalis«.63 gang des Menschen zur Freiheit und Hu- manität« und las, a-theologisch und speku- lationslustig in einem, Genesis 1 als eine Art frühgeschichtlicher Quelle, mit der man der Anthropogenese auf die Spur kommen

64 63 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frank- Ein unverwüstliches dichotomisches Denksche- furt/M. 1979, S. 9-39, Nach dem Absolutismus der ma, an welchem die modernen Wissenschaften vom Wirklichkeit, hier S. 9ff.; vgl. schon ders.: Wirk- Menschen zwar immer wieder rütteln (s. zuletzt lichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. Philippe Descola: Par-delà nature et culture. Paris In: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. 2005; dt. 2011), von dem sie aber andererseits auch Probleme der Mythenrezeption. München 1971, S. nicht richtig loskommen – tertium datur? 11-66. 65 Blumenberg 1979 (Anm. 63), S. 18.

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könnte. Im Stil einer märchenhaften Alle- Von der Übergangsfunktion des Ästhe- gorie und träumerischen Erinnerung an tischen ist hier keine Rede. Diesseits jenes den, wir würden heute vielleicht sagen, anthropogenetischen Uranfangs aber hatte Auszug der Menschengattung aus dem Schiller der Kunst eine entwicklungsge- Urwald in die Savanne, erzähle die Ge- schichtliche Hebammenrolle auch früher schichte von Sündenfall und Vertreibung schon einmal zugewiesen, im geschichts- aus dem Paradies in Wirklichkeit von philosophischen Großgedicht Die Künstler nichts anderem als von der Emanzipation von 1789. Auch dieses folgte dem Stilprin- des Menschen aus der »Vormundschaft des zip der säkularisierenden Kontrafaktur Naturtriebs«, dem »Abfall« vom »Leitban- theologischer Großerzählungen. Seine de« des »Instinkt[s]«, der ihn als »ver- narrative Folie war Lessings 1780 anonym nunftloses Thier« beherrscht hatte.66 In- erschienene Erziehung des Menschenge- dem Schiller dergestalt die »Stimme Gottes schlechts, und seine Pointe bestand darin, in Eden« naturalistisch zurückübersetzt in die erzieherische Instanz, die die Menschen die »Stimme« jenes »Instinkts«, kehrt er zur Vernunft führt und bei Lessing eine die Bedeutung der biblischen Erzählung in abstrakt gefasste »Offenbarung« war, die ihr Gegenteil um: Aus dem (»vermeintli- erst durch »Gott«, dann durch »Christus«, chen«!) »Ungehorsam gegen jenes göttli- dann durch den Zeitgeist des 18. Jahrhun- che Gebot«, nicht vom »Baum der Er- derts spricht, zu ersetzen durch den alter kenntniß« zu essen, wird das »erste Wage- deus der zeitgenössischen Kunst- und Lite- stück« der »Vernunft« des Menschen auf raturtheorie, das ›Originalgenie‹.68 Nur ein dem »gefährlichen Weg« zur »Freiheit«, der »erste Anfang seines moralischen Da- Werk? Dieser Diskurs insgesamt wie auch Schillers seins«, und enthüllt sich also das ganze Einbettung in ihn vertrüge neue zusammenhängen- Unglücksdrama von Schuld und Strafe als de Aufarbeitung; vgl. zuletzt Ulrich 2011 (Anm. die in Wahrheit »glücklichste und größte 20), S. 211-225. – Die neuere Literatur zu Schillers Begebenheit in der Menschengeschichte«.67 historischen Schriften bis 2007 verzeichnet Jürgen Eder: Schiller als Historiker. In: Koopmann 22011 (Anm. 1), S. 695-742, hier S. 742. 66 NA 17, S. 398-413, hier S. 398-401, die Zit. S. 68 Die Künstler, NA 1, S. 201-214 [Erstfassung von 398f. 1789]; Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung 67 Ebd., S. 399. – Spekulationen (›Mutmaßungen‹) des Menschengeschlechts. In: Werke. Hg. Herbert über den/die ersten Menschen waren in der Spät- G. Göpfert u.a. Darmstadt 1996. Bd. 8. S. 489-510. – aufklärung en vogue; vgl. nur Isaak Iselin: Philoso- Mit der Genietheorie war Schiller seit der Karls- phische Muthmassungen über die Geschichte der schule vertraut; vgl. Abels sog. ›Genie-Rede‹ von Menschheit. 2 Bde. Frankfurt/ Leipzig 1764 (71791); 1776: Rede, über die Entstehung und die Kennzei- Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschenge- chen grosser Geister. In: Abel 1995 (Anm. 36), S. schichte (1786). In: AKA 8, S. 107-124. Kants Auf- 181-218; zum Kontext ebd., S. 552-569, Komm.; ins- satz kannte Schiller (NA 17, S. 398). Ob auch Iselins besondere das Inventionsvermögen des Genies ist

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emphatisch-heroisches Künstlerkonzept 1793 (314-321, Nr. 209) geht über das bis wie die Genielehre der Aufklärung konnte dahin entwickelte Modell der »Humanisie- ein Narrativ wie das der Künstler tragen, rung« durch »Wohlgefallen ohne Sinnen- nur dem Künstler als ›großem Geist‹ oder interesse« (315) einen wesentlichen Schritt ›Genie‹ konnte die geschichtsphilosophi- hinaus durch Umkehrung der Perspektive. sche Aufgabe zugetraut werden, buchstäb- Nicht wie das Ich auf Welt und Andere lich an Gottes Statt (oder wie ein halbgött- schaut, steht nun im Fokus, sondern wie es licher, freilich recht unschelmischer ›Trick- von ihnen betrachtet wird, wie es ihnen ster‹) die Menschheit »durch das Mor- sich zeigt (und zeigen will). Der einstige genthor des Schönen / [...] in der Er- tierische »Räuber«, dessen »gieriger Blick« kenntniß Land« und schließlich ins ewige in der Natur nichts anderes sah »als eine »Licht«69 zu führen. Die mäeutische oder Beute, über welche seine Begehrlichkeit Übergangsfunktion des Ästhetischen für herstürzen konnte« (314), hat nicht nur die Entwicklung des Menschen, in diesem selbst inneren Abstand gewonnen gegen- ambitionierten Gedicht liegt sie, wenn auch über seinen Triebzielen, in derselben Di- in etwas anderer, auch konventionellerer stanz steht er nun auch vor dem fremden Form als später, schon vor.70 Dort das ›Ge- Auge; auch er ist zu einem Objekt der »ru- nie, hier das ›interesselose Wohlgefallen‹ – higen Betrachtung« geworden (317). Sein in beiden Fällen schlägt Schiller aus promi- Liebesimpuls kann sich daher nicht mehr nenten Denkfiguren der zeitgenössischen wie gewohnt als Überfall (»herstürzen«) Kunsttheorie anthropologisches, mensch- realisieren. Genötigt, »auf den Eindruck heitsgeschichtliches Kapital. acht zu haben, den er auf andere macht«, Damit zurück zu den Augustenburger lernt er zu »gefallen«, und »will« es schließ- Briefen: Brief vier, vom 21. November lich auch. Für Schillers Anthropogenese- Spekulation das zweite punctum saliens: ist natürlich für die Geschichtsphilosophie der »Schon diese einzige Regung macht ihn Künstler wichtig. zum Menschen« (316). Aus ihr allein, dem 69 NA 1, S. 202, 214. – Zu den Künstlern jetzt grund- »Er will gefallen«, resultiert Schillers ganze legend: Robert 2011 (Anm. 21), S. 223-292, Die Künstler. Aus der Vorgeschichte der ästhetischen Er- Ableitung der »Humanisierung« aus der ziehung: Alessandro Costazza: »Wenn er auf einen »Liebe zum Putz« in diesem Brief (315). Hügel mit euch steiget [...]«. Die ästhetische Theo- Der Gedanke ist klar. Die ästhetische Di- rie in Schillers Gedicht Die Künstler. In: Alt u.a. stanz macht nicht nur das Ich frei, sondern 2002 (Anm. 10), S. 193-214. 70 auch sein Gegenüber. Auch dieses verfügt Schiller selbst sah diese Differenz; vgl. an Körner, über das ›liberale‹ Weltverhältnis der ›frei- 3.2.1794, NA 26, S. 342, Nr. 216: »in den ersten 10 Bogen meiner Briefe ist der Stoff aus meinen Künst- en Betrachtung‹, und deren Zustimmung lern philosophisch ausgeführt«, d.h. mit größerer kann nicht erzwungen werden. Dies ändert »Strenge«. das Zusammenleben der Menschen von

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Grund auf. Der Mensch »schmückt sich«, Richtung baut die Passage, die das Men- mit »Schönheit« das »Weib«, mit »Tapfer- schenwesen in Schillers Urszene durch- keit« der »Mann« (316f.). Beides wird je- läuft, den »gesellschaftliche[n] Umgang« doch zur positiven Reizqualität nur im Au- des Frühhominiden um: »Abhängiger von ge des Gegenübers, oder anders gesagt, den Meinungen anderer [...], muß der [ein- wer »gefallen will«, »muß« den freien Gu- stige] rohe Egoist den Ungestüm seiner sto der Anderen – wie der Künstler das Affekte bezähmen, um«, und hier fällt jenes Urteil des Publikums – »respecktiren« entscheidende Wort noch einmal, »die (320). Freyheit außer sich zu respektiren, weil er Damit ist das entscheidende Wort ge- der Freiheit gefallen will«72 (317). Prinzip fallen, und die verhaltensanthropologische, der wechselweisen Anerkennung! Hegels zugleich moralisch-politische Pointe des »gedoppeltes Thun« der »Bewegung des vierten Briefs tritt offen zutage. Und nichts Selbstbewußtseyns in der Beziehung auf Geringes geht Schiller in ihr auf! Aus der ein anderes«, in der »das Thun des Einen« fortgetriebenen Analyse der ästhetischen immer zugleich »das Thun des Andern ist«, Erfahrung spinnt er für sich bereits heraus, ist dabei zwar noch nicht im Sinne der Ex- was alsbald, und gänzlich unabhängig von ihm, zu einem Grundgedanken der neue- übernimmt Hegel den Anerkennungsbegriff in seine ren praktischen Philosophie werden wird: berühmte ›Herr und Knecht‹-Analyse: Georg Wil- die Idee der (idealiter ›herrschaftsfrei‹- helm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes symmetrischen) ›Intersubjektivität‹, das (1807). In: Hauptwerke in sechs Bänden. Darmstadt Interaktionsmodell der ›wechselseitigen 1999. Bd. 2, hier S. 109-116, Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseyns; Herr- Anerkennung‹. Schiller besitzt diese Be- schafft und Knechtschafft. – Grundlegend hierzu griffe noch nicht, auch nicht den der »An- die Forschungen von Ludwig Siep: Anerkennung erkennung«, der erst einige Jahre später als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersu- durch Fichte und Hegel in die philosophi- chungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. sche Diskussion kommt, gleichwohl erfasst Freiburg/München 1979; Methodische und syste- er mit seinem Begriffs- und Metaphernin- matische Probleme in Fichtes Grundlage des Natur- rechts. In: Klaus Hammacher (Hg.): Der transzen- strumentarium klar das ›Spiegelverhältnis‹ dentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der der Intersubjektivität als Grundschema so- Philosophie Fichtes. Hamburg 1981, S. 290-308; zialer Interaktion.71 Und genau in diese Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Frank- furt/M. 2000 (= Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken. Hg. Herbert Schnädelbach. 71 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Na- Bd. 1), hier S. 101-106. Bester Überblick, zur Sache turrechts (1796). In: Fichtes Werke. Hg. Immanuel selbst wie zur Forschung: Henning Ottmann: Ge- Hermann Fichte. Berlin 1971. Bd. 3, S. 41-56, § 4, schichte des politischen Denkens. Bd. 3.2. München hier S. 44ff.: wechselseitige »Anerkennung« als Be- 2008, S. 203-207, 238-241. ziehungsform »vernünftiger Individuen«. Von hier 72 Hervorhebung vom Verf.

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zessivdialektik der Phänomenologie des Gei- der Freiheit ist für Schiller die anthropolo- stes durchleuchtet; aber den Kern der Sa- gische ›Bedingung der Möglichkeit‹ von che, dass nämlich die »Bewegung des An- Soziabilität und Moralität gegeben: »So un- erkennens«, weil sie Reziprozität voraus- terwirft sich der Schönheit stille Macht setzt, eine gespiegelte und insofern nicht nach und nach die rohe Natur, initiiert [sie] nur eine »gedoppelte«, sondern schon in den Wilden zum Menschen« (318). Damit sich »doppelsinnige« ist,73 enthält auch verlässt Schiller nicht nur das anthropolo- Schillers Formulierung schon. Erst recht gische Paradigma Rousseaus und seine sein berühmtes »Grundgesetz« des «ästhe- Ableitung der Moralität aus dem Natur- tischen Staats« aus dem Schluss der Ästhe- trieb Mitleid, sondern auch das ästhetische tischen Erziehung – »Freiheit zu geben durch Sulzers mit seiner rein manipulativen Freiheit«74 –, das die im vierten Augusten- Psychagogik durch Kunst; er befindet sich, burger Brief gewonnene Einsicht über- gewissermaßen traumwandelnd, auf dem nimmt und ihr durch Akzentverstärkung Weg zu Hegel, und über ihn hinaus, weit in noch etwas mehr Pathos verleiht: Freiheit die ›philosophischen Diskurse der Moder- geben, durch Freiheit, die man hat – und ne‹ hinein.75 bekommen hat. Nimmt man das ›Geben‹ dieser Formel mit dem ›Respektieren‹ des Briefs zusammen, dann hat man die ge- bend-empfangende Doppelbewegung der Anerkennung, soweit sie Schiller in seinen spekulativen Näherungen in noch Unge- dachtes hinein aufgegangen war, in schön- ster Vollständigkeit vor sich. 75 Die erheblich breiter zu nehmen sind, als Jürgen Mit diesem – aus dem Erfahrungsmo- Habermas seinerzeit sehen konnte (oder wollte): dus der ›freien Betrachtung‹ geborenen – Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Verhaltensmodus der Anerkennung frem- Vorlesungen. Frankfurt/M. 1985. Der Schiller- Exkurs darin (S. 59-64) hängt zwar ganz im hegelia- nischen Paradigma der Nachkriegszeit und be- 73 Hegel 1807 (Anm. 71), S. 109f. schwört noch einmal die Lukács-Linie von Schiller 74 NA 20, S. 410, B 27; vgl. auch S. 409: »er muß zu Marx, entschädigt aber da, wo der reproduktive Freyheit lassen, weil er der Freyheit gefallen will«. Duktus unterbrochen wird und das Vokabular der Jene Schlüsselformel der Briefe neu ins Bewusstsein Theorie des kommunikativen Handelns (1981) ein- gehoben hatte vor über 30 Jahren Jeffrey Barnouw: schießt, mit der von dorther soufflierten schönen »Freiheit zu geben durch Freiheit«. Ästhetischer Zu- Intuition, dass es in Schillers Ästhetik um »kommu- stand – Ästhetischer Staat. In: Wolfgang Witt- nikative Vernunft«, »Intersubjektivität«, »Verstän- kowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität digungsverhältnisse« geht (S. 62f.). – Von Schiller und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen (via Hegel) zu Marx: Lukács 1962ff. (Anm. 10), Bd. 1982, S. 138-161. 10, S. 22ff.

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2.5 Lob des Zweitbesten: Schillers zurück, und habe mich zu der Freiheit der pragmatische Wende Geister erhoben« – fertig! Mehr ist dazu nicht zu sagen? Gleich darauf räsoniert er rief fünf, vom 3. Dezember 1793 stattdessen über die »Rigidität« des Kanti- (322-333, Nr. 210), setzt ein mit schen »Sittengesetz[es]« und rückt sie in- der Wiederholung des Bekennt- teressanterweise in die Nähe des Triebdik- nissesB zu Kant, nun aber nicht wie im er- tats, mit dem »die Natur dem Sclaven der sten Brief in ästhetischer, sondern in mo- Sinne gebietet« (313). Zweimal Heterono- ralphilosophischer Hinsicht: mie also, in der Natur und in der Ver- nunft? Wir kommen in der Ästhetischen Er- Ich bekenne gleich vorläufig, daß ich im Haupt- ziehung darauf zurück. Im fünften Brief punckt der Sittenlehre vollkommen Kantisch denke. nun wird Kants »unmittelbare Bestimmung Ich glaube nämlich und bin überzeugt, daß nur die- des Willens durch das Gesetz der Ver- jenigen unsrer Handlungen sittlich heißen, zu denen uns bloß die Achtung für das Gesetz der Vernunft nunft« (323) von anderer Stelle aus aufge- und nicht Antriebe bestimmten, wie verfeinert diese bohrt. Der anthropologische Realist in [z.B. als ›moralische Empfindungen‹] auch seyen. Schiller verschafft sich Gehör: wir Men- [...] Ich nehme mit den rigidesten Moralisten an, daß schen seien »keine Götter« (332) und von die Tugend schlechterdings auf sich selbst ruhen »der menschlichen Natur« sei daher »nie müsse, und auf keinen von ihr verschiedenen Zweck zu beziehen sei. Gut ist (nach den Kantischen und nimmer zu erwarten«, »daß sie ohne Grundsätzen die ich in diesem Stück vollkommen Unterbrechung und Rückfall gleichförmig unterschreibe) gut ist, was nur darum geschieht, und beharrlich als reine Geisternatur weil es gut ist. (322) handle« (330). »Beyspiele wahrer Tugend« seien immer nur die »Ausnahmen«, »nicht« Ein Credo, wie es entschiedener nicht die »Regel«, und daher, wie Schiller hier sein könnte. Dennoch, lesen wir weiter in schreibt, »zufällig« (333). Dies müsse die diesem Brief, wird schnell deutlich, dass es praktische Philosophie zur Kenntnis neh- nur strategisch-rhetorische Funktion be- men, auch die Folgen daraus: »wenn wir, sitzt. Schiller stellt den kategorischen Im- bey aller Ueberzeugung sowohl von der perativ auf den höchsten denkbaren Sockel Nothwendigkeit als von der Möglichkeit – und belässt ihn dort. Er schiebt ihn in die reiner Tugend, uns gestehen müssen, wie Philosophie ab, um die Praxis davon zu sehr zufällig ihre wirkliche Ausübung ist, entlasten. Es fiel ja auf, dass er schon im [...] würde es«, »bey diesem Bewußtsein dritten Brief, als er die drei Stufen der unsrer Unzuverläßigkeit«, »die frevelhaf- menschlichen Entwicklung darlegen wollte, teste Verwegenheit seyn, das Beste der nur auf die erste und zweite ausführlicher Welt [i.e. das gesellschaftliche Allgemein- einging. Die »dritte Stuffe« wird im Ver- wohl] auf dieses Ohngefähr unsrer Tu- gleich dazu recht kurz abgetan: »Hier [...] gend ankommen zu laßen« (330). lasse ich die Sinnlichkeit ganz hinter mir

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Mit anderen Worten, der kategorische richtiges Ideal, das in der Anwendung so- Imperativ besitzt zwar unbedingte Geltung, fort zu falschen Vorstellungen zerfällt. aber nur »in der Theorie«, nicht »in der Vielleicht aus diesem Grund sind ihr im Anwendung«; hier, im wirklichen Leben, dritten Brief nur wenige Zeilen gewidmet. muss vielmehr selbst der »rigideste Ethi- Doch so oder so, wo das Allgemeinwohl ker« »von der Strenge seinen Systems [...] »durch unsre zufällige Tugend gar übel be- etwas nachlassen« (331). Eine nach jener sorgt seyn würde«, sind andere Kräfte ge- so strikt kantianischen Eröffnung denn fragt, um »die Gesetzmäßigkeit der Hand- doch erstaunliche Wendung. Man muss sie lungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßig- eine pragmatische nennen. Schiller, das keit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist« theoretisch Beste sehr wohl kennend, aber (also fast überall). Diese »starken Anker« auch seine praktische Ohnmacht klar se- sind für Schiller »Religion und Ge- hend, entscheidet sich als Anthropologe schmack« (331). Als praktisch wirksame und Menschenkenner für das Zweitbeste, »Surrogat[e] der wahren Tugend« leisten aber Machbare. Das Schlüsselwort des sie, was diese nicht vermag, das »Wohl der fünften Briefs heißt daher – statt »Morali- Welt [...] zu bevestigen« (ebd.). Lob des tät« – »Legalität« (329ff.)! Denn: »Je zufäl- Zweitbesten! liger [...] unsre Moralität, um desto Schon wie ein Soziologe blickt Schiller nothwendiger ist es, Vorkehrungen für die hier auf das Problem. Er sieht die Religion Legalität zu treffen« (330), also dafür zu rein funktional, als soziale, nicht als meta- sorgen, dass sich die Menschen, auch wenn physische Institution. Indem sie dem trieb- sie dem kategorischen Imperativ nicht ge- verwurzelten und daher egoismusanfälli- wachsen sind, rechtmäßig und zivilisiert gen Individuum normativen Außenhalt verhalten. Damit ist die kantische Ethik als gibt, dient sie als Garant seiner Sozialver- politische Option verabschiedet; das An- träglichkeit: »Der gemeine Mann wird sich sinnen jederzeitigen pflichtgemäßen Han- vieles nur als Christ verbieten, was er als delns aus bloßer Achtung vor dem Sitten- Mensch sich erlaubt hätte« (333). In dieser gesetz taugt nicht als Fundament einer so- Funktion ist die Religion hauptsächlich für zialen Ordnung, gleichgültig, ob vor oder das ›Volk‹ zuständig. Schillers Bild von nach der Revolution. Die Erwartung, dass ihm, erschreckensgesteuert, hat freilich viel vielleicht bei weniger blutigem Verlauf ei- von einem Phantasma. Von der Aufklä- nes Staatsumbaus im Sinne der Aufklärung rung nicht erreicht, durch keinen Zivilisa- anschließend jene dritte Stufe des reinen tionsprozess gegangen, verharrt es immer Vernunfthandelns eintreten könnte, klingt noch jenseits der anthropogenetischen Ur- jedenfalls nirgends an. Im Gegenteil, von szene, auf der Tierstufe. Da Triebdämp- Brief fünf aus gesehen, reduziert sich diese fung durch Distanzgewinn bei ihm deshalb Stufe ebenfalls auf ein nur in der Theorie nicht greift, muss seine Sozialdisziplinie-

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rung über Hoffnung auf Triebbefriedigung 2.3). Nachdem aber dergestalt erstens die (sein Opium, wie man es später nennen erhabene Erziehung der Oberschicht ad ac- wird) laufen: »da ist es die Religion, die ta gelegt ist und nun zweitens die Unter- auch dem sinnlichen Trieb noch ein Ob- schicht von der schönen Erziehung ausge- jeckt anweist, und ihm für die Opfer, die er schlossen wird, verschiebt Schiller insge- der Tugend zu bringen hat, hier und dort, heim – und das ist eine der intrikatesten eine Entschädigung zusichert« (ebd.).76 Pointen seines fortschreitenden Nachden- Das ›Volk‹ ist für Schiller, zumal nach der kens – seine Hauptidee einer Erziehung Grande Terreur, kein mögliches Subjekt von durch Schönheit, freie Betrachtung, Ge- Bildungsfortschritten, sondern Objekt von schmack usw. auf die andere Seite des so- Regierung; an ihm ist alles, worauf er seine zialen Spektrums und behält sie ausschließ- eigenen Hoffnungen setzt, »ästhetische lich den dafür überhaupt Empfänglichen, Kultur«, Formen sozialer »Schönheit«, also den Gebildeten, vor. Für das Volk, das »verlohren« (331); künftiges Humanisie- weder schön noch erhaben zur Mündigkeit rungsgeschehen läuft, von »Ausnahmen« erzogen werden kann, bleibt als Klippschu- (333) immer abgesehen, vorderhand an le der Unmündigen die Religion. Fraglos ihm vorbei; es muss verwaltet werden. auch eine Art Realismus!77 Das ist ein klarer Bruch mit der ur- sprünglichen Absicht, die Doppelstrategie 77 Als reine Herrschaftstechnik tritt die Religion hier der ästhetischen Erziehung so einzusetzen, geradezu in die Funktionsrolle der Sulzerschen dass die Schule des Schönen dem prinzipell Psychagogik; wie diese soll sie den Menschen diri- ›sinnlichen‹, unaufgeklärten und akut gieren, als subjectum regiminis, nicht als ›Subjekt‹ ›verwilderten‹ Volk und die Schule des Er- von Freiheit. – Beide weisen so übrigens auf ein weiteres Analogon, die illuminatische Politik der habenen den zwar aufgeklärten, aber epi- Menschenführung, und berühren damit eine Kern- kureisch ›erschlafften‹ Oberschichten zugu- frage der politischen Theorie Schillers, die Frage te kommen soll (305). Wir sahen schon, nach der Passung von Zwecken und Mitteln. Kön- wie die erhabene Erziehung in jenem drit- nen oder dürfen gute Zwecke auch mit solchen Mit- ten Brief zügig marginalisiert und das Au- teln verfolgt werden, die den Normen und Wertset- genmerk ganz auf die Erziehung durch das zungen der Zwecke widersprechen? Das Posa- Problem der Briefe über Don Karlos (1788)! Vgl. NA Schöne gerichtet worden war (s.o. Kap. 22, S. 169ff. Br. 11. Hierzu Schings 1996 (Anm. 3), S. 163-186, Despotismus der Aufklärung. Illumina- tendebatte und Briefe über ; Walter Mül- 76 Schiller hat die in Resignation (NA 2.I, S. 401-404, ler-Seidel: Der Zweck und die Mittel. Zum Bild des pass.; s.o. Anm. 51) attackierte Tauschlogik dieses handelnden Menschen in Schillers Don Carlos. In: Trostes (irdische Güter für überirdische) nicht ver- JDSG 43 (1999), S. 188-221, bes. S. 214ff., Die gute gessen; vgl. die ihm zugeschriebenen, in der Finanz- Sache und die schlimmen Mittel; Verf.: Aufklärung sprache gehaltenen Bemerkungen von 1794 dazu und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten. In: (NA 22, S. 178). Müller-Seidel/Verf. 2003 (Anm. 3), S. 107-125, hier

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Für die Gebildeten hingegen, auch für von ihm keine Lösung eines schlechthin die Gebildeten unter ihren Verächtern, allgemeinen, massenhaft auftretenden kommt die Religion hier nicht als ein Mit- Problems, wie Tod und Todesangst es nun tel, das Leben auszuhalten, in Betracht, einmal sind, erwartet werden. So bleibt sondern allein ob ihrer Trostfunktion in auch hier für den Regelfall nur das Zweit- Todesnähe (die sie allerdings im ›Volk‹ beste, die Empfehlung, wo es mit der ratio- genauso ausübt). Auch darauf ist Schillers nalen Erhebung über den Tod hapert, ein Blick ein ziemlich pragmatischer, und eben- bewährtes ›Surrogat‹ nicht zu verschmähen so auf den Menschen, für den es ans Ster- und »für diesen äußersten Fall Religions- ben geht und der die physische Vernich- ideen in Bereitschaft zu halten, um dem tung, gegen die all seine Empfindungen unabweisbaren Lebenstrieb in einer andern und Vitaltriebe sich erbittert wehren, kon- Ordnung der Dinge eine Befriedigung frontieren und die Todesangst bewältigen versichern zu können« (ebd.) – auch wenn muss. Zwar werden zunächst die bekann- dies weder mit der reinen Theorie des Er- ten Denkfiguren der Theorie des Erhabe- habenen so richtig übereinstimmt, noch nen – die man hier nun doch einmal man sich andererseits den Unsterblich- bräuchte – bemüht (Abspaltung der Sinn- keitsvorstellungen der ›positiven Religio- lichkeit und Erhebung über sie durch Zu- nen‹ noch bruchlos anschließen kann.78 fluchtnahme in die »reine Form der Ver- Ansonsten aber gilt die angesprochene nunft«), aber der realistische Grundtenor schichtspezifische Arbeitsteilung: Was »die des Briefs schlägt auch in diesen Textpas- Religion [...] dem sinnlichen Menschen«, ist sagen durch; nur »Wenige«, und auch die- »der Geschmack dem verfeinerten« (ebd.), se »nur in ihren glücklichsten [meint hier: Stütze der Soziabilität. Funktional ist beides stärksten] Momenten« besäßen »zu dieser gleichgestellt, wo aber seine Sympathien Gemüthsoperation« die erforderliche liegen, lässt Schiller nicht im Zweifel. Wie »Kraft« (332). Wie der kategorische Impe- dann auch die Ästhetische Erziehung ist die rativ, so kippt auch der Erhebungsappell politische Anthropologie der Augusten- der Theorie des Erhabenen im Praxistest burger Briefe eine Theorie der happy few. der faits sociaux ins Irrelevante. Wo seine Menschheit und Menschlichkeit gibt es nur Erfüllungshäufigkeit über statistische im oberen Drittel der Sozialpyramide, und ›Ausnahmen‹ nicht hinauskommt, kann auf dessen Habitusqualitäten (aber wohl- weislich nicht auf die an diesem Punkt der Argumentation ein wenig störenden, S. 120ff. – Die Perspektive auf diese Zweck/Mittel- ›erschlaffungs‹-bedingten Laster) hebt Frage hat sich freilich von 1788 zu 1793 in sehr be- stimmter Weise verschoben: Was Schiller damals Schiller hier ab: »Geschmack« im Umgang, für mündige Subjekte ablehnte, die Leitung von au- ßen, akzeptiert er jetzt – für das unmündige Volk. 78 Vgl. dazu Vom Erhabenen, NA 20, S. 180-182.

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der dem Verhalten »Mäßigung« abver- schen Distanz und ihres Prinzips der wech- langt, der »gute Ton«, mit dem »sich der selseitigen Anerkennung. Als Musterbei- civilisierte Mensch bey Aeusserung seiner spiel solcher sozialen »Delikatesse und Affeckte« dieselbe Kontrolle »auflegt« Feinheit« erschien Schiller niemand ande- (325), »Anstand« und »Ehre« (333) als rer als der Adressat seiner Lehrbriefe analoge Konventionen der Verhaltensmo- selbst, der Prinz von Augustenburg.82 An deration, und auch der schon im Vorbrief den dänischen Hof ist daher als erstes zu genannte »Tackt« (319f.) – die Folie des denken, wenn es am Ende der Ästhetischen europäischen Adelsideals79 schlägt erkenn- Briefe heißt, »daß der schöne Ton in der bar durch, oder, wie Schiller an anderer Nähe des Thrones am frühesten und am Stelle einmal schreibt, das Ideal des »voll- vollkommensten reift«.83 endeten Weltmann[s]«.80 Das »Gesetz« Im Verhaltenstypus des real fine gentle- seines Verhaltens ist ein zweifaches und re- man sieht Schiller das von ihm zuvor als ziprokes, nämlich »Schone fremde Frei- primäres Humanum herauspräparierte Di- heit« und »zeige selbst Freiheit«,81 also das stanz- und Anerkennungsprinzip gelebte im vierten Brief beschriebene der ästheti- Wirklichkeit geworden; nur in einer schmalen sozialen Schicht zwar, dort aber 79 Nach Heinz Otto Burger: Europäisches Adelside- als tatsächlich funktionierende Praxis, als al und deutsche Klassik. In: ders.: »Dasein heißt ei- evidente soziale Empirie. Trotz seiner sehr ne Rolle spielen«. Studien zur deutschen Literatur- geringen gesellschaftlichen Reichweite, geschichte. München 1963, S. 211-232, 297-301. 80 aber wegen seines – in seiner Sphäre – An Körner, 23.2.1793, NA 26, S. 199-217, Nr. 155 sehr hohen Wirkungsgrades setzt Schiller (5. sog. ›Kallias-Br.‹), hier S. 216. Natürlich gehören auch die beiden Titelwörter der gleichzeitigen Ab- daher den Geschmack als eine der Großin- handlung Über Anmuth und Würde (1793, NA 20, S. stitution Religion vergleichbare Instanz 251-308) in obige Begriffsreihe. – Schiller war mit des Allgemeinwohls an. Eine »Instanz«, dem ehemals Hof-, jetzt Weltmannsideal nicht nur die, indem sie die Individuen durch kollek- durch die hofnahe Sozialisation in der Karlsschule, tiven (und kollektiv verinnerlichten) Au- sondern vor allem, ab 1788, durch den Shaftesbury- ßenhalt versittigt, die sozialstatistisch irre- Kenner Wieland in Berührung gekommen (moral grace-Begriff, virtuoso-Ideal); dazu wegweisend: levante kantische »Tugend ersetzt« (325). Walter Hinderer: Beiträge Wielands zu Schillers äs- thetischer Erziehung. In: JDSG 18 (1974), S. 348- 82 An Körner, 13.12.1791, NA 26, S. 117, Nr. 97. Es 387; auch in: Hinderer 1998 (Anm. 24), S. 41-75. geht dabei nicht nur um die »sittlich schöne Hand- Schon Ernst Cassirer sah ob dieser Zusammenhänge lung« (an Baggesen, 16.12.1791, ebd., S. 120, Nr. in Shaftesbury (nicht in Kant) den spiritus rector der 100) des generösen »Geschenk[s]« selbst: »die Deli- Schillerschen Ästhetik: Schiller und Shaftesbury. In: katesse und Feinheit, mit der der Prinz mir dieses Publications of the English Goethe Society. NF 11 Anerbieten macht, könnte mich noch mehr rühren« (1935), S. 37-59. (an Körner, ebd., S. 117). 81 NA 26, S. 216. 83 NA 20, S. 412, B 27.

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Bei aller funktionalen Äquivalenz aber 2.6 Fragmentarische Utopie: zieht Schiller zwischen diesen beiden die Identität von Privat- und Legalität des menschlichen Verhaltens si- Allgemeininteresse chernden Instanzen Religion und Ge- schmack eine scharfe Grenze, die auch ein rief 6 (337f., Dezember 1793, Nr. klares Gefälle der moralischen Wertigkeit 213), der letzte auf uns gekomme- markiert, und damit einen Unterschied ne dieser Serie, ist nur fragmenta- ums Ganze. Denn nicht dadurch ist der rischB überliefert. Man mag seinen quantita- Geschmack der »Legalität unsers Betra- tiven Mangel ausgeglichen sehen durch ein gens im höchsten Grade beförderlich«, gewisses Pathos, mit dem er nun, nach dass er, wie die Religion in dieser Sichtwei- dem Legalitätspragmatismus des Vorbriefs, se, Zugeständnisse an den Triebegoismus aufwartet. Was sich dort im eben zitierten (die ›Sinnlichkeit‹) macht, sondern da- Neigungsbegriff allenfalls angedeutet hat, durch, dass er ihn – Effekt des Prinzips Di- wird nun expliziter, der utopische Über- stanz und wechselseitige Anerkennung – schuss des Geschmackskonzepts. Denn im Gegenteil abschwächt und mäßigt. Und durch bloße »Gesetzmäßigkeit des Betra- im besten Falle, hier schießt ein sonst hier gens«, so Schiller nun weiter, seien »die nicht weiterverfolgtes Motiv aus Anmut und Menschen [...] noch lange nicht vereinigt«, Würde ein, dadurch, dass er sogar die sondern bestenfalls »nicht unter einander »Neigung« zur Negation des Egoismus, zu entzweyhet« (337).86 Um aber »die Men- altruistischer Güte erweckt (328f.).84 Nur schen wahrhaft und innig zu vereinigen«, hier, in der Welt des Geschmacks, nicht im reiche »Legalität allein« nicht aus; diese Massenregime der Religion, ist daher für könne »bloß verhindern, daß Ungerech- Schiller Menschlichkeit möglich, und also tigkeit nicht das Band der Gesellschaft zer- nur in kleinsten Kreisen, in jenen »wenigen reiße« (ebd.). Doch Schiller will noch etwas auserlesenen Zirkeln«,85 von denen die Äs- mehr als das sozusagen bloß defensive thetischen Briefe zur Irritation vieler Inter- Umgangsapriori des wechselweisen ›Re- preten am Ende sprechen, niemals in der spekts‹, jedenfalls in diesem Brief wieder. Gesamtgesellschaft. Die Frage lautet also: Stiftet das abstrakte Prinzip der Anerkennung schon »eine harmonische Einheit« (ebd.) unter den

86 Hervorh. vom Verf. – »Entzweihen«, im begriffs- geschichtlichen Vorfeld des späteren hegelianischen 84 Vgl. Über Anmuth und Würde, NA 20, S. 283, Entzweiungsparadigmas, bei Schiller öfter (Ästheti- 302f. sche Erziehung, NA 20, S. 332, B 6; Über naive und 85 NA 20, S. 412, B 27. sentimentalische Dichtung, ebd., S. 438).

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Mitgliedern der Gesellschaft (ob auch un- Fürsten gezeichnet.89 Die Erwartung, dass ter Einschluss des Volkes, bleibt unge- im geglückten Gespräch »der Eine das sagt)? Und die Antwort: Dafür fehlt noch Vergnügen des Andern theile« (338), etwas, nämlich »noch ein eigenes positives knüpft denn auch an Früheres an, an die Band«87 (ebd.). Dieses erkennt Schiller in empfindsameren Ideale des jüngeren Schil- der »Geselligkeit«, hier verstanden als eine ler. Zwar ist diese Gefühlskommunikation ›Transitivität‹ der Interaktion, eine Ich- nicht mehr so emphatisch als »Sympathie«- Überschreitung, die über bloße ›Anerken- Rausch und enthusiastische Geister- nung‹ hinausgeht. Sein Modell, und darin Verschmelzung gedacht wie in der frühen äußern sich nun weniger die höfischen als Liebeslyrik, etwa den ›Laura-Oden‹ aus die bürgerlichen Ideale des 18. Jahrhun- der Anthologie auf das Jahr 1782, und – derts, ist der »gesellige Karackter«, der im ein ›vereinigungsphilosophischer‹ Grund- Umgang mit seinen Mitmenschen nach ak- text der Zeit – in der Theosophie des Julius tivem »Umtausch der Ideen«, vor allem aus den Philosophischen Briefen von 1786, aber nach »Mittheilung der Empfindun- und auch noch wie in den Künstlern.90 Aber gen« verlangt (ebd.).88 die Hoffnung auf Durchlässigkeit der Ich- Die soziale Verkehrsform, in der Schil- grenzen, die solches Mit-Leiden, Mit- ler dies verwirklich sieht, ist die »Konver- Empfinden (sympathein) überhaupt ermög- sation« (338), natürlich die durch »Ge- licht, klingt doch an, zumal in der Beto- schmack« und »guten Ton« geprägte nung, dass auch die »Empfindungen« (337). In ihr soll jeder an dem, was der an- kommuniziert werden sollen. Hieran hängt dere denkt und »empfindet«, »Theil neh- ein – hier ebenfalls nicht ganz vergessenes men können« (ebd.). Diese Anteilnahme – utopisches Potential, das sich nicht allein ist ein wenig herzlicher gedacht, als einige auf privaten Seelenaustausch bezieht, son- Jahre später von Goethe in der Unterhal- tung zwischen Wilhelm Meister und dem 89 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). In: Goethes Werke. Hambur- ger Ausgabe. Bd. 7. München 2005, S. 175ff., hier S. 178 (III/8). 90 NA 1, S. 214; Philosophische Briefe, NA 20, S. 87 Hervorh. vom Verf. 107-129, hier S. 115-126, Theosophie des Julius (ca. 88 Zur »Geselligkeit« im 18. Jh., auch zur germani- 1780), S. 119-125, Liebe; Aufopferung; Gott. Zur stischen Geselligkeitsforschung, der lehrreiche, am traditionsgeschichtlichen Stellung von Schillers Beispiel des Geselligkeitsvirtuosen J.W.L. Gleim Liebesphilosophie Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und (1719-1803) entwickelte Überblick von Wolfgang Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion Adam: Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahr- und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975, S. 16- hundert. In: Der Freundschaftstempel im Gleim- 31, Liebe und Selbstheit. Die Tradition der Vereini- haus in Halberstadt. Kat. Gleimhaus Halberstadt. gungsphilosophie im 18. Jahrhundert; Verf. 1985 Leipzig 2000, S. 9-34. (Anm. 49), S. 176-203.

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dern auf das soziale Ganze zielt. Die Im letzten Satz des Brieffragments klingt Mannheimer Rede hatte ein solches ge- die Idee einer gesamtgesellschaftlichen samtgesellschaftliches Potential der Ge- Synthesis noch einmal an. Die geeigneten fühlskommunikation noch gesehen und »Subjeckte der Konversation«, heißt es da, daher den Empfindungsmultiplikator wären solche, die die »Fähigkeit besitzen, Schaubühne als eine soziale Synthesisma- ihr Privatgefühl zum allgemeinen zu erwei- schine begriffen, in der die »Menschen aus tern, und das allgemeine Interesse zu dem allen Kreisen, Zonen und Ständen [...] ihrigen zu machen« (338). Ein doppelt les- durch eine allwebende Sympathie verbrü- barer Satz! Er ist einmal und offensichtlich, dert, in Ein Geschlecht wieder aufgelöst« im Anschluss an Kants »subjective Allge- werden.91 meinheit«93 des Geschmacksurteils (so dass Zu dieser emphatischen Utopie einer als in ihm privates und allgemeines Wohlge- Gefühlskollektiv realisierten ›Gesellschaft fallen zusammenfallen), ästhetisch gemeint als Gemeinschaft‹ führte nach Entwicklung – zumal im ersten Halbsatz, der aufs »Ge- des ›Humanisierung durch Distanz‹- fühl« (auch bei Kant Grundlage des ästhe- Gedankens für Schiller kein Weg mehr zu- tischen Urteils)94 abstellt. Der zweite Halb- rück.92 An ihre Stelle tritt das bescheidene- satz aber hat stattdessen »Interesse« und re Ideal menschlicher Verständigungsge- ruft so – denn ›Interesse‹ ist nach Kant und meinschaften, die aber, der entscheidende Schiller aus allem Ästhetischen ausge- Punkt, auch den durch Distanzgewinn kul- schlossen – jene ganz andere Identität von tivierten Empfindungen ihren Raum ge- Privat- und Allgemeininteresse auf, die als ben. Ganz aufgegeben ist der Blick aufs Ideal oder ›regulative Idee‹ noch jede poli- große Gemeinsame aber auch hier nicht. tische Theorie, die sich auf den Traum der Vernunft einließ, beflügelt hat. Auch hier 91 NA 20, S. 100. also bleibt Schiller beweglich. Fast möchte 92 Auch dies eine exemplarische Theoriekonstellati- man es für bedacht halten, dass die so sehr on bei Schiller, die mitsamt ihrem Problembestand dem Realitätssinn verschriebenen Briefe in der weiteren Moderne wiederkehren wird, am just mit diesem Satz abbrechen. An ihrem augenfälligsten in der Soziologie um 1900, in der kontingenten Ende entlassen sie den Leser Antithese zweier bedeutender Bücher, die heute noch für diesen Gegensatz stehen: Ferdinand Tön- mit einem fernen Echo jenes Traums. nies’ Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) (Neuausg. Darmstadt 2005) und Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft (1924) (Gesammelte Schriften. Hg. Günter Dux u.a. Frankfurt/M. 2003. Bd. 5, S. 7- 133). – Hierzu grundlegend Wolfgang Eßbach u.a. 93 (Hg.): Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Eine De- Kritik der Urtheilskraft, AKA 5, S. 211f., § 6, das batte. Frankfurt/M. 2002, bes. S. 183-194, Cornelius Zit. S. 212. Bickel: Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner. 94 Ebd., S. 203f., § 1.

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3. Die vorpolitischen Grundlagen elle Motivlage oder kollektiver Habitus, des modernen Staates konkret gesprochen, als Tugend, Solidari- tät, Mitmenschlichkeit. Und da ohne diese chillers Beobachtungen und Überle- Bereitschaften die Gesellschaft zerfällt, gungen könnten heute, gut zwei- liegt hier eine Voraussetzung ihrer eigenen hundert Jahre später, aktueller nicht Reproduktion vor, die Staat und Rechts- sein.S Ihr Problem ist kein anderes als das ordnung allein nicht gewährleisten kön- derzeit wieder gestellte der ›vorpolitischen nen. Grundlagen des modernen Staates‹. Der Die Frage nach diesen »vorpolitischen verhaltensmotivierende Einfluss des de- Grundlagen des demokratischen Rechts- mokratischen, liberalen Rechtsstaates ist ja, staates« ist vor einigen Jahren wieder auf- weil er von der Idee des mündigen Bür- gebracht worden durch eine vielbeachtete gers ausgeht, grundsätzlich beschränkt. öffentliche Diskussion zwischen Jürgen Seine Gesetze, durch Sanktionsandrohun- Habermas und Joseph Ratzinger, späterem gen bewehrt, steuern deshalb mehr als Papst Benedikt XIV., die 2004 in München über positive über negative Impulse, sprich stattgefunden und eine bis heute anhalten- Verbote. Sie markieren die Grenzen des de Resonanz erfahren hat.95 Sie geht be- rechtskonformen Verhaltens und beför- reits zurück auf eine These des Verfas- dern dieses hauptsächlich dadurch, dass sie sungsrechtlers und Rechtsphilosophen rechtswidriges, in gewissem Maße auch so- Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem zialfeindliches Verhalten verhindern, min- Jahr 1967, die als ›Böckenförde-Theorem‹ destens eindämmen. Über diese Rechts- oder ›Böckenförde-Dilemma‹ Eingang in konformität hinaus können sie aber nichts die Literatur gefunden hat: »Der freiheitli- erzwingen, weder auf der Ebene innerer che, säkularisierte Staat lebt von Voraus- Einstellungen noch auf der Ebene prakti- setzungen, die er selbst nicht garantieren schen Handelns. Persönliches Engagement kann« (weil, wie beschrieben, Gesetze Soli- für das allgemeine Wohl, egal in welcher darität oder Tugend nicht erzwingen kön- Form, kann nicht befohlen werden und ist, je liberaler der Staat, desto mehr auf das 95 Jürgen Habermas: Vorpolitische Grundlagen des Prinzip der Freiwilligkeit gestellt. Alles, was demokratischen Rechtsstaates? – Joseph Ratzinger: die bloße Rechtskonformität in Richtung Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische morali- Beförderung des menschlichen Zusam- sche Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates. menlebens übersteigt, liegt so per se jen- In: dies.: Dialektik der Säkularisierung. Über Ver- seits staatlicher Gebotsmacht. Oder besser nunft und Religion. Freiburg/Br. u.a. 2005, S. 15- 37, 39-60 (danach zit.); der Habermas-Beitrag auch gesagt, es liegt ihr voraus; es muss in der in ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Phi- Gesellschaft schon vorhanden sein – als losophische Aufsätze. Frankfurt/M. 2005, S. 106- Disposition oder Bereitschaft, als individu- 118.

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nen).96 Wo kommen diese also her, was Vernunft (siehe ›Erschlaffung‹) Soziabilität sind die Quellen der Menschlichkeit einer und Moralität des Menschen gewährleisten menschlichen Gesellschaft, wenn es die können. Also sucht er jenseits der beiden Gesetze nicht sind? von ihm im einen Fall als unrichtig und im Dies waren bereits die Fragen des 18. anderen als ohnmächtig erachteten Vor- Jahrhunderts und – die Fragen Schillers. schläge Rousseaus (bzw. der Schotten) Die Moralphilosophie der Zeit suchte diese und Kants nach jenem »einigenden« oder vorgesetzlichen Grundlagen des gesell- »sozialen Band« (Habermas), das die ge- schaftlichen Zusammenlebens entweder in sellschaftliche »Welt zusammenhält« (Rat- der menschlichen Natur oder Antriebs- zinger).98 Auch Schiller begreift dieses »po- struktur selbst (moral sense, pitié usw.) sitive Band«, wie er es einmal nennt, als oder, antithetisch dazu, in der menschli- vorpolitisches; noch hinter der »Legalität« chen Rationalität, die das Handeln aus Ein- liegend, sei es auch nur durch ein »Werk- sicht freiwillig den Vernunftgeboten (kate- zeug [...], welches der Staat nicht hergiebt«, gorischer Imperativ, Pflicht usw.) unter- zu schaffen und zu sichern. 99 Dieses vorpo- wirft. Beides mag jeweils auf seine Weise litische Band sind für Schiller die in der zu optimistisch angesetzt sein, aber es sind ›Urszene‹ durch ästhetischen Distanzge- Antworten auf die Böckenförde-Frage. winn humanisierten Empfindungen, und Genau hier setzt auch Schiller an. Die ›ent- das Werkzeug seiner Reproduktion – die gleisende‹97 Revolution stellt ihn vor die ästhetische Erziehung. Frage, worin die Fundamente des Zusam- Dies ist freilich eine Antwort, wie sie menlebens liegen, wenn weder die Trieb- weder bei Ratzinger noch bei Habermas natur (siehe ›Verwilderung‹) noch die (auch nicht bei Böckenförde) vorgesehen ist. Beide bieten andere, vertraute Instan- 96 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung zen auf: Habermas die Vernunft, Ratzinger des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Sä- die Religion; dieser vertritt seine Position kularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst offensiv (er sieht in der Religion das ge- Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1967, S. 75- 94; auch in ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungs- 98 Ebd., S. 24, 39. geschichte. Frankfurt/M. 32000, S. 92-114, hier S. 99 Augustenburger Briefe, NA 26, S. 337, Br. 6 (Nr. 112. 213); Ästhetische Briefe, NA 20, S. 332, B 9. Der 97 »Entgleisend« ist ein Schlüsselwort der Haber- Gedanke selbst war ihm nicht neu. Schon die mas/Ratzinger-Debatte; vgl. Habermas’ »entglei- Schaubühnenrede wusste, dass das Medium, das den sende Säkularisierung« (Habermas/Ratzinger 2005 sozialen Zusammenhalt »inniger machen« soll, noch [Anm. 95], S. 17, 26); Ratzinger spricht analog von hinter den »Geseze[n]« liegen muss, denn diese wir- den »Pathologien der Vernunft« wie »der Religion« ken nur defensiv, d.h. sie »hemmen nur Wirkungen, (S. 56), Habermas wiederum von »gesellschaftlichen die den Zusammenhang der Gesellschaft auflösen« Pathologien« (S. 31). (NA 20, S. 91).

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suchte Band), jener defensiv (er sieht es Vernunftphilosophisch verengt, sucht er zwar in der säkularen Vernunft, ist sich die Quellen für den motivationalen Über- aber nicht ganz sicher). Dass Ratzinger in schuss, den solidarisches oder karitatives der Religion, ihren metaphysischen und Handeln über die rationale Einsicht hinaus sozialen Wertsetzungen, nicht nur die hi- benötig, nur in der Ideenwelt, nicht im sub- storisch gewachsene Herkunft, sondern rationalen Bereich der Empfindungen und auch den künftigen Quell der sozialen Gefühle, und findet solchen zusätzlichem Energien erkennt und also auf die »heilen- Gedankentreibstoff – in der Religion. de und rettende« (nicht auf die »archaische Nicht so sehr als soziale Institution oder als und gefährliche«) »Macht« der Religion Ensemble ritueller Praktiken wird sie hier setzt, ist erwartbar und konsequent.100 Die also gebraucht, sondern als Textkorpus Kontinuität einer zwei Jahrtausende alten und historisches Ideenarchiv (»heilige Überlieferung, mag sie auch zuzeiten Schriften und religiöse Überlieferun- schwächer und brüchiger sein, ermutigt gen«103), als Reservoir ›sinnstiftender‹ sogar dazu, wie immer in ›dürftiger Zeit‹. Denkformen und Imaginationen. Die Vi- Habermas auf der anderen Seite hält sionen des Vollkommenen und Ideale des die Vernunftoption hoch und baut auf den richtigen Lebens, wie sie die mangel- und »Verfassungspatriotismus« aufgeklärter wunschgetriebene Einbildungskraft, ge- Bürger.101 Er hofft damit, explizit auf Kant stützt auf das Bewusstsein höherer Inspira- sich berufend, genau auf die Gestalt der tion, in allen religiösen Kulturen hervor- »praktischen Vernunft«,102 die Schiller, in brachte, dürften deshalb vom modernen der Auseinandersetzung mit Kant selbst, Bewusstsein nicht als voraufgeklärt ab- als viel zu unzuverlässig (»zufällig«) ansah, gespalten werden, sondern müssten, wie um zur sicheren Grundlage einer gemein- bei Lessing, als Versprechen künftiger wohlorientierten Gesellschaft zu taugen. Vernünftigkeit in ihm »aufgehoben« blei- Den entscheidenden Punkt Schillers, dass ben.104 In der christlichen Idee der »Got- es in der Frage der vorpolitischen Grund- lagen um Empfindungen mindestens eben- 103 Ebd., S. 31. so sehr, wenn nicht sogar mehr, geht wie 104 Vgl. hierzu schon eine andere, gleichfalls sehr um Einsichten, sieht Habermas gar nicht; bekannt gewordene Rede, auf die der Münchner bruchlos übernimmt er den blinden Fleck Debattenbeitrag argumentativ aufsetzt: Jürgen Ha- der Rationalisten des 18. Jahrhunderts. bermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt/M. 2001,

bes. S. 22 (»Sinnstiftung«) u. ff., 26 (»aufgehoben« 100 Ratzinger in: Habermas/Ratzinger 2005 (Anm. im Sinne Hegels). Zu diesen beiden Reden präzisie- 95), S. 46. rend ders.: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive 101 Habermas, ebd., S. 18ff., 24f. Voraussetzungen für den »öffentlichen Vernunftge- 102 Ebd., S. 18. brauch« religiöser und säkularer Bürger; Die Gren-

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tesebenbildlichkeit des Menschen« sei vor- wird hier elegisch eingeklagt. Der moder- gedacht (vorgeträumt) worden, was im ne Utopiker, dem seine aus jenen ›Überset- modernen Begriff der allgemeinen Men- zungen‹ hervorgegangenen ›grossen Er- schenwürde als vernünftige Einsicht und zählungen‹ entgleiten, beugt sich zurück ad Regel zu sich kommt.105 Säkulares Denken, fontes und besinnt sich der religiösen Ori- wo es nicht ›nietzscheanisch‹, nicht »positivi- ginale und ihrer »noch nicht ausge- stisch«, nicht »dezisionistisch«, nicht ›kon- schöpft[en]« »semantischen Potentiale«.110 textualistisch‹ (nicht kulturalistisch/kultur- Hier schließt sich ein Kreis, in dem freilich, relativistisch), nicht »defaitistisch« und nicht Pointe der Konstruktion, weniger die ›auf die Spitze getrieben‹ »vernunftkri- theologischen Überlieferungen selbst, als tisch«,106 also nicht ›entgleist‹, sondern ha- vielmehr die Tradition ihrer säkularen bermasianisch rektifiziert ist, wäre eines, Übersetzungen – also ihrer Transkriptio- das sich dieses vorsäkularen Ideen- und nen in die zunächst aufgeklärte, dann idea- Traumerbes versichert und es in »retten- listische und schließlich marxistisch- den Übersetzungen« (und nicht in ›ver- spätmarxistische Geschichtsphilosophie, die nichtenden‹!) dem gegenwärtigen Geist alle aus diesen Potentialen schöpften – ›ge- bewahrt.107 Eine ehrenwerte Position, ge- rettet‹ werden soll.111 tragen von Trauer über den Verlust von Eine bemerkenswerte Konstellation, die Mitte und metaphysischem Obdach.108 Was zweihundert Jahre nach Schiller die Lage Karl Löwith einst als pathetischen Kern des um 1800 seltsam reproduziert. Schiller hat- Linkshegelianismus rekonstruiert hatte, te zunächst, circa 1786, seine neuplatonisch die Säkularisierung der Heilsgeschichte,109 inspirierte Jugendtheologie aus der Theo- sophie des Julius (ein grand recit der Ent- fremdung vom und Erlösung zum Einen = ze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsge- »Gott«), dann, spätestens 1793, die zur schichte und aktuellen Bedeutung von Kants Reli- aufgeklärten Geschichtsphilosophie säku- gionsphilosophie. In: Habermas 2005 (Anm. 95), S.

119-154, 216-257. schichtsphilosophie (1949/53). In: Sämtliche Schrif- 105 Habermas 2001 (Anm. 104), S. 29f., sowie ders. ten. Stuttgart 1981-88. Bd. 2, S. 7-239. in: Habermas/Ratzinger 2005 (Anm. 95), S. 32. 110 Habermas 2001 (Anm. 104), S. 25; im späteren 106 Ebd., S. 30, 20, 19, 28. Aufsatz heißt es »Wahrheitspotential«: Haber- 107 Ebd., S. 32; Habermas 2001 (Anm. 104), S. 29. mas/Ratzinger 2005 (Anm. 95), S. 36. 108 Ebd., S. 24 (»Die verlorene Hoffnung auf Resur- 111 Noch einmal wie »Benjamin« Messianismus in rektion hinterlässt eine spürbare Leere«), auch S. 27, Geschichtsphilosophie übersetzen! So lautet das zum kryptotheologischen Motivgrund der Kriti- ›sentimentalische Ach‹ dieser Passagen; ebd., S. 32; schen Theorie. vgl. schon Habermas 1985 (Anm. 74), S. 21ff., Ex- 109 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgesche- kurs zu Benjamins Geschichtsphilosophischen The- hen. Die theologischen Voraussetzungen der Ge- sen.

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larisierte Heilsgeschichte aus der Vorle- Schillers distanzierte Sicht der Religion sung Was heißt und zu welchem Ende studiert in den Augustenburger Briefen hängt man Universalgeschichte? (1789) aufgegeben hiermit unmittelbar zusammen. Da er, im und danach die Geschichte in seinen Tra- Unterschied zu Habermas, keine ›großen gödien in derart illusionsloser Weise dar- Erzählungen‹ mehr braucht, braucht er gestellt, dass es dem Fortschrittsdogmati- auch kein Archiv ihrer theologischen Vor- ker Hegel die Sprache verschlug.112 Schiller formen mehr. So rechnet er zwar, wie Rat- stand mit dieser Nüchternheit unter den zinger und Habermas, auch die Religion zu deutschen Denkern seiner Epoche denn den vorpolitischen Grundlagen des mo- auch ziemlich alleine da. Fast in toto lebte dernen Staats, doch da er diesen als einen der deutsche Idealismus von jenen ›Über- aufgeklärten fasst, hat sie für ihn keine setzungen‹ aus christlich-theologischen ›heilende‹, also diese Grundlagen direkt Originalen. Für Schiller jedoch war es schaffende (Ratzinger), aber auch keine sie schon am Beginn des 19. Jahrhunderts mit indirekt sichernde Funktion mehr, die ihr der Denkform Geschichtsphilosophie vor- durch ›Aufhebung‹ religiöser Gehalte ins bei; Geschichte sei radikal nichtteleologisch heutige Bewusstsein zukäme (Habermas); zu denken, als offener und kontingenter sie wird gebraucht für die noch Unaufge- Prozess, ja als Risikogeschichte, die jeder- klärten, aber die sie gebrauchen, sind es zeit – siehe Französische Revolution – an- schon nicht mehr. Für Schiller lebt die Re- ders kommen kann, als gedacht.113 ligion als authentische Geistesgestalt, ob antik, christlich oder anderswie, nur im »naiven« Zeitalter. Das metaphysische Ge- 112 Aber auch schon beim Studium des Dreißigjähri- häuse, in das sie den Menschen stellt, ist gen Krieges (1790/92) hatte Schiller diese Einsicht das Gehäuse der Naivität. In dieses Ge- gewonnen. Zu dieser Entwicklung im einzelnen häuse oder ›Obdach‹ findet das moderne, Verf. 2002 (Anm. 10), zu Schiller und Hegel (auch »sentimentalische« Bewusstsein nicht mehr zum Wallenstein und zu Hegels entsetzter Wallen- zurück. Wenn es darin ein »Ideal« erkennt stein-Rezension von 1801) ebd., S. 208ff.; ferner zu und als solches auch anerkennt, dann als den Tragödien sowie zum Tell Verf.: Religion und Gewalt in Schillers späten Dramen (Maria Stuart, eines, das für es selbst unerreichbar »verlo- Die Jungfrau von Orleans); Unwiederbringlich. Ele- ren« ist: ein »Gegenstand der Trauer«, ei- gische Konstruktion und unentwickelte Tragödie nes schmerzlichen Verlustbewusstseins, al- im Wilhelm Tell. In: ders. 2011 (Anm. 9), S. 23-44, so derjenigen spezifisch modernen (»sen- 45-62. 113 timentalischen«) »Empfindungsweise«, die Schillers Kritik der Geschichtsphilosophie ist Schiller »elegisch« nennt.114 Die Theorie enthalten in der 1801 publ. Schrift Über das Erhabene (NA 21, S. 38-53); dazu Verf. 2002 (Anm. 10), S. 205-211, Kritik der Universalgeschichte oder: Die 114 NA 20, S. 448f. – Die Dichotomie na- Weltgeschichte als erhabenes Objekt. iv/sentimentalisch aus Über naive und sentimentali-

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des Naiven und Sentimentalischen liegt förde-Dilemmas auch anders als aus- 1793 noch nicht vor; erst zwei Jahre später schließlich im Blick auf die Religion – und erscheint der große Essay. Aber schon jetzt auch anders als ›sentimentalisch‹ – geführt ist die Religion in ihrer Bedeutung für die werden kann. Gegenwart extrem zurückgenommen, kei- In dem Verzicht auf das theologische nesfalls stellt sie für die aufgeklärte Gesell- Erbe einerseits und der moralphilosophi- schaft, wie Schiller sie sieht, ein lebendiges schen Abgrenzung von Kant andererseits ›Ideal‹ dar.115 Ohne noch die einstige naive wird Schiller zu einem der wenigen Den- Geltung zu besitzen, aber auch noch nicht ker, die um 1800 rein anthropologisch mit der romantisch intensivierten senti- denken, und bleibt es auch dort, wo er mentalischen Aura ausgestattet, in der sie Ideale entwirft und vertritt.116 Auch die als Gegenstand der Sehnsucht, nicht mehr vorpolitischen Grundlagen einer menschli- nur der Trauer, das metaphysische Be- chen Gesellschaft sucht er daher aus- dürfnis der Modernen attrahiert, steht sie schließlich in anthropologischen Voraus- in den Augustenburger Briefen gleichsam setzungen und in ›Werkzeugen‹, die bei institutionell versachlicht da – eine glanzlo- diesen ansetzen. Und hier steht, neben der se, aber tüchtige ancilla rei publicae. Man Religion als kollektivem Ordnungsfaktor, muss diese Sicht nicht teilen; sie dokumen- der ihn theoretisch nicht weiter beschäftigt, tiert aber, dass die Diskussion des Böcken- als zweite vorgesetzliche ›Instanz‹ des All- gemeinwohls der »Geschmack« im Mittel- punkt seines Interesses. Nach Herkunft ein sche Dichtung ist immer vor dem Hintergrund des ästhetischer Begriff, wird er hier zur Chif- Schillerschen ›Abschieds von der Ewigkeit‹ zu lesen. Und umgekehrt gilt: Das Religiöse ist das Naive. fre für elementare soziale Verkehrsformen Wo die späten Dramen Religion thematisieren, wie Distanz und Anerkennung sowie für greift diese Perspektive des abständigen (sentimen- ›transitive‹ Kommunikationsformen, die talischen) Blicks auf das Naive; vgl. Verf. 2011 Menschlichkeit ermöglichen, weil sie nicht (Anm. 112); klärend zum Thema Norbert Oellers: nur auf den Transfer von Gedanken und Schiller und die Religion. In: Walter Hinderer Ideen abheben, sondern auch den Wech- (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Mo- derne. Würzburg 2006, S. 165–186. seltausch der Empfindungen und Gefühle 115 Für eine ›postsäkulare‹ Perspektive ist Schiller befördern. Nur der »ganze Mensch«, verloren; er ist der typische Vertreter des von ihr könnte man mit einem Schlüsselbegriff der diagnostizierten ›europäischen Sonderwegs der Sä- kularisierung‹. Zu letzterem Klaus Eder: Europäi- sche Säkularisierung – ein Sonderweg für die post- 116 In Schillers gesamter klassischer Ästhetik spielen säkulare Gesellschaft? Eine theoretische Anmer- die Religion oder das Göttliche keine erkennbare kung. In: Berliner Journal für Soziologie 2002, H. 3, Rolle mehr. Auch das unterscheidet ihn von ande- S. 331-343; Habermas/Ratzinger 2005 (Anm. 95), S. ren großen Ästhetikern seiner Zeit, von Jean Paul 33, 54. bis Hegel.

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Ästhetischen Briefe sagen, ist ein menschli- im systematischen (topischen). Inmitten ei- cher Mensch.117 Dieses vorpolitische ›Band‹ nes kritizistisch-transzendentalphiloso- ist ein rein anthropologisches. Ohne Zuhil- phisch respektive spinozistisch-identitäts- fenahme metaphysischer Instanzen abge- philosophisch beherrschten Feldes steht er, leitet aus der Naturgeschichte des Men- in der relativ eigenständigen Position des schen und aufgefasst als ein nicht allein ästhetisch und historisch informierten An- über Vernunft, sondern immer auch über thropologen, als ein experimenteller Den- Gefühle und Empfindungen wirkender ker der Sattelzeit da, der Fragen stellt und Bindemechanismus, leistet es die soziale Wege sucht, von denen sich erst sehr viel Integrationsarbeit, die in vorsäkularen später und unabhängig von ihm herausstel- Kulturen die Religion erbringt,118 und in len wird, wie relevant und theoretisch säkularen die reine praktische Vernunft, fruchtbar sie eigentlich sind. Das rein an- jedenfalls in Schillers Augen, nicht. thropologische Nachdenken über die ›na- Damit ist für die moderne Diskussion turgeschichtlichen‹ Wurzeln der menschli- über die vorgesetzlichen Grundlagen sä- chen Soziabilität bahnt sich im 19. Jahrhun- kularer Kulturen eine dritte Option eröff- dert seinen Weg über Nietzsche, im 20. über net. ›Eröffnet‹ nicht im genealogischen Sin- Freud – bei beiden noch wie bei Kant und ne – Schiller hat diese Diskurse und For- Schiller mit ›mutmaßlichen‹ anthropogeneti- schungen nicht begründet –, sondern nur schen Urszenen-Denkspielen119 – und wei- ter über die schon ins Spiel gebrachte phi- losophische Anthropologie der Jahrhun- 117 NA 20, S. 359, B 15. 118 Auch die Bindefunktion der Religion (religio) läuft ja nicht nur über »Glaubenswahrheiten« und 119 Vgl. nur Nietzsches Konjekturalanthropogenesen »religiöse Überzeugungen« (Habermas 2001 [Anm. von Menschliches, Allzumenschliches (Anm. 51; hier 104], S. 23; Habermas/Ratzinger 2005 [Anm. 95], S. S. 57-105, Zur Geschichte der moralischen Empfin- 35), sondern mindestens ebenso sehr über Gefühle, dungen) bis Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur kollektive Empfindungslagen und Affektkommuni- Genealogie der Moral (1887) (Werke [Anm. 51], Bd. kation ab. Hier spielt immer auch religiös unspezifi- 5). Nietzsches Richtung und Intention ist fraglos ei- sche, Credo-neutrale Emotionalität herein. Ohne sie ne andere als die Schillers; vergleichbar ist nur der könnte die Sozialform ›Gemeinde‹ das an ihr zu- Ansatz, in allem Nachdenken über Mensch und Mo- recht Bewunderte nicht leisten, nämlich Gesellschaft ral strikt anthropologisch zu bleiben. Ebenso bei ›als Gemeinschaft‹ zu leben; dieses emotive, nicht den onto- und phylogenetischen Mutmaßungen der jederzeit an ›propositionale Gehalte‹ geknüpfte Psychoanalyse über den Ursprung der Soziabilität Band dürfte nicht unwesentlich dazu beitragen, dass (›Überich‹), von der ödipalen ›Triangulierung‹ bis »im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, zur »Urhorde« und der Genealogie der Moral aus sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang dem »Vatermord«. Zu letzterem Sigmund Freud: vermeiden, etwas intakt bleiben [kann], was an- Totem und Tabu (1912/13). In: Studienausgabe. dernorts verloren gegangen ist« (Habermas in: Ha- Hg. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt/M. 1989. bermas/Ratzinger 2005 [Anm. 95], S. 31). Bd. 9, S. 287-444, hier S. 424ff.

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dertmitte bis hin zur empirisch gesättigten vember 1794, ging die erste Lieferung für neurologischen und evolutionären An- die Druckfassung, die Briefe über die ästheti- thropologie von heute.120 Diese quer durch sche Erziehung des Menschen, an Cotta in die Moderne reich aufgefächerte anthropo- Tübingen ab. Im Januar 1795 erschienen logische Option kommt indes in der diese ersten neun Briefe im ersten Heft der Münchner Debatte über die vorpolitischen Horen (B 1-9). Gleichzeitig schickte Schil- Voraussetzungen des säkularen Staates ler die nächsten sieben Briefe an den Ver- überhaupt nicht vor; daher vielleicht auch lag, die im zweiten, Februarheft gedruckt ihr altbackener Anstrich. Hier fehlte es an vorlagen (B 10-16). Bis Juni war dann auch theoretischem Mut, der Tatsache ins Auge die dritte und letzte Lieferung fertig, die zu sehen, dass – wenn überhaupt? – viel- noch im gleichen Monat im sechsten Ho- leicht nur auf diesem dritten Weg Antwor- ren-Heft erschien (B 17-27).122 Was über- ten zu finden sind auf die Rätselfrage, nahm er aus den Augustenburgern, was ist »woher das Sanfte und das Gute neu? Ein einfacher Aufriss mag hier Über- kommt«.121 Denn diese Antworten, so es sicht schaffen:123 sie gäbe, dürften vermutlich weder B 1-3 schließen sachlich eng an die frü- theologische noch hegelianische sein. he Fassung an: Plan zu einer Theorie des Schönen und der Kunst, Bekenntnis zu 4. Anthropologischer Kant (309, B 1); Ausgang vom durch die Freiheitsbegriff: Über die Revolution aufgeworfenen »politische[n] ästhetische Erziehung des Menschen Problem« (311f., B 2); seine Lösung durch die Kunst (auch hier als »Uebergang«, 315, in knappes Jahr nach dem letzten B 3). erhaltenen Lehrbrief an den Prin- B 4-6 gehen neue Wege: Der Gedanke zen von Augustenburg, im No- der ›Karakterbildung‹ wird präzisiert durch E die Idee der »vollständigen anthropologi- schen Schätzung« (316) des ›ganzen‹ Men- 120 Siehe die reiche Literatur von António R. Damá- schen und das Ideal der »Totalität des sio (Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 1994) bis Michael Charakters« (318), bei dem die beiden Na- Tomasello (Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt/M. 2009; Warum wir kooperieren. Berlin 2010). 122 Vgl. NA 21, S. 237-242, Komm. – Zitate aus den 121 Gottfried Benn: Menschen getroffen (1955). In: Ästhetischen Briefen werden in diesem Kap. nach NA Sämtliche Werke. Hg. Gerhard Schuster u.a. Bd. 1. 20 oben im Text mit Seitenzahlen in Klammern Stuttgart. 1986, S. 301: »Ich habe mich oft gefragt nachgewiesen; B steht bei diesem Konvolut für und keine Antwort gefunden, / woher das Sanfte Brief/Briefe. und das Gute kommt, / weiß es auch heute nicht 123 Vgl. die Konkordanz der Entsprechungen bei und muß nun gehn«. Berghahn 2000 (Anm. 19), S. 210-213.

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turen des Menschen, Trieb und Vernunft, durchs Erhabene (340, B 10).124 Für sie, so Sinnlichkeit und Sittlichkeit ausbalanciert kündigt der Schluss von B 10 das nun Fol- sind (B 4). Die Zeitkritik (»Verwilde- gende an, soll ein »reiner Vernunftbegriff« rung«/»Erschlaffung«, 319) wird von der entwickelt werden, und zwar »gefolgert« engen Fokussierung auf Frankreich etwas aus dem Begriff der »sinnlichvernünftigen gelöst und verallgemeinert, der Mangel an Natur« des Menschen (340), also aus seiner »Empfindsamkeit« (320), der jene Balance anthropologischen ›Doppelnatur‹ oder, mit aus dem Lot brachte, herausgestellt (B 5) einem älteren Ausdruck Schillers, aus dem und diese Diagnose in das neu eingeführte »Zusammenhang der thierischen Natur historische Schema Antike/Moderne (spä- des Menschen mit seiner geistigen«.125 ter cum grano salis: naiv/sentimentalisch) B 11-22 unternehmen diesen Begrün- eingespannt. Dabei rückt die antike »Simp- dungsversuch, und zwar auf einem, wie licizität« (321) in die Position des Ideals, da Schiller es nennt, »transzendentalen Weg« in ihr, mangels moderner Arbeitsteilung und ihrer vereinseitigenden, »entzweyen- 124 In B 10 deutet sich eigentlich, ausgehend von der den« Folgen für die Individuen (323f.), je- doppelten Aufgabe, »Rohigkeit« (= Verwilderung) ne ›Totalität‹ schon einmal realisiert war (B und »Erschlaffung« zu bekämpfen (336), der Dop- pelweg der Schule des Schönen und des Erhabenen 6). Diese berühmte Analyse der bürgerli- an, doch wird er gerade nicht entwickelt: »Von die- chen Gesellschaft und der bürgerlichen In- ser doppelten Verirrung soll es [unser Zeitalter] dividuen als ›Charaktermasken‹ ihres Be- durch die Schönheit [!] zurückgeführt werden« rufs (»Abdruck seines Geschäfts«, ebd.) (ebd.). Der Doppelweg wird erst in B 16 wieder an- tritt hier an die Stelle des Volksverisses aus gesprochen (»schmelzende und energische Schön- heit«, 361), aber, wie in der Literatur immer wieder den Augustenburger Briefen, den ein be- festgestellt, alsbald wieder stillschweigend fallenge- sonnenerer Schiller in die Druckfassung so lassen. wohl nicht aufnehmen wollte. 125 Versuch über den Zusammenhang der thieri- B 7-9 biegen in den Gedankengang der schen Natur des Menschen mit seiner geistigen Augustenburger Briefe zurück: Wenn die (1780). In: NA 20, S. 37-75. – Es ist dies das altehr- Bildung integraler Charaktere die Groß- würdige Problem des commercium mentis et corporis, aufgabe »für mehr als ein Jahrhundert« das in der Spätaufklärung zum Leitthema der neuen ›Anthropologie‹ wurde; vgl. Verf. 1985 (Anm 49), (329) ist, dann ist, gemäß der Diagnose in S. 61-153, Theorien des »Comercium mentis et cor- B 5, die »Ausbildung des Empfindungs- poris« in Schillers philosophisch-medizinischen Dis- vermögens [...] das dringendere Bedürfniß sertationen; zur Vorgeschichte Rainer Specht: der Zeit« (332, B 8). Diese Schule des Her- Commercium mentis et corporis. Über Kausalvor- zens wird geleistet durch Kunst und stellungen im Cartesianismus. Stuttgart/Bad Cann- statt 1966. Neuerer Überblick: Alexander Košenina: Schönheit (B 9), und zwar, wie gehabt, ei- Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung gentlich nur durch die »Schönheit«, nicht des Menschen. Berlin 2008, S. 7-22, Der ganze Mensch. Anthropologie als Schlüsseldisziplin.

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(341). Ein seit jeher für die Schillerliteratur (341) und, daraus abgeleitet, »Stoff-« und verwirrender Schritt. Denn die Problem- »Formtrieb« (352, 345). Und da hier dann disposition in B 10 war ja keine transzen- auch noch die platonische Ontologie und dentalphilosophische, sondern eine an- ihre Trennung von Erscheinung und Idee thropologische: der Mensch, seine zwei Na- hereinspielen, vermischen sich und konfli- turen, tierische und geistige, Sinnlichkeit gieren ineinander ganz unterschiedliche und Sittlichkeit, Trieb und Vernunft – es Systematiken.127 Je stärker man die Briefe ist immer das gleiche Dual. Nur beides zu- auf die transzendentale oder platonische sammen macht ihn zum Menschen, und nur Seite zu ziehen versucht, desto mehr treten die ausgewogene Balance zwischen beidem die Friktionen und Widersprüche zwischen zum »ganz[en] Mensch[en]« (359, B 15); sie den jeweiligen disjunktiven, antithetischen, verleiht ihm ›Totalität des Charakters‹. Ei- hierarchischen, komplementären usw. gentlich eine klare Konstruktion. Aber Wechselwirkungen innerhalb dieser Ge- Schiller, der immer lernbegierige, meint gensatzpaare hervor. Daraus ergeben sich hier, sich auf die philosophische Avantgar- erhebliche interpretatorische Probleme für de in Jena einlassen zu müssen, auf Carl diese Briefgruppe, an der sich die Schiller- Leonhard Reinhold und Johann Gottlieb forschung zuzeiten entsagungsvoll abgear- Fichte, und hier speziell auf die – nun in beitet hat.128 Man kommt hier nicht weit, der Tat transzendentalphilosophisch kon- zipierten – »Trieb«-Lehren aus Reinholds 127 Vgl. Hans Georg Pott: Die Ästhetik Schillers mit Briefen über die Kantische Philosophie Bezug auf Hegel (1994). In: ders.: Schiller und Höl- (1786/87) und Versuch einer neuen Theorie derlin. Studien zur Ästhetik und Poetik. Frank- furt/M. u.a. 2002, S. 29-47, hier S. 36. – Zur anthro- des menschlichen Vorstellungsvermögens pologischen Kontur der klassischen Ästhetik Schil- (1789) sowie aus Fichtes eben erschienener lers Ulrich Tschierske: Vernunftkritik und ästheti- Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre sche Subjektivität. Studien zur Anthropologie (1794).126 Die Folge dieser Rezeption ist, Friedrich Schillers. Tübingen 1988. Zur Frage ihres vereinfacht gesagt, dass das anthropologi- Platonismus David Pugh: Dialectic of Love. Plato- sche Dual Körper/Geist überlagert wird nism in Schillers Aesthetics. Montreal 1996; zuvor schon ders.: Schiller as Platonist. In: Colloquia durch die neuen, ›transzendental‹ genann- Germanica 24 (1991), S. 273-295. ten Dichotomien »Zustand« und »Person« 128 Wolfgang Janke: Die Zeit in der Zeit aufheben. Der transzendentale Weg in Schillers Philosophie der Schönheit. In: Kant-Studien 58 (1967), S. 433- 126 Hierzu klärend Alt 2000 (Anm. 6), Bd. 2, S. 457; auch in: Bolten 1984 (Anm. 7), S. 229-260; Fritz 133ff.; knapp auch Zelle 2005 (Anm. 22), S. 428. – Heuer: Darstellung der Freiheit. Schillers transzen- Auf Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschafts- dentale Frage nach der Kunst. Köln/Wien 1970; lehre beruft sich Schiller explizit (NA 20, S. 348, B ders.: Schillers Plan einer transzendentalphilosophi- 13, Fn.); vgl. Fichtes Werke (Anm. 71), Bd. 1, S. schen Analytik des Schönen. In: Philosophisches Jb. 83-328, zum Triebbegriff hier S. 287ff., § 7ff. 80 (1973), S. 90-132; Jeffrey Barnouw: »Der Trieb,

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und es empfiehlt sich, die Problematik der Naturen macht den Menschen, wie schon Ästhetischen Briefe genetisch anzugehen in der frühen Dissertation,130 und nicht et- und ihre Herkunft aus einem anthropolo- wa nur eine, privilegierte, dieser beiden gischen Ansatz zum Ausgangspunkt der Hälften. In ihrer gegenstrebigen Fügung Analyse zu nehmen.129 Denn Schiller setzt verlangen sie – wie Schillers frühe Anthro- die neuen Begriffe und Unterscheidungen pologie eine »Mittelkraft« – ein Drittes und letztlich nur wie Tropen ein, das heißt, er Vermittelndes, das sie in Balance bringt, fasst mit dieser Terminologie sein altes, ›ausgleicht‹,131 den »Spieltrieb« (353, B 14). aus der commercium-Anthropologie der In dem von ihm generierten »mittleren Spätaufklärung stammendes Konzept der Zustand« (366, B 18) heben sich Stoff- und menschlichen Doppelnatur nicht sachlich, Formtrieb wechselseitig zu »Null« (349, sondern nur metaphorisch neu. Person 377, 379) auf. Sie verlieren ihre je einseitige und Zustand, Form- und Stofftrieb sind Dominanz (»Nöthigung«) und geben in auf die Antithetik von geistiger und tieri- der dergestalt völlig freischwebenden, im scher Natur, Vernunft und Trieb vollstän- »Spiel« (B 14ff.) realisierten, gleichsam dig, ohne theoretische Verluste, zurück- äquilibristisch-tänzerischen ›Totalität des führbar. Ihnen liegt keine platonische Charakters‹ der »Freyheit den Ursprung« Hierarchie zugrunde, die beiden Hälften (373, B 19). Diese ›Genealogie der Freiheit‹ des Duals sind nach ihrer Wertigkeit völlig ist gegenüber den Augustenburger Briefen äquivalent. Der »Zusammenhang« beider neu (aber nicht, weil sie transzendental be- gründet wäre); auf sie wird deshalb weiter unten näher einzugehen sein. bestimmt zu werden«. Hölderlin, Schiller und Schel- ling als Antwort auf Fichte. In: DVjs 46 (1972), S. B 23-27 kehren zur Grundlinie der Au- 248-293; gekürzt in: Bolten 1984 (Anm. 7), S. 261- gustenburger Briefe zurück. Die entwick- 275; Hans-Georg Pott: Die schöne Freiheit. Eine lungsgeschichtlichen Gedanken klingen Interpretation zu Schillers Schrift Über die ästheti- an, wenn auch zunächst nur sehr schwach: sche Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie- Vom Empfinden zur Vernunft gelangt der fen. München 1980. 129 Ähnlich (vielleicht nicht ganz in dieser Schärfe): 130 Alt 2000 (Anm. 6), Bd. 2, S. 137ff.; Zelle 2005 In der »Vermischung« der beiden Naturen liegt (Anm. 22), S. 424ff.; vgl. knapp auch schon Verf. des Menschen »Vollkommenheit« (Versuch über 2004 (Anm. 29), S. 1222f. – Gut erkannt ist die Pro- den Zusammenhang, NA 20, S. 68, auch S. 64). blematik jetzt bei Lars Meier: Kantische Grundsät- 131 Schiller: Philosophie der Physiologie (1779). NA ze? Schillers Selbstinszenierung als Kant- 20, S. 10-29, hier S. 13 u.ö.; dazu Verf. 1985 (Anm. Nachfolger in seinen Briefen Ueber die ästhetische 49), S. 61-100, Die »Mittelkraft«-Hypothese der Erziehung des Menschen. In: Cordula Burtscher, Philosophie der Physiologie. – Von einer »merio- Markus Hien (Hg.): Schiller im philosophischen pathischen« oder »Mittellagenanthropologie« Kontext. Würzburg 2011, S. 50-63, hier S. 56-60, spricht daher treffend Zelle 2005 (Anm. 22) noch im Der ›transzendentale Weg‹ als Sackgasse. Blick auf die Ästhetischen Briefe (S. 425, 429 u.ö.).

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Mensch durch einen »Uebergang« oder Begriffs der »Form«133 und bezeichnet wie eben »mittleren Zustand«, besagte »ästhe- dieser das Objekt der ›freien‹ oder ästheti- tische Freyheit« (383, B 23); das ist nun schen Betrachtung und des ›interesselosen wieder ganz die Distanz-Freiheit der Au- Wohlgefallens‹, die ja beide von seiner gustenburger Briefe. Auch das uns von ›Existenz‹ (Kant) abstrahieren – daher hier dorther bekannte Drei-Stufen-Modell ›Schein‹. In der Freude an ihm wird also kehrt wieder, hier als »physischer«, »ästhe- nichts anderes als der ästhetische Distanz- tischer« und »moralischer« Zustand (388, B gewinn erworben: Aus der »uninteressier- 24). Und wie in den Augustenburger Brie- ten freyen Schätzung des reinen Scheins« fen, nur noch dezidierter, wird die dritte entspringt die »totale Revolution seiner oder ›reine Vernunft‹-Stufe, kaum dass sie [des Menschen] ganzen Empfindungswei- eingeführt wurde, als unnötig fallengelas- se«, sie macht den »eigentlichen Anfang sen (B 25): Der Mensch müsse nicht (kön- der Menschheit«, meint hier immer auch: ne auch gar nicht) reiner »Geist« werden, der Humanität (405, B 27). Aus der Nei- um frei zu sein, er sei »schon in der Ge- gung zum Putz (»er schmückt sich«, »will meinschaft [›Zusammenhang‹!] mit der selbst gefallen«; 408) wird anschließend Sinnlichkeit frey, wie das Faktum der auch hier das Prinzip der Anerkennung Schönheit lehrt« (397). Das ist Augusten- destilliert (»er muß Freyheit lassen, weil er burger Originalton, zu dem mithin der der Freyheit gefallen will«, 409), der Trieb- ›transzendentale Weg‹ wie ein gewaltiger egoismus wird durch sie gebrochen und Umweg, aber am Ende sehr direkt zurück- das Individuum soziabel gemacht (»Die führt. Danach nimmt Schiller seine uns ungesellige Begierde muß ihrer Selbstsucht schon bekannten kulturanthropologischen entsagen«, 411), Humanisierungseffekte Überlegungen wieder auf; der ›Übergang‹ wie »Takt« (409) und »Höflichkeit« (403) vom Tier zum Menschen kehrt verscho- stellen sich ein, die uns schon bekannten ben, aber sehr verkürzt, wieder als »Ein- Weltmanns-Qualitäten. Neu hinzukommt tritt« des »Wilden [...] in die Menschheit« die Liebe zum »Spiel« – zum äußeren, ge- (399, B 26), und diese entwicklungsge- selligen Spiel wie zum inneren Spiel der schichtliche Passage wird markiert (»ver- »Einbildungskraft«, der freien Assoziation kündigt«) durch »die Freude am Schein, (»freyen Ideenfolge«, 406f.). In ihnen rea- die Neigung zum Putz und zum Spiel« lisiert der freilaufende Spieltrieb erstens, (ebd.). Die vieldiskutierte Kategorie des wie schon gesagt, die »Freyheit« (409f.) – »Scheins«132 tritt dabei nur an die Stelle des von allen äußeren Zwängen wie von den inneren ›Nötigungen‹ der Triebe und der Vernunft – und zweitens in diesem Frei- 132 Alt 2000 (Anm. 6), Bd. 2, S. 146ff.; Janz 22011 (Anm 22), S. 659-662; Zelle 2005 (Anm. 22), S. 435. 133 NA 26, S. 312 (Nr. 208), Br. 3.

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heitszustand die innere Balance der beiden als literarischer Gattung, führen sie – ihr Naturen, die ›Totalität des Charakters‹. anthropologisches Erbteil – einen realisti- Wo dies kollektiv in Formen der Gesellig- schen Diskurs. Schillers Verabschiedung keit gelingt, wobei Schiller eher an kleinere der Geschichtsphilosophie als säkularisier- Gruppen, Gemeinschaften oder Gesell- ter Heilsgeschichte wird durch die Ästheti- schaften denkt (»Zirkel«, 412), dort »exi- schen Briefe nicht revidiert oder in Frage stiert« das Reich der Freiheit (409f.), gestellt. Auch in ihnen führt vielmehr der ›Gleichheit‹ (412) und Brüderlichkeit, näm- ›pragmatische‹ Schiller das Wort. Sie be- lich Menschlichkeit (»Freyheit zu geben schreiben kein Sollen oder ›Möchtegern‹,134 durch Freyheit«, 410) – der »ästhetische sondern etwas Wirkliches und wirklich Er- Staat« (410, 412). fahrbares, etwas dem Menschen ohne Was ist hier gedanklich passiert? Ist das Überstrapazierung seiner Natur oder die Antwort für ein »politisches Problem« Überdehnung seiner Möglichkeiten Er- (312)? Vielleicht. Schiller hat sich, indem er reichbares. Brechung des Absolutismus der den Grund der Soziabilität, Moralität und Wirklichkeit durch den Denkraum der Be- Freiheit des Menschen in einer als anthro- sonnenheit, Moderation der sozialen Ver- pologisch elementar angesetzten ästheti- kehrsformen durch wechselseitige Aner- schen Erfahrung ausmachte, bewusst in die kennung, Rettung der Gefühlsnatur des vorpolitische Ebene begeben, und am En- Menschen in die Totalität des Charakters, de, wenn er auf das Ziel, die praktische Realisierung dieser Totalität in Formen Realisierung dieser Trias zurückkommt, – der Geselligkeit, Leichtigkeit des Daseins bleibt er auch in ihr. Der ästhetische Staat im Spiel – all dies liegt nicht im Nirwana ist kein politischer, sondern ein vorpoliti- des Unerreichbaren. Es ist nur politisch scher, vorstaatlicher, ein rein gesellschaftli- nicht erreichbar. Vorpolitisch aber schon, ches ›Reich‹. Und es erstreckt sich nicht auf vorzugsweise, aber nicht nur, im privaten die Gesamtgesellschaft, sondern auf Inseln Raum. In dieser – durch soziologische in ihr, wenn man so will, auf ›andere Zu- Evidenz gedeckten – Verlagerung vom stände‹ fern der sozialen Normalität. Diese Staat auf die Gesellschaft liegt Schillers po- Zustände formulieren keine Utopie, keinen litischer Realismus. Darin Resignation, Es- kontrafaktischen Traum, kein bloß als kapismus oder ähnliches zu erkennen, ver- normative Idee existierendes Ideal, sie sind rät nur die Lust, den Robespierre geben zu vielmehr – wichtig für Schillers gesamtes wollen, wenn auch nur auf dem Papier. Die Konzept – gelebte Realität, wenn auch, wie bei anderen Zuständen üblich, seltene. Man 134 Diesen hübschen Ausdruck hat, als philosophi- kommt also den Ästhetischen Briefen mit der schen, Wilhelm Schmidt-Biggemann einmal einge- Kategorie Utopie nicht bei. Im Unterschied führt (Sinn-Welten, Welten-Sinn. Eine philosophi- zu ihr, als philosophischer Denkform wie sche Topik. Frankfurt/M. 1992).

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Revolutionsideale Freiheit, Gleichheit, ›Nötigung‹ ausgehend, ist psychologisch- Brüderlichkeit können als Dreieinigkeit vorethisch: Triebdruck und Vernunftan- politisch nicht verwirklicht werden. Denn forderungen stellen das Gemüt unter wohl lassen sich Freiheit und Gleichheit Stress. Eine völlig inhaltsneutrale Betrach- gesetzlich garantieren, Brüderlichkeit aber tungsweise, die gleichsam nur auf die Stär- nicht. Sie bleibt politischer Traum. Sowohl ke des Druckimpulses sieht! Eine Stelle aus der Ort ihres trinitarischen Vollanspruchs B 17 macht dies noch einmal deutlicher: wie der ihrer fallweisen Realität kann da- »Angespannt [...] nenne ich den Menschen her nur ein vorpolitischer sein. sowohl, wenn er sich unter dem Zwange Dementsprechend ist auch der Frei- der Empfindungen, als wenn er sich unter heitsbegriff der Ästhetischen Briefe kein poli- dem Zwange von Begriffen befindet. Jede tischer, sondern ein vorpolitischer, ja mehr ausschliessende Herrschaft eines seiner noch, kein moralischer, sondern ein an- beiden Grundtriebe ist für ihn ein Zustand thropologischer. Dies erhellt schon aus des Zwanges und der Gewalt« (365). Das seiner Ableitung, die zwar transzendental ist antropologische Faktorenanalyse, nicht genannt, aber anthropologisch gedacht ist. ›Metaphysik der Sitten‹. Der Abschied von Kants Moralphilosophie Wenn die Vernunftherrschaft formal liegt zum Grunde: Gänzlich unkantisch derselbe Zwangszustand ist wie das Trieb- forciert B 14 den im fünften Augustenbur- diktat, dann ist Freiheit nur jenseits davon, ger Brief nur angedeuteten Gedanken, also nicht, so die antikantianische Konse- dass das Vernunftgebot in seiner Wirkung quenz, auf dem Vernunftpol dieses Duals auf den Menschen dem Naturzwang ana- zu finden. Schiller sucht hier auch etwas log sei (während hier doch gerade die Dif- ganz anderes als Vernunftfreiheit, etwas ferenz zwischen »Causalität durch Freiheit« Körpernäheres, beinahe schon Medizi- und »Causalität nach Gesetzen der Na- nisch-Diätetisches, Freiheit als Ent- tur«135 zu beachten wäre): »Beyde Triebe Spannung, als Absenz von Stress: Der [Stoff- und Formtrieb] nöthigen also das »sinnlich« oder »geistig angespannte Gemüth, jener durch Naturgesetze, dieser Mensch« soll »aufgelöst« (365), in einen durch Gesetze der Vernunft«; hier der spannungsfreien (›mittleren‹) Zustand ver- »Zwang der Empfindung«, dort der setzt werden. Und natürlich ist dies kein »Zwang der Vernunft« (354). Schon der politischer Zustand, kann es gar nicht sein, Ansatz, von Begriffen einer äußerlichen, sondern als der ›ästhetische‹, als den Schil- ›physischen‹ Kausalität wie ›Zwang‹ und ler ihn hier immer bezeichnet, ein anthro- pologischer. Er wird im Unterschied zu po- 135 Kant: Kritik der reinen Vernunft (21787), AKA 3, litischen und moralischen Freiheitszustän- hier S. 308-313 (›dritte Antinomie‹). Vgl. NA 26, S. den nicht realisiert durch ›Spontaneität der 313, Nr. 210. Vernunft‹, sondern durch homöostatischen

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Kräfteausgleich innerhalb der Doppelna- des Gegenstandes‹ (Kant). Insofern ist es tur, durch – quasiphysikalische – wechsel- Erzeugnis des Distanzgewinns; der Abso- seitige Kraftaufhebung: »In dem ästheti- lutismus der Wirklichkeit ist in ihm nicht schen Zustande ist der Mensch also Null« nur gebrochen, sondern annulliert. Daher (377). Im Unterschied zur Vernunftfreiheit – Schiller sieht das sehr genau – ist das bedarf diese anthropologische Freiheit Spiel dem Fiktiven verwandt.138 Spiele der auch keiner Begründung durch ein meta- »Einbildungskraft«, die sich im Modus der physisches Prinzip (scholastisch durch die freien Assoziation ›abspielen‹ (»Phantasie- Gottesebenbildlichkeit des Menschen),136 spiele«, »Spiel der freyen Ideenfolge«, sondern ist ein Geschenk der Natur, der »ungezwungene Folge von [endogenen] »sinnlichvernünftigen Natur« (340) des Bildern«, »freyer Bilderstrom«,139 406f.), Menschen selbst. Im Unterschied zur politi- liegen besonders in seinem Fokus. Nicht schen Freiheit hinwiederum ist sie nicht nur wenden sie den Entlastungseffekt un- Organon unserer Souveränität, sondern unseres Schwebens. 138 Solche Freiheit als Spannungs- und Vgl., aber es wäre ein zu weiter Anlauf, dies ar- Stressfreiheit bezeichnet die Anthropologie gumentativ hier hereinzuholen, dazu jetzt grundle- gend Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biolo- des 20. Jahrhunderts als »entlastetes Ver- gischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 137 halten«. Für Schiller realisiert es sich im 2004, S. 277-352, Die Lust, das Schöne und das Spiel. Sein Verwirklichungsraum ist das Spiel; zuvor auch schon Wolfgang Iser: Das Fiktive ›Als ob‹; es ist nicht ›ernst gemeint‹, zeitigt und das Imaginäre. Perspektiven literarischer An- thropologie. Frankfurt/M. 1991. wie das spielverwandte Probehandeln kei- 139 ne Folgen, die negativ oder sonstwie Die Assoziationspsychologie des 18. Jhs. kannte Schiller aus dem Studium: Philosophie der Physio- schwer ins Leben eingreifen. Das Spiel ab- logie, NA 20, S. 19-26, §§ 8-10. Die rätselhafte Stel- strahiert also von der Existenz des Spie- le vom »materiellen Spiel« der Einbildungskraft in B lenden in genau derselben Weise wie die 27 (NA 20, S. 406) klärt sich von dort und der dort ästhetische Betrachtung von der ›Existenz adaptierten idea materialis-Lehre der Aufklärungs- psychologie her auf; zum Kontext Abel 1995 (Anm. 36), S. 39, 474f., 481f. – Man lese von diesen Passa- 136 Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Madrid gen in B 27 aus einmal einen Grundtext der psycho- 1957. Bd. 2, S. 3, Prima secundae, Prologus. analytischen Assoziationspsychologie (oder umge- 137 Arnold Gehlen: Über einige Kategorien des ent- kehrt von ihr aus diese Passagen): Carl Gustav lasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens (1950). Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. Bei- In: ders.: Studien zur Anthropologie und Soziolo- träge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens gie. Neuwied 21971, S. 73–87. Der Hinweis auf (1912). München 1991, S. 21-47, Die zwei Arten des Gehlen und sein Konzept des entlasteten Verhaltens Denkens; dazu Verf.: Endogene Bilder. Anthropo- in diesem Zusammenhang wurde schon früher gele- logie und Poetik bei Gottfried Benn. In: Helmut gentlich gegeben: Zelle 2005 (Anm. 22), S. 434; Pfotenhauer u.a. (Hg.): Poetik der Evidenz. Würz- Verf. 2004 (Anm. 29), S. 1222 u.ö. burg 2005, S. 163-201, hier S. 164f.

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mittelbar ins Innermentale, sondern auch – heit des Spiels mag aufs Ganze der Gesell- denn wir befinden uns ja im Vorraum des schaft gesehen ›kleine Münze‹ sein, aber künstlerischen Ingeniums und seiner Er- dafür ist sie keine leere Utopie, sondern findungsgabe – ins Produktive. Nur in die- Wirklichkeit des ›entlasteten Verhaltens‹.141 sem innermentalen Abstand vom In sehr bestimmter Weise werden die Äs- Wirklichkeits-, Trieb- und Vernunftdruck thetischen Briefe dergestalt, mit ihrem spezi- entsteht das Kunstwerk, das dann an den fischen Freiheitsbegriff, zu einer ›Theorie Betrachter genau diesen Distanzgewinn des Glücks‹, jedenfalls einer Möglichkeit wiederum zurückgibt. Dergestalt realisiert von Glück für ein ›sinnlichvernünftiges‹ sich die – anthropologische – Freiheit nur in lebensweltlichen ›Freiräumen‹, in denen der Ernst, der diese Lebenswelt sonst be- herrscht, suspendiert ist. Aber – sie reali- siert sich! Die Pointe von Schillers Ablei- bineau-Hoffmann: Art. ›Spiel‹. In: HWPh 9, Sp. tung der Freiheit aus der Doppelnatur ist 1383-1390. auch hier, dass in ihr kein Sollen, sondern 141 Jedenfalls in dieser Gehlenschen Lesart. – An- ein Sein beschrieben wird.140 Auch die Frei- ders bei Herbert Marcuse, der zwar, seinerseits von Freud herkommend (und gegen ihn sich wendend), Ähnliches ins Auge fasst, es aber ins Große und damit Utopische wendet: Triebstruktur und Gesell- 140 Wie ja die auf Schiller folgende (und sich auch schaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund immer wieder auf ihn beziehende) Anthropologie Freud (1957; 1952 amerik. u.d.T. Eros and Civilisa- und Ethologie des Spiels bezeugt. Vgl. nur aus dem tion). In: Schriften. Frankfurt/M. 1978-89 (Springe hier bereits mehrfach herangezogenen Referenz- 22004). Bd. 5, S. 115-202, Jenseits des Realitätsprin- raum des frühen 20. Jhs.: Karl Groos: Das Spiel. zips. Der entlastete Zustand ist hier der ›repressions- Zwei Vorträge. Jena 1922; F.J.J. Buytendijk: Wesen ‹ bzw. ›realitätsprinzipfreie‹ (pass.). Die Metapher und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Repressionsfreiheit liegt zwar nahe bei Schiller der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe. (mit dem sich Marcuse auch auseinandersetzt, S. Berlin 1933; Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom 156ff.), aber, und darin besteht der Unterschied zu Ursprung der Kultur im Spiel (holl. 1938, dt. 1939). Schiller, diese Freiheit soll sich eben nicht allein im Reinbek 1956. Huizingas Untertitel greift exakt den Spiel, sondern im System der gesellschaftlichen Ar- Schillerschen kulturanthropologischen Ansatz auf – beit realisieren, nicht in Momenten des Glücks, son- freilich ohne es zu wissen, denn diesen Ansatz hat dern in einer dauerverglückten Normalität. – Ent- Huizinga überhaupt nicht wahrgenommen (ebd., S. gegen einer langen Deutungstradition steht Schiller 162). Zum Spielbegriff innerhalb der Philosophi- weniger in der geistigen Nachbarschaft Marcuses als schen Anthropologie im engeren Sinne: Olivier in derjenigen Gehlens. Oder anders, Schiller gehör- Agard: L’anthropologie des jeux de pouvoir chez te aus heutiger Sicht nicht mehr nur den Links-, Helmuth Plessner. In: Mechthild Coustillac, Fran- sondern ebenso den Rechtshegelianern des 20. Jhs., çoise Knopper (Hg.): Jeu, compétition et pouvoir und nicht nur den Versöhnungstheoretikern, son- dans l’espace germanique. Paris 2012, S. 43-62. Zur dern auch den Distanzdenkern der Zivilität (s. Geschichte des Spielbegriffs im Überblick: A. Cor- Plessner, o. Anm. 92).

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Wesen, das erst im Distanzgewinn wurde, rorbereitschaft des Menschen etwas im was es ist.142 Menschen selbst entgegenhalten, was ihr An dieser Wendung lässt sich der Dif- realiter – nicht nur in der Idee oder als ein ferenzpunkt zu den Augustenburger Brie- Sollen – wehren kann. Die Briefe von 1795 fen präzise fassen. Mit ihr gehen die Ästhe- übernehmen dies zur Gänze, aber sie er- tischen Briefe über die frühere Version und kennen in diesem Distanzgewinn darüber – über den unmittelbar zeitgeschichtlichen hinaus den Quellgrund eines Überschus- Impuls der Grande Terreur hinaus. 1793 er- ses, der über die soziale Befriedungsfunk- kannte Schiller im Distanzgewinn die tion hinausgeht und menschliche Ausnah- Grundlage der Soziabilität und Humanität mezustände ermöglicht, heitere Ekstasen, des Menschen; der Versuch, die ›Bedin- in denen sich Individuen wie Gruppen gung der Möglichkeit‹ von Menschlichkeit, (›Geselligkeit‹) für Augenblicke aus den von menschlichen Verhaltens- und Verge- engen Grenzen der conditio humana befrei- sellschaftungsformen offenzulegen, war en – im Spiel. Terror und Spiel! Vom Ter- seine (theoretische) Antwort auf den un- ror (seiner Abwehr) zum Spiel (der Eröff- menschlichen Verlauf der Revolution. nung seiner Möglichkeit) geht dergestalt Vielleicht wollte er auch damals schon der Gedankenweg dieser Doppelbriefe. mehr, als diesen gleichsam nur defensiven Nur im ersten Punkt bleiben sie direkt auf Effekt jener Abständigkeit herauszustellen; die Französische Revolution (aber dieser der sechste Augstenburger Brief deutet Anlass ist austauschbar) bezogen; im zwei- solches an, blieb aber, und mit ihm das gan- ten haben sie sich von diesem ›dunklen ze Konvolut, Fragment. So wie diese Briefe Grund‹ freigeschrieben. überliefert vorliegen, werden sie be- Philosophie des Schönen als politische herrscht von dieser ›defensiven‹ anthropo- Anthropologie? Ja, indem sie die Unter- logischen Intention. Sie wollen der Ter- scheidung von politisch und vorpolitisch einführt (der Sache, nicht den Begriffen 142 Sehr gut passend also, dass im 6. Heft der Horen nach) und mithilfe dieser Unterscheidung zugleich mit der 3. Lieferung der Ästhetischen Briefe die Sphären und ihre Zugehörigkeiten sor- Goethes Römische Elegien abgedruckt sind. Dazu tiert. Jede ›ästhetische Erziehung‹ – die ur- und zum ›sachlichen‹ Konnex beider Werke Verf.: Eros und Ethos. Goethes Römische Elegien und Das sprüngliche der anthropogenetischen Ur- Tagebuch. In: JDSG 40 (1996), S. 147-180, hier S. szene, die in real fine gentlemen- 170-175, Der Zentaur. – Dass es in der Philosophie Sozialisationen historisch und aktuell im- des Schönen um »Glück« geht, belegt das 1795 in mer wieder gelingende und auch jede den Horen erschienene Epigramm Schön und Erha- denkbare künftige – wirkt immer nur in ben: (NA I, S. 272; 1803 u.d.T. Führer des Lebens); dazu Verf.: Der Spaziergang. Ästhetik der Land- den gesellschaftlichen Raum hinein und schaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei von hier allenfalls indirekt und mittelbar in Schiller. Würzburg 1989, S. 97, Fn. 3. den politischen, und noch indirekter und

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mittelbarer, wenn überhaupt, in den staat- Mittel und Wege, das Kultiviertheits- und lich-gesetzlichen. Die politische Pointe der Moralitätsniveau der Menschen zu erhal- Ästhetischen Briefe besteht letztlich darin, ten, vielleicht zu verbessern, suchen sie nur dass sie den politischen Raum selbst vom dort, wo solches auch möglich ist, im vor- pursuit of happiness entlasten und dem Men- politischen Raum.143 schen als Ort der Erreichbarkeit seines in- Die Briefe sind daher auch keine Pro- dividuellen und kollektiven Glücks nicht grammschrift für staatliche Erziehungs- den Staat, sondern den vorpolitischen kampagnen und pädagogische Reformuto- Raum der Gesellschaft zuweisen (mit Bö- pien. Es ist ja so offenkundig wie erstaun- ckenförde gesprochen, Gesetze können lich, wird aber wenig bemerkt, dass in die- nur dafür Sorge tragen, dass jener pursuit sen Briefen über die »ästhetische Erziehung nicht verhindert wird). In ihr, ihren Öf- des Menschen« keinerlei konkrete Vor- fentlichkeiten und privaten Sphären, schläge zu einer künftigen Erziehung der Schutzzonen und Nischen, zentrumsfernen Menschen gemacht werden, wie man sie Sansoucis und urbanen Lebensräumen, aus dem philanthropisch-pädagogischen 18. realisiert sich der ›ästhetische Staat‹, ge- Jahrhundert sehr gut kennt. Auch der nauer, denn es gibt nicht nur einen, reali- volkspädagogische Schwung der Schaubüh- sieren sich die vielen kleinen ›ästhetischen nenrede findet sich hier nicht. Viel konkreter Staaten‹. Nicht immer wurde erkannt, dass hatte jene Rede angegeben, wie eine ›proak- es sich bei diesem Begriff um eine Meta- tive‹ Erziehung der Menschen durch die pher handelt, und zwar um eine eigentlich Kunst, durch das Theater, geschehen irritierende, denn sie bezeichnet gerade kann. Die Hinweise der Briefe über die kein politisches oder gar staatliches, son- Wirkungen der schmelzenden und energi- dern ein vorstaatliches, ein gesellschaftli- schen Schönheit fallen demgegenüber sehr ches Phänomen. Diese Unterscheidung ist abstrakt und, besonders bei letzterer, ma- jedoch klar zu beachten, will man Schillers Ansatz verstehen. Die Entlastung des Poli- 143 tischen von Zielen, die es nicht erreichen Schiller weiß, dass diese Anstrengungen keine kann, verhindert den Absolutismus der Garantien bieten; Geschichte ist Risikogeschichte. Für das Eintreten dieses Risikos, mit dem auch in Politik, jene ›totale Politik‹, wie sie die zivilisierten Jahrhunderten jederzeit zu rechnen ist, Französische Revolution Schiller im Spie- hat er als »Notstandsgesetzgebung« (Zelle 1994 gel des Moniteur vor Augen geführt hat. [Anm. 25]) oder »Notstandmoral« (Verf. 1989 Genau in diesem Sinne sind die Ästhetischen [Anm. 142]) seine Theorie des Erhabenen in der Briefe eine Antwort auf ein politisches Pro- Hinterhand. Vgl. wiederum Schön und Erhaben: »Zweyerley Genien sinds, die durch das Leben dich blem. Sie weisen die Tendenz der Politik, leiten [...] Nimmer widme dich einem allein [...]« totalisierend ins individuelle und gesell- (NA I, S. 272). Ob aber deshalb der erhabene Schil- schaftliche Leben einzugreifen, zurück. ler der ›bessere‹ ist?

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ger aus. Der Befund ist daher unzweideu- in der Denkfigur des Distanzgewinns, ob tig. ›Ästhetische Erziehung‹ meint kein nun anthropogenetisch, sozialtheoretisch, pädagogisches, erziehungspolitisches oder kulturanthropologisch oder poetologisch gar staatliches Programm, das inskünftig gewendet, Grundintuition und gedankli- zu realisieren wäre, sondern beschreibt, cher Antrieb dieser beiden Briefwerke be- was – entwicklungsgeschichtlich gesehen – stehen, die ›ursprüngliche Einsicht‹, um de- geschah und geschehen musste, damit das rentwillen Schiller sie schrieb. In dieser Menschenwesen sich humanisiert, und was Denkfigur liegt die ungeheure Modernität sich – kultursoziologisch betrachtet – in dieser Doppelbriefe von 1793/95 begrün- der Gesellschaft von Fall zu Fall, aber viel- det. Sie ist, jedenfalls bis heute, noch bei leicht hinreichend kontinuierlich, ereignet weitem ›nicht ausgeschöpft‹.145 und sich nur in ihr ereignen kann, aber nicht politisch planen und gesetzlich sicher- stellen lässt. ›Ästhetische Erziehung‹, das ist ein fragiles Moment der Stabilisierung in der gebrechlichen Einrichtung der Welt, kein Katechon. Die neuen Theoreme der Ästhetischen Briefe, Totalität des Charakters, Genealo- gie der Freiheit aus der menschlichen Dop- pelnatur, Realisierung dieser Freiheit in Spiel und Schein, setzen die gedankliche Linie der Augustenburger Briefe in be- merkenswert konsequenter Weise fort. Es sind dies alles Modi der Distanzgewinnung: in der Totalität des Charakters vom Spe- zialisierungsdruck (und vom daraus resul- tierenden Deformationszwang) der mo- dentale Weg kommt in dieser abschließenden Auf- zählung auch nicht vor, weil er als dieser, wie eben- dernen Arbeitsteilung, in der Freiheit vom falls gesagt, in die Irre führt und sein substantieller doppelten Zwang der Triebnatur und Ver- Ertrag, die Ableitung der Freiheit aus dem commer- nunft, im Spiel vom Ernst des Lebens, im cium, ja genannt ist. Spiel der Einbildungskraft vom Realitäts- 145 Aber man macht sich jetzt daran; bei Carsten Zel- prinzip.144 Somit bestätigt sich, dass hierin, le in Bochum entsteht eine Doktorarbeit, die genau ins Zentrum dieses ideengeschichtlichen Fragerau- mes zielt: Carina Middel: Schillers ästhetische An- 144 Der Scheinbegriff bringt zwar ein neues Wort, thropologie im Kontext zeitgenössischer Mensch- aber wie gesagt keinen neuen Gedanken über das heitsgeschichten und ihre Parallelen zur Philosophi- interesselose Wohlgefallen hinaus. Der transzen- schen Anthropologie (Arbeitstitel).

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