Briefe Und Die Briefe Über Die Ästhetische Erziehung Des Menschen

Briefe Und Die Briefe Über Die Ästhetische Erziehung Des Menschen

118 ARTICLES Philosophie des Schönen als politische etwas verfrühter Abgesang vielleicht auf die Beschäftigung mit einem Krondoku- Anthropologie. Schillers Augustenburger ment philosophischen Schrifttums um 1800! Briefe und die Briefe über die ästhetische Wenn der Eindruck nicht täuscht, ist das Interesse an den Ästhetischen Briefen seit Er- Erziehung des Menschen scheinen dieses Forschungsberichts eher wieder gewachsen, vorwiegend mit Blick Wolfgang Riedel auf den politischen Diskurs, der in ihnen Institut für deutsche Philologie geführt wird.2 Dass überhaupt gegenwärtig Julius-Maximilians-Universität Würzburg dem politischen Schiller vermehrte Auf- (Deutschland) merksamkeit geschenkt wird, dürfte auf Hans-Jürgen Schings’ bahnbrechende Stu- Hans-Jürgen Schings zum 75. Geburtstag die Die Brüder des Marquis Posa aus dem Jahr 1996 zurückgehen. Sie lenkte den Fo- 1. Wiederentdeckung des kus nicht nur auf Schillers (so zuvor nicht politischen Schiller bekannte) Auseinandersetzung mit den Il- luminaten im vorrevolutionären Jahrzehnt, ie Briefe über die ästhetische Er- sondern auch auf sein Verhältnis zur Fran- ziehung des Menschen seien »all- zösischen Revolution selbst, insbesondere mählich ›ausinterpretiert‹«, hielt in der Phase der Grande Terreur (1793/94).3 DHelmut Koopmann 1998 in seinem großen Bericht über die Schillerforschung seit 1950 als damaligen Gesamteindruck fest und ließ Sigle B steht bei der Zitation der Ästhetischen Briefe als Abkürzung für Brief. dieses Resümee auch noch 2011, in der ak- 2 Freilich war der enge sachliche und argumentative tualisierten Neuauflage seines Schiller- Zusammenhang von Ästhetik und Politik der älte- Handbuchs, stehen: »Sehr viel ist dem The- ren Forschung nicht verborgen geblieben; gute ma wohl nicht mehr abzugewinnen«.1 Ein Übersicht über die reiche Literatur zu den Ästheti- schen Briefen bei Koopmann 22011 (Anm. 1), S. 898f., 932-936, 976-978, 980-984, 1020, 1045, 1050, 1 Helmut Koopmann: Forschungsgeschichte. In: 1053f., 1067f.; s. auch u. Anm. 21. ders. (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 22011, S. 3 Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Po- 864-1076, hier S. 981f. (vgl. 11998, S. 921f.); im Fol- sa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. genden nach 22011 zit. – Schiller wird nach NA zit.: Tübingen 1996. Zuvor schon ders.: Die Illuminaten Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. Julius Peter- in Stuttgart. Auch ein Beitrag zur Geschichte des sen, Norbert Oellers u.a. Weimar 1943ff. – Die jungen Schiller. In: Deutsche Vierteljahrsschrift (= Briefe über die ästhetische Erziehung [...] firmieren im DVjs) 66 (1992), S. 48-87. Im Anschluss daran: Folgenden als Ästhetische Briefe, Ästhetische Erzie- Walter Müller-Seidel, Verf. (Hg.): Die Weimarer hung oder auch nur Briefe, die Briefe an den Prinzen Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2003; von Augustenburg als Augustenburger Briefe. Die Jean Mondot: Schiller et la Révolution française. PHILOSOPHICAL READINGS VOLUME 5 2013 ARTICLES 119 Damit rückten, schon bei Schings, die sonst perspektivenreiches Kapitel.6 Alles andere eher im Schatten stehenden Briefe an den als eine bloße Summe der älteren For- Prinzen von Augustenburg aus dem Jahr schung, läutet es vielmehr eine neue Phase 1793, in denen Schillers Revolutionskom- der Beschäftigung mit den Augustenburger mentar Theorieform annimmt, in den Blick- Briefen ein.7 punkt.4 Und damit auch wieder die aus Schon bald darauf stieß Jeffrey L. High ihnen hervorgegangenen Ästhetischen Briefe mit Schillers Rebellionskonzept und die Franzö- selbst, wobei nun aber, wie mir scheint, sische Revolution (2004) ins Herz der Sache mehr als früher der genetische und ge- vor. Auch er, nicht anders als Schings und dankliche Zusammenhang mit den Briefen Alt, auf der Basis umfangreicher Quellen- von 1793 und deren unmittelbarem Zeitbe- 5 zug die Perspektive bestimmte. Vergleicht 6 Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2 man die aktuelle Standardbiographie und Bde. München 2000. Bd. 2, S. 111-129, Antworten verbindliche wissenschaftliche Gesamtdar- auf die Französische Revolution: Briefe an den Au- stellung, Peter-André Alts Schiller (2000), gustenburger (1793), S. 129-153, Visionen der mit ihrem langjährigen Vorgänger, Benno Kunstautonomie: Ueber die ästhetische Erziehung des von Wieses Friedrich Schiller (1959), fällt Menschen (1795); s. auch ders.: »Arbeit für mehr als ein Jahrhundert«. Schillers Verständnis von Ästhe- dieser Unterschied sofort ins Auge. Wäh- tik und Politik in der Periode der Französischen rend von Wiese die Augustenburger Briefe Revolution (1790-1800). In: Jahrbuch der dt. Schil- als eine noch weniger selbständige und lergesellschaft (= JDSG) 46 (2002), S. 102-133. – ausgereifte Vorform der eigentlichen, Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, »endgültigen Fassung« schnell in dieser S. 446-506, Politik und Ästhetik in Schillers Denken hier S. 478-503 zu den Ästhetischen Briefen, das Zitat aufgehen lässt und nur mehr mit ihr sich S. 479; den Augustenburger Briefen widmen sich beschäftigt, widmet Alt, bevor er sich der nur die einleitenden Absätze S. 478f. – Aber immer- Ästhetischen Erziehung zuwendet, dem Brief- hin, von Wiese war unter den Nachkriegsgermani- konvolut von 1793 ein eigenes großes und sten der erste, der die »entscheidende Bedeutung der Französischen Revolution für Schillers Philosophie« erkannte (ebd., S. 835); vgl. schon ders.: Schiller und die Französische Revolution. In: ders.: Der Mensch in der Dichtung. Düsseldorf 1958, S. 148- D’un silence, l’autre. In: Revue Germanique Inter- 169. nationale (= RGI) 22 (2004), S. 87-102. 7 Aus der älteren Literatur hervorzuheben ein nütz- 4 Schings 1996 (Anm. 3), S. 210-226, Epilog. Ästhe- licher Sammelband, der auch einen Abdruck der tischer Staat. ›Augustenburger Briefe‹ bot: Jürgen Bolten (Hg.): 5 Man hat ihn indes immer gesehen und sehen kön- Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. nen; s. nur Benno von Wieses und Helmut Koop- Frankfurt/M. 1984, hier S. 33-87; dazu auch die manns bis heute in vielem maßgeblichen Komm. zu Hg.-Einleitung, ebd., S. 7-29. – Vorbildlich ediert den Ästhetischen Briefen in NA 21 (1962), hier bes. S. wurden diese Briefe dann 1992 von Edith und Horst 232-242, Entstehungsgeschichte. Nahler in NA 26. VOLUME 5 2013 PHILOSOPHICAL READINGS 120 ARTICLES studien, die Schillers Äußerungen zu den Mit alledem ist der Blick auf Schillers Äs- Pariser Ereignissen, besonders seit 1793, im thetische Erziehung und ihren historischen Stil einer ›thick description‹ einbetten in breit und gedanklichen Kontext neu justiert wor- verwebte Diskussionszusammenhänge, die den; man sieht die politische Dimension des man so zuvor nicht durchleuchtet sah.8 Hö- Textes wieder klarer – und auch, was es hepunkt dieser ›dichten Beschreibungen‹ heißt, dass er, nicht nur annalistisch gese- von Schillers Revolutionsanalysen und - hen, ein Kind der Grande Terreur ist.10 Zwar kritik ist zweifellos das Ende 2012 erschie- nene Buch Revolutionsetüden von Hans- den Augustenburger und Ästhetischen Briefen hier Jürgen Schings. Schmal von Umfang, ist es v.a. S. 136ff. Die Vortragsfassung dieser Studie war nach Ertrag ein Schwergewicht. Der Prä- im Jahr zuvor erschienen: Posa in Paris oder Schil- misse folgend, dass wir, um Position und lers Revolution. In: Verf. (Hg.): Würzburger Schil- lervorträge 2009. Würzburg 2011, S. 1-22. – Der Urteil eines Beobachters aus Weimarer Fer- Moniteur erschien seit 1789, seit 1790 mit umfangrei- ne richtig einschätzen zu können, möglichst chen Sitzungsprotokollen der französischen Natio- genau vor Augen haben müssen, was und nalversammlung; Schiller las ihn spätestens seit wie viel er von den Vorgängen in Frank- Herbst 1792 (an Körner, 26.11.1792, NA 26, S. 169f., Nr. 145). reich eigentlich wusste und wissen konnte, 10 rekonstruiert Schings minutiös Schillers ein- Natürlich hatte schon Benno von Wiese den Konnex von »Politik und Ästhetik« für die Ästheti- schlägigen Lektürehorizont, vor allem an- schen Briefe prononciert geltend gemacht (s.o. Anm. hand seiner Hauptquelle, der quasi-offi- 6), jedoch war die ihn damals inspirierende, ihm ziellen Tageszeitung der Revolution und von links nach rechts über die Ritter-Schule noch in zugleich deren Protokollorgan, der Gazette seiner Münsteraner Zeit vermittelte Lukács- national ou le Moniteur universel.9 Perspektive (von Wiese 1959 [Anm. 6], S. 448f., 835) eine andere als heute, nach dem Durchgang 8 durch die ›postmoderne‹ Verabschiedung der Ge- Jeffrey L. High: Schillers Rebellionskonzept und schichtsphilosophie. – Lukács hatte sich schon seit die Französische Revolution. Lewiston/NY u.a. Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) mit Schiller 2004. – Die Metapher der ›dichten Beschreibung‹ auseinandergesetzt (Georg Lukács: Werke. Neu- nach Clifford Geertz: Thick Description: Toward wied/Berlin 1962ff. Bd. 2, S. 319); einflussreich ge- an Interpretive Theory of Culture. In: ders: The In- worden sind aber vor allem zwei spätere Abhand- terpretation of Cultures. Selected Essays. New York lungen von ihm, Schillers Theorie der modernen Lite- 1973, S. 3-30 (dt. 1983). ratur (1935) und Zur Ästhetik Schillers (1935), beides 9 Und zwar so sehr, dass dieses Buch, je mehr es sich verbreitet durch Goethe und seine Zeit (1947) und in diese Quelle vertieft, streckenweise zu einer Ge- Beiträge zur Geschichte der Ästhetik (1954); s. Werke, schichte der Pariser Ereignisse selbst wird, wie wir Bd. 7, S. 125-163; Bd. 10, S. 17-106. – Zu Schiller sie – so akzentuiert und mit dieser wirkungsge- selbst und seinem (zunehmend kritischen) Verhält- schichtlichen

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