FERDY KÜBLER UND ...... Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten

Texte von Marco Blaser, Gian Paolo Omezzano und Sergio Zavoli Mit einem Interview mit Ferdy Kübler

Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... Verschiedene Schicksale, gleichwertige Siege von Marco Blaser*

Ich bin ein Junge der Piazza. Man erzählt konnte meine Begeisterung für die Rundfunk- sich, meine ersten Schreie hätten sich mit Kommunikation trüben. Es war geschehen. den Noten von Mascagnis “L’ amico Fritz” Die Erfolge, die der Schweizer Sport sam- vermischt, die von der Civica Filarmonica di melte, und über die Vico Rigassi, Giuseppe Lugano unter der Leitung von Maestro Albertini und Alberto Barberis berichteten, Dassetto auf der Piazza della Riforma bestärkten mich in meiner Wahl. In Jahre gespielt wurden. Geboren und aufgewachsen 1950 war ich in Locarno, um Fritz Schaer zu bin ich zwischen dem Stadtteil Sassello, in applaudieren, damals im rosa Trikot des Giro den Strassen Pessina, Soave, Petrarca, Luvini, und gleichzeitig den unvorhersehbaren dem Crocicchio Cortogna, und dem Rathaus, Etappensieg Hugo Koblets zu bejubeln, der das eine Art Municipio-Buckingham war, und später als erster Ausländer das hoch angese- in dem eines Tages ein anderer George, mit hene italienische Etappenrennen gewinnen ebenso starker Persönlichkeit, sein Amt sollte. Im Jahre 1951 ging ich in die Val antreten sollte. Als Kind roch ich den schar- Ganna zur Weltmeisterschaft von Varese. fen Duft der Kaffeerösterei der Conzas. Ich stellte mich später in der ersten Reihe Ganze Stunden verbrachte ich vor den Toren auf, um Ferdy Kübler im Regenbogentrikot der Speiseeisfabrik des “Leventinesers”, auf der heimischen Piazza zu empfangen. später eroberte ich die Überbleibsel der Zwei Jahre später nahm ich an einem Backwaren, die auf den eleganten Theken Wettbewerb für “neue Stimmen” teil, und der Bäckerei Burri unverkauft übrig geblie- am 1. Dezember 1954 gab ich mein Debüt an ben waren. Heutzutage befindet sich dort den Mikrofonen des legendären Radio der Sitz der Banca Popolare di Sondrio Monteceneri. Mein Vater gab mir seine (Volksbank von Sondrio). Das war mein Genehmigung, jedoch mit einem verbitter- Viertel. Der Tagesrhythmus wurde von den ten Unterton und ohne jede Überzeugung: Sendezeiten der Nachrichten des Radio “Wenn du dich wirklich zum Hanswurst Monteceneri bestimmt. Auch ich bin ein machen willst, na dann, nur zu!” Schon Kind der “Radio Days”, die in Manhattan von wenige Monate später wurde ich, als junger Woody Allen geschildert wurden, wobei man “Zauberlehrling”, in das Gefolge der Tour de natürlich Luganos Realität vor Augen haben Suisse eingeladen, an der Seite Alberto muss. Unauslöschlich sind in meiner Barberis und Tiziano Colottis. Erinnerung die am 1. September 1939 von Mehr als alle anderen Sportarten begeisterte Mario Casanova angesagten Meldungen ver- mich der Radsport. Die zwischenmenschli- blieben, die die Invasion Polens seitens der chen Beziehungen, die Schlichtheit seiner Wehrmacht des Dritten Reiches verkünde- Leute faszinierten mich. Es entstanden ten, und die der Landung der Alliierten in der Normandie. Das war am 6. Juni 1944. Die Ankunft der GIs (so wurden die ameri- Links: kanischen Soldaten genannt) war von den Hugo Koblet bei der Tour de France Klängen der Jazzmusik begleitet, die das des Jahres 1951 in der Orchester Glenn Millers spielte, damals Zeitetappe von Dauergast beim britisch-amerikanischen Aix-les-Bains nach Genf. Er durchfuhr die 97 Militär-Radiosender AFN. Kilometer in 2h39’45” Als am 8. Mai 1945 die Glocken das Ende des bei einem Mittelwert von 36,43 km/Std., Krieges verkündeten, hatte sich in mir baute seinen Vorsprung längst der Wunschtraum verwurzelt, ein von 9 auf 22 Minuten aus und gewann die Rundfunkreporter zu werden. Erfolglos 38.Auflage des franzö- waren alle Vorschläge der Kunden, die den sischen Rennens zwei Tage vor dessen Ende. Betrieb meiner Eltern besuchten, mich doch der Welt des Bankwesens zuzuwenden. Noch Rechts: nicht einmal die Aussicht, mir die familiären Der Radiokommentator der RSI Vico Rigassi Erfahrungen im Hotelgewerbe anzueignen,

[III] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Oben: Zukunft voraus und machte Ein eleganter und auf ihn aufmerksam, der gerade beschlossen tadelloser jugendlicher Koblet, zwischen seinen hatte, zum Giro des Heiligen Jahres anzu- Schulkameraden, treten. in einem Ausschnitt eines Gruppenfotos. Koblet, Neuling bei diesem anstrengenden Etappenrennen, trug in der Hälfte des Unten: Hugo Koblet mit Rennens das rosa Trikot, das Schaer schon seiner Frau bei der einige Tage lang getragen hatte. Dieser Ehrenrunde des Schweizer Champion eroberte die Herzen Sechstagerennens von Zürich am 21. März der Radsportliebhaber mit seiner angebore- 1957, dem Tag seines nen Eleganz und ungestümen athletischen 32. Geburtstages. Kraft. Die genialen Berichterstatter der “Gazzetta dello Sport” nannten ihn den “blonden Falken”. Schön, stark und höflich wahre, aufrichtige Freundschaften, die dem wurde er auch zum Liebling der rosa Zahn der Zeit widerstehen. Emilio Croci Karawane. Mit dem Trikot des Leaders mehr- Torti, der Adjutant Ferdys, versorgte mich Tag ten sich sowohl Willensstärke als auch Mut. für Tag mit den Bananen aus seiner Das Ausscheiden Fausto Coppis, der durch Verpflegung, um mein Wachstum zu fördern. einen Sturz einen Beckenbruch erlitt, brach- Remo Pianezzi, getreuer Helfer Hugo Koblets, te auch Gino Bartali in Schwierigkeiten, den vertraute mir hingegen die Strategien seiner gefürchtetsten Antagonisten, der gerne als Mannschaft an. Ich weiss noch, dass ich, in Sieger vor Pius XII gestanden hätte. Doch einem Land, das in Anhänger der zwei “K” Hugo trat entschlossen in die Pedale, liess gespalten war, instinktiv mehr zur Seite der dem toskanischen Champion keine Chance Küblerschen tendierte, wenn mir auch der und kam, als erster Ausländer der Geschichte, Dialog mit Hugo leichter fiel. Dieser wunder- als Sieger am Endziel, den Thermen von bare, kraftvolle und elegante Zürcher Caracalla, an. Nun war er es, der vom Heiligen Sportler hatte schon seine aussergewöhnli- Vater und der jubelnden Schweizer Garde chen Erfolge beim Giro und bei der Tour empfangen wurde. Beim Grenzübertritt in hinter sich. Leider war am Anfang meiner Chiasso zog er das rosa Trikot an. An jenem journalistischen Tätigkeit sein Stern schon Nachmittag blieben unsere Schulen geschlos- am Verblassen. sen, und auf den Gebäuden wurden die Hugo Koblet wurde im Jahre 1925 in der Flaggen gehisst. Langsam lernten wir, seine Hildestrasse 3 geboren, in einem grossen kleinen Eitelkeiten zu würdigen: am Ende Sozialviertel Zürichs. Seine Eltern führten jedes Rennens erfrischte er sein Gesicht und eine kleine, angesehene Brotbäckerei. Hugo, kämmte sich akkurat, bevor er vor das der Jüngste der Familie, war für die Publikum und die Fotografen trat. Er Lieferungen des Brotes zuständig. Vom tägli- chen Fahren vieler Kilometer entwickelten sich seine Muskeln, und bald wurde er zu einem der hervorragenden Junioren des regionalen Velo Clubs. Im Jahre 1943 gewann er als Amateur sein erstes Rennen. Er trat den Berufssportlern bei und erlangte 1947 den Sieg über die erste Etappe der Tour de Suisse, die Etappe Zürich-Siebnen, indem er mit Überlegenheit Kübler, Coppi, Bartali und weitere gestandene Champions abhäng- te. Später fiel er als Radrennfahrer auf, der sich auf Flachstrecken und Zeitfahren spe- zialisiert hatte, und zog die Beachtung der aufmerksamsten Beobachter auf sich. Göpf Weilenmann, Sieger unserer Tour de Suisse im Jahre 1949, sagte ihm eine leuchtende

[IV] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... bezauberte Erwachsene wie Kinder und fas- begünstigte Hugo 1954 seinen Adjutant zinierte vor allem die Damenwelt. Die Pariser Carlo Clerici, der den Giro gewann, und gab Journalisten nannten ihn den “pédaleur de sich mit dem zweiten Platz zufrieden. Später charme”. konzentrierte er sich auf die Klassiker: Sein Auftakt auf den Strassen nördlich der Herausforderungen auf der Bahn, Sechstage- Alpen fand 1951 mit einem grossen Sieg bei rennen, Zeitfahren. In der Zwischenzeit hei- der Tour de France statt. Es folgte eine lange ratete er das hübsche Mannequin Sonia Reihe hoch angesehener Erfolge. Im Jahre Brühl und vergass dabei leider, seinen 1952 ging Koblet nach Mexiko. Seine Lebensstil den neuen, weniger prächtigen Arglosigkeit und sein Unvermögen, Ein- Einkünften anzupassen. Das unbestrittene ladungen abzulehnen, verleiteten ihn zur Talent des Weltradsports war in der Tat ein Teilnahme an einem seltsamen Handicap- sehr schlechter Verwalter. In wenigen Rennen, das sich eine Gruppe ungewöhnli- Monaten verschwendete er die angesammel- cher Unternehmer ausgedacht hatte. Es war ten Reichtümer. “Das Geld rann ihm durch ein geheimnisvolles Abenteuer, das sein die Finger” sagte Armin von Büren, sein Leben verändern sollte. Bei seiner Rückkehr Gefährte vieler Sechstagerennen. Die Tour de nach Europa bemerkten seine Freunde und Romandie im Jahre 1958 bedeutete das Ende Mannschaftskameraden, dass sein Aufenthalt seiner sportlichen Karriere. Auch auf 1000 in Mexiko seine Gesundheit angegriffen Metern Höhe konnte der “blonde Falke” nur hatte. Plötzlich auftretende, ungewöhnliche mit Mühe atmen. Einen Athleten so in Schmerzen erschwerten ihm das Atmen im Schwierigkeiten zu sehen, der die Kraft Hochgebirge. Über 2000 Metern Höhe trat besessen hatte, die angesehensten Champions wie durch einen Würgegriff ein mühsames, seiner Zeit zu besiegen, gab allen einen keuchendes Atmen ein. schmerzhaften Stich ins Herz. Dank seines Im Jahre 1953 kehrte er als absolute Rufs, aber auch dank seiner angeborenen Hauptperson zum Giro d‘Italia zurück. Er Vornehmheit, bekam Hugo ein Angebot von galt als Favorit für den Gesamtsieg. In Enrico Matteis von AGIP. Er wurde nach Bozen kam er im rosa Trikot an, nach Coppi, Venezuela eingeladen, als Testimonial des der die Etappe gewann. An jenem Tag “sechsbeinigen Hundes Supercortemaggiore”. begann Mario Ferretti an den Mikrofonen der RAI seinen Bericht mit den unvergessli- chen Worten: “Ein einzelner Mann ist in Führung, sein Trikot ist weiss-blau, sein Name ist …”. Damals wurde behauptet, jener Sieg sei Teil einer Ab- machung zwischen den beiden Sportlern gewesen: “Heute gewinne ich die Etappe, morgen gewinnst du den Giro!” Aber am nächsten Tag begannen für Koblet, auf den anstrengenden Serpentinen des Stilfser Jochs, die Schwierigkeiten, und Coppi wurde von seiner Führung dazu angehalten, sich nicht an die vermeintliche Abmachung zu halten, in Bormio zu siegen und am dar- auf folgenden Tag diese qualvolle Etappe des Giro zu gewinnen. Südtirol, die Luft des Veltlin mit dem Stilfser Joch und das Engadin mit dem Bernina, hatten eine So zog er mit Sonia nach Caracas und blieb

Tour de France des besondere Bedeutung in Hugos Laufbahn. dort zwei Jahre lag. Im Dezember 1960 kam Jahres 1951, am 16. Juli: Bei der Tour de France bereiteten Herz und er unbemerkt nach Zürich zurück, als Koblet in Aktion bei der Etappe, die ihn siegreich Lungen dem Schweizer Champion wieder AGIP beschloss, ihm die Tankstelle an der von Brive nach Agen Qualen, obwohl er doch zu leiden wusste. Radrennbahn von Oerlikon anzuvertrauen. brachte, nach einer le- Danach setzte sich seine Karriere mit Höhen Eine Gruppe seiner Getreuen überredete ihn gendären 136 Kilometer langen Soloflucht. und Tiefen fort. Als grosszügiger Gentleman jedoch, einen Auftrag als Kommentator für

[V] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

[VI] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... Radrennen bei Radio Beromünster anzu- decken und andere Menschen zu treffen. nehmen. Schüchtern und introvertiert, wie Hingegen erzählte er ungern von dem am er war, nahm er diesen Vorschlag an, bat wenigsten klaren Ereignis: der Geschichte jedoch darum, von einem Kollegen als des Stilfser Jochs im Jahre 1953. Eines Tages Berichterstatter begleitet zu werden, der ihn sagte er zu mir, jener Giro habe schon ungün- über die technischen Gesichtspunkte des stig begonnen. Man habe eine Stimmung wie Rennens befragen sollte. Sepp Renggli, Krieg auf zwei Rädern gespürt. Fast flüsternd damals Leiter der Sportredaktion des Senders, vertraute er mir an: “Ich verlor den Giro bei war mit dem Vorschlag Hugos einverstanden der Etappe über das Stilfser Joch bis Bormio. und bot mir im Sommer 1961 den Auftrag an. Ich wurde von Coppi geschlagen, dem grös- Mein Debüt an seiner Seite fand am 15. sten Champion aller Zeiten!”. Ich versuchte, Oktober in Lugano, mit dem Bericht über ihm etwas über die vermeintliche Ab- die Zeitetappe, statt. Drei Jahre lang arbeite- machung zu entlocken, und über den darauf ten wir gemeinsam, bei zirka 15 Einsätzen. folgenden möglichen Verrat. Er antwortete In dieser Zeit hatte ich Gelegenheit, den mir nicht. Anstatt dessen verschloss er sich Menschen Koblet näher kennen zu lernen, und wahrte ein hermetisches Schweigen. In einen Freund mit inneren Qualen, der sich jenen Tagen waren wahrscheinlich Kräfte in manchen Momenten besiegt und zum Einsatz gekommen, die es fertig brach- gedemütigt fühlte. Auch Sonia verliess ihn, ten, sogar die Ehrlichkeit und die Konsequenz sie war noch in Caracas geblieben, und eini- eines Ehrenmannes wie Coppi schwanken zu ge leichtfertige Verwandte nutzten ihn mit lassen. unvorstellbarem Zynismus aus. Seiner Meinung nach, befand sich der Während unserer Dienstreisen und beim Radsport in den sechziger Jahren in einer tief- Essen am Vorabend unserer Einsätze als gehenden Phase des Wandels. Oft wiederholte Chronisten, vertraute er mir immer wieder er, der Radsport sei am Ende. Taten wie die sein Unbehagen darüber an, dass er vom Coppis, Bartalis, Magnis, Küblers und Bobets Fahrrad in die Geschäftswelt hatte umsat- würden sich nicht wiederholen können. teln müssen. In Caracas hatte er seine Unter dem immer massiveren Eingreifen der Begeisterung für Tennis und Wasserski ent- Sponsoren, immer auf der Suche nach deckt und gewann auch einige Amateur- sofortigem Erfolg, um die Marken ihrer wettkämpfe. Aber das waren schnell vorü- Produkte ins beste Licht zu stellen und die bergehende Strohfeuer. Er erinnerte sich immer höheren Gagen zu amortisieren, jedoch gerne an die freundschaftlichen wuchs die Bereitschaft, der extremen Beziehungen zu Kübler, Bobet und Remo Sportmedizin eine gefährliche Macht zu Pianezzi. Es bereitete ihm Freude, mir die übergeben. Er spürte zweifellos schon die Ereignisse zu erzählen, die mit dem Sieg des Atmosphäre des Dopings und der Anabolika, Links: Giro 1950 zusammenhingen, die Freude die damals bereits in einigen Ländern Koblet nach dem Sieg beim Grand Prix de Learco Guerras, der sich niemals hätte vor- Osteuropas benutzt wurden. Suisse im Jahr 1950. stellen können, in Rom mit seinem “Blonder Falke”, “pédaleur de charme” Mannschaftskapitän als Sieger einzuziehen. und “James Dean des Er erzählte mir, dass Learco Guerra bei der Radsportes” waren einige der Beinamen, offiziellen Siegerehrung auf dem Petersplatz die er dank seiner vor Freude geweint habe. Er sagte: “Er sah Eleganz und seines aus wie ein Kind, das von zu vielen Charmes errang. Weihnachtsgeschenken ganz verwirrt war.” Rechts: Zu den schönsten Augenblicken seiner Koblet am Steuer seines Wagens, eines Laufbahn zählte er die Tour de France und mythischen Studebakers, das Glück, dass er seinen Traumberuf habe in der Nähe des Hallenstadions von ausüben dürfen, auch wenn das hart und Oerlikon. In diesem zeitweise grausam gewesen sei. In seinen Stadtteil Zürichs führte er eine Zeit lang eine Augen war jedes Rennen ein Abenteuer, eine Tankstelle, nachdem neue Erfahrung, die ihm Anreiz und er sich 1958 von den Vergnügen war. Er liebte es zu reisen, neue Wettkämpfen zurückge- zogen hatte. Länder kennen zu lernen, Europa zu ent-

[VII] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Rechts: Hugo beendete seine Radfahr-Karriere, ohne stets bereit, jungen Menschen, die sich an ihn Kübler wird von einem je ein Weltmeistertrikot errungen zu haben. wendeten, Ratschläge zu geben. Grosszügig begeisterten Anhänger angefeuert, während Das war das Ergebnis einer unprogrammier- erinnerte er daran: “Das Haus auf dem er die Steigungen des ten, chaotischen Vorbereitung auf die Zollikerberg ist immer offen”. Ich hatte jedoch Furkapasses auf der 3. Etappe der Tour de Wettkampfsaison. Er plante nie präzise den Eindruck, dass die angeborene Reser- Suisse 1947 über 213 Ziele. Aber er bedauerte, dass es ihm nicht viertheit sich langsam verstärke. Er erschien Km von Bellinzona nach Siders in Angriff nimmt. gelungen war, den Stundenweltrekord zu mir oft verwirrt, unsicher und traurig. Nachdem er kurz nach schlagen. Der erste Versuch misslang und Wenige Wochen nach unserem letzten beruf- dem Start allein einen den zweiten, im Vigorelli in Mailand, musste lichen Treffen zerschellte Hugo Koblet, am Ausreissversuch unternommen hatte, er wegen eines plötzlichen Unwohlseins auf- Steuer seines Wagens, unerklärlicherweise gewann Kübler geben. Eines Abends fragte ich ihn ohne an einem Baum auf offenem Lande, längs mit 3 Minuten und 32 Sekunden Vorsprung Umschweife nach einer Bilanz seines der Strasse, die vom Dorf Esslingen nach vor Fausto Coppi. Lebens. Wir sassen im Restaurant “San Mönchaltdorf führt. Es war der 2. November

Unten: Remo” in der Brunnenhofstrasse in Zürich, 1964. Wenige Tag danach starb er, ohne das Ferdy Kübler wird wo wir uns ein Gulasch mit Rösti schmecken Bewusstsein wieder erlangt zu haben. von seinen Anhängern nach dem Sieg der liessen. Er sah mich verwundert an und Ich gab ihm das letzte Geleit an der Seite Weltmeisterschaft von sagte: “Es hat mir an nichts gefehlt. Ich habe Sepp Rengglis und der Kollegen aus der Varese gefeiert. Es als Lieferbursche der Bäckerei meiner Redaktion Bruno Galliker und Max Ruegger, war der 2. September 1951 und der Schweizer Eltern angefangen. Ich habe den Ruhm zusammen mit Tausenden von Sport- schlug im Endspurt die gekostet, ich habe die halbe Welt gesehen, begeisterten, sowohl Schweizern als auch Italiener Fiorenzo Magni und Antonio Bevilacqua. ich habe viel Geld verdient, ich habe viele ausländischen Sportlern, darunter Kübler, Leute kennen gelernt und bin als Protestant Clerici und Bobet, die gemeinsam mit Hugo sogar in Privataudienz von Papst Pius XII Hauptpersonen einiger der eindrucksvoll- empfangen worden. Heute Abend sitzen wir sten Episoden des heldenhaften Radsports hier und geniessen ein gutes Abendessen. der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Was sollte ich mehr verlangen? Vielleicht gewesen waren. An jenem Tag verlor Ferdy bin ich am Ende eines Weges angekommen. Kübler einen wertvollen Anhaltspunkt, der Aber lieber nichts übereilen.” Dieser Satz ihn in seiner Karriere als grosser Champion verbarg Enttäuschungen und Bitterkeit und begleitet hatte. Ferdy, sechs Jahre älter als gehörte einer Spur von Depression an, die Koblet, war in Marthalen im Kanton Zürich mit der mysteriösen Reise nach Mexiko in sehr einfachen Verhältnissen geboren und zusammenhing, die seine Gesundheit beein- aufgewachsen. Sein Vater, Aufseher in der trächtigt hatte. Irrenanstalt von Rheinau, erhielt einen monatlichen Lohn von 140 Franken: ein Einkommen, das zum Überleben der Eltern und der fünf Kinder zu reichen hatte. Zusammen versuchten sie, den mikroskopi- schen Lohn aufzubessern. Während der Schulferien ging Ferdy auf einem benach- barten Bauernhof arbeiten. Vom Sonnen- aufgang bis abends um neun kümmerte er sich als Laufbursche mit gutem Willen um die Kühe. Der Lohn betrug 20 Franken im Er äusserte dies auch Armin von Büren Monat, die er unangetastet dem Vater über- gegenüber, als sein Partner bei vielen gab. Eines Tages bekam er ein altes Fahrrad Sechstagerennen ihm nahe legte, doch mit geschenkt, um für eine Nachbarin einkaufen dem, was von einer schon weit aufgebrauch- fahren zu können. So begann seine Be- ten Substanz übrig geblieben war, mit grös- ziehung zum Fahrrad. Zwei Monate später serer Umsicht umzugehen. Unverständlich stellte ihn der alte Brotbäcker Schneebeli blieb sein Verzicht auf die Stelle eines techni- ein und beauftragte ihn mit dem täglichen schen Kommissars der Föderation. Er lehnte Ausliefern von zirka 40 Kilogramm Brot an aufgrund absurder Spannungen zwischen den die Einwohner der Fraktion Pfannenstiel. Funktionären ab, die, wie er meinte, jede Diese anstrengenden Fahrten entwickelten Initiative verhinderten. Demgegenüber war er seine Muskeln. Mit seinen Ersparnissen und

[VIII] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

[IX] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Rechts: einem kleinen Darlehen, abzahlbar in Raten Tour de Suisse des Jahres 1941. Die nächste Im Frühling 1946 führte von 5 Franken im Monat, kaufte sich Ferdy Ausgabe der Tour sollte dann ihm gehören. Kübler seine sportliche Vorbereitung in Lugano ein Rennrad. Er trat dann zu einigen Zusammen mit Hunderttausenden seiner durch, in der Turnhalle Juniorwettkämpfen an und errang den ersten Landsleute wurde er zum Wehrdienst einbe- von Georges Miez, Olympiateilnehmer Sieg auf der Glarus-Rundfahrt. Damals war er rufen. Er wurde der Berginfanterie zugeteilt. als Turner im Jahre noch keine 19 Jahre alt. Als Amateur gewann Als 1947 die sportlichen Wettkämpfe wieder 1928 in Amsterdam und 1936 in Berlin. er in Le Locle und begeisterte Vico Rigassi, aufgenommen wurden, trat er zur Tour de der diesem lebhaften und willensstarken France an und gewann die erste Etappe Paris- Unten: Zürcher Athleten in einer Direktübertragung Lille und das Teilstück, das die Karawane von Ferdy Kübler und Emilio Croci Torti, sein eine grosse Zukunft voraussagte. Im Jahre Strassburg nach Besancon brachte. Es waren getreuer Wasserträger, 1940 trat er den Berufssportlern bei und die Jahre des beliebten Jean Robic, genannt fahren mit dem Motorrad zum Start gewann sofort das Rundrennen von “Glaskopf”, des Triestiners Giordano Cottur der Crans-Locarno, Lausanne. Das war ein viel versprechender und der Gebrüder Weilenmann. In jenem 6. Etappe der Tour de Suisse im Jahre 1952. Anfang, der ihm erlaubte, der Armut zu ent- Jahr hatte sich Gino Bartali bei der Tour de Den Simplon erreichte fliehen. Die verschiedenen Erfolge brachten Suisse bewährt und die Sportbegeisterten Carlo Clerici als Erster, aber bei der Abfahrt ihm die nötigen Mittel, seine unsicheren erlebten den ersten Wettkampf zwischen holte “Ferdy National” finanziellen Verhältnisse aufzubessern. Das den beiden “K”s, von denen jeder eine auf und gewann am Gespenst der Armut verfolgte ihn in seinen Etappe gewann. Koblet erlangte den Sieg Gesamtziel. ersten Lebensjahren und zeichnete seine über die erste Teilstrecke mit dem Ziel Jugend auf unverwechselbare Weise. Viele Siebnen, während Kübler die Bellinzona- erinnern sich an ihn als aufmerksamen Sierre gewann. Diese war eine der spekta- Rechner, und noch heute behaupten einige, kulärsten Unternehmungen Ferdys, der sich er sei einer der umsichtigsten Sparer, eine gleich nach dem Start vom Feld absetzte Eigenschaft, die weniger Diplomatische sich und nach einer 213 Kilometer langen nicht scheuen, als Geiz zu definieren, ein Soloflucht als erster eintraf. Der Ehrenplatz Gerücht, das fast zur Legende geworden ist. am Walliser Ziel ging an Coppi, gefolgt von Um die Wahrheit zu sagen, wurde ihm das Bartali, Depredhomme, Schaer und Dupont. Sparen aus Prinzip von einem seiner Meister Dieser unvergessliche, taktisch unbegreifliche eingeschärft, dem unbezähmbaren Paul Galopp erregte Aufsehen. Alberto Barberis Egli, der ihm als grundsätzliche Disziplinen sagte in sein Mikrofon: “Ab und zu muss Pünktlichkeit und Sparsamkeit auferlegte. gezeigt werden, dass es keine Unbesiegbaren Ferdy, jetzt Berufssportler, liess sich in gibt. Man muss nur wollen!” Das war der Adliswil nieder, das, nach den Aufsehen erre- Auftakt zu einer Reihe spektakulärer Duelle genden Erfolgen, von den Sportbegeisterten zwischen den beiden Schweizer Champions in “Kübliswil” umgetauft wurde. Er mietete und die Einleitung zu der herrlichen Saison eine Wohnung für 20 Franken monatlich, des “Ferdy National”. In den sechs folgenden die Hälfte dessen, was er im nahen Zürich Jahren sollte er weitere zwei Male das hätte zahlen müssen. In der Zwischenzeit Schweizer Etappenrennen gewinnen (1948 gewann er, mitten im Krieg, die Etappe und 1951), zweimal den Klassiker Lüttich - Lausanne-Bern, eine der drei Etappen der Bastogne - Lüttich und der Flèche Wallonne (Wallonischer Pfeil) einmal die Bordeaux- Paris, die Tour de France, die Welt- meisterschaft in Varese und die Rom - Neapel - Rom, um seine Karriere im Herbst 1956 mit dem Sieg der Mailand-Turin zu beenden. Gleich dreimal wurde er Erster in der hoch angesehenen Rangliste des Desgrange- Colombo-Preises. Im Jahre 1957 nahm er noch an einigen Abschiedsveranstaltungen teil und zog den aussergewöhnlichen belgi- schen Sprinter und René Strehler, den aufsteigenden Stern, mit in das Abenteuer hinein. Mit Überlegenheit in die Geschichte des Radsportes eingedrungen,

[X] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... sagen seiner Ausstellungen teilzunehmen. Die Begegnungen mit Emilio waren jahre- lang Prüfstand der lebhaften und freudigen Kameradschaft, die die Welt des Radsportes in jenen Jahren charakterisierte. Bartali, Nino Defilippis oder nahmen nie ein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, scherzhafte Episoden in Erinnerung zu bringen, die sich bei den Rennen ereignet hatten. “Hat Astrua eigentlich jemals die Uhr zu sehen bekommen, die du ihm damals ver- sprochen hast, damit er dich in Lugano gewin- nen lässt?” fragte Gino unvermittelt Ferdy. Er meinte damit einen Pakt, der geschlossen wurde, als sie in der Endphase eines Giro del Ticino keuchend die Serpentinen des Monte Ceneri in Angriff nahmen. Ohne eine Miene zu wurde er zu einer ihrer grossen Haupt- verziehen, holte Ferdy an jenem Abend eine figuren. Danach widmete er sich seiner Swatch aus der Westentasche und entgegnete Familie. Als Vater von fünf Kindern ist er dem Toskaner, er habe sie ihm schon seit heute glücklicher dreifacher Urgrossvater. einer Ewigkeit geben wollen, aber sei es In seinem unruhigen Ruhestand verstand er wegen der Zollprobleme, sei es wegen der es, sich die Beliebtheit zu erhalten, die er auf Gedächtnislücken des Alters, er habe nie die Europas Strassen erobert hatte. Mit unvor- Freude gehabt, jene alte Schuld zu beglei- hersehbarem Scharfsinn entwickelte er die chen. Erinnerungen, schlagfertige Antworten angeborene Neigung für Public Relations. und lustige Enthüllungen waren immer ein Dank seines unschlagbaren Spürsinns über- Merkmal jener herzlichen Zusammenkünfte. liess er sein unverwechselbares Profil jahre- Ferdy ist inzwischen eine der ältesten lang einer Versicherungsgesellschaft, die Hauptfiguren des Radsports jener helden- viele auch heute noch mit seiner Nase asso- haften Jahre. Bei der Parade der Sieger der ziieren. Er war auch beliebter Testimonial Tour de France, die anlässlich des hundert- des Crédit Suisse, der Villars, der Bio-Strath jährigen Jubiläums des transalpinen Etappen- und der Trident. In fünfzig Jahren nahm er rennens veranstaltet wurde, stieg er als letz- an über 2000 Veranstaltungen mit den ter auf das Podium, nach dem neunundsieb- Sportbegeisterten teil, um Erinnerungsfotos zigjährigen Roger Walkoviac, gelbes Trikot zu signieren. Auch Skilehrer war er, um 1956. Mit 87 Jahren absolviert er jetzt fleissig dann, nach Überschreiten der siebzig Jahre, ein Rehabilitationsprogramm, um die letzten zum Golf überzuwechseln. Auf Anregung Folgen eines schlimmen Ausrutschers auf der seiner jetzigen Frau, der hübschen und lie- häuslichen Treppe zu beseitigen. Mit seiner benswürdigen Christina, wurde er schnell sprichwörtlichen Begeisterung hat er inzwi- zu einem pünktlichen Besucher der Golf- schen schon seinen Freundeskreis zusam- plätze, von einer Leidenschaft beseelt, die mengerufen, um auf das neue Buch über von manchen Besessenheit genannt wird. sein Leben anzustossen, das der Herausgeber Heute ist er Ehrenmitglied des Club d’Ascona, Peter Schnyder, gemeinsam mit Martin und von Crans-Montana, Unterengstringen und Hanspeter Born und Sepp Renggli, dem Kensington in Florida. Gerne hält er sich legendären Chronisten der grossen sportli- südlich der Alpen auf. Wenn Emilio Croci chen Ereignisse der zweiten Hälfte des vori- Torti, sein getreuer Adjutant, ihn ruft, ant- gen Jahrhunderts, ihm gewidmet hat. Es wortet er mit “Hier!”. Noch heute schätzt durchläuft seine magische Karriere und lässt Ferdy die Ratschläge seines früheren in uns die Erinnerung an die Freuden und Wasserträgers, der in der bildenden Kunst die Emotionen der fünfziger Jahre wieder eine neue, geschätzte Tätigkeit als begabter aufleben. Kunstmaler gefunden hat. Mehrmals hatte ich Gelegenheit, an den festlichen Vernis- * Journalist, früherer Direktor der RTSI

[XI]

Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... Ferdy und Hugo auf Italienisch

von Gian Paolo Ormezzano *

Links: Das letzte grosse Duell zwischen Koblet und Kübler fand bei der Tour de Suisse 1955 statt. Koblet gewann das Rennen und die zweite Etappe, von Baden nach Delsberg, Kübler schlug den Rivalen auf der 5. Etappe von Sierre nach Locarno.

Auf dieser Seite: Ferdy am Krankenbett Hugos, der bei der Abfahrt der Pau-Luchon, der klassischsten aller Pyrenäen- Etappen der Tour, gestürzt war. Es war der 19. Juli 1954: aufgrund des Sturzes wird Koblet im Ziel eine Verspätung von über 26 Minuten verzeichnen und am darauf folgenden Tag wird er gezwungen sein, das Rennen zu verlassen. Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Koblet und Kübler als Es war in den Jahren, da sich Peppino de gen. Das war Ende der vierziger Jahre. Die Mannschaftskameraden Filippo, endlich der (durchaus hervorragen- Tatsache, dass bis dahin kein Schweizer den bei der Tebag. In Wildegg, auf der den) Rolle des Partners Totòs entwachsen, in Giro d’ Italia oder die Tour de France gewon- Teilstrecke “Rennen einem Filmmonolog mit neapolitanischer nen hatte, war eine Garantie für traditionel- auf den Schienen” der Schlossberg Rundfahrt Feierlichkeit die geheimnisvolle Frage stell- le Ungefährlichkeit. Demgegenüber war die von Lenzburg, im Jahr te, wieso denn eigentlich alle grossen unvermittelt spürbare Klasse der beiden 1948 enteilten sie dem Feld. Champions des Radsports so eine lange Nase Sportler Garantie für Herausforderungen auf haben müssten. Er meinte damit Fausto höchstem Niveau, auch spektakulärer Art, Coppi, wahrhaft fast ähnlich Pinocchio, aber wie die sowohl radsportlichen als auch kör- die existentielle Frage umfasste auch Gino perlichen Eigenschaften der Akteure erah- Bartali, dessen Nase in Wirklichkeit eher nen liessen (später mehr darüber). dick als lang war. Und aus der Schweiz ragte Wohlgemerkt: in der Welt des Radsportes die lange Nase Ferdy Küblers hervor, eines begeistern sich die Leute vor allem für den Radsportlers, der eher eine lange Nase war, Radsport selbst, viel eher noch als für die an der ein auf dem Fahrrad sitzender Körper Radsportler. Und selbst der erbittertste klebte, und der erst Zweiter und dann Dritter Anhänger dieses oder jenes Radfahrers ist nie bei zwei Weltmeisterschaften wurde. In den gegen den “anderen”, er feuert ihn lediglich Jahren 1950 und 1951 errang er das gelbe nicht an. Das genaue Gegenteil eben davon, und das Weltmeistertrikot. Er kämpfte auf was im der schmutzigen Welt des Fussballs allerhöchstem Niveau mit den Italienern, geschieht. Man hat das schmerzhafte, aber und zwar bei den Bergrennen genauso wie zivilisierte Gefühl, früher eher unbestimmt, bei den Strassenrennen, diesen intensiven heute ganz stark, dass inzwischen alles, was und fanatischen Veranstaltungen vergange- nichts mit Fussball zu tun hat, von vornher- ner Zeiten. Kübler sollte ausgerechnet in ein etwas Gutes und Gerechtes ist... Italien zum Weltmeister werden, in Varese, Bei Kübler und Koblet war es so, das keiner und beim Endspurt ausgerechnet zwei der beiden sich vom Ruhm des jeweils ande- Italiener schlagen, Fiorenzo Magni mit der ren beeindruckt zeigte, wie das mit Coppi Kartoffelnase und Antonio Bevilacqua, auf und Bartali beim letzten Giro d' Italia vor venezianisch “labron” (Dicklippe) genannt, dem Krieg (1940) der Fall gewesen war. Gino weil seine Unterlippe bis auf die Strasse her- war Kapitän, Fausto Wasserträger, und Gino abhing, wie ein Löffel, der etwas aufschau- wurde überraschend von Fausto geschlagen, feln wollte, vielleicht Luft, vielleicht die so dass danach die Rivalität der beiden sofort Anstrengung, die als Röcheln verkleidet her- klar, aggressiv, scharf war. Ein schmerzhaf- ausströmte oder auch die Fliegen. Der italie- ter, schrecklicher und unverzichtbarer nische Radsport war damals absolute Spitze Kampf Mann gegen Mann. Beim grossen und das Mass aller Dinge, er beherrschte die Radsport tauchten sie beide praktisch gleich- Ranglisten, beeinflusste die Schaltungen, zeitig auf. Ferdy war gleichaltrig mit Coppi, regulierte die Hackordnung. Ferdy Kübler sechs Jahre älter als Koblet, mit ungefähr und Hugo Koblet, erste grosse Radsportler dem gleichen Altersunterschied wie zwischen der Schweiz, wurden von den Sport- Gino und Fausto. Beide hatten allererste begeisterten des Bel Paese bestens empfan- Erfahrungen mit dem Fahrrad beim Brot- ausfahren als Lieferbursche eines Bäckers gesammelt. Beide Zürcher, Ferdy auf dem Lande geboren, in Marthalen, am 24. Juli 1919, und Hugo in der Stadt, am 21. März 1925, beide bei den ersten Wettkämpfen vom Nein der Eltern begleitet. Der in einigen schlechten Momenten sogar handgreifliche Vater Küblers, verlangte einen Bauern als Sohn und keinen Radfahrer. Die sorgliche Mutter Koblets (der Vater war verstorben, als der spätere Champion kaum neun Jahre alt war) hatte ihn in das Geschäft eines Silberschmiedes arbeiten geschickt, und

[XIV] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... nur eine von der Vorsehung geschickte, durch die chemischen Reagenzien verur- sachte Furunkulose “rettete” den Jungen vor einem Schicksal als Goldschmied oder Ähnlichem. Er verliess also diese Welt der chemischen Reagenzien, gegen die er allergisch war, und ging in die Werkstatt eines früheren Radrennfahrers, der Hugos “Sportkrankheit” begünstigte. Er war ihm bei seinem Einstand als Achtzehnjähriger in einem Wettkampf behilflich, von dem seine Mutter nichts wus- ste, und Hugo trug ein Hemd anstatt eines Rennfahrertrikots. Bei seinem ersten Sieg in einem Wettkampf in der Steigung in der Nähe von Oerlikon, erhielt Koblet als Preis endeten. Ganz einfach, weil Ferdy Kübler einen Silberteller, fast ein Mahnruf des alles beherrschte. Sogar auf der Bahn: Schicksals zurück zu seiner ursprünglichen Schweizer Champion beim Verfolgungsrennen Bestimmung, zur Arbeit, zur Mühe. Dagegen im Jahr 1942, im selben Jahr, in dem er auch war Kübler von seinem arbeitsbedingten die Tour de Suisse gewann, die von ihm drei- Radfahren direkt zum Radrennsport überge- mal gewonnen wurde, genauso wie von gangen, von den Auslieferungen für einen Koblet. Perfekt war er sogar bei den Public Bäcker direkt zu den Wettkämpfen, ein “klas- Relations, im Wettkampf und ausserhalb der sischer” Anfang für viele Radfahrer: Coppi Wettkämpfe: immer im richtigen Augenblick war Lieferbursche eines Metzgers gewesen. zornig oder fröhlich, vorwiegend mit einer Als Koblet sich einen Platz an der Sonne närrischen Ader. In ihrem Lande wurde bei unter den Radprofessionals eroberte, und den beiden Sportlern im Grunde niemals jene zwar bei der Mailand-Sanremo des Jahres Zweiteilung gesucht, die jemand für lebens- 1947, die von Bartali gewonnen wurde, war er notwendig, oder mindestens sehr wichtig hält vierunddreissigster, jedoch vierter der im Radsport. Als ob, nach der “Regel der Ausländer. Und in jenen Tagen war die zwei” oder, wenn man will, des Duells, ein Meteorologie den Legenden günstig gestimmt, Champion nur dann ein Champion wäre, so dass, nach der Bezwingung des Turchino- wenn er bei sich zu Hause, auf seinem Wege, Passes, nach dem Verlassen des schroffen zwischen seinen Rädern, noch einen zweiten Piemont, die Abfahrt zum ligurischen Meer Champion hätte, einen mit dem gleichen tatsächlich voller Sonne war, immer und übe- Pass, und den er einmal besiegt und einmal rall, und jener klassische Wettkampf hiess nicht. Und die beiden teilen sich die Gunst auch “corsa al sole”, “Rennen zur Sonne”. des Publikums, für den einen oder den ande- Das andere “K”, das Küblers, war damals ren schlagen die Wogen hoch (oder sie schlu- schon fest verankert im grossen Radsport. gen hoch, denn heutzutage dreht sich vieler- Ferdy wurde professioneller Radfahrer im orts auf der Welt alles um Fussball), in der Jahre 1940, dem Jahr Coppis. Die Neutralität “Bar Sport”, die Frotzeleien kreuzten sich der Schweiz hatte ihm erlaubt, in der Heimat über die Strasse hinweg, wo jeder seinen weitere Rennen zu fahren: als Amateur ver- Mann erwartete, um ihn wenige Sekunden zeichnete er die Erfolge der Tour von Leman lang zu sehen, wenige Sekunden, die so viel (1938), beim Grand Prix von Le Locle und wert sind. Paolo Conte singt “Sono qui che der Rundfahrt von Basel (1939). Der erste aspetto Bartali, scalpitando sui miei sandali” Sieg bei einem Rennen unter Vertrag erfolg- (“ich warte hier auf Bartali, ungeduldig Hugo Koblet kämmt sich am Ziel einer te bei der A travers Lausanne (Durch scharren meine Sandalen”). Die weltberühmte Etappe der Tour des Lausanne), die er später noch weitere vier- helvetische Neutralität schien sich auf die Jahres 1951. Eine gewohnheitsmässige mal gewinnen sollte: ein Zeitfahren, auf ihn beiden Sportler zu reflektieren, immer ver- Geste, die zum zugeschnitten genauso wie die Klassiker – hielten sie sich respektvoll gegeneinander, Erscheinungsbild und und auch die mit Anstiegen, und so wie auch niemals benutzten sie die Ellenbogen. Mythos des “pédaleur de charme” gehörte. die für Sprinter, die mit einem Endspurt Ausserhalb der Schweiz lagen breite Strassen

[XV] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Rechts: vor ihnen, so dass jeder Gelegenheit hatte, Beinamen “blonder Falke” zu verdienen. Bei Koblet kehrt nach seine eigenen schönen Unternehmungen diesem Giro schied Coppi nach einer durch dem Sieg beim Giro d’Italia des Jahres 1951 durchzuführen. einen unglücklichen Sturz zwischen Vicenza im Triumph in die Wie schon gesagt, war Italien damals die und Bozen verursachten Beckenfraktur genau Schweiz zurück. In Zürich, seiner Nation, die in der Welt des Radsportes den an dem Tag aus, an dem der schöne Hugo Geburtsstadt, empfängt Ton angab. Unter anderem hatte sich diese zum ersten Mal im rosa Trikot erschien: am ihn eine begeisterte Menge entlang der Nation erlaubt, im Jahr sofort nach Kriegs- Ziel dieser Etappe, die für Fausto “infausta” Bahnhofstrasse. ende den Giro wieder zu organisieren, im (verhängnisvoll) war, wie damals geschrieben Jahre 1946, als die Trümmer noch rauchten, wurde, waren Bartali Erster, Koblet Zweiter während Frankreich, das doch am Siegertisch und Kübler Dritter. Aber der Sieger des Giro gesessen hatte, mit seiner Tour bis 1947 wurde nicht vom “grossen Abwesenden” über- wartete. Und in Italien wurde Kübler sehr schattet, so glänzend waren seine technischen bald an Bartali gekoppelt, als Champion, der und sportlichen Leistungen, so überzeugend die Strasse frass, die Gegner anknurrte, das seine reine Klasse, so talentiert sein “char- Rennen Meter um Meter neu erfand. manter” Pedaltritt. Dagegen wurde Koblet sofort von Coppi Während man von Coppi behauptete (aber es angezogen, der so wie er von fast feierlicher schrieb kaum jemand darüber), dass er, am Klasse war, so sehr an Zeremonien gebunden, Ziel angekommen, sich zwei Finger in den die niemals laut waren, an die Flucht vor der Hals stecke, um wer weiss was hervorzuwür- lärmenden Menge, an Meditation über die gen, schrieb man über Koblets äusserste Programme, so dass das Rennen zu einer Sorgfalt, mit der er sich wieder zurecht- mathematischen Übung des Kraftaufwandes machte, sich mit etwas Kölnisch Wasser wurde, die nur wenige zu begreifen imstande bespritzte, und vor allem, sich akkurat kämm- waren. Bartali und Kübler schrien der Menge te. Auch und vor allem am letzten Tag, bei der starke Worte zu, Coppi und Koblet flüsterten Ankunft in Rom - es war das Heilige Jahr – vor ihre kräftige Worte. Koblet war, unter ande- dem Papst: dort kniete der protestantische rem, auch bald mit Coppi durch ein schwie- oder evangelische Koblet respektvoll nieder, riges Verhältnis mit der eigenen Gesundheit neben dem frommen Bartali, gegenüber von vereint, und auch durch das Schicksal: beide Pius XII, und keine Fernsehkameras waren kränklich, wie man es oft von Frauen behaup- dabei, alles wurde grossartig von einigen tet, die sogar noch durch die Krankheit an Fotografien und von der Phantasie einiger Charme gewinnen können, und auf irgendei- Rundfunkreporter und Schreiber festgehalten. ne Weise von Unheil und Trauer gezeichnet, Wenige Tage, nachdem Koblet das rosa im Hinblick auf das für beide frühzeitige, tra- Trikot erkämpft hatte, wurde auch Kübler zu gische Ende. einem “ersten Schweizer”: als Gewinner der Mit ausserordentlicher Sympathie bedachte Tour de France trug er mit seiner natürli- das damalige Italien die beiden Schweizer chen Eleganz das gelbe Trikot in Paris. Er Radsportler, zwar Ausländer, jedoch entschie- kam dort nach einer Ausgabe der “grande den weniger fremd als die belgischen oder boucle” an, in der die italienische National- französischen Radsportler, (“Der Fremde” des mannschaft das Rennen in den Pyrenäen auf- Romans Albert Camus‘ ist mehr ein Fremder gegeben hatte, mit Fiorenzo Magni im gelben denn ein Ausländer, nur um die spezielle Trikot und Gino Bartali, dem Gewinner der Wertung dieses Adjektivs in diesem vorjährigen Ausgabe, um mit einem Aufsehen Zusammenhang zu erklären), wahrschein- erregenden Rücktritt auf die Zügellosigkeit der lich weil es jenes kleine oder grosse Stück französischen Sportanhänger auf Frankreichs Italien gibt, inmitten der Schweiz, dem die Strassen zu antworten, die die Männer der sprachliche Ehre erhalten blieb. Diese grünweissroten Mannschaft mit “succhia- Sympathie ermöglichte es Koblet, als erstem ruote” (Reifensauger) betitelten. Es war ein Ausländer, und auch als erstem Schweizer, guter Sieg für Kübler, der behauptete, dass er unter dem Applaus der Italiener, obwohl er auf jeden Fall gegen jeden angetreten wäre ikonoklastisch ihre Lokalidole zerstörte, und gewonnen hätte. Bei Beteiligung der Sieger eines Giro zu werden, vor Bartali, der Italiener, sagte er, wäre das Rennen für ihn Zweiter wurde, mit gleich 5 Minuten und 12 sogar besser kontrollierbar gewesen, und nie- Sekunden Vorsprung, und sich dadurch den mand, auch nicht Magni und Bartali, sprach

[XVI] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

[XVII] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Koblet und Coppi in diesem Zusammenhang von Geschenk des nehmen gemeinsam die Schicksals. Tatsache ist, dass Koblet faszinie- Steigungen des Sellajochs auf der rend war und Kübler sympathisch, die Leute 19. Etappe des Rennens hatten alle bestens die menschlichen Aurora di Cadore - Bozen, in Angriff. Eigenschaften der beiden begriffen. Im Jahr Am Ziel wird der nach Kübler gewann auch Koblet seine Tour Italiener gewinnen, der am darauf folgenden de France: er dominierte auf fast zarte Weise, Tag nach einer epischen federleicht, 22 Minuten vor dem Zweiten, und viel diskutierten Geminiani, einem Franzosen aus der Leistung auf dem Stilfser Joch dem Schweizer das Romagna, wie vor jedem Ziel sich mit eitler rosa Trikot abnehmen Regelmässigkeit kämmend, während Bartali sollte. Vierter nach fast einer halben Stunde wurde, und Coppi vernichtet war nach einer Krise im Süden. Koblet gewann auf den Pyrenäen und nach Chronometer, führte in den Alpen. Die zwei einzigen Schweizer Siege bei der “gran- de boucle” folgten also aufeinander: damals sprach man von einer aufkommenden Schweizer Diktatur, aber 1952 nahm Coppi die Herrschaft wieder auf, beim Giro so wie ahmung Bartalis, der seinen Bruder Giulio bei der Tour. Im Jahre 1951 erreichte Kübler auf die gleiche Weise verlor. Im Jahre 1953 sogar den Weltmeistertitel, er erkämpfe ihn wurde Koblet, wie gesagt, auf dem Stilfser in einer Domäne des italienischen Radsports, Joch bezwungen, auf der vorletzten Etappe, in Varese, (aber nur ein paar Meter von der von Coppi, der ihm das rosa Trikot abnahm. Schweiz entfernt) mit einem denkwürdigen Es war am Ende eines Tages, an dem Dinge Endspurt dieses langnasigen Sportlers, der geschahen, von denen keiner glaubte, dass das Rennen bis zum Schluss perfekt im Griff sie noch geschehen könnten. Fausto gewann hatte. Nach dem Sieg über Magni und viele Gelegenheitshelfer wieder, die ihm Bevilacqua, wie schon gesagt (Coppi war offi- jedoch entsagungsvoll ergeben waren. Am ziell krank, in Wirklichkeit gefiel ihm die ita- Vortag hatte Koblet sein zwölftes rosa Trikot lienische Mannschaft nicht), gab es Applaus durchs Ziel gebracht, und obwohl er eine für alle. In der vorhergegangenen Nacht Bronchitis hatte, schien er dennoch nicht hatte Kübler bei einem Tessiner Freund und bezwingbar, während Coppi, der nur 1’59” Wasserträger, Croci Torti, übernachtet, der zurück lag, einen resignierten Eindruck ihm sein Ehebett überliess, damit er so gut machte. Nach Überwindung des Stilfser Joch wie möglich schlafen konnte. Bemerkenswert hatte Coppi in der Klassifizierung 1’29” ist, dass vor ihm ein anderer Schweizer den Vorsprung vor Koblet. Am letzten Tag, von Weltmeistertitel erreichte, Hans Knecht im Bormio nach Mailand, fuhr der Campionissimo Jahre 1946, ausgerechnet in Zürich, aber es mit äusserster Aufmerksamkeit, während war von einem Sonderpreis des Schicksals an Koblet hustete. Dritter in der Rangliste wurde einen Unbekannten die Rede, auf einer für Pasqualino Fornara, der aus Piemont stamm- eine echte Selektion zu leichten Strecke. Im te und der wegen seiner vier Erfolge bei der Jahre 1953 dominierte Koblet beim Giro Tour de Suisse “der Schweizer” genannt schon lange über Coppi, der kraftlos erschi- wurde. en, sowohl körperlich als auch seelisch, nach Borges würde von überkreuzten Schicksalen einer langen Reihe von Unfällen. In Wahrheit sprechen (und zwar oft gerade im Veltlin waren da auch der Beginn seiner intensiven überkreuzt, Bormio und Sondrio waren und schwerwiegenden Liebesgeschichte mit immer “grosse Ziele”): im darauf folgenden der später hochberühmten “Dama Bianca” Jahr brachte Koblet Carlo Clerici zum Sieg, (der Weissen Dame), und der Tod seines der italienische Wurzeln hatte und frisch Bruders Serse, zwei Jahre vorher, durch naturalisierter Schweizer war und der mit einen Sturz bei einem Rennen. Vielleicht war ihm in derselben Mannschaft war, unter einem das auch der Grund für seine Krise in früher grossen italienischen Champion, Montpellier gewesen, in tragischer Nach- Learco Guerra. Vielleicht war es auch nicht

[XVIII] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... vorausgeplant, aber Clerici gewann die sech- Erben dominiert, von den Leuten, die ste Etappe durch eine überraschende, sogar damals, am Anfang des 20. Jahrhunderts (die sehr überraschende Flucht, die ihm etwa erste Tour de France fand 1903 statt, der zwanzig Minuten Vorsprung vor den erste Giro d'Italia 1909), die Taten der Favoriten gab. Grosszügig fügte sich Koblet Radsportler beschrieben hatten, die auf den in die Rolle des “Wasserträgers” Clericis und staubigen Strassen nicht sichtbar waren, die kontrollierte Coppi, dessen Reaktion nach sie aber bis in die kleinsten Einzelheiten einer Magenverstimmung durch Austern zu beschrieben, mehr noch, von ihnen erzählten erwarten war. Koblet besiegte Coppi um sie- und sie mystifizierten, sie darstellten wie benundzwanzig psychologisch höchstwichtige löwenhafte Helden oder wie verzweifelte, Sekunden auf der chronometrierten Teilstrecke bewunderungswürdige Zyrener. Diese Art von des Gardasees. In Mailand kam Clerici mit 25 Presse hatte für die Radsportler und den Minuten Vorsprung vor Koblet an, der Radsport, Sinnbild der Leidensfähigkeit, eine Zweiter wurde. Er schlug sich auf den ungeheure Gunst des Volkes erschaffen, Bergen durch, genoss den “Streik am während er dazu bestimmt war, die Tücken Bernina”, als der Schweizer Berg vom gros- des Wohlstandes zu erfahren, der das Auto- sen Feld in einem müden Schritttempo mobil einflüsterte und den Schweiss entweih- befahren wurde, als provozierende Reaktion te, indem er ihn ganz einfach Transpiration auf die Beschuldigungen geringen Einsatzes nannte. Nebenbei erwähnt, wir meinen sagen oder des “Vitellonismus” - der Film Fellinis zu können, dass in jenen Jahren auch im “I vitelloni” (“Die Nichtsnutze”) war gerade Radsport, der vorher die grosse Liebe für sei- herausgekommen - , die allen Teilnehmern nen “Chor” und seine Anhänger war, die eine des Giro, ausser Clerici, galten, und auch als oder andere wissenschaftliche Studie aufkam, Antwort auf die Drohung “blockierter” die vom Journalismus popularisiert wurde. Prämien. Der Endspurt in der Radsporthalle Man begann, von Gewicht und von Massen zu Vigorelli von Mailand, als der Belgier Rik van sprechen, von der Art der Anstrengung usw., Steenbergen, ein Meister des Sprints auf und dies wurde auch von Coppi begünstigt, Weltniveau, als Erster einfuhr, fand vor einem der auf dem Sattel ein Apollo war, jedoch zu Publikum statt, das so lautstark pfiff, dass Fuss eine hässliche Gestalt. Kurz gesagt, die nicht einmal die Glocke zu hören war, die die letzte Runde dieser Farce ankündigte. Aber jetzt ist die Zeit für eine Erinnerung und eine Erklärung gekommen, um zu berichten, was der Radsport in jenen Zeiten bedeutete. In Europa, oder wenigstens in Frankreich, Italien, Belgien, der Schweiz und in Spanien, gab es nicht wie heutzutage eine riesengrosse tyrannische Volksbeliebtheit des Fussballs. Der Radsport hatte die grösste psychologische Macht über die Massen, es war der Sport aller Liebe verwandelte sich in Erotik, Voraus- Sportarten, unter anderem noch nicht einmal setzung für die letzte Weiterentwicklung, die vom Fernsehen entdeckt, das ihn später blos- zur Pornographie. sstellen und auch die hässlichen Seiten einer Denn der heutige Sport ist tatsächlich etwas raubtierhaften, schmutzigen Anstrengung Pornographisches, Vulgäres, voller Exzesse enthüllen sollte. Es gab nichts, was mit dem und übertriebener Sophistikation und prä- heutigen Medienrummel vergleichbar gewe- sentiert sich scheinheilig (Sophistikation - sen wäre, aber ein Niesen Bartalis, Coppis, Vulgarität, der Sport lebt auch von Oxymora). Küblers, Bobets der Franzose, oder Koblets Der Athlet wird entblösst, mehr als bei jedem war wichtiger als die Tore eines noch so Striptease, der Athlet mit seiner Bauch- berühmten Fussballvereins. Deshalb war der speicheldrüse, der Athlet mit geöffnetem

Koblet und Kübler als Streik am Bernina eine internationale Herzen und durchwühlt, und die Zuschauer Paar beim Zürcher Angelegenheit, der die Regeln und die sind unbewusst (oder nicht?) ein wenig so Sechstagerennen von Gewissen erbeben liess. Die schriftliche wie die der Rotlichtvorstellungen: sie schau- 1956, bei dem sie den 4. Platz einnahmen. Presse war noch vom “Chor” oder seinen en sich die Spezialisten an, wie sie das perfekt

[XIX] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ...... tun, was auch sie gerne tun würden, was sie den wir sagen, ein Pechvogel). Er schloss mit aber nur selten tun können. dreiunddreissig Jahren mit den Wettkämpfen Aber zurück zu den zwei K, die seltsamer- ab, nach sehr vielen Bahnkilometern, ein- weise nie zu der Abkürzung K2 zusammen- schliesslich neun Sechstagerennen. Sein letz- gezogen wurden, womit im Jahre 1954 der ter Sieg erfolgte bei einem Kriterium im zweithöchste Berg der Welt gemeint war, der Tessin. Er war unruhig, voller seltsamer Be- zum ersten Mal von einer italienischen schwerden, ging nach Südamerika. Er gefiel Expedition erstiegen worden war. Kübler, der den Frauen und heiratete eine sehr schöne sich auch als Skilehrer betätigte, um in den Frau. Er verlor viel Geld bei verschiedenarti- Wintermonaten einen Sport auszuüben, gen Geschäften, die sich als keine guten strotzte vor Gesundheit und bewies es auf Investitionen herausstellten, er eröffnete eine ausgelassene Art. Er ist siebenundachtzig Benzintankstelle bei der Radrennbahn von Oerlikon, wurde auch Inspektor einer Erdöl- gesellschaft. Er versuchte sich auch an einer Karriere als Kommentator beim Radio und als Techniker des Radsport-Verbandes, als Sichtungsexperte der Schweizer Bahn- radsportler. Er starb vier Jahre nach Coppi, im Jahre 1964. Er hatte Probleme, seine kin- derlose Ehe hatte nicht funktioniert (Kübler ist mehrfacher Vater und mehrfacher Grossvater und hat zweimal geheiratet). Er zerschellte in seinem Wagen an einem Baum. Manche sagten, er habe jene gerade Strasse mehrmals schnell durchfahren, hinauf und Jahre alt, in seinem Leben gibt es auch zwei hinunter, fast wie um etwas zu suchen, mehr Frauen, er übt hervorragend den Beruf des ein Ende als einen Neuanfang. Auch im Tessin Veterans aus und wenn er ins Tessin kommt, wurde er sehr beweint. Er hatte den lässt er die Erinnerungen spielen mit Croci Militärdienst in Bellinzona abgeleistet, in der Torti, der der Gefährte seiner Anstrengungen Berginfanterie, er hatte Radfahrerfreunde wie war und der heute ein begabter Maler ist. zum Beispiel Emilio Croci Torti, Remo Seinen letzten Sieg errang er mit siebenund- Pianezzi und Fausto Lurati, mit denen er sich dreissig Jahren, auf der Strecke Mailand- auf der Piazza della Cattedrale von Lugano für Turin. Er siegte öfter als Koblet, über dessen jene Fotografien in Pose stellte - der Radfahrer körperliche Beschwerden wir berichten wer- in Pose, das gespielte “Surplace” - die uns den, auch klassische Strecken wie Lüttich- heute wahrhaft als historisch erscheinen. Bastogne-Lüttich und Flèche Wallonne. So Kübler hat immer nur Gutes über Koblet wie Koblet war er ein guter Verfolger. Er hat gesagt, und ebenso Koblet von Kübler. Eine gut verdient und er hat sich selbst gut ver- kurze Zeit lang gehörten sie auch derselben kauft. Er war das, was man eine grosse Mannschaft an. Auch Bartali und Coppi waren Persönlichkeit nennt und ist es immer noch. eine Saison lang Mitglieder derselben Mann- Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte und schaft, aber Coppi spielte als Wasserträger sei- einen Wunsch frei hätte, er würde sich den nem Kapitän den Streich, ihm den Giro vor Giro d'Italia wünschen. der Nase weg zu schnappen. Bartali hatte Koblet war zart wie eine Treibhauspflanze, immer ein gutes Verhältnis zu Kübler, Coppi während Kübler eine Gebirgspflanze zu sein hat immer Koblet bewundert, auch wenn der schien. Im Jahre 1949 brach er sich ein Bein, Schweizer ihn besiegte. Es ist wahrscheinlich, seine Knochen schienen so zerbrechlich zu dass Bartali und Coppi die Feindschaft nur sein wie die Coppis. Bei der Tour des Jahres spielten, die ihnen das Drehbuch des 1953 versuchte er, wieder aufzuholen, nach- Radsports als Duell abverlangte, aber Kübler dem Coppi ihm am Ende den Giro abgekämpft und Koblet spielten niemals die Freundschaft, Emilio Croci Torti, hatte, stürzte dabei und wurde ausser im die sie verband, sie fühlten sie tief im Innern. Ferdy Kübler und Hugo Körper auch in der Seele gezeichnet: auf ihm Koblet in Locarno, Ende der vierziger Jahre. lastete eine ständige Traurigkeit (heute wür- * Journalist und Schriftsteller

[XX] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... STECKBRIEF KÜBLERS Geboren am 24. Juli 1919 in Marthalen (Zürich), debütiert er im Berufssport im Jahre 1940 mit dem Sieg des Rennens A travers Lausanne und dem Schweizer Titel im Verfolgungsrennen. Im folgenden Jahr ver- doppelt er diese Erfolge, schlug den nationa- len Stundenrekord und siegte auf der Berner Etappe der Tour de Suisse, bei der er den dritten Platz belegt. Im darauf folgenden Jahr wurde der erste Platz daraus. Nach dem Krieg nimmt Kübler zu dem gros- sen italienischen, belgischen und französi- schen Radsport Kontakt auf. In der ersten Tour de France nach dem Krieg, im Jahre 1947, gewinnt er zwei Etappen. Im Jahre 1948 trainiert er in seiner Heimat und gewinnt die Tour de Suisse, die Tour de Romandie und den Schweizer Titel im Strassenrennen. Im darauf folgenden Jahr wird er Zweiter bei der Welt- meisterschaft und beim Giro di Lombardia und siegt bei einer Etappe der Tour. Im Jahre 1950 ist er der erste Schweizer, der die Tour gewinnt. 1951 gewinnt er die Rennen Rom-Neapel-Rom, die Flèche Wallonne, die Lüttich-Bastogne-Lüttich, die Tour de Romandie und die Tour de Suisse und wird STECKBRIEF KOBLETS Weltmeister im Strassenrennen. Geboren am 21. März 1925 in Zürich, beginnt er mit dem Berufssport im Jahre 1946, im Jahr darauf gewinnt er die Vierwaldstättersee- rundfahrt und eine Etappe der Tour de Suisse. Im Jahr 1948 erkämpft er eine schwere Gebirgsetappe bei der Tour de Suisse und verzeichnet einen Etappenerfolg auch bei der Tour de Romandie. Eine weitere Etappe der Tour de Romandie gewinnt er 1949, dann folgte eine lange Pause aufgrund einer bei einem Sturz im Training erlittenen Beinfraktur. Erfolge beim Giro d'Italia 1950, mit dem Sieg über zwei Etappen, und Erfolg auch bei der Tour de Suisse, die er auch 1953 In seinem Palmarès finden sich auch drei und 1955 gewinnt. 1951 der Sieg bei der Tour Erfolge in der Challenge Desgranges- de France, dann wird seine Karriere aufgrund Colombo, einer Art Weltmeisterklassifizie- verschiedener körperlicher Beschwerden von rung nach Punkten, vier Giri del Ticino, drei mehreren Zeiten der Untätigkeit unterbro- nationale Titel als Verfolger und einer als chen. Insgesamt 197 Siege in seiner Karriere, Radfahrer im Querfeldeinrennen. zuletzt 1958 beim Kriterium von Locarno. Koblet ist nach sechzig Stunden Todeskampf in der Nacht vom 5. zum 6. November 1964 den Verletzungen erlegen, die er davontrug, als sein Wagen auf einer zwanzig Kilometer von Zürich entfernten Strasse an einem Baum zerschellte.

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Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... Siebenundachzig Jahre “kaiserlicher” Sprint

Marco Blaser begegnet Ferdy Kübler

Links: Kübler auf der 3. Zeitetappe der Tour de Romandie, der Genf- Lausanne im Jahre 1953. Er wird als Dritter das Ziel erreichen, nach Koblet und dem Italiener Pasquale Fornara. In der Gesamtklassifizierung wird Kübler Siebter, 9’38” nach dem Gewinner Koblet.

Auf dieser Seite: Glück und Erschöpfung auf dem Gesicht Küblers nach dem Sieg beim Grossen Preis von Le Locle 1939. Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Kübler mit Emilio Croci Mein jüngstes Interview mit Ferdy Kübler te seine Tollkühnheit, die mit Löwenkraft Torti bei der Tour de fand im vorigen Herbst statt. Wir trafen uns in vollbrachten Leistungen (sein Sternzeichen France 1950. Regensdorf, einem Satellitendorf der Zürcher ist Löwe), von denen die Reporter des Peripherie. In der Hotelbar zeigte ein multi- Radiomonteceneri berichteten: Vico Rigassi, medialer Projektor in schneller Folge eine Alberto Barberis und Giuseppe Albertini. Er Serie von Bildern der prägnantesten Augen- war Kämpfer mit eisernem Willen und blicke aus der sportlichen Karriere des belieb- schenkte mir unzählige Tage der Freude. Ich ten Athleten. Es war ein Geschenk des war stolz auf seinen Sieg bei der Tour de Herausgebers Schnyder und Christinas, der France im Jahre 1950 und 1951 über den von Ferdy unzertrennlichen zweiten Ehefrau, Endspurt am Ziel von Varese, der ihm das um das Ende eines Albtraums zu feiern. Regenbogentrikot bescherte. Unter den Während des Sommers, am 27. Juli, drei Tage Klassechampions waren damals auch Koblet, nach seinem Geburtstag, war er von der Bobet, Bartali, Coppi und Magni, aber ich Treppe gefallen und hatte sich mehrere blieb meiner Wahl immer treu. Deshalb war schmerzhafte innere Verletzungen zugezo- ich besonders glücklich, ihm persönlich bei gen. Der klassische Unfall im Haushalt, der der Weltmeisterschaft 1953 in Lugano begeg- ihn zu einer Reihe von Behandlungen und nen zu dürfen, die von Fausto Coppi auf der Aufenthalten in Rehabilitationszentren zwang. Zielgeraden des Flughafens von Agno gewon- “Ich kann mich nicht daran erinnern, je so nen wurde. Ich hatte mich als Assistent der gelitten zu haben. Ausserdem ist mir das mit ausländischen Radioreporter beworben. Ich vollen 87 Jahren passiert. Eine Warnung, vor- wurde dem holländischen Team anvertraut, sichtiger zu sein!” Er sagte das mit einem das von Wout Pagano geleitet wurde, und schallenden Lachen, bat mich aber gleichzei- überredete Ferdy, ein paar Minuten für eine tig, nicht zu übertreiben mit Umarmungen Verbindung mit Hilversum zu opfern. Ich traf und Schulterklopfen. ihn danach wieder bei der Tour de Suisse im Meine Begeisterung für Ferdy Kübler ent- Jahre 1955. Dank eines Wettbewerbs für neue stand Ende der vierziger Jahre. Ich idealisier- Stimmen war ich beim RSI als Radioreporter eingestellt worden. Durch eine spontane Sympathie, die sich mit Emilio Croci Torti ergab, dem Adjutant des Kapitäns, wurde mir der Zugang zur Schweizer Mannschaft erleichtert. Ich konnte mich damals davon überzeugen, dass seine erklärte Verbindung zum Tessin aufrichtig und tiefgehend war.

Fühlst du dich noch sehr mit den Tessinern verbunden? Ja. Das Tessin ist meine zweite Heimat. Siebenundzwanzig Jahre lang habe ich jedes Jahr mit der Familie einen Monat Ferien in Lugano-Paradiso verbracht, im Hotel Beaurivage Ivo Huhns, der ein grosser Freund für mich ist. In jener Zeit habe ich viele dauerhafte freundschaftliche Beziehun- gen vertieft. Man denke nur an meine Verbindung zu Emilio, die 1950 bei den harten Kämpfen um den Sieg der Tour de France ent- stand. Bei ihm zu Hause habe ich am Vorabend des Sieges von Varese eine schmack- hafte Gemüsesuppe gegessen und danach einen tiefen Schlaf genossen, der mitverant- wortlich für den Weltmeisterschaftssieg war. Unvergesslich bleiben auch der Grenzübertritt bei Stabio, die Fahrt nach Lugano und das

[XXIV] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... aus seiner legendären Trägheit aufgewacht und hat mich zu einem festlichen Empfang nach Zürich eingeladen. Diesem Marschbefehl habe ich nicht gehorcht und habe es vorgezo- gen, ein gutes Glas Wein auf der Piazza von Lugano zu trinken. Ohne die magischen Momente des Wochenendes in den Ardennen zu vergessen, ist die lange, zermürbende Bordeaux-Paris, die ich 1953 gewann, unaus- löschlich in meiner Erinnerung. Start um eins in der Nacht, während die Ankunft für 17 Uhr geplant war, nach 573 Kilometern Jubeln auf der Piazza della Riforma mit den Rennen, 16 Stunden ohne Pause auf dem Rad. Umarmungen tausender Sportbegeisterter. Gleich nach dem Start machten wir zu dritt Ich habe nie einen Giro del Ticino versäumt einen Ausreissversuch: Ockers, Van Est und und dieses Rennen viermal gewonnen. ich. Ich machte die ganze Arbeit allein und sicherte mir also auch den ersten Platz. Eine Der Sieg bei der Tour de France war das grosse Genugtuung, die mich untrennbar mit Ereignis, das dein Leben verändert hat. Paris den köstlichen Flaschen Bordeaux verband, hat dich in die Liga A befördert. Wie viel hast hinter denen gleich die guten Tessiner du damals verdient? Merlots kamen. Die gesamten Preise wurden gerecht unter den Mannschaftsmitgliedern verteilt. Jeder Du hast oft im Endspurt gewonnen. Ich kann bekam zirka 5000 Franken. Nach der mich noch an deinen unwiderstehlichen Apotheose am Parc des Princes habe ich zirka Sprint erinnern, den einige Experten als “kai- achtzig Verträge für die Revanchetreffen serlich” bezeichneten. Wo liegt das Geheimnis unterschrieben, das hat weitgehend die auf dieser Kraft, die du in der Nähe des Ziels ent- den Alpen und den Pyrenäen erlittenen wickeln konntest? Anstrengungen wettgemacht. Jedenfalls habe Ich glaube, das ist vorwiegend ein Geschenk ich gut verdient und ich kann nicht klagen, der Natur. Ich bin meistens vor dem Ziel mit auch wenn die Summen damals nicht mit den einer gewissen Reserve angekommen. Dann heutigen Prämien und Verträgen vergleichbar kam eine psychische Kraft dazu, die es mir sind. Ich konnte mir eine Wohnung in Zürich erlaubte, instinktiv alle Muskeln zu koordinie- kaufen und die Struktur des Blumen- ren und mit einer plötzlich wieder gefunde- geschäftes erneuern, das Rösli, meine damali- nen Kraft alle noch vorhandenen Energien ge Frau, eröffnet hatte. Einige Wochen später auszuschöpfen. Sicher, die Duelle mit Rik van bot mir die Tebag einen festen Vertrag mit Steenbergen bleiben unvergessen. Auch die einem Monatsgehalt von 500 Franken an. Ein Endspurte des Spaniers Poblet beeindruckten Geschenk Gottes! Ich bin also zufrieden, auch mich wie heute die Cipollinis. weil es mir gelungen ist, das Gespenst der Armut fernzuhalten, das die dunklen Zeiten Wie jeder von uns hast auch du schwierige meiner Kindheit und Jugend zeichnete. Momente durchlebt. Welches waren die schwersten Episoden? Welches sind die schönsten Augenblicke, an Die letzte war der Sturz im vergangenen Kübler in einer Kurve in der siegreichen die du dich am intensivsten erinnerst? Sommer. Auch in der länger zurückliegenden 6. Etappe der Tour de Natürlich die Tour. Ich war schon 31 Jahre alt Vergangenheit gab es einen schweren Sturz in France des Jahres 1956. Er fuhr die 78 Kilometer und das war die Gelegenheit für einen bemer- Davos, bei dem ich mir den Bruch meines der Zeitetappe von kenswerten Leistungssprung. Und dann das liebsten Symbols, meiner Nase, zuzog, der Dinard nach St.Brieuc in 1h57’22” und liess Weltmeistertrikot, das man ein ganzes Jahr ich, ausser der aerodynamischen Funktion, Fiorenzo Magni 17” lang tragen kann. Ich habe das damals in auch wichtige Sponsorenverträge verdanke, hinter sich. In jenem Jahr gewann er die Lugano gefeiert, womit ich die Verbands- wie zum Beispiel den langjährigen mit der “grande boucle” mit führung zusammen mit ihrem Präsidenten National-Versicherung. Die restlichen schwe- 9’30” Vorsprung vor Senn verspottet habe. Nachdem er mich ren Momente habe ich fast alle vergessen. dem Belgier . monatelang ignoriert hatte, ist er auf einmal Natürlich, das Gefühl von Trostlosigkeit und

[XXV] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Unvermögen, das mich 1955 auf dem Mont dene Geschichte. Sie versuchten, mich in Ventoux überwältigte, ist nicht verschwun- schlechten Ruf zu bringen. Geminiani selbst den. Jene Steigung ist nicht die schwerste. Es hat das vor dem Mikrofon Briquets, des legen- gibt schlimmere. Das Problem ist nur das dären französischen Reporters, bestätigt. Im vollkommene Fehlen jeglicher Vegetation, die Laufe der Jahre sind mir viele Geschichten trockene Landschaft, die das Atmen blockiert. angehängt worden. Leider habe ich auch mit Ich war zusammen mit Raphael Geminiani als dieser Art von perversem Journalismus leben Paar unterwegs. Wir gingen die Steigung mit müssen. nicht zu leugnender Überheblichkeit an, unter einer senkrecht brennenden Sonne, Diese Klatschgeschichten haben aber niemals die Lufttemperatur der inneren Provence lag dein Verhältnis zu Emilio Croci Torti berührt. über 40 Grad. Irgendwann fehlte mir der Emilio war ein sehr vertrauenswürdiger Sauerstoff. Ich begann, im Zickzack zu fah- Helfer, für mich unersetzlich. Auch heute ren und kurz darauf musste ich den Fuss auf noch verbindet uns eine enge Freundschaft. die Erde stellen. Ich erinnere mich an eine Bei einigen Gelegenheiten konnte er sogar unbeschreibliche Qual. Das war der schmerz- verfängliche Auseinandersetzungen abdämp- lichste Augenblick. fen. Emilio hat mir unwahrscheinlich viel gegeben. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, In gewisser Weise bezeichnete diese Episode ihm begreiflich zu machen, wie wertvoll er für den Anfang des absteigenden Teils deiner mich, sowohl im Laufe meiner sportlichen Leistungskurve. Diese Etappe steht auch in Karriere als auch in den Jahren danach, war. Verbindung zu einem ungewöhnlichen Als er die letzte Etappe der Tour de Suisse im Wortstreit mit Raphael. Er soll dich vor dem Jahre 1952 gewann und allein ins Velodrom Tour de France, 18. Juli 1955, elfte Ventoux gewarnt haben, einem Gipfel, der von Oerlikon einfuhr, war ich glücklich, als ob Etappe, Marseille- nicht wie alle anderen sei. Es hiess, du hättest ich selbst gewonnen hätte. Ich weiss noch, Avignon. Kübler ist auf der Steigung des diesen Rat nicht angenommen und deinem wie ich am Ende der Etappe Arosa-Zürich zu Mont Ventoux in einer Kameraden geantwortet, wenn der Ventoux ihm sagte: fahr' voran, fahr' schnell! Er kam Krise.Am Ende wird er das 42. Ziel mit einer nicht wie alle anderen Gipfel sei, sei auch als Erster an und gewann sogar ein Ferkel, das Verspätung von 26’19” Ferdy nicht wie alle anderen Athleten... er kurz nach der Ehrenrunde für 350 Franken erreichen und sich Das ist eine von zwei Skandaljournalisten verkaufen konnte. Ich werde auch nie das sehr vom Wettkampf zurückziehen. einer französischen Volkszeitung frei erfun- gute Verhältnis zu Bartali vergessen. Er war

[XXVI] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

Rechts: es, der mich Fritz Dietrich von der Tebag vor- Radfahrwegen überzeugt, das Fahrrad an den Kübler mit seiner stellte, was meine Trennung von der Cilo sprichwörtlichen Nagel zu hängen. Aber von Frau Christina bei den Festlichkeiten zu seinem bedeutete. Bartali habe ich oft getroffen, dank 50 bis 60 Jahren war ich Skilehrer. Und auf achtzigsten Geburtstag, der grosszügigen Unternehmungen Emilios. den Skipisten von Davos habe ich Christine am 24. Juli 1999. Dietrich war nach dem Ende meiner Karriere kennen gelernt, meine jetzige Frau, die für Unten: auch mein finanzieller Ratgeber. Er war eine meinen Wechsel zum Golf verantwortlich ist. Kübler: von der Radsportlegende zum wichtige Persönlichkeit, vor allem in der Zeit Lehrer auf der Skipiste nach dem Sport, in der ich ohne Manager Ihr habt eine starke Bindung und deshalb für Nachwuchs in Lenk. oder Unternehmer antrat. werdet Ihr bewundert und ein wenig auch beneidet. Die Berichterstatter übertrafen sich gegensei- tig mit dem Erfinden oder dem Hochspielen von Auseinandersetzungen mit Koblet. Ich hatte aber nie den Eindruck, dass ihr Feinde gewesen wärt. Hugo und ich waren Rivalen, aber nicht Feinde. Wir hatten unterschiedliche Charaktere und Persönlichkeiten. Er war ein eleganter Städter, Gast im gehobenen Zürich, Hauptfigur im Jet-Set, von den Frauen umschwärmt und ein wenig leichtsinnig mit Ich bin glücklich, mit ihr zu leben. Sie hilft den Ausgaben. Dagegen bin ich auf dem mir, sie versteht mich, sie erträgt mich und Lande aufgewachsen, in ziemlich armen sie kocht himmlisch. Leider besiegt sie mich Verhältnissen. Ich war sechs Jahre älter als er fast immer auf dem Golfplatz. Sie befasst sich und habe ihn immer wie einen kleinen auch mit meinem Papierkram und gemein- Bruder angesehen. Ich war nie eifersüchtig sam beantworten wir die zahlreiche auf seine Erfolge. Wir waren gute Kameraden Korrespondenz. und wir schätzten uns gegenseitig. Eigentlich muss ich zugeben, dass ich ohne Hugo nie Ich weiss, dass du noch viele Briefe und zum “Ferdy National” geworden wäre. Ich Bitten um Widmungen bekommst, und dass habe es ihm zu verdanken, dass ich über 150 du dank deiner persönlichen Beantwortung Male auf das Siegerpodest steigen konnte. Ich deine bewundernswerte Schrift beibehältst. verdanke Hugo viel und sein tragisches Ende Ja, und darauf bin ich stolz. Mein Vater hat hat mich zutiefst erschüttert. mir die Wichtigkeit des formell schönen Schreibens und die Freude daran eingeprägt. Nach deinem Abschied von den Wettkämpfen Das ist also eine Tätigkeit, die mir nicht hast du dich anderen Sportarten zugewendet. schwer fällt. Ein deutscher Journalist hat ein- Nach welchen Massstäben hast du sie ausge- mal eine seltsame Rechnung aufgestellt, um wählt? herauszufinden, wie viele Autogramme ich im Bis zum Alter von 75 Jahren bin ich fast jeden Laufe der Jahre verteilt habe. Er ist auf ein- Tag 40 Kilometer Fahrrad gefahren. Danach einhalb Millionen Unterschriften gekommen. haben mich der Verkehr, das wenige Wahrscheinlich hat er Recht. Verständnis, das die Autofahrer den Rad- fahrern entgegenbringen, und der Mangel an Im Laufe der Jahre hast du viele Persönlich- keiten kennen gelernt. Welche haben bei Dir eine besondere Erinnerung, einen bleibenden Eindruck hinterlassen? Zweifellos General Henri Guisan. Ich habe im zweiten Weltkrieg aktiv gedient und bei der Tour de Suisse, im Jahre 1948, als er schon in Rente gegangen war, kam er, mir die Hand zu geben. Diese Geste hat mich gerührt. Ich habe Gelegenheit gehabt, sehr viele Hauptfiguren der nationalen und internationalen politi-

[XXVII] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

[XXVIII] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... schen Welt zu treffen, aber auch Persönlich- Ventoux. Von den einfachen Tabletten kam keiten aus der Wirtschaftswelt und natürlich man bald zu den Injektionen und zu allen viele Journalisten. Mit vielen von ihnen habe möglichen Anregungsmitteln bis zum Epo. ich noch sporadisch Kontakt. Unter den aus- Eine tragische, absurde, selbst zerstöreri- sergewöhnlichsten Begegnungen erinnere sche Entwicklung, weil sie nicht nur die ich mich an den Besuch, den mir die Berufssportler, sondern auch die jungen Weltmeisterin im Akkordeonspiel abstattete. Menschen betrifft, die Junioren und die In Pau kam sie in das Hotelzimmer, das ich Amateure. Bartali sagte, bei den Rennen gewinne man, wenn man gut schliefe. Ich bin immer seinen Ratschlägen gefolgt, habe hart trainiert und literweise Orangensaft getrunken, um die nötige Reserve an Vitaminen zu haben. Aber ich hoffe, man wird diese Phase abschliessen können, um wieder zu einem sauberen Radsport überzu- gehen. Wahrscheinlich wird man schneller fahren müssen. Emilio sagt oft, er habe vier oder fünfmal die Welt umrundet. Ich bin den Äquator sieben bis achtmal gefahren. Zu unseren Zeiten begann die Saison Mitte März mit Mailand – San Remo und endete Ende mit Emilio teilte, um mir ein sehr angeneh- Oktober mit der Lombardei-Rundfahrt. Dann mes Konzert zu widmen. Historisch waren waren da noch die Sechstagerennen, die auch die lustigen Gespräche mit Clown Crock Wintertreffen oder die Querfeldeinrennen. und die Plauderei mit dem Sherpa Tensing, Heutzutage gibt es Sportler, die sich auf einen Bezwinger des Everest. Auch mit Bud Spencer bestimmten Teil der Saison spezialisieren habe ich mich gut verstanden und mit Achille und, um in jenem Moment hervorzuragen, ist Compagnoni. Wir assen mit Ihnen zu Abend alles erlaubt, rückhaltlos. Wenn wir den auf Anregung Bartalis und Emilio Croci Radsport retten wollen, müssen wir mit fester Tortis. Zuletzt möchte ich noch an den Hand eingreifen. Deshalb ist die Geste Rihs' unbeugsamen Unternehmer Andy Rihs von besonders mutig und bedeutsam. Ich hoffe, der Phonac erinnern. dass es nicht ein vereinzeltes Sinnbild bleiben wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ich weiss, dass Rihs einer Deiner Bewunderer Sportmedizin den Radsport zu einem tod- ist. Er ist eine Hauptfigur der Wirtschaftswelt kranken Patienten gemacht hat. von heute und ist leider mit in die traurigen Dopinggeschichten verwickelt. Wie beurteilst Gemeinsam mit dem unverwüstlichen du diese schmerzhaften Seiten, die einen “Ferdy National” wünsche auch ich mir, die schweren Schatten auf die Welt des Radsports Zukunft möge uns die erwartete, strahlende werfen? Wie habt ihr euch damals verhalten? Wiedergeburt des Radsportes bescheren. Ich Ich erachte es als eine sehr mutige wäre glücklich, Ferdy Kübler wieder bei der Entscheidung von Rihs, der mit dem Radsport Strassenweltmeisterschaft 2009 in Mendrisio abgeschlossen hat und die Mannschaft, die treffen und mit ihm auf den sich dann bald aus zirka zwanzig Sportlern und aus über sieb- nahenden neunzigsten Geburtstag anstossen Links: Eine kameradschaftliche zig Angestellten, Masseuren, Mechanikern, zu können. Geste zwischen Kübler Ärzten und Verwaltern bestand, auflöste. Das und Koblet bei der Tour de Suisse 1955. Doping ist leider ein Übel, das den Sport im Allgemeinen und den Radsport im Besonderen Auf dieser Seite: Emilio Croci-Torti, bestraft, auch weil er verletzlicher ist als ande- Ferdy Kübler, Gino re Sportarten. Zu viele Sportler verhalten sich Bartali und Achille Compagnoni bei unverantwortlich. Dieser skandalöse Abstieg der Vernissage einer begann in der zweiten Hälfte der sechziger persönlichen Ausstellung Jahre und kostete das Leben, Croci Tortis im Jahre 1994. ausgerechnet auf den Serpentinen des Mont

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Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... Splitter der Wirklichkeit, Erinnerung und Phantasie

von Sergio Zavoli*

Links: Radsportler und Bäume im Gänsemarsch auf unbefestigter Strasse.

Auf dieser Seite und auf der folgenden: “Ländlicher” Radsport vergangener Zeiten Ferdy Kübler und Hugo Koblet ...... Eine grosse Bank mit der fortschrittlichen chem Gesicht”, und nicht nur vom ästheti- Neigung, innerhalb einer Gesellschaft an den schen Standpunkt aus gesehen. Man kann Ursachen der kulturellen und sozialen nicht behaupten, dass er mit Wasser und Brot Identität des Gebietes teilzuhaben, hat einen angetrieben wurde, auch damals nicht, aber durchaus nicht zufälligen oder zerstreuten er erschien unschuldiger und im weitesten Blick auf einen Aspekt des gesellschaftlichen Sinn war er es auch. Als die Generation Lebens geworfen, der ein fester Bestandteil der Coppis und Bartalis und dann die Gimondis modernen Lebensweise geworden ist: ich und Merckxs vergangen war, beendete ich meine den Sport, und im Besonderen eine der meine letzte Saison als Gefolgsmann, ohne beliebtesten Sportarten, den Radsport, eine dass die Liebe endete, die in der Schulzeit kleine und mythische Welt, deren Geschichte begonnen hatte, an jenem schicksalhaften bis zu uns gedrungen ist, trotz einer Reihe Tag, als sie uns zum ersten Mal den vorbeifah- schwerer Zwischenfälle, die hier und da ihr renden Giro sehen liessen. Ansehen verunstaltet haben. Wenn man in Wir stellten uns schon zwei Stunden vorher Bezug auf den legendären und unverdorbenen am Ende der Tiberiusbrücke auf. Wir hatten Teil dieser Geschichte zwei Sportler der uns gedacht, dass die empfindlichen Reifen Schweizerischen Eidgenossenschaft nennen der Rennräder auf den unregelmässigen will, ist es nur natürlich, dass die Wahl auf zwei Steinplatten der römischen Strasse zerbre- Champions fallen muss, Kübler und Koblet, chen mussten, wenn der Fahrer nicht ver- die ihr Vaterland vorbildlich vertreten haben. langsamte. Und tatsächlich, kaum fuhr der Ich habe beide kennen gelernt, als die Rekorde Giro auf die weisse bucklige Brücke, fuhren Bartalis und Coppis begannen. Aber der erste alle im Gänsemarsch, wie auf einem Pfad. Und meiner vielen Giri d‘Italia (1946) lag, entgegen da sie so langsam und vorsichtig weiterfuh- jeder Erwartung, ausgerechnet in der Hand ren, war es uns vergönnt, das Schauspiel so eines Schweizer Radsportlers, Clerici, eines lange wie möglich zu geniessen. Aus der blen- unbekannten Komparsen, der sich dank einer denden Erscheinung materialisierten sich einzigen Etappe, die er mit stratosphärischem zuerst die Köpfe, dann die Schultern, dann die Vorsprung gewann, auf den ersten Platz der Arme, zuletzt der ganze Rennfahrer, mit den Klassifizierung vorschob und dort bis Mailand auf der Brust gekreuzten Schlauchreifen, die blieb, trotz der geringen Geltung, die die “far- ihm einen Hauch von Märtyrertum gaben. benfrohe Schlange”, wie man phantasievoll Und während das Feld an uns vorbeifuhr, das Feld nannte, ihm zugestand. sahen wir zu, schweigend, wie vom Blitz Kübler und Koblet konnten mit Coppi und getroffen, als hätte uns das Schicksal erlaubt, Bartali verglichen werden: Ersterer robuster, hartnäckig und grosszügig, ähnelte dem toska- nischen Champion. Koblet, eleganter, geheim- nisvoll, moderner, erinnerte an den Meister aus dem Piemont. Mit dem Unterschied, dass Kübler, verglichen mit Koblet, eher mit der Kraft, und der andere eher mit dem Kopf sieg- te, genauso wie ihre italienischen Kollegen, so dass schon allein die Art, auf dem Fahrrad zu sitzen, die beiden Paare unterschied: einerseits wegen der Kraft, andererseits wegen des Stils. Koblet war an einige Zierereien gewöhnt, zum Beispiel kämmte er sich oft die Haare, achtete der Ankunft Constantins in Ponte Milvio bei- auf die Umgangsformen in den Beziehungen zuwohnen, mit einem Meer von jubelnden zu den Kollegen, den Journalisten, den Sport- Wappen, Bändern und Fahnen, das vor der begeisterten, er hatte ein liebenswürdiges, Truppe herfuhr. Bei all dieser Anstrengung weltoffenes Mädchen geheiratet. Kübler hinge- fehlte nur das Kreuz. Einmal führte Cazzulani gen erinnerte an Nencini, praktischer, direkt, die Reihe an, so würdevoll als Erster der und in allem transparent. Reihe, mit seinem Arbeiternamen, und so Man wird es schon verstanden haben, es war weiss vom Staub der Strassen Italiens, dass er damals noch ein Radsport “mit menschli- aussah wie ein Radfahrerdenkmal. Und als

[XXXII] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

Beim Gran Premio dieser Ritus zu Ende ging, hofften wir, die Wenn die Karawane ganz vorbeigezogen war, della Montagna Hüter eines solchen Privilegs, dass sich diese und am Ende der Strasse auch der letzte (Grossen Preis der Berge), flankiert Verzauberung im nächsten Jahr wiederholen Beiwagen mit drei Hünen darauf verschwand von der Menge. könne, wenn der Giro wieder über die – mit gelben Sonnenbrillen und weissem Konsularstrasse kommen würde und über die Staubmantel – die bezahlt wurden, um mitzu- Brücke, an einem Schultag voller Sonne. teilen, dass nun nichts mehr komme, versan- Der Giro hatte also etwas Religiöses an sich. ken wir in Schweigen, unfähig, wegzugehen. Sein Erscheinen erinnerte mich an etwas, das War das möglich, dass nun nichts mehr zu ich in der Chiesa dei Servi (Kirche der Diener) erwarten war, nichts mehr zu sehen, zu gesehen hatte, bei einer Votivgabe: von schreien? Dass alles wie ein Blitz vorbei war? Sonnenstrahlen durchzogene Wolken, der vom Wunder Begünstigte von einem leuch- tenden Pfeil mitten in die Brust getroffen, und rundherum viele Engel, mit zum Himmel gerichteten Augen, in einem göttlichen Licht. Die Radfahrer stützten sich auf die Lenk- stangen, um nicht auf den Rädern zu lasten, und nutzten die langsame Fahrt, um die Lebensmittel aus den Säcken zu holen, die ihnen ihre Mechaniker und Masseure gepackt hatten. Nach der Brücke war der Weg frei für die Spiele des Rennens: plötzlich schnellte vor allen ein Fahrer nach vorne und in den Giro kam dadurch eine Bewegung, die ihn einen Und dann, nach dem Vorbeiziehen des Augenblick lang durcheinander brachte. In Rennens, verteilten wir uns zögernd auf der diesem Moment entledigten sich die Strasse. Die Hunde kamen aus den Gräben Radfahrer all ihrer noch in den grossen hervor und schlossen sich dem verworrenen Taschen der Trikots verleibenden Dinge: ich Auseinanderströmen ihrer Herren an: es war kann mich noch daran erinnern, dass sogar wirklich zu Ende, wir konnten weggehen, die Bananen im Graben landeten, die ihre einer Einsamkeit entgegen, die endgültig Kinder nie, noch nicht einmal zu Weih- erschien. nachten, zu sehen bekamen. Es war kein Mancher wird jetzt nicht einverstanden sein, Zufall, dass die älteren Fahrer sie nur weg- aber ich beharre darauf: der Radsport ist nicht warfen, wenn sie eine Gruppe Kinder sahen, eigentlich ein Sport! Oder, wenn er einer ist, und an den Strassenrändern entbrannten dann ist er von so unbestimmter und unfass- laute und schnelle Spektakel. barer Natur, dass derjenige der am besten Jeder von uns hatte eine für das weitere Geeignete scheint, darüber zu sprechen, der Rennen wichtige Aufgabe: Wasser auf die ver- daraus Metaphern ableiten kann, der ihn brannten Gesichter der Radfahrer zu sprit- verfälscht, wenn auch aus Liebe, um daraus zen, ihnen auf einem Schild die Anzahl der etwas Irreales zu machen. Nietzsche sagte, Kilometer anzuzeigen, die noch verblieben, “Es gibt keine Tatsachen, sondern nur eine rosa Fahne zu schwenken, die Farbe der Interpretationen”. Vielleicht ist das ein Schwärmerei, in dem Moment, in dem der Gedanke für den Giro d‘ Italia! Früher hätte Erste vorbeifahren würde, zart wie ein sich daraus eine Debatte auf der Tribüne des Blütenblatt. Ich musste auf die Hunde auf- “Processo alla tappa” (Die Etappe im Prozess) passen, damit sie nicht die Strasse überquer- entwickelt, und es wäre alles Mögliche gesagt ten, und ich fühlte mich wie der Garant der worden. Andererseits gingen von diesem allgemeinen Unverletztheit, zugegeben, mit Gerüst Schwärme von Hypothesen aus, und einigen speziellen Gedanken an die meistge- im Zentrum aller war “die höchste der poeti- liebten Champions. Die Lust, sie zu begrüs- schen Möglichkeiten, die dem menschlichen sen, war so gross, dass bei der Spannung, sie Körper erlaubt ist,” wie Alfredo Oriani, zu sehen, endlich alles in einem einzigen übertrieben wie nur er sein konnte, das Sturm aus Farben verschmolz, ohne Anfang Fahrrad nannte. Der “Prozess” hatte damals und ohne Ende. als Angeklagte, wenn man so sagen will,

[XXXIII] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ...... Menschen und ihr Verhalten, Sitten und ohne einen institutionellen Sitz zu haben, Verfehlungen, die wenig oder nichts waren im wenn nicht im Gewissen der sportlichen Vergleich zu allem, was sich danach langsam Menschheit, ein Verbrechen aburteilt, das ich entwickelte. Das geht so weit, dass man heute - und ich bitte das kodifizierte Recht um denken muss, dass das Wort “Sport”, wenn es Vergebung - unerlaubte Aneignung nennen nicht die uneigennützige persönliche Be- würde. Mit dem erschwerenden Umstand der tätigung, das heisst, die des Amateurs, Resonanz des schlechten Beispiels, das den bezeichnet, sondern die gesamten wettkampf- Geist einer menschlichen Aktivität verseucht mässigen Sportarten, die man Berufssport hat, die aus zivilen, pädagogischen und spiri- nennt und die von institutionalisierten, tuellen Erwägungen heraus bedeutungsvoll gesetzlich anerkannten Organismen versam- war. Bis zur Korruption der klassischsten melt, verwaltet und bevormundet werden, aller gewinnfreien Rechtsprechungen, der nicht die Bedeutung hat, die sich mit der Olympiade, die immer mehr eine berufssport- olympischen Ethik vereinbaren lässt. Folglich ähnliche Dimension annimmt, in der man bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass den Amateursport den Regeln des Marktes der Sport, früher oder später, nur noch die geopfert hat, noch mehr, ihm die Pforten auf- Amateursportarten beinhalten wird, und noch gerissen hat. Und zu allem Überdruss ist noch nicht einmal alle. die heimtückischste, unzulässigste aller Der Leser wird sich fragen, ob der, der solch Verfehlungen dazu gekommen, das Doping. einen radikalen Vorschlag macht, das heisst, In Turin, bei der grandiosen, raffinierten und der Unterzeichnete, ein “waches Bewusstsein” schwer zu übertreffenden Einweihungsfeier hat, wie die Ärzte in ihren Berichten schrei- der Winterspiele haben die höchsten ben, was in der Umgangssprache heisst, ob er Autoritäten des olympischen Sports zum unter Halluzinationen leidet oder nicht. Es ist ersten Mal in ihren Reden offiziell das Wort so, dass ein Wort, das in der angelsächsischen “Drogen” benutzt. Ich frage mich, warum Welt geboren und aufgewachsen ist, und das man nach den Skandalen, die gerade unter dann fest in das Kommunikationssystem und den fünf Ringen ausbrachen (die von in das kulturelle, zivile, soziale, und erzieheri- Anabolika aufgeblasenen Muskeln der sche Repertoire der halben Welt eingegangen Athleten des Fernen Ostens und Osteuropas, ist, nach eineinhalb Jahrhunderten so von der die Bluttransfusionen und der Gebrauch von Höhe seines Archetyps abgestürzt ist, dass ich Erythropoietin der europäischen Radfahrer, glaube, dass man seine Bedeutung noch ein- die hundert pharmakologischen Zusätze aus mal hinterfragen sollte. Ich nehme mir die den Zauberkesseln der Wissenschaft, die tau- Freiheit heraus, dieses Urteil im Namen eines send Arten von Gebräu, schnell von der Hexe ethischen Gerichtshofs auszusprechen, der, zusammengemischt) weiterhin überall das

Serpentinen und Steigung.

[XXXIV] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

Ruhe vor dem Sturm.

Wort “Sport” aussprach, als ob es nach der als das, was zählte - um es mit dem viel Verseuchung und der überall herrschenden zitierten De Coubertin zu sagen - nicht der Korruption erlaubt sei, sich einfach über Sieg, sondern die Teilnahme war. Noch nicht Abgründe der Würdelosigkeit hinwegzuset- einmal die Athleten der Dritten Welt glauben zen, die noch dazu untersucht, verfolgt und mehr daran - die einzigen, die noch den öffentlich verurteilt worden waren, mit einem “nackten und blossen Sport” praktizieren, wie Aufwand an Stirnrunzeln und an Aus- mein Freund Gianni Brera ihn nannte, als strömung von Moralismen, die Tomás de Kenner der sportlichen Morphologie, der ath- Torquemada hätten erblassen lassen, der doch letischen Bewegung und deren Verhältnis von Unbeugsamkeit etwas verstand. zum Körper und, wie ich hinzufügen würde, Und trotzdem ist dieses Wort aus fünf zum Geist - angefangen bei den Afrikanern, Buchstaben, eine für jeden olympischen Ring, den barfüssigen Champions, gelenkig und wie Phönix jedes Mal aus seiner Asche wieder schnell wie Geparde, Langstreckenläufer wie auferstanden und hat seinen Platz wieder ein- Gnus und mythisch wie Marathonhelden oder genommen, der ihm zuzustehen schien, nach olympische Fackelträger. Noch sind sie jedem Gesichtspunkt: dem rechtlichen, sozia- erkennbar bei ihren einsamen Läufen auf den len, politischen, ökonomischen, kulturellen, Hochebenen Kenias. Und hier will ich an den erzieherischen usw. Und wahrscheinlich wird Äthiopier Abebe Bikila erinnern und an die es auch so weitergehen, wenn kein Tsunami beliebteste olympische Chronik des Jahres alles erschüttern wird, nein, eher schlimmer. 1960, in jenem farbenprächtigen römischen Die Sportler werden sich immer weiter vom Sonnenuntergang: eine Rasse, die mit der Menschen entfernen, anders als damals, als Vorherrschaft des Fernsehens ausgestorben der Sport noch “Schule des Lebens” war, und ist, das den Anfang der Verseuchung und der

[XXXV] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Fahrräder und Toleranz bedeutete, nur um Schmeicheleien re mich noch, dass ich mich, um jenes Urteil Sportbegeisterte, und Ziele der Kollektion der einen wie der zu rechtfertigen, der Worte eines Dichters zusammengedrängt beim Vorbeifahren anderen hinzuzufügen. bediente, der in das Fahrrad verliebt war, der des Champions. Die Entdeckungen von Lascaux werden uns aber vor dem Aufsteigen eine wirkliche Panik wenig nützen, die Höhlenmalereien in hatte, Alfonso Gatto. Eines Tages sagte er, Frankreich, aber auch in Afrika und Asien, die gerührt von der Schönheit des Giro: “Und die rituellen Zeremonien von vor 30.000 jetzt werde ich fallen, fallen bis zum letzten Jahren darstellen, die mit “Spielen” endeten, Tage meines Lebens, und ich werde träumen, bei denen Arme und Beine benutzt wurden. zu fliegen.” Aber auch in Libyen wurden Männer darge- stellt, im Begriff, mit dem Bogen zu schies- sen, ein Wettkampf, in dem man siegen mus- ste, um zu überleben. Bei der Fischerei in Ägypten waren die Pharaonen nicht nur Zuschauer, sondern auch Schiedsrichter, denn damals bedeutete Schiedsrichter zu sein ebenso, einen Wettkampf zu garantieren, der auch Symbol für die Heiligkeit des Lebens war. Ihr werdet sehen, bald werden auch die Go-Kart-Rennen und das Gleitschirmfliegen zu olympischen Disziplinen erhoben werden. Jemand hatte schon die kühne Idee, dem Rückwärtslaufen sportliche Würde zu verlei- Ich muss gestehen, die härteste Wende war hen, und wer weiss, vielleicht auch dem die, die Würdelosigkeit des Radsports mit der Werfen mit der Schleuder oder dem Treffen des Fussballs auf eine Ebene gestellt zu sehen. mit dem Blasrohr. Da habe ich mich gewehrt. Der Gedanke, zwei Wir werden doch nicht so einfältig sein, auf in jedem Sinn so zutiefst verschiedene Welten die unverdorbene Schönheit des echten miteinander zu vergleichen, hat mich zuerst olympischen Schauspiels zu verzichten, entrüstet. Danach habe ich vor Vielem kapitu- angefangen bei der Leichtathletik, und lieren müssen, auch wenn ich dem Radsport genauso werden wir uns das berufssportli- den ersten Platz in Bezug auf Anstrengung, che Theater nicht vorenthalten, sei es im Opferbereitschaft, Beharrlichkeit und Hingabe Fussball, sei es im Radsport, im Automobil- bewahren möchte. Schon die Art, zu kämpfen sport, im Motorradsport, im Basketball usw., und zu gewinnen, ist abgrundtief verschieden. das auf seinem Programm alles hat, was Während es beim Fussball möglich ist, sich beliebt ist im Einzel- oder Mannschafts- vorzustellen, dass ein Ergebnis von dem wettstreit. Auch lassen wir uns nicht hörig Schielen eines Linienrichters oder eines machen von dem Vormarsch des Geldes und Schiedsrichters abhängen kann, ist der Sieg der Drogen mit ihren Gefahren. Wir werden eines Radfahrers viel unvermittelter zu nicht die halbe Welt zur Fahnenflucht anre- bescheinigen: da ist eine weisse Linie, die das gen! Was bleiben wird, ist auf jeden Fall der Ziel darstellt, und der Sieg wird dadurch Humus, der seine Nahrung aus den vergeb- bestimmt, welches Rad sie als erstes über- lich von Aristophanes verlachten Seiten quert, vom Chronometer, vom Endspurt, aber Pindars schöpft, die man in der “Geschichte auch von der Flucht, von der Steigung und der Olympiade” von Stefano Jacomuzzi finden dem Gefälle, vom Versagen der Mechanik, von kann und die ein Schiedsrichter mit bewiese- den Tücken der Strasse, vom Eis und der ner Ehrlichkeit, Claudio Magris, uns im brennenden Sonne, von Hunger und Durst. Namen der überlebenden Unbestechlichkeit Ein ungeschriebener Pakt der Glaubwürdig- empfiehlt. keit und des Vertrauens bindet die “Giganten Mit der sportlichen Erfahrung, die ich im der Strasse” an ihr Publikum. Aber wenn man Radsport sammelte, schrieb ich, und erregte auch nur argwöhnen muss, dass der Erfolg damit die Gemüter des halben Giro, dass die von einer Spritze abhängt, von einer Infusion Niederträchtigen, die Doping anwandten, oder von einer Transfusion, dann geht der dem Sport seine Würde entrissen. Ich erinne- Pakt zugrunde, die Epik in den Keller und die

[XXXVI] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ......

Die Mauer, das pavé. Ethik löst sich in Rauch auf. Eine vielgeliebte aber sie hilft beim Weitergehen.” Ich bin so Welt wird zertrümmert. Nicht, dass es ab und sehr in den Radsport meiner Zeit versunken, zu nicht einen Alarm gegeben hätte, und so gezeichnet von der Art, wie wir ihn Anspielungen, halbe Wahrheiten und sogar erlebten, dass ein plötzliches Hochfahren Skandale, wie der eines grossen und verherr- genügt, um eine Jugendzeit wiederzuer- lichten Champions, Marco Pantani, aber wir wecken, die, wer weiss, wo sie geblieben ist. dachten, dass das von allen geforderte Ich glaube, dass es nicht nur mir so geht. Ich Antidopinggesetz als Abschreckung dienen erinnere mich zum Beispiel daran, dass jeder würde. Das war nicht der Fall, oder sehr von uns über eine andere Art von Rennen wenig. Und da die Dinge so liegen, deckt man erzählte, anders als jeder andere. Schon den grossen Topf auf und riskiert, darin nichts damals dachte ich, dass der Radsport nicht mehr zu finden, nichts mehr vorzubeugen nach einem technischen Mass beschrieben und nichts mehr zu unterdrücken. Vor allem werden kann. Mindestens drei Schriftsteller im Interesse der so genannten “sauberen” und ein Dichter hatten Coppi etwas gewid- Radfahrer, die Opfer eines Systems sind, das met, das über das durchaus starke Interesse die Richtung verloren hat, wird man irgend- für Sport hinausging, das durch den wann mit allem neu anfangen müssen: ange- Champion hervorgerufen wurde: ich meine fangen von den Jungen, die man am liebsten Buzzati, Vergani, Mosca und Gatto. Meine vier Schicksalsgenossen, Berichterstatter aus Liebe, dachten an einen Roman zwischen Wirklichkeit und Geheimnis, der als Hauptperson eine Persönlichkeit habe, die sowohl wirklich als auch mythisch sei. Vielleicht scheint es übertrieben, aber es gab Jahre - und das sage ich vor allem den jungen Leuten -, in denen Coppi wirklich in der Phantasie der Menschen wohnte, so dass man beinahe glaubte, er sei kein Radfahrer mehr, wenn auch ein ausgezeichneter, sondern eine aussergewöhnliche Erscheinung in der umarmen möchte, wenn sie am Sonntag- Palette der menschlichen Möglichkeiten. Und morgen am Strassenrand Spalier stehen, mit wenn man dann noch das Geheimnis der ihren Fahrrädern, die leichter und geräusch- Traurigkeit und des Unglücks hinzufügte - und loser sind als die Luft. eine unbestimmte Blässe auch der Seele -, Und wenn sie dann Athleten geworden sind, dann bekam man das Abbild einer Romanfigur. dann wird es nötig sein, dass sie sich ver- Ausserdem hatte sich das ganze Volk der pflichten, einen ethischen Kodex zu respektie- Schönheit jener Giri verschrieben, auch die ren, aber genaue Pflichten werden auch von Intellektuellen, die oft über den Sport die den Technikern, den Ärzten, den Direktoren Nase rümpften, ausser Pratolini, Bernari und und den Journalisten akzeptiert werden müs- Pasolini, von denen feurige Worte gegen den sen. Man kann nicht erwarten, dass die auffäl- Snobismus derer ausgesprochen wurden, die ligen Interessen, die heute im Spiel sind, sich ignorieren wollten, dass Coppi, auf seine Art, spontan zur sportlichen Moral bekehren wer- ein viel mehr literarischer Held sei als viele den, aber dass sie dazu gebracht oder dazu erfundene Gestalten. Hat sie nicht eine mär- gezwungen werden, dessen Regeln anzuneh- chenhafte Dimension, zum Beispiel die men, und sei es nur aus Furcht, die Profit- Szenerie, in die Buzzati das siegreiche Abbild maschinerie zu zerstören. Wird es noch mög- des Champions des Giro 1949 stellt? “Und er lich sein, den Radsport mit Transparenz in stürzte voran auf der kiesigen Strasse inmit- Einklang zu bringen? Ist das eine Utopie? ten des Waldes. Und der Wald war schwarz Sind wir zu weit gegangen, um umkehren zu geworden. Und schwarz waren die Wolken, können und alles noch einmal, auf andere Art, alle nach unten ausgefranst. Im Nebel, dann machen zu können? Und doch, ein Sport- und wann, ein wilder Felsen der Dolomiten. reporter, Eduardo Galeano, hat einmal gesagt: Etwas stichelte ihn ins Gesicht und auf die “Utopie ist wie der Horizont: unerreichbar, Beine: Hagel. Unwetter in den Bergen.

[XXXVII] Ferdy Kübler und Hugo Koblet ......

Flucht zum Sieg.

Langsam wurden die Szene und der Kampf nicht immer gelang, den Schnörkel zu ver- mächtig. Die strengen Tannen entflohen zur meiden, den Nachdruck, die etwas gekünstelte Seite, schief wegen der Geschwindigkeit...”. Prosa. Elf Jahre danach, am 2. Januar 1960, starb der Aber war nicht vielleicht die Sprache, die “grosse Reiher”, wie ihn Vergani nannte. Sein dem Radsport zustand, eine Mischung aus unvergleichlicher Gefolgsmann telefonierte Realität und Dichtung? Meister dieser mit dem “Corriere” und gab ununterbrochen Alchemie war gerade er, Orio Vergani, der seinen Text durch: “Fausto siegte, ohne je zu seine Erzählungen im Zeitungswagen schrieb, lächeln, fast, als ob er nicht ganz an sich mit dem Schreibblock auf den Knien und dem selbst glaube. Er erschien immer wie in Kugelschreiber im Mund, dann und wann aus Gedanken versunken, seltsam und fest einer dem Fenster schauend, auf der Suche nach inneren Stimme zuhörend, die ihm ein einem Adjektiv. Schliesslich, am Ende der unverständliches Wort zuraunte, das der Etappe, liess er den Artikel von einem jungen lärmende Applaus von Millionen von Mitarbeiter diktieren, Walter Breveglieri, Zuschauern nicht überdecken konnte. Das einem sehr guten Fotografen, der vor einigen Unglück, “la guigne”, traurige Gefährtin der Jahren verstarb, der einzige in der Karawane, früheren Strassenrennen, hat den Faden sei- der diese Schrift lesen konnte, die aus lauter nes zerbrechlichen Lebens zerteilt, so wie ein Unregelmässigkeiten, Krakeln, Häkchen, leichter Windhauch den Faden einer vom Knoten und Kritzeleien bestand, die sich auf Frost bedeckten Spinnenwebe zerbricht; dort, dem rechten Teil der Seite drängten, immer auf den winterlichen Hecken seines ländli- dichter, bis sie zu einer Zeile von zwei oder chen Dorfes”. Das waren die Worte eines gros- drei Wörtern wurden. Eines Tages nahm sen Phantasten, hätte ein Purist gesagt, der Breveglieri in Montpellier das Telefon und las: den Erfolg mit der Wehmut vermischt, das “Wer ist nur dieser braunhaarige Junge, der Geschriebene mit der Legende, und dem ganz alleine ins Ziel gekommen ist?” der Leser einen neuen Schlüssel zur Welt des Stenograph des “Corriere” protestierte: “Woher Rennrades bietet. soll ich das denn wissen? Wisst ihr nicht, wer Die Zeit verging, und man entdeckte, dass gewonnen hat?” Geduldig fing Breveglieri Malaparte Fausto Coppi im Sinn hatte, als er wieder zu diktieren an: “Wer ist nur dieser das Fahrrad “dieses Kunstwerk, dieses braunhaarige Junge...” Schmuckstück des Geistes” nannte. Und Wer damals über Sport schrieb, durfte sich selbst Brera - heute wäre Mura an der Reihe- auch Unbestimmtheit erlauben. Mehr noch, malte die lebendigsten Abbilder des “weiss- Fellini würde sagen, gerade die Grazie der blauen” Champions beim Rennen, mit dem Ungenauigkeit gab den Berichten eine gewin- Virtuosentum des Gefolgsmannes, dem es nende erzählerische Qualität. Es ist jedoch

[XXXVIII] Mut und Faszination des Radsports vergangener Zeiten ...... auch wahr, dass man, um auszuschweifen, Kranke, Schlaflose. Es war ein “Prozess” über ohne den Tatsachen oder dem Leser Unrecht Doping. zu tun, Vergani heissen musste, oder ihm zu Als ich den Fernsehapparat ausschaltete, ich ähneln, das heisst, fähig zu sein, alles mit weiss es noch, dachte ich: “Es ist höchste Zeit, Schöpfergeist, Kultur und Menschlichkeit Radsport, rette dich! Auch wenn du einige zu umhüllen, das Wahre in der Phantasie zu Zeit lang kein Sport mehr sein sollst, rette finden, oder umgekehrt, je nachdem, nach dich! Schau dir den Fussball an!” Laune oder wie das Ereignis verlaufen war. Und nun möchte ich der Banca Popolare di Breveglieri sprach jahrelang noch mit Sondrio (SUISSE) meinen Dank aussprechen, Ergebenheit darüber. Ein anderer Bericht weil sie uns in die weit entfernte Menschlich- begann mit dem problematischen Einleitung: keit der “Pedaltreter”, der “Giganten der “Soll ich vom Etappensieger berichten oder Strasse”, der “letzten Schuldlosen” zurück- vom Burgunderwein?” versetzt hat, wie Eugenio Montale schrieb, ein Aber dann kamen aussergewöhnliche Berichte grosser Poet auch des Gewagten. Aber in aus der Feder, mit ständigen Ausschweifun- Bezug auf Schuldlosigkeit war ihm schon ein gen, wobei die Tatsache immer im Mittelpunkt grosser französischer Kollege zuvorgekom- stand, beherrschend. Und so begannen diejeni- men, Stéphane Mallarmé: “Die Ungläubigkeit gen, die den Sport nie geliebt hatten, über den hat keine Schöpfungskraft” schrie er einmal, Sport zu lesen, und auch jene befassten sich unter dem Einfluss eines Chablis aus einem mit Radsport, die ihn zwar liebten, aber denen guten Jahrgang, einer Gruppe Pessimisten zu, es nie in den Sinn gekommen wäre, darüber von der Sorte, die wir in der Romagna, die zu schreiben. “Nonisten” nennen, weil sie immer, zu allem Jetzt, da der Radsport aus meinem Beruf ver- und jedem “No” sagen. Aber kann man sich schwunden ist, gibt ihn mir Enrico Ghezzi vorstellen, zu leben und sich gegenseitig zu zurück, und unzählige Emotionen werden respektieren, ohne daran zu glauben, dass wieder ausgegraben. Die “Splitter” im Fern- auch wir fähig sind, “alles zu erneuern”? sehen zeigen uns das, was sich vor unserer Vergesslichkeit retten konnte, um nicht zu * Journalist und Schriftsteller, früherer Präsident sagen, vor der kleinen, fast unsichtbaren der RAI Selbstzerstörung des Gedächtnisses. In einer riesigen Videothek aus Millionen Bändern ist nicht nur eine gemeinsame, schon verblasste Erinnerung aufbewahrt: das, was jedes Mal daraus neu entsteht, ist die Möglichkeit, es der Vergangenheit jedes Einzelnen anzupassen. Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, einen “Prozess der Etappe” wieder zu sehen, über dreissig Jahre alt, dem die Distanz ein wenig Nachsicht, und bei mir persönlich etwas Bildunterschriften und Recherche der Zitate für die thematischen Bilder: Pier Carlo Della Ferrara. Sympathie verlieh. Aus diesem etwas erschöpf- ten Schwarz-Weiss - mit seinem unschuldigen Wir danken Herrn Emilio Croci Torti für die fotografische Dokumentation. Epos, das man noch verspürte- ging jedoch keine Widersprüchlichkeit, auch nicht ästheti- Die Banca Popolare di Sondrio (SUISSE) ist nicht für die Texte scher Art, hervor. Es passte zu einem verantwortlich, die das Gedankengut der Autoren widerspiegeln. “Splitter”, der weniger als ein Fund war, sich Quellen und fotografische Referenzen: aber gleichzeitig, aus einem geheimnisvollen Fotoarchiv RTSI, S.III Emilio Croci Torti, S. X, XX, XXIV, XXIX, XXXI Grund, mit einer Art von überlebendem, uner- Foto-net, S. 1 VI, XII,XVIII, XXI oben, XXVIII. müdlichem, harmonischem “Verlangen” nach Ferdy Kübler, S. VIII, XXIII, XXVII unten, XXXII, XXXVI L’Equipe/EQ Images, S. II, V, XIII, XV,XXV, XXXVI, XXXVII, XXXVIII jenen Bildern zusammenfügte, nach jener RDB, S. IV, unten, XIV, XVII, XIX, XXVII, oben Zeit, nach jenen Geschichten. Hans Riniker, S. IV, oben, Walter Scheiwiller, S. VII, IX, XI, XXI unten, XXII, XXX, XXXIII, Ich sah das Programm gegen ein Uhr nachts. XXXIV, XXXV Das war die Uhrzeit, die Ghezzi für seine Die Banca Popolare di Sondrio (SUISSE) steht den Besitzern der “scorribande d'autore” (berühmten Streifzüge) Rechte auf das eigene Bild, die nicht festgestellt oder aufgefunden werden konnten, zur Verfügung, um den geltenden Verpflich- zugewiesen war. Etwas für Schlafwandler, tungen nachzukommen.

[XXXIX] PROJEKT UND KOORDINIERUNG SDB, Chiasso

Titelblatt: Dino BUZZATI, Non tramonterà mai la fiaba della bicicletta (Die Fabel des Radsports wird nie untergehen), im “Corriere della Sera”, 14. Juni 1949.

Ausschnitt aus dem Plakat “Cycles Météore” Künstler: Georges Faivre