1. Der Wunsch, ein anderer zu sein

Richtungslos fliegen, mich in der Nacht verlieren, das Ende der Welt erreichen und durch eine einfache Berührung den Himmel in Brand setzen. Arcadio Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg Daniel Catán Florencia en el Amazonas Uraufführung am 29.10.1996, Houston Grand Wir danken Florencia Prof. Dr. Frauke Gewecke, Amparo Estrada en el Amazonas de Völk, dem Europäischen Hof - Hotel Daniel Catán Europa Heidelberg & der Mexikanischen * 29.04.06 Botschaft in Berlin Europäische Erstaufführung

Oper in zwei Akten Libretto von Marcela Fuentes-Berain nach Motiven von Gabriel Carcía Márquez

Edition Wilhelm Hansen Hamburg

4 Besetzung

Florencia Grimaldi Alvaro Larissa Krokhina Aaron Judisch

Rosalba Riolobo Maraile Lichdi Gabriel Urrutia Benet

Paula Kapitän Carolyn Frank Wilfried Staber

Arcadio Chor des Theaters Winfrid Mikus / Svetislav Stojanovic und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg

5 Inszenierungsteam Chor Tarmo Vaask Musikalische Leitung Noam Zur Dramaturgie & Übertitel Bernd Feuchtner Regie Michael Beyer Musikalische Einstudierung Sebastian Kennerknecht, Michael Bühnenbild und Kostüme Klubertanz, Timothy Schwarz Hans Richter Regieassistenz & Abendspielleitung Licht Solvejg Franke Ralf Kabrhel Regiehospitanz Nina Schecker

6 Ausstattungsassistenz Technik und Werkstätten Bettina Ernst Technische Leitung Souffl euse Ivica Fulir Delia Tedeschi Technische Einrichtung Inspizienz Martin Fuchs Uwe Stöckler Ton Philharmonisches Orchester Wolfgang Freymüller der Stadt Heidelberg Andreas Legnar

Die Dekorationen und Kostüme Leiter Kostümabteilung wurden in den theatereigenen Frank Bloching Werkstätten angefertigt.

7 Herrengewandmeisterin Dekorationswerkstatt Katja Ulrich Markus Rothmund

Damengewandmeisterin Leiter Schlosserei Merle Espenhain Karl-Heinz Weis

Leitung Maske Leiter Schreinerei Kerstin Geiger Klaus Volpp Anja Dehn (stv.)

Leiterin Requisite Esther Hilkert

Leiter Malsaal Dietmar Lechner

8 Zum Inhalt

Die Handlung von Michael Beyer

1. Akt Leticia, Peru, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Der Amazonasdampfer „El Dora- do“ wartet abfahrbereit im Hafen. Ziel der Fahrt ist Manaus, wo die legendäre Operndiva Florencia Grimaldi im Teatro Amazonas ein Konzert geben soll.

Der Flussgeist Riolobo stellt die Reisenden vor: Rosalba, eine junge Schrift- stellerin, die die Grimaldi vergöttert und an einem Buch über ihr Idol arbeitet, Paula und Alvaro, die sich von dem Konzertbesuch eine Wiederbelebung ihrer zerrütteten Ehe erhoffen, sowie die inkognito reisende Diva selbst.

9 Florencia führt die Sehnsucht nach ihrem Liebhaber Cristóbal nach Manaus zurück. Vor zwanzig Jahren war sie dem Schmetterlingsfänger auf der „El Do- rado“ begegnet. Für ihre Karriere verließ sie den Geliebten. In seiner Leiden- schaft erkennt sie die Quelle ihres Gesangs.

Rosalbas Notizbuch fällt in den Fluss. Arcadio, der Neffe des Kapitäns, rettet ihr Manuskript. Paulas und Alvaros erstes Abendessen an Bord endet im Streit.

Der Kapitän plaudert mit der fremden Passagierin. Nach und nach erkennt er in ihr die Grimaldi. Florencia muss erfahren, dass Cristóbal seit langem im Regenwald verschollen ist.

Beim Kartenspiel verschärfen sich die Spannungen zwischen Paula und

10 Im Hafen von Manaus

11 Alvaro, dagegen werden sich Rosalba und Arcadio mehr und mehr ihrer Zuneigung bewusst, entscheiden sich aber dennoch gegen die Liebe, weil sie verletzt.

Ein Sturm nimmt immer bedrohlichere Züge an. Der Kapitän wird ohnmäch- tig. Alvaro kann eine Kollision des Schiffes mit Baumstämmen verhindern, fällt aber dabei über Bord. Die „El Dorado“ läuft auf Grund.

2. Akt Nacht. Das havarierte Schiff liegt bewegungslos am Flussufer. Florencia ruft nach Cristóbal. Rosalba und Arcadio fi nden nicht den Mut, zu ihrer Liebe zu stehen. Paula trauert um Alvaro.

Am Morgen setzt sich die „El Dorado“ wieder in Bewegung. Als Paula dem

12 aus seiner Ohnmacht erwachten Kapitän vom Tod ihres Mannes berichten will, erscheint Alvaro plötzlich an Bord. Er begreift, dass der Klagegesang seiner Frau ihn zurück ins Leben geholt hat.

Rosalba entdeckt ihr durch Wasser und Sturm ruiniertes Manuskript. Floren- cia tröstet sie und erzählt von der Liebe zwischen der Grimaldi und Cristóbal. Rosalba erkennt in der Fremden ihr Idol. Sie beschließt, sich ihren Gefühlen nicht mehr zu verschließen.

Der Kapitän meldet die bevorstehende Ankunft in Manaus. Die Vorfreude der Passagiere wird von Riolobo unterbrochen: In Manaus herrscht eine Cholera- Epidemie. Die „El Dorado“ darf nicht einlaufen. Die verzweifelte Florencia trauert um Cristóbal. In ihrem Gesang, der einem Liebestod gleicht, vereinigt sich ihr Geist mit dem verlorenen Geliebten.

13 Zur Musik P Zwischen Nationalismus und Globalisierung: Oper in Lateinamerika

von Bernd Feuchtner

Der Hochmut Europas ist alt. Im Anthro- die europäische Musik aufbauten. Die pologischen Museum von Mexiko Stadt katholischen Mönche sorgten für die sind die Überreste der reichen Musik- Bildung von Chören und Orchestern in kultur der Azteken zu besichtigen, die Kathedralen und Klöstern, aus denen bald von den erobernden Spaniern gründlich auch Komponisten von Kirchenmusik her- zerstört wurde. Hernan Cortéz brachte vorgingen, deren Werke bis heute bekannt Musiker mit, die umgehend Schulen für sind. Schon um 1600 entstanden erste Mu-

14 sikdrucke. Bereits vor 300 Jahren, 1708, verstärkte. Die mexikanische Opernszene wurde im Palast des Vizekönigs die erste prosperierte so, dass 1825-28 Manuel Gar- mexikanische Oper aufgeführt – ihr Kom- cía mit seiner eigenen italienischen Truppe ponist war der Domkapellmeister Manuel eine sehr erfolgreiche Tournee durch die Zumaya. Der Titel seiner Oper Parthenope USA und Mexiko unternahm. Berühmt (1711) verweist allerdings auf Neapel: war die mexikanische Primadonna Angela Die italienische Oper war das Vorbild und Peralta (1845-83), die auch in der mexika- ihre aktuellen Produkte wurden durch nischen Oper Guatimotzin von Aniceto eigene Aufführungen oder später durch Ortega auftrat. Weitere Opernkomponisten Gastspiele italienischer Operntruppen waren Cenobio Paniagua (1812-82) und bekannt, die per Schiff den ganzen Konti- Melesio Morales (1838-1908), dessen nent bereisten. Schon im Barock entwi- Werke auch in Europa bekannt wurden, ckelte sich eine eigenständige Kultur, was und später Ricardo Castro (1866-1907) und sich nach der Unabhängigkeit 1813 noch Gustavo Campa (1863-1934), die sich an

15 der französischen Oper oder an Wagner arbeitet sind. Seine Oper Panfi lo and Lau- orientierten. retta auf ein Libretto von Chester Kallman 1866 war das Konservatorium der Socie- wurde 1957 in New York an der Columbia dad Filarmónica Mexicana gegründet wor- University uraufgeführt; in Mexiko kam sie den, dessen Leiter später Carlos Chávez als El amor propiciado heraus und wurde (1899-1978) wurde, Schüler von Manuel international in der revidierten Fassung als María Ponce und heute vielleicht der be- The Visitors bekannt. 1949 veröffentlichte kannteste mexikanische Komponist. Seine er das Buch La música mexicana. Sein Musik ist stark von der neuen Haltung Assistent Silvestre Revueltas (1899-1940) nach der Revolution von 1910 beeinfl usst war Dirigent des von Chávez gegründeten und wendet sich bewusst indianischen Sinfonieorchesters von Mexiko und Pro- und folkloristisch-mexikanischen Stoffen fessor für Violine und Kammermusik am zu, die in einem von Strawinsky beein- Konservatorium und wurde vor allem mit fl ussten, aber ganz eigenständigen Stil be- seinem Orchesterstück Sensemaya inter-

16 national bekannt, doch gab es im 20. Jahr- bekannteste Komponist Argentiniens, der hundert noch eine ganze Reihe weiterer seinen eigenen Weg einer argentinischen talentierter Komponisten. Das Zentrum Musik zwischen dem europäisch-nord- des Musiklebens ist der Palacio de Bellas amerikanischen Neoklassizismus und Artes im historischen Zentrum von Me- argentinischer Folkore suchte. Er teilte xiko Stadt, dessen Äußeres im Gründer- interessanterweise seine Musik in drei zeitstil beginnt und dessen Inneres dank Perioden ein: „Objektiver Nationalismus“ der langen Bauzeit in Art-Deco-Marmor (1934-1948), „Subjektiver Nationalismus“ schwelgt, daneben gibt es das Stadttheater (1948-1958) und “Neo-Expressionismus und den Konzertsaal der Uni-Stadt im Sü- (ab 1958). In seiner Cantata para la den. Das Festival Internacional Cervantino América é Mágica von 1962 verwendete in Guanajuato hat sich zu einem Salzburg er Texte der Mayas, Azteken und Inkas. Lateinamerikas entwickelt. Seine Opern Aeroporto (Opera buffa, UA Alberto Ginastera (1916-1983) ist der 1961 in Bergamo), Don Rodrigo (UA 1964

17 in Buenos Aires), Bomarzo (UA 1967 in nicht unbeeinfl usst blieb auch Osvaldo Washington) und Beatrix Cenci (UA 1971 Golijov, der 1960 in einem osteuropäisch- in Washington)wurden eher im Ausland jüdischen Haushalt in La Plata aufwuchs. gespielt. Ginastera ging 1945/47 zu Aaron Weltweit bekannt wurde er 2000 durch Copland nach Tanglewood und unterrich- seine in Stuttgart uraufgeführte Markus- tete danach in wichtigen argentinischen passion. Im letzten Sommer inszenierte Konservatorien. 1968 kehrte er in die USA Peter Sellars in Santa Fé Golijovs Oper zurück, um ab 1970 in Europa zu leben. Ainadamar, die bei Publikum und Presse Astor Piazzolla hatte es vergleichsweise bestens ankam. Golijov steht wie Catán leichter, mit seiner einzigen Oper María für eine neue, undogmatische und frische de Buenos Aires auch ein internationales Musik, die sich nicht mehr um europä- Echo zu fi nden – der Tango ist die Quelle ische Regeln kümmert, sondern ihren seiner Musik und mit dem Tango wurde lateinamerikanischen Impulsen vertraut. auch seine Tango-Operíta populär. Davon Das größte Land Lateinamerikas,

18 Palacio de Bellas Artes in Mexiko

19 Brasilien, hat auch die vielfältigste Musik- mündung das alte Teatro da Paz mit einem tradition. Auch hier hat sich das Kultur- Opernfestival wiedereröffnet. Im 19. Jahr- leben vor allem seit der Unabhängigkeit hundert tourten italienische Opernkom- 1822 entwickelt. Ein Dutzend Opernhäuser pagnien regelmäßig an der Küste entlang pfl egt die Musikdramatik – mit wech- bis nach Buenos Aires und hielten so die selnder Qualität. Das berühmteste ist Brasilianer auf dem Laufenden. Ein großer sicherlich das legendäre Teatro Amazonas Opernliebhaber war Kaiser Pedro II., der in Manaus, das seit einiger Zeit wieder 1831 auf den Thron kam und 1889 durch regelmäßig und auf hohem Niveau bespielt einen Militärputsch gestürzt wurde, weil wird. Die Stadttheater von Rio und São er die Sklavenbefreiung betrieb. Er hatte Paulo sind die größten Institutionen, den Bau des Bayreuther Festspielhauses doch auch andere Zentren verfügen über unterstützt und den begabtesten Kom- regelmäßige Operntheater; vor drei Jahren ponisten des Landes zum Studium nach wurde auch in Belém an der Amazonas- Mailand geschickt: Carlos Gomes wurde

20 Teatro la Paz in Belém

und Folklore ins Feld führte. 21 dort ein erfolgreicher Opernkomponist, der (Bachianas Brasileiras) und nationaler den Verismo vorausnahm und auch lateina- Eigenständigkeit seinen Weg fand. Es merikanische Stoffe vertonte. Der Indianer wurden aber auch zahlreiche andere Il Guarany wurde mehrfach von Plácido Komponisten bekannt, so der aus Manaus Domingo gesungen. Am Ende seines Lebens stammende Claudio Santoro (1919-1989) kehrte Gomes 1895 nach Brasilien zurück durch die Verwendung serieller Techniken; und gründete in Belém das Konservatorium, er unterrichtete ab 1970 an der Musik- das er jedoch nur für kurze Zeit leiten konn- hochschule Heidelberg-Mannheim. Wie te, da er schon 1896 starb. Carlos Gomes viele seiner brasilianischen Kollegen war war sicherlich der bedeutendste brasilia- Santoro von dem Deutschen H. J. Koell- nische Künstler des 19. Jahrhunderts. Im reutter ausgebildet worden, der 1939 die 20. Jahrhundert beanspruchte diesen Platz Gruppe Musica viva Brasil gegründet und Heitor Villa-Lobos, ein äußerst eigenwilliger die Zwölftonmusik gegen Nationalismus Komponist, der zwischen Bach-Verehrung

22 Zum Komponisten c Magische Orte

Geboren 1949 in Mexiko Stadt, studierte Daniel Catán Philosophie und Musik an den Universitäten von Sussex und Southampton und schloss sein Studium erfolgreich in Princeton ab. Nach seiner Rückkehr nach Mexiko wurde er mu- sikalischer Verwalter am Palacio de Bellas Artes in Mexiko Stadt. Dort entwi- ckelte er „eine tiefe innere Bindung an Gesang und Oper und an die magische Welt der Bühne“. Die Aufführung seiner zweiten Oper Rappaccini’s Daughter an der San Diego Opera 1994 bedeutete die erste Produktion einer mexikanischen Oper in den

23 Vereinigten Staaten; sie basiert auf der Nacherzählung einer Geschichte von Nathaniel Hawthorne durch Octavio Paz. Gabriel García Márquez, der 1991 die Uraufführung von Rappaccini’s Daughter miterlebt hatte, bot Catán an, mit ihm an einer neuen Oper zu arbeiten. Als Catán aus mehreren Werken des kolumbianischen Schriftstellers eine Opernstory entwickelt hatte, schlug García Márquez ihm Marcela Fuentes-Berain als Librettistin für Florencia vor. Er komponierte das Werk in Tepoztlán, einem magischen Ort oberhalb von Cuernavaca, der einstigen Sommerresidenz der Aztekenherrscher. Diese Oper wurde nach ihrer Uraufführung in Houston, Texas, auch in Seattle, Los An- geles, Manaus und Bogotá gezeigt. In Houston gab es 2002 eine Wiederaufnah- me, in Seattle 2005. Daniel Catán schrieb auch Musik für Orchester, Kammerensemble und Film. En un Doblez del Tiempo (In einer Zeitfalte) wurde 1982 vom Nationalen Sin- fonieorchester unter Sergio Cardenas uraufgeführt und später vom Philharmo-

24 nischen Orchester der Stadt Mexiko eingespielt. Sein Solostück Encan- tamiento für einen Spieler von zwei Blockfl öten wurde von Horacio Fran- co in aller Welt gespielt. Daniel Catán lebt heute in Los Angeles und erhielt dort 1998 den Placido-Domingo-Preis der Los Angeles Opera. Für dieses Haus schreibt er zur Zeit an einer Oper nach der verfi lmten Erzählung Il Postino von Antonio Skármeta, in der Placido Domingo die Rolle Pablo Nerudas übernehmen soll.

25 Zum Libretto J Magischer Realismus in der Oper von Efrain Kristal

Die Verbindung literarischer und musikalischer Traditionen gehört zu den Vor- bedingungen der Opernkunst. Mozart und Rossini wurden durch die Schau- spiele von Beaumarchais inspiriert; Verdis Liebe zu Shakespeare ist in Otello so evident wie in Falstaff; Wagner arbeitete für seinen Ring alte nordische Sa- gen um; Debussy benutzte für Pelléas et Mélisande ein symbolistisches Drama als Libretto. Daniel Catán, der talentierte mexikanische Komponist, bleibt die- ser fruchtbaren Tradition treu: Florencia en el Amazonas ist die bedeutendste

26 Oper, die die lateinamerikanische Literatur von heute fruchtbar macht. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die lateinamerikanischen Schriftsteller ihrer selbst nicht sicher. Sie schrieben in dem Gefühl, dass ihre Originalität von der Geographie und dem Lebensstil der Neuen Welt abhing, doch ebenso in dem offenen Bewusstsein der Unterlegenheit gegenüber dem europäischen Roman. Diese Situation änderte sich schlagartig, als der kubanische Autor Alejo Carpentier die lateinamerikanischen Kollegen dazu aufforderte, die überbordende, exzessive Qualität der lateinamerikanischen Realität zu feiern. Carpentier drängte die lateinamerikanischen Schriftsteller dazu, das auszubeuten, was bisher als unrealistisch und jenseitig unterdrückt wurde. In seinen eigenen Texten schreckte er nicht vor der Schilderung eines Diktators zurück, der eine Festung aus Bullenblut bauen ließ, oder grandio- ser Opernhäuser und Konzertsäle, die auf karibischen Inseln oder mitten im Amazonas-Dschungel entstanden.

27 Der von Carpentier initiierte Stil wurde als Magischer Realismus bekannt und unterstellt entweder eine besondere lateinamerikanische Sensibilität für den Realismus oder dass der lateinamerikanischen Realität etwas Phan- tastisches anhaftet. Der wichtigste Exponent dieser neuen Richtung wurde der Kolumbianer Gabriel García Márquez, der den Nobelpreis für Romane wie Hundert Jahre Einsamkeit erhielt, in denen die Mittel des literarischen Realismus auf die Darstellung phantastischer Ereignisse und die der phanta- stischen Literatur auf die Darstellung des Alltäglichen angewandt werden. Florencia en el Amazonas ist eine Parabel auf das Leben, den Tod und die Liebe, inspiriert durch die reiche literarische Tradition lateinamerikanischer Schriftsteller wie Alejo Carpentier und Gabriel García Márquez. Und tatsäch- lich bezeichnet die Librettistin der Florencia, Marcela Fuentes-Berain, ihre Arbeit als „eine Hommage an Gabriel García Márquez“. Bevor die Oper sich von dem spielerischen und skurrilen Element Lateiname-

28 rikas abhebt, beginnt sie mit einer Szene lateinamerikanischer Tanzrhythmen; sie verbinden sich gut mit Catáns eigenem musikalischen Stil, der das Drän- gen eines Puccini mit den zarten Dissonanzen eines Strawinsky und anderer moderner Komponisten mischt, die die Gefühle ansprechen. Diese Szene ne- ben einem Schiff, das Menschen und Güter auf dem Amazonas transportiert, präsentiert eine reiche Palette von Früchten, Pfl anzen und anderer Produkte der Neuen Welt, die seit Jahrzehnten Gegenstand lateinamerikanischer Litera- tur sind. Wie ihre literarischen Vorbilder unternimmt auch die Oper den Schritt vom Skurrilen zum Wunderbaren, indem sie allzumenschliche Konfl ikte und Vorurteile untersucht. Die oberfl ächlich exotische Atmosphäre, mit der die Oper beginnt, weicht bald einem der anspruchsvollsten Themen lateinameri- kanischer Literatur: Der Flussreise als Ursprung von Wundern, Gefahren und der Selbsterkenntnis, einer neuen Welt, die noch unbenannt ist, einer Welt,

29 deren Natur so verführerisch wie gefahrvoll ist. Florencia, die Titelfi gur, kehrt nach einer langen, erfolgreichen Karriere als Opernsängerin nach Lateiname- rika zurück. Die Diva ist inkognito unterwegs zum Opernhaus von Manaus im Herzen des Amazonas-Dschungels. Ihre Reise bedeutet die Rückkehr zu ihren Ursprüngen und zu Cristóbal, dem Schmetterlingsfänger (ihr amazonischer Papageno), ihrem verlassenen Liebhaber. Ihre Mitreisenden werden von Riolobo vorgestellt, ein magisches Geschöpf des Flusses, das in vielerlei Erscheinungen und Verkleidungen auftritt. Zu ihren Reisegefährten gehören Paula und Alvaro, ein Ehepaar; Rosalba, die Journalistin, die ein Buch über Florencia geschrieben hat; der Kapitän, der im Einklang mit seinem Beruf steht; Arcadio, sein Neffe und Lehrling, der damit unzufrieden ist. Die Oper wird dominiert von dem Bild eines Schiffes, das ins Herz des Dschungels fährt: zum Mittelpunkt des Universums an einer Flussbiegung,

30 eine tiefe Kluft wie eine Liebeswunde, die nach Heilung sucht. Florencia ist auf der Suche nach ihrem Liebhaber, voller Angst, der Dschungel könnte ihn verschluckt haben; Rosalba und Arcadio fi nden unerwartet die Liebe; Paula und Alvaro haben die Liebe vergessen. Tief im Herzen des Dschungels schlägt die Gefahr zu: In der Gefahr müssen sich alle Beteiligten zur Liebe verhalten; je mehr sie jedoch ihre Bindung mit dem Leben festigen, desto risikoreicher leben sie. In der umwerfenden Schluss-Szene der Oper spürt Florencia die Gegenwart ihres Schmetterlingsfängers: Die Oper bleibt geheimnisvoll unentschieden, ob sie ihn fi ndet oder nicht, ob sie überlebt oder nicht. Diese unbeantworteten Fragen werden jedoch gegenstandslos, weil die Oper uns mit einer tieferen Einsicht entlässt, die die persönlichen Fragen ihrer Personen überlagert: Das Gefühl der Aussöhnung mit dem Leben, so wie es ist und wie es den Tod besiegt. Und hier liegt die stärkste Verbindung von Florencia mit Gabriel

31 García Márquez, als eine Hommage an seinen Roman Liebe in den Zeiten der Cholera. In dem Roman wie in der Oper ist die Liebe die Kraft, die dem Leben und dem Tod Bedeutung verleiht: In beidem erleben wir die Erfahrung eines universellen Themas aus lateinamerikanischer Perspektive. (Deutsch von Bernd Feuchtner)

32 Zur Inszenierung g Schönheit und Bedrohung von Michael Beyer

Florencia en el Amazonas erzählt von einer Reise, die uns gleichermaßen äußere und innere Welten entdecken lässt. Die äußere Reise ist schnell be- schrieben: Eine Fahrt auf dem Amazonas von der kolumbianischen Grenzstadt Letica bis kurz vor Manaus. Ein Auftritt der berühmten Sängerin Florencia Grimaldi im Teatro Amazonas der Kautschukstadt ist Anlass und Ziel der Tour. Gleichzeitig führt das Stück in das Innere der Figuren und konfrontiert die Protagonisten mit zentralen, persönlichen Fragen von Selbstverwirklichung,

33 Freiheit, Beziehung, Liebe und Tod. Obwohl das Stück uns zeitlich entrückt ist, wirken die Figuren in ihrer Spaltung zwischen Bindungssehnsucht und Unab- hängigkeitsdrang modern und „heutig“.

Der Komponist Daniel Catán selbst hat gesagt, dass er keinen Postkarten-Ama- zonas abbilden wollte. Auch für uns war die Reproduktion von Exotik keine Option. Zudem bringt die Musik den Amazonas zum Klingen. Wichtiger als das Abbild des Amazonas ist seine Wirkung: Die Verschränkung von Schönheit und Bedrohung, die Isolation und die fi ebrig-erhitzte Atmosphäre schaffen eine erhöhte Sensibilität und werfen die Reisenden auf sich selbst zurück. Die Amazonasfahrt als Chiffre einer Seelenreise und „Prüfung“ ist ein wichtiger Topos der lateinamerikanischen Literatur und zentral auch für das Verständnis von Florencia. Der Kapitän bestätigt diese Metaphorik, wenn er seinem Neffen sagt, auf dem Fluss gehe es immer nur vorwärts, es gäbe kein hin und her, kein

34 „Zurück“. Nur konsequent, dass die Reise kein „Ziel“ erreicht, sondern ihren Endpunkt in der Konfrontation mit der Cholera (einer Todes-Metapher) fi ndet. Jede Erscheinungsform von Natur wird doppeldeutig aufgefasst.

Die Gleichzeitigkeit von „Innen“ und „Außen“ fi ndet ihre Entsprechung in dem Konfl ikt der Titelfi gur. Florencia ist eine Frau, die zwischen „Singen“ und „Leben“ keine Verbindung herstellen konnte und das „Singen“ gewählt und auf ihr eigentliches „Leben“ verzichtet hat. Die Übernahme fremder Identitäten als rollenspielender „Opernstar“ kompensiert den Mangel an eigener Identität. Riolobo, eine Art Flussgeist, der gleichermaßen in der magischen Naturwelt wie der realen Welt der Passagiere zu Hause ist, fi ndet dafür ein schönes Bild, wenn er sagt, Florencia materialisiere sich nur auf der Bühne und sei als Privatperson unsichtbar. Ihr eigentliches, emotionales Leben hat Florencia aufgegeben, als sie ihren Geliebten Cristóbal für ihre Karriere verlassen hat.

35 Nach 20 Jahren in einer schweren Krise angelangt, kehrt sie zum Amazonas zurück, um nach dem Geliebten und damit auch nach ihrem verlorenen „Ich“ zu suchen. Das macht auch den Titel der Oper mehrdeutig: Florencia en el Amazonas – die Diva als Reisende auf dem Amazonas und als liebende Frau im Amazonas. Meint Riolobo also Florencia, wenn er von einem tiefen Riss, einer „Liebeswunde“ tief im Wasser erzählt?

Florencia hat Cristóbal in ihrer Erinnerung konserviert und idealisiert; ge- gen alle Wahrscheinlichkeit hofft sie, ihn „irgendwo“ in Manaus zu treffen, obwohl sie seit 20 Jahren nichts voneinander gehört haben. Doch Florencia muss lernen, dass es, wie der Kapitän sagt, kein „Zurück“ gibt: Cristóbal ist verschwunden, es gibt kein Wiedersehen. Doch der „magische Realismus“ des Gesangs schafft einen Raum, in dem eine Vereinigung der Liebenden auf einer spirituellen Ebene vollzogen wird.

36 Teatro Amazonas in Manaus

37 Dirigent

Noam Zur

Noam Zur ist Erster Kapellmeister und Stellvertretender Generalmusikdirek- tor des Theaters und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg und noch ein Jahr jünger als der GMD. Geboren 1981 in Israel, gilt er als einer der vielversprechendsten Nachwuchsdirigenten seines Landes. 2005 debütierte er beim Israel Philharmonic Orchestra, bei den Bochumer Symphonikern und dem Orchester des Staatstheaters Kassel und im Januar 2006 gab er ein Son- derkonzert mit dem Israel Chamber Orchestra.

38 Im September 2003 dirigierte Noam Zur eine Konzertreise mit dem Schweizer Festival Orchester I Sinfonietti 01 durch Österreich, Deutschland und die Schweiz. Aufgrund dieser Tournee und des überaus positiven Echos der Presse ernannte ihn das Orchester zum Principal Guest Conductor (2003-2005). Nach der erfolgreichen Teilnahme am Wettbewerb in Besançon (September 2001) wurde er Assistant Conductor beim Young Israel Philharmonic Orchestra. Das Jerusalem Symphony Orchestra (RSO) lud ihn ein, im März 2002 die Ur- aufführung von Menachem Zurs Concerto for Orchestra zu dirigieren. Seither arbeitet er regelmäßig mit diesem Orchester zusammen und leitete mehrere Konzertserien. Teilgenommen hat er an Meisterkursen u. a. bei Zubin Metha, Prof. Jorma Panula, Prof. Ilya Musin, Neeme Järvi, Roberto Paternostro, Stephan Tetzlaff und Georg Fritzsch. Im Januar 2003 wurde Noam Zur in das Dirigentenforum des Deutschen Musikrates aufgenommen.

39 Regisseur

Michael Beyer

Michael Beyer wurde in Celle geboren. Er studierte in Hamburg Klavier, Musikpädagogik und Musiktheater-Regie bei Götz Friedrich. Es folgte ein Stu- dium der Filmregie in New York. Von 1993 bis 1997 war er Spielleiter an der Hamburgischen Staatsoper und arbeitete dort mit Regisseuren wie Johannes Schaaf, Harry Kupfer, Ruth Berghaus, Andreas Homoki und Peter Mussbach. Seit 1998 arbeitet er freischaffend für Bühne und Fernsehen. Zu seinen Opernarbeiten zählen Don Pasquale und am Staatstheater

40 Oldenburg, sowie Hänsel und Gretel und Die lustigen Weiber von Windsor am Staatstheater Nürnberg. Für Fernseh- und DVD-Produktionen führte er Regie bei Features über Galina Wischnewskaja, Mstislaw Rostropowitsch und Stephen Sondheim. Die Arbeit als Regisseur von Konzertaufzeichnungen mit Künstlern wie Claudio Abbado, Riccardo Chailly, Pierre Boulez, Mauricio Pol- lini, René Fleming oder Anna Netrebko führen ihn regelmäßig in die großen Musikzentren.

41 Bühnenbild & Kostüme

Hans Richter

Hans Richter hat an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert und anschließend am Staatstheater Stuttgart und am Thalia Theater Hamburg unter anderem für Rolf Glittenberg, Wilfried Minks und Robert Wilson als As- sistent gearbeitet. Seit 1990 arbeitet er freiberufl ich als Bühnenbildner, unter anderem am Volkstheater Wien, am Landestheater Innsbruck, am Thalia Thea- ter Hamburg. In Heidelberg war er zuletzt für die Ausstattung der Inszenierung von Molières Menschenfeind tätig.

42 Am Staatstheater Nürnberg stattete Hans Richter die deutsche Erstaufführung von Jon Fosses Das Mädchen auf dem Sofa in der Regie von Dirk Schulz aus: das „poetisch bebilderte Spiel auf mehreren Zeitebenen in transparenten, stimmungsvoll ausgeleuchteten Räumen des phantastischen Bühnenbildners Hans Richter“ wurde dabei besonders hervorgehoben. An Schmidt’s Tivoli in Hamburg stattete Hans Richter die Show Swinging St. Pauli von Thomas Matschoß aus, der auch Regie führte.

43 Paula

Carolyn Frank, Mezzosopran of Music in Philadelphia fort. Von 1979 bis 1983 war Carolyn Frank als Mezzoso- pranistin am Staatstheater Saarbrücken engagiert. Seit 1986 ist sie Solistin in Heidelberg. Außerdem tritt sie als Konzert- und Oratoriensängerin auf. Am Heidelber- ger Theater ist sie zur Zeit als Prinzessin Margaret in Rombergs Studentenprinz und Carolyn Frank wurde in Georgia/USA ge- als Gräfi n im Wildschütz zu sehen. boren. Nachdem sie am Converse College in South Carolina ihr Bachelor of Music- Diplom mit Auszeichnung erworben hatte, setzte sie ihre Studien am Curtis Institute

44 Alvaro

Aaron Judisch, Bariton Foundation Competition und belegte den jeweils zweiten Platz bei den Wettbe- werben der Palm Beach Opera und der Bel Canto Foundation. Von 2001 bis 2003 war er am Houston Opera Studio und sang verschiedene Rollen an der Hous- ton Grand Opera und bei der Wolf Trap Opera. Der Bariton ist seit der Spielzeit Aaron Judisch wurde in Iowa/USA 04_05 Mitglied des Opernensembles in geboren und absolvierte seine Gesangs- Heidelberg. Nach Egäus in Berenice singt ausbildung am Luther College und an der er zur Zeit den Grafen im Wildschütz. Northwestern University. 2001 gewann er den ersten Preis in der Union League Arts

45 Florencia Grimaldi

Larissa Krokhina, Sopran Musik und am Institut für Musiktheater in Karlsruhe. Anschließende Engagements führten die junge Sopranistin nach Colmar, Bruchsal, Dortmund, Bremen, Hamburg und nach Japan. Ab 2001 war sie Stipendi- atin des Internationalen Opernstudios des Badischen Staatstheaters Karlsruhe. Ab der Spielzeit 05_06 ist sie Ensemblemitglied am Geboren 1974 in Kurgan, Russland. Von Theater und Philharmonischen Orchester 1994 bis 2000 Gesangsstudium an der der Stadt Heidelberg, wo sie zur Zeit auch Chorkunstakademie in Moskau. Ein als Donna Elvira im Don Giovanni, als DAAD Stipendium ermöglichte ihr weitere Kathie im Studentenprinz und als Baronin Studien an der Staatlichen Hochschule für im Wildschütz zu sehen ist.

46 Rosalba

Maraile Lichdi, Sopran machte sie ihren Diplomabschluss in Würzburg. Ihr Operndebüt gab sie 1998 am Staatstheater Stuttgart als Solistin in Al gran sole carico d’amore von Luigi Nono unter Lothar Zagrosek. Des Wei- teren sang sie unter Kwamé Ryan, Roland Kluttig, Alexander Rumpf, Roland Böer und Paolo Carignani. Seit Februar 2000 ist Aus Schwaigern bei Heilbronn stammend, Maraile Lichdi als Ensemblemitglied am studierte Maraile Lichdi Gesang bei Maria Heidelberger Theater engagiert, wo sie zur Venuti, Charlotte Lehmann, Hilde Zadek Zeit auch als Donna Anna im Don Gio- und Carmen Duran sowie Musik-Kinäs- vanni, als Kathie im Studentenprinz und thesie bei Dr. Ernst Huber-Contwig. 1999 als Baronin im Wildschütz zu sehen ist.

47 Arcadio

Winfrid Mikus, der Hochschule für Musik und darstel- lende Kunst Hamburg bei Prof. Naan Pöld. 1991- 2002 war er am Theater der Stadt Heidelberg als Spieltenor engagiert, seit 2002 als Charaktertenor und jugendlicher Heldentenor am gleichen Haus. Gastspiele führten ihn an Opernhäuser wie Hamburg, Berlin (Komische Oper), Stuttgart, Frank- Geboren in Paderborn, erhielt er seine furt, Köln, Zürich, Mannheim, Wiesbaden, erste musikalische Ausbildung im Kna- Kassel, Lübeck und Pforzheim. Daneben benchor Hannover bei Prof. Heinz Hennig. wirkte er an Festspielen mit, Konzertreisen Erster Gesangsunterricht bei Peter Sefcik unternahm er ins europäische Ausland in Hannover, von 1984-1991 Studium an sowie nach Israel, USA und Japan.

48 Kapitän

Wilfried Staber, München, Andechs und Regensburg. Daneben Tätigkeiten als Oratorien- und Liedsänger. Er war 2003 Finalist beim 4. Internationalen Wagnerstimmenwett- bewerb in Bayreuth und im Januar 2004 Preisträger beim Francisco-Vinas-Ge- sangswettbewerb in Barcelona. Seit der Spielzeit 04_05 ist Wilfried Staber Mitglied Gesangsstudium an der Universität für des Opernensembles am Heidelberger Musik und Darstellende Kunst in Graz Theater, wo er zur Zeit auch als Masetto und an der Hochschule für Musik und in Mozarts Don Giovanni und als Baculus Theater in München. Es folgten Verpfl ich- im Wildschütz zu sehen ist. tungen zu Opernproduktionen in Graz,

49 Arcadio

Svetislav Stojanovic, Tenor Opern- und Konzerttätigkeiten führten ihn zum Nimus-Festival in Nis, an die Staats- oper Hannover, das Edinburgh Festival Theatre und nach Belgrad. Er ist u. a. Preis- träger des Nationalen Gesangswettbewerbs in Belgrad, des Nikola-Cvejic-Wettbewerbs und erhielt den Würzburger Förderpreis des Armin-Knab-Wettbewerbs. Seit 05_06 Geboren 1981 in Nis (Serbien). Von 2000 ist er Ensemblemitglied am Heidelber- bis 2004 besuchte er die Musikschule in ger Theater, wo er zur Zeit auch als Don Nis. Seit September 2004 studiert Stojano- Ottavio in Mozarts Don Giovanni und als vic Gesang bei Prof. Leandra Overmann an Baron im Wildschütz zu erleben ist. der Hochschule für Musik Würzburg. Seine

50 Riolobo

Gabriel Urrutia Benet, Bariton Chemie zu. Erst nach dem Diplom begann er sein Gesangsstudium, das er nach Anfängen in Valencia 2004 an der Berliner Universität der Künste abschloss. Erste Engagements führten ihn zur Kammero- per Schloss Rheinsberg und nach Berlin zu Puccinis La Bohème, in einen Berliner Trend-Club von heute versetzt durch Geboren 1976 in Valencia (Spanien). Nach Solvejg Franke, die neue Heidelberger einem Gitarren-, Klavier- und Kompositi- Regieassistentin. In Heidelberg wurde onsstudium am Conservatorio Elemental er als Leporello in Don Giovanni zum de Musica de Valencia wandte sich der Publikumsliebling; mit Florencia wird er Katalane Urrutia Benet zunächst der zum festen Ensemblemitglied.

51 Lateinamerikanische Literatur F Die Neue Welt und Heidelberg

von Alejo Carpentier

Damals verbrachte mein Vater seine Abende über der lutherischen Bibel, die der Katholizismus meiner Mutter so viele Jahre lang in den Schrank verbannt hatte. Verdüstert durch die Witwerschaft, verbittert über eine Einsamkeit, für die ihm die Straße keinen Ersatz bot, hatte mein Vater mit allem gebrochen, was ihn an diese heiße, brodelnde Stadt band, in der ich zur Welt gekommen war, und war nach Nordamerika gezogen, wo er seinen Musikalienhandel mit wenig Glück wieder aufnahm. Die Meditationen über den Ekklesiastes und

52 über die Psalmen verbanden sich in seinem Kopf mit unerwarteten Sehnsüch- ten. Damals fi ng er an, mir über die Arbeiter zu sprechen, die sich die Neunte Sinfonie anhörten. Immer deutlicher übersetzte er seine Misserfolge auf diesem Kontinent in Sehnsucht nach einem Europa, das er nur noch aus der Perspektive der strahlenden Höhen, Apotheosen und Festspiele sah. Das, was er die Neue Welt nannte, war für ihn bloß eine geschichtslose Hemisphäre, weitab von den großen Traditionen des Mittelmeers, ein Indianer- und Neger- Land, bevölkert vom Abschaum der großen Nationen Europas – nicht zu vergessen die klassischen Huren, die von Gendarmen im Dreispitz nach New Orleans verfrachtet worden waren und denen Querfl öten den Abschieds- marsch geblasen hatten – wobei ich immer den Eindruck hatte, dass dieses letzte Detail eher eine Reminiszenz aus seinem Opernrepertoire darstellte. Umgekehrt sprach er von den Vaterländern, des alten Kontinents mit der größten Ehrerbietung und entwarf vor meinen staunenden Augen eine Heidel-

53 berger Universität, die ich mir nur begrünt von ehrwürdigem Efeu vorstellen konnte. So wanderte ich denn im Geist von den Theorben des Engelskonzerts zu den erlauchten Tafeln des Gewandhauses, von Sängerkriegen zu Potsdamer Konzerten und lernte die Namen von Städten, die allein durch ihren Klang Traumstätten heraufbeschworen: Ocker, Gold oder Bronze – wie Bonn, Schwanengefi eder – wie Siena. Was aber mein Vater, für den das Hochhalten bestimmter Grundsätze das eigentliche Haben der Kultur darstellte, vor allem betonte, war die große Ehrfurcht, die man dort dem geheiligten Menschenle- ben entgegenbrachte. Er erzählte mir von Schriftstellern, die in der Abgeschie- denheit ihres Arbeitszimmers ganze Monarchien zum Wanken gebracht hätten, ohne dass irgend jemand sie zu behelligen gewagt hätte. Und immer mündeten seine Reden über Zolas J‘accuse, über Rathenaus Redeschlachten, Töchter der Kapitulation Ludwigs XVI. vor Mirabeau, in Betrachtungen über den unaufhalt- samen Fortschritt, die stufenweise Sozialisierung, eine kollektive Kultur und

54 endeten bei den aufgeklärten Arbeitern, die dort drüben in seiner Geburts- stadt neben einer Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert ihre Mußezeit in öffentlichen Bibliotheken verbrachten und die, statt sonntags in der Messe zu verdummen – der Kult der Wissenschaften hatte dort den Aberglauben abgelöst – mit ihren Familien in die Konzertsäle strömten, um die Neunte Sinfonie anzuhören. So sah ich sie denn seit meiner Jugend, diese Arbeiter in blauen Blusen und Kordsamthosen, wie sie tief ergriffen von dem genialen Atem des Beethovenschen Werks vielleicht gerade demselben Trio lauschten, dessen warme, schmeichelnde Phrasierung jetzt in den Stimmen der Violon- celli und Bratschen aufklang. Der Zauber dieser Vision hatte so stark gewirkt, dass ich nach dem Tod meines Vaters das wenige Geld aus seiner mageren Erbschaft und den Erlös aus dem Verkauf von Sonaten und Partituren dazu verwendet hatte, meine geistige Heimat kennenzulernen. Eines schönen Tages überquerte ich den Ozean und war fest überzeugt, dass ich niemals zurückkeh-

55 ren würde. Aber am Ende einer Lehrzeit des Staunens, die ich später scherz- haft die Anbetung der Fassaden nannte, begegnete mir eine Wirklichkeit, die zu den Lehren meines Vaters auffallend im Widerspruch stand. Weit entfernt, die Augen auf die Neunte Sinfonie zu heften, war die Intelligenz geradezu darauf versessen, im Gleichschritt durch Triumphbögen aus roh gezimmertem Holz und Totempfählen mit alten Sonnensymbolen zu marschieren. Der Übergang von Marmor und Bronze früherer Apotheosen zu einem gigantischen Aufwand an Fichtenholz, Einwegbrettern und Wahrzeichen aus steifem Goldpapier hätte diese Menschen, die da vor dem Lautsprecher den allzu aufgeblähten Worten lauschten, misstrauischer machen sollen, dachte ich. Aber es sah nicht aus, als ob es so wäre. Jedermann hielt sich für ungeheuer berufen, viele setzten sich zur Rechten Gottes und richteten über Menschen früherer Zeiten, die das Verbrechen begangen hatten, die Zukunft nicht vorauszusehen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Heidelberger

56 Teatro Colón in Buenos Aires

57 Metaphysiker im Stechschritt seinen jungen Philosophen zum Wahllokal vorausmarschierte, um seine Stimme denen zu geben, die alles, was auch nur den Anschein von Geistigkeit erweckte, dem Gespött preisgaben. Ich habe gesehen, wie Paare zur Sommersonnenwende auf den Blocksberg stiegen, um alte, längst sinnlos gewordene Weihefeuer zu entzünden. Aber nichts hatte mich so beeindruckt wie diese Vorladung vor Gericht, dieses grabschände- rische, strafende Hervorzerren eines großen Toten, der eine Sinfonie mit dem Choral des Augsburger Bekenntnisses enden ließ, oder jenes, der mit seiner so reinen Stimme vor den graugrünen Wellen der Nordsee ausgerufen hatte: "Ich liebe das Meer wie meine Seele." Ich hatte es satt, mir das Lyrische Intermezzo nur fl üsternd aufsagen zu dürfen und ständig davon reden zu hören, dass wieder eine Leiche auf der Straße aufgefunden worden war, dass neue Terror- aktionen und neue Auswanderungen bevorstanden, und so fl üchtete ich wie in den Schutz heiliger Stätten in den tröstlichen Halbschatten der Museen und

58 begann dort meine ausgedehnten Reisen durch die Zeit. Aber sooft ich aus den Pinakotheken kam, war es draußen nur noch schlimmer. Die Zeitungen riefen zum Mord auf. Die Gläubigen zitterten unter der Kanzel, wenn ihre Bischöfe die Stimme erhoben. Die Rabbiner versteckten die Thora, die protestantischen Pfarrer wurden aus ihren Kirchen vertrieben. Vor aller Augen wurden die Riten aufgelöst, das Wort zerbrochen. Nachts warfen Studenten altehrwürdiger Fakultäten auf öffentlichen Plätzen Bücher in brennende Scheiterhaufen. Auf Schritt und Tritt stieß man in diesem Kontinent auf die Photographien von Kindern, die bei der Bombardierung offener Ortschaften getötet worden waren, hörte man von Gelehrten, die in Salzbergwerken gefangengehalten wurden, von rätselhaften Entführungen, Hetzjagden und Fensterstürzen, von Bauern, die in der Stierkampfarena erschossen wurden. Ich staunte über den Unterschied zwischen der Welt, nach der mein Vater sich so sehr gesehnt hatte, und der, die ich hier, empört und zutiefst verwundet, zur Kenntnis nehmen

59 musste. Wo immer ich das Lächeln eines Erasmus, den Discours de La Metho- de, den humanistischen Geist, den faustischen Drang und die apollinische Seele suchte, stieß ich auf Autodafés und Ketzergerichte, auf die politischen Prozesse, die nur eine andere Art von Gottesurteilen waren. Kein berühmtes Tympanon, keinen Glockenturm, keinen Wasserspeier oder lächelnden Engel konnte man sich ansehen, ohne dass einem nicht gesagt wurde, darin kündige sich bereits die neue Bewegung an, und das, was die Hirten vor der Krippe anbeteten, sei eigentlich gar nicht das, was der Krippe ihren Glanz verleihe. Ich hatte diese Epoche satt. Und der Gedanke war schrecklich, dass es in dieser Welt ohne Verstecke, in dieser seit Jahrhunderten gebändigten Natur, wo eine fast vollständige Synchronisation aller Existenzen dazu geführt hatte, dass nur noch um zwei oder drei zu Tode gerittene Probleme gekämpft wurde, keinen Fluchtweg gab außer der Phantasie. Propagandareden ersetzten die Mythen, Slogans die Dogmen. Angeekelt von den in Erz gegossenen Gemein-

60 plätzen, von der zensierten Schrift und den menschenleeren Hörsälen reiste ich wieder dem Atlantik zu, ent- schlossen, ihn nun in umgekehrter Richtung zu überqueren. Zwei Tage vor meiner Abreise betrachtete ich einen kaum bekannten Totentanz auf den Holzbalken des Beinhauses von Saint Sympho- rien in Blois. Es war eine Art Scheunenhof, überwuchert von Unkraut, einge- sponnen in jahrhundertealte Trauer, und über den Pfeilern war noch einmal das unerschöpfl iche Thema abgehandelt: die Eitelkeit allen Prunks, Skelette unter wollüstigem Fleisch, vermoderte Rippen unter dem Messgewand des Prälaten, unter dem Kleid des Trommlers, der in diesem Knochenkonzert mit zwei Schienbeinen die Trommel schlug. Aber der armselige Scheunenhof als Kulisse für dieses unvergängliche Gleichnis, nahe dabei der trübe, aufgewühlte Fluss, die Bauernhöfe und Fabriken ringsum, die Schweine, die sich unter dem jahrhundertealten, vom Regen graugewaschenen Schnitzwerk dieser Figuren des Todes suhlten wie das Schwein des heiligen Antonius, gaben diesem Bild

61 von Asche, Staub und Vergänglich- keit eine einzigartige Gültigkeit in der Gegenwart. Und die in Beetho- vens Scherzo so häufi g gerührten Pauken gewannen schicksalhafte Aussagekraft, als ich sie mit jener Darstellung im Beinhaus von Blois zusammenhielt, vor dem mich, als ich es verließ, die Nachtausgaben der Zeitungen mit der Nachricht vom Ausbruch des Krieges überraschten.

Stadttheater São Paulo Impressum Herausgeber: Theater und Philharmonisches Botond, Frankfurt 1977, S. 114-119. Orchester der Stadt Heidelberg Die Beiträge von Michael Beyer und Bernd Intendant: Peter Spuhler Feuchtner sind Originalbeiträge für dieses Heft. Verwaltungsleiterin: Andrea Bopp Redaktion: Bernd Feuchtner Wenn wir trotz unserer Bemühungen Rechte- Gestaltung: atelier september inhaber übersehen haben sollten, bitten wir Herstellung: abcdruck GmbH, Heidelberg um Nachricht. Anzeigen: Greilich / Neutard Internet: www.theaterheidelberg.de Nachweise Fotos: Archiv. Theater und Philharmonisches Orchester Texte: Efrain Kristal: Booklet von Albany der Stadt Heidelberg Records. Alejo Carpentier, Die verlorenen 2005_06, Programmheft Nr. 25 Spuren, aus dem Spanischen von Anneliese

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