EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Impressum

Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory

Diese Broschüre ist eine Publikation von ERIH, dem touristischen Informationsnetzwerk zum industriellen Erbe in Europa

Text Dr. Barrie Trinder, Olney, Buckinghamshire, GB www.trinderhistory.co.uk

Textübersetzung in die deutsche Sprache Lorenz Töpperwien, Köln, D www.tt-textteam.de

Redaktion Rainer Klenner, Kaarst, D

Layout Volker Pecher, Essen, D

Fotos Soweit nicht bei der jeweiligen Bildunterschrift anders angegeben, wurden die Fotos von den vorgestellten Standorten, von Tourismusorganisationen oder von den Fotografen des ERIH e. V. mit freundlicher Genehmigung zur Verwendung zur Verfügung gestellt

Copyright Alle Rechte vorbehalten. Nachdrucke, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssystem jeglicher Art, nur mit vorherigen schriftlichen Einwilligung des ERIH e. V.:

ERIH - Europäische Route der Industriekultur e. V. Geschäftsstelle concept & beratung Christiane Baum Am Striebruch 42, 40668 Meerbusch, Deutschland Tel +49-2150-756496 Fax +49-2150-756497 Email [email protected] www.erih.net

Presserechtlich verantwortlich Prof. Dr. Meinrad Maria Grewenig, Präsident ERIH e. V., Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Die Erstellung dieser Broschüre ist durch das Förderprogramm „Kreatives Europa“ der Europäischen Union unterstützt worden

1. Auflage 2017 © ERIH – European Route of Industrial Heritage e. V. Impressum

Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory Inhalt

Diese Broschüre ist eine Publikation von ERIH, dem touristischen Informationsnetzwerk zum industriellen Erbe in Europa 05 Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory: Einleitung 06 Wie Europa sich seines industriellen Erbes bewusst wird Text 08 Europa in vorindustrieller Zeit Dr. Barrie Trinder, Olney, Buckinghamshire, GB 10 Kleine Schiffe, große Distanzen: Der internationale Handel www.trinderhistory.co.uk 12 Die Schätze unserer Erde 14 Traditionsreiche Industriezweige Textübersetzung in die deutsche Sprache 16 Weißes Gold: Salz Lorenz Töpperwien, Köln, D 18 Kohle & Dampf: Die Industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts www.tt-textteam.de 20 Veränderungen seit 1870 22 Schwarzes Gold: Der Aufstieg des Kohlebergbaus Redaktion 24 Die Kohle triumphiert Rainer Klenner, Kaarst, D 26 Reichtum der Metalle 28 Das Glühen der Öfen und Schmiedefeuer: Eisenverarbeitung Layout 30 Textilien: Die Arbeitsabläufe Volker Pecher, Essen, D 32 Gewebte Magie: Seide 34 Vielfalt der Stoffe Fotos 40 Werkstätten der Welt: Maschinenbau Soweit nicht bei der jeweiligen Bildunterschrift anders angegeben, wurden die Fotos von den 42 Schiffe für den Welthandel vorgestellten Standorten, von Tourismusorganisationen oder von den Fotografen des ERIH e. V. mit 44 Das Öl und der Kraftwagen freundlicher Genehmigung zur Verwendung zur Verfügung gestellt 46 Aus den Tiefen dunkler Wälder 48 Unser Essen & Trinken Copyright 50 Luxus & Alltag: Keramik & Glas Alle Rechte vorbehalten. Nachdrucke, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und 52 Sicherer Hafen Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssystem jeglicher Art, 54 Binnenschifffahrt nur mit vorherigen schriftlichen Einwilligung des ERIH e. V.: 56 Der Fortschritt kommt auf eisernen Schienen 58 Fernstraßen ERIH - Europäische Route der Industriekultur e. V. 60 Flugmaschinen Geschäftsstelle 62 Blaues Gold: Wasser – Wie Städte bewohnbar werden concept & beratung 64 Das Leben in Städten Christiane Baum 66 Industrielles Erbe Am Striebruch 42, 40668 Meerbusch, Deutschland 68 Unser Platz in der Geschichte Tel +49-2150-756496 70 Betrachtungen Fax +49-2150-756497 Email [email protected] www.erih.net

Presserechtlich verantwortlich Prof. Dr. Meinrad Maria Grewenig, Präsident ERIH e. V., Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Die Erstellung dieser Broschüre ist durch das Förderprogramm „Kreatives Europa“ der Europäischen Union unterstützt worden Zuordnung der Bildunterschriften: von links nach rechts und von oben nach unten 1. Auflage 2017 ERIH-Ankerpunkt © ERIH – European Route of Industrial Heritage e. V. 04 | 05 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Europas industrielles Erbe – eine internationale Erfolgsstory Einleitung

Die Industrialisierung war von Anfang an ein grenzüberschreitendes Ereignis, keine nationale Entwicklung. Neue Technologien und Produktionsformen verbreiteten sich in Europa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in großem Tempo über Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Fabri- kanten errichteten ihre Werkshallen in verschiedenen Ländern, Legionen von Arbeitskräften machten sich auf den Weg in die aufstrebenden Industrieregionen. In ganz Europa erkämpf- ten Gewerkschaften nach und nach die Errungenschaften des europäischen Sozialstaats. Die Basis unseres modernen Europas mit seinem hohen Wohlstand und den hohen sozialen und medizinischen Versorgungsstandards wurde gelegt. Jedes Industriedenkmal, jede Stadt, jede Arbeitersiedlung war und ist Teil dieser zunächst europäischen und später weltweiten Entwicklung. Nur erfährt der Besucher heute meist nichts davon. Das eng miteinander verflochtene Netzwerk europäischer Industrieregionen, die sich gegenseitig befruchten und verstärken – für die Mehrzahl heutiger Industriekultur-Stand- orte ist das bisher kein Thema. Das muss sich ändern. Das ERIH-Netzwerk macht die europäischen Zusammenhänge der Industrialisierung sichtbar und bietet damit gemeinsame europäische Geschichte zum Anfas- sen. An über 1.500 Standorten in allen europäischen Ländern erleben Besucher die ganze Vielfalt, die sich hinter dem Begriff Industriekultur verbirgt. 100 Ankerpunkte, 20 regionale Routen und 13 Themenrouten fügen das europäische Erbe der Industrialisierung wie in einem Mosaikbild zusammen. Ziel ist es, dass in Zukunft jeder einzelne ERIH-Standort verstärkt dieses Mosaikbild aufgreift und seinen Besuchern eine Vorstellung von den vielfältigen europäischen Verflechtungen vermittelt. Unterstützung erhält ERIH dabei vom Europäischen Förderprogramm „Creative Europe“. Als anerkanntes Netzwerk für Industriekultur in Europa wird ERIH seit 2014 gefördert. Im Rahmen dieser Netzwerkförderung ist auch die vorliegende Broschüre entstanden. Sie soll ERIH-Standorten einen ersten Anstoß dafür geben, wie sie die europäischen Zusammen- hänge aufzeigen und erklären können. Ähnlich den ERIH-Themenrouten skizziert sie die Ge- schichte der einzelnen Industriezweige als spannendes europäisches Schauspiel. Dabei kann und will sie nicht alle Bereiche abdecken. Vielmehr will sie dazu anregen, sich detaillierter mit der internationalen Seite der europäischen Industriekultur zu beschäftigen, um dadurch auch Impulse für die museale Umsetzung im eigenen Haus zu vermitteln. Der Zeitpunkt ist günstig: Die EU hat das Jahr 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr ausgerufen. Im Blickpunkt steht das Verbindende der gemeinsamen kulturellen Wurzeln und zugleich die kulturelle Vielfalt des Kontinents. In der europäischen Industriekultur, dem spezi- fischen kulturellen Erbe eines Europas der Regionen, fließt beides beispielhaft zusammen. Die Broschüre ist eine erste Annäherung an das umfangreiche Thema. Wir freuen uns über Ergänzungen und Ideen, um diese spannende Geschichte fortzuschreiben.

04 | 05 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Wie Europa sich seines industriellen Erbes bewusst wird

der Industriegeschichte für die Nach- welt zu erhalten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gestiegene Popularität der industriellen Hinterlassenschaften einer international gesunkenen Bedeu- tung Europas im Hinblick auf Bergbau und produzierendes Gewerbe gegen- übersteht. Die Industrie hat sehr alte Wurzeln, trat ihren Siegeszug in den meisten europäischen Ländern jedoch erst im 18. Jahrhundert an. Im frühen 21. Jahrhundert erleben wir die Schlie- ßung der letzten Steinkohlezechen in Westeuropa, und die gewaltigen Maschinen, die noch vor kurzem zum Abbau von Braunkohle Verwendung fanden, sind rasch überflüssig gewor- den. Gezählt sind die Tage von riesigen Werksanlagen, die scheinbar für die Ewigkeit geschaffen waren, von Eisen- hütten, Ölraffinerien und Autofabriken. Selbst Standorte und Maschinen, die scheinbar charakteristisch für das späte 20. Jahrhundert waren, gehören nun zum alten Eisen. Ungarn besitzt ein Museum für Nuklearenergie, und Museen in Frankreich und Großbritan- nien zeigen Concorde-Überschallflug- Im letzten halben Jahrhundert gibt es aristokratischen Villen, historischen zeuge. Da den Industriegesellschaften für Familienausflüge und Bildungsreisen Stadtkernen und faszinierenden Land- unterschiedliche Entwicklungswege ganz neue Ziele. Prächtigen Paläste schaften als ein besonderes Erlebnis, offenstehen, greifen sie bei der Suche mit ihren Sammlungen alter Meister das viele Menschen suchen. nach neuen Wachstumszielen gern auf und feiner Möbel, elegante Parks und Den Erhalt stillgelegter Fabrikgebäu- das Erbe der Vergangenheit zurück. Die Bergwasserfälle bekommen zunehmend de und die Gründung von Industrie- Europäische Route der Industriekultur Konkurrenz durch Besucherbergwerke, museen unterstützen und betreiben will dazu beitragen, die bisherigen Er- Dampfeisenbahnen, Ausflugsboote viele: ehemalige Werksangestellte, na- fahrungen in Bergbau und industrieller auf Kanälen, funktionstüchtige Was- tionale, regionale und lokale Behörden, Produktion zu teilen und Herstellungs- ser- und Windmühlen sowie ehemalige Entscheidungsträger aller politischen prozesse und Transportwege der jünge- Textilfabriken als Veranstaltungsorte Schattierungen, traditionsbewusste ren Jahrhunderte zu veranschaulichen. für Konzerte oder Ausstellungen. Das Unternehmen, vor allem aber zahlreiche Die ERIH-Website bietet praktische industrielle Erbe ist kein Nischenmarkt bürgerschaftliche Initiativen und Ver- Unterstützung für Reisende. Überdies mehr, sondern tritt in Wettbewerb mit eine, denen es wichtig ist, Zeugnisse ermöglicht sie es ihren Lesern, selbst

06 | 07 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Zeuge eines Feuerwerks in der Ei- senhütte von Merthyr in Süd-Wales. Friedrich Engels (1820–95) und Alexis de Tocqueville (1805–59) verfassen die mittlerweile klassischen Berichte über „Klein-Irland“, damals die schlimmsten Slums von Manchester, und Thomas C. Banfield beschreibt 1848 ausführlich die Landwirtschaft und die Manufaktu- ren an den Ufern des Rheins.

die entferntesten Regionen Europas Sturm auf die Bastille erfährt er, als er virtuell zu erforschen. Besucher der Straßburg erreicht) und prägt mit dem Website folgen den Spuren von Reisen- Motto „Dinge sind so viel aussagekräf- den, deren Texte uns die industrielle tiger als Worte“ eine archäologische Essen (D) Vergangenheit unmittelbar erschließen. Binsenweisheit. Karl Friedrich Schinkel Welterbe Kokerei Zollverein, Der Schwede Reinhold Rücker Anger- (1781–1841), der große preußische Illumination

stein (1718–60) etwa, der 1753–55 Architekt, berichtet 1826 aufgeregt Le Bourget (F) besucht, liefert die faszinie- von seinem Besuch der Menai-Hänge- Luft- und Raumfahrtmuseum, rende Beschreibung eines Landes an brücke und des Pontcysyllte-Aquä- Concorde der Schwelle der Industriellen Revo- dukts in Nord-Wales. An einem Abend Petite Rosselle (F) lution. Arthur Young (1741–1820), ein im Jahr 1844 wird Carl Gustaf Carus La Mine englischer Landwirt, beobachtet 1789 (1789–1869), Leibarzt König Friedrich Ostrau (CZ) Hüttenwerk Vitkovice, auf seiner Reise von Lothringen ins Augusts II. von Sachsen, gemeinsam zur Multifunktionshalle umgenutzter Elsass kulturelle Veränderungen (vom mit seinem königlichen Dienstherrn Gasometer

06 | 07 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Europa in vorindustrieller Zeit

des Römischen Reiches spiegeln sich in südfranzösischer oder rheinischer Terra- Sigillata-Keramik wider, die in Großbri- tannien ausgegraben wurde, oder in der Amphore, in der Wein und Olivenöl vom Mittelmeer nach Nordeuropa gelangten. Über viele Jahrhunderte hinweg prägten Erzabbau und Metallverarbeitung das Erzgebirge, den Harz und die Region bei Falun in Schweden. Im Mittelalter waren Wollstoffe und Salz begehrte Fernhandelsprodukte, und in der Folge der Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts strömten Seide, Kaf- fee, Kartoffeln, Porzellan und Gewürze nach Europa und bewirkten dort einen tiefgreifenden Wandel der Lebensweise. Dennoch sehen wir erst in der Industri- ellen Revolution des 18. Jahrhunderts die ersten Anzeichen der Globalisierung: Innovationen steigerten die Eisenpro- duktion, der Kohleabbau wuchs in großem Maßstab, mit der Dampfma- schine gab es eine neue Energiequelle, Fabriken zentralisierten die Textilher- stellung, und bessere Straßen, Kanäle und später auch Eisenbahnen erhöhten die Reisegeschwindigkeit und sorgten für erweiterte Kapazitäten des Waren- Wir Europäer leben in einer Welt, in der transports. die meisten Haushaltsgeräte, die wir be- Wie die Lebensbedingungen vor der nutzen – die elektronischen Geräte, die Industriellen Revolution tatsächlich uns zur Unterhaltung und zum Austausch aussahen, können wir am besten in den mit Freunden dienen, die Kleidung, die wir Freilichtmuseen Nordeuropas nach- tragen, die Bücher, die wir lesen, ja oft so- empfinden. Die großen Bauernhäuser gar das Essen, das wir zu uns nehmen – Westfalens in Detmold, jene aus Flan- Fabrikware sind, die lange Transportwege dern in Bokrijk, aus den Niederlanden hinter sich hat. Es ist schwer, sich eine in Arnhem, aus Galizien in Sanok oder Welt vorzustellen, in der dies nicht so war. die Höfe im Norwegischen Volkskunde- Schon in prähistorischer Zeit gab museum in Oslo oder in Maihaugen in es Orte, die auf bestimmte, über große Lillehammer – sie alle waren bewohnt Entfernungen gehandelte Produkte spe- von Familien, die sich größtenteils zialisiert waren. Die Handelsbeziehungen selbst versorgten. Viele dieser Häuser

08 | 09 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY waren zweigeteilt: Auf der einen Seite Müller in Wasser- oder Windmühlen zu lagen die Wohnräume, auf der anderen Mehl. Doch selbst in wohlhabenden die Ställe für die Tiere. Aus der Kuhmilch Gebieten mussten einige Familien mit stellten die Bauern Käse und Butter her, kleinen Bauernhäusern vorlieb nehmen. das aus Gerste gewonnene Malz verar- Sie lebten in baufälligen Hütten und beiteten sie zu Bier und aus der Wolle litten Hunger in Zeiten von Missernten. ihrer Schafe oder aus dem Flachs und Die Lebensverhältnisse in Südeuropa, Hanf, die sie um ihre Gehöfte anbauten, wo Familien Olivenöl anstelle von Butter

spannen sie Garn. Zusätzlich nahmen gewannen und Wein kelterten, anstatt Arnheim (NL) sie die Dienste spezialisierter lokaler Bier zu brauen, unterschieden sich Freilichtmuseum Handwerker in Anspruch: Weber webten in mancher Hinsicht, doch auch hier Lillehammer (N) ihr Garn zu Stoffen, Schreiner zimmer- waren die Menschen zum Teil Selbst- Freilichtmuseum Maihaugen ten ihre Möbel und Schmiede schmiede- versorger. Detmold (D) ten ihre Werkzeuge. Ihr Getreide mahlten LWL-Freilichtmuseum (LWL)

08 | 09 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Kleine Schiffe, große Distanzen: Der internationale Handel

hierherbrachten. In Göteborg (S) liegt der 1993 fertiggestellte Nachbau eines historischen Schiffes der schwedischen Ostindien-Kompanie, das den Namen der Stadt trug und 1745 kurz vor der Einfahrt in den Heimathafen sank. Das Göteborger Stadtmuseum residiert in Büros und Lagerhäusern, die zwischen 1747 und 1762 für ortsansässige Handelsunternehmen errichtet wurden. Gleich mehrere westeuropäische Länder gründeten Unternehmen, die mit China und anderen Partnern im Fernen Osten Handelsbeziehungen anknüpften oder dies zumindest versuchten. Frankreich operierte dabei aus dem Hafen von Brest, das Habsburger Reich aus Ant- werpen und Großbritannien aus London. Viele Häfen und Handelsstädte in Europa standen mit der Hanse in Verbin- dung, einer Vereinigung von Handelsgil- den aus überwiegend deutschen Städ- ten, die ihre Blütezeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert erlebte, mit dem Aufstieg der holländischen Seemacht im 17. Jahrhundert jedoch zunehmend an Einfluss verlor und deren Vertreter zum letzten Mal 1669 gemeinsam tagten. Die Hanse unterhielt einen Handels- Harlingen ist ein kleiner niederländi- der noch vorhandenen Beschriftungen stützpunkt in Bergen (Norwegen). Dort, scher Nordseehafen 10 km nordöstlich mit Russland, Polen, Java und Sumatra auf dem sogenannten Tysksebryggen vom Abschlussdeichs des Ijsselmeeres handelten. Verbindungen zwischen (Deutschen Kai), lagerte sie geräucher- und dient jetzt als Fährhafen für die Europa und entfernten Erdteilen ver- ten und getrockneten Fisch, Lebertran Westfriesischen Inseln. Der Ort ist reich rät auch die Sammlung historischer und Fischrogen und verschiffte die an Zeugnissen des internationalen Schiffe im niederländischen Enkhuizen. Waren im Austausch gegen Salz nach Handels im 17. und 18. Jahrhundert. Zu Ausgestellt werden sie im Peperhuis, Südeuropa. In einem der ehemaligen jener Zeit säumten Werften, Kalköfen, einem Lagerhaus der niederländischen Lagerhäuser residiert heute ein Hanse- Töpfereien und Salzsiedepfannen das Ostindien-Kompanie aus dem 17. Jahr- Museum. Zu den deutschen Herstellern, Hafenbecken und auch die Schiffe und hundert. Die zahlreichen Windmühlen die von der Hanse profitierten, gehörten Trockenschuppen der örtlichen Fischer von Zaanse Schans in Zaandam (NL) unter anderem die Drahtzieher in Altena lagen dort. Der bedeutendste Hinweis wiederum verarbeiteten viele Rohstof- im Sauerland, die in großem Maßstab auf internationale Handelsbeziehungen fe, die örtliche Schiffe nach langen Metallbefestigungen nach Skandinavien sind Warenlager von Kaufleuten, die laut Handelsfahrten in den fernen Osten exportierten.

10 | 11 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Viele Fernhandelsrouten existierten Kolonialprodukte nach Europa verschob. bereits vor der Industriellen Revolution Für Hersteller in Europa lieferte der Fern- des achtzehnten Jahrhunderts, etwa die handel vor allem Rohstoffe. Zu Beginn Verschiffung von Getreide und Nadelhöl- des 18. Jahrhunderts wurden die euro- zern nach Westeuropa aus Ostseehäfen päischen Fernhandelshäfen zu Verar- wie Danzig, Riga und Memel (Klaipėda). beitungszentren für Zucker, Tee, Kaffee, Fest etabliert war auch der Handel von Tabak, Gewürze und Farbstoffe – Pro- Wein und Olivenöl aus den Mittelmeer- dukte, die den Alltag der Menschen in ländern in den Norden. Das Museum vielerlei Hinsicht veränderten. der Sklaverei in thematisiert

den berüchtigten Dreieckshandel, der Bergen (N) Textilien und Metallprodukte nach West- Welterbe Deutsche Brücke

afrika, schwarze Sklaven nach Amerika Zaandam (NL) und Zucker, Baumwolle und andere Zaanse Schans

10 | 11 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Die Schätze unserer Erde

Besucher, die sich der großen Kupfermi- nach bei und verfügt noch über zahlreiche eine wichtige Rolle in der Münzprägung ne bei Falun (Schweden) nähern, sehen Gebäude und Anlagen des 18. und 19. und als Material für Luxuswaren. zuerst ein gewaltiges Loch – entstanden Jahrhunderts. Erst im letzten Viertel des Im Erzgebirge, das sich von Sachsen durch das Absacken des Bodens im Jahr 20. Jahrhunderts kam der Kupferbergbau bis in die heutige Tschechische Republik 1687. In dem Gebäude, das das Firmen- zum Erliegen. erstreckt, gab es Bergwerke für Blei, museum beherbergt, treffen sie anschlie- Nichteisenmetalle dienten verschie- Silber, Eisen, Zink, Zinn, Nickel, Kobalt ßend auf eine am 16. Juni 1288 ausge- denen Zwecken. Blei und Zinn waren die und Uran. Bergarbeiter aus dem Harz stellte Urkunde sowie Fundstücke aus Bestandteile einer Legierung, aus der begannen bereits 1168, im Erzgebirge dem Bergbau, die noch älter sind. Das in ganz Europa Zinnteller und anderes Eisen- und Silbererze abzubauen. Einen macht mehr als deutlich, dass die Indust- Zinngeschirr hergestellt wurde. Messing, Höhepunkt erreichte der Bergbau im rialisierung nicht erst im 18. Jahrhundert eine Kupfer-Zink-Legierung, war ebenfalls Erzgebirge im 15. und 16. Jahrhundert. begann. Wie andere alte Erzlagerstätten Bestandteil der meisten Haushalte mit Zu jener Zeit fand er Eingang in das behielt Falun seine Bedeutung auch wäh- Ausnahme besonders armer Familien. Werk „De Re Metallica“ des Chemnitzer rend der Industriellen Revolution und da- Gold und Silber spielten, wie zu erwarten, Arztes Georgius Agricola (1494–1555). Das bedeutendste Bergbaumuseum der Region besitzt Freiberg – jener Ort, an dem 1765 eine der ältesten Bergbau-Akademien gegründet wurde. Bis heute feiern die Menschen hier öffentliche Bergbaufeste und tragen zu bestimmten Anlässen die traditionelle Bergmannskluft. Einen großen Komplex von Übertageanlagen anno 1839 vereint der Abrahamschacht in Freiberg. Dazu gehören auch Schuppen für die Erzauf- bereitung. Die Schachtanlage Alte Eli- sabeth ist ein geneigter Stollen aus den 1840er Jahren, dessen Förderbetrieb eine 1848-49 installierte Dampfmaschi- ne der Firma Constantin Pfaff in Chem- nitz sicherstellte. Das Bergbaumuseum in Altenberg residiert in einem Pochwerk, das 1577 erstmals in den Urkunden auftaucht und bis 1952 in Betrieb war. Hier starten zugleich die Führungen durch die Altenberger Pinge, einen vom Bergbau hinterlassenen Einbruchkrater, der bei einer Fläche von 12 Hektar einen Durchmesser von bis zu 450 Metern und eine Tiefe von 130 Metern erreicht. Die Geschichte des Bergbaus im Harz kommt am besten in den Zwillings- städten Clausthal und Zellerfeld zum

12 | 13 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Ausdruck. Dort haben sich umfangreiche komotiven und das rekonstruierte Haus Überreste von Wasserkraftanlagen des eines Bergmanns. Wer mag, kann von 16. Jahrhunderts erhalten. Zudem steht hier aus zu einer umfassenden geführten dort noch eine Reihe von Übertageanla- Tour durch ein Schaubergwerk starten. gen, etwa auf dem Gelände der Grube Die Silberminen bei Tarnowskie Góry Dorothee anno 1713, und auch das in der Nähe von Kattowitz (Polen) gehen Oberharzer Bergbaumuseum hat dort ebenfalls auf das Mittelalter zurück. Der seinen Platz. Am in Goslar Betrieb endete im frühen 20. Jahrhun- treffen Besucher auf bemerkenswert frü- dert, seit den 1950er Jahren ist das he Bergwerke. Dazu zählen neben dem Gelände für die Öffentlichkeit zugänglich. Rathstiefste Stollen (ca. 1140) und dem Auf die Besucher wartet eine 1.700 Me- Feuerzäher-Gewölbe (ca. 1360) auch ter lange Tour durch ehemalige Stollen, mit Bauschmuck versehene Eingänge zu zu deren Highlights eine 270 Meter lange später entstandenen Stollen sowie eine Bootsfahrt auf einem unterirdischen Erzaufbereitungsanlage aus den Jahren Kanal gehört – ein Erlebnis, das kein 1936-38. Einen Überblick über die Ent- anderes Bergbaumuseum bietet. Eisenerz (A) wicklung des Industriezweigs insgesamt Der Erzberg in Österreich, manchmal Erzberg gibt das Museum und Besucherbergwerk auch Steirischer Brotlaib genannt, war Falun (S) Rammelsberg. spätestens im 12. Jahrhundert – wenn Welterbe Bergwerk Falun Auf eine ganz ähnliche Geschichte nicht schon seit dem ersten Erzfund im Goslar (D) blickt Banská Štiavnica in der heutigen Jahr 712 – eine von Europas wichtigsten Welterbe Rammelsberg, Slowakei zurück. Schon im 13. Jahr- Erzquellen. Das Museum in Eisenerz Museum & Besucherbergwerk

hundert war der Ort als Fundstätte für und die 40 Kilometer lange Steirische Tarnowski Góry (PL) Silber, Blei und Eisenerz bekannt. Ein Teil Eisenstraße zu den Industriedenkmälern Welterbe Historisches Silberbergwerk

des örtlichen Bergbaumuseums logiert zwischen Leoben und Hieflau erzählen je- Pendeen (GB) im Kammerhof, in dem ehemals der weils auf ihre Weise die lange Geschichte, Welterbe Zinnbergwerk Geevor

Metallgehalt der Erze geprüft wurde. Ein die die Region im Hinblick auf Eisenberg- Rumelange (L) Freilichtmuseum zeigt Fördertürme, Lo- bau und -verhüttung vorweisen kann. Nationales Bergbaumuseum

12 | 13 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Traditionsreiche Industriezweige

entstanden, doch der Großteil der Ferti- gung befindet sich bis heute in der Hand kleiner Werkstätten. Solingen war der weltweit größte Hersteller von Scheren, dem Hauptprodukt der Gesenkschmie- de Hendrichs, deren Werkshallen mit 33 Fallhämmern ausgestattet sind. Heute steht die Fabrik, die zwischen 1886 und 1896 arbeitete, Besuchern zur Besichtigung offen. Das Klingenmu- seum, eingerichtet in einem ehemaligen Augustinerkloster, präsentiert die ge- samte, jahrhundertealte Produktpalette der Solinger Metallindustrie: Schwerter, Dolche, medizinische Instrumente, Haushaltsbesteck und Messer für Messerwerfer. Auch eine Zinnwerkstatt befindet sich im Haus, und eines der herausragenden Ausstellungsstücke ist eine Zinnteekanne. Steyr in Österreich war das wichtigs- te Handelszentrum für die steirische Eisenindustrie. Seit dem Mittelalter fertigten örtliche Handwerker Schneid- waren, Besteck und Nägel, und Kauf- mannshäuser im gotischen, barocken und klassischen Stil zeugen von dem Wohlstand der Handelsstadt. Fabriken erweiterten später das Repertoire der Reiseschriftsteller im England des Viele Städte spezialisierten sich auf die Metallprodukte um Gleitlager, Fahrräder 18. Jahrhunderts erwähnten bei der Herstellung von Textilien. Das konnten und Kraftfahrzeuge. Beschreibung von Städten gewöhnlich Stoffe mit besonderen Eigenschaften Für die englische Stadt Sheffield gilt „Manufakturen”. Sie bezogen sich meist sein oder Fertigprodukte wie Strumpf- Ähnliches. Sie verfügte über reichlich auf Waren, die dort hergestellt und lan- waren, Teppiche oder Spitze. Andere Wasserkraft und Kohle und importierte desweit gehandelt oder sogar exportiert fertigten Lederwaren, Handschuhe oder Stahl aus Schweden. Im 19. Jahrhun- wurden, im Gegensatz zum Austausch Peitschen. Die ältesten Gewerbe jedoch dert entstanden viele Besteckfabriken, von Produkten auf lokaler Ebene. Die hatten mit dem Schmieden von Werkzeu- aber die kleinen Werkstätten existierten meisten bedeutenderen Städte jener gen und ähnlichen Gütern zu tun. weiterhin. Dieses Gewerbe der Kleinen Zeit trieben mit einigen Gütern Handel Solingen in Deutschland galt im Meister (“little mesters“), die sich auf über größere Distanzen, und einige Mittelalter als bedeutendes Zentrum für die Herstellung bestimmter Messer- darunter verfügten oder verfügen in die Produktion von Waffen und Besteck. typen spezialisierten, ist heute Gegen- dieser Hinsicht über Traditionen, die Im 19. Jahrhundert änderte sich der stand des Kelham Island Museums. mehrere Jahrhunderte zurückreichen. Herstellungsprozess: Große Fabriken Das Industriedorf Abbeydale (Abbeydale

14 | 15 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Industrial Hamlet), zu dem auch eine Sensenwerkstatt gehört, veranschau- licht das Verfahren zur Herstellung von Tiegelgussstahl, das auf Benjamin Huntsman (1704–76) aus Sheffield zurückgeht, während das Shepherd-Rad (Shepherd Wheel) für jene wasserge- triebenen Schleifereien steht, in denen die Kleinen Meister typischerweise ihre Waren fertigten. In Birmingham und dem nahe gelege- nen Schwarzen Land (Black Country) flo- rierte die Metallwarenproduktion bereits um 1700. Die Städte und Heidedörfer des Schwarzen Landes produzierten Nä- gel, Ketten, Schlösser und Metallwaren für Sattler. Birminghams Handwerker dagegen spezialisierten sich auf „Spiel- zeug”, das heißt auf ausgewählte Metall- waren höherer Qualität. Im restaurierten Juwelierviertel in Birmingham, im Black Country Living Museum in Dudley und in der Industriesiedlung von Mushroom Green in Brierley Hill wird die Welt des traditionsreichen Kleineisengewerbes wieder lebendig. Die Ursprünge der alteingesessenen Industrie in Sheffield und Birmingham, aber auch in der Steiermark (A) und im Bergischen Land (D), liegen weit zurück. Andere, in ihrer Art ähnliche und Gebäude hinzu. 72 Handwerker, einige

ebenso langlebige Wirtschaftszweige von ihnen aus Deutschland, stellten Ulft (NL) lassen sich dagegen präzise bis zu ihren dort Schlösser, Nägel und Besteck her. Innovations-Zentrum ICER

Anfängen zurückverfolgen. Eine sehr Sechs Gebäude haben sich erhalten und Birmingham (GB) erfolgreiche Industrieansiedlung etwa bilden heute einen Museumskomplex, Museum of the Jewellery Quarter war die Gründung der Stadt Eskilstuna der als Rademachers Schmieden be- in Schweden, die Reinhold Radema- kannt ist. Das Vermächtnis der Indust- Sheffield (GB) cher (1609–68) auf Veranlassung von rieansiedlung des 17. Jahrhunderts lebt Kelham Island Museum König Carl Gustaf 1658–59 ins Werk aber auch in den modernen Maschi- Solingen (D) LVR-Industriemuseum setzte. Der Architekt Jean de la Vallée nenbaufirmen fort, die nach wie vor in Gesenkschmiede Hendrichs (1624–96) ordnete zwanzig Schmieden Eskilstuna blühen. Dudley (GB) aus Holz auf einem Straßenraster an. Freilichtmuseum des „Schwarzen Innerhalb weniger Jahre kamen weitere Landes“

14 | 15 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Weißes Gold: Salz

Ländern wird Meerwasser in Lagunen geleitet, wo es im Laufe der Zeit ver- dampft und am Boden eine Salzschicht zurücklässt. Reste dieser Methode der Salzgewinnung – zum Teil auch noch in Betrieb befindliche Anlagen – gibt es in Figueira da Foz in Portugal, Las Salinas de Imón in Spanien, Margherita de Savoia an der italienischen Adriaküste – dort wird Salz bis heute in großen Men- gen hergestellt –, in Ettone e Enferosa bei Marsala auf Sizilien, bei Mytilene auf der griechischen Insel Lesbos, bei Piram an der Adriaküste Sloweniens und bei Pomorie in Bulgarien. Andernorts werden Ablagerungen von Steinsalz abgebaut, zum Teil seit prähistorischer Zeit wie in Hallstatt (A). Eine dritte Methode beruht darauf, Sole aus unterirdischen Depots an die Oberfläche zu pumpen und anschließend auszukochen, sodass nur die Salzkristalle zurückbleiben. Dies geschieht etwa auf der dänischen Insel Laeso oder in den Lion Salt Works bei Northwich in England. Die deutsche Stadt Halle, seit 1680 zu Preußen gehörig, erhielt auf Veranlassung König Friedrich Wilhelms I. 1719 ein eigenes Salzwerk auf einer Insel in der Saale. Braunkohle Salz ist lebensnotwendig und diente seit für getrockneten und gesalzenen Kabel- lieferte den Brennstoff für die Salzsie- prähistorischer Zeit als Konservierungs- jau), Bacalhau (der portugiesische Begriff) depfannen, 1865 wurde zusätzlich eine mittel für Lebensmittel und zum Würzen oder Klippfisch findet auf den Märkten Dampfpumpe installiert, und erst 1964 von Speisen. Seine Besteuerung war eine von Valencia in Spanien, Porto in Portugal stellte das Werk den Betrieb ein. Heute wichtige Einnahmequelle für Regierungen und Piräus in Griechenland immer noch beherbergt es das städtische Museum aller Art, als Glasur ließ es sich leicht auf viele Abnehmer. Salz machte Rindfleisch, des Salzes und der Salzwerker. Alternativ Keramik auftragen, und in einigen Gesell- Schweinefleisch und Butter haltbar und kann Sole auch, wie in Bad Dürrenberg schaften übernahm es die Funktion einer gab dem mehlhaltigen Haferschleim, in Sachsen oder Ciechocinek in Polen, Währung. Im Europa des 17. Jahrhunderts von dem viele Menschen lebten, etwas auf den Scheitelpunkt von Gradierwer- war die Salzherstellung im katholischen Geschmack. Einige Länder erklärten ken gepumpt werden. Diese bestehen Süden weit verbreitet und erwies sich als seine Herstellung sogar zum königlichen aus hoch aufgeschichteten Bündeln aus willkommene Handelsware im Austausch Monopol. Schwarzdorn-Zweigen, über die die Sole mit den Fischern des protestantischen Salz wird im Wesentlichen auf vier ver- herabrieselt und dabei Salzablagerungen Nordens. Bacalao (der spanische Begriff schiedene Arten hergestellt. In warmen zurücklässt, die gesammelt werden.

16 | 17 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Viele Orte mit salzhaltigen Quellen sind heute Thermalbäder oder Kurorte, und auch die besondere Zusammenset- zung der Luft in Salzbergwerken gilt als genesungsfördernd. So zieht etwa die jodreiche Atmosphäre in Ciechocinek (PL) immer noch Rekonvaleszenten an. Die gesundheitliche Wirkung des Salzes und der Maßstab einiger Salzbergwerke haben zur Entstehung von unterirdischen Skulpturen, Reliefs und sogar Kirchen geführt. In Wieliczka bei Krakau (PL), dessen Salzbergwerk zu den größten Europas zählt und im sechzehnten Jahrhundert tausend Arbeitskräfte be- schäftigte, stellen die Kapelle St. Antonio von 1689 und die Kapelle der Gesegne- ten Könige eine Vielzahl an Salzreliefs mit biblischen Szenen zur Schau. Die Bedeutung der Salzgewinnung verrät sich auch im Salzwerk von Arc-et-Senans im französischen Département Jura, das zwischen 1775 und 1779 nach Entwür- fen von Claude-Nicolas Ledoux (1736– 1806) entstand. Die beiden Siedehäuser, ein monumentales Eingangsportal und 24 Arbeiterhäuser, die in zwei Halbrotun- den angeordnet sind, machen es zu einem der spektakulärsten Industriekom- plexe Europas. Im Zuge der industriellen Revolution Chemiewerke entstehen: 1865 in Couillet wurde Salz zu einem wichtigen Rohstoff bei (B), 1873 in Dombasle nicht für die Herstellung von Schlüsselsub- weit von Nancy (F), in den 1890er Jahren stanzen. Dazu gehören insbesondere in Bad Friedrichshall (D) im Neckartal Salzsäure und Natriumcarbonat (oder sowie 1874 in Northwich in Cheshire (GB). Alkali), die bei der Herstellung von Glas Das Museum in Solikamsk in Russland – und anderen chemischen Prozessen bis heute ein Zentrum der Kaliproduktion,

Verwendung fanden. Das von Ernest das 11.000 Menschen beschäftigt – ver- Krayenberggemeinde (D) Solvay (1838–1922) entwickelte Ver- fügt über die umfangreichste Sammlung Erlebnisbergwerk Merkers

fahren zur Herstellung von Alkali ließ im an Gebäuden und Objekten zur Salzge- Halle / Saale (D) späten 19. Jahrhundert an Orten, die winnung, darunter aus Holz konstruierte Saline

über Salzquellen oder Vorräte an Pott- Gradierwerke, Siedepfannen, Salztruhen Northwich (GB) asche (Kaliumchlorid) verfügten, riesige und Badehäuser. Lion Salt Works

16 | 17 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Kohle & Dampf: Die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts

im Laufe dieses Jahrhunderts stieg die Produktion in Großbritannien stetig an und beschleunigte sich seit den 1780er Jahren rasant. Die bessere Verfügbarkeit von Kohle ermöglichte die Erweiterung der Eisenerzeugung, die Verhüttung von Nichteisenmetallen sowie die Ziegel-, Kalk-, Keramik- und Glasherstellung. Die Kohle führte auch zum Einsatz neuer Antriebsmaschinen. Während viele Textilfabriken und Eisenhütten des 18. Jahrhunderts mit Wasserkraft arbeiteten und die führenden Ingenieure jener Zeit viel Energie darauf verwandten, die Effi- zienz von Wasserrädern zu verbessern, verdankt sich die enorme Ausweitung und Steigerung der Produktion – beson- ders in der Zeit nach 1800 – der Dampf- maschine. Die erste effektive Dampf- maschine geht sehr wahrscheinlich auf (1663–1729) zurück, der damit 1712 den Wasserab- fluss einer Zeche in Coneygre bei Dudley in den englischen Midlands regelte. Newcomens Maschine konnte nur zum Pumpen benutzt werden, aber sowohl für Kohlegruben als auch für Bergwerke, die Nichteisenmetalle abbauten, bedeutete das einen Fortschritt. Bis 1733 wurden Die meisten Historiker stimmen darin etwa 100 dieser Maschinen allein in überein, dass Bergbau und industrielle England installiert, einige nahmen auch Produktion im Europa des 18. Jahrhun- in anderen europäischen Ländern ihren derts eine ganz neue Richtung einschlu- Dienst auf. Mårten Triewald (1691–1747) gen und dass dieser Wandel in Groß- zum Beispiel setzte 1727 eine Dampfma- britannien begann. Die Veränderungen schine zur Entwässerung des berühmten betrafen die gesamte Bandbreite der Eisenerzbergwerks bei Dannemora in Industrie. Die erste und grundlegends- Schweden ein. Der Erfolg blieb zwar aus, te Entwicklung war die massenhafte aber das Motorhaus steht heute noch. Verwendung von Kohle als Brennstoff. 1769 begann James Watt (1736–1819), Lange vor dem 18. Jahrhundert diente die Effizienz von Dampfmaschen zu Kohle bereits als Heizmittel in Privat- verbessern, unter anderem durch die haushalten und spielte auch für einige Verwendung von separaten Konden- Herstellungsprozesse eine Rolle, aber satoren. Er war es auch, der in den

18 | 19 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 1780er Jahren gemeinsam mit anderen 18. Jahrhundert übernahmen auch an- Methoden entwickelte, um maschinell dere Industriezweige das Fabriksystem. Drehbewegungen zu erzeugen und so Herstellungsbetriebe wie Glaswerke und andere Maschinen anzutreiben. Das war Töpfereien wurden größer, und ihre Arbei- die entscheidende Voraussetzung für die ter führten zunehmend vereinfachte und Einführung dampfgetriebener Walzwerke spezialisierte Tätigkeiten aus. Trotzdem oder Textilfabriken. Die seit den 1790er blieb die Produktion von Alltagsartikeln Jahren in Bergwerken einsetzende wie Kleidung, Möbeln, Schuhen und Le- Verbreitung billiger und einfacher Förder- bensmitteln in den meisten europäischen maschinen – für gewöhnlich auf Drehbe- Ländern noch jahrzehntelang in der Hand wegungen getrimmte Newcomen-Dampf- einzelner lokaler Handwerker. maschinen – trugen ihrerseits stark zur Die Industrielle Revolution beschleu- Erhöhung der Kohleproduktion bei. nigte und vervielfachte überdies den Ein weiteres Merkmal der Industriel- Warentransport. Kanäle, über die England len Revolution war die Entstehung der bereits seit den 1760er Jahren verfügte, Fabrik, eines Ortes zentralisierter und entstanden nun auch in Belgien, Deutsch- maschineller Produktion. Die ersten Fa- land, Frankreich und andernorts. Jedes briken entstanden in der Textilbranche. europäische Land übernahm zudem die

Die Seidenspinnerei der Gebrüder Lom- Technologie des Eisenbahnfernverkehrs, Telford (GB) be (John: 1693–1722; Thomas: 1685– die 1830 bei der Eröffnung der Strecke Weltberbe Freilichtmuseum Blists Hill 1739) in Derby (GB), die auf Technologien Liverpool-Manchester ihren Einstand Victorian Town ähnlicher Fabriken in Bologna (I) zurück- feierte. Kennzeichnend für die Industri- Chemnitz (D) Sächsisches Industriemuseum, griff, war sehr wahrscheinlich das Vorbild elle Revolution war schließlich auch das Industriemuseum Chemnitz für die Baumwollspinnereien von Richard Wachstum der großen Städte, deren größ- Cromford (GB) Arkwright (1732–92) in Cromford und für te nicht nur Produktionszentren, sondern Welterbe Cromford Mills viele weitere Fabrikgründungen in Groß- vor allem Handelsknotenpunkte waren – Manchester (GB) britannien und, kurz darauf, in vielen „Durchgangsstationen“ für Menschen und Wissenschafts- und Industriemuseum, Teilen von Kontinentaleuropa. Im späten Waren gleichermaßen. Bahnhofsgebäude

18 | 19 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Veränderungen seit 1870

ten Munkfors zu sehen. Etwa zeitgleich vermarktete der Franzose François Hennebique (1842-1921) in ganz Europa seine Betonbauweise, und bis 1917 hatten seine Vertreter 17.692 Verträge abgeschlossen. Abgesehen von Flussstahl wurden nun auch Stahlsorten für andere Verwendungszwecke entwickelt. 1882 erfand Sir Robert Hadfield (1858–1940) Manganstahl, eine Legierung, die die Elastizität des Metalls erhöhte und sie für die Herstellung von Eisenbahnschie- nen und den Bau von Zerkleinerungs- anlagen geeignet machte. Ein anderer Stahlproduzent aus Sheffield, Harry Brearley (1871–1948), führte 1913 rost- freien Stahl ein, der ursprünglich einen Chromanteil von 12,5 Prozent aufwies und in seinen vielen Varianten zu einem der charakteristischen Materialien des 20. Jahrhunderts wurde. Ein weiteres neues Material war Aluminium. Der Franzose Paul Héroult (1863–1914) und der Amerikaner Charles Hall (1863–1914) stießen um das Jahr 1886 zeitgleich auf eine Methode, die es erlaubte, das Metall durch Elektrolyse herzustellen, und zwar In den 1870er Jahren erreicht die indus- Baustoff 1890 anlässlich der Fertigstel- mithilfe des Minerals Kryolith, dessen trielle Entwicklung in Europa eine neue lung der Eisenbahnbrücke über den Firth wichtigster Fundort Grönland war. Der Stufe. Zum Teil erklärt sich dies aus der of Forth in Schottland mit ihren beiden Produktionsprozess verbraucht große Einführung neuer Materialien. An erster riesigen, 521 Meter langen Ausleger- Mengen an Strom, weshalb die meis- Stelle steht hier Bau- oder Flussstahl, bögen eindrucksvoll demonstriert. Im ten Aluminiumschmelzen an Orten mit den Henry Bessemer (1813–98) 1856 folgenden Jahrzehnt entwickelte sich die ausreichenden Wasserkraft-Ressourcen erstmals herstellte und der seit den Verwendung von Stahl zum Standard für entstanden, etwa in der französischen 1860er Jahren mithilfe des von Carl den Bau von Textilfabriken, Hotels und Alpenregion Dauphiné, wo ein Museum Wilhelm Siemens (1823–83) entwickel- Kaufhäusern. Bessemerbirnen sind heu- in Vaujany die Geschichte der Wasser- ten Siemens-Martin-Ofens im sogenann- te in verschiedenen Museen zu sehen. kraft veranschaulicht. ten Herdfrischverfahren erzeugt wurde. Gleich ein ganzes Bessemer-Werk hat Mit den Eigenschaften elektrischer In Großbritannien gilt Flussstahl seit sich in Hagfors in Schweden erhalten und Energie beschäftigten sich Wissen- 1877 offiziell als geeignetes Material für eine Anlage mit mehreren Siemens-Mar- schaftler wie Alessandro Volta (1745– Brücken – eine Qualität, die der neue tin-Öfen anno 1877 ist im 30 km entfern- 1817) und Michael Faraday (1791–

20 | 21 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 1867), und seit den 1870er Jahren, als ein Kraftwerk in Paris in Betrieb ging, begann der Einsatz elektrischen Stroms für praktische Zwecke wie die Beleuch- tung von Straßen und großen Gebäuden und – seit 1883 – auch von Straßenbah- nen. In der Folgezeit stellten auch Fabrik- maschinen, Walz- und Hammerwerke der Metall verarbeitenden Industrie sowie Eisenbahnlokomotiven ihren Antrieb auf elektrische Energie um. Seit den 1890er Jahren entstanden überall größere „zen- trale” (also für die öffentliche Versorgung zuständige) Kraftwerke, und Strom wur- de zu einer der Grundlagen des Lebens im 20. Jahrhundert. (GB), zeigt eine umfangreiche Palette an Auch in der chemischen Industrie gab Kunststoffen, während sich das Deut- es tiefgreifende Veränderungen. Der Bel- sche Chemie-Museum in Merseburg und gier Ernest Solvay (1838–1922) führte das Catalyst-Museum in Widnes (GB) der das Ammonium-Soda-Verfahren zur Her- breiteren Bedeutung der chemischen stellung von Alkali (Natriumcarbonat) ein. Industrie widmen. An mehreren Orten Europas, die über Eine weitere Innovation des späten Salzvorräte verfügten, entstanden große 19. Jahrhunderts war die Nähmaschi- Werke als Zentren für die Herstellung ne. Ihr Prototyp, 1830 erfunden von von zahlreichen industriellen Rohstoffen Barthélemy Thimonnier (1793-1857), und Haushaltsprodukten. Sprengstoffe, fand für die Produktion von Militäruni- Medikamente, Kunststoffe und eine gan- formen Verwendung. In den meisten ze Auswahl weiterer Materialien gingen europäischen Ländern eroberten die aus Experimenten von Sir William Perkin Nähmaschinen der US-amerikanischen (1838–1907) hervor, die als Resultat Ani- Firma Isaac Merit Singer (1811–75) linfarbstoffe lieferten und die Grundlage den Markt. Gemeinsam mit der Ver- für große, mit Koks oder später Öl betrie- fügbarkeit von kompakteren Antriebs- bene Chemiewerke bildeten. Kunststoffe, maschinen – Gasmotoren und später die charakteristischen Materialien des Elektromotoren – ermöglichten sie die 20. Jahrhunderts, kamen im späten 19. Gründung von Fabriken wie jenen in Jahrhundert allmählich auf. Eine bedeu- Colchester, und Northampton tende Neuerung in dieser Hinsicht war (alle GB), die Kleidung und Schuhe in South Queensferry (GB) die Patentierung von wärmehärtbaren Massenproduktion herstellten. Welterbe Forth Bridge Phenol-Formaldehyd-Harzen durch Leo Wien (A) Baekeland (1863–1944) im Jahr 1907 Technikmuseum, und die Errichtung einer Fabrik in der Bessemerbirne

Nähe von Berlin zwei Jahre später. Das Merseburg (D) Bakelit-Museum in Williton, Somerset Deutsches Chemiemuseum

20 | 21 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Schwarzes Gold: Der Aufstieg des Kohlebergbaus

bei vielen Tagebauprojekten des 20. Jahrhunderts, und eine bemerkens- werte Bergbaulandschaft voller Glocken- schächte befindet sich in Clee Hills bei Ludlow (GB). Mehrere Bergbaumuseen bieten Zugang zu Stollen, die früher dem Kohleabbau dienten, zum Beispiel in Apedale (GB), wo die Abbautätigkeit erst in den 1980er Jahren eingestellt wurde. Andere Museen wie das in Beamish rekonstruieren Bergwerksstollen nach historischen Vorbildern. Besonders schwierige Abbaubedingungen spiegeln die unterirdischen Gänge zu den wenig ertragreichen Kohleflözen bei Arigna im County Roscommon in Irland. Den Arbeitsalltag des frühen Bergbaus veranschaulichen am besten größere Technikmuseen wie das Deutsche Berg- baumuseum in Bochum. Es präsentiert frühe Werkzeuge aus geschmiedetem Eisen, Drainagerohre aus ausgehöhlten Baumstämmen, Sicherheitslampen aus dem frühen 19. Jahrhundert, die ohne Methangas auskamen, oft von Kindern bediente Lüftungstüren, Leitern, mit denen die Bergleute in die Stollen herabstiegen, sowie Fahrzeuge und Schienen für den Transport der Kohle von den Abbaustellen Kohle war die treibende Kraft der In- oder Glockenschächten, bestehend aus zu den Schächten. Frühe Förderanlagen, dustriellen Revolution. Zwei eindrucksvoll einem bis zu zehn Meter tiefen Schacht ob von Hand oder mit Grubenpferden ange- große Brocken walisischer Kohle sind (auch Duckel genannt), von dessen Grund trieben, haben dagegen selten überlebt im Bedwellty Park in Tredegar zu sehen. aus kreisförmig nach Kohle gegraben und werden am besten durch Modelle Einer von ihnen wiegt 15 Tonnen und wurde, wodurch die Gestalt einer Glocke veranschaulicht. konnte deshalb nicht auf der Weltausstel- entstand. Sobald das Deckgebirge In einer typischen Zeche aus der lung von 1851 im Kristallpalast in London (Hangende) einzustürzen begann, gab Mitte des 19. Jahrhunderts entwässerten gezeigt werden. Der andere, zwei Tonnen man den Schacht auf und hob nebenan Pumpen das Bergwerk und Dampfma- schwer, bereicherte 1951 das Festival einen neuen aus, während die unterir- schinen beförderten die Kohle durch die von Großbritannien (Festival of Britain). dischen Kammern des alten Glocken- Schächte nach oben. Die Zeche von Elsecar Die frühesten Methoden des Kohleab- schachts allmählich zusammenfielen in Barnsley (GB) besitzt noch eine New- baus erfolgten mithilfe von Stollen – und an der Erdoberfläche eine teller- bis comen-Dampfmaschine aus den 1780er horizontal in Bergflanken getriebene Gän- trichterförmige Mulde (Pinge) hinterließen. Jahren. Big Pit im walisischen Blaenavon ge zur Erschließung von Kohleflözen – Reste von Glockenschächten zeigten sich und die Zeche Caphouse bei Wakefield (GB)

22 | 23 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY sind beide von einer Größe, die charak- teristisch für die Mitte des 19. Jahrhun- derts ist, doch blieben sie gleichermaßen bis weit in das 20. Jahrhundert in Betrieb und weisen entsprechend Merkmale späteren Datums auf. Umgekehrt verhält es sich mit der Grube Blégny in Belgien: Sie schloss erst 1980 ihre Pforten und war die letzte aktive Zeche in der Region Lüttich, gibt aber wegen ihrer langen Laufzeit von nicht weniger als 200 Jahren auch noch Hinweise auf frühere Zeiten. In einigen Teilen Europas war Torf von größerer Bedeutung als Kohle. In den Sumpfgebieten entlang der Ems nahe der

deutsch-niederländischen Grenze widmen Energieversorgung auf Gas umgestellt, und Blégny (B) sich das Freilichtmuseum Veenpark (Torf- in den Großstädten gewannen Gaswerke Welterbe Bergwerk Blegny

park) bei Baarger-Compascum (NL) und zunehmend an Bedeutung, unter anderem Wakefield (GB) das Elisabethfehn Moorland Museum in weil sie nebenher Ausgangsstoffe für die Staatliches Englisches Kohlebergbaumuseum Barßel (D) den Methoden des Torfabbaus. Chemieindustrie lieferten. Die Entdeckung William Murdock (1754–1839) führte von Erdgas führte seit den 1960er Jahren Barsnley (GB) 1792 die Eigenschaften von Kohlegas zu einem Rückgang der Kohlegasprodukti- Geschichtszentrum Elsecar vor. Er arbeitete für die Maschinenbaufir- on. Welche Rolle die Gasindustrie gespielt Blaenavon (GB) Welterbe Nationales Kohlemuseum ma Boulton & Watt, die seit 1805 daran hat, verdeutlichen erhaltene Kleinkraftwer- Big Pit arbeitete, mit einem Kraftwerk Gas für ke in Biggar, Fakenham und Carrickfergus Carbonia (I) Straßenbeleuchtung, Fabriken und zu (GB), Hobro (DK), Neustadt/Dosse (D) Italienisches Zentrum der gegebener Zeit auch Privatwohnungen zu und Paczków (PL). Umnutzungen erlebten Kohle-Kultur

liefern. Bis 1850 hatten die meisten be- größere Werke in Piräus (GR), Augsburg (D), San Martín del Rey Aurelio (E) deutenderen Städte in Westeuropa ihre Budapest (H) und Warschau (PL). Bergwerk Pozo Sotón

22 | 23 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Die Kohle triumphiert

Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahm seit 1900 gesetzlich vorgeschrieben wa- der Umfang der Kohleförderung zu. Die ren. Kurz darauf folgten Belgien und die Zechen wurden immer tiefer und einige Niederlande mit ähnlichen Gesetzen. In von ihnen beschäftigten mehrere tausend Großbritannien veranlasste der Bergbau- Bergleute. Hohe Fördertürme aus Stahl Wohlfahrtsausschuss (Miners’ Welfare oder Beton hievten die Kohle an die Ober- Committee) erst in den 1930er Jahren fläche und transportierten die Bergleute den Bau von Umkleide- und Waschräume. in Förderkörben an ihren Arbeitsplatz und Zu den Museen, die den jüngeren wieder zurück. Die Energie dafür lieferten Kohlebergbau veranschaulichen, gehö- Verbunddampfmaschinen und später ren jene in Ostrava in der Tschechischen elektrische Fördermaschinen. Mechani- Republik, Bexbach im Saarland, Carbonia sche Anlagen sortierten die Kohle nach in Sardinien, Cercs in Katalonien und ihrer Stückgröße und lenkten sie direkt El Entrego in Asturien. Das Limburger auf bereitstehende Eisenbahnwaggons, Revier an der belgisch-niederländischen auch wenn sich die Sortierung von Hand Grenze geht auf die letzten Jahre des 19. in manchen Zechen noch bis in die Zeit Jahrhunderts zurück und beschränkte sich in Essen, 1932 in Betrieb gegangen, nach 1950 hielt. Seit den 1880er Jahren auf eine geringe Zahl sehr großer Zechen. beschäftigte einst 5.000 Bergleute, trieben größere Zechen ihre Werkzeuge Dazu gehören das Bergwerk im belgischen förderte bis 1986 Kohle und ist ein her- mittels Druckluft aus obertägigen Ma- Beringen, in dem jetzt das Flämische vorragendes Beispiel für die Architektur schinenhäusern an. Das Schneiden und Bergbaumuseum residiert, und die Grube der Moderne. Einen weiteren Aspekt der der Transport der Kohle unter Tage Winterslag, umgenutzt zum Kulturzentrum Kohleindustrie im Ruhrgebiet repräsen- wurde – besonders nach 1950 – zuneh- C-mine bei Genk. tieren die monumentalen Gebäude der mend automatisiert. Die dafür entwickel- Die spektakulärsten Denkmäler des 1927 eröffneten und 1992 geschlosse- ten elektrischen Maschinen erhielten Kohlebergbaus im 20. Jahrhundert besitzt nen Kokerei Hansa in Dortmund. ihren Strom oft aus zecheneigenen das Ruhrgebiet. Der Maschinenraum der Nur wenige Zechen sind heute noch Kraftwerken. Ebenfalls in den 1880er Zeche Zollern in Dortmund anno 1904 ist zugänglich, doch erhalten Besucher Jahren führten deutsche Kohlebergwerke ein helles, leichtes, zeltartiges Gebäude mancherorts die Möglichkeit, ein Koh- Waschkauen ein, die in größeren Zechen im Jugendstil. Zeche Zollverein Schacht XII lebergwerk auch untertage zu erleben.

24 | 25 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Die verbesserten sich im 20. Jahrhundert deutlich, doch die Zunahme der Abbau- mengen zog im Fall von Grubenunglücken erschreckend hohe Opferzahlen nach sich. In Senghenydd in Süd-Wales steht ein Mahnmal für die 83 Bergleute, die bei einem Unfall im Jahre 1907 starben, sowie weitere 493 Todesopfer einer unter- irdischen Explosion am 14. Oktober 1913. Das Energeticon in Gebäuden der Grube Anna II in Alsdorf (D) gedenkt der 271 Bergarbeiter, die bei einem Unfall am 21. Oktober 1930 ums Leben kamen.

555 Meter unter der Oberfläche führt. Ein Merkmal der deutschen und polni- schen Kohleindustrie des 20. Jahr- hunderts war der Braunkohletagebau. Im hessischen Borken erinnert daran noch ein Braunkohlekraftwerk aus den Hoyerswerda (D) Jahren 1922–23, in Hoyerswerda eine Sächsisches Industriemuseum, Brikettfabrik und in Großräschen ein Energiefabrik Knappenrode Besucherzentrum an einem künstlichen Beringen (B) See, der bis 2018 einen riesigen Tagebau Flämisches Bergbaumuseum beMine geflutet haben wird. Herausragend ist die F60-Abraumförderbrücke in Lichterfeld, Lichterfeld (D) Besucherbergwerk F60 die 1991 fertiggestellt und kaum genutzt wurde. Sie besteht aus 11.000 Tonnen Essen (D) Welterbe Zeche Zollverein, Stahl, verläuft auf einer Höhe von 80 Me- Schacht XII Die Zeche Guido in Zabrze (PL), die ihren tern über dem Boden und konnte 29.000 (B) Namen Guido Henckel von Donnersmarck Kubikmeter Abraum pro Stunde bewegen. Welterbe (1830–1910) verdankt, erlaubt Besichti- Zwei weitere Merkmale des Kohleberg- Zabrze (PL) gungen in 320 Metern Tiefe. Die Anlage baus thematisiert die Europäische Route Bergwerk Guido der Grube Pozo Sotón zwischen Sotrondo der Industriekultur. Zechen waren immer Gräfenhainichen (D) und El Entrego (E) legte seit 1845 der ein Anziehungspunkt für Wanderarbeiter, Ferropolis – Stadt aus Eisen Engländer William Partington an. Mit dem und das Museum, das Marcel Maulini Grossouvre (F) Bau zweier 33 Meter hoher Förder- (1913–83), selbst als Sohn italienischer Kohlehalle türme ging zugleich eine Vertiefung des Eltern in den Vogesen geboren, in Ostrau (CZ) Bergwerks einher, das in dieser Form Ronchamps im Elsaß gründete, würdigt Bergwerk Michael bis 2014 in Betrieb war. Besucher, die die Rolle polnischer Arbeiter in den örtli- Dortmund (D) körperlich kräftig genug sind, können chen Gruben. Ein anderer Aspekt berührt LWL-Industriemuseum eine vierstündige Tour unternehmen, die die Sicherheitsvorkehrungen unter Tage. Zeche Zollern II/IV

24 | 25 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Reichtum der Metalle

Einige Erzbergwerke älteren Ursprungs einer geologischen Karte Großbritanniens Umwelteinflüssen auf langen Fahrten in verloren auch im 18. Jahrhundert und zu veröffentlichen. Smith verantwortete tropischen Gewässern. Gewalztes Kupfer danach nichts von ihrer Bedeutung. 1829 die Gestaltung des Rotunden- eignete sich auch zum Bau größerer Andere Erzdepots wurden erst im Zuge Museums in Scarborough im Auftrag der Bottiche für Brauereien und Brennerei- der Industriellen Revolution entdeckt. Philosophischen Gesellschaft, die das en. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Geologen verbesserten unsere Kenntnis Ziel verfolgte, „einheimischen Talenten fand Kupfer zudem Verwendung für von Kohle-, Metallerz- und Lehmlager- die Energie, Konzentration und den Ein- Fernmeldekabel und später für die Über- stätten. Der namhafteste unter ihnen war satzwillen zu ermöglichen, den sie bei der tragung elektrischer Energie. William Smith (1769–1839), der aus be- Untersuchung des großen Labors Erde Alte Bergwerke erhielten eine stufen- scheidenen Verhältnissen stammte, zum brauchen“. weise Modernisierung durch Dampf- Landvermesser aufstieg und sein beim Die Nachfrage nach Kupfer erhöhte pumpen und Fördermaschinen, Förder- Kanalbau aus Fossilien gewonnenes sich stark. Ein neuer Anwendungsbereich körbe und Sicherheitsleuchten und Wissen dazu verwendete, geologische war die Ummantelung von Schiffsrümp- schließlich durch den Einsatz von Schichten zu kartieren und 1815 in Form fen zur Verbesserung des Schutzes vor Sprengstoffen, Druckluft und elektri- scher Energie. Cornwall, seit der Antike ein wichtiger Zinnproduzent, entwickelte sich im achtzehnten Jahrhundert zu einem bedeutenden Kupferlieferan- ten. Der Anstieg des Fördervolumens im Bergbau verdankt sich zu großen Teilen der Dampfmaschine: zunächst der atmosphärischen Dampfmaschine von Newcomen (1663–1729), dann den Maschinen von Boulton & Watt und ab 1812 der Kolben- oder Hoch- druckdampfmaschine () von (1771–1833). In Devon und Cornwall stehen noch rund 300 Maschinenhäuser; sieben davon – darunter die der Gruben East Pool und Levant – verfügen noch über Dampf- maschinen. Einzigartig ist die Bergbau- landschaft um Redruth und Camborne, durch die verschiedene Besucherrouten mit zahlreichen Erläuterungen führen. Eine der dramatischsten Bergbau- landschaften Europas ist der Berg Parys (Parys Mountain) auf der Insel Anglesey in Nord-Wales. Die hier geförderten Erze veränderten die gesamte Kupfer- industrie. Nach der Entdeckung der Erz- lagerstätten im Jahr 1761 erfolgte der Abbau in zwei benachbarten Tagebauen.

26 | 27 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Beide standen seit den 1780er Jahren unter der Kontrolle von Thomas Williams (1737–1802), des „Kupfer-Königs”, der eine Zeit lang den globalen Kupfermarkt beherrschte. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Abbautätigkeit zurück, weil die Kupfervorräte erschöpft waren, so dass 1881 nur noch rund 250 Arbeiter auf dem Berg arbeiteten. Die vielfarbigen Böden, durchsetzt mit Kupfer, Blei und Schwefel, sind weit- gehend ohne Bewuchs. Zu sehen sind noch Reste von Arbeitsflächen und Brennöfen sowie Becken mit grünlichem Wasser, das einst aus den Lagerstätten hier hochgepumpt wurde, um das darin enthaltene Kupfer auszufällen. Hauptverantwortlich für die Steige- rung der Kupferfördermengen im späten 19. Jahrhundert waren die Minen von Rio Tinto im südlichen Spanien. Auch sie haben sehr alte Wurzeln, doch der Abbau im großen Maßstab begann erst 1873 mit britischem Kapital und der Gründung der Rio Tinto GmbH. Eine noch erhaltene gewaltige Bessemerbirne anno 1904 steht in einer Landschaft, deren Trocken- heit vergleichbar ist mit Parys Mountain. Von der vergangenen Bergbaugeschichte erzählen auch Reste von Zerkleine- gen und Wolfram aus Fundao in Portugal. rungsanlagen, Gruben zum Ausfällen der Das Gebiet in der Nähe von Aachen, be- Kupfers, Brennöfen, Schmelzhütten, eine kannt als Kelmis oder La Calamine, war Schwefelsäureanlage und eine Schmal- viele Jahrhunderte lang Europas wich- spurbahn mit einem Meter Spurweite, die tigste Quelle für Galmei oder Zinkkarbo- Rio Tinto von 1876 und 1974 mit dem nat, das für die Herstellung von Messing Almadén (E) Hafen von Huelva verband. erforderlich ist, und hatte zwischen 1816 Welterbe Bergbaupark Almadén Bergwerke für weniger verbreitete und 1919 den Status einer neutralen Amlwch (GB) Metalle gab es in Europa auch. Abies Region, die weder den Niederlanden Parys Mountain (Jens Klein) Alba in Italien, Almadén in Spanien und (später Belgien) noch Preußen (später Trewellard, Pendeen bei St. Just (GB) Idrija in Slowenien förderten Zinnober, Deutsches Reich) zugehörig war. Welterbe Bergbaugebiet Cornwall das Erz, aus dem Quecksilber gewonnen Minas de Riotinto (E) wird. Kobalt, der Ausgangsstoff für blaue Bergbaugebiet Rio Tinto Farbstoffe, kam aus Modum in Norwe- (Edgar Bergstein)

26 | 27 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Das Glühen der Öfen und Schmiedefeuer: Eisenverarbeitung

Die Eisenherstellung und -verarbeitung war ein Schlüsselelement des Transformations- prozesses im Europa des 18. und 19. Jahr- hunderts. Ausgrabungen in Schweden und Deutschland legen nahe, dass Hochöfen in einigen Teilen Europas bereits im 14. Jahr- hundert Verwendung fanden. Doch erst im 15. Jahrhundert ist der indirekte Prozess zur Herstellung von Schmiedeeisen belegt: Zunächst in Italien, später in der Region Lüttich, in Nordfrankreich und schließlich in Südengland wird Eisenerz in einem Hoch- ofen zum sogenannten Roheisen (einer Form von Gusseisen) geschmolzen und dann in einer Schmiede zu Schmiedeeisen veredelt. Öfen und Schmieden jener Zeit nutzten Holzkohle als Brennstoff und Wasserkraft für den Betrieb ihrer Blasebälge und Häm- mer – ein Prinzip, das sich bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum änderte und dem manche Eisenwerke sogar noch bis ins 20. Jahrhundert treu blieben. Der Hochofen in Sauvignac-Lédrier in der Dordogne (F) zum Beispiel entstand in den 1530er Jahren und blieb bis 1930 in Betrieb. Andere Öfen haben in den meisten europäischen Ländern vor allem in abgele- genen ländlichen Gebieten überlebt. Einer der eindrucksvollsten ist der Fourneau St. Michel in den Wäldern der belgischen berg, ebenfalls Schweden, besitzt einen umfasst einen Hochofen, eine Schmiede Ardennen, ein fast vollständig erhalte- Hochofen der 1770er Jahre. Die Siedlung für die Schmiedeeisenproduktion sowie ner Hochofen anno 1771, der bis 1842 umschließt das Schloss des Lehnsherrn Sägewerke. genutzt wurde. Osterby Bruk bei Danne- aus den 1740er Jahren. Zu einer wasserge- Die Art der Eisenerzeugung änderte mora in Schweden vermittelt vielleicht den triebenen, in den 1840er Jahren wieder- sich, als es möglich wurde, Koks als besten Eindruck einer Schmiede jener aufgebauten Schmiede und Arbeiterhäu- Brennstoff zu verwenden und Blasebälge, Zeit, während die Grosse Forge d’Aube in sern des 18. Jahrhunderts gesellen sich Hämmer und Walzwerke mit Dampf- der Normandie ein gut erhaltenes Beispiel zwei Sommerhäuser aus Schlackeblöcken. maschinen anzutreiben. 1709 setzte wallonischer Schmieden des frühen Eine der vollständigsten Werksanlagen Abraham Darby I. (1678–1717) in seinem 16. Jahrhunderts darstellt. Daraus gingen dieser Zeit ist La Grande Forge in Buffon Hochofen bei Coalbrookdale (GB) Koks später jene Schmieden hervor, die sich bei Montbard in Frankreich. 1768–70 von ein, und in den 1750er Jahren, zur Zeit darauf spezialisierten, Schmiedeeisen dem berühmten Naturforscher Georges- seines Sohnes Abraham Darby II. zur Weiterverarbeitung herzustellen. Das Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–88) (1711–1763), arbeiteten bereits mehrere Eisenhüttendorf (oder bruk) in Engels- errichtet, tat sie bis 1866 Dienst und neu errichtete Öfen in der Region auf

28 | 29 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Koksbasis. Der neue Brennstoff war bald beitung mit sich. Die wichtigste führte der Arbeitsprozesse, mit denen Eisen in auch in anderen Teilen Großbritanniens Henry Bessemer (1813-98) 1856 mit der Produkte umgeformt wurde, für Besucher in Gebrauch und erreichte anschließend Entwicklung von Flussstahl herbei, der anschaulich: Nans-sous-Sainte-Anne (F), das Ruhrgebiet, Belgien, Sachsen und in vielen Bereichen das Schmiedeeisen Leverkusen und der Tobias-Hammer in Schlesien. Darbys Hochofenanlage ist ablöste und leicht in größeren Mengen Ohrdruf (D) zeigen, wie Sensen entstan- noch zu besichtigen, und nur wenige hergestellt werden konnte. Die Arbeits- den, die Nadelherstellung wird in Iserlohn Meilen entfernt demonstriert das Blists weise der Hochöfen blieb gleich, aber (D) und Redditch (GB) lebendig, die Hill Museum das Puddelverfahren für ihre Größe nahm zu, die Antriebsmög- Drahtproduktion in Altena im Sauerland die Herstellung von Schmiedeeisen, das lichkeiten der Blasebälge erweiterte sich, und die Erzeugung von Weißblech bei Henry Cort (1740–1800) im späten Aufzüge übernahmen die Beschickung Kidwelly (GB) zu sehen. 18. Jahrhundert entwickelte. In Süd-Wales mit Rohmaterialien, und die Ofenköpfe haben sich gleich mehrere Eisenhütten wurden geschlossen, um das Gichtgas in Blaenavon (GB) aus der Zeit der Industriellen Revolution Winderhitzern zu nutzen – eine Erfindung Welterbe Blaenavon, Modell erhalten, die meisten davon im Industrie- von James Neilson (1792–1865) aus dem des Eisenwerks

gebiet von Blaenavon. Jahr 1828, die es erlaubte, die Luft in den Dommartin-le-Franc (F) In Südeuropa bietet sich ein differen- Blasebälgen aufzuheizen und für Neben- Metallurgic Park

ziertes Bild. Von den italienischen Alpen produkte einzusetzen. Im 20. Jahrhun- Duisburg (D) über die Provence bis nach Spanien waren dert wuchsen die Hochöfen weiterhin in Landschaftspark Nord, Hochofen

Hochöfen vom Typ Bergamo verbreitet, de- Größe und Umfang, und eine Reihe von Telford-Coalbrookdale (GB) ren flache Fronten von schmiedeeisernen, beeindruckenden Beispielen können sich Welterbe Darby-Hochofen (rechts zwischen zwei Türmen eingesetzten Stäben Besucher heute anschauen: in Völklingen unter Schutzbau) gehalten wurden. Die Luftströme, die Öfen im Saarland, an den Ruhrgebietsstandor- Hattingen (D) und Schmieden anfachten, wurden durch ten Hattingen und Duisburg-Meiderich, in LWL-Industriemuseum Henrichshütte Wasser erzeugt, das wie in Pescia Fioren- Uckange in Lothringen, Esch-sur-Alzette in Völklingen (D) tina bei Capalbio in der Toskana durch so- Luxemburg und nicht zuletzt in der Eisen- Weltkulturerbe Völklinger Hütte genannte Trompeten herabströmte. hütte Vitkovice in Ostrava in Tschechien. Sabero (E) Museum der Eisen- und Das späte 19. Jahrhundert brachte In verschiedenen Teilen Europas ma- Stahlindustrie und des Bergbaus weitere Veränderungen der Eisenverar- chen ehemalige Industriestandorte viele von Kastilinen und Leon

28 | 29 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Textilien: Die Arbeitsabläufe

milien besaßen handbetriebene Karden zur Verarbeitung der Wolle, Hecheln zum Kämmen von Flachs, ein großes Spinnrad zum Spinnen von Wolle und ein kleines für Hanf und Flachs. Die erste funktionstüchtige Mehrspin- del-Spinnmaschine war die „Spinning Jenny“, die Hargreaves (1721–78) erfand und die er sich 1770 in England paten- tieren ließ. In den folgenden Jahrzehnten entstanden überall Werkstätten, die mit mehreren handbetriebenen Jennies aus- gestattet waren. Sie stehen für einen der Wege zur Entwicklung der Textilfabrik. Die Flügelspinnmaschine „Waterframe“, 1769 patentiert von Arkwright (1732–92), spannte Baumwollfasern zwischen Rei- hen von Walzen, die sich in verschiede- nen Geschwindigkeiten drehten, spann sie mithilfe eines sich drehenden Flügels und wickelte sie auf rotierende Spindeln. Wie der Name schon andeutet, lief sie anfangs mit Wasserantrieb und gehörte zusammen mit anderen Maschinen – etwa den ebenfalls wasserbetriebenen Kardiermaschinen – zu einer Abfolge von Arbeitsprozessen, die Richard Arkwright seit 1771 in einer Spinnerei in Cromford (GB) zusammenlegte. Die Wa- Der am besten geeignete Ort, um die Tuchs und seine Veredelung durch genspinnmaschine „Spinning Mule“, in Anfänge der Textilmanufakturen in Europa Spannen, Scheren, Walken und Färben. den 1770er Jahren von Samuel Crompton zu veranschaulichen, ist die Kleinstadt Wollgewebe und verschiedene (1753–1827) erfunden, kombiniert die Monschau am Ufer des Laufenbachs in Leinensorten aus Hanf oder Flachs Walzen der Waterframe mit dem beweg- der Eifel, 30 km südlich von Aachen (D). entstanden im 16. Jahrhundert überall in lichen Wagen der Spinning Jenny und 1756 baute Johann Heinrich Scheibler Europa. Die Werkzeuge und Geräte, die war so in der Lage, einheitliche Garne in (1705–65) das Rote Haus als Mittelpunkt bei der Herstellung Verwendung fanden vielen verschiedenen Größen zu produ- eines Netzwerkes von Heimarbeitern, die und die überwiegend im bäuerlichen zieren. Die vollmechanisierte und -auto- in der Wolltuch-Produktion beschäftigt Kontext zum Einsatz kamen, sind in matisierte Version der Spinning Mule waren. Das spektakuläre Treppenhaus Bokrijk (B), Detmold (D), Maihaugen (N) geht auf Richard Roberts (1789-1864) zeigt spätbarocke Schnitzereien, die jeden und anderen Freilichtmuseen zu sehen zurück und kam in Spinnereien in ganz Arbeitsschritt der Textilherstellung be- sowie in Sammlungen, die sich speziell Europa zum Einsatz. Die Weiterentwick- schreiben: die Vorbereitung der Rohstoffe, mit Textilien beschäftigen. Die meisten lung zur Ringspinnmaschine ließ sich der das Spinnen des Garns, das Weben des wirtschaftlich unabhängigen Bauernfa- US-Amerikaner John Thorp (1784–1848)

30 | 31 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 1828 patentieren. Dieser Maschinen- typus fand im späten 19. Jahrhundert weite Verbreitung. Weben war in bäuerlichen Gesell- schaften oft eine spezialisierte Tätig- keit. Ein Webstuhl besteht im Wesentli- chen aus einem Rahmengestell, in dem die längs eingespannten Kettfäden in der Mitte durch zwei quer verlaufende Schäfte geführt werden. Diese Schäfte heben und senken zur gleichen Zeit eine jeweils versetzte Reihe von Kett- fäden und bilden auf diese Weise ein „Fach“ beziehungsweise eine Öffnung, durch die der Schussfaden mithilfe des sogenannten Schiffchens quer Farbstoffe wie Indigo, Färberwaid und zu den Kettfäden eingewebt wird. Die Holz zurück, von denen einige aus dem Geschwindigkeit des Arbeitsvorgangs Fernen Osten oder Amerika nach Europa erhöhte sich noch einmal durch den gelangten. In der zweiten Hälfte des „Schützen“, der wie ein Geschoss durch 19. Jahrhunderts jedoch revolutionierte das „Fach“ fliegt – eine Erfindung von die Einführung von Anilinfarbstoffen John Kay (gest. 1764), die seit 1773 Ver- (Teerfarben) den Färbeprozess. Sir William breitung fand. Die erste Webmaschine Perkin (1838–1907) entdeckte die ließ sich 1784–87 Edmund Cartwright neuen Farbstoffe 1856, ihre Weiterent- (1743–1853) patentieren, doch es wicklung spielte sich hauptsächlich in sollte noch viele Jahre dauern, bevor der Deutschland ab. automatische Webstuhl seinen Sieges- Viele Textilerzeugnisse und die dazu- zug durch die Fabriken antrat. gehörigen Arbeitsschritte sind heute in Die Veredelung von Wollstoffen durch Museen zu sehen: Kattundruck in Mul- wassergetriebene Walkmühlen, die das house (F), Česká Skalice (CS: Serbien und Wollgewebe in einer Walkflüssigkeit – Montenegro) und Budapest (H), Teppiche etwa in heißem Wasser gelöste Ton- in Kidderminster und in der farben- erde – mit Holzhämmern klopften, frohen Templeton’s Mill in Glasgow (beide

stauchten und verdichteten, war der GB), Strumpfwaren in Ruddington (GB), Calais (F) erste Arbeitsschritt in der Textilherstel- Salhus (N) und Herning (DK), Segeltuch Internationales Zentrum der Spitze und Mode (Kleinefenn) lung, der im Mittelalter mechanisiert für Transmissionsriemen in Göteborg wurde. Das Bleichen der Gewebe erfolg- (S), Spitzen in Calais, Caudry (beide F) Salhus (N) Norwegisches Museum der te ursprünglich auf Wiesen (Bleichen) und Nottingham (GB), Bandwirkerei in Strickwarenindustrie in der Sonne. Die Verwendung von Groß-Siegharts (A), Killinkoski (FI) und Perth (GB) chlorhaltigem Bleichpulver, 1800 von Coventry (GB), leoninische Waren (feines Stanley Mills Charles Tennant (1768–1838) erfunden, Gold-, Silber- und Kupferbrokat) in Roth (D) Euskirchen (D) beschleunigte diesen Vorgang. Traditi- und schweres, scharlachrotes Wollgewebe LVR-Industriemuseum onelle Färbereien griffen auf natürliche für Militäruniformen in Bramsche (D). Tuchfabrik Müller

30 | 31 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Gewebte Magie: Seide

32 | 33 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Seide gelangte im Mittelalter entlang In London (GB) verhalfen hugenottische Weitere Seidenmuseen gibt es in Stock- der zentralasiatischen Seidenstraße Einwanderer der Seidenverarbeitung zu holm (S) und im griechischen Soufli, aus China nach Europa. Die Seiden- einer Blüte im frühen 18. Jahrhundert. während in Valencia (E) immer noch verarbeitung etablierte sich im Norden Im Gebiet von Spitalfields stehen noch eine Seidenbörse ihren Platz hat. Italiens, insbesondere in der Gegend einige der von ihnen gebauten Häuser Die vollständigsten Objektsammlungen um den Comer See und in Bologna (I). gehobenen Standards mit Webräumen zum Thema Seide besitzen das Didak- Dort entstanden im 16. Jahrhundert auf dem Dachboden. In der ersten tikmuseum von Seta in Como (Museo mehrstöckige Gebäude, die genug Platz Hälfte des 19. Jahrhunderts verlagerte Didattico della Seta, I), das in diesem für die hohen Seidenzwirnmaschinen sich das Gewerbe nach Essex. Die Bereich zugleich das wichtigste For- boten, und bis 1700 bezogen die Sei- Seidenarchive der Firma Warner in Brain- schungszentrum Europas ist, sowie das denmanufakturen ihre Energie aus 400 tree (GB) verfügen über eine Sammlung Museum von Garlate in der benachbar- Wasserrädern in der Region. Die halble- von mehr als 80.000 Seidentextilien, ten Provinz Lecco, 1953 von der Familie bensgroße Rekonstruktion einer Seiden- von denen die meisten in der nahegele- Abegg gegründet und später ergänzt zwirnmaschine im Bologneser Museum genen Seidenspinnerei gefertigt wur- um ein weiteres Forschungszentrum in der Industriekultur erinnert an diese den, die Samuel Courtaul (1793–1881) Riggisberg in der Schweiz. Zeit. Auch Lyon in Frankreich entwickel- 1818 eröffnet hatte. Das Zentrum der te sich zu einer bedeutenden Seiden- englischen Seidenindustrie lag an der stadt, und das bereits 1864 gegründete Grenze von Cheshire und Staffordshire örtliche Museum für Textilwaren und in den Städten Macclesfield, Congleton dekorative Künste, das in dem ehemali- und Leek (GB). Bereits 1753 entstand in gen Herrenhaus der Familie Villeroy aus Congleton eine 74 Meter lange Seiden- dem 18. Jahrhundert logiert, widmet spinnerei, von der allerdings nur geringe seine Ausstellung sowohl der Rolle der Reste erhalten sind. In Macclesfield lebt Seide in antiken Hochkulturen als auch die Erinnerung an das Seidengewerbe in der Verbreitung und Entwicklung des einem Museum fort, das in einer Kunst- Gewerbes innerhalb Europas. hochschule anno 1877 logiert. Außer- Der Engländer Lombe (1693–1722) dem stehen dort noch die Paradiesfabrik eignete sich in Norditalien viele der mit 26 restaurierten Jacquard-Webstüh- Geheimnisse der Seidenverarbeitung an len sowie zahlreiche Häuser des frühen und baute 1721 in Derby eine fünf- 19. Jahrhunderts, deren Dachböden stöckige Seidenfabrik, die ihre Energie ehemals zum Weben genutzt wurden. vom Wasser des Derwent bezog und In Süditalien, dem ehemaligen Kö- deren Seidenzwirnmaschinen die beiden nigreich Neapel (I), entstand 1774 der Untergeschosse einnahmen, während Königspalast Casino Reale Belvedere, herkömmliche Zwirnmaschinen die der jedoch, als der König 1778 durch den Obergeschosse belegten. Die Fabrik, Tod seines Sohnes in Trauer verfiel, zu nach einem Feuer im frühen 20. Jahrhun- einer Seidenspinnerei umgebaut wurde.

dert wiedererrichtet, beherbergt heute Im 19. Jahrhundert erhielt die dortige Derby (GB) das örtliche Museum für Industrie und Seidenverarbeitung durch den Bau wei- Industriemuseum

Geschichte. Das Gebäude hatte zweifel- terer Gebäude mehr Platz. Heute hat der Como (I) los großen Einfluss auf die Bauweise der Komplex den Rang eines UNESCO-Welt- Seidenmuseum

1771 von Richard Arkwright (1732–92) in erbes und dient als Ausbildungszentrum Bologna (I) Cromford eröffneten Baumwollspinnerei. für Seidenarbeiter und Designer. Industriemuseum

32 | 33 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Vielfalt der Stoffe

Die Herstellung von Baumwolle oder Seide erforderte den Import von Rohstoffen aus weit entfernten Ländern, vor allem aus den Südstaaten der USA und aus Ägyp- ten. Dessen ungeachtet entwickelte sich Baumwolle zum Schrittmacher oder, im Wirtschaftsjargon: Leitsektor verschiede- ner Volkswirtschaften. Noch vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gelangten die von Richard Arkwright (1732–92) in Cromford (GB) eingeführten Technologien und die sich anschließende Entwicklung der Wa- genspinnmaschine „Spinning Mule“ sowie der Webmaschine auf das europäische Festland. Johann Gottfried Brügelmann hunderts fanden Webmaschinen auf die Marshall und seine Partner waren es auch, (1756–1802) baute 1784 eine eng am Herstellung verschiedener Wollgewebe die 1795–96 in Ditherington, Shrewsbury Vorbild Arkwrights orientierte Baumwoll- Anwendung. In England versinnbildlichten (GB), das erste komplett als Eisenskelettbau spinnerei in Ratingen (D) südwestlich des aufwendig gestaltete Werksgebäude wie die ausgeführte, „feuerfeste“ Textilwerk errichte- Ruhrgebietes und nannte sie passender- Textilfabriken Manningham und in ten. Leeds entwickelte sich zum wichtigsten weise Cromford. Ähnliche Fabriken wuch- Bradford, West Yorkshire (GB), die lebhafte Zentrum der Flachsspinnerei in Großbritanni- sen in Flandern (B), in der Schweiz rund um Konjunktur der Industrie. en, doch die Industrie blühte auch in Schott- Zürich und Winterthur sowie in Sachsen (D) Die entscheidenden Impulse für die land, speziell in der Gegend um Dundee, wo und Böhmen (CZ) aus dem Boden. Flachsindustrie setzte John Marshall gleich mehrere Eisenskelettfabriken mit neu- Die Technologie zur Wollverarbeitung (1765–1845), ein ebenfalls aus Yorkshire gotischer Eisendachkonstruktion entstanden. entwickelte sich langsamer als die Baum- stammender Unternehmer. In seiner ersten Seit den 1850er Jahren allerdings wich die wollproduktion. Spinnmaschinen variieren- Fabrik, die 1785 in Leeds (GB) ihre Arbeit Flachsspinnerei von Dundee (GB) weitgehend der Bauart machten den Anfang, und im aufnahm, griff er auf Maschinen des Ingeni- der Herstellung von Jutegeweben – eine In- Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahr- eurs Matthew Murray (1765–1826) zurück. dustrie, die ihre Rohstoffe aus Indien bezog.

34 | 35 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Namen nie gerecht, und die Ruine des der vielen Fabriken ein stetiges Wachstum 1792–94 gegründeten Textilwerks von erlebte, gewann ebenso an Bedeutung Spinningdale in den schottischen Highlands wie die Konsumgüterindustrie. Die Baum- ist eines der ergreifendsten Industriedenk- wollverarbeitung dagegen stagnierte, doch mäler Europas. Die Gayle-Fabrik in der entwickelte sich die Stadt zum globalen Nähe von Hawes (GB) schließlich, die 1784 Zentrum des Baumwollhandels, was noch entstand, um eine Textilfertigung nach heute im Börsengebäude und in den hohen dem Vorbild von Arkwright (1732–92) zu Warenhäusern an der Whitworth Street beherbergen, diente schon bald anderen zum Ausdruck kommt. Manchesters Bedeu- Zwecken und war zuletzt ein Sägewerk, be- tung als Inbegriff der Industrialisierung vor das Gebäude 2008 an die Erfordernisse zeigt sich auch an der Übertragung seines des 21. Jahrhunderts angepasst wurde. Namens auf andere städtische Textilzen- Das 20. Jahrhundert sah den Aufstieg tren: Gent, das „Manchester von Belgien“; synthetischer Textilprodukte. Viskose Łodz, das „polnische Manchester“; Bielsko- beziehungsweise Kunstseide, aus dem Aus- Biala, das „Manchester Schlesiens“; und John Marshalls Nachkommen schlossen gangsrohstoff Zellstoff hergestellt, erlebte Gabrovo, das „Manchester von Bulgarien“. sein Unternehmen Mitte der 1880er 1892 seine Premiere, während das aus Jahre – ein Symbol für den Niedergang Erdölderivaten gewonnene Nylon erstmals der Flachsindustrie in Yorkshire. Dafür 1940 in großem Maßstab produziert wur- florierte sie an anderer Stelle. In Irland de. Einer der wenigen Industriekulturstand- war die Flachsproduktion schon lange von orte, die sich diesem Aspekt der Textilindus- Augsburg (D) großer Bedeutung gewesen, doch seit den trie widmen, ist das ehemalige Viskosewerk tim | Staatliches Textil- 1830er Jahren entstanden um Belfast bei Échirolles in der Nähe von Grenoble (F). und Industriemuseum Augsburg

(GB) herum überall Flachsspinnereien, und Über die Produktionsprozesse können sich Delmenhorst (D) um 1900 exportierten irische Flachsfabri- Besucher jedoch auch in verschiedenen be- Nordwolle – Nordwestdeutsches Museum für IndustrieKultur ken ihre Waren in die ganze Welt. Benurf deutenderen Technikmuseen informieren. Valley, ein Zentrum für Industriekultur im Zum Symbol des Baumwollhandels wur- Bocholt (D) LWL-Industriemuseum TextilWerk County Armagh (Benurf Valley Heritage de Manchester (GB), das seit den 1840er Centre, GB), logiert in einer Flachsspinne- Jahren zudem sinnbildlich für die wachsen- Łódź (PL) Manufaktura-Fabrikmuseum rei der 1850er Jahre, während die Maschi- de Industrialisierung Europas stand. Die nen jener Zeit im Ulster-Technikmuseum Fabriken und Elendsviertel der Stadt finden (E) mNACTEC Katalonisches Wissen- gezeigt werden. Auch Flandern verfügte im sich zu jener Zeit in den Beschreibungen schafts- und Industriemuseum späten 19. Jahrhundert über eine erfolg- zahlreicher ausländischer Besucher, allen Pratovecchio Stia (I) reich operierende Textilindustrie, wie das voran Friedrich Engels (1820–95) und Museum zur Kunst der Wollherstellung Staatliche Flachsmuseum in Kortrijk (B) Alexis de Tocqueville (1805–59). Damals Prato (I) eindrucksvoll vorführt. dominierten noch die Baumwollspinnereien, Textilmuseum Die Verheißung von Reichtümern ver- für die es im Stadtteil Ancoats bemer- Enschede (NL) führte einige Unternehmer dazu, Textilfa- kenswerte Beispiele gibt, doch seit der Museum TwentseWelle briken an Standorten zu bauen, an denen Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich Dundee (GB) sie nie wirklich lebensfähig sein konnten. Manchesters Wirtschaftsspektrum. Der Verdant Works Das Dorf Prosperous („wohlhabend“), Maschinenbau, der seit den 1790er Jahren Gent (B) 1780 in den Moorlandschaften Zentral- durch die Nachfrage nach Textilmaschinen MIAT Museum für Industrie, Arbeit irlands gegründet, wurde seinem sowie Dampfmaschinen als Antriebsquelle und Textilien

34 | 35 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 36 | 37 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Norrköping (S) Museum der Arbeit

Southampton (GB) Ziegelei Bursledon

Lage (D) LWL-Industriemuseum Ziegelei Lage

Rüdersdorf bei Berlin (D) Museumspark

Zehdenick (D) Ziegeleipark Mildenberg

Llanberies (GB) Walisisches Schiefermuseum

Peenemünde (D) Historisch-Technisches Museum

Grimeton (S) Welterbe Radiostation Grimeton

Zeevenar (NL) Ziegelei de Panoven

Waltham Abbey (GB) Königliche Schwarzpulverfabrik

36 | 37 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 38 | 39 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Istanbul (T) Santralistanbul

Cedegolo (I) Wasserkraft-Museum

Bydgoszcz (PL) Exploseum DAG-Fabrik Bromberg

Tyssedal (N) Norwegisches Wasserkraft- und Industriestadtmuseum

Rjukan (N) Welterbe Norwegisches Industriearbeiter-Museum

Oberhausen (D) Gasometer (Wolfgang Volz)

Kerkrade (NL) Continium Disvovery Center

Narvik (N) Museum Nord

Malnisio di Montereale Valcellina (I) Kraftwerksmuseum und Science Center

38 | 39 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Werkstätten der Welt: Maschinenbau

Europas wichtigste Hersteller von Maschi- und Fasstrommeln in einer Eisengießerei und verbreitete sich im Laufe der nächs- nen waren Mitte des 18. Jahrhunderts ließ Schmiedestücke von einem Schmied ten 50 Jahre auch auf viele Kleinstädte. Uhrmacher und Müller – Letztere nutzten machen und holte Know-how bei einem Zum Einsatz kamen Gusstechniken unter allerdings „Maschinen“, deren Umfang ein Fachmann für Maschinen ein. Die Pioniere Verwendung von Kupolöfen zum Um- ganzes Gebäude einnahm. Uhrmacher der Dampfmaschine, Boulton (1728–1809) schmelzen von Roheisen und Schrott, die und Schmiede waren es daher auch, bei & Watt (1736–1819) arbeiteten auf diese Herstellung von Schmiedeteilen mit den denen sich der Textilunternehmer Richard Weise bis 1796 und bauten dann ihre eige- Mitteln eines Schmieds und unterstützt Arkwright (1732–92) in den 1760er und ne Gießerei, die fast ein Jahrhundert lang von dampf- oder wasserbetriebenen Ham- 1770er Jahren nach Hilfe umsah, als in Betrieb war. Zur gleichen Zeit gründeten merwerken sowie die Veredelung mithilfe er versuchte, eine wassergetriebene sich ähnliche Unternehmen in anderen von Drehmaschinen und Maschinen zum Maschine zum Spinnen von Baumwolle britischen Städten wie Leeds, Manchester Bohren, Schlitzen und Fräsen. Die Ankunft zu konstruieren. Ein Bergwerksbesitzer und London, und die Fähigkeit, aus Eisen- der Eisenbahn in den 1830er Jahren schuf jener Zeit, der in seiner Mine Pumpma- teilen Maschinen herzustellen, bahnte sich eine Nachfrage für Dampflokomotiven. Die schinen installieren wollte, kaufte Zylinder ihren Weg in weitere europäische Städte erste speziell zur Montage von Lokomoti- ven gebaute Fabrik steht noch heute in der Forth Street in Newcastle-upon-Tyne (GB), und ähnliche Werke entstanden in ganz Europa. Die meisten wurden abgerissen, doch einige Beispiele der ersten Gene- ration von Dampflokomotiven haben die Zeiten in Museen überdauert. 1816 errichtet John Cockerill (1790– 1840) im ehemaligen Palast der Bischöfe von Lüttich die Hochöfen und die Maschi- nenfabrik von Seraing (B), acht Kilometer westlich von Lüttich das Ufer der Maas. Im Wiener Vorort Floridsdorf (A) baut John Baillie (1806–1859) 1839 die Lok- fabrik der Nordbahn, um danach zunächst in Karlsruhe (D) mit Emil Kessler (1813– 1867) die Badenia zu konstruieren – die erste Lokomotive der Badischen Staats- bahn – und anschließend in Ungarn zu arbeiten. Kessler war später an der Gründung der württembergischen Lokwerke in Karlsruhe und in Esslingen (D) beteiligt. Die 1839 eröffnete Lokfabrik der Wiener Südbahn geht auf John Haswell (1812–97) zurück. Der in Schottland geborene Haswell verbrachte den Rest seiner Karriere im Habsburgerreich, wo er 1855 eine acht- fach gekuppelte Lokomotive entwarf, die das Vorbild für Generationen schwerer

40 | 41 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Güterlokomotiven lieferte. Außerdem kon- tiven zu jener Zeit noch waren. Der Schwei- Schmieden hervorgingen. Im Laufe der struierte er 1861 die erste vierzylindrige zer Abraham Ganz (1814–1867) legte Zeit entwickelten einige Unternehmen Lokomotive und entwickelte eine hydrau- 1845 mit der Eröffnung einer Gießerei Spezialprodukte, die sie weltweit ver- lische Schmiedepresse, die erstmals das in Budapest (H) den Grundstein für die trieben. Die Dimension dieses Industrie- Pressen schwerer Maschinenteile in Ge- Budapester Maschinenbauindustrie. 1895 zweigs zeigt sich im Long Shop in Leiston senken ermöglichte. Die von Joseph Anton beschäftigte sein Unternehmen mehr als im östlichen Suffolk (GB), einem der Ritter von Maffei (1790–1870) 1836–37 6.000 Mitarbeiter. Andere Maschinenbau- frühesten architektonischen Beispiele für in München (D) eröffnete Lokfabrik produ- zentren entstanden in Pilsen (CZ), Winter- die Fließbandfertigung, oder im Museum zierte 1864 bereits 500 Lokomotiven im thur (CH), Turin (I) und Berlin (D). in der Lackiererei des St.-Nicholas-Werks Jahr. Anhand der öffentlichen Anteilnahme Auch in kleineren Städten fasste der in Thetford im englischen Norfolk. an der Überführung einer Schnellzuglo- Maschinenbau Fuß, hauptsächlich in Eine andere Art eines Maschinenbau- komotive des Typs S 3/6 (Pacific) in das Gestalt von Landmaschinenherstellern, unternehmens gründete Frédéric Japy Deutsche Museum im Jahr 1958 lässt die in der Regel aus den Betrieben von (1749–1812) 1776 in Beaucourt im Pays sich ablesen, wie beliebt Dampflokomo- Mühlenbauern, Eisenwarenhändlern und de Montbéliard (F). Ursprünglich produ- zierte er Teile für Uhren und verwendete dafür Werkzeugmaschinen, die auch von ungelernten Arbeitern bedient werden konnten. Seine Nachfolger erweiterten das Firmenportfolio in der Mitte des 19. Jahr- hunderts auf eine breite Palette von Metallwaren, darunter Werkzeugmaschi- nen, Kaffeemühlen, Pumpen und später auch Schreibmaschinen, Elektromotoren und Fahrradteile. 1895 konzentrierte sich Japy auf die Autoherstellung, stand jedoch bald im Schatten des Unternehmens von Armand Peugeot (1849–1915).

Furtwangen (D) Deutsches Uhrenmuseum

Paris (F) Kunst- und Handelsmuseum

Leiston (GB) Long Shop Museum

Sochaux (F) Peugeot Erlebnismuseum

40 | 41 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Schiffe für den Welthandel

Bis in die 1860er Jahre wurden die Schiffskomponenten. Steigende Mengen Überdies war der Schiffbau abhängig meisten seetüchtigen Schiffe in kleinen an Schmiedeeisen fanden Eingang in die von „Schiffsdepots“, wie der Sammelbe- Werften an Flussufern oder in geschütz- Fertigung von Ankern und kleinen Befes- griff für die Nadelhölzer lautete, die für ten Häfen gebaut. Die wichtigsten Neue- tigungen. Der Hüttenbesitzer Alexander Masten, Holme und Rahen Verwendung rungen der Industrie betrafen zunächst Brodie (1732–1811), dessen Betriebe in fanden. Verschiedene Kiefernharzderiva- nicht die Art und Weise der Konstruktion. der Nähe der Iron Bridge bei Telford (GB) – te als Holzschutzmittel sowie Hanf und Kupferummantelung und Bolzen dienten der ersten Eisenbrücke der Geschichte – Flachs für Tauwerk und Seile wurden als Schutz vor Schädlingen im Wasser sowie in London (GB) standen, produzier- ebenfalls benötigt. Eine erhebliche An- und erlaubten es den Schiffen, längere te gusseiserne Öfen, die Schiffskabinen zahl europäischer und speziell britischer und weitere Fahrten zu unternehmen. auch bei schlechtem Wetter sicher heizen Schiffe entstand jedoch außerhalb Sir Marc Brunels (1769–1849) Maschi- konnten. Werften an Flussmündungen Europas: in Indien beispielsweise, wo nen zur Herstellung von Seilzügen, in erhielten Nachschub durch Holzlieferun- Schiffszimmerer Teakholz verwendeten, Portsmouth (GB) installiert seit 1801, be- gen, die sie entweder per Schiff erreich- das widerstandsfähiger als Eiche war, schleunigten die Produktion wesentlicher ten oder flussabwärts geflößt wurden. oder in den Häfen der Küstenprovinzen Kanadas. Der Bau von Holzschiffen lässt sich am besten in ehemaligen Marinewerften nachvollziehen, etwa in Chatham (GB), Karlskrona (S), auf der Militärbasis Holmen in Kopenhagen (DK), auf der ehemaligen Werft der Royal Navy in Vittoriosa, Malta, oder im Arsen- al von Venedig (I). Das erste praxistaugliche Eisenschiff war wahrscheinlich die Trial, ein Last- kahn auf dem Severn, den der Hütten- besitzer John Wilkinson (1728–1808) in Dienst nahm. Die Entwicklung des Dampfantriebs geht auf den Schotten William Symington (1763–1831) zurück, dessen Raddampfer Charlotte Dundas im Jahr 1803 seine Jungfernfahrt antrat. Dampfboote spielten vor allem auf den Flüssen Kontinentaleuropas eine wichtige Rolle. Das Potenzial für den Bau hochseetauglicher Dampfschiffe veranschaulicht Isambard Kingdom Brunels (1806–59) SS Great Britain mit einer Tonnage von 3.270 Tonnen, die 1843 vom Stapel lief. Sie war das erste Eisenschiff mit Schraubenantrieb, das den Ozean überquerte, und nahm auf ihrer ersten Reise 1843 Kurs auf New York. 1846, bei einer späteren Fahrt, lief

42 | 43 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY sie bei Dundrum in Nordirland auf eine erfüllten, um Nieten und einbaufertige in Greenwich, der HMS Warrior in Sandbank. Zwischen 1852 und 1876 Platten herzustellen. Überdies konnten Portsmouth (beide GB) und der Soldek beförderte die SS Great Britain Auswan- Eisenschiffe nur in tiefem Wasser vom in Danzig (PL), ihres Zeichens das erste derer nach Australien und wurde danach Stapel laufen, was in Großbritannien zur hochseetaugliche polnische Schiff nach zum Kohlefrachter umfunktioniert. 1886 Folge hatte, dass sich der Schiffbau von dem Zweiten Weltkrieg. Die NDSM-Werft lief sie bei den Falkland-Inseln erneut auf London an die Mündungen der Flüsse in Amsterdam (NL) besitzt noch Gleit- Grund und befindet sich heute nach ihrer Clyde, Tyne und Wear beziehungsweise bahnen aus Beton anno 1919, über die Überführung 1970 wieder in dem Dock in nach Merseyside und Belfast verlagerte. viele Schiffe vom Stapel liefen, und auf Bristol (GB), in dem sie gebaut wurde. Sie Für die schottische Werftindustrie steht der Meyer-Werft in Papenburg (D) sind ist eines der spektakulärsten Beispiele der riesige Auslegerkran anno 1905 in die Besucher beim Bau von Kreuzfahrt- für konservierte Industriekultur. Clydebank (GB) Pate. schiffen und anderen großen seegängi- Ungeachtet der Fortschritte im 1914 waren die Metallplatten der gen Schiffen live dabei. Demgegenüber Dampfschiffbau setzte Europa für seinen Stahlschiffe in der Regel vernietet, doch veranschaulicht die Werft in Dendermon- Überseehandel bis 1860 hauptsächlich bereits 1885 hatte Nikolai Benardos de (B) die Bauweise von Binnen- und Segelschiffe aus Holz ein. Der Bau von (1842–1905) in Russland ein Patent für Küstenschiffen. eisernen Dampfschiffen war darauf Elektroschweißen angemeldet – eine

angewiesen, dass genügend Platten Technik, die sich rasch für Reparatur- Bristol (GB) aus Schmiedeeisen (später Stahl) in arbeiten einbürgerte. Das erste vollver- SS Britain

den passenden Größen zur Verfügung schweißte Schiff war der 389-Tonner Chatham (GB) standen. Zudem brauchte es Unterneh- Fullargar, den eine Werft in Birkenhead Historische Werft

men, die in der Lage waren, die erfor- (GB) am Ufer des Mersey gleich gegen- Kopenhagen (DK) derlichen Schiffsmotoren zu fertigen. über von Liverpool baute. Nach dem Holmen

Eisenschiffe konnten im Übrigen nicht Zweiten Weltkrieg hatte das Elektro- Clydebank (GB) an Stränden gebaut werden, sondern schweißen die Nieten fast vollständig Kran Titan

erforderten Gleitbahnen und Docks, und verdrängt. Papenburg (D) mit zunehmender Größe waren auch Die Geschichte des Schiffbaus kommt Meyer Werft Investitionen in Kräne wie auch Werften in drei bemerkenswert gut erhaltenen Venedig (I) notwendig, die die Voraussetzungen Schiffen zum Ausdruck: der Cutty Sark Arsenal

42 | 43 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Das Öl und der Kraftwagen

Apotheke in Lwiw (Lemberg, UA) die erste Petroleumlampe vor und gründete 1856 Polens erste Raffinerie in Ulaszowice (PL). Die Raffinerie in Rifov in der Nähe von Ploiesti in Rumänien nahm 1857 ihren Betrieb auf. Pehr August Alund baute 1875–76 eine Raffinerie in Ängelsberg am Åmänningen-See (S). Seine acht Re- torten produzierten tausend Fass Kraft- stoff pro Jahr, doch endete die Produktion 1902, 1927 gefolgt von der vollständigen Schließung des Betriebs. Heute gehört die Raffinerie zum Heimatmuseum Bergsla- gens (Bergslagens Ecomuseum) und ge- währt einen Einblick in die Anfänge einer Industrie, deren gewaltige Werksanlagen mit ihren geheimnisvollen Destillations- vorrichtungen und Crackern, den unüber- sehbaren Tanklagern und unzähligen Ki- lometern an Rohrleitungen nicht leicht zu verstehen sind. Ein neues Kapitel begann mit der Entdeckung von Öl vor den Küsten Norwegens und Großbritanniens und von Gas in den Niederlanden. Das Museum in Stavanger (N) illustriert das Wachstum des Industriezweiges seit 1971. Die Wurzeln des modernen Kraftfahr- zeugs liegen in Deutschland. Karl Benz (1844–1929) patentierte seinen ersten funktionstüchtigen Motor 1879 und grün- Das Auto, charakteristisches Objekt der wesen sowie für die Ausgangsstoffe für dete 1883 ein Werk in Mannheim (D), aus Kultur des 20. Jahrhunderts, verdankt zahlreicher Chemiewerke. dem zwei weitere Patente hervorgingen: seine Entstehung der Existenz von Die 1840 in Lucacesti-Bacau in ein dreirädriges Automobil im Jahr 1886, Kraftstoffen auf Erdölbasis. Die Ölindus- Rumänien gebaute Ölraffinerie gilt heute heute aufbewahrt im Deutschen Muse- trie, so heißt es oft, gehe zurück auf den als erste ihrer Art, auch wenn ihre Produk- um in München (D), und eine vierrädrige US-Amerikaner Edwin Drake (1819– tion sehr gering ausfiel und sie dabei auf Nachfolgerversion. Gottlieb Daimler 1880), der 1859 aus einem Bohrloch bei Geräte zurückgriff, die gewöhnlich bei der (1834–1900) errichtete in den frühen Titusville, Pennsylvania (USA) Öl förderte. Destillation von Sliwowitz Verwendung 1880er Jahren ein Werk in Stuttgart (D), Tatsächlich jedoch liegen die Ursprünge fanden. Ölbohrungen begannen 1854 in wo er den von Nikolaus Otto (1832–1891) in Europa. Im Lauf des 20. Jahrhun- Bóbrka in Polen, wo ein Freilichtmuseum entwickelten Ölmotor als Antrieb für derts entwickelte sich die Industrie, die die Geschichte der Erdölindustrie nach- verschiedene Fahrzeuge einsetzte. So ursprünglich Lampenöl herstellte, zum erzählt. Im März 1853 führte Jan Jósef konstruierte er 1885 ein Motorrad, ein Lieferanten für Kraftstoffe im Transport- Ignacy Lukasiewicz (1822–82) in seiner Jahr später eine motorisierte vierrädrige

44 | 45 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Kutsche und 1889 sein erstes Automobil. von gewaltigen Pressen, die Karosserie- Im folgenden Jahr baute er bereits 350 Au- teile formen, riesigen Fertigungshallen zur tos und begann Lizenzen für die Produkti- Herstellung kleinerer Teile und weitgehend on in anderen Ländern auszustellen. automatisierten Produktionsstraßen. Spek- Die ersten Autos gingen aus kleinen takulärster Standort in Europa ist das 507 Werkstätten hervor, doch seit 1900 Meter lange, fünfgeschossige Fiat-Lingot- entstanden anspruchsvollere Fabriken, to-Werk in Turin (I), 1916–1924 nach den Alexandria (GB) die entweder aus einer Reihe einstöckiger Plänen von Giacomo Matte-Trucco (1864– Motorenfabrik Argyll Gebäude bestanden oder aus mehrge- 1934) gebaut und mit einer Teststrecke auf Budapest (H) schossigen Gebäuden mit einer nahtlosen dem Dach ausgestattet. Ungarisches Eisenbahnmuseum, Triebwagen des Typs „Hargita“ Verknüpfung der verschiedenen Fahrzeug- Kein Aspekt des industriellen Erbes (M. Uebel) komponenten. Bei einigen handelte es nimmt mehr Platz in Museen ein als das Ängelsberg (S) sich um elegante Bauten, die den reichen Auto. Zahlreiche Sammlungen vermögender Olejeon Autobesitzern bei Kauf oder Reparatur Privatpersonen, oft mit dem Schwerpunkt Eindhoven (NL) ihrer Fahrzeuge etwas Unterhaltung boten. auf Rennwagen, sind öffentlich zugänglich. DAF-Museum Ein herausragendes Beispiel sind die Die meisten großen Technikmuseen haben Hoorn (NL) Argyll Motorenwerke in Alexandria nicht ebenfalls Automobilsammlungen im Pro- Museumseisenbahn und weit von Glasgow (GB), 1905 errichtet aus gramm, und einige Autohersteller unterhal- Eisenbahnmuseum Hoorn-Medemblik

rotem Sandstein aus Dumfries, Granit ten eigene Museen, in denen sie ihre Pro- Ladenburg (D) aus Aberdeen und italienischem Marmor. dukte zeigen, etwa Skoda in Mlada Boleslav Automuseum Dr. Carl Benz

Mittlerweile residiert hier das Einkaufszen- (CZ), Ferrari in Modena und Marandello (I), Marinello (I) trum Loch Lomond Galleries. Alle großen Peugeot in Sochaux (F) und Mercedes-Benz Ferrari-Museum

Autowerke übernahmen das System der in Stuttgart (D). Nicht zuletzt widmen sich Odense (DK) Fließbandproduktion, das Henry Ford bedeutende Sammlungen der Präsentation Dänisches Eisenbahnmuseum

(1863–1947) 1911 eingeführt hatte. Heu- von Nutzfahrzeugen bestimmter Marken: Turin (I) te präsentieren sich die meisten Autofab- Tatra in Kopřivnice (CZ), MAN in Augsburg Lingotto-Fabrik

riken als recht verwirrende Ansammlung (D), DAF in Eindhoven (NL) und Saurer in Zwickau (D) überwiegend reizloser Gebäude, dominiert Arbon (CH). August-Horch-Museum

44 | 45 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Aus den Tiefen dunkler Wälder

Die Fähigkeit zur Verwendung des Werk- über den Wasserlauf des Severn in die Einige Bäume hielt man niedrig und stoffs Holz – um Schiffe zu bauen, mit englischen Midlands, und in den 1770er schnitt sie so zu, dass aus ihnen viele denen Händler nach Asien und Kolonisten Jahren war es Holz aus Danzig (PL), das kleine Stämme trieben, aus denen nach Amerika reisten; um Maschinen das Material für das Baugerüst der Iron Holzkohle oder Grubenholz gewonnen zu entwickeln, die Garn spinnen oder Bridge (Eisenbrücke) bei Telford (GB) wurde. Unterholz war als Brennstoff Wasser aus Minen pumpen konnten; um lieferte. begehrt oder diente als Material für Erzeugnisse wie Uhren oder Spielzeuge Das Roden eines Waldes kann das Körbe, Stühle, Uhren oder Spielzeug, herzustellen, die Regionen mit geringem betreffende Landstück für landwirt- während Reisigbündel aus Zweigen landwirtschaftlichem Potential Einkom- schaftliche Zwecke urbar machen, doch und Holzschnitt Backöfen heizten. Die mensmöglichkeiten verschafften – war in den letzten Jahrhunderten wurden die Asche, die Waldbrände hinterließen, war eine der Grundlagen der europäischen meisten Wälder als Forste bewirtschaftet. eine gute Quelle für Kali (Pottasche), Industrialisierung. Bis zum frühen 18. Ältere Bäume eigneten sich für den Bau und Holz feuerte auch die Öfen, die Teer Jahrhundert etwa gelangten Nadelhölzer von Häusern oder Schiffen, anderes Holz produzierten. Ein weiteres Waldprodukt (oder Holzbohlen aus dem Baltikum) fand als Dauben für Fässer Verwendung. konnten Pelze sein. Schnittholz wurde auf Flüssen zu Kunden und Exporteuren geflößt. Das Norsk Skogbruksmuseum in Elverum (N) macht die forstwirtschaftli- chen Aktivitäten ebenso anschaulich wie die Museen in Puntaharju in Finnland und Sopron in Ungarn. Dagegen war das Stott- Park-Werk im englischen Lake District für eine andere Branche von entscheidender Bedeutung: Es stellte Rollen und Spulen für die Textilindustrie her. In den vergangenen 150 Jahren ent- wickelten sich die Wälder Europas zur wichtigsten Papierquelle. Die Herstellung von Papier hatte ihren Ursprung in China und gelangte im 11. Jahrhundert nach Westeuropa. Zwar lieferten Lumpen den eigentlichen Rohstoff, doch mit der Erfin- dung der Papiermaschinen durch die Gebrüder Fourdrinier (Henry: 1766–1854; Sealy: 1773–1847) im frühen 19. Jahr- hundert erhöhte sich die Papiernachfra- ge. Zunächst wurde Papier aus Stroh und Espartogras hergestellt, doch verwendete die Industrie seit den 1850er Jahren Zellstoff für die Papierproduktion – ein Material, das auch für die Fertigung von Kunstfasern Bedeutung erlangte. Wie handgeschöpftes Papier entsteht, veranschaulichen Museen

46 | 47 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY und restaurierte Papiermühlen in ganz Europa, etwa im niederländischen Freilichtmuseum in Arnhem, in Almalfi in Italien, Capellades in Spanien, Düren in Deutschland und Dusniki Zdrój in Polen. Papiermaschinen sind auf der Papierrou- te im englischen Hemel Hempstead (GB) und im Galliciani-Werk in Basel (CH) zu sehen, das von 1453 bis 1955 in Betrieb war und heute das Schweizer Papiermu- seum beherbergt. Die meisten Papierfabriken auf Zell- stoffbasis sind sehr groß, weshalb nur wenige historische Werke nach ihrer Aufgabe vom Abriss verschont blieben. Pellets über die Kessel, in denen die Die 1909 in einem Textilwerk eingerich- Pellets in Natronlauge erhitzt wurden, tete Brunnshaab-Kartonfabrik in Viborg bis zu den Schneidemaschinen, die das in Dänemark ist seit ihrer Schließung im Papier vor dem Versand zuschnitten. Die Bergisch-Gladbach (D) LVR-Industriemuseum Papiermühle Jahr 1988 ein Museum und verfügt noch reich verzierten Gebäude der Zellstofffa- Alte Dombach über die meisten ihrer Maschinen. Das brik Verla in Finnland aus den 1890er Laakirchen (A) Klevfos-Industriemuseum in Norwegen Jahren genießen heute gemeinsam mit Österreichisches Papiermachermuseum produzierte zu Betriebszeiten Holzpulpe der benachbarten Arbeitersiedlung den Spillum (N) zur Herstellung von Papierverpackungen. Status eines UNESCO-Welterbes. Das be- Norwegisches Sägewerksmuseum Auch hier hat sich der Maschinenpark deutendste aller Werke dieser Art ist die erhalten. Er stammt ebenfalls aus dem Zellstofffabrik Sunila im finnischen Kotka. Verla (FIN) Welterbe Verla Holzschleiferei und Jahr 1909 und illustriert den gesamten Sie entstand 1937–38 nach Entwürfen Pappefabrik Produktionszyklus der Papierindustrie: von Alvar Aalto (1888–1936) und präsen- Duszniki Zdrój (PL) von der Zerkleinerung des Holzes zu tiert sich Besuchern im Schaubetrieb. Papiermuseum

46 | 47 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Unser Essen & Trinken

Brot aus Weizen ist in großen Teilen erbaut und danach mehrfach erneuert, in Ungarn weiterentwickelt von Abra- Europas ein Grundnahrungsmittel, und zählt zu den imposantesten Kornmühlen ham Ganz (1814–1867) und Andras bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Europas, auch wenn sie nicht mehr in Mechwart (1834–1907). In den 1860er hatte fast jeder Ort eine Getreidemüh- Gebrauch ist. Über den sieben Stockwer- Jahren entstanden in Budapest (H) le. Viele wassergetriebene Mühlen mit ken des Gebäudes thront ein kolossales 13 Walzenmühlen, die meisten davon Mühlsteinen produzieren heute noch Satteldach. Die Mühlsteine erhielten im Stadtviertel Ferencvaros, und 1870 in kleinem Maßstab für Besucher und ihren Antrieb von 18 oberschlächtigen war Budapest die Mehlhauptstadt verkaufen das Mehl, das sie erzeugen. Wasserrädern. Europas. Die fünfstöckige Concordia- Dasselbe gilt für eine kleinere Anzahl Einen technologischen Schub erhielt Mühle von 1867 steht noch. Wie um- von Windmühlen. Die Mühlenroute rund die Mehlherstellung in der zweiten fassend sich die Technologie verbreite- um die westfälische Stadt Minden (D) Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den te, zeigt sich an der Caudwell-Mühle in verbindet 43 Mühlen. Die große Mühle Einsatz von Walzen, 1834 erstmals Derbyshire (GB), der Mühle San Antonio in Danzig (PL), Mitte des 16. Jahrhun- von dem Schweizer Jacob Sulzberger im spanischen Medina de Rioseco aus derts von den Deutschordensrittern (1802–55) vorgeführt und anschließend dem Jahr 1912 sowie an einer Mühle aus den 1860er Jahren in Castelló d’Empúries in Katalonien (E). Die Be- deutung der Walzenmühlen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in Häfen errichtet wurden, um importier- tes Getreide zu mahlen, veranschau- licht die Baltische Mühle in Gateshead, England, die jetzt ein Kunstzentrum beherbergt. Kekse sind haltbar gemachtes Getreide. Lebkuchen, immer noch auf Messen und Märkten in Nordeuropa verkauft, waren im 17. und 18. Jahrhun- dert ein weit verbreitetes Handelsgut. Gleich mehrere Städte waren berühmt für ihre Lebkuchen, darunter Deventer in den Niederlanden, dessen Deven- ter Koeken samt ihrer traditionellen Herstellung sowohl im Stadtmuseum als auch im Hotel de Leeuw gewürdigt werden. Die Technologie der Keksher- stellung im großen Stil entwickelte sich im frühen 19. Jahrhundert an Orten mit Lagern zur Schiffsbevorratung wie Karlskrona in Schweden und dem Royal William Yard in Plymouth, England. Kommerzielle Hersteller wie E. G. Ver- kade in Zaandam (NL), dessen Handels- schiffe bis in den Fernen Osten fuhren,

48 | 49 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY übernahmen diese Technologie. Ein Ein Charakteristikum der Lebensmittel- Museen in verschiedenen Teilen Europas fantasievolles Marketing förderte den industrie des späten 19. Jahrhunderts widmen sich jeweils ganz bestimmten Verkauf der Kekse, wie die erstaunliche war das Aufkommen von Erzeugerge- Lebensmitteln: in Nakkila-Seurra in Finn- Sammlung von Keksdosen und anderen meinschaften, die ihre Produkte land und Alkmaar in den Niederlanden Marketing-Objekten im Museum von gemeinsam vermarkteten. Eine der geht es um Käse, in London (GB) und in Reading (GB) beweist. Dem Brotbacken ersten Gemeinschaften dieser Art war Campo Maior in Portugal um Kaffee, in widmen sich Fachmuseen in Seia (P), eine 1882 gegründete Molkerei-Ge- Halfweg in den Niederlanden und Funchal Radzionków (PL) und Medemblik (NL) nossenschaft in Hjedding bei Olgod in auf der portugiesischen Insel Madeira um sowie mehrere Freilichtmuseen. Jütland (DK), die nun als Meiermuse- Zucker, in Valencia in Spanien um Reis Große Brauereien gab es in den um fungiert. Ebenfalls in Dänemark und in Riesa in Sachsen (D) um Nudeln. bedeutenden Städten Europas bereits befindet sich ein Freilichtmuseum der um 1700, etwa in London und Edin- Genossenschaftsbewegung in Holbæk. burgh (GB), sowie in Städten, in denen Molkerei-Genossenschaften spielten die Wasserversorgung das Bierbrauen auch andernorts in Skandinavien sowie

begünstigte, wie in Burton-on-Trent (GB) in den Niederlanden und in Irland eine Amsterdam (NL) und Pilsen (CZ). Trotzdem vollzog sich die wichtige Rolle. In Spanien entstanden Heineken Experience

Bierproduktion überwiegend in kleinem im frühen 20. Jahrhundert etwa 50 Kopenhagen (DK) Maßstab, und Mälzereien wie in Great Gebäude im Art-Nouveau-Stil. In diesen Brauerei Carlsberg

Dunmow in England waren ein typisches sogenannten Weinkathedralen hatten Pilsen (CZ) Merkmal vieler Städte. Die meisten eu- Weingenossenschaften ihren Sitz. Eines Pilsener Urquell Brauerei

ropäischen Brauereikonzerne, darunter der erhaltenen Beispiele stammt aus Schiavon (I) Peroni in Rom (I), Stiegl in Salzburg (A), dem Jahr 1913, steht in L’Espluga de Destillerie und Museum Poli

Guinness in Dublin (IRL), Heineken in Framcoli (E) nördlich von Tarragona und Saxmundham (GB) Amsterdam (NL), Carlsberg in Kopenha- sieht aus wie ein fantasievoller gotischer Mälzerei Snape

gen (DK) und die Union-Brauerei in Bahnhof. Das Museum in Agia Paraskevi Tychy (PL) Ljubljana (SLO), unterhalten Besucher- auf der griechischen Insel Lesbos resi- Brauerei Tyskie

zentren, während Freilichtmuseen diert in einer ehemaligen kommunalen Zywiec (PL) manchmal kleine Brauereien betreiben. Olivenölmühle. Brauereimuseum Zywiec

48 | 49 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Luxus und Alltag: Keramik und Glas

werden sollte. Im selben Jahr wurde Kaolin in der Nähe von Limoges (F) entdeckt, das sich zum wichtigsten Zentrum für französi- sche Töpferwaren entwickelte. 1850 waren dort mehr als 30 Fabriken in Betrieb, deren Produkte heute in einem Museum zu sehen sind, das den Namen seines Gründers Adrien Debouché (1818–81) trägt. Die größte Dichte an Keramikwerken (eng- lisch auch „potbank“) befand sich im Kohle- revier von North Staffordshire bei Stoke-on- Trent (GB): Dort, in Etruria, gründete Josiah Wedgwood (1750–95) 1769 eine umsichtig geplante Töpferei, die fortan das Muster Keramik- und Glasindustrie hatten viel ge- lereviere. Die beiden Branchen waren sogar für großformatige Keramikwerke war. Die meinsam. Beide wurzeln in den Kulturen der voneinander abhängig, denn die Glasherstel- Gladstone-Werke sind eine charakteristische Antike. Die Bandbreite der Produkte reicht lung erforderte Tiegel aus feuerfestem Ton. Keramikfabrik aus der Mitte des 19. Jahrhun- von erlesen schönen Objekten aus den Porzellan – Tonwaren mit mehr oder weni- derts, Middleport repräsentiert eine Mo- Sammlungen der Reichen bis zu alltäglichen ger lichtdurchlässigen Körpern – gelangten im dellfabrik der 1880er Jahre, und das dortige Einwegbehältern. Glas- und Keramikscher- Gepäck portugiesischer und niederländischer Keramik-Museum & Kunst-Gallerie (Potteries ben aus archäologischen Ausgrabungen Händler von China nach Europa. Das erste Museum & Art Gallery) besitzt die landesweit verraten viel über vergangene Fertigungs- europäische Porzellan fertigte vermutlich beste Sammlung von Tonwaren aus North praktiken und Lebensbedingungen. Fens- Johann Friedrich Böttger (1682–1719) in einer Staffordshire. Wedgwood-Produkte sind Ge- terglas, Ziegel und Fliesen sind wesentliche 1710 in Meißen bei Dresden (D) gegründeten genstand eines Museums in einer Modellfab- Bestandteile der meisten Gebäude. Seit der Töpferei. 1768 patentierte William Cookworthy rik, die die gleichnamige Firma in den 1930er Mitte des 18. Jahrhunderts konzentrierten (1705–80) eine Porzellanmasse aus Porzel- Jahren in Barlaston errichtete, während das sich beide Industriezweige mit ihren großen lanerde oder Kaolin aus Cornwall (GB), wo der Industriemuseum in Etruria (Etruria Industrial Produktionsanlagen vorzugsweise auf Koh- Tonabbau später eine bedeutende Industrie Museum) und das Cheddleton-Flint-Werk die

50 | 51 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY böhmische Glasherstellung dokumentieren Jablonec nad Kisou (Gablonz an der Neiße, CZ) und Karlovy Vary (Karlsbad, CZ) sowie Waldkraiburg in Bayern (D), wo Sudetendeut- sche, die nach 1945 aus der Tschechoslowa- kei vertrieben wurden, in einer ehemaligen Sprengstofffabrik sesshaft wurden und die Traditionen der böhmischen Glasmacher fortsetzten. Das Zentrum für das Studium der Glasindustrie in Spanien ist La Gránja de San Ildefonso bei Segovia. Die Geschichte der Glasmanufaktur begann dort 1727–28 in der Nähe des königlichen Sommerpalastes und verlagerte sich in den 1770er Jahren in ein imposantes graues Granitgebäude. Vorbereitung der Töpfermaterialien doku- unter dem Namen Villeroy & Boch zu einer Die königlichen Glaswerke in Frankreich, mentieren. der bedeutendsten Marken der Branche im La Crystallerie de la Reine, logieren in einem Mehrere Töpferwerke standen unter 20. Jahrhundert aufstieg. Das St.-Lambert- palastähnlichen Gebäude mit zwei Glas- königlicher Schirmherrschaft. Der vielleicht Werk in der Nähe von Lüttich (B) entstand kegeln und dienen heute als Hauptsitz des berühmteste Fall ist die 1738 gegründete 1826 ebenfalls in einem ehemaligen Kloster. Ecomusée bei Le Creusot. Die Herstellung Töpferei, die 1756 nach Sèvres (F) in die Zu einer starken Marke entwickelte sich von Gebrauchtglas, Flaschen, Krügen, Nähe des Palastes der Madame de Pom- auch das von Philip Rosenthal (1855–1937) Glasballons und Lampen veranschaulicht padour am Stadtrand von Paris umzog und im bayerischen Selb (D) geschaffene ein Museum in Petershagen an der Weser nach drei Jahren offiziell den Status einer Keramikunternehmen. Das dortige Museum in Deutschland und in den Surte-Werken in königlichen Fabrik erhielt. Besucher können allerdings richtet ein Hauptaugenmerk auf Westgotland in Schweden. dort bei einem Rundgang durch die Fabrik technische Keramikprodukte wie die Hitze- Sammlungen historischer Tonwaren anse- schilde für die Raumfähre Space Shuttle. Baruth (D) Museumsdorf Baruther Glashütte hen. Schloss Nymphenburg bei München Glas entsteht durch das Erhitzen von (D) zeigt Keramik aus einer Töpferei, deren Quarzsand, Kaliumkarbonat (Alkali) und Mettlach (D) Villeroy und Boch, Keravision Gründung im Jahr 1747 auf den Kurfürst Kalk bei sehr hohen Temperaturen. Es kann Max III. Joseph (1727–77) zurückgeht und geblasen, geformt, gepresst, gezogen, gerollt Murano (I) die 1754 nach Nymphenburg verlegt wurde, oder gesponnen werden und erhält Verzie- Glasfabrik wo sie dank der Arbeiten des Schweizer rungen durch Schneiden und Gravieren. St. Austell (GB) Keramik-Modelleurs Franz Anton Bustelli Seit 1688 entstand Tafelglas in Frankreich Wheal Martyn (1723–63) eine Blütezeit erlebte. mithilfe der Gusstechnik. An manchen Selb (D) Porzellanikon | Staatliches Museum Andere Keramikwerke gelangten durch Orten in Europa reichen die Traditionen der für Porzellan talentierte Unternehmer zu Bedeutung. Jean Glasproduktion weit in die Vergangenheit St. Helens (GB) Francois Boch (1782–1858) gründete eine zurück. Die Glasmacher von Venedig (I) etwa Die Welt des Glases Töpferei in einer Benediktinerabtei in Mett- zogen 1291 nach Murano, auf eine Insel in Seraing (B) lach im Saarland (D), die er 1794 erwarb. der Lagune. Dort präsentiert ein Museum Cristal Discovery Museum Val Saint 1836 vereinigte er sein Geschäft mit der venezianisches Glas aus vielen Jahrhun- Lamberg Porzellanfirma von Nicolas Villeroy (1759– derten und erlaubt auch den Besuch einer Stoke-on-Trent (GB) 1843) und schuf so ein Unternehmen, das noch aktiven Glashütte. Die traditionelle Töpfereimuseum Gladstone

50 | 51 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Sicherer Hafen

Liverpool (GB) bekam sein erstes Dock bereits 1715, aber es war John Rennie (1761–1821), der in den 1790er Jahren die wesentlichen Bauprinzipien defi- nierte. Seine Westindien-Docks anno 1800–03 in London (GB) waren zum Schutz gegen Diebstahl durch hohe Mauern geschützt und mit mehrge- schossigen Lagern ausgestattet. Dies war das Muster für zukünftige Hafen- anlagen dieser Art. Dazu zählt auch das Albert-Dock in Liverpool (GB), das nach den Entwürfen von Jesse Hartley (1780–1860) entstand und jetzt das Liverpooler Schifffahrtsmuseum be- herbergt. Heute sind die Londoner Ha- fenbecken aus der Zeit zwischen 1800 und 1913 längst ausgemustert, doch viele von ihnen liegen noch – gesäumt von Luxusapartments – am Wasser und können zu Fuß erkundet werden. Als die Häfen Anschluss an die Fernbahnstrecken erhielten, wichen die mehrgeschossigen Lagerhäuser einstöckigen, an den Schmalseiten offenen Durchgangsschuppen, von denen sich die besten Beispiele in Antwerpen in Belgien erhalten haben. 1846 patentierte Sir William Armstrong Das Meer war im Zeitalter der Industriali- den Bau größerer Schiffe, und mit ihnen (1810–1900) den Hydraulikkran, und sierung die wichtigste Verkehrsader wuchsen die Hafenanlagen, um ihnen Kräne, Pumpstationen und hohe Was- des Überseehandels und bildete bis den nötigen Platz zu bieten. Einige sertürme, die den notwendigen Druck 1950 die Hauptachse des interkonti- der wichtigsten Häfen Europas wie für die Bedienung der Maschinen be- nentalen Personenverkehrs. Bis nach Southampton (GB) besaßen natürliche reitstellten, waren fortan ein typisches der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Häfen, in denen die Schiffe in tiefen Ge- Ausstattungsmerkmal vieler Häfen. Im viele Handelsschiffe bemerkenswert wässern anlegen konnten. Andere wie späten 19. Jahrhundert traten mehr- klein. Das Kriegsschiff Victory, das 1765 Hamburg (D), Rotterdam (NL) und Bristol stöckige Speicherbauten für bestimmte zu Wasser gelassen wurde und heute (GB) nutzten die geschützten Mündun- Waren wie Tabak, Tee und gefrorenes im englischen Portsmouth vor Anker gen großer Flüsse. Viele mussten Docks Fleisch hinzu, während die Ladung liegt, verdrängt 3.500 Tonnen, ist 70 bauen: Becken, in denen Schiffe unab- von Getreideschiffen zunehmend in Meter lang und war weit größer als die hängig von den Gezeiten genug Wasser Betonsilos abgesaugt wurde. Beson- meisten Handelsschiffe seiner Zeit. Erst unter dem Kiel hatten, um be- oder dere Bedeutung genossen Häfen, die die Verwendung von Eisen ermöglichte entladen zu werden. Kohle exportierten und unter anderem

52 | 53 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY mäßige Seglerverbindungen zwischen England und Nordamerika ein. 1839 gelang es ihm, einen Vertrag zur Post- beförderung zu schließen. Damit setzte er den Maßstab für das, was mehr als ein Jahrhundert lang als „Liniendienst“ bekannt war. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg herrschte zwi- schen den Schifffahrtslinien der ver- schiedenen europäischen Länder ein erbitterter Konkurrenzkampf, vor allem auf der Route nach Nordamerika. Einer- seits erregte die luxuriöse Ausstattung für Passagiere der Ersten Klasse viel Aufmerksamkeit, andererseits reiste an „Kohlestationen“ beziehungsweise tionen eigneten sich zum Verladen von auf denselben Linienschiffen eine große Kohlezwischenlager entlang der Haupt- Autos und Lastwagen auf Schiffe, und Anzahl von Emigranten aus Europa in seerouten weitergaben. Den wichtigsten nach einigen vorläufigen Experimenten die Vereinigten Staaten. Nach dem Zwei- Kohlehafen besaß Cardiff in Wales (GB), vor dem Zweiten Weltkrieg setzten sich ten Weltkrieg erneuerten die Reedereien dessen Pierhead-Gebäude, einst das „Roll-on-Roll-off”-Services (Fähren, in ihre Liniendienste, doch erlebten diese Zentrum des globalen Kohlehandels, bis die Fahrzeuge vorne ein- und hinten ab 1957 nach den ersten kommerziellen heute steht. ausfahren) in den 1950er Jahren rasch Düsenjet-Flügen über den Atlantik einen Die erste Eisenbahnfähre Großbri- durch. In ganz Europa ist das heute die dramatischen Einbruch. Seit dieser Zeit tanniens beförderte Waggons über den gängige Methode zur Beförderung von werden große Passagierschiffe für Firth of Forth (GB), bevor dort 1890 Fracht über kurze Seestrecken, obwohl Kreuzfahrten statt zum Transport ein- die Eisenbahnbrücke fertiggestellt war. die Anzahl der Eisenbahnfähren in Skan- gesetzt. Die Stazione Marittima im Während des Ersten Weltkriegs über- dinavien in den letzten Jahrzehnten italienischen Genua mit ihrer Gepäck- querten Fähren überdies den Ärmelka- durch neue Brücken über den Öresund halle aus den 1930er Jahren, die nal von Southampton und Richborough zwischen Dänemark und Schweden und mit Bildern von Schiffen, Hotels und (GB) nach Frankreich, und ein Teil der den Großen Belt zwischen Fünen und Doppeldeckern geschmückt ist, erinnert Ausrüstung kam 1924 erneut zum Seeland (beide DK) zurückgegangen auf eindringliche Weise an die alten Einsatz, um eine Fährverbindung für ist. Zu den Schiffen, die im Schifffahrts- Schiffsliniendienste. Güterwaggons zwischen Harwich (GB) museum Maritiman in Göteborg (S) zu und Zeebrugge (B) herzustellen. Ab sehen sind, gehört eine Autofähre von 1936 gab es eine direkte Schlafwagen- 1963. Antwerpen (B) verbindung zwischen London (GB) und Durch die Einführung von Containern Hafenkräne Paris (F), die eine Fähre zwischen Dover erlebte der internationale Seetransport Cardiff (GB) (GB) und Dünkirchen (F) nutzte. Von seit den späten 1960er Jahren einen Pearhead-Gebäude größter Bedeutung waren Eisenbahnfäh- grundlegenden Wandel und machte Liverpool (GB) ren in Skandinavien – einige von ihnen innerhalb kurzer Zeit die meisten Hafen- Welterbe Albert Dock verkehrten nach Deutschland – und becken überflüssig. Genua (I) zwischen Sizilien und dem italienischen Sir Samuel Cunard (1787–1865) Hafenbahnhof Marittima (Wikimedia Festland. Ähnliche technische Installa- führte in den 1830er Jahren regel- Commons, Alessio Sbarbano)

52 | 53 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Binnenschifffahrt

Europas Hauptflüsse – der Rhein, die Meter lang sein und eine Besatzung damit die französische Atlantikküste Rhone, die Elbe, der Severn und die von bis zu 500 Personen zählen. Es mit dem Étang de Thau am Mittelmeer Memel – dienten von Anfang an der brauchte etwa acht Tage, um Dordrecht und war ein Wasserscheidenkanal, der kommerziellen Schifffahrt. Jeder dieser in den Niederlanden zu erreichen, wo die mit einem Kanaltunnel – dem ersten in Ströme hatte seine eigenen Traditionen, Stämme in den Verkauf gingen. Europa – ausgestattet war und so das sei es in Bezug auf die gebräuchlichen Künstliche Wasserstraßen – Kanä- Potential der Binnenschifffahrt aufzeig- Bootstypen oder die Strecken, die die le – waren bereits im alten China für te. In den nächsten 70 Jahren folgten Schiffer üblicherweise absolvierten. die Schifffahrt in Gebrauch, und in den ehrgeizige Kanalprojekte in Preußen, Auf einigen Flüssen trieben zu Flößen Niederlanden dienten Kanäle im 15. Russland und Irland. zusammengebundene Baumstämme Jahrhundert sowohl zur Entwässerung Die britischen Kanäle der Industriel- stromabwärts, eine Erscheinung, die bis als auch als Schiffsrouten. Der Canal du len Revolution – die ersten waren die ins 19. Jahrhundert andauerte. Ein Floß, Midi (F), erbaut von Pierre-Paul Rignet Sankey Brook Navigation und der das in Bingen (D) am Rhein zusammen- (1609–80) und kurz nach seinem Tod Bridgewater-Kanal von 1757 beziehungs- gestellt wurde, konnte mehr als 200 eröffnet, verknüpfte die Garonne und weise 1760 – dienten unterschiedlichen Zwecken. Ursprünglich sollten sie die Städte mit Kohle versorgen, doch entwi- ckelten sie sich zu einem Netzwerk, das 50 Jahre lang Waren aller Art in viele Teile Großbritanniens beförderte. Der Kohletransport hielt sogar noch sehr viel länger an. Das Kanalsystem umfasste 58 Tunnelkilometer – darunter auch den 4.951 Meter langen Tunnel unterhalb der Penninen bei Standedge – und zahlreiche Aquädukte, zu denen auch jener bei Pontcysyllte gehört, in dem der Ellesmere-Kanal auf einer Länge von 305 Metern in 38 Metern Höhe über den Fluss Dee fließt. Der Erfolg der britischen Kanäle führte in den meisten Kohlerevieren Europas zum Bau von Wasserstraßen, die meistens mit schiffbaren Flüssen oder Seen in Verbindung standen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte sich der Umfang der Binnenschifffahrt. Die erste große Innovation war das Dampfschiff, das in Großbritannien er- funden wurde, aber kaum auf britischen Wasserstraßen zum Einsatz kam. Das erste Dampfboot auf dem Rhein, die britische Defiance, erreichte 1816 Köln (D), und im darauffolgenden Jahr kam

54 | 55 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY die Caledonia sogar bis nach Koblenz (D). Im Jahre 1834 passierte die Argo als erster Dampfer das Eiserne Tor (RO/SRB) der Donau. Erhalten haben sich mehrere Raddampfer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, darun- ter die Stadt Wehlen anno 1879 in Dresden in Sachsen (D) und das Dampf- schiff Skibladner von 1856, das auf dem Mjosa-See in Norwegen zwischen Eidsvoll und Lillehammer verkehrt. In Großbritannien entstanden meh- rere Arten von Hebevorrichtungen und schrägen Ebenen, doch die Unzuläng- lichkeit der Baustoffe führte dazu, dass nur die Anlagen in der Region Coal- kulären Ingenieurprojekten zum Aus- nau, aber 1872 bewirkte ein hydroelektri- brookdale (GB) – etwa die Schrägebene druck, die zum Teil in Deutschland sches System samt anderer Schifffahrts- Great Hay, die Boote von nicht mehr realisiert wurden. In Niederfinow am anlagen, dass die Bahnlinie samt dem als acht Tonnen befördern konnte – für Oder-Havel-Kanal fasst ein 36 Meter Treidelpfad aus der Zeit des römischen längere Zeit in Betrieb waren. In den langes Schiffshebewerk aus den Jahren Kaisers Trajan heute unter der Wasserli- 1880er Jahren standen dann hydrauli- 1927–34 bis zu 1.000 Tonnen schwere nie liegen. Die Geschichte der Schifffahrt sche Getriebe, Stahl für Bauvorhaben Schiffe. Ein ähnliches Hebewerk am durch das Eiserne Tor veranschaulicht und Drahtseile für Schleppdienste zur Rothensee bei Magdeburg wurde 1939 das Museum in Drobeta Turnu Severin in Verfügung, und bald darauf kamen auch fertiggestellt. Ein Hebewerk in Schar- Rumänien. Elektromotoren zum Einsatz. Das Schiffs- nebeck am Elbe-Seitenkanal, das seit hebewerk in Anderton in Cheshire (GB), 1975 in Betrieb ist, befördert Europa- das 1875 nach den Entwürfen von Edwin schiffe von 1.350 Tonnen über eine 23 Clark (1814–94) entstand, setzte den Meter hohe Kanalstufe. Ein Stahl-Aquä- Maßstab für weitere Schiffshebewerke dukt von 918 Metern Länge trägt seit wie das von 1888 in Fontinettes in 2003 den Mittelland-Kanal über die Nordfrankreich und die vier 1885–1917 Elbe bei Magdeburg. Die schiefe Ebene Hamburg (D) entstandenen Hebewerke am Canal du am Canal du Bruxelles á Charleroi in Museum der Arbeit, Centre in der Nähe von La Louvière in Ronquières in Belgien nahm 1965 ihren Hafenmuseum

Belgien. Der Erfolg der Binnenschifffahrt Dienst auf. Das Hebewerk in Strépy Thieu Market Harborough (GB) spiegelte sich auch in der Verbesserung (B), das Europaschiffe 73,15 Meter in Schleusentreppe Foxton

der Schiffbarkeit des Rheins, auf dem die Höhe befördert, arbeitet seit 2002. Northwich (GB) 1904 ganze Schiffsverbände bis Basel Gleich anschließend wurden die vier He- Schiffshebewerk Anderton

(CH) verkehrten, und in der Fertigstel- bewerke in der Nähe von La Louvière (B) Swansea (GB) lung des Schiffshebewerks Henrichen- unter Denkmalschutz gestellt und zum National Waterfront Museum

burg in Waltrop (D) am Dortmund-Ems- UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Seit den Waltrop (D) Kanal. 1890er Jahren schleppten Dampfloks LWL-Industriemuseum Schiffshebwerk

Im 20. Jahrhundert kam die Blüte Schiffe flussaufwärts durch die Schlucht Wrexham (GB) der Binnenschifffahrt in einigen spekta- des Eisernen Tors (RO/SRB) an der Do- Welterbe Pontcysyllte Aquädukt

54 | 55 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Der Fortschritt kommt auf eisernen Schienen

Die ersten bekannten Bahnen, die schon Georgius Agricola (1494–1555) in der Mitte des 16. Jahrhunderts beschreibt und illustriert, nutzten Holzschienen. Die Fahrzeuge, sogenannte Hunte, liefen auf parallel verlaufenden Spur- latten oder -bohlen und wurden von einem Spurnagel geführt, der dem Spalt zwischen den beiden Bohlen folgte. Im deutschsprachigen Raum hielten sich diese Bahnen bis ins 19. Jahrhundert, und Beispiele davon haben sich in Luzern in der Schweiz und in Eisenerz in Österreich erhalten. Die Eisenbahn für größere Distanzen nahm in den englischen Kohlerevieren Gestalt an. Im frühen 17. Jahrhundert brachten Northumberland, Durham und Shropshire eigenständige Bahnsysteme hervor, die ebenfalls auf Holzschienen lie- fen. In Shropshire wiesen Bahnfahrzeuge seit 1729 Eisenräder auf, und seit 1767 ersetzte grobes Gusseisen das Holz der Schienen. Im Nordosten hatten die Schie- nen in der Regel eine breitere Spurweite, und es entstanden bedeutende Brücken wie der Causey-Bogen (GB) anno 1727. Im frühen 19. Jahrhundert begannen (1781–1848) und andere, Dampflokomotiven zu entwi- spezialisierten Strecken, wurden mecha- erklären, und in den 1850er Jahren ckeln, die auf den Prototyp von Richard nisch angetrieben, dienten dem öffent- entwickelten sich erste Formen des Trevithick (1771–1833) zurückgingen. lichen Verkehr, beförderten Passagiere, Eisenbahntourismus. Seit der Mitte der Seit 1820 nutzten sie dafür die von John und ihr Betrieb unterstand öffentlicher 1870er Jahre baute Georges Nagel- Birkinshaw entwickelten schmiedeeiser- Kontrolle. Dies sind die fünf allgemein mackers (1846–1905) die Compagnie nen T-Profil-Schienen. Viele dieser tech- anerkannten Kriterien für Fernbahnen, Internationale des Wagons-Lits et nologischen Errungenschaften flossen die in den Jahrzehnten nach 1830 in des Grands Express Européens auf, in der von George Stephenson gebauten ganz Europa gebaut wurden. deren Schlaf- und Restaurantwagen Eisenbahn zwischen Liverpool und Zuerst war die Eisenbahn und ihr die wichtigsten Städte des Kontinents Manchester (beide GB) zusammen. Sie wachsendes Netz für Reisende eine Art miteinander verbanden. 1879 stellte wurde 1830 eröffnet und endete in dem Mysterium, aber Verleger wie George Werner von Siemens (1816–92) eine Bahnhofsgebäude, das heute Teil des Bradshaw (1801–53), John Murray III. Elektrolokomotive in Berlin (D) vor, und Museums für Wissenschaft und Indust- (1808–92) und Karl Baedeker (1801– 1902 fertigte ein Werk in Budapest (H) rie in Manchester ist. Die Züge liefen auf 55) begannen, ihre Geheimnisse zu E-Loks für Fernbahnstrecken in Italien.

56 | 57 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Die Bergrouten durch den Simplon- und bahnunternehmen zur Zusammenarbeit In den meisten Ländern wurden die Lötschbergpass in der Schweiz und ermöglichte seit 1957 die Entstehung traditionellen Depots für Eisenbahn- Italien, die 1906 und 1910 ihren Dienst des Netzwerks Trans-Europa-Express güter geschlossen, und typische aufnahmen, waren von Anfang an elekt- (TEE), das aus schnellen, ausschließlich Güterzüge bestehen heute aus flachen rifiziert. Die Strecke von Berlin (D) nach mit Erste-Klasse-Abteilen ausgestatteten Waggons, die Container zu und von Schlesien (PL) bekam 1911 elektrische Zügen bestand und auf die Bedürfnisse Häfen befördern. Andere, besonders Oberleitungen, die von Paris nach von Geschäftsleuten zugeschnitten war. große Waggons transportieren Stahl Orléons (beide F) folgte 1926. Bayern Das Netzwerk wuchs und bediente in den oder Kraftfahrzeuge, während Silotank- (D), Schweden und die Schweiz, alle späten 1970er Jahren 31 Strecken mit wagen Kohle, Getreide oder Öl geladen bestens ausgestattet mit Wasserkraft- insgesamt 39 Zügen. Das Ende kündigte haben. werken, hatten den Großteil ihrer Netze sich an, als Frankreich, Deutschland und bis 1939 elektrifiziert. Nach dem Zweiten später auch andere Länder Hochge-

Weltkrieg setzte sich die Elektrifizierung schwindigkeitsstrecken mit relativ häufi- Merthyr Tydfil (GB) in den meisten Ländern fort. gen Zugverbindungen bauten, orchestriert Museum Schloß Cyfarthfa, Trevithicks Lokomotive „Penydarren“ Das bis 1914 etablierte Netz der tran- von der Zunahme an Low-Cost-Flugge- von 1804 seuropäischen Fernverkehrszüge erlebte sellschaften. Die letzten TEE-Züge fuhren Manchester (GB) nach dem Ersten Weltkrieg eine leicht 1995–96, aber einige Schienenfahr- Wissenschafts- und Industriemuseum modifizierte Neuauflage, doch nach zeuge haben sich erhalten, darunter ein Nürnberg (D) 1945 machte es die Teilung Europas deutscher Triebzug in Nürnberg (D) und DB-Museum durch den Eisernen Vorhang unmöglich, belgische Lokomotivwagen mit gerippten Gijón (E) einige der traditionsreichen Strecken Aluminiumflanken in Schaerbeek (B). Nur Asturisches Eisenbahnmuseum wiederzubeleben. Dennoch konnten wenige Langstreckenzüge mit Schlafwa- Schaarbeek (B) britische Reisende, die in den 1970er gen sind noch in Betrieb, aber Hoch- Train World. TEE Jahren mit der Nachtfähre von Harwich geschwindigkeitsstrecken machen es Entroncamento (P) (GB) in Hoek van Holland (NL) ankamen, heute möglich, Europa im Zug schneller Nationales Eisenbahnmuseum ihre Reise in Zügen nach Kopenhagen zu durchqueren als jemals zuvor. Vila Nova de Famalicão (P) (DK), Moskau (RU) oder fortzusetzen. Der Güterverkehr hat sich in den Nationales Eisenbahnmuseum Die Bereitschaft der nationalen Eisen- letzten Jahrzehnten auch gewandelt. Lousado

56 | 57 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Fernstraßen

Der Bau von Straßen, auf denen Kutschen und Wagen große Distanzen in einer ange- messenen Geschwindigkeit zurücklegen konnten, war eine wichtige Voraussetzung für die Industrialisierung. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erhielt die Straße von Paris nach Orléans (F), dem nächstgelege- nen Hafen an der Loire, eine Pflasterung, und noch vor 1700 gab es – wenn auch nur in den Sommermonaten – regelmä- ßige Kutschenverbindungen von London (GB) in die meisten bedeutenderen Städte in England. Mitte des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl gut geebneter Straßen zu, einerseits dank königlicher Dekrete zur schnelleren Beförderung der Post, anderer- seits dank der gestiegenen Einnahmen aus Mautgebühren, die wiederum in den Straßenbau flossen. Mautstationen und Meilensteine sind heute Bestandteile der meisten Freilichtmuseen. Einige Straßen waren aus politischen oder strategischen Gründen in besonders gutem Zustand. Die Straße von London nach Holyhead (beide GB), 1815 per Gesetz genehmigt, erleich- terte Mitgliedern des irischen Parlaments die Reise nach London und englischen Truppen den Weg nach Irland. Ihr Ausbau unter der Federführung von Thomas Telford (1757–1834) umfasste den Bau französischen Vorbild hießen), sowie Fahr- Einrichtungen mit weitläufigen Höfen und der gusseisernen Waterloo-Brücke bei zeuge, die gemietet werden konnten. In ganzen Reihen von Ställen. In großen Bettws-y-Coed sowie der Menai-Hänge- den meisten deutschen Staaten befanden Städten stehen an ihrer Stelle heute oft brücke (beide GB), die die Insel Anglesey sich Schnellpostkutschen im Besitz der Einkaufszentren. In London (GB) hat sich mit dem Festland von Wales verband. Regierung und hießen Eilwagen. Fahrzeuge, nur eins der großen Kutschgasthäuser Beschaffenheit und Ausstattung Schilder und Modelle der Vor-Eisenbahn-Ära erhalten: das George in Southwark. Auf der Straßen in verschiedenen Ländern in Bayern (D) zeigt das Verkehrsmuseum in Schloss Nymphenburg bei München (D) schilderten Mitte des 19. Jahrhunderts Nürnberg (D). In Großbritannien gab es können Besucher mehrere bedeutende Reiseführer wie die, die John Murray III. 1835 etwa 4.000 Postkutschen, für deren Sammlungen von Pferdefahrzeugen (1802–92) und Karl Baedeker (1801–59) Betrieb rund 35.000 Menschen und bewundern, darunter die Kutschen des veröffentlichten. Die meisten Länder 150.000 Pferde Dienst taten. Die Gasthäu- bayerischen Hofes. Die Karossen der kannten regelmäßige Kutschenverbindun- ser, in denen die Pferde gewechselt wurden Marquesses of Bute bewahrt der gen, manchmal auch „diligence“ genannt und die Passagiere sich erfrischen konn- National Trust in Arlington Court bei (wie die Schnellpostkutschen nach ihrem ten, waren zum Teil eindrucksvoll große Barnstaple in Devon (GB).

58 | 59 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Im Jahr 1850 waren die meisten bei Brooklands in England anno 1907 Straßen in Europa unbefestigt. Eine nahm die Öffentlichkeit davon Notiz.

Ausnahme bildeten einige mit Ziegeln – Den Maßstab für den Straßenbau Bristol (GB) sogenannten Klinkern – gedeckte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Clifton Kettenbrücke

Straßen in den Niederlanden und die derts setzten die italienische Auto- Menai Bridges (GB) zahlreichen Kopfsteinpflasterstraßen strada und die deutschen Autobahnen Menai-Brücken

in Belgien. Seit den 1890er Jahren der 1930er Jahre. Ihren Prototyp Telford (GB) kam immer häufiger Teer zum Einsatz: hatten sie in der zehn Kilometer langen Mauttarife am Mauthaus der anfangs, weil die Fahrräder danach Automobil-Verkehrs- und Übungs- Iron Bridge verlangten, später aufgrund der zuneh- straße (AVUS), die zwischen 1913 und Telford (GB) menden Anzahl von Kraftfahrzeugen 1921 im Berliner Bezirk Grunewald (D) Welterbe Iron Bridge und Zollhaus mit luftgefüllten Reifen. Auch Beton entstand. Es war die erste Straße in Oberhausen (D) LVR-Industriemuseum; fand zur Befestigung der Straßen Ver- Europa, die in erster Linie für das Auto Straßenbaugeräte wendung, und dank der Rennstrecke entworfen wurde. (Sonderausstellung 2006)

58 | 59 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Flugmaschinen

Flugzeuge – Fluggeräte, die schwerer zivilen Nutzung an, doch bereits 1919 Bodensee (D) sein erstes lenkbares als Luft sind – gingen aus dem ersten erlebte die viersitzige Junkers F13, das Luftschiff. Die Stadt blieb auch in den erfolgreichen Motorflug der Gebrüder erste Passagierflugzeug mit Ganzme- Zwischenkriegsjahren sein Produktions- Wright (Wilbur: 1867–1912; Orville: tallrahmen, ihren Jungfernflug. Sie blieb standort. Das Zeppelin-Museum ver- 1871–1948) 1903 in den Vereinigten 13 Jahre lang in Produktion und einige fügt über viele Objekte aus Luftschiffen Staaten hervor und wurden im folgen- Exemplare taten 20 Jahre lang Dienst. und zeigt Filme von einigen der be- den Jahrzehnt in Europa weiterent- Beispiele sind im Deutschen Museum in rühmten interkontinentalen Flüge und wickelt. In Paris (F) erinnert daran noch München sowie in Berlin (D), Budapest Weltumrundungen, bevor 1937 das ein Bleriot XI anno 1909. Während (H), Stockholm (S) und in Le Bourget in Feuer von Lakehurst, New Jersey (USA), des Ersten Weltkriegs gingen Flugzeuge Paris (F) zu sehen. das Ende der mit Wasserstoff gefüllten in die Massenproduktion, danach folg- Die 1920er Jahre erlebten zudem Zeppeline besiegelte. Auf ganz ähnli- ten die ersten Experimente mit kom- den Aufstieg der Luftschiffe. 1900 che Weise beendete der Absturz des merziellen Flügen. In manchen Fällen konstruierte Graf Ferdinand Zeppelin Versuchsluftschiffs R101 im Jahr 1930 passte man einfach Militärflugzeuge der (1838–1917) in Friedrichshafen am das britische Interesse an Zeppelinen. In Cardington bei Bedford (GB) sind noch zwei gewaltige Luftschiff-Hangars erhalten – in einem von ihnen wurde die R101 konstruiert. Der Bedarf der europäischen Kaiser- reiche an einem regelmäßigen Kontakt mit ihren Kolonien führte zur Förderung interkontinentaler Flugstrecken durch staatliche Zuschüsse. Die Franzosen brauchten Flugverbindungen nach Indochina und Zentralafrika, die Briten nach Indien, zum Kap und nach Aust- ralasien, die Niederlande nach Indone- sien. Die Flugstrecken verliefen über Zwischenstopps, an denen die wenigen Passagiere, die die Flugzeuge jener Zeit fassten, übernachten konnten. In den frühen 1930er Jahren lösten vollständig aus Metall gefertigte Tiefdecker, die in der Regel rund 20 Passagieren Platz bo- ten, die früheren Doppeldecker ab, und ab 1939 nahmen viermotorige Flugzeu- ge wie die Armstrong Whitworth Ensign und die Fokker-Wulf Fw200 Kondor ihren Betrieb auf. Sie konnten 40 Passagiere über den Atlantik oder nach Australien befördern. Der Zweite Weltkrieg machte dieser Entwicklung ein Ende, aber ganz ähnliche Flugzeuge kamen nun als Bom-

60 | 61 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY an der Mündung des Shannon in Irland zu 180 Passagiere befördern konnte, entwickelte sich zum Startpunkt für lief ihr fortan den Rang ab. 1958, nach Flüge nach Botwood in Labrador (CDN) ihrem ersten transatlantischen Flug, und behielt diese Funktion während des revolutionierte sie den interkontinenta- Zweiten Weltkrieges. Einige Flugboote len Luftverkehr und sorgte im nächsten absolvierten auch noch nach 1945 Jahrzehnt auch für das Ende der Linien- kommerzielle Flüge, doch machte sie dienste traditioneller Ozeandampfer. der Bau langer Landebahnen während Die meisten europäischen Länder des Krieges überflüssig, sodass die verfügen über Flugzeugmuseen, auch letzten britischen Flugbootverbindungen wenn der Schwerpunkt meist auf der 1958 zum Erliegen kamen. Das Muse- militärischen Luftfahrt liegt. Die frühere um in Southampton (GB) präsentiert UdSSR fertigte die meisten Passagier- Besuchern ein Flugboot des Typs Short maschinen in Fabriken in der Ukraine. Sandringham IV anno 1946. Die Sammlung des Luftfahrtmuseums ber zum Einsatz und transatlantische Der Flugreiseverkehr wuchs in den in Kiew umfasst unter anderem acht Flüge wurden eine Alltagserscheinung. späten 1940er und 1950er Jahren kon- Tupolov-Flugzeuge und sechs Maschi- In den späten 1930er und 1940er Jah- tinuierlich. Dabei gingen die Passagier- nen des Typs Iljuschin. ren erlebte die Geschichte der kommer- flugzeuge zunächst aus Kriegsbombern ziellen Luftfahrt ein kurzes Zwischen- hervor. Die erste Turbo-Prop-Maschine, spiel, als Flugboote für die Überquerung die Vickers Viscount, hob 1948 in Groß- Berlin (D) der Ozeane vorübergehend am zu- britannien ab und war auf vielen euro- Deutsches Technikmuseum kunftsfähigsten erschienen, da sie keine päischen Strecken im Einsatz. Die erste Friedrichshafen (D) Pisten benötigten und ihre vergleichs- reine Düsenmaschine, eine de Havilland Zeppelin Museum weise großen Maße eine luxuriöse Un- Komet, wurde ebenfalls in England ge- Dessau-Roßlau (D) terbringung ermöglichte. Sie kamen auf fertigt, aber ihre Entwicklung verzögerte Technikmuseum „Hugo Junkers“, ehemaligen kaiserlichen Postrouten sich, nachdem zwei Exemplare durch Ju 52

zum Einsatz oder verbanden die Haupt- Materialermüdung abgestürzt waren. Duxford (GB) städte der Ostsee miteinander. Foynes Die amerikanische Boeing 707, die bis Imperial War Museum

60 | 61 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Leben in Städten

nungen freilegen und untersuchen. In Birmingham (GB) hat der National Trust einige Reihenhäuser aus den Jahren zwischen 1802 und 1831 entlang der Hurst Street und Inge Street restauriert und Besuchern zugänglich gemacht. Der Franzose Léon Faucher (1804– 54) und andere Reisende waren in den 1840er Jahren bestürzt über die Lebensbedingungen in den Städten. Dafür lobten sie die Industrieansiedlun- gen auf dem Land, die vielfach die Was- serkraft nutzten und keine qualmenden Schornsteine hatten. Textilunternehmer wie Strutts in Belper oder Gregs in Quarry Bank (beide GB) versuchten Facharbeiter anzuziehen und zu halten und gründeten Arbeitersiedlungen, in denen die Kinder in die beruflichen Fuß- stapfen ihrer Eltern traten. Die Fabrik in Saltaire (GB), die der Kammgarn- produzent Sir Titus Salt (1803–76) samt einer Arbeitersiedlung mit mehr als 800 Häusern errichtete, setzte diese Tradition fort. Die Eigentümer anderer abgelegener Industriesiedlungen verfolgten weiter- gehende Ziele. 1799 übernahm Robert Owen (1771–1858) die Fabriken seines Häuser für die arbeitende Bevölkerung den zugänglich waren. In schottischen Schwiegervaters David Dale (1739– haben in jeder Stadt ihre besonderen Städten lebten die meisten Arbeiterfami- 1806) in New Lanark (GB), und seine Merkmale. Mancherorts zeigen Stadt- lien in mehrstöckigen Mietshäusern. In Vorstellungen von Zusammenarbeit und viertel noch das enge Nebeneinander einigen englischen Städten wie Leeds, Erziehung waren von großem Einfluss. von Arbeit und Wohnen, etwa im Fau- Nottingham und Birmingham herrschten Die Arbeiter in New Lanark lebten in bourg Saint-Antoine in Paris (F), seit dem Reihenhäuser vor, die Rücken an Rücken Mietshäusern, die jenen in Schott- 15. Jahrhundert Zentrum der Möbelfer- standen. Die meisten dieser Häuser aus land ähnlich waren, doch im zweiten tigung in der französischen Hauptstadt, der ersten Generation – jener Zeit im Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts baute oder in den Kreuzberger Gewerbehöfen 18. Jahrhundert, als die Städte began- Owen eine Schule, deren fortgeschritte- in Berlin (D). In Gent, Belgiens Textil- nen zu wachsen – sind dem Abriss zum ne Lehrmethoden große Anerkennung hauptstadt, standen die Häuser in Opfer gefallen, weil sie nicht mehr den fanden, sowie ein noch erhaltenes parallelen Reihen um Begijncomplex sanitären Vorschriften entsprachen. Institut zur Charakterbildung. Ähnlich genannte Höfe, die über Durchfahrten In Manchester (GB) jedoch konnten einflussreich war die Familistère in in größeren straßenseitigen Gebäu- Archäologen einige dieser frühen Woh- Guise im französischen Département

62 | 63 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 1889 gegründet, setzte die Praxis philanthropischer Körperschaften fort und baute mehrstöckige Apartment- blocks, von denen einer der frühesten aus den Jahren 1849–50 noch heute in der Streatham Street steht. Als ein- flussreich erwies sich Het Schipp (das Schiff) in Amsterdem (NL), ein 1919–20 mit staatlicher Unterstützung von einer Wohnungsbaugesellschaft errichteter Komplex mit 102 Wohnungen. Die viel- leicht eindrucksvollste Wohnungsbau- politik verfolgte Wien (A) in den 1920er und 1930er Jahren. Dort haben sich zahlreiche architektonisch bemerkens- Aisne, die der Eisengießer Jean-Baptiste und kleine Vermögensanteile für sehr werte Beispiele erhalten, allen voran Godin (1817–88), beeinflusst von den arme Familien zur Verfügung zu stellen – der Karl-Marx-Hof, ein ein Kilometer lan- Ideen des Sozialisten Charles Fourier entstanden 1818–20 in Frederiksoord ges architektonisches Areal mit 1.382 (1771–1817), seit 1859 errichtete. Ein und Willemsoord in den Niederlanden. Wohnungen, das 1927–30 nach den Museum erläutert die Geschichte der Im späten 19. und frühen 20. Jahrhun- Entwürfen von Karl Ehn (1884–1957) Gebäude, von denen die meisten erhal- dert hatten paternalistisch gefärbte entstand. ten sind. In Großbritannien bemühte Werkssiedlungen Hochkonjunktur, sich die Chartisten-Bewegung in den darunter die von Émile-Justin Menier 1830er und 1840er Jahren um das (1826–81) 1872 um seine Schokola- Wahlrecht für Arbeiter, und die Grün- denfabrik erbaute Siedlung in Noisiel- dung eines Landwirtschaftsunterneh- sur-Marne in Frankreich, Crespie d’Adda mens durch die Chartisten spiegelt den und Collegno in Italien, Port Sunlight, weitverbreiteten Wunsch der Industrie- Bournville und New Earswick in England arbeiterschaft nach einer Rückkehr zum sowie die 1906 von der Familie Krupp Birmingham (GB) Landleben. Auf insgesamt fünf erwor- in der Umgebung von Essen (D) gebau- Back-to-Backs Arbeiterhäuser benen Landgütern entstanden Häuser, ten Arbeitersiedlungen Altenhof I und II Lanark (GB) die mit drei Schlafzimmern ausgestattet und Margarethenhöhe. Nikiszowiec, ein Welterbe New Lanark waren und zu denen jeweils ein Grund- Vorort von Kattowitz im heutigen Polen, Port Sunlight (GB) stück von bis zu 1,2 Hektar gehörte. war ursprünglich eine wirtschaftlich Werksiedlung Port Sunlight Mehr als 250 Familien ließen sich dort eigenständige Siedlung für Bergleute (Paul Thompson)

nieder, doch erwies sich die Finan- und ihre Familien. Dort gab es Geschäf- Guise (F) zierung des Projekts als unsicher, so te, Bäckereien, ein Krankenhaus, eine Familistère

dass das Unternehmen 1850 Konkurs Apotheke, eine Wäscherei sowie ein Capriate San Gervasio (I) anmelden musste. Auf dem Anwesen in öffentliches Schwimmbad, das heute Welterbe Crespi d’Adda

Dodford (GB) hat die Denkmalbehörde ein Museum beherbergt. Essen (D) National Trust eines der Häuser erhal- In vielen Städten liegt die Wohnungs- Siedlung Margarethenhöhe ten können. Ländliche Siedlungen an- politik in der Verantwortung lokaler Be- Kattowitz (PL) derer Art – sie zielten darauf ab, Häuser hörden. Der Bezirksrat von London (GB), Arbeitersiedlung Nikiszowiec

62 | 63 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Blaues Gold: Wasser – Wie Städte bewohnbar werden

Wasser ist lebenswichtig, doch es kann oder als Träger von Krankheiten. Wie kost- Jahrhunderte lang unerreicht blieben. Nahe auch eine Bedrohung sein. Als hilfreich bar reines Wasser ist, versinnbildlichen dem Roten Tor in Augsburg (D) stehen drei für den Menschen erweist es sich, wenn reich verzierte Brunnenköpfe, wie sie in Wassertürme, die in ihrer heutigen Form es Wasserräder aller Formen, Größen Freilichtmuseen erhalten sind. aus den Jahren 1599, 1672 und 1746 und Zusammensetzungen antreibt. Auch Die Etablierung einer effizienten Wasser- stammen. In der Folgezeit entstanden neun in medizinischer Hinsicht ist es von Nut- versorgung war eine der großen Errungen- weitere dieser Türme, so dass Augsburgs zen, etwa in Spa in Belgien, Mariánské schaften altrömischer Ingenieure. Davon Wasserversorgungssystem um 1850 die Lázné (Marienbad) in Tschechien oder zeugen noch der Pont du Gard, Teil eines meisten Häuser der Stadt erreichte. Weni- Bath in England. Um Städte zu versorgen 50 Kilometer umfassenden Systems zur ger spektakulär, aber dennoch ein wichtiger oder Kanäle zu füllen, kann es aus Quel- Versorgung der Stadt Nîmes in Frankreich, Beleg für die Bedeutung der Wasserversor- len oder Flüssen in Wasserspeicher ge- sowie der Aquädukt von Segovia in Spanien. gung großer Städte, ist der New River (Neuer pumpt oder durch Aquädukte und Rohre Beide stammen aus dem 1. Jahrhundert Fluss), ein Kanal, den Sir Hugh Myddleton geleitet werden. Seine lebensbedrohliche n. Chr. und sind Hinterlassenschaften einer (ca. 1560–1631) 1613 konstruierte, um Seite zeigt es bei Überschwemmungen Hochkultur, deren Ingenieurleistungen viele Wasser aus Quellen bei Hertford über eine Entfernung von 38 Kilometern nach London (GB) zu leiten. In einigen Städten gab es Netzwerke hölzerner Rohre, die die Häuser der Reichen mit Wasser versorgten, während sich der Rest der Bevölkerung das Wasser an zentralen Rohrleitungen wie jener in Carfax holte, der wichtigsten Kreu- zung in Oxford (GB). Heute befindet sich die ehemals öffentliche Wasserversorgungs- stelle im nahegelegenen Park von Nuneham Courtenay. Ein herausragendes Versor- gungssystem entstand im 18. Jahrhundert in Lissabon (P). Es umfasst insgesamt 58 Kilometer und gipfelt in einem Aquädukt, das von 109 Steinbögen getragen wird. Seine Geschichte illustriert ein Museum im 1880 gebauten Pumpwerk Barbadinhos. In Chelsea, London (GB), übernahm seit 1720 eine Dampfmaschine das Hochpum- pen von Trinkwasser, und im 19. Jahrhun- dert und bis ins 20. Jahrhundert hinein entstanden ähnliche Dampfpumpstationen in den meisten europäischen Städten. Zu den erwähnenswerten Beispielen gehört das London Museum of Water & Steam (Londoner Museum für Wasser & Dampf) in Kew. Die Zylinder der erhaltenen Dampf- maschinen weisen einen Durchmesser von 2,29 Metern (90 Inch) beziehungsweise

64 | 65 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY 2,54 Metern (100 Inch) auf und werden skizziert hatte. Beispiele dafür finden sich Viele Pumpwerke bieten einen spektakulä- teilweise bis heute unter Dampf gesetzt. in Crossness in London (GB), und auch das ren Anblick, doch wohl keines ermöglicht Das architektonisch spektakulärste britische Pumpwerk Bukeneč aus dem Baujahr 1906 einen besseren Einblick in die Technik Pumpwerk ist dasjenige in Papplewick bei in Prag (CZ) hatte diese Funktion. der Wasserversorgung als der Aquarius in Nottingham (GB) aus dem Jahr 1884. Das Die Bemühungen des Menschen, dem Mühlheim an der Ruhr (D). Das Museum finnische Technikmuseum residiert in einem Meer Land abzutrotzen und es gegen residiert in einem Wasserturm der Jahre Wasserwerk aus den 1870er Jahren auf der Überflutung zu schützen, spielen besonders 1892–93 und zeichnet sich durch seine Insel Kuninkaankartano bei Helsinki (FIN). in den Niederlanden eine herausragende betont multimediale Vermittlung aus. Das 1895 gebaute Pumpwerk Zawada in Rolle. In Kinderdijk südöstlich von Rotterdam Karchowice (Karchowitz) in Schlesien (PL) stehen beiderseits eines Entwässerungs- zeigt eine umfassende Sammlung von Ob- kanals zwei Reihen von Windmühlen. Eine Cornellà de Llobregat (E) jekten, die zur Reinigung von und Versorgung Reihe besteht aus acht Turmwindmühlen Wassermuseum von Aigües

mit Trinkwasser Verwendung fanden. Weitere aus Ziegelwerk anno 1738. Die zweite Haarlemmermeer (NL) Pumpwerke entstanden 1904 im litauischen Reihe aus acht achteckigen, reetgedeckten Dampfschöpfwerk Cruquis

Riga und in in Spanien, wo Turmwindmühlen entstand gemeinsam mit Karchowice (PL) 1909 die Pumpstation Cornellà ihren Dienst zwei kleineren Mühlen zwei Jahre später. Historisches Wasserwerk Zawada

aufnahm. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr- Der Wanderweg Molenkade erschließt diese Lissabon (P) hunderts bauten Ingenieure Staudämme erstaunliche Landschaft. Eine ähnlich über- Águas Livres Aquädukt (Wikimedia Commons. Paulo Juntas) zur Versorgung der Städte aus Talsperren. raschende Erscheinung ist das Maschinen- Bemerkenswert ist der Damm von Gileppe in haus Cruquius (NL), das in den 1840er Jah- Lemmer (NL) Welterbe Dampfschöpfwerk Ostbelgien aus den Jahren 1862–76. Zu den ren als eines von dreien seiner Art entstand, Ir. D.F. Wouda längsten seiner Art gehört der 118 Kilometer um das Haarlemmermeer zu entwässern. London (GB) lange Damm, der seit 1904 die Talsperren Die Dampfmaschine aus der Werkstatt von Museum of Water & Steam im Elan Valley in Zentralwales mit Birming- Harveys of Hayles in Cornwall, deren Zylinder Medemblik (NL) ham (GB) verband. Pumpwerke dienten auch im Durchmesser 3,65 Meter (144 Inch) Niederländisches zur Ableitung von Abwässern aus großen misst, trieb elf gusseiserne Balancierbalken Dampfmaschinenmuseum

Städten, wie das der britische Ingenieur an, die in einem zinnenbewehrten Rundturm Prag (CZ) Sir Joseph Bazalgette (1819–91) erstmals kreisförmig angeordnet sind. Alte Kläranlage Stará Čistírna

64 | 65 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Industriekultur

Die Sorge um die industrielle Vergan- genheit – ihre Gebäude, Maschinen, Produkte und die Erinnerungen der Arbeiter und Unternehmer – ist kein ganz neues Phänomen. Der Begriff “industrielle Archäologie”, das heißt die Untersuchung der materiellen Hinter- lassenschaften ehemaliger Bergwerke, Fabriken und Transportwege, kam Mitte der 1950er Jahre in Großbritannien in Gebrauch und bürgerte sich auch im Sprachgebrauch anderer Länder ein. Ein neuer Ausdruck war es jedoch nicht. Der Portugiese Francisco de Sousa Viterbo (1845-1910) benutzte ihn im Jahre 1896 in einer Studie, die darleg- te, wie Erinnerungen der Menschen an ihre Arbeit für die Moderne von Bedeu- tung sein könnten. Die Befürchtungen, dass das industrielle Erbe schnell verschwinden könnte, mündeten in Großbritannien in den 1960er Jahren in die Gründung von gleich fünf Freilicht- museen innerhalb weniger Jahre, die sich alle mit der industriellen Vergan- genheit beschäftigten. Auf Gruppen von Freiwilligen geht die Wiedereröffnung stillgelegter Eisenbahnlinien zurück, auf denen fortan Dampflokomotiven fuhren. Zudem erkannte man die Eignung von nen Modelle von Hebevorrichtungen das nach der Weltausstellung von 1851 Kanälen für die Freizeitschifffahrt, und und weiterer Bergbauausrüstung aus ins Leben gerufen wurde, den Museen unzählige Initiativen von Engagierten den Händen von Christopher Polhem in Wien (A) und Stockholm (S), die 1908 setzten sich für den Erhalt von Mühlen, (Polhammar) (1661–1751), einem beziehungsweise 1936 eröffneten, so- Maschinen und Objektsammlungen ein. schwedischen Ingenieur, der in Deutsch- wie dem seit 1925 bestehenden Seit den 1970er Jahren fand dieser Ein- land, den Niederlanden, England und Deutschen Museum in München (D). satz für die industrielle Vergangenheit Frankreich studierte. Maschinen, die für Das Freilichtmuseum, Teil der Bewe- seinen Widerhall in ganz Europa. die Entwicklung der Industrie von ent- gung des romantischen Nationalismus Die Sammlung von ästhetisch an- scheidender Bedeutung waren, stehen im späten 19. Jahrhundert, war eine sprechenden Industrieprodukten – Por- in Europas wichtigsten Technikmuseen: skandinavische Erfindung. 1891 eröff- zellan, Glas, Münzen, Schuhe und, im dem durch ein Regierungsdekret von nete Artur Hazelius (1833–1901) 20. Jahrhundert, auch Kraftfahrzeuge – 1794 gegründeten Nationalkonservato- eine Sammlung historischer Gebäude hat eine lange Geschichte. Besucher rium für Kunstgewerbe in Paris (F), dem aus ganz Schweden, die den Namen von Falun (S) etwa bewundern die schö- Wissenschaftsmuseum in London (GB), Skansen (Befestigung) erhielt, weil sie

66 | 67 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY auf einer befestigten Insel im Stock- gion erlauben würde, in den baulichen, holmer Hafen (S) lag. In der Folgezeit ökologischen und geologischen Gege- entstanden ähnliche Museen zunächst benheiten sowie in der Dokumentation in Skandinavien und später – besonders der mündlich überlieferten Geschichte nach 1945 – auch in anderen Ländern, (Oral History) ihre eigene Identität zu und in mehreren europäischen Spra- erkennen, und dass solche Themen chen bedeutet das Wort „Skansen“ öffentlich diskutiert werden sollten, heute Freilichtmuseum. Hazelius und statt sie Fachleuten zu überlassen. Das den Gründern der späteren Museen war Projekt in Le Creusot entfaltete so große daran gelegen, Gebäude und Objekte Wirkung, dass der Begriff „écomusée“ zu erhalten, die für das Landleben in beziehungswiese sein englisches bestimmten Regionen charakteristisch Äquivalent „ecomuseum“ seither auf in- waren. Seit den 1960er Jahren wandten dustriekulturelle Projekte in ganz Europa sich Freilichtmuseen wie jene in Hagen Anwendung finden. Die erste internatio- (D), Beamish (GB) und Zaanse Schans nale Konferenz zum Thema Ecomuseen (NL) auch der industriellen Vergangenheit fand 2012 in Seixal in Portugal statt.

zu, obwohl Kritiker bemängelten, dass Im vergangenen halben Jahrhundert Beamish (GB) Gebäude nach Möglichkeit nicht versetzt, haben sich Initiativen zum Erhalt und Freilichtmuseum Beamish

sondern an Ort und Stelle bleiben und zur musealen Aufbereitung des indus- Hagen (D) Besuchern erläutert werden sollten. triellen Erbes in ganz Europa verviel- LWL-Freilichtmuseum Hagen

Einen alternativen Ansatz verfolgten facht. Die meisten hegen keinen hohen München (D) seit 1967 die französischen Ethnologen akademischen oder sozialen Anspruch. Deutsches Museum

Georges Henri Rivière (1897–1985) und Stattdessen spiegeln sie den Wunsch Paris (F) Marcel Evrard (1920–2009), Gründer der betroffenen Gemeinschaften wider, Kunst- und Handelsmuseum

des Ecomuseums Creusot-Montceau. die Erinnerung an ihre industrielle Ver- Oslo (N) Rivière war der Überzeugung, dass ein gangenheit wachzuhalten und daraus Norwegisches Technikmuseum

Ecomuseum (meist waren auch sie Frei- Geschichten für Besucher und nachfol- Wien (A) lichtmuseen) den Menschen einer Re- gende Generationen zu destillieren. Technikmuseum

66 | 67 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Unser Platz in der Geschichte

68 | 69 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Begegnungen mit dem industriellen Erbe von Strépy-Thieu (B), die 574 Meter lange Industriegebäude samt den darin lau- erinnern uns vor allem an unseren Platz in und 78 Meter hohe Göltzschtalbrücke oder fenden Maschinen, den dort erzeugten der Geschichte. Beispielsweise blicken wir der Viadukt in Sachsen (D). Eine Reihe von Produkten und den Erinnerungen an zurück in das Jahr 1916 – das Jahr der Industriedenkmälern bewahrt ausgeprägte jene, die dort gearbeitet haben, sind ein Schlachten bei Verdun und an der Somme, Fertigkeiten und gibt sie an künftige Genera- Schlüssel zum Verständnis vieler Facetten als sich Europa inmitten eines zerstörerischen tionen weiter: die Weberei und Glasbläserei, unserer Vergangenheit. In ganz Europa Krieges befand –, denken darüber nach, wie das Dekorieren von Keramik, den Bau und halten Gemeinden Gebäude instand, sich unsere Lebensweise im vergangenen die Reparatur von Kanalbooten oder den die in architektonischer Hinsicht nichts Jahrhundert verändert hat und welchen erneu- Austausch von Kesselrohren. Für uns bringt Besonderes an sich haben, aber trotzdem ten Wandel sie wohl bis 2116 erleben wird. die Industrialisierung viele Vorzüge mit, Wertschätzung erfahren, weil sie Teil der Wir bewundern die schönen Objekte aus darunter Verbesserungen der persönlichen Erinnerung an die industrielle Vergangen- der Hand früherer Generationen: Glas aus Hygiene durch die Verfügbarkeit preiswerter heit und überhaupt an die gemeinsame Böhmen (CZ) oder Venedig (I) oder Porzellan Baumwolllaken oder ein gesünderes Leben Geschichte sind. Als solche beherbergen aus Sévres (F) oder Gustavsberg (S). Wenn dank billigerer Kraftstoffe für die Beheizung sie Museumssammlungen oder dienen als wir die S3/6-Lokomotive von Maffei im Deut- der eigenen Wohnung. Zugleich zollen wir Veranstaltungsorte für Tagungen, Konzerte schen Museum betrachten oder die 1950 der Widerstandsfähigkeit Respekt, mit der und Ausstellungen. Zu den vielen französi- von Schneider in Le Creusot (F) konstruierte sich einige Gruppen von Migranten in den schen Beispielen gehört etwa Bussières, 241P Vierzylinder-Verbundlokomotive in Ländern, die ihnen Zuflucht gewährten, be- ein 1500-Seelen-Ort im Beaujolais, dessen Mulhouse (Mülhausen, F), empfinden wir haupteten: die Hugenotten in England oder Einwohner in einer alten Seidenmühle die “kühne, unübertroffene Schönheit einer die Kriegsflüchtlinge, die sich in den 1820er anno 1898 seit 1977 Objekte zur Tradition großartigen Maschine”, wie ein englischer Jahren in Hermoupolis auf der griechischen der Seidenverarbeitung sammeln, die dort Dichter das einmal nannte. Wir bestaunen Insel Syros niederließen. von den 1830er Jahren bis in die 1960er die mathematische Raffinesse von James Die Auseinandersetzung mit dem indus- Jahre zu Hause war. Auch Cholet im Watts Parallelbewegung oder die Feinheiten triellen Erbe konfrontiert uns auch mit be- Département Maine-et-Loire blickt auf eine eines Jacquard-Webstuhls und weiden uns schämenden Aspekten unserer Vergangen- lange Textilproduktion zurück. Die ersten an den Industriebauten vergangener Deka- heit. Der Sklavenhandel spielt in Liverpool Hersteller nahmen schon im 17. Jahrhun- den. Einige Hersteller drückten ihren Stolz (GB) eine Rolle und Zwangsarbeit während dert ihren Betrieb auf, und die Stadt wurde über ihre Tätigkeit aus, indem sie besondere des Dritten Reichs ist Thema in Berlin (D). berühmt für die Herstellung des „mouchoir architektonische Bauwerke in Auftrag ga- Hamburg (D), Caen (F) und Coventry (GB) rouge (rotes Taschentuch) de Cholet“. ben: den Torbogen anno 1836 in Fallonica in erinnern an Flächenbombardements von 1982 verhinderte hier eine private Initiative der Toskana (I) etwa, der einst den Eingang Städten, und in Sanok (PL) und Waldkrai- den Abriss einer Bleicherei von 1881 und zu einer Gießerei schmückte, ebenso die burg (D) erfahren wir etwas über Zwangsum- entwickelt das Gebäude seitdem zum 1828 entstandene Gießhalle der Sayner siedlungen ethnischer Minderheiten nach Museum und Kulturzentrum. Hütte in Bendorf-Sayn (D) im gotischen Stil dem Zweiten Weltkrieg. Wir begegnen der oder die Schuhleistenfabrik Fagus in Alfeld Ausbeutung der Arbeiterschaft ebenso wie Strépy-Thieu (B) (D) aus den Jahren 1911–14 nach den dem philanthropischen Engagement einiger Canal du Centre, Entwürfen von Walter Gropius (1788–1864), Unternehmer. In Silkstone, Yorkshire (GB), Schiffshebewerk Nr. 3

und nicht zuletzt die architektonisch her- steht ein Denkmal zur Erinnerung an die Op- Alfeld (Leine) (D) ausragenden Salinen von Nicholas Ledoux fer eines Wassereinbruchs in einem lokalen Welterbe Fagus-Werk

(1736–1806) in Arc-et-Senans (F). Auch Kohlebergwerk, der 1838 unter anderem elf Mylau (D) scheinbar wundersame Ingenieurleistungen Mädchen im Alter zwischen 8 und 17 und Göltzschtalbrücke

erregen unsere Bewunderung: der Aquä- fünfzehn Jungen im Alter zwischen 7 und 16 S. João da Madeira (P) dukt von Lissabon (P), das Schiffshebewerk Jahren das Leben kostete. Industrietourismus

68 | 69 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY Betrachtungen

Das nahende Ende des Kohlebergbaus in werk Henrichenburg oder zum Gasometer Westeuropa führt zu einem Nachdenken in Oberhausen (D) unternehmen. über das Erbe, das er hinterlässt. Seine Die Industrialisierung Europas hat Abwicklung symbolisiert die Verände- das Gesicht der Erde verändert. Die rungen des frühen 21. Jahrhunderts. In Uhr bestimmte fortan das Leben der manchen stillgelegten Zechen wie dem Menschen, der Wert ihrer Arbeit wurde Energeticon bei Alsdorf (D) und dem in Geld bemessen. Maschinen ersetzten Kulturzentrum c-Mine (ehemals Zeche handbetriebene Spinnräder und Web- Winterslag) im belgischen Genk werden stühle, später dominierte die Nähma- Besucher aufgefordert, sich über die zu- schine die Herstellung von Schuhen und künftige Energieversorgung Gedanken zu Kleidung. Im 20. Jahrhundert übernah- machen, während in einigen ehemaligen men Roboter die Arbeit von Männern Kohlerevieren Wanderwege die Auswir- und Frauen an den Fließbändern der kungen des Bergbaus auf die Landschaft Autowerke. Die Verlagerung einiger anschaulich machen. Aiseau-Presles bei Industrien nach Osten hat dazu geführt, Charleroi (B) ist der Ausgangspunkt für dass Neu-Delhi (IND) und Peking (CHN) eine Route, die 43 Städte und Dörfer heute unter stärkerer Verschmutzung sowie 340 große Abraumhalden ein- leiden als Duisburg (D) oder Manchester schließt, und das in einem Gebiet, des- (GB) Erneut erfasst Europa ein radikaler sen Bergbaubetriebe ehemals Menschen Wandel durch das Absterben alter und aus 60 Ländern beschäftigten. Der auch jüngerer Industriezweige. Neue For- Durham Coast Heritage Trail (Küstenweg men der Wirtschaftstätigkeit entstehen, zur Industriekultur von Durham, GB) führt gestützt durch die Informationstechno- von Seaham 17 Kilometer in Richtung logie: Nanowissenschaften, Biotechnolo- Süden bis nach Crimdon und verbindet gie und die Nutzung von Windkraft und vier Zechen des 20. Jahrhunderts, die Sonnenenergie. Ganze Regionen suchen Kohle unter dem Meeresboden abbau- nach neuen Identitäten und rüsten sich ten. Zudem passiert der Weg ehemalige für die Zukunft. Bergarbeitersiedlungen sowie Häfen für Was bleibt, ist ein reiches industriel- den Kohleexport. Das Kohlebergwerk les und kulturelles Erbe, ein Netzwerk im Nordstern-Park in Gelsenkirchen (D) von Standorten, die über ganz Europa stellte 1993 seinen Betrieb ein. Heute er- verteilt sind und die industrielle Vergan- streckt sich dort eine Gartenlandschaft, genheit des Kontinents bewahren und und Besucher können in Restaurants und vermitteln. ERIH verknüpft diese Stand- Bars einkehren, die eleganten Gruben- orte und macht dadurch die industrielle gebäude von ca.1930 besichtigen sowie Vergangenheit lebendig – als Impulsge- Ausflüge im Kanalboot zum Schiffshebe- ber für unsere Zukunft.

70 | 71 EUROPAS INDUSTRIELLES ERBE – EINE INTERNATIONALE ERFOLGSSTORY

ERIH, die EUROPÄISCHE ROUTE DER INDUSTRIEKULTUR, ist das touristische Informationsnetzwerk zum industriellen Erbe in Europa Wo steht die erste Fabrik der Geschichte? Die größte Dampfmaschine, die je konstruiert wurde? Die einstmals modernste Zeche der Welt? Die Industrialisierung Europas hat das Gesicht unserer Erde verändert. Zurück bleibt ein reiches industriekulturelles Erbe. Das ist über ganz Europa verteilt – ein riesiges Netzwerk. Man muss es nur aktivieren. Genau das tut ERIH: die Europäische Route der Industriekultur. Sie ist eine aufregende Entdeckungsreise zu den wichtigsten Standorten der europäischen Industriegeschichte.

ERIHs Routensystem aus Ankerpunkten, Regionalen Routen und Europäischen Themenrouten ist Ihr Wegweise zu Europas industriellem Erbe.

Ankerpunkte Regionale Routen Europäische Themenrouten Ankerpunkte bilden die virtuelle Regionale Routen erschließen die Themenrouten zeigen die ERIH-Hauptroute Industriegeschichte einer Region. europaweiten Verbindungen auf.

Der Name sagt es schon: In den Anker- Jede Region hat ihre Spezialitäten: Was Stichwort Bodenschätze: Welche wurden punkten ist jede Menge verankert. für Küche und Gaumen gilt, trifft auch wann, wo und wie aus der Erde geholt? Zuallererst der große Rahmen: Die Anker- auf die europäische Industriekultur zu. Stichwort Textilproduktion: Welche punkte veranschaulichen die gesamte Deren Stärke liegt tatsächlich genau Meilensteine markieren den Weg von Bandbreite der europäischen Indus- darin: aus vielfältigen Traditionen ein der Faser zur Fabrik? Die Themenrouten triegeschichte. Dann das attraktive tour- großes Ganzes zu machen. Die region- greifen bestimmte Fragen der europäis- istische Angebot vor Ort: Besucher aller alen Routen erschließen Landschaften chen Industriegeschichte auf und Altersstufen können hier Industriekultur und Gebiete, denen die europäische zeichnen – oftmals zusammen mit den „live“ erleben – durch interessante Industriegeschichte ihren Stempel Biografien – mögliche Verbindungslinien. Führungen, Multimedia-Präsentationen aufgedrückt hat. Das Ruhrgebiet zum Denen folgen sie europaweit und zu und herausragende Events. Und nicht Beispiel. Oder Südwales, die „erste den unterschiedlichsten Industriedenk- zuletzt sind die Ankerpunkte zugleich Industrienation der Welt“. Dazu gehören mälern. Das Ergebnis: ein „Schaltplan“ Ausgangspunkte für die regionalen immer auch weniger bekannte Indus- der gemeinsamen Wurzeln europäischer Routen. triedenkmäler – die kleinen Räder im Industriekultur. großen Getriebe.

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