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Kultur zu überleben.“ So wurde von der POP Fachpresse plötzlich als neues Zentrum der Musikwelt ausgelobt; und neben Portis- Countdown head galten auch Barrows Mitstreiter aus erfolgloseren Tagen, der Künstler Tricky und die Band Massive Attack, bald als Trip- auf dem Sofa Hop-Stars. Minderbegabte Nachahmer, die sich Moloko, Sneaker Pimps oder Mor- Trauergesänge mit schleppenden cheeba nannten, ließen ähnlich wie Por- Hip-Hop-Rhythmen: Diese Mixtur tishead eine Sängerin zu scheppernden Beats wimmern – dummerweise ohne jede macht auch das zweite Album Idee oder gar Melodie. der britischen Band Portishead zu Die Sängerin, die Barrow für Portishead einem Klang-Ereignis. engagierte, heißt Beth Gibbons, und sie erweist sich auch auf dem neuen, schlicht „Portishead“ benannten Album als un- übertroffene Diva des heraus- geächzten Schmerzes – und Barrow setzt dazu aus Beats, Samples und Theremin-Geor- gel berückend schöne Melodi- en zusammen. Der Bandchef, als Arbeiter- kind in Bristol aufgewachsen und nach Aushilfsjobs „als Tee- kocher und so weiter“ damals Techniker in einem Musikstu- dio, traf Beth Gibbons eher zu- fällig in einem Weiterbildungs- seminar der Stadt Bristol. Ob- wohl sich die beiden nicht viel zu sagen hatten, erkannte Bar-

PHOTOSELCTION row Gibbons’ Begabung fürs Portishead-Sängerin Gibbons: Diva des Wimmerlauts tragische Fach: Niemand kann ähnlich hinreißend Zeilen wie ählen hilft. Immer, wenn er nervös „nobody loves me“ seufzen, während ein wird und eine dunkle Panik ihn zu schwermütiger Mix aus Hip Hop und Bar- Zübermannen droht, reiht Geoff Bar- Jazz, die Atmosphäre alter Agenten-Filme row in Gedanken Zahlen aneinander. „Zäh- beschwört. len beruhigt mich. Seit ich denken kann, In der Tradition der „Torch Songs“, reinigt es mir den Kopf von all den finste- jener klingenden Dramen, mit denen Bil- ren Dingen, die sich dort zusammenbrau- lie Holiday und Frank Sinatra berühmt en“, sagt der 27jährige Brite – und blickt so wurden, liefern Gibbons und Barrow den gequält drein, als rattere in seinem Kopf „wunderbarsten Klang an der Schwelle bereits wieder ein imaginärer Countdown. zur Stille“, wie ein Kritiker schwärmte. Beim Interview in einem erstklassigen Barrow selbst setzte der Erfolg so zu, New Yorker Hotel liegt Barrow mit finste- daß er in Depressionen verfiel – und rer Miene auf dem Sofa – und von dort 15 Monate lang abtauchte. „Aber eines aus verkündet er, was die Musikjournali- Tages habe ich mir gesagt: ,In Ordnung, sten über das zweite Album seiner Band nimm einen Break Beat, bremse den Portishead erfahren sollen. Rhythmus bis kurz vorm Stillstand, mixe Die Leidenspose ist durchaus angemes- seltsame Sounds und traurigen Gesang sen: Schließlich hat das aus dem gleichna- dazu und – zack – fertig ist das neue Al- migen Kaff in der Nähe von Bristol stam- bum.‘“ mende britische Quartett Portishead vor Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. drei Jahren mit einem unvergleichlich me- Denn obwohl das zweite Portishead-Al- lancholischen Werk die Popwelt verzückt. bum keine radikalen Neuerungen birgt, er- „Dummy“, so der Titel der Platte, war eine kundet es doch ein paar weitere Stufen geschmackvolle Sammlung rabenschwar- beim Abstieg ins Reich der Finsternis. Bar- zer Elektro-Klagelieder – und verkaufte row rechtfertigt die herzzerreißenden sich in knapp zwei Millionen Exemplaren. Trauerexzesse und psychotischen Abstür- Nebenbei begründete „Dummy“ ein gan- ze damit, „daß Beth sich einfach weigert, zes neues Genre, das irgendwer „Trip fröhliche Lieder und Texte zu singen. Ich Hop“ taufte. seh’ das ein, denn wir leben in düsteren Eine neue Musikrichtung erfinden, Zeiten, da hilft manchmal nur noch Musik schön und gut, aber was dann? Barrow hat – und wenn das nichts nutzt, kann ich nur mittlerweile erkannt: „Die größte Kunst Zählen empfehlen. Das wirkt manchmal im Popgeschäft besteht darin, einen Hype Wunder“. ™

der spiegel 41/1997 263