Eduard Mühle

Die Slaven im Mittelalter

Berlin, Boston: De Gruyter, 2016 ISBN: 978-3-11-048814-2

(Das mittelalterliche Jahrtausend / hrsg. von Michael Borgolte ; 4)

Persistent Identifier: urn:nbn:de:kobv:b4-opus-29842

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Eduard Mühle Die Slaven im Mittelalter Das mittelalterliche Jahrtausend

Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Herausgegeben von Michael Borgolte Band 4 Eduard Mühle Die Slaven im Mittelalter ISBN 978-3-11-048814-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049015-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048828-9

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RaschnachBand3kanndas Mittelalterzentrum derBerlin-Brandenburgischen Akademieder Wissenschaften in seiner Reiheder Jahresvorträge den Beitrag des OsteuropahistorikersEduardMühleaus Münster vorlegen.Der hier gebotene Text lehnt sich enganMühles Referatam9.Februar 2016 an, das wiederum großes Pu- blikumsinteressefand undeine lebhafte Diskussion auslöste.Ich danke Eduard Mühle besonders herzlich dafür,dass er sein Manuskript, textlich ausgeweitetund ergänzt um umfassende Quellen- undLiteraturnachweise, fürunsereReihe so schnell zurVerfügung gestellt hat.Mein Dank giltebenso dem VerlagWalterdeGruyter, besonders Dr.Jacob Klingner undseinenMitarbeiterinnen MariaZuckerund Julia Hachula,für die wieimmer engagierteMitwirkungbei dieserVeröffentlichung.

Die Reihewird fortgesetzt. Berlin, im Februar 2016 MichaelBorgolte

I

Noch in jüngsten mediävistischen Synthesen begegnen ‚die Slaven‘ in Sätzen wie diesen: „So stand Karl [der Große] unermüdlich im Krieg. Jedes Jahr versammelte er sein Heer und zog gegendie benachbarten Reiche – gegendie spanischen Muslime, gegenden Herzogvon Bayern, gegendas Reich der Langobarden in Oberitalien (…)sowie gegendie Sachsen, die Bretonen, die Slaven und die Awaren.“¹ –„Kommen wir aufdie letzte Welle der Invasionen und der Christia- nisierung zurück (…). Die Slawenwaren bereits aufchristianisiertes Gebiet vor- gedrungen und hatten zur Bildungeines gemischt bevölkerten Europa beigetra- gen.“² –„Heute[weiß man], dass voneiner Vertreibungoder Ausrottungder Slawen (…)bei der nicht die Rede sein kann. (…)ImGegenteil giltals sicher,dass die Ankömmlinge mit den eingesessenen Slawen (…)zusammen- wuchsen.“³ –„Seit 1222 bestanden auch in Paris Nationen (…), die anglogerma- nische [umfasste Schüler] ausEngland, Schottland, Deutschland, Ungarn,den slawischen und den skandinavischen Ländern.“⁴ Wasdiese beliebig herausgegriffenen Aussagen verbindet, ist die Tendenz zu einer ebenso bezeichnenden wie pauschalierenden Vorstellungvon der östlichen Hälfte des europäischen Kontinents und ihrer Bevölkerung. DieseVorstellung, die sich sowohl ausden mittelalterlichen Quellen selbst als auch ausder seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entfalteten Mittelalterforschungspeist,soll im Folgendeneiner kritischen Reflexion unterzogenwerden. Dabei werde ich mich aufdie mittelalterlichen Grundlagen dieser Vorstellungbeschränken und ihre jüngere, wissenschaftsgeschichtlicheAusprägung unberücksichtigt lassen. Dass ‚die Slaven‘ in nicht geringem Maßeauch eine ‚Erfindung‘ der Aufklärung und Romantik waren, dass sie erst vonder Sprachwissenschaft,Archäologie und Historiographie in umfassenderWeise als eine sprachlich-kulturelle, ja ethnische Einheitimaginiert wurden und dass ‚die Slaven‘ als eine solche imagined com- munity im 19.und 20.Jahrhundertinentsprechende – austro-, pan- und neosla- vische oder bruderslavisch-sozialistische – politische Programme eingespannt wurden, kann hier nur konstatiert,nicht aber eingehendausgeführt werden.⁵

 Stefan Weinfurter,Das Reich im Mittelalter.Kleine deutsche Geschichtevon  bis . München , .  Jacques Le Goff,Die Geburt Europas im Mittelalter .(Europa Bauen.) München ², .  MichaelBorgolte,Europa entdeckt seine Vielfalt –.(Handbuch der Geschichte Eu- ropas, Bd. .) Stuttgart , .  Ebd., .  Ausder umfangreichen, aber sehr disparaten einschlägigenLiteratur vgl. beispielsweise Conrad Grau,SlaweninDeutschlandimGeschichtsbild der deutschen Aufklärung, in: Lětopis / 2 Eduard Mühle

Gefragt werden soll stattdessen, wiedie mittelalterliche Welt ‚die Slaven‘ sah beziehungsweise danach, welche Konzepte und Vorstellungen die einschlägigen Quellen mit den fraglichen Begriffen verbunden haben.⁶

(), –; Sebastian Brather,Slawenbilder, ‚Slawische Altertumskunde‘ im .und .Jahrhundert, in: Archeologickérozhledy  (), –; Ders.,Germanen, Slawen, Deutsche.Themen, Methodenund Konzepteder frühgeschichtlichen Archäologie seit ,in: Ders. /Christine Kratzke (Hrsg.), Aufdem Wegzum Germania Slavica-Konzept.Perspektivenvon Geschichtswissenschaft,Archäologie, Onomastikund Kunstgeschichteseit dem .Jahrhundert. (GWZO-Arbeitshilfen,Bd. .) Leipzig , –; Hans Hennig Hahn, Der Austroslawismus.Vom kulturellen Identitätsdiskurs zum politischenKonzept,in: Gun-Britt Kohler u.a. (Hrsg.),Habsburg und die Slavia. Frankfurt a. M. u.a. , –; Krzysztof A. Makowski /Frank Hadler (Hrsg.), Approaches to Slavic Unity.Austro-Slavism, Pan-Slavism, Neo-Slavism, and Solidarity Amongthe Slavs Today. Poznań ; Stefan Troebst,Slavizität.Identitätsmuster,Analyserahmen, Mythos, in: Ders.,Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart , –.  Zurmethodisch-konzeptionellen Verortung dieses Frageansatzes vgl. Hans-Werner Goetz,Vor- stellungsgeschichte.Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungenund Vorstellungenim Mittelalter.Bochum ,bes. –; Klaus Oschema,Bilder vonEuropa im Mittelalter.(Mittel- alter-Forschung, Bd. .) Ostfildern ,bes. –. II

SlavischsprachigeBevölkerungsgruppen werden in den Quellen nichtvor dem 6. Jahrhundert fassbar.Sie kamen zu diesem Zeitpunktselbstverständlich nicht ausdem Nichts und hatten ihre Vorgeschichte.Doch entzieht sich diese bis heute einer unumstrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis.Weder die Geschichts- und Sprachwissenschaft,nochdie Archäologie und Anthropologie haben bislang allgemein anerkannteAntworten aufdie Fragenach der Herkunft und Genese der slavischsprachigen Bevölkerung Europas geben können.⁷ Auch ihre Lebensver- hältnisse sind für die Zeit vorihrem ersten Auftauchen in den schriftlichen Quellen kaum wirklich erhellt.DieseQuellen setzen um die Mitte des 6. Jahrhunderts ein.⁸

 Einblickeindie sehr unterschiedlichen, sich teils diametral widersprechenden und wech- selseitigausschließenden Theorienund Interpretationsansätze bieten JerzyNalepa,Opier- wotnychsiedzibach Słowian w świetle nowszych badań archeologicznych, lingwistycznychi historycznych, in: Slavia Antiqua  (), –;ebd.  (), –;imeinzelnen für die Geschichtswissenschaft Walter Pohl,Die ethnische Wende des Frühmittelalters und ihre Auswirkungen aufOstmitteleuropa. (GWZOOskar-Halecki-Vorlesung .) Leipzig ; Jerzy Strzelczyk,Początki refleksji nad pochodzeniem ijęzykiem Słowian, in: Ders.,Wświecie śred- niowiecznychmyśli iemocji. Wybórprac. Poznań , –;für die Archäologie Sebastian Brather,Archäologie der westlichen Slawen. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germani- schen Altertumskunde, Bd. .) Berlin /New York ,bes. –; Paul M. Barford,The Early Slavs. Culture and Society in EarlyMedieval Eastern Europe. London ,bes. –; Michał Parczewski,Zum Stand der Diskussion der polnischenArchäologenüber die Ethnogenese der Slawen, in: JanBemmann /Michał Parczewski (Hrsg.),Frühe SlaweninMitteleuropa. Schriften vonKazimierzGodłowski. (Studien zur Siedlungsgeschichteund Archäologie der Ostseegebiete, Bd. .) Neumünster , –;für die Sprachwissenschaft Henrik Birnbaum,Onthe eth- nogenesis and protohome of the Slavs: the linguistic evidence, in: Journal of Slavic Linguistics  (), –; Hanna Popowska-Taborska,The Slavs in the earlymiddle ages from the viewpointofcontemporary linguistics,in: Przemysław Urbańczyk(Hrsg.), Origins of Central Europe. Warszawa , –; Dies.,Wczesnedzieje Słowian w świetle ich języka. Warszawa ³; Jürgen Udolph,Die Heimat slavischer Stämme ausnamenkundlicher Sicht,in: Elena Stadnik-Holzer/GeorgHolzer(Hrsg.),Sprache und Leben der frühmittelalterlichen Slaven. Frankfurt/Main u.a. , –;für die neuerdings um DNA-Analysenergänzten Ansätze der Anthropologie Janusz Piontek,Zastosowaniemodelupaleodemograficznegodorekonstrukcji historycznegoprocesu etnogenezy Słowian, in: Acta Universitatis Lodziensis.Folia Archeologica  (), –; Ders.,Origin of the Slavs as apretext for discussion, in: Archaeologia Polona  (), –; Robert Dąbrowski,Origin of the Slavs: an anthropological per- spective,in: ebd., –.  Zu den immer wieder unternommenen,letztlich unergiebigenVersuchen, ‚Slaven‘ oder ‚Pro- toslaven‘ bereits im antiken Schrifttum aufzuspüren vgl. beispielhaft Lech A. Tyszkiewicz, Słowianie whistoriografii antycznej do połowy VI wieku. (Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia, Bd. .) Wrocław ;zur Kenntnis der Antikevom östlichen Europa vgl. neuerdings 4 Eduard Mühle

Sie stammen bis weit ins 7. Jahrhundert hinein ausschließlich ausder Feder by- zantinischer Geschichtsschreiber.Diese notierten seit den 550er Jahren mit Schrecken,wie feindlicheVerbände die Nordgrenze des oströmischen Reiches, die Donau, überquertenund immer häufiger bis tief in byzantinisches Kernland vordrangen.⁹ Die neue Bedrohungtratnicht nur in Gestalt turksprachiger Reit- erkrieger („Hunnen“/Ουννοί; „Bulgaren“/Bulgari)und rätselhafter,wahrschein- lich iranischstämmiger „Anten“ (Ανται,), sondern auch als eine Gruppe hervor,die Prokopios vonCaesarea (gest.um562)als „Sklabenoi“ (Σκλαβηνοί), ein im 6. Jahrhundert entstandenes dogmatisch-exegetisches Werk,der so genannte Pseudo-Caesarius vonNazianz als „Sklavenoi“ (Σκλανηνοί)¹⁰,Johannes Malalas (gest.578)und Agathias (gest. 582) als „Sklaboi“ (Σκλαβοί)bezeichneten.¹¹ Der in Konstantinopel lateinisch schreibende Ostgote Jordanes (gest.552) sprach hin- gegenvon Sclavini/Sclaveni.¹² Diese griechischen und lateinischen Namenformen haben die Byzantiner offenbar auseiner slavischsprachigen Selbstbezeichnung,wahrscheinlich *slov-

die aufdas Gebiet des heutigenPolen bezogene Textsammlungvon JerzyKolendo /Tomasz Płóciennik (Hrsg.), Vistula amne discreta. Greckie i łacińskie źródładonajdawniejszych dziejów ziem Polski. Warszawa .  Noch kurz vorMittedes .Jahrhunderts kannte eine voneinem anonymen byzantinischen Offizier verfassteAbhandlung über Militärstrategie noch keine Slaven: Peri Strategias/Strategyin: George T. Dennis,Three Byzantine Military Treatises.Text,Translation and Notes. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, Bd. .) Washington D. C. , –.  Rudolf Riedinger (Hrsg.), Pseudo-Kaisarios.Überlieferungsfrageund Verfasserfrage. (Byzan- tinisches Archiv, Bd. .), .  Rudolf Keydell (Hrsg.),Agathiae Myrinensis historiarum libri quinque. (Corpus Fontium His- toriae Byzantinae, Bd. .) Berlin , ; Ioannes Thurn (Hrsg.), Ioannis MalalaeChronogra- phia. Berlin /New York ; Ludwig August Dindorf (Hrsg.), Ioannis Malalae Chronographia. (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae.) Bonn , ; Johannes Thurn /Mischa Meier (Hrsg.), JohannesMalalas Weltchronik. (Bibliothek der griechischen Literatur,Bd. .) Stuttgart ,  übersetzen Σκλαβοί fälschlich mit „Sklaven“.Die Belegeübersichtlich zusammenge- stellt auch bei Günter Weiss (Bearb.), Das Ethnikon Sklabenoi, Sklaboi in den griechischen Quellen bis .(Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichteimöstlichen Europa, Beiheft .) Stuttgart , , , –.  Theodor Mommsen (Hrsg.), [Iordanis] De summa temporum velorigine actibusque gentis Romanorum. (MGH AA, Bd. ,.) Berlin , –,hier  berichtet von instantia cottidiana Bulgarum, Antium et Sclavinorum; Theodor Mommsen (Hrsg.),[Iordanis] De origine actibusque Getarum, ebd. –,hier – nennt Venethi, Antes,Sclaveni et Antes,qui quamvis nunc,ita facientibus peccatis nostris,ubique deseviunt;vgl. auch Jutta Reisinger /Günter Sowa (Bearb.), Das Ethnikon Sclavi in den lateinischen Quellen bis zum Jahr .(Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichteimöstlichen Europa, Beiheft .) Stuttgart , –. Die SlavenimMittelalter 5

ěne, abgeleitet.¹³ Die Wohnsitze der mithin slavischsprachigen feindlichen Ver- bände verorteten sie dabei durchweg nördlich der mittleren und unteren Donau beziehungsweise südlich,westlich und östlich des Karpatenbogens.Vondort aus überfielen die Sklabenoi, wie Prokopios schrieb, seit Beginn der Herrschaft Kaiser JustiniansI.(d.h. seit etwa 527) „fast Jahr für Jahr“„Illyrien und ganz Thrakien, vomIonischen Meerbusenbis zu den Vorstädten vonByzanz, dazuGriechenland und den Cherrones.“¹⁴ Dabei plünderten sie – so Prokopios weiter –„frech sämtliche Gebiete“, „hausten fürchterlich“ und „unmenschlich“,fügten der rö- mischen Bevölkerung „gräßliche Leiden“ und „schreckliche Grausamkeiten“ zu, verübten „unbeschreibliche Gräueltaten“,brachten Gefangene aufqualvolle Weise zu Tode und schleppten Überlebende in die Sklaverei fort.Als derart „unerbittliche Feinde“„voll unersättlicher Kriegslust“ konnten die Sklabenoi – die im Pseudo-Caesarius zur gleichen Zeit als „wild“ beschrieben wurden¹⁵ – von Prokopios kaum anders denn als „Barbaren“,jaeine „tierähnliche Menschen- gruppe“ wahrgenommenwerden.¹⁶ Daran ändert auch jene viel zitierte Charak- terisierungnichts, die der byzantinische Autorananderer Stelle in seine Dar- stellungder Gotenkriegeeinrückte und nach der die vermeintlich urdemokratisch

 Über die Ethymologie und Semantik des entlehnten slavischen Wortes,vondem letztlich auch nicht völlig sicher ist,obessich tatsächlich um eine Selbst-oder nicht vielleicht doch eher um eine Fremdbezeichnung gehandelthat,ist sich die Sprachwissenschaft allerdingsbis heutenicht einig; Franciszek Sławski,Słowianie.Nazwa, in: Słownik Starożytności Słowiańskich. Encyklopedyczny zaryskultury Słowian od czasów najdawniejszych, Bd. .Wrocław u.a. –, ; Herbert Schelesniker,Der Name der Slaven. Herkunft,Bildungsweise und Bedeutung. (Innsbrucker Bei- trägezur Kulturwissenschaft.Slavica Aenipontana,Bd. .) Innsbruck , –; Helga Köp- stein,Zum Bedeutungswandel von Σκλαβοσ/Sclavus, in: Byzantinische Forschungen  (), –,bes. –; Gottfried Schramm,Venedi, Antes, Sclaveni, Sclavi. Frühe Sammelbe- zeichnungenfür slawische Stämme und ihr geschichtlicher Hintergrund, in: Jahrbücher für Ge- schichteOsteuropas  (), –,bes. –, –.Vgl.auch Florin Curta,The Makingofthe Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region c. – (Cam- bridge Studies in Medieval Life and Thought).Cambridge , : „Slavs did not become Slavs because they spokeSlavic, but because they werecalled so by others.“  JakobHaury/Gerhard Wirth (Hrsg.),Procopii Caesariensis operaomnia. Bd. :Historia quae dicitur arcana [Ανέκδοτα]. Leipzig , –;deutsch zitiert nach Otto Veh (Hrsg.),Prokop, Anekdota. München , .  Riedinger (Hrsg.), Pseudo-Kaisarios (wie Anm. ), .  JakobHaury /Gerhard Wirth (Hrsg.), Procopii Caesariensis operaomnia. Bd. :Debellis libri V- VIII [Ιστορίαι]. Leipzig , –, , –, , ;deutsch zitiert nach Otto Veh (Hrsg.), Prokop, Gotenkriege, München , , , , , , , ; JakobHaury/ GerhardWirth (Hrsg.),Procopii Caesariensis operaomnia. Bd. :Periktismaton libri VI sive de aedificiis [Περἰ Κτισματων]. Leipzig , ;deutsch zitiert nach Otto Veh (Hrsg.),Prokop, Bauten.München , ;zuAutor und Werk vgl. auch Anthony Kaldellis,Procopius of Caesarea. Tyranny, History,and Philosophyatthe End of Antiquity.Philadelphia . 6 EduardMühle organisierten, stets nur leicht bewaffnet und halbnackt in den Kampf ziehenden Sklabenoi zwar primitive,aber doch „keineswegs schlechte und bösartigeMen- schen“ gewesen seien.¹⁷ Diese Charakterisierungist ebensoals eine vonantiken Topoi geprägteliterarische Stilisierung anzusehenwie jenes Idyll, das die Histo- riae (Ιστορίαι)des Theophylaktos Simokates (gest.nach 628) präsentierten. Auch hier steht das Bild der friedliebenden Sklavinoi, die „die Kitharatrügen, weil sie nicht darin geübt seien, ihrem KörperWaffen anzulegen“,ziemlich vereinzeltden zahlreichen Schilderungen ihrer fortgesetzten kriegerischen Handlungengegen- über.¹⁸ In ähnlicherWeise hat ein im ausgehenden 6.,beginnenden 7. Jahrhundert verfasstesbyzantinisches Militärhandbuch, das traditionell Kaiser Maurikios zu- geschriebene Strategikon (Στρατηγικόν), die fraglichen Topoi mit Beobachtungen zur Siedlungs-und Wirtschaftsweiseder Sklaboi, vorallem aber miteiner Be- schreibungihrer Kriegsführung verbunden. Wenn dabei Hinweise darüberein- deutig im Vordergrund standen, wie die Sklaboi in ihrer spezifischenKampfweise am besten zu bezwingenseien, dann widerlegt auch dies schlagend den Topos von deren Sanftmut,Friedfertigkeit und militärischen Unbedarftheit.Auch das Stra- tegikon nannte die Sklaboi letztlich hinterhältige, unzuverlässigeGegner,die nicht mehr als ein „Räuberleben“ führten.¹⁹ Bis weit ins 7. Jahrhunderthinein blieben die slavischsprachigen Barbarenfür die byzantinischenBeobachter eine undifferenzierte, aber territorial überschau- bare, entlang des nördlichen Donauufers siedelnde Gegnergruppe. Dass in Kon- stantinopel darüber hinaus zu diesem Zeitpunkt bereits Teile der späteren West- oder Ostslavenbekannt waren,wie die ältere Forschung gestützt aufJordanes und Prokopios gemeint hat²⁰,ist eher unwahrscheinlich.²¹ Selbst für die ausunmit-

 Haury /Wirth (Hrsg.),Procopii De bellis (wie Anm. ), –;deutsch zitiert nach Veh, Prokop, Gotenkriege(wie Anm. ), , .  Peter Schreiner (Hrsg.), TheophylaktosSimokates, Geschichte. (Bibliothek der griechischen Literatur,Bd. .) Stuttgart , f.; vgl. auch Michael Whitby,The Emperor Mauriceand his Historian: TheophylactSimocatta on Persian and Balkan Warfare. (OxfordHistorical Mono- graphs.) Oxford , –.  George T. Dennis (Hrsg.), Das Strategikon des Maurikios.(Corpus Fontium Historiae Byzan- tinae, Bd. .) Wien , –.  Vgl. Gerard Labuda,Pierwsze wzmianki oSłowianach nad Łabą iBałtykiem, in: Fragmenty dziejów Słowiańszczyznyzachodniej. Tom .Poznań ; Joachim Hermann,Byzanz und die Slawen ‚am äußersten Ende des westlichen Ozeans‘,in: Klio  (), –; Schreiner (Hrsg.), Theophylaktos(wie Anm. ), –.  Lothar Waldmüller,Die ersten Begegnungender Slawenmit dem Christentum und den christlichen Völkern vomVI. bis VIII. Jahrhundert.Die Slawen zwischen Byzanz und dem Abendland. Amsterdam , –; Florin Curta,HidingBehind aPiece of Tapestry:Jordanes and the Slavic Venethi, in: Jahrbücher für GeschichteOsteuropas  (), –,bes. – ; Marcin Wołoszyn,TheophylaktosSimokates und die Slawen am Ende des westlichen Ozeans Die SlavenimMittelalter 7

Karte1:Die Sklabenoi im Blick der byzantinischen Quellen 8 Eduard Mühle telbarer Nachbarschaft und leidvoller Berührung bekannten Sklabenoi/Sklaboi blieb das Bild langeunscharf. Zwarwurden hier und da – zuerst in den 580/590er Jahren bei Menander Protektor (gest.vor 602)²² – bereits einzelne herausgehobene slavischsprachigeAnführer identifiziert.Doch eine Binnendifferenzierung der Sklabenoi/Sklaboi in Untergruppen – in ‚Stämme‘–nahm man offenbar erst im ausgehenden 7. Jahrhundert wahr.Eswar der damals verfasste jüngere Teil der Miraculi sancti Demetrii,der anlässlich der Schilderung slavischer Angriffe auf Thessalonike beziehungsweise der slavischen Landnahmen im Umland der ma- kedonischen Hauptstadt mit den Drogubiten (Δρογουβιται), Sagudaten(Σαγου- δατοι), Belegeziten (Βελεγεζηται), Baiuniten(Βαϊουνηται), Berziten (Βερζηται), Strymoniten(Στρυμονίται)und Rhynchinen (Ρυγχίνοι)die ersten slavischspra- chigen Teilverbändebenannte.²³ Zugleich hielten die dem Thessaloniker Stadt- heiligen gewidmeten hagiographischen Texte die frühestenNachrichten über dauerhafte Ansiedlungenslavischsprachiger Gruppen aufbyzantinisch-griechi- schem Kerngebiet fest.²⁴ Und tatsächlicherfasste der byzantinische Blick seither nicht mehr nur die ausdem mittlerenund unteren Donaugebiet sporadisch – zwischenden 560er und 620er Jahren zumeist im Bund mit den Avaren – in by- zantinisch-griechisches Kernland vorstoßenden barbarisch-feindlichen Sklabe- noi/Sklaboi, sondern immer häufiger auch einzelne slavischsprachigePersonen, Söldnergruppen oder ganze Siedelgemeinschaften, die in byzantinische Dienste tratenbeziehungsweise sich aufoströmischem Boden dauerhaftniederließen.²⁵

– die erste Erwähnungder Ostseeslawen?Zum Bild der Slawen in der frühbyzantinischen Lite- ratur.Eine Fallstudie. Kraków ,bes. , , , –.  RogerC.Blockley (Hrsg.), The History of Menanderthe Guardsman. Introductory Essay, Text, Translation and Historiographical Notes. Liverpool , ; Ernst Doblhofer (Hrsg.), Byzanti- nische Diplomaten und östliche Barbaren. Ausden Excerpta de legationibusdes Konstantinos Porphyrogennetos ausgewählte Abschnittedes Priskos und MenanderProtektor.(Byzantinische Geschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln , –, –, .  Paul Lemerle (Hrsg.), Lesplusanciens recueils des miracles de Saint Démétrius et la péné- tration des Slavesdans les Balkans,Bd. :Letexte. Paris , , –, , ;zuden Stammesgruppen vgl. auch die EinträgeinWładysław Kowalenko /Gerard Labuda u.a. (Hrsg.), Słownik Starożytności Słowiańskich. Encyklopedycznyzaryskultury Słowian od czasów na- jdawniejszych.Wrocław u.a. –,Bd. , – (Berzetowie),  (Drugowici); Bd. , – (Rynchinowie); Bd. ,  (Sagudaci), – (Strumińcy); Bd. , – (Waju- nici), – (Welegezyci).  Lemerle (Hrsg.),Les plus anciens recueils (wie Anm. ), –  Vgl. MaxVasmer,Die SlaveninGriechenland. (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang .Philosophisch-historische Klasse Nr. .) Berlin ,bes. – ; Johannes Koder,Der Lebensraum der Byzantiner.Historisch-geographischer Abriß ihres mittelalterlichen Staates im östlichen Mittelmeer.(Byzantinsche Geschichtsschreiber,Ergän- zungsband .) Graz /Wien /Köln. , –; Evangelos Chrysos,Settlements of Slavs and Die Slaven im Mittelalter 9

Für letzterebegann die byzantinische Verwaltungkonsequenterweise, das Skla- benoi/Sklaboi-Ethnonym in eine Territorialbezeichnung – Sklavinia (Σκλαυινία) – weiterzuentwickeln.²⁶ Im Verlauf des 8. Jahrhunderts wurde der mithin nach wie voreng aufun- mittelbarebyzantinische Interessen beschränkte Blick, wie in erster Linie die zu Beginn des 9. Jahrhunderts verfasste Chronik (Χρονογρφία)des Theophanes Confessor (gest.818) und das nur wenigspäterentstandene Breviarium (Ιστορία σύντομος)des Patriarchen Nikephoros (gest.828)zeigen, in zweierlei Hinsicht modifiziert und erweitert.Zum einen traten die Sklabenoi/Sklaboi nun nicht mehr im Verbund mit den Avaren, sondern seit den 680er Jahren als Verbündete der reiternomadischen Bulgaren in Erscheinung,mit denen Teile vonihnen bald einen neuen, mächtigen gemeinsamen Herrschaftsverband bilden sollten. Zumanderen beobachteten die Byzantiner,wie größereslavischsprachigeBevölkerungsgrup- pen infolge vonZwangsmigrationen und Söldnerrekrutierungenineinen direkten Kontakt mit der arabischen Welt traten.²⁷ Gleichzeitig ließ die Intensität der by- zantinischen Beobachtungslavischsprachiger Bevölkerungsgruppen in den überlieferten Quellen deutlich nach. Notierten diese für die 520er bis 620er Jahre insgesamt 85 Ereignisse, bei denen Sklabenoi/Sklaboi in den Blick gerieten, so vermerkten sie für die zweiteHälftedes 7. Jahrhunderts noch 32 und für das ganze 8. Jahrhundert lediglich 15 solcher Ereignisse.²⁸ Es hat den Anschein, als hätten die Byzantiner,sobald der Schrecken der ungeordneten Sklabenoi-Invasionen des 6.–7. Jahrhunderts überwunden war,sich die slavischsprachigen Verbände durch Ansiedlung aufReichsgebiet beruhigt und als perhorreszierte barbarische Feinde weitgehend verflüchtigt hatten, das Interesse an ihnen verloren. Schonfür das

Byzantine sovereignty in the Balkans,in: Klaus Belkeu.a.(Hrsg.), Byzantina Mediterranea. Festschrift für JohannesKoder zum .Geburtstag. Wien , –.  Cyril Mango /RogerScott (Hrsg.),The Chronicle of Theophanes Confessor.Byzantine and Near Eastern History AD –.Oxford , ;Bilderstreit und Arabersturm in Byzanz. Das .Jahrhundert (–)aus der Weltchronik des Theophanes.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Leopold Breyer. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln , ; Francis Dvornik (Hrsg.), La vie de Saint GrégoireleDécapoliteetles Slavesmacédoniens au IXe siècle. (Travaux publiés par l’Institut d’édutes slaves, Bd. .) Paris , ; Florin Curta,Skla- viniai and Ethnic Adjectives: AClarification, in: Byzantion  (), –; Andreas Gkout- zioukostas,The term Σκλαυινία and the use of adjectiveswhich derive fromthe ethnic names in the History of TheophylactSimocatta, in: Antonios-Aimilios Tachiaos (Hrsg.),Cyril and Methodiius: Byzantium and the World of the Slavs. Thessalonike , –.  Mango/Scott (Hrsg.),The Chronicle of Theophanes Confessor (wie Anm. ), , ; Carl de Boor (Hrsg.),Nicephori archiepiscopi Constantinopolitani opusculahistorica. Leipzig , – ,hier –, –.  Nach Weiss (Bearb.), Das Ethnikon Sklabenoi (wie Anm. ), –. 10 Eduard Mühle

8. Jahrhundert betreffen im Übrigen nur noch5der 15 Ereignisse, die in den vor Ende des 9. Jahrhunderts entstandenen Quellen mit Sklabenoi/Sklaboi in Ver- bindunggebracht werden, kriegerische byzantinisch-slavische Zusammenstöße; elf beziehen sich aufverschiedene Sklabenoi-Gruppen innerhalb des oströmi- schen Reiches, während sie in drei Fällen als Verbündete der Bulgaren und in einem Fall als arabische Söldner begegnen.²⁹ Ganz ähnlich verhält es sich für das 9. Jahrhundert, für das lediglich 13 zeitgenössische Berichte über Sklabenoi/ Sklaboi überliefert sind.Von ihnen betreffen nur noch vier byzantinisch-slavische Militärkonflikte, während sechs wiederum verschiedene slavischsprachige Gruppen innerhalb des oströmischen Reichesbeziehungsweise seiner militäri- schen und administrativenStrukturen und fünf als Verbündete der Bulgaren beschreiben.³⁰ Im Verlauf des 10.Jahrhunderts verlieren die byzantinischen Quellen die Sklabenoi/Sklaboi nochweiter ausden Augen.³¹ Während ein Kaiser Leo VI. (Leon Sophos, gest.912)zugeschriebenes Militärhandbuch (Τἀἐνπολέμοισ τακτικά) unter Verwendungder bei Prokop und Theophylaktos tradierten Topoi vonden Sklaboi, ihren Sitten und Gebräuchen bereitsnur noch konsequent in der Ver- gangenheitsform erzählte³²,kannte ein gegenEnde des 10.Jahrhunderts vonei- nem Anonymus verfasstesähnliches Taktikbuch, obwohl es ausführlich byzan- tinische Militäroperationen an der nördlichen Reichsgrenze und insbesondere in den „bulgarischen Bergen“ besprach, schon garkeine Sklaboi mehr; es sprach vielmehr nur mehr vonBulgaren, Ungarn, den Rusʼ und Pečenegen.³³ Neben den zu diesem Zeitpunktlängst slavisiertenvormals reiternomadi- schen Bulgaren, deren Herrschaftsbildung seitdem frühen 9. Jahrhundert eine feste Größe darstellte³⁴,nahmenbyzantinische Quellen im 10.Jahrhundert an- stelle der Sklabenoi/Sklaboi zunehmend andere, zum Teil weit jenseits der

 Die Belegebei Weiss (Bearb.), Das Ethnikon Sklabenoi (wie Anm. ), –.  Die Belegebei Weiss (Bearb.), Das Ethnikon Sklabenoi (wie Anm. ), –;hier werden für das .Jahrhundertinsgesamt  mit Sklabenoi/Sklaboi verbundene Ereignisse belegt; von diesen stammenjedoch  auserst seit dem .Jahrhundert entstandenenQuellen.  Bis einschließlich des Jahres  verzeichnet Weiss (Bearb.), Das Ethnikon Sklabenoi (wie Anm. ), –,in Quellen nur noch  mit den Sklabenoi/Sklaboi in Verbindung ge- brachteEreignisse.  George Dennis,The TaktikaofLeo VI. Text,Translation, and Commentary. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, Bd. .) Washington D.C. , , –.  Anonymon Biblion Taktikon/Anonymous Book on Tactics,in: Dennis,Three Byzantine Mi- litary Treatises (wie Anm. ), –.  Daniel Ziemann,Vom Wandervolk zur Großmacht.Die EntstehungBulgariens im frühen Mittelalter (.–.Jahrhundert). (Kölner Historische Abhandlungen, Bd. .) Köln u.a. , bes. , –. Die SlavenimMittelalter 11

Reichsgrenzen lebende slavischsprachigeGruppen wahr.Das gilt vorallem für die zwischen948 und 952verfasste Lehrschrift De administrando imperio. Mitihr wollte Kaiser Konstantin Porphyrogennetos (gest.959)seinem Sohn Romanos II. nicht zuletzt Informationen über die Nachbarvölker des Byzantinischen Reiches an die Hand geben, damit dieser „die Besonderheiten jedes dieser Völker ken- nenlern[.]t und weiß[.], wie man sie behandelt und zähmt oder aber wie man sie bekriegt und ihnen begegnet.“³⁵ In diesem Sinne beschrieb die kaiserliche Lehrschrift für das östliche Europa mehr oder wenigereingehend die Verhältnisse bei den durchgängigals „Türken“ (Τοϋρκοι)bezeichneten Ungarn, den Rusʼ (Ρωσ/ οι), den Chazaren (Χαζαροι)und den Pečenegen (Πατζινακιται)und gabfür deren Herrschaftsgebiete jeweils auch eine entsprechende Territorialbezeichnung – Turkia (Τουρκία), Russia (Ρωσία), Chazaria (Χαζαρία), Pečenegia (Πατζινακια) – an. Vonden slavischsprachigen Völkern des östlichen Europa wurden die Bulgaren (Βουλγαροι/Βουλγαρία), die bereits im 9. Jahrhundertvon Byzanz ausmissio- nierten Mährer (nicht mit ihrem Ethnonym, sondern nur mit dem Namen ihrer inzwischen untergegangenen Herrschaftsbildung „Altmähren“ / μεγάλη Μορα- βία)³⁶,die Kroaten (Χρωβατοι/Χρωβατία)und die Serben (Σερβλοι/Σερβλία)als eigenständigeGrößen vorgestellt. Dabei wurde keinesdieser Völker aktuell als ein ‚slavisches‘ bezeichnet.Von Sklaboi sprach Konstantin Porphyrogennetos viel- mehr nur noch in zwei bezeichnenden Zusammenhängen. Zumeinen im histo- rischen, teils legendhaften, teils an alteTopoi³⁷ anknüpfenden Rückblick aufdie früheren slavisch-byzantinischen Auseinandersetzungen in Dalmatien und Hel- las, in deren Folgesich die seinerzeit noch ungetauften, feindlichen und wider-

 Gyula Moravcsik /Romilly J. H. Jenkins (Hrsg.),Constantine Porphyrogenitus De adminstrando imperio. Greek Text,English Translation. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, Bd. .) Wa- shington D.C. , ;deutsch zitiert nach Klaus Belke /Peter Soustal (Hrsg.), Die Byzantiner und ihre Nachbarn. Die De adminstrando imperio genannteLehrschrift des Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos für seinen Sohn Romanos.(Byzantische Geschichtsschreiber,Bd. .) Wien , .  ZurDiskussion über den Namen und die geographische Lage dieser Herrschaftsbildung vgl. EduardMühle,Altmähren oder Moravia?Neue Beiträgezur geographischen Lageeiner frühmit- telalterlichen Herrschaftsbildungimöstlichen Europa, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-For- schung  (), –;zur mährischen Herrschaftsbildung zuletzt Martin Wihoda,Groß- mährenund seine Stellung in der Geschichte, in: Przemysław Sikora(Hrsg.), Zentralisierungsprozesse und Herrschaftsbildung im frühmittelalterlichen Ostmitteleuropa. (Studien zur Archäologie Europas, Bd. .) Bonn , –.  Wenn Konstantin Porphyrogennetos erzählt, dass die Römer Kaiser Diokletians (–)in Dalmatien „unbewaffnete slavische Völker“ antrafen, dann klingt hier ganzoffensichtlich der seit Prokop und TheophylaktosbekannteTopos der friedliebendenSlavendurch; Moravcsik /Jenkins (Hrsg.), ConstantinePorphyrogenitus (wie Anm. ), ; Belke/Soustal (Hrsg.),Die Byzantiner (wie Anm. ), . 12 Eduard Mühle borstigen Sklabenoi bzw.Sklaviniai – die Zachumloi(Ζαχλουμοι), Terbuniotai (Τερβουνίωται), Kanalitai (Καναλιται), Diokletianoi (Διοκλητανοι), Arentanoi/Pa- ganoi (Αρεντανοι/Παγανοι), Melingoi (Μηλιγγοι), Ezeritai(Εζερίται)und „übrigen Sklaboi/Sklabeniai“³⁸ – der byzantinischenVorherrschaft erwehrten und die Kroaten und Serben schließlich zu ihren aktuellen Herrschaftsgebilden gelangten. Zumanderen erwähnte KonstantinSklaboi bei der Beschreibungjenes Ausbeu- tungssystems, das die vonihm noch eindeutig als Skandinavier charakterisierten Rusʼ seit dem 9. Jahrhundert über die ihnen tributpflichtigen slavischsprachigen VerbändeimEinzugsbereich der Volchov-Dnepr-Achse, des sogenannten „Weges vonden Varägern zu den Griechen“ (путь изъ Варягъ въ Греки)etabliert hatten.³⁹ Auch diese Sklaboi waren noch ungetaufte, noch nicht großräumlich politisch organisierteGruppen,die dem fernen byzantinischen Beobachter allenfalls als gentilgesellschaftliche Siedelverbände – Kribitainoi/Kribitzoi (Κριβηταιηνοι), Lenzaninoi (Λενζανηνοι), Berbianoi (Βερβιανοι), Drugubitai (Δρουγουβίται), Se- berioi (Σεβεριοι), Ultinoi (Ουλτινοι), Derbleninoi (Δερβλενίνοι)und „übrigeSkla- boi/Sklabeniai“ (Σκλαβοι/Σκλαβηνίαι)⁴⁰ – erkennbar waren. Als solche konnten sie gutmit den Sklabenoi/Sklaboi der byzantinischen Vergangenheit verglichen bzw. mit diesen aufeine Stufe gestelltwerden. Dass mit dem Sklabenoi/Sklaboi-Konzept in erster Linie, wenn nichtaus- schließlich slavischsprachigeBevölkerungsgruppen außerhalb und innerhalb des oströmischen Reiches erfasstwurden, deren soziale und politische Verfassung erst ein geringes Niveau erreicht hatte und die daher ausbyzantinisch-christlicher Sicht primär als barbarische Feinde wahrgenommen wurden, belegt auch das weitgehende Fehlen dieses Konzepts in den jüngeren Quellen. Da wo in ihnen der Sklabenoi-Begriff begegnet, wie z. B. in der Ende des 11. Jahrhunderts entstan- denen Kaisergeschichte(Σύνοψις ίστοριων)des Johannes Skylitzes (gest.nach 1105), geschieht dies vollkommen vereinzeltund nur in einemaus älteren Quellen informierten Blick aufältere Verhältnisse.⁴¹ Die jeweils zeitgenössischen slavi-

 Moravcsik /Jenkins (Hrsg.),Constantine Porphyrogenitus (wie Anm. ), , , ; Belke /Soustal (Hrsg.),Die Byzantiner (wie Anm. ), –, –, .  Dmitrij S. Lichačev (Hrsg.),Povest’ vremennychlet. Čast’ pervaja: Tekst iperevod. Moskva , .  Moravcsik /Jenkins (Hrsg.),Constantine Porphyrogenitus (wie Anm. ), , , ; Belke/ Soustal (Hrsg.),Die Byzantiner (wie Anm. ), , , .  HansThurn (Hrsg.), Ioannis Scylitzae Synopsis Historiarum. (Corpus Fontium Historiae By- zantinae, Bd. .) Berlin , –, ;Byzanz wieder ein Weltreich. Das Zeitalter der Makedonischen Dynastie.Teil :Ende des Bilderstreites und Makedonische Renaissance(Anfang .bis Mitte .Jahrhundert). Nach dem Geschichtswerk des Johannes Skylitzes übersetzt,ein- geleitet und erklärt von Hans Thurn. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien / Köln , –, ;John Skylitzes.ASynopsis of Byzantine History, –.Intro- Die Slaven im Mittelalter 13 schen Herrschaftsbildungenund ihre Bewohner werden dagegen nur noch mit ihren individuellen Volks- und Landesnamen benannt.⁴²

duction, Text and Notes. Translated by John Wortley. Cambridge , f., ; Vasiliki Tsa- makda,The IllustratedChronicle of Ioannes Skylitzes in Madrid. Leiden .  So finden sich keine Sklabenoi mehr,dafür aber Bulgaren, Serben, Rusʼ in dem in der zweiten Hälftedes .Jahrhunderts verfassten Strategikon (Στρατηγικόν)des Kekaumenos,inder um  verfassten Chronik (Επιτομη ιστοριων)des Johannes Zonaras (gest.nach )und in dem im frühen .Jahrhundert entstandenenGeschichtswerk (Χρονικη διηγησισ)des NiketasCho- niates (gest. ); Basil Wassilewsky /Victor Carl Jernstedt (Hrsg.),Cecaumeni Strategicon et incerti scriptoris de officiis regiis libellus.(Zapiski istoriko-filologičeskagofakul’teta Imp. S. Pe- terburgskagoUniversitata, Bd. .) St.Petersbourg ,NDAmsterdam ;Vademecum des byzantinischen Aristokraten. Das sogenannteStrategicon des Kekaumenos.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Hans-GeorgBeck. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln ; Theodor Büttner-Wobst (Hrsg.), Ioannis Zonarae epitomehistoriarum libri XIII-XVIII. Bonn ;Militärs und HöflingeimRingen um das Kaisertum. Byzantinische Geschichte von –  nach der Chronik des Johannes Zonaras.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Erich Trapp. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln ; Jan-Louis vanDieten (Hrsg.), Nicetae Choniatae Historia. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, Bd. .) Berlin ; Die Krone der Komnenen. Die Regierungszeit der Kaiser Joannes und Manuel Komnenos(– )aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Franz Grabler. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln ;Abenteurer aufdem Kaiserthron. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios II, Andronikos und Isaak Angelos (– )aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Franz Grabler. (Byzantinische Geschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln ;Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios Angelos,Isaak Angelos und Ale- xios Dukas,die Schicksale der Stadtnach der Einnahme sowie das „Buch vonden Bildsäulen“ (–)aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates.Übersetzt,eingeleitet und erklärt von Franz Grabler. (ByzantinischeGeschichtsschreiber,Bd. .) Graz /Wien /Köln ²;zur mittelbyzantinischen Geschichtsschreibung Warren Treadgold,The Middle Byzantine Historians, Basingstoke /New York . III

Infolgeder seit dem7.Jahrhundert einsetzenden byzantinisch-arabischenAusein- andersetzungen wardie griechischeBezeichnung Sklabenoi/Sklaboi spätestens im 8. Jahrhundertindas Arabische entlehnt.DieserEntlehnunglagen ganz offenbar diebereits angesprochenen direkten Berührungen slavischsprachiger Bevölke- rungsgruppen mitdem Abbasiden-Kalifat zugrunde.Dennoch fungiertedas ara- inder ethnographisch-geographischen Literaturdes Islam( ﺔﺒﻟﺎﻘﺻ ) bische Ṣaqāliba keineswegs ausschließlich zurBezeichnung eben dieser slavischsprachigen FremdgruppeamOstrand desByzantinischenReiches.⁴³ Vielmehr extrapolierten dieAraberdas byzantinischeSklabenoi/Sklaboi über dieihnen dort inEnklaven oder beimilitärischen Zusammenstößen unmittelbarbegegnenden Slaven hinaus undbezogen Ṣaqāliba allgemeinauf Bevölkerungsgruppen,die siejenseitsder chazarischen undbyzantinischen Welt wahrnahmen.⁴⁴ Dabeiwarendie ersten,im 9. Jahrhundert einsetzenden arabischenBerichteüberdas nördlicheund östliche Europa noch starkvon dergriechisch-ptolemäischen Geographie beeinflusst.⁴⁵ So

 Zu den Deutungendes Begriffs allgemein Wilhelm Barthold,Slawen, in: Martin Theodor Houtsma (Hrsg.), Enzyklopädie des Islam. Geographisches,ethnographisches und bio- graphisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker,Bd. .Leiden /Leipzig , – ; A. Zeki Validi Togan,Ibn Faḍlān’sReisebericht.Leipzig ,NDNendeln , –; Peter Benjamin Golden,al-Ṣaḳāliba, in: CliffordEdmund Bosworth u.a. (Hrsg.),The Ency- clopaedia of Islam. New Edition, Bd. .Leiden , –; Ahmad Nazmi,Commercial Relations between Arabs and Slavs (th–th centuries). Warszawa , –.  Innerhalb des Kalifats begegnet der Begriff als Bezeichnung für weiße, europäische Ange- hörige arabischerMilitäreinheiten, Amtsträger und insbesonderefür Sklavenverstärkt seit dem ./ .Jahrhundert; im Kontext des Sklavenhandels nahm der Begriff nicht zuletzt im islamischen Westen (al-Andalus) die Bedeutung ‚weißer Eunuche‘ bzw. ‚Sklave‘ an; allein in Córdoba sollen gegenEnde der Herrschaft ʿAbdal-Raḥmāns III. ()fast . Ṣaqāliba gelebt haben; Évariste Levi-Provençal, Ṣaḳāliba, in: Houtsma u.a. (Hrsg.),Enzyklopädie des Islam, Bd.  (wie Anm. ), –; Köpstein,Zum Bedeutungswandel (wie Anm. ), f.; CliffordEdmund Bosworth,al- Ṣaḳāliba. .Inthe central lands of the caliphate, in: CliffordEdmund Bosworth u.a. (Hrsg.),The Encyclopaedia of Islam (wie Anm. ), f.; Piere Guichard/Mohamed Meouak,al-Ṣaḳāliba. . In the Muslim West,in: ebd. –; Mohamed Meouak, Ṣaqāliba, eunuques et esclavesàla conquête du pouvoir.Géographie et histoire des élites politiques ‚marginales‘ dans lʼEsapgne umayyade. (Suomalaisen Tiedeakatemian ToimituskaHumaniora, Bd. .) Helsinki ; Roger Collins,Caliphs and Kings.Spain, –.(AHistory of Spain.) Chichester , –.  Übersichten über die einschlägigen arabischen Textebei Tadeusz Lewicki, Świat słowiański w oczachpisarzy arabskich, in: Slavia Antiqua (/), –; Ders., Źrodłaarabskie ihe- brajskie do dziejów Słowian wokresie wczesnego średniowiecza, in: Studia Źrodłoznawcze  (), –,hier –; Ders.,Znajomość krajów iludów Europy upisarzy arabskich IX iX w.,in: Slavia Antiqua  (), –; Bernard Lewis,Die Welt der Ungläubigen.Wieder Islam Die Slaven im Mittelalter 15 identifizierte derchoresmischeUniversalgelehrteMuḥammadibn Mūsā al- Hwārizmī in seinem um 830inBagdadvollendeten „Buch über dasBildder Erde“ (Kitāb Ṣūratal-arḍ)die Gebieteder Ṣaqāliba (arḍin aṣ-Ṣaqāliba)ganzinantiker Traditionmit der Ġārmanijā.⁴⁶ Auch eine dervier, demWerk – wenn auch erst im ausgehenden10.,frühen11. Jahrhundert – eingefügtenRegionalkarten, dieeinen Teil desöstlichen Europa,das Asow’sche Meer,darstellte, folgte noch ganz der griechischen Toponymie.⁴⁷ Derum865 in Basra gestorbene Literat ʿAmrIbn-Baḥral- Ğāḥiẓ bezeichnetemit Ṣaqāliba alle nicht-byzantinischen undnicht-romanischen Europäer,verstandden Begriff aber – in Gegenüberstellungzuschwarzen Ost- afrikanern – auch alsBezeichnung für „dieeuropäischenWeißen.“⁴⁸ Derpersische, u.a. im staatlichenPostwesen tätige Geograph ʿUbaydAllāhibn ʿAbdallāhIbn Ḫurradaḏbih(gest.911)unterteilte Europa (Arūfā)inseinem „Buch derWegeund Provinzen“ (Kitābal-Masālikwa-al-mamālik)zur gleichen Zeit in al-Andalus, Rūmīja (Rom/Italien), Firanğa (Frankenreich), ar-Rūm (Byzanz) sowiedas Gebiet der Ṣa- qāliba (arḍ aṣ-Ṣaqāliba)und Avaren (arḍ al-Abar).⁴⁹ Zudemunterschied er Ṣaqāliba-

Europa entdeckte. Frankfurt/M. , –; Ludvik Kalus,Sources arabes et persanes pour l’étude de l’historiemédiévale du monde slave occidental, in: Peter Chavrát /JiříProsecký (Hrsg.), Ibrahim ibn Ya’qub at-Tartushi: Christianity, Islam and Judaism meet in East-Central Europe. Praha , –; Nazmi,Commercial Relations (wie Anm. ), –.Zuden Schwie- rigkeiten, die sich arabisch-islamischen Gelehrten bei der einschlägigenInformationsbeschaffung und -verarbeitungstellten, vgl. Daniel G. König,Ausstrahlung – transkulturelle Datenmigration – Dokumentation.Arabisch-islamische Gelehrteund die Herausforderungender Dokumentation Lateineuropas am Beispiel des Papsttums und des ostfränkisch-deutschen Reiches (.–.Jahr- hundert), in: Michael Borgolte /Matthias M. Tischler (Hrsg.), Transkulturelle Verflechtungenim mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika. Darmstadt , –.  Hansvon Mžik (Hrsg.),Das Kitāb ṣūratal-arḍ des AbūĞaʿfar Muḥammad ibn Mūsā al-Ḫu- wārizmī.Arabischer Text.(Bibliothek Arabischer Historiker und Geographen, Bd. .) Leipzig ; Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie do dziejów Słowiańszczyzny, Bd. .Wrocław/ Kraków , –;der arabischeText mit polnischer Übersetzung: –.  Konrad Miller (Hrsg.), Mappae Arabicae. Arabische Welt-und Länderkarten des .–.Jahr- hunderts in arabischerUrschrift,lateinischer Transkriptionund Übertragung in neuzeitliche Kartenskizzen, Erster Band /ErstesHeft. Stuttgart , –,mit Abb. ; Gerald R. Tibbetts, The Beginnings of aCartographic Traditon, in: John B. Harley /David Woodward(Hrsg.), The History of Cartography,Bd. ,:Cartographyinthe Traditional Islamic and South Asian Societies. Chicago /London , –,bes.  und plate .  Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie (wie Anm. ), –,der arabische Text der relevanten Stellen mit polnischerÜbersetzung: –.  Ähnlich auch der persische Geograph und Historiker Aḥmad Ibn-Muḥammad Ibn-al-Faqīhal Hamadḍānī (gest. /), der um / in seinem „Buch der Länder“ (Kitābal-Buldān) Europa in al-Andalus, aṣ-Ṣaqāliba, ar-Rūmund Firanğa unterteilte, zusätzlichaber auch Ṭanğa, d.h. das antikeTingis(Tanger), also Nordafrika, zu Arūfā zählte;bei den Ṣaqāliba unterschied er dabei zwei Arten – solche mit dunklem Teint und dunklen Haaren, die nahe dem Meer lebten, und 16 EduardMühle

Sklavenvon griechischen,fränkischen, lombardischenund andalusischenSklaven undhatte auch einklaresBewusstsein davon, dass sich dieSpracheder Ṣaqāliba (aṣ-Ṣaqlabiyya)von dergriechischen, fränkischenund andalusischenSprache unterschied. Damitdifferenzierte er freilich noch immernicht zwischen Slaven und Ostfranken, sahdie Slavia unddie Germania vielmehr unter demBegriff Ṣaqāliba (überdie einKönig herrsche,der immerhin mitdem einschlägigenslavischen Herrscherterminus – q.nāḍ u.ä. fürslavisch kniaz – bezeichnet wurde) weiterhinals eine Einheit. Gleichzeitig kannte er aber auch einkleineres „Land der Ṣaqāliba“ (biladaṣ-Ṣaqāliba), dassichwestlichandie byzantinischeProvinz Makedonien anschloss, mithin tatsächlichausschließlichein slavischsprachigesGebiet bezeichnete.⁵⁰ Hier kamganzoffenbardas byzantinischeSklabenoi-Konzept zum Tragen.⁵¹ An dieses schlossaugenscheinlich auch derum900 in Ägyptengestor- bene Historiker undGeograph Abū al-AbbāsAḥmadal-Yaʼqūbī an,der dieWohn- sitzeder Ṣaqāliba zusammen mitjenen derBulgareninByzanz(ar-Rūm)bzw. unmittelbarjenseitsder byzantinischenBalkangrenzen lokalisierte.⁵² Dagegen benutzte deramHof desKalifen vonBagdadlebende AḥmadIbn Faḍlānden Begriff Ṣaqāliba in seinem 923verfasstenBericht über eine im Auftragdes Kalifen unter-

solche mit hellem Teint,die tief im Landesinneren lebten; Michael JandeGoeje (Hrsg.),Com- pendium libri Kitābal-Boldānauctore Ibn-al-FaqīhalHamadhānī.(Bibliotheca Geographorum Arabicorum.) Leiden ,NDBeirut ;zitiert nach Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie do dziejów Słowiańszczyzny, Bd. ,.Wrocław , –.  Michael JandeGoeje (Hrsg.),Kitābal-Masālik wa-al-mamālik (Liber viarum et regionorum). (Bibliotheca Geographorum Arabicorum, Bd. .) Leiden ,ND; Lewicki (Hrsg.), Źrodła arabskie  (wie Anm. ), –,der arabische Text der relevanten Stellen mit polnischer Übersetzung: –.Ein ähnliches Nebeneinander voneinem weiter gefassten Ṣaqāliba-Begriff, der die Bevölkerungzwischen Mittelmeer /Schwarzem Meer und dem „westlichen Meer“ meinte, und einem engerenVerständnis, das sich aufdie slavischsprachigeBevölkerung des südlichen Balkanraums bezog, begegnet auch im „Buch der wertvollen Aufzeichnungen“ (Kitābal-A’lāqan- nafīsa) des Isfanhaner Geographen Aḥmad ibn Umaribn Rusta; Michael JandeGoje (Hrsg.), Kitāb al-A’lāqan-nafīsa VII auctore Abū Alī Ahmed ibn Omar ibn Rosteh. (Bibliotheca Geographorum Arabicorum.) Leiden ²,zitiert nach Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie do dziejów Słowiańszczyzny, Bd. ,.Wrocław u.a. , –.  In diesem Sinne, der ganzder byzantinischen Wahrnehmungder Slavenimunmittelbaren Umfeld vonByzanz (Makedonien, Bulgarien, Donaugebiet) entsprach, begegnet der Begriff aṣ- Ṣaqāliba auch bei dem arabischenAstronomen Aḥmad ibn Muḥammad ibn Kaṭīral-Farġānī,ei- nem Zeitgenossen Ibn Ḫurradaḏbihs; Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie  (wie Anm. ), .  Lewicki (Hrsg.), Źrodłaarabskie  (wie Anm. ), –,der arabische Text der relevanten Stellen mit polnischerÜbersetzung: –,hier , . Die SlavenimMittelalter 17 nommene Reisezuden Wolgabulgaren zurBezeichnung derdortigentur- ksprachigenund finnougrischen Völker.⁵³ Erst im weiteren Verlauf des 10.Jahrhunderts begannen arabische Ge- ographen und Reisende die Bevölkerungdes mittlerenund östlichen Europa genauer zu unterscheiden. Der im ägyptischen al-Fuṣṭāṭ schreibende Gelehrte Abū al-Ḥasan al-Masʼūdī (gest.956) siedelteinseinem 943–947verfasstenethnogra- phischen Werk „Goldwiesen und Edelsteinminen“ (Murūĝ ad-dahabwa-ma’ādin al-ĝawāhīr)die Wohnsitze der Ṣaqāliba „im Norden“ an.⁵⁴ Dort erstreckten sie sich „bis zum Westen“ und waren in verschiedene „Nationen“ beziehungsweise „Zweige“ geteilt, „die sich gegenseitig bekriegen.“ Sie besaßen, so al-Masʼūdī weiter,Königeund seien teils christlich, teils heidnisch. Neben nicht näherbe- zeichneten Ṣaqāliba „im Land der Chazaren“,die dort neben den Rusʼ lebten, benannte al-Masʼūdī zwölf weitere Ṣaqāliba-Verbände konkret mit Namen.⁵⁵ Zehn dieser Namen verweisen mit einiger Wahrscheinlichkeit aufwest-und süd- slavische Gruppen. Dass danebenauch die Nāmčīn mit ihrem König Ġarānd,also wohl die Deutschen und Konrad I., sowie das Reich der Turk, d.h. die Ungarn, zu den Ṣaqāliba gezählt,jaerstereausdrücklich als „die tapfersteund reisigste [Nation] der Ṣaqāliba“ und letztereals „die schönste an Gestalt,die zahlreichste und tapfersteder Ṣaqāliba“ hervorgehoben wurden, zeigt,dass auch al-Masʼūdīs Ṣaqāliba nicht ausschließlich Slavenmeinte.⁵⁶

 Togan,Ibn Faḍlān’sReisebericht (wie Anm. ), , , ; A. P. Kovalevskij,Slavjane iich sosedi vpervoj polovine Xv., po dannym al’ Masudi, in: Voprosy istoriografii iistočnikovedenija slavjano-germanskich otnošenij. Moskva , –,hier ; AnnaKmietowicz /Franciszek Kmietowicz /Tadeusz Lewicki (Hrsg.), IbnFaḍlān, Kitābnapodstawie Rękopisu meszhedzkiego. (Źródłaarabskie do dziejów Słowiańszczyzny, Bd. .) Wrocław u.a. ,bes. f.; Arnhild Scholten,Länderbeschreibungund Länderkunde im islamischenKulturraumdes .Jahrhun- derts.(Bochumer geographische Arbeiten, Bd. .) Paderborn , –.  Charles Pellat (Hrsg.),Mas’ūdī (mort en /)Les prairies d’or,Tome premier.(Société Asiatique. Collection d’OuvragesOrientaux.) Paris ; Josef Marquart,Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge.Ethnologische und historisch-topographische Studien zur Geschichte des .und .Jahrhunderts.Leipzig , –,arabischer Text und deutsche Übersetzung der Slavenpassage ebd. –.  Aufgeführt werden: W.lītābā/W.līnānā ( /Volynjane?), Iṣţ.trāna (Stodoranen/Heveller?), Dūlābā (böhmischeDuleben?), M.nābin/M.ghānin (Mainwenden?), S.rbīn(Sorben/Serben?), M.rāwa (Mährer), Kh.r.wātīn(Kroaten), Nāmjīn(nach dem Slavischen niemcy bezeichnete Deut- sche), Ṣāṣīn(Sachsen, vielleicht aber auch Cacin =Tschechen/Böhmen), Kh.shānīn/Kh.shābīn (Kaschuben,vielleicht aber auch balkanslavische Gadczane), Brān.jābīn(balkanserbischeBra- niczewe) und al-Turk (Ungarn).  Vgl. auch Kovalevskij,Slavjane (wie Anm. ), bes. f.; russ. Übersetzung der Slavenpassage ebd. f.; König,Ausstrahlung(wie Anm. ), .Inseinem – verfassten „Buch der Unterweisungund Belehrung“ zählte al-Masudi die meisten Ṣaqāliba, die Bulgaren (al-Burğar) 18 Eduard Mühle

Karte2:Die Ṣaqāliba im Blick der arabischen Quellen Die Slaven im Mittelalter 19

Interessanterweise kannteal-Masʼūdī auch eine Art Frühlegende der Ṣaqāliba, die über die auch in der arabischen Literatur verbreitete Rückführung aufden biblischenJafet hinausging und voneiner ursprünglichen Einheit der Ṣaqāliba sprach. So berichteteer, dass bei einer der Ṣaqāliba-Nationen – den W.lītābā oder W.līnānā – „voralters im Anfangeder Zeit die Herrschaft stand. (…)DieserNation pflegten voralters die übrigen Ṣaqāliba-Stämmezufolgen, weil unter ihnen die Herrschaft war und ihre übrigen Königeihr gehorchten.“ Sie sei zudem „einer von den Ṣaqāliba-Stämmen reinsten Blutes,der unter ihren Nationenhoch geehrtwar und sich aufalteVerdienste unter ihnen berufen konnte. HierauftratUneinigkeit unter ihren Nationenein, ihre Organisation hörte aufund ihre Nationen schlossen sich [einzeln] zusammen; jede Nation machte einen König über sich.“⁵⁷ Die gleiche Geschichte wurdeauch in den – nur vonspäteren arabischen Geographen überlieferten – Reisebericht des jüdischen Kaufmanns Ibrahim ibn Ya’kūbeingefügt.⁵⁸ Dieser war in den 960erJahren im Auftrag des Kalifen von

und andereVölker, die dem Christentum anhingenund die Oberherrschaft des Herrschers von Rom anerkannten, zu den „fränkischen Völkern“.Zual-Mas’ūdīsSlavenbeschreibung im Übrigen auch Tadeusz Lewicki,PaństwoWiślan-Chorwatów wopisie al-Mas’udiego, in: Sprawozdania z posiedzeń Polskiej Akademii Umiejętności  (), , –; Ders.,Al-Mas’ūdī on the Slavs, in: S. Maqbul Ahmad /Sri A. Rahman (Hrsg.),Al-Mas’ūdī Millenary Commermoration Volume. Calcutta , –; Ders.,Słowianie nad Menem wrelacji al-Mas’udiego, in: Onomastica. Pismo poświęconenazewnictwu geograficznemu iosobowemu  (), –; A. P. Kova- levskij,Al’-Masudi oslavjanskich jazyčeskich chramach, in: Voprosy istoriografii iistočnikove- denija slavjano-germanskich otnošenij. Moskva , –; Ahmad M. H. Shboul,Al-Mas’ūdī and his World. AMuslim Humanist and his Interest in non-Muslims. London , –; Scholten,Länderbeschreibung(wie Anm. ), –.  Marquart,Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge (wie Anm. ), –;die Über- setzungMarquarts „Slawen“ wurde vonmir in „Ṣaqāliba“ verändert.  „In früheren Zeitenwaren sie [die Slavenländer] geeint durch einen König, den sie Macha nannten. Der war voneinem Stamm der Welinbaba hieß, und dieser Stamm stand bei ihnen in Ansehen. Dann trat Zwiespaltunterihnen ein, und ihre Organisation gingzugrunde; ihreStämme bildeten Parteien, und in jedem ihrerStämme kam ein Königzur Regierung.“ Zitiert nach Georg Jacob (Hrsg.), Arabische Berichtevon Gesandten an germanische Fürstenhöfe ausdem .und .Jahrhundert.(Quellen zur deutschen Volkskunde, Heft .) Berlin , –,hier .Die kritische Ausgabebei Tadeusz Kowalski (Hrsg.),Relacja Ibrāhīma ibn Ja’ḳūba zpodróżydokrajów słowiańskich wprzekazie Al-Bekrīego. (Monumenta Poloniae Historica. NovaSeries,Bd. .) Kraków ,Text in polnischerÜbersetzung: –,Text in lateinischer Übersetzung: – ,Faksimile des arabischen Originals: Tab. I–XII; eine englische Übersetzung bei Dmitrij Mishin,Ibrahim ibn-Ya’qub at-Turtushi’sAccount of the Slavs from the Middle of the Tenth Century, in: Annual of Medieval Studies at the CEU. – (), –,hier –;vgl. auch BernhardStasiewski,Der Reiseberichtdes Ibrahim IbnJakub, in: Ders.:Untersuchungenüber drei Quellen zur ältesten Geschichte und KirchengeschichtePolens. Breslau , –; Józef Widajewicz,Studia nad relacją oSłowianach Ibrahima ibn Jakuba. Kraków ; Peter Engels,Der 20 EduardMühle

Cordoba an den Hof Ottos I. nach Magdeburggereist und vondort wahrscheinlich bis Prag gekommen. Auch wenn sich die Länderder Ṣaqāliba für Ibrahim all- gemein vomMittelmeer bis zum „Okeanos im Norden“ erstreckten, bezogen sich seine vergleichsweisedetailliertenInformationen doch bereits in erster Linie auf die slavischsprachigeBevölkerungder seinerzeit maßgeblichen west-bzw.süd- slavischen Herrschaftsbildungen, d.h. aufdie Bulgaren, Böhmen, Polen, Elbsla- venund Pomoranen. Für diese kannteerfreilichnoch keine Territorial- bezeichnungen, sondern erfasste ihre großräumigen Zusammenschlüsse mit Ausnahme der vonihren Ältesten regierten, königlosen Pomoranen, nur als um einen Herrscher gruppierte Personenverbände.⁵⁹ Mit der Präzisierung des Bildes vomöstlichen Europa, wie sie seit Mitte des 10.Jahrhunderts zunächstbei al-Masʼūdī,dann bei Ibrahim ibn Yaʼkūbzube- obachtenist,begann sich das allgemein und weit gefasste Ṣaqāliba-Konzeptder arabischenQuellen in ähnlicher Weise und ausgleichem Grund aufzulösen wie das Sklabenoi-Konzept der byzantinischen Quellen. Schon der andalusische Ge- ograph und Historiker ʿUbaidallāhal-Bakrī (gest.1094) hatte in seiner um 1067 vollendeten Geographie Nordafrikas und Europas (Kitābal-Masālik wa-al-ma- mālik)kaumnoch eine originäreKenntnis vonden Ṣaqāliba, bezog seine ein- schlägigenNachrichten vielmehr nur noch ausälteren Werken und auch nicht mehr aufzeitgenössische Zustände.⁶⁰ Allerdings wurde die ältere Verwendung des Ṣaqāliba-Begriffs noch eine Weile in arabischen kartographischen Darstellungen perpetuiert.⁶¹ So verzeichnete eine erst kürzlich in einem bis dahin unbekannten, ausdem 12., frühen 13.Jahrhundertstammenden Manuskript eines um 1020 –1050 zusammengestellten „Buches der Neugier der Wissenschaften und Wunder für die

Reisebericht des Ibrahim ibn Ya’qu-b (/), in: Anton vonEuw /Peter Schreiner (Hrsg.), Kaiserin Theophanu. Begegnungdes Ostens und Westens um die Wende des erstenJahrtausends, Bd. .Köln , –.  „ZurZeit habensie vier Könige,den Königder Bulgaren; Buislaw, den König vonPrag, Böhmen und Krakau; Mescheqqo, den König des Nordens;und Naqun im äußersten Westen“,dessen Land „im Westen an Sachsen und einen Teil der Merman (Normannen =Dänen)“ grenze. In den „sumpfigenGegenden vomLande des Mescheqqo nach Nordwesten“„lebt ein slawischer Stamm, der das Volk der Ubaba genannt wird. (…)sie bekriegen den Mescheqqo und (…)haben keinen Königund lassen sich vonkeinem Einzelnen regieren, sonderndie Machthaber unterihnen sind ihre Ältesten.“ Zitiert nach Jacob (Hrsg.), Arabische Berichte(wie Anm. ), , .  Lewicki, Źrodłaarabskie ihebrajskie (wie Anm. ), .  Einen interessantenVergleich christlicher und muslimischerWeltrepräsentationen im Kar- tenbild des Mittelalters bietet Michael Borgolte,Christlicheund muslimische Repräsentationen der Welt.Ein Versuch in transdisziplinärer Mediävistik, in: Ders., Mittelalter in der größerenWelt. Essays zur Geschichtsschreibungund Beiträgezur Forschung. (Europa im Mittelalter,Bd. .) Berlin , –. Die Slaven im Mittelalter 21

Augen“ (Kitāb Ǧarā’ib al-funūnwa-mulaḥ al’uynūn)entdeckterechteckigeKarte as- die Slaven“)amwestlichen Rand einesgroßen Raumes, in dem„ / ﺔﺒﻟﺎﻘﺼﻟﺍ ) Ṣaqāliba neben einer längeren, beschreibenden Legende weiter im Nordosten nur noch die Stadt Kiev verzeichnet wurde.⁶² Auch die in einerauf das Jahr 1086 datierten Handschrift des „Buches über das Bild der Erde“ (Kitāb ṣūratal-arḍ)des viel gereisten Persers Abū al-Qāsim Muḥammadibn Ḥawqal (gest.nach 977) über- lieferte,vielleicht schon im 10.Jahrhundertentstandene Weltkarte füllteden Raum zwischenKaspischem Meer,Mittelmeer und nördlichem Meer lediglichmit den Ṣaqāliba und den Rus’.⁶³ Ähnlich pauschalbegegnendie Ṣaqāliba auch in einer zuerst vondem UniversalgelehrtenAbūRayḥānMuḥammadibn Aḥmad al-Bīrūnī (gest.nach 1048) verwendeten diagrammartigen Visualisierung.Inihr wurde die bewohnteWelt in sieben Regionen beziehungsweise – nach griechischem Vorbild – Klimata eingeteilt.Diese waren in Gestalt gleichgroßer Kreise um einen zen- tralen Kreis beziehungsweise eine zentrale Region – das vierte Klima bezie- hungsweise das Gebiet des heutigen Irak und Iran – angeordnet,und zwar „ac- cording to Kingdoms which differ[ed] from one another for various reasons – different featuresoftheirpeoples and different codes of morality and customs.“ ⁶⁴ Die Ṣaqāliba wurden dabei entweder zusammen mit Gog und Magog, den Cha- zaren, den Turkvölkern und den Rus’ im sechsten Klima angesiedelt,während Byzanz, al-Andalus und die Westfranken im fünften Klima verortet waren; oder sie

 Yossef Rapoport /Emilie Savage-Smith (Hrsg.), An Eleventh-Century Egyptian Guide to the Universe.The Book of Curiosities.Leiden /Boston , –, f.; die Legende (ebd. ) lautet: Uninhabited up to the boundaries of Constantinople in this area. In this region there are many nations speakingadifferent language from that of their race. These nations live very close to each other,despite their differences and disputes.Some of them, nay most of them and the most illustrious among them, areinallegiance to the King of Byzantium. Thereligious creed of all of them is Chri- stianity. Eine vollständige,sehr komfortabel recherchierbareonline-Version abrufbar unter http:// www.bodley.ox.ac.uk/bookofcuriosities (abgerufen am ..).  JohannesHendrik Kramers (Hrsg.),Opus geographicum auctore IbnHaukal. Secundum textum et imagines codices Constantinopolitani conservati in bibliotheca antiqui palatii N°  cui titulusest ’Liber imagines terrae’ [Kitāb ṣūratal-arḍ]. (Bibliotheca Geographorum Arabicorum, Bd. .) Leiden ³,Umzeichnungder Kartezwischen  und ; Miller,Mappae Arabicae , (wie Anm. ), –; Gerald R. Tibbetts,The Balkhī School of Geographers,in: John B. Harley/David Woodward (Hrsg.),The History of Cartography,Bd. ,:Cartographyinthe Traditional Islamic and South Asian Societies.Chicago /London , –,bes. , .  Pavel G. Bulgakov /Ibrahim Ahmad (Hrsg.),Al-Bīrūnī,Kitābtaḩdīdnihāyātal-amākin li-taṣḩīḩ masāfat al-masākin. Cairo , ;englische Übersetzung aus Jamil Ali (Hrsg.),The Determi- nation of the Coordinates of Positions for the Correction of Distances between Cities.Beirut , ,zitiert nach Ahmet T. Karamustafa,Cosmographical Diagrams,in: John B. Harley /David Woodward (Hrsg.),The History of Cartography,Bd. ,:Cartographyinthe Traditional Islamic and South Asian Societies.Chicago /London , –,hier . 22 EduardMühle fanden sich im fünften Klima zusammen mit Byzanz (Asia Minor), während Gog und Magogmit den Turkvölkern im sechsten Klimasaßen.⁶⁵ In beiden Fällen bezeichnete Ṣaqāliba auch hier deutlich mehr als nur eine slavischsprachige Bevölkerung. In der Mitte des 12.Jahrhunderts besaß der am sizilianischen Hof Rogers II. arbeitende marrokanische Geograph Muḥammadal-Idrīsī (gest. 1165) schließlich eine so eingehendeKenntnisvom östlichen Mitteleuropa, dass er in seinem „Buch der Erholungfür den, der sehnsüchtig den Horizont überschreitet“ (Kitābnuzhat al-muštāqfī-ʾḫtirāqal-āfāq)weder pauschalvon einem „Land“ oder „Ländern“ der Ṣaqāliba sprach, noch mit allgemeinen Charakterisierungen – wie noch Ibrahim ibn Ya’kūb – deren Lebensverhältnisse und Sitten zu erfassen versuchte.⁶⁶ Auch die andernorts unterstelle einstmalige Einheit der Ṣaqāliba interessierte al-Idrīsī nicht mehr.Vielmehr führte er in seiner,inerster Linie praktisch-militärischen Interessen des Normannenherrschers dienenden Geographie nun einzelne Länder – Sachsen bzw.das Reich, Polen, Böhmen, Ungarn, Kroatien, Serbien,Bulgarien,

 Tibbetts,The Beginnings (wie Anm. ), ; Karamustafa,Cosmographical Diagrams (wie Anm. ), .  Henri Bresc /Annliese Nef (Hrsg.), Idrīsī,Lapremièregéographie de l’Occident.Paris ; Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Polska ikraje sąsiednie w świetle ‚Księgi Rogera‘ geografa arabskiegozXII w. al-Idrīsī’ego. Część I(uwagiogólne, tekst arabski, tłumaczenie). Kraków ,polnische Übersetzung der Beschreibung der Sektion  und Teile der Sektion  des .Klima: –; arabischerText: –.Der ebenfalls bereits  fertiggestellte Kommentarband gingim ZweitenWeltkrieg zunächst verlorenund konnte erst  erscheinen: Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Polska ikraje sąsiednie w świetle ‚Księgi Rogera‘ geografa arabskiegozXII w. al-Idrīsī’ego.Część II. Warszawa .Dem Werk war ein Satz von  Regionalkarten beigefügt,die den Höhepunkt der mittelalterlichen islamischenKartographie darstellten; die dazugehörige Weltkartewar allerdings wohl schon voral-Idrīsī entstanden und seinem Werk zusätzlicheingefügt worden; S. Maqbul Ahmad,Cartography of al Sharīfal-Idrīsī,in: John B. Harley/David Woodward(Hrsg.),The History of Cartography,Bd. ,:Cartographyinthe Traditional Islamic and South AsianSocieties.Chicago /London , –; Konrad Miller,Mappae Arabicae. Auszugsweise herausgegeben und mit einem korrigierenden Index versehen vonHeinz Gaube. (Beiheftezum TübingerAtlas des VorderenOrients.Reihe B, Nr. .) Wiesbaden , –;vgl.auch die zusammenfassende Wertungbei Anna-Dorothee von den Brincken,Mappa mundi und Chronographia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters, in: DeutschesArchiv  (), –,hier : „(…)die arabische Welt erlebteim.und .Jahrhundert eine Ptolomaeus-Renaissance, erarbeitete sich im .Jahrhundert ein selbständigesgeographisches Weltbild, das ausder Notwendigkeit geboren wurde, Hilfsmittel für den Reise- und Postverkehr,die allgemeine Ver- waltung und die Steuereinschätzung zu besitzen,und führteinZusammensetzungder Einzel- kenntnisse zur arabischenWeltkarte. Idrīsī schuf im .Jahrhundert die Synthese, indem er (…) ein erstaunlich zutreffendes Abbild der Welt zustande brachte, frei vondem Ballast antiken Namenmaterials.“ Die Slaven im Mittelalter 23 die Rus’–auf ⁶⁷,wobei er jeweils deren wichtigste Charakteristika, bedeutendste Städtesowie die Entfernungen zwischen diesen nannte. Dass er dabei in der Nachbarschaft vonUngarn eine (I)sḳl(a)ṷun(ḭ)ḭa[Ṣqlabunīa] aufführte⁶⁸, hatte bereits nichts mehr mit dem arabischen Ṣaqāliba-Konzeptzutun. Der Name be- zeichnete lediglich das um die Mitte des 12.Jahrhunderts zwischen Venedig und Ungarn umstrittene dalmatinisch-kroatische Slavonien. Bis zur Mitte des 12.Jahrhunderts war das Ṣaqāliba-Konzeptmithin im Sinne einer zeitgenössisch- originären Bezeichnung ausden arabischen Quellen verschwunden und bege- gnete nur noch als historisches Zitat ausälteren Werken.⁶⁹

 Lewicki (Hrsg.), Polska ikraje sąsiednie (wie Anm. ), ; Bresc /Nef (Hrsg.), Idrīsī (wie Anm. ), , , , , .  Lewicki (Hrsg.), Polska ikraje sąsiednie (wie Anm. ), f.; Bresc /Nef (Hrsg.), Idrīsī (wie Anm. ), .  Lewicki, Źrodłaarabskie ihebrajskie (wie Anm. ), ; Barthold,Slawen (wie Anm. ), : „auch in den Berichten über die europäischen Feldzüge der Mongolen bei Djuwaini und Rashid al- Din kommtdas Wort ‚Slawen‘ nicht vor.“ IV

Auch in den lateinischen Quellen des Westens tratendie ersten Sclavi(ni) im thematischen Kontext des slavischenVordringens aufdem Balkan hervor.Dabei gelangten die ältesten einschlägigenNachrichten, Notizen in der um 590 ver- fassten Chronik des katholischen Westgoten Johannesvon Biclaro (gest.um620), offenbar aufdirektem Wegaus Konstantinopel nach Spanien.⁷⁰ Etwa gleichzeitig erhielt Papst Gregor I. (gest.604) ausdem Exarchat vonRavenna erste Nachrichten über slavische Einfälle in Dalmatien und Istrien.⁷¹ Zwei Jahrzehnte späterbe- richteteIsidor vonSevilla(gest.636) zum Jahr 614, dass Sclavi Greciam occupant.⁷² Die um 640 im norditalienischen Bobbio verfasste Vita Columbani wiederum kannteals potentielle Adressaten einer Missionsreise des irischen Wandermön- ches Veneti qui et Sclavi dicuntur,die sogleich an die Venethi und Sclavini des Jordanes erinnern.⁷³ Tatsächlich scheinen all diese Nachrichten nicht mehr als ein ferner Widerhall byzantinischer Historiographie gewesen zu sein.⁷⁴ Die erste selbständigewest-bzw.mitteleuropäische Wahrnehmung der Sclavi findet sich in der bis 660 abgeschlossenen austrasisch-merowingischen Chronik des so genannten Fredegar.⁷⁵ In ihr ist vonSclavi/Sclavinibzw.Winedi/Winidi/

 Theodor Mommsen (Hrsg.),Johannisabbatis Biclarensis chronica, in: Chronica minora saec. IV-VII. (MGH, AA .) Berlin , –,hier : Sclavini in Thracia multas urbes Ro- manorum pervadunt, quas deopoulatas vacuas reliquere; : Sclavinorum gens Illyricum et Thracias vastat. Der in Lusitaniengeborene spätere Bischof vonGirona war in Konstantinopel ausgebildet worden und hattevon dort einschlägige Informationen und Textemitgebracht.  Festgehalten in zweiBriefen an den Exarchen vonRavenna Callincus (gest.nach )vom Mai  und Juli ; Paul Ewald /Ludwig M. Hartmann (Hrsg.), Gregorii Ipapae Registrum episto- larum. Tomus II: Libri VIII-XIV.(MGH Epistolae , .) Berlin , , .  Theodor Mommsen (Hrsg.), Isidori Iunioris episcopi Hispalensis historiaGothorumWando- lorum Sueborum ad a. SCXXIV.(MGH AA, .) Berlin , –,hier ;ähnlich in der  entstandenenzweiten Redaktion der Isidori Iunioris episcopi HispalensisChronica Maiora, in: ebd., –,hier : Cuius [Eraclii] initio Sclavi Graeciam Romanis tulerunt.“  Vitae Columbani abbatis discipulorumque eius libri II, in: Bruno Krusch (Hrsg.),Ionae Vitae sanctorum Columbani, Vedastis, Iohannis.(MGH SS rer.Germ. in us. Schol., Bd. .) Hannover , –,hier .Zur Geschichte des seit Jordanes als Synonym für Sclavi auftretenden Venedi/Wenden-Namen vgl. Roland Steinacher,Wenden, Slawen, Vandalen. Eine frühmittelal- terliche pseudologische Gleichsetzungund ihreNachwirkung,in: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Vonder Bedeutungdes frühen Mittelalters. (Forschungenzur Geschichte des Mittelalters,Bd. .) Wien , –.  Vgl. Lech A. Tyszkiewicz,Słowianie whistoriografii wczesnego średniowiecza od połowy VI do połowy VII wieku. Wrocław , –, .  Die in der Forschungviel erörterteFrage,obder erst seit dem .Jahrhundert mit dem Namen Fredegar verbundeneText einen oder mehrere Verfasser hatte, in einem Zugum oder in drei Die Slaven im Mittelalter 25

Winodi die Rede, die mit fränkischen Kaufleuten Handel trieben, sich gegendie Oberherrschaft der Avaren auflehnten und in diesem Zusammenhang den frän- kischen KriegerhändlerSamo zu ihrem rex wählten. Dessen regnum hätten sich auch die voneinem dux Dervanus angeführten Sorben (Surbi)angeschlossen, die – wie die Chronik explizit hervorhebt – slavischer Abkunft (ex genere Sclavinorum) gewesen seien, aber schon langezum Frankenreich gehört hätten. Zusammen seien diese Sclavi/Wenedi in Konflikt mitKönig Dagobert I. (gest.639) geraten, dessenTruppen sie beim castrum Wogastisburc in die Flucht geschlagen hätten, woraufhin sie anschließend wiederholt nach Thüringen und in andere Gebiete (pagi)des Frankenreicheseingefallen seien. An anderer Stelle berichtet die Chronik, dass Winedi irgendwozwischenPannonien und Bayern in einer marca Vinedorum unter einem dux Walluc lebten.⁷⁶ Ähnlich wie in Byzanz gerieten mithin auch bei den Franken um die Mitte des 7. Jahrhunderts nur jene slavischsprachigen Verbändeinden Blick, die in direkter östlicher Nachbarschaft des Merowinger- reiches lebten und dessen Grenzen bedrohten. Anders als in Byzanz handelte es sich dabei aber zunächstoffenbar nur um eine vereinzelte Wahrnehmung,je- denfalls blieb das Zeugnis des Fredegar noch für ein Jahrhundertpraktisch sin- gulär.Erst in der Karolingerzeit tauchen in den lateinischen Quellen wiederver- mehrt Sclavi auf. Der Langobarde Paulus Diaconus blickte in seinem 790 –795inMontecassino entstandenen Geschichtswerk als Abkömmlingeiner in Friaul einst mit slavischen und avarischen Übergriffenkonfrontierten Familie aufdie Sclavi. Ausdieser Perspekive nahm er – mit einer Ausnahme⁷⁷ – nur Gruppenimheutigen Kärnten, Slovenien und Istrien wahr,die er zusammenfassend als gens Sclavorum in Car-

bis vier Phasen zwischen  und  geschriebenwurde, ist für die Deutungder fraglichen Slavenpassagenletztlich unerheblich, da das VierteBuch, in dem sie begegnen, in jedem Fall dem letztgenannten Datum zuzuordnen ist; die Diskussion resümiert bei Walter Goffart,The Fredegar- Problem Reconsidered, in: Speculum  (), –;Tyszkiewicz,Słowianie (wie Anm. ), –; Roger Collins,Die Fredegar-Chroniken. (MGH. Studien und Texte, Bd. .) Hannover , –.  Chronicarum quae dicuntur Fredegariischolastici libri IV cum continuationibus, in: Bruno Krusch (Hrsg.), Fredegarii et aliorum chronica. Vitae sanctorum. (MGH SS rer.Merov.,Bd. .) Hannover , –,hier f., f., ;zur im einzelnen kontroversen Deutungder Slavenpassagenvgl. Tyszkiewicz,Słowianie (wie Anm. ), –; Joseph Schütz,Fredegar: Über Wenden und Slawen(Chronicon lib IV.cap.  et ), in: Jahrbuch für Fränkische Lan- desforschung  (), –; Florin Curta,Slavs in Fredegar:Medieval gens or narrative strategy?,in: Acta Universitatis de Attila Józsefnominatae, Acta Historica  (), –; Ders.,Slavs in Fredegar and Paul the Deacon: medieval gens or ’scourge of God’?, in: EarlyMe- dieval Europe  (), –,bes. –.  Die Ausnahme: eine Nachricht zum Jahr ,nach der Sclavi mit Schiffen – offenbar ausdem gegenüberliegenden Dalmatien – an der apulischen Küstelandeten. 26 Eduard Mühle antanum bezeichnete. Diese Karantanen⁷⁸ porträtierte er in seinen zwischen 595 und 739angesiedelten Nachrichten vorallem als Konfliktpartner der bayerischen und langobardischen Herzöge,die ausihren Wohngebieten (habitatio,provincia, patria – noch nicht auseinem regnum⁷⁹)die Bayern und Langobarden bedrängten und dabei mitunter als slavische Banditen (latrunculi Sclavorum)auftraten.⁸⁰ Nicht als feindliche Gegner,sondern als Adressatenchristlicher Mission schilderte dagegen die 871imAuftrag des SalzburgerErzbischofs Adalwin (gest.873)verfasste Conversio Bagoariorum et Carantanorum die Sclavi,qui dic- untur Quarantani.⁸¹ Die offenbar zur Unterrichtung des ostfränkischen Königs

 Ein möglicherweise ältererBeleg für die Karantanen (Carontani)begegnet in der als „Kos- mographie vonRavenna“ bekanntenErdbeschreibung, derenDatierung – entweder in das be- ginnende oder ausgehende .oder garbeginnende .Jahrhundert – umstritten ist; Ravennatis Anonymi cosmographia, in: Joseph Schnetz (Hrsg.), Itineraria Romana. Band II: Ravennatis An- onymi cosmographia et Guidonosgeographica. Leipzig ,NDMünchen , –,hier ; zur Datierungder Quelle Klaus Bertels,Carantania. Beobachtungen zur politisch-geographischen Terminologie und zur Geschichtedes Landes und seiner Bevölkerungimfrühen Mittelalter,in: Carinthia  (), –,hier –; Aleksandr V. Podosinov, ’Kosmografija Ravenns- kogo Anonima, in: G. G. Litavrin (Hrsg.), Svod drevnejšich pis’mennychizvestij oslavjanach. Tom II (VII-IX vv.). Moskva , –,bes. .ZuKarantanien zuletzt Stefan Eichert,Zentra- lisierungsprozesse bei den frühmittelalterlichen Karantanen, in: Sikora(Hrsg.),Zentralisie- rungsprozesse (wie Anm. ), –.  Dass Paulus Diaconus Carantanum bereits als Landesname und damit als Bezeichnung für eine politische Herrschaftsbildung verwendet hat,wie Bertels,Carantania (wie Anm. ), –  meint,wirdvon Curta,Slavs in Fredegar and Paul the Deacon (wie Anm. ),  bestritten; Curta unterstellt Paulus vielmehr,dass er „completely ignoredthe fact that,during his own lifetime, the Carantanian Slavs have alreadyemergedasastrong polity under their rulers of the dynasty of Boruth.“ Tatsächlich findet sich ein aufeine etablierte Herrschaftsbildung verwei- sender Territorialbegriff (Karantana provincia)erstmals in einer Urkunde Karls des Großenvom .Juni ; Engelbert Mühlbacher (Hrsg.), Pippini, Carlomanni, Caroli Magni Diplomata.Die Urkunden Pippins,Karlmann und Karls des Großen. (MGH DD Karolinorum, Bd. .) Hannover , ;andereFormen wie Caranta(nia), Carentania, Charentariche u.ä. begegnen erst im weiterenVerlauf des .Jahrhunderts,die Belegebei Klaus Bertels /Renate Möhlenkamp,Caran- tania, in: Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichenEuropa. Seria A: Lateinische Namen bis ,Bd. .Wiesbaden , –.  Gustav Waitz (Hrsg.),Pauli Historia Langobardorum. (MGH SS rer. Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover ,NDHannover , , , f., , , , f., f., f., f., .Zur Deutungder Slavenpassagenvgl.auch Curta,Slavs in Fredegar and Paul the Deacon (wie Anm. ), –.  Herwig Wolfram,Conversio Bagoariorum et Carantanorum.Das Weissbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanienund Pannonien.Wien u.a. , –,hier  (eine zweite, gründlich überarbeitete Ausgabeerschien  in Ljubljana/Laibach). Zur Entstehungs-und Wirkungsgeschichtedes Textes auch ausführlich Ders.,Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit.(Mitteilungen Die Slaven im Mittelalter 27 erstellte Schrift kannteneben den Karantanen, deren Geschichte sie mit der Fredegar-Chronik bis aufdie Zeit Samoszurückführte, Sclavi auch in Unter-Pan- nonien. Dass sie nur diese und nicht etwa auch die Mährer (Maravi)oder die Bulgaren (Bulgari)als Sclavi bezeichnete⁸²,war in ihrer politischen Tendenzbe- gründet,eben diese pannonischen Sclavi als Anhängsel Karantaniens und damit als rechtmäßigder SalzburgerKirchenhoheit unterstehendeBevölkerungzuer- weisen. Ausdiesem Grund bezeichnete sie auch beide Slavengebiete,die karan- tanischenund jene in Pannonien (nämlich – wie die Conversio genauer definiert – der „Teil des unteren Pannonien am Plattensee und jenseits der Raab und vondort bis zur Drau und weiter bis zur Mündungder Drau in die Donau“)nicht nur vage als partes Sclavorum,sondern auch als Sclavinia,d.h.als ein einziges politisch organisiertes, zusammengehöriges Gebiet.⁸³ Der Text ließ zugleich eine gewisse Kenntnis der slavischen Migrationsgeschichteerkennen.⁸⁴ Und mit dem Hinweis aufdie Erfindungder slavischen Buchstaben durch den ausThessalonike stam- menden Methodius, der als Slave aus Istrien und Dalmatien vorgestelltwird, deuteteerauch eine Ahnung vomsprachlichen Zusammenhang der Slavenan, der über die karantanisch-unterpannonische gens Sclavorum bzw. Sclavinia hinaus- ging.⁸⁵ Seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert wurden auch die fränkischenReichs- annalen im Kontext militärischer Ereignisse aufKarantanen, unterpannonische und Balkan-Slaven(Sorabi/Serben; Timociani), aber auch aufdie Bulgaren (Bul- gari)aufmerksam.⁸⁶ Die Mehrzahl ihrer einschlägigenNachrichten bezogsich allerdings aufslavischsprachigeVerbände, die erst mit dem nordöstlichen Aus- greifen Karls des Großen in den fränkischenHorizont gerieten. Sie konnten relativ rasch bei ihren gentilen Namen genannt und als Sorben (Sorabi Sclavi oder Sclavi,

des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.bd. .) Wien /München ,sowie Fritz Lošek,Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar vonSalzburg. (MGH. Studien und Texte, Bd. .) Hannover , – (– eine weitere lateinisch-deutsche Edition).  Wolfram,Conversio (wie Anm. ), , , .  Wolfram,Conversio (wie Anm. ), , .  Wolfram,Conversio (wie Anm. ), : Tunc vero Sclavi post Hunos [= Avaros] inde expulsos venientes coeperunt istis partibus Danubii diversas regioneshabitare; : coeperunt populi sive Sclavi vel Bagoarii inhabitareterram, unde illi expulsi suntHuni [Avari],etmultiplicari.  Wolfram,Conversio (wie Anm. ), : supervenit quidam Sclavus ab Hystrie et Dalmatie partibus nomine Methodius,qui adinvenit Sclavicas literas.  GeorgHeinrich Pertz /Friedrich Kurze (Hrsg.), Annales regni Francorum inde a.  usque ad ,qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi. (MGH SS rer.Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover ,passim. 28 EduardMühle qui dicuntur Sorabi),Wilzen (Sclavaniae, quorum vocabulum est Wilze; Welatabi⁸⁷), Böhmen (Sclavi,qui vocantBeheimi), Abodriten(Abodriti,Praedenecenti), Linones, Smeldingi,Mährer (Marvani)identifiziert werden.⁸⁸ Aufdiese „östlichen Slaven“, als die sie die Reichsannalen unter dem Jahr 822 explizit zusammenfassten, und ihre zum Teil ebenfalls bereits namentlich bekannten Anführer⁸⁹ stießen die Frankenunmittelbar jenseits der Elbe, an der südlichenOstseeküste, an Saaleund Mulde, in Thüringen, und zwar nahezuausschließlich im Kontext militärischer Konflikte. Nurgelegentlich wurden die kriegerischen Konfrontationen, in denen Karl die „Übergriffe“ und „Frechheit der störrischen Slaven“ (Sclavorum incur- siones, contumacium Sclavorum audaciam)bestrafte⁹⁰,durch Verhandlungenund Zweckbündnisse ergänzt.Der Biograph des Kaisers, Einhard (gest.840), be- zeichnete sie denn auch als „barbarische und wilde Völkerschaften“,wusste dabei aber,dass sie „so ziemlich die gleiche Sprache reden, in Sitten und Tracht aber sehr voneinander verschiedensind.“⁹¹ Die Annales Fuldenses ergänzten das Bild mit den Siusli und Daleminzern (Dalmatae; Sclavi,qui vocantur Dalmatii)⁹² zwischenElbe und Mulde nur ge- ringfügig,erhöhtenaber die Frequenz einschlägigerNachrichten und fassten die im 9. Jahrhundert politisch in den Vordergrund tretendenHerrschaftsbildungen der Karantanen, Mährer und Bulgaren auch bereits mit entsprechenden politi-

 Pertz /Kurze (Hrsg.), Annales regni Francorum (wie Anm. ),  bieten hierzu die interes- santeErläuterung: Natio quaedam Sclavenorum est in Germania, sedens super litus oceani, quae propria lingua Welatabi, Francica autem Wiltzi vocatur;ähnlich formuliert Einhard, in: Georg Heinrich Pertz /GeorgWaitz (Hrsg.),Einhardi Vita Karoli Magni. (MGH SS rer. Germ. in us. schol., Bd. .) Hannover /Leipzig , : Sclavi, qui nostraconsuetudine Wilzi, proprie vero, id est sua locutione, Welatabi dicuntur.  Pertz /Kurze (Hrsg.), Annales regni Francorum (wie Anm. ), ,adannum , f., ad annum , ,adannum , ,adannum , f., ad annum , ,adannum , ,adannum , ,adannum .  Sclaomir, Witzinus/Witzan bei den Abodriten, Dragavitus, Milegastus,Liubus,Celeadragus bei den Wilzen und Miliduoch, Tunglo bei den Sorben.  Pertz /Kurze (Hrsg.),Annales regni Francorum (wie Anm. ), , , f.  Pertz /Waitz (Hrsg.), Einhardi Vita Karoli (wie Anm. ), : omnes barbaras ac feras nationes, quae inter Rhenum ac Vistulam fluvios oceanumque ac Danubium positae, lingua quidem poene similes,moribus veroatque habitu valde dissimiles, Germaniam incolunt, ita perdomuit, ut eas tributarias efficeret; inter quas ferepraecipuae sunt Weletabi, Sorabi, Abodriti, Boemani – cum his namque bello conflixit -; ceteras,quarum multo maior est numerus,indeditionem suscepit;deutsch zitiert nach Reinhold Rau (Hrsg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil :Die Reichsannalen, EinhardLeben Karls des Großen, Zwei „Leben“ Ludwigs, Nithard Geschichten. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. .) Darmstadt , .  GeorgHeinrich Pertz/Friedrich Kurze (Hrsg.),Annales Fuldenses sive Annales regni Fran- corumorientalis.(MGH SS rer.Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover , ,adannum , , ad annum . Die Slaven im Mittelalter 29 schen Territorialbegriffen (Carinthia/Carenta, Maravia, Bulgaria).⁹³ Wiesehrdie lateinische Wahrnehmung der Sclavi vonder Nähe zu ihren Lebensbereichen abhing, lassen die Annales Bertiniani,die westfränkische Fortsetzung der Reichsannalen, erkennen. Sie kannten in ihrer ältesten Schicht zwar zunächst weiterhin Abodriten,Wilzen, Linonen und Sorben, fielen aber ab den 860er Jahren in eine gänzlich unbestimmte Terminologie zurück, wenn sie nur mehr von Vui- nidi, qui in regionibus Saxonum sunt oder von Vuinidisub diversis principibus sprachen.Bei den Mährern blieben sie (wenn die entsprechende Textlückenicht einem späteren Kopisten anzulasten ist) geradezu sprachlos und nannten sie bloß Vuinedi, qui appellantur … .Für die Moravia der Annales Fuldenses fanden sie nur die vage – offenbar der Ferdegar-Chronik entlehnte – Bezeichnung marca Vuin- idorum.⁹⁴ In weiten Teilen vage bliebauch eine im 9. Jahrhundert im süddeutschen Raum erstellte „Beschreibung der Burgenund Ländernördlich der Donau.“⁹⁵ Sie erfasste in einer ersten, vonNord nach Süddie Ostgrenze des Karolingerreiches abschreitenden Aufzählungdie unmittelbar benachbarten slavischsprachigen Bevölkerungsverbändedurchauspräzise, kannte auch für weiter östlich lebende Gruppen zahlreiche, zweifelsfrei historische Gentilnamen. Doch waren viele der insgesamt 58 aufgeführten Namen wohl ebenso erfundenwie die in vielen Fällen absolut phantastischen Zahlen der Burgenbeziehungsweise Burgbezirke (civita- tes), über die sie verfügt haben sollen. Dessenungeachtet bezeugt der Text ein gesteigertes ostfränkisches Interesse an den politischen und ethnographischen Verhältnissen des östlichen Europa, das auch die Fragenach den Ursprüngender slavischsprachigen Verbände implizierte.Jedenfalls findet sich bei einem der genannten Verbände, den Zerivani,die interessanteBemerkung, dass ihr regnum so groß gewesen sei, dass ausihm alle Stämme der Slaven(cuncte gentes scl- avorum)hervorgegangenseien beziehungsweise diese ausihm, wie behauptet werde, ihren Ursprung herleitenwürden (exorte sintetoriginemsicut affirmant

 Pertz /Kurze (Hrsg.), Annales Fuldenses (wie Anm. ), ,adannum , ,adannum , ,adannum , ,adannum .  Félix Grat /Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet (Hrsg.), Annales de Saint Bertin. Paris , –, , , , , , , , , f., , , , f., , , , , , f., f., f., , f., –, .  Opisanie gorodov ioblastej kseveru ot Dunaja, ili Bavarskij Geograf Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii sive Geographus Bavarus,in: Aleksandr V. Naza- renko (Hrsg.), Nemeckie latinojazyčnyeistočniki IX-XIvekov. Teksty,perevod, kommentarij. Moskva , –,Edition des lateinischen Textes: –. 30 Eduard Mühle ducant).⁹⁶ In ähnlicher Weise hatte um 800 der Kosmograph vonRavenna die patria der Skythenals Urheimat der Sclavi bezeichnet.⁹⁷ Nichts dergleichen findet sich in Reginos eingehendem ethnographischem Exkurs über die „skythischen Reiche.“⁹⁸ Der ehemaligeAbt vonPrüm war zu Beginn des 10.Jahrhunderts in Trier über die Sclavi kaum besser im Bilde als der Mönch NotkerinSt. Gallen, der in den 880er Jahrennur pauschalvom „ganzen Geschlecht der Slaven“ (omne Sclavorum genus)sprach, das neben Avaren (Huni) und Bulgaren (Bulgari)zujenen furchtbaren Völkern (immanissimae gentes) zählte, die den Landweg nach Byzanz verstellten.⁹⁹ Regino zählteneben Wilzi, Surbi, Abotridi,Linones auch die Mährer und Böhmen noch explizit zu den Scl- avi.¹⁰⁰ Sein Fortsetzer schloss die Boemi – wie im Übrigen auch die Rusʼ (Rugi)und die Karantanen – in den 960erJahren bereits ausseinem Sclavi-Begriff ausund engtediesen aufjene Elbslaven(Obodriti; Sclavi, qui Vucrani vocantur; Sclavi,qui dicuntur Lusizani)ein, deren Wildheit (Sclavorum sevitiae)die Ottonen zu bän- digen bemühtwaren.¹⁰¹ Auch Widukind vonCorvey stellte zur gleichen Zeit die seit längerem christianisierten Boemi, für die er nicht nur eine Territorialbezeichnung (Boemia)kannte, sondern auch einzelne ihrer Herzögeund ihren Hauptort Prag beim Namen zu nennen wusste, neben die Sclavi. Unter letzteren verstand er „alle barbarischen Völkerschaften bis hin zur Oder“ (omnes barbarae nationes usque in Oderam fluvium),womit er namentlich die Abodriten (Apodriti/Abdriti), Wilzen (Wilti), Redarier (Redarii), Rugier(Ru[gi]ani;), Ukranen (Uchri), Daleminzer(Da-

 ZurDeutungder Quelle vgl. u.a. Wolfgang Fritze,Die Datierungdes Geographus Bavarus und die Stammesverfassung der Abodriten, in Zeitschrift für slavische Philologie  (), –; I. Cherman [Joachim Hermann], Ruzzi. Forsderen liudi. Fresiti.Kvoprosu ob istoričeskich i ėtno- grafičeskich osnovach „Bavarskogo Geografa“ (pervajapolovina IX v.), in: Boris A. Timočšuk (Hrsg.), Drevnosti slavjan iRusi. Moskva , –; Krzysztof Tomasz Witczak,Dwa studia nad Geografem Bawarskim, in: Roczniki historyczne  (), –; Maddalena Betti,La Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii. Lo spazio oltre il ’limes’ nel IX secolo, in: Mélangesdel’École française de Rome – Moyen Âge  (),  [online abgerufen unterhttp://mefrm.revues.org/ am ..].  Schnetz (Hrsg.), Ravennatis Anonymi cosmographia (wie Anm. ), : Sexta ut horanoctis Scitharum est patria, unde Sclavinorum exorta est prosapia.  Friedrich Kurze (Hrsg.), Reginonis abbatis Prumiensis chronicon cum continuationeTreve- rensi. (MGH SS rer.Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover , f.: de Scythiae situ Scytha- rumque moribus.  HansF.Haefele (Hrsg.), Notkeri Balbuli gesta Karoli Magni imperatoris.(MGH SS rer.Germ., NS, Bd. .) Berlin , f., , .  Kurze (Hrsg.), Reginonis abbatis Prumiensis chronicon (wie Anm. ), , , , , , –, , , , , , , .  Kurze (Hrsg.),ReginonisabbatisPrumiensis chronicon (wie Anm. ), , f., f., , f., . Die Slaven im Mittelalter 31 lamanci), Heveller (Heveldi/Hevelli)und Lausitzer (Lusiki), aber auch weiter ent- fernt lebende Barbaren (longius degentes barabaros), wiedie Wolliner Slaven (Vuloini)und die Licicaviki des rex Misaca,inden Blick nahm.¹⁰² Sie alle verband, dass es sich um heidnische, politisch noch kaum gefestigte Personenverbände handelte, die den Sachsen gleichwohl in beständigen Konflikten erhebliche Probleme bereiteten (weshalb Ruotger in der Lebensbeschreibung des heiligen Brun in den 960er Jahren auch vonder „hundertfachen Wutder barbarischen Slawen“ (centifida Sclavorum rabies barbarorum)sprach.¹⁰³ Ausden Reihendieser ‚slavischen Barbaren‘ emanzipierte sich seit dem ausgehenden 10.Jahrhundert allein die in den 960er Jahren ‚getaufte‘ Polonia. Otto III. mochte sie im Rahmen seiner Renovatio imperii-Konzeption noch als einen integralen Teil einerden Ottonen verpflichteten Sclavinia/Sclavania beansprucht haben – wie die berühmte Miniatur ausseinem Reichenauer Evangeliar,aber auch ein im März des Jahres 1000 in Sclavania in civitate Gnesni ubi corpus beati martyris Ad(alberti … re)quiescit ausgestelltesDiplombelegen.¹⁰⁴ Doch schon Thietmar von Merseburg stellte ihren dux Miseco in seiner zwischen1012 und 1018 verfassten

 Paul Hirsch /Hans-Eberhard Lohmann (Hrsg.), Die Sachsengeschichtedes Widukind von Korvei. (MGH SS rer.Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover , , –, , , f., , f., , , , , –, .ZuWidukinds Bild vonden Sclavi vgl. auch Franz Josef Schröder,Völker und Herrscher des östlichen Europa im Weltbild Widukinds vonKorvei und Thietmars vonMerseburg. Münster , –.  IreneOtt (Hrsg.), Ruotgers Lebensbeschreibungdes Erzbischofd Bruno vonKöln. (MGH SS rer.Germ., NS,Bd. .) Köln /Graz ,  cap. .  Percy Ernst Schramm /Florentine Mütherich,Denkmale der deutschen Könige und Kaiser.Ein Beitrag zur Herrschergeschichtevon Karl dem Großenbis Friedrich II. –.(Veröffentli- chungendes Zentralinstituts für KunstgeschichteinMünchen,Bd. .) München , f., f.; Wilhelm Weizsäcker,Imperator und huldigende Frauen, in: Wilhelm Wegener (Hrsg.), Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann zum .Geburtstagam.September .Aalen , –; Johannes Fried,OttoIII. und Bolesław Chrobry.Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars,der ‚Akt vonGnesen‘ und das frühe polnische und ungarische Königtum. Stuttgart ², –; Theodor Sickel (Hrsg.),Die Urkunden der deutschen Königeund Kaiser.Die Ur- kunden Ottosdes III. (MGH DD ,). Hannover , f. (Nr. ); in diesen gedanklich- ideologischen Kontext mochten auch noch die Sclauonia-Belegeder vonBrun vonQuerfurt um  verfassten Vita der fünf Märtyrerbrüder gehört haben: JadwigaKarwasińska (Hrsg.), Vita quinque fratrum eremitarum [seu] Vita uel passio Benedicti et Iohannis sociorumque suorum. (MPH NS, Bd. ,.) Warszawa , f., ;die zwischen etwa  und  aufgezeichneten Quedlinburger Annalensahen freilich, wie Thietmar,die vonOttoIII. und seinen Anhängern mit dem Sclavonia-Begriff gehegteVorstellung offenbar bereits als obsolet an und sprachen daher von Polonia (wenn auch an einer Stelle noch in der bezeichnenden Übergangsformulierung Polonia Slavoniae): Martina Giese (Hrsg.),Annales Quedlinburgenses.(MGH SS rer.Germ. in us.schol, Bd. .) Hannover , , ;vgl. auch Dieter Wojtecki,Slavica beim Annalisten von Quedlinburg,in: Zeitschrift für Ostforschung  (), –,bes. –. 32 Eduard Mühle

Karte3:Die SclaviimBlick der westlich-lateinischen Quellen

Chronik aufeine Stufe mit dem BöhmenherzogBoleslav – und beide zusammen den Sclavi gegenüber.¹⁰⁵ Tatsächlich grenzteder MerseburgerBischof den Begriff

 Robert Holtzmann (Hrsg.),Thietmari Merseburgensis epsicopi chronicon. Die Chronik des Die Slaven im Mittelalter 33 weiter aufdie zwischen Elbe und Oder lebenden „grausamen Slaven“ ein, die 983 zum Heidentum zurückgefallen waren, ihm aber auch als Mehrheitsbevölkerung seines Bistums vertrautwaren.¹⁰⁶ Die Untertanen des Miseco beziehungsweise seines Sohnes Bolizlaus bezeichnete er dagegen bereits konsequent als Polen (Poleni/Polenii).¹⁰⁷ Auch die sehr wohl bereits als eine slavischsprachigeGe- meinschaft wahrgenommenenRusʼ (Rus(s)cia)wurden vonThietmar,der selbst über slavische Sprachkenntnisse verfügte¹⁰⁸,nicht als Sclavi bezeichnet. Das alles bedeutetenicht,dass mandie nun bei ihren eigenen Namen ge- nannten Herrschaftsbildungen der Polen, Böhmen und Rusʼ nicht weiter auch in einem sprachlichenSinn als ‚slavisch‘ begriff. So charakterisierte Wipo (gest.nach 1046) Bolesław Chrobry in den 1040er Jahren explizit als „slavischen Herzogder Polen“ (Sclavigena dux Bolanorum),während Hermann vonReichenau (gest.1054) wenigspäter vonden „slavischen Polen“ (Sclavi Bolani)beziehungsweise Sclavi, qui Boloni vocantur, sprach.¹⁰⁹ Auch Adam vonBremen (gest.1085) war die sprachliche Verwandtschaft der Slavenbewusst. Doch grenzteerdie tota Scla- vania explizit aufdie ostelbischen Gebiete ein. Die universi populi Sclavorum oder

Bischofs Thietmar vonMerseburgund ihre Korveier Überarbeitung. (MGH SS rer.Germ. NS, Bd. .) Berlin ,bes. .  Zu Thietmars Bild vonden Sclavi vgl. auch Erich Donnert,Die frühmittelalterlich-deutsche Slawenkunde und Thietmar vonMerseburg, in: Zeitschrift für Slawistik  (), –; Schröder,Völker und Herrscher (wie Anm. ), –; LorenzWeinrich,Der Slawenaufstand von  in der Darstellungdes Bischofs Thietmar vonMerseburg, in: DieterBerg/Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Historiographia mediaevalis.Studien zur Geschichtsschreibungund Quellenkunde des Mittelalters.Darmstadt , –; Klaus Guth,Kulturkontaktezwischen Deutschenund Slawennach Thietmar vonMerseburg, in: ebd., –; David Fraesdorff,Der barbarische Norden.Vorstellungenund Fremdheitskategorien bei Rimbert,Thietmar vonMerseburg, Adamvon Bremen und Helmold vonBosau. (Orbis mediaevalis,Bd. .) Berlin , , –; Hans- Werner Goetz,Die Slaweninder Wahrnehmung Thietmars vonMerseburgzuBeginn des .Jahrhunderts, in: Lětopis / (), –,bes. –.  Holtzmann (Hrsg.),Thietmari chronicon (wie Anm. ), , , , f., f., f., f., , .ZuThietmars Bild vonPolenausführlich Andrzej Pleszczyński,Niemcywobec pierwszej monarchii piastowskiej (–). Narodzinystereotypu. Postrzeganie ucy- wilizacyjna klasyfikacja władców Polski iich kraju. Lublin ,passim; englische Ausgabe: The Birth of aStereotyp. Polish Rulers and their Country in German Writings c.  A.D.(East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, –,Bd. .). Leiden /Boston .  Ernst Eichler,Nochmals zu Thietmars Umgangmit slavischen Namen in seiner Chronik, in: Albrecht Greule /Matthias Springer (Hrsg.), Namen des Frühmittelalters als sprachliche Zeugnisse und als Geschichtsquellen. (Erg.bd. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. .) Berlin /New York , –.  Harry Bresslau (Hrsg.),Die WerkeWipos.(MGH SS rer.Germ. in usum schol., Bd. .) Hannover /Leipzig ²,NDHanover , ;Herimanni Augiensis chronicon a. –,in: GeorgHeinrich Pertz (Hrsg.),Scriptorum Tomus V. (MGH.) Hannover , –,hier , . 34 Eduard Mühle gentes Winulorum waren für ihn die vonder hamburg-bremischen Kirche zu missionierendenbeziehungsweise zu betreuenden Elb-und Ostseeslaven. Aus dieser Perspektive relativierte der Bremer Domherr auch die vonihm zitierten Ausführungen Einhards,dass die Sclavania die weiträumigsteLandschaft Ger- maniens sei, indem er die Zugehörigkeit Böhmens und Polens zu dieser Sclavania deutlich in Zweifel zog.¹¹⁰ Es ist kein Zufall, dass Sclavi seither nur noch in Quellen gehäuft begegnen, die – wie die Slavenchroniken Helmolds vonBosau (gest.1177)¹¹¹ und Arnolds vonLübeck (gest.1211/14)¹¹²,die Gesta Danorum des

 Bernhard Schmeidler (Hrsg.), Adam vonBremen, Hamburgische Kirchengeschichte. (MGH SS rer.Germ. in us.schol., Bd. .) Hannover/Leipzig ³,bes. , –; f.: Sclavania igitur, amplissimaGermaniae provintia aWinulis incolitur,qui olim dicti suntWandali; decies maior esse fertur quam nostraSaxonia, presertim si Boemiameteos, qui trans Oddaram sund, Polanos,quia nec habitu nec lingua discrepant, in partem adiecerisSclavaniae. Anders Volker Scior,Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den ChronikenAdams vonBremen, Helmolds vonBosau und Arnolds vonLübeck. (Orbis mediaevalis,Bd. .) Berlin , –,der ausder zitierten und anderen Stellen ableitet, „dass die Sclavi in Adams Vorstellung eine Einheit bilden“ bezie- hungsweise „die Slawen[zusammenmit den Polenund Böhmen] als eine ethnische (…)Ge- meinschaft“ angesehen werden; ähnlich auch Rudolf Buchner,Die politische Vorstellungswelt Adams vonBremen, in: Archivfür Kulturgeschichte  (), –,bes. –; Johannes Nowak,Untersuchungenzum Gebrauch der Begriffe populus,gens und natio bei Adam von Bremen und Helmold vonBosau. Münster , –; Fraesdorff,Der barbarische Norden (wie Anm. ), –;  Bernhard Schmeidler (Hrsg.), Helmoldi presbyteri Bozoviensis chronica Slavorum. (MGH SS. rer.Germ. in us. schol, Bd. .) Hannover ³.Vgl. auch Nowak,Untersuchungen(wie Anm. ), –; Ilona Opelt,SlavenbeschimpfungeninHelmolds Chronik, in: Mittellatei- nisches Jahrbuch  (), –; Fraesdorff,Der barbarischeNorden (wie Anm. ), – , f.; Scior,Das Eigene (wie Anm. ), –; Paul Görlich,Zur Fragedes National- bewusstseins in ostdeutschen Quellen des .bis .Jahrhunderts. (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichteund Landeskunde Ost-Mitteleuropas,Bd. .) Marburg/Lahn , , , , nahm ausseinem älteren, volksgeschichtlichen Zugang an, dass Helmold mit populus Slavorum „die Gesamtheit der Slavenals politisch-stammliche Gemeinschaft“ bezeichnet und mit gens Slavorum „die Gesamtheit der slavischen Stämme, die slavische Volksgemeinschaft“ gemeint habe.Tatsächlich reflektiert Helmold in einer Art geo- und ethnographischen Einleitung, die in hohem Maße Adam vonBremen verpflichtet war,zuBeginn seiner Chronik de Slavorum provinciis, natura, moribus bzw. über die Slavorum nationes. Wenn er in diesem Zusammenhangneben den Elb-und Ostseeslavenauch die Rusʼ (Ruci), Polen (Poloni), Pruzzen (Pruzi), Böhmen (Boemi), Mährer (Marahi), Karantanen (Karinthi)und Sorben (Sorabi)zuden Slavorum nationes zählte, dann nur,umdie Reichweite der slavischen Sprache (Slavicae linguae)zuunterstreichen, und keineswegs, um all diese Gruppen – zu denen er im Übrigenauch die Ungaria zählte,weil diese nach Ansicht mancher (ut quidam volunt)weder durch Sitte noch Sprache (nec habitu nec lingua) vonder Slavania abwich – als eine ethnische Gemeinschaftzuerweisen; Schmeidler (Hrsg.), Helmoldi chronica, –. Die Slaven im Mittelalter 35

SaxoGrammaticus (gest.1220)¹¹³ oder die einschlägige urkundliche Überliefe- rung¹¹⁴ – in unmittelbarer Nachbarschaft und Berührung zu dieser Sclavania entstandensind. Auch diese Texte nahmen ausihrem missions- und siedlungs- geschichtlichen Expansionsinteresse heraus, das zumeist ein stereotyp-negatives Bild implizierte, ausschließlich die Elb-und Ostseeslaveninden Blick. Andernorts richteten ein Lampert vonHersfeld (gest.1081), Ekkehardvon Aura (gest.1125), Otto vonFreising(gest.1158), Rahewin (gest.1177), Otto vonSt. Blasien (gest. Anfang 13.Jh.) und andere ihre Aufmerksamkeit,sofern sie überhaupt nach Osten blickten, inzwischen eher aufdie politischen und geographischen Verhältnisse der Polen, Böhmen und der Rusʼ,der Kroaten, Serben, Ungarn und Bulgaren, während sie die Sclavi in der Regel nur noch in Zitaten und weiter zurückliegenden historischen Kontexten erwähnten, die sie älteren Werken entnahmen.¹¹⁵ Andere wiederum, wie der englische Gelehrte Gervasius vonTilbury (gest.1235), bezogen Sclavonia – wie al-Idrisi – nur noch aufdas kroatische Slavonien, während sie weiter nördlich Böhmen, Rusʼ,und Polen wahrnahmen.¹¹⁶ Der Sclavi-Begriff der lateinischen Quellen nahm mithin vom7.bis 13.Jahr- hunderteine ähnliche Entwicklungwie das byzantinische Sklabenoi-und das arabische Ṣaqāliba-Konzept.Gerieten anfangsnur vereinzelte, anonyme Sclavi an den Grenzen zunächst der byzantinischen, dann der eigenen fränkischen Welt in den Blick, so nahm man baldimEinzugsbereich der eigenen, nach Osten ge- richteten Machtexpansion namentlich bekanntegentile Verbändewahr.Sobald sich ausdiesen akephalen Gesellschaften großräumige,politisch gefestigte, christianisierte regna herausgebildet hatten, schieden diese ausdem Sclavi-

 GeorgHeinrich Pertz (Hrsg.), Arnoldi Chronica Slavorum. (MGH SS. rer.Germ. in us.schol, Bd. .) Hannover .Vgl. auch Scior,Das Eigene (wie Anm. ), –; Christian Lübke, Arnold vonLübeck und die Slaven, in: Stephan Freund /Bernd Schütte(Hrsg.),Die Chronik Arnolds vonLübeck. Neue Wege zu ihremVerständnis. Frankfurt/Main , –.  Karsten Friis-Jensen /Peter Zeeberg (Hrsg.), SaxoGrammaticus Gesta Danorum /Dan- markshistorien,  Bde. Kobenhavn ; Paul Grinder-Hansen,Die Slawen bei SaxoGrammaticus – Bemerkungen zu den Gesta Danorum, in: Ole Harck/Christian Lübke (Hrsg.),Zwischen Reric und Bornhöved. Die Beziehungen zwischen den Dänen und ihren slawischen Nachbarn vom .bis ins .Jahrhundert. (Forschungenzur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Bd. .) Stuttgart , –.  Vgl. beispielhaft Karl Jordan (Hrsg.),Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogsvon Sachsen und Bayern (MGH DD HL.) Leipzig ,Nr. , , , , f., .  Günter Cerwinka,Völkercharakteristiken in historiographischen Quellen der Salier-und Stauferzeit, in: HerwigEbner (Hrsg.),Festschrift Friedrich Hausmann. Graz , –;Thomas Förster,Vergleich und Identität.Selbst-und FremddeutungimNorden des hochmittelalterlichen Europa. (Europa im Mittelalter,Bd. .) Berlin ,bes. f., , –, .  Shelagh E. Banks /James W. Binns (Hrsg.), Gervase of Tilbury,Otia Imperialia/Recreation for an Emperor.Oxford , –, , . 36 Eduard Mühle

Konzept ausbeziehungsweise traten miteigenen Bezeichnungen diesem zur Seite, während Sclavi fortan primär aufdie weiterhin paganen Elb-und Ostseeslaven, das fortgesetzte Objekt sächsischer Missions- und Kolonisationsinteressen, oder aufeine einzelne Region (Slavonien) eingegrenzt wurde. DieserWandel schlug sich in groben Zügenauch in der zeitgenössischen Kartographie, den mappae mundi,nieder.¹¹⁷ Ihre ältesten Varianten, die Karte vonAlbi, die im 8. Jahrhundert Schriften des Orosius und Honorius illustrierteoder die spanischen und süd- französischenBeatus-Karten, die den Ende des 8. Jahrhunderts verfassten Apo- kalypse-Kommentar des Beatus vonLiébana begleiteten, zeigten östlich des Rheins, in der antiken Germania,noch nicht mehr als eine leere Fläche, die al- lenfalls in jüngeren Kartenversionenmit antiken Signaturen(Sarmatia, Tracia ubi Goti, Danubis, Dacia, Wandali)gefüllt wurde.¹¹⁸ Erst seitdem ausgehenden 10. bzw.11. Jahrhundertbeginnen die – insgesamt sehr konservativen, fast das ge- samte Mittelalter hindurch an ihren antiken Vorbildern hängenden – mappae mundi das östlicheEuropa genauer zu entdecken. Die Sclavi begegnen dabei zum ersten Mal, angesiedelt zwischen den Norwegern (Norweci)und Bulgaren (Bul- gari), aufeiner gegenEnde des 10., vielleicht aber auch erst im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts in Canterbury gemalten angelsächsischen Karte, der so ge- nannten Cottoniana.¹¹⁹ Um 1120verzeichnete die Sclavi unmittelbar östlich der rot

 von den Brincken,Mappa mundi (wie Anm. ), –; Dies.,Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent aufmittelalterlichen Weltkarten. (MGH Schriften, Bd. .) Hannover ; Jörg-GeerdArentzen,ImagoMundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt-und Ökumenekarten unterbesonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens vonText und Bild. (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. .) Münster ; BrigitteEnglisch,Ordoorbis terrae. Die Weltsicht in den ‚Mappae mundi‘ des frühen und hohen Mittelalters. (Orbis media- evalis,Bd. .) Berlin ; Peter Barber,Medieval Mapsofthe World, in: Paul D. Harvey (Hrsg.), The HerefordWorld Map. Medieval World Maps and their Context.London , –.Zum Bild Osteuropas/Euroasiens aufwesteuropäischen Karten des .–.Jahrhunderts: Anna-Dorothee von den Brincken,Ost-und Südosteuropa in der abendländischen Kartographie des Spätmittelalters, in: Revue des Études Sud-Est-Européennes  (), –; Dies.,Bulgarien im allgemeinen Geschichtsbewusstsein des Abendlandes im Mittelalter,in: Mitteilungendes Bulgarischen For- schungsinstituts in Österreich / (), –; Leonid SergeevičČekin,Kartografija christi- anskogosrednevekov’ja VIII-XIII vv.(Drevnejšie istočniki po istorii Vostočnoj Evropy.) Moskva ;engl. Ausgabe: Leonid S. Chekin,NorthernEurasia in Medieval Cartography.Inventory,Text, Translation, and Commentary. (Terrarum orbis,Bd. .) Turnhout .  Ingrid Baumgärtner,Graphische Gestalt und Signifikanz. Europa in den Weltkarten des Beatus vonLiébana und des Ranulf Higden, in: Dies. /Hartmut Kugler(Hrsg.),Europa im Weltbild des Mittelalters. KartographischeKonzepte. (Orbis mediaevalis,Bd. .) Berlin , –, bes. –; Englisch,Ordo(wie Anm ), –.  Konrad Miller (Hrsg.),Die kleinen Weltkarten. (Die ältestenWeltkarten, Heft .) Stuttgart , –; Englisch,Ordo(wie Anm. ), –; von den Brincken,Fines (wie Anm. ), f.; Chekin,Northern Eurasia (wie Anm. ), –. Die Slaven im Mittelalter 37 hervorgehobenen Reichsgrenze auch die Europakarte des Lambert vonSt. Omer (gest.1125).¹²⁰ Im 13.Jahrhundert kannte dann die Weltkarte des Matthäus von Paris (gest.nach 1259) keine Sclavi oder Sclavia mehr,dafür nun aber die Polonia und die Boemia¹²¹,während andere mappae mundi des 12.–13.Jahrhundert,sodie Heinrich vonMainz (gest.1153) zugeschriebene Sawley-Karte oder die Klimaten- kartedes John of Wallingford(gest.1258), die Russia und Ungaria zeigten.¹²² Eine vergleichsweisesehr detaillierte Vorstellung vomöstlichen Europa und seinen Teilregionen haben dannum1300 die berühmten Großkarten vonHereford und Ebstorf geboten. Aufihnen begegnenfür das östliche Europa neben anachro- nistischen, antiken Namen fast alle wichtigenzeitgenössisch-aktuellen Bezeich- nungen (Pomorani, Poloni(a), Pruscia, Saneland, Boemia, (H)Ungari(a), Rusia, Fluvius Fistula (Weichsel) Fluvius Cidera (Oder), Braga (Prag). Daneben verortete die Hereford-Karte zum einen gentes Sclavorum im Gebiet östlich der Elbe,das sie in antiker Tradition auch noch als Germania superior bezeichnete,zum anderen Sclavi zwischen den Ungarn und Bulgaren.¹²³ Sie scheint mithin exakt das dop- pelte, einerseits aufdie Elb-und Ostseeslaven, andererseits aufdas kroatische Slavonien bezogene Sclavi-Verständnis der zeitgenössischen Schriftquellen zu reflektieren.

 Vgl. Umschlagabbildung; Miller (Hrsg.),Die kleinen Weltkarten (wie Anm. ), –; Anna-Dorothee von den Brincken,Europa in der Kartographie des Mittelalters, in: Archivfür Kulturgeschichte  (), –,bes. –; Dies.,Fines (wie Anm. ), –; Hartmut Kugler,Europa pars quarta. Der Teil und das Ganze im ‚Liber floridus‘,in: Baumgärtner / Kugler (Hrsg.), Europa (wie Anm. ), –.  Miller (Hrsg.), Die kleinen Weltkarten (wie Anm. ), –; von den Brincken,Fines (wie Anm. ), –.  Miller (Hrsg.),Die kleinen Weltkarten (wie Anm. ), –; Paul D. A. Harvey,The Sawley Map and Other world Maps in Twelfth-Century England, in: Imago mundi  (), – Anna- Dorothee von den Brincken,Die Klimatenkarte in der Chronik des Johann vonWallingford – ein Werk des Matthaeus Parisiensis?, in: Westfalen  (), –; Dies.,Fines (wie Anm. ), f., –.Ungarn (Hungaria)und die Rusʼ (Ruscite)sowie östlich vonihr eine Slavenia occidentalis verzeichnete im .Jahrhundertauch die Londoner Psalterkarte, derenauf der Rückseite ‚geschriebeneVersion‘ für das östliche Europa an zeitgenössischenTermini allerdings nur Bulgaria bietet; Miller (Hrsg.),Die kleinen Weltkarten (wie Anm. ), –; von den Brincken,Fines(wie Anm. ), –; Bruno Reudenbach,Die Londoner Psalterkarte und ihre Rückseite. Ökumenekarten als Psalterillustration, in: Frühmittelalterliche Studien  (), –.  Scott D. Westrem,The Hereford Map.ATranscriptionand Translation of the Legends with Commentary. (Terrarum orbis, Bd. .) Turnhout ,Map section  und  a, –, – , –; Konrad Miller (Hrsg.), Die Herefordkarte. (Die ältesten Weltkarten, Heft .) Stuttgart ,bes. f.; von den Brincken,Fines (wie Anm. ), –. 38 Eduard Mühle

Auch die mit 2345 Text-und Bildeinträgen ausgesprochen detaillierte Ebstorf- Karte, die größte bekanntemittelalterlicheWeltkarte überhaupt,verzeichnete Sclavi an zwei verschiedenen Stellen.¹²⁴ Dabei dürfteder erste, vielleicht durch Isidor vonSevilla inspirierte Eintrag (Tracia Sarmatie,Ebrum fl[uvius], Barbarorum gentes XIIII Slavorum)¹²⁵ die frühmittelalterlichen Sklabenoi im Umfeld der by- zantinischen Nordgrenze im Augegehabt haben, während die zweite, bei Adam vonBremen entlehnte, nur fragmentarisch erhaltene Legende ([populi Sl]avorum, qui suntaboriente […]bo[…]hincPommeranos […]Ungaros […])wohl histori- sierend vonden Mährern als Nachbarn der Ungari, Boemi, Poloni und Pomorani sprach.¹²⁶ Auch im Ebstorfer Kartenbild trat also die hochmittelalterlicheAus- differenzierung des östlichen Europa in nationes bei gleichzeitigerEingrenzung des Sclavi-Begriffs aufeinen engeren, in diesem Fall historischen Teilverband hervor.

 Hartmut Kugler (Hrsg.),Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zweiBänden. Bd. :Atlas. Berlin , –;Bd. :Untersuchungenund Kommentar.Berlin , – , –.Eine digitale, vomInstitut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien der Leuphana Universität Lüneburgrealisierte Edition mit Hypertext-Transkriptionen und Übersetzungen nach der Kugler-Edition unterhttp://www.leuphana.de/ebskart (abgerufen am ..); Konrad Miller (Hrsg.), Die Ebstorfkarte. (Die ältestenWeltkarten, Heft )Stuttgart ,bes. f.; von den Brincken,Fines (wie Anm. ), –; JerzyStrzelczyk,Der Prozess der Aktualisierung Polens und Osteuropas im Verständnis der gelehrten Kreise des .Jahrhunderts (mit besonderer Be- rücksichtigung der Otia imperialiades Gervasius vonTilbury und der Ebstorfer Weltkarte), in: Hartmut Kugler(Hrsg.), Ein Weltbild vorColumbus.Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium .Weinheim , –,hier , ; JürgenWilke,Die Ebstorfer Welt- karte. .Textbd. (Veröffentlichungendes Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. .) Bielefeld .  Wallace M. Lindsay (Hrsg.), Isidori Hispalensisepiscopi Etymologarium sive originum libri XX.Oxford , : Ebrum fluvium Thracia fundit, qui etiam gentes barbarorum plurimastangit.  Schmeidler (Hrsg.),Adam vonBremen (wie Anm. ), : Marahi suntpopuli Sclavorum, qui suntaboriente Behemorum,habentque in circuitu hinc Pomeranos et Polanos,inde Ungros.]. V

Mit Sklabenoi, Ṣaqāliba und Sclavi haben die früh- und hochmittelalterlichen byzantinischen, arabischen und lateinischen Quellen – wie deutlich geworden sein dürfte – zu keinem Zeitpunkteine ethnisch oder politisch-sozial definierte Großgemeinschaft im Sinne von „die Slaven“ im Augegehabt.¹²⁷ Sie haben mit diesen Begriffen vielmehr auseiner jeweils ganz unterschiedlichen, eigenen Perspektive und immer nur für unterschiedliche Teilregionen des östlichen Eu- ropa sehr verschiedene, größereoder kleinere Gruppen und Verbände erfasst,die sie durch ihre Benennung vorallem als etwas Fremdes,zumeistBedrohliches markierten. Wenn bei Jordanes im 6. Jahrhundert Venethi, Antes, Sclaveni als ab una stirpe exorti angesehen, bei al-Masudi im 10.Jahrhundert neben westslavi- schen Verbänden auch Ostfranken und Ungarn als Ṣaqāliba bezeichnetoder bei Helmold im 12.Jahrhundertauch Ungarn und Pruzzen zur Slavania gezählt wer- den,wird deutlich, dass das entscheidende Element,das die Sclavi als das Fremde vomEigenen abgrenzte, nichtunbedingt die Verwandtschaft der slavischen

 Auch hebräische Quellen bieten seit dem .Jahrhundertgelegentlich einschlägige Nachrichten. So führt eine in der ersten Hälfte des .Jahrhunderts in Süditalien vorgenom- mene hebräische Überarbeitungder Werkedes Flavius Josephus,das Sefer Yosippon oder Sefer ( אלקס יב /Josef ben Gorion,inseiner biblischen Völkerliste als Nachkommen Jafets Slaven(Saqlabi /Sorben/Serben (Surbin ,(כ אור יט /Kroaten (Kroati ,( רומ אוא /auf, zu denen es die Mährer (Morava Böhmen ,( רכארכ /Krakauer (Kraker ,( יל י יכ ן /Lechiten/Polen (Liicin ,( צול ןינ /Lučane (Luzanin ,( רוס יב ןי -zählt; David Flusser (Hrsg.), Sefer Yosippon, Bd. .Jerusalem , f. (hebrä( וב י ימ ן /Boimin) isch); Gustav Flusser,Zpráva oSlovanech vhebrejskékronice zX.století, in: Český Časopis Historický – (/), –, –; Lewicki, Źrodłaarabskie ihebrajskie (wie Anm. ), , .Inder berühmten Korrespondenz des spanisch-jüdischen Arztes Ḥasdayibn Šaprut (gest. )mit dem Kagander Chazaren ist voneinem Melek ha-gebalim bzw. alṣaklab (einem König der Gebalim bzw. der Ṣaqāliba) die Rede; Pavel K. Kokovcov (Hrsg.),Evrejsko- ,Andreas Kaplony;לך בגה אלקצלאםהשםילםב :chazarskaja perepiska vXveke.Leningrad ,  Routen, Anschlussrouten, HandelshorizonteimBrief von Ḥasdai ibn Shaprut († )anden chazarischen König,in: Peter Chavrát /JiříProsecký (Hrsg.), Ibrahim ibn Ya’qub at-Tartushi: Christianity, Islam and Judaism meet in East-Central Europe. Praha , –,hier f.; Saskia Dönitz,Überlieferung und Rezeption des Sefer Yosippon. (Texts and Studies in Medieval and EarlyModern Judaism, Bd. .) Tübingen ,bes. –.Inwest-und mitteleuropäi- schen Bibel- und Talmudkommentaren, Responsenund Gebeten des ./.–.Jahrhunderts werden die slavische Sprache bzw. slavischsprachigeGruppen zumeist mit dem biblischen Begriff kena’an bezeichnet, der gleichwohl – ähnlich wie das arabische Ṣaqāliba aber nicht nur slavischsprachige,sondern auch andereosteuropäische Bevölkerungsgruppen bezeichnen konnte; Franciszek Kupfer /Tadeusz Lewicki (Hrsg.), Źrodłahebrajskie do dziejów słowian i niektórych innychludów środkowej iwschodniej Europy.Wrocław /Warszawa ,passim; Lewicki, Źrodłaarabskie ihebrajskie (wie Anm. ), –. 40 EduardMühle

Sprachen war.Dass große Teile der im östlichen Europa anzutreffenden Menschen eine Sprache sprachen, die über weiteRäume hinwegals ähnlich, ja als gleich, in jedem Fall als verwandt erkannt wurde, hat die Verwendbarkeit von Sklabenoi, Ṣaqāliba und Sclavi gewisserheblich gesteigert.Dennochmarkiertendiese Be- nennungen wohl wenigereine bloße sprachliche Differenz, als vielmehr den so- zio-kulturellen Abstand, in dem das – pagane, gentile, politisch unkonsolidierte, Unruhe stiftende – Fremde dem Eigenen gegenüber wahrgenommen wurde.¹²⁸ Das galtmutatis mutandis auch noch im veränderten Kontext der hoch-bis spätmit- telalterlichen Germania-Slavica, denn auch die christianisierten, im Rahmen des Landesausbaus in die ostmitteleuropäischenTerritorialherrschaften integrierten Sclavi/Wenden blieben – ähnlich wie zuvordie in die karolingischen oder otto- nischenGrundherrschaften einbezogenen Sclavi der entsprechenden Urkunden – der sozial und politisch schwächergestellte und in Konflikt- und Krisensituatio- nen auch aktivstereotypisierte Bevölkerungsteil.¹²⁹

 Vgl. auch Steinacher,Wenden (wie Anm. ), –.  Winfried Schich,Zum Ausschluß der Wenden ausden Zünftennord- und ostdeutscherStädte im späten Mittelalter,in: Antoni Czacharowski (Hrsg.), Nationale, etnische und regionale Iden- titäten in Mittelalter und Neuzeit.Toruń , –; PetraWeigel,Slawen und Deutsche. Ethnische Wahrnehmungen und Deutungsmuster in der hoch- und spätmittelalterlichen Ger- mania Slavica, in: Enno Bünz (Hrsg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen.Die Kührener Urkunde von  und ihr historisches Umfeld. Leipzig , –. VI

Auch die indigenen osteuropäischen Quellen haben mit dem Sclavi-Begriff zu- nächstkeinerlei Vorstellungenvon einerslavischen Gemeinschaft oder einer ge- meinsamen Abstammung verbunden.Die vorEnde des 9. Jahrhunderts entstan- denen altkirchenslavischen Viten des Konstantin/Kyrill und Method verwendeten „slavisch“ (словєньскы боукви / кнгиы словѣньскыи / кнѧзь словѣньскъ) beziehungsweise „Slaven“ (словѣни)zur sprachlichen Differenzierungder mis- sionierten Mährer und pannonischenUntertanen des Kocel¹³⁰,während die böhmischen Wenzels- und Ludmila-Legenden des ausgehenden 10., frühen 11. Jahrhunderts Sclavi lediglich in historischem Kontext zur Bezeichnung mäh- rischer und böhmischer Teilgebiete gebrauchten.¹³¹ Cosmas vonPragsprach zu Beginn des 12.Jahrhunderts wiederum von lingua slavonica und verwendete Sclavi gelegentlich als Synonymfür Boemi – und dies bezeichnenderweise in Konflikt- situationen mit den Deutschen (Teutonici), vondenen er berichtete, dass sie in ihrem Hochmut beständig die Sclavi [sprich: Böhmen] und ihre Sprache verach- teten ([…]innatam Teutonicissuperbiam et, quod semper tumido fastu habeant despectuiSclavos et eorum linguam).¹³² In Polenzitierte der erste, anonyme Chronist der Piasten um 1113/16einleitend zwar einen geographischen, den Adalbertsviten entlehnten Sclavonia-Begriff, handelteansonstenaberaus- schließlich vonder polnisch-piastischen Geschichte bzw. den Poloni,ohne weiter

 Žitije Konstantina, in: Dagmar Bartoňková u.a. (Hrsg.),Textus biographici, hagiographici, liturgici. (Magnae Maraviae Fontes Historici, Bd. .) Brno , –,hier , f.; Žitije Mefodija, in: ebd. –,hier f., .  Život sv.Ludmily, in: Josef Emler (Hrsg.),Vitae sanctorum et aliorum quorundam pietate insignium. (FontesrerumBohemicarum,Bd. .) Prag , –,hier ;Křištanův Život sv.Ludmilyisv.Václava, in: ebd., –,hier , , ;zur Quelle vgl. auch Marina Paramonova,Familienkonflikt und Brudermordinder Wenzel-Hagiographie. ZweiModelle des Martyriums,in: Michael Borgolte (Hrsg.),Das europäische Mittelalter im Spannungsbogendes Vergleichs.Zwanziginternationale BeiträgezuPraxis,Problemen und Perspektivender histori- schen Komparatistik. (EuropaimMittelalter,Bd. .) Berlin , –,bes. –.  Berthold Bretholz (Hrsg.), Die Chronik der Böhmen des Cosmas vonPrag. (MGH SS rer.Germ. N.S., Bd. .) Berlin , , , , , , ;das Zitat ;zuCosmasʼ Selbst-und Fremdbild vgl. auch Anna Aurast,Wir und die Anderen. Identität im Widerspruch bei Cosmas vonPrag, in: Felicitas Schmieder (Hrsg.),Produktive Kulturkonflikte. Berlin , –; Dies.‚Nachbarn‘ als Fremde? ‚Nationale’ Abgrenzunginder Vorstellungswelt vonGallus Anonymus und Cosmas von Prag,in: JürgenSarnowsky (Hrsg.), Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters. Göttingen , –,bes. –. 42 EduardMühle aufden Begriff Sclavi zurückzugreifen.¹³³ Auch dem acht Jahrzehnte später schreibenden Krakauer Magister Vincentius ging es ausschließlich um die Polen und ihre, in diesem Fall bis in die Antike zurückgeführte Geschichte.Wenn er dabei ein einziges Mal vonder Sclavia sprach, war damit nicht etwa eine ethnische Großgemeinschaft gemeint,sondern in antikisierender Personifizierung lediglich die Vorrangstellung der Polen innerhalb der zeitgenössischen slavischsprachigen Welt hervorgehoben.¹³⁴ Immerhindeutetesich hier eine zeitgenössischeInstru- mentalisierung des Sclavi/Slavia-Konzepts für politisch-dynastische Zweckean, die andernorts – in der Rusʼ – bereits zu Beginn des 12.Jahrhunderts, später,im13. und 14.Jahrhundertdann auch in Polenund in Böhmen eingesetzt wurde. Die um 1115 zusammengestellteälteste Chronik der Kiever Rusʼ,die Povest’ vremennych let,führtedie Geschichte der Sloveni (словѣни)inihrer ethnogra- phischen Einleitung ganz im Sinne der verbreiteten origo gentis-Vorstellungen bis aufbiblische Zeitenzurück.¹³⁵ Dabeitrieb sie keineswegs die Fragenach den Ursprüngender Slaven, sondern die Fragenach den Anfängen des rusʼischen Landesum.¹³⁶ Diesem sollteein möglichst alter Stammbaum zugeschrieben werden. Zu diesem Zweck verband die Chronik die Geschichte vomTurmbauzu

 KarolMaleczyński (Hrsg.),Galli Anonymi cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum. (Monumenta Poloniae Historica NS, Bd. .) Krakau ,bes. f., ;zum geographischen Konzeptdes Gallus EduardMühle,Władza iprzestrzeń wPolsce wczesnopiastowskiej.O przestrzennymkonstruowaniu władzy uGalla Anonima, in: Waldemar Bukowski /TomaszJurek (Hrsg.), NarodzinyRzeczpospolitej.Studia zdziejów średniowiecza iczasów wczesnonowożyt- nych. Kraków , –;zur Quelle: Ders.,Cronicae et gesta ducum sive principiumPo- lonorum. Neue Forschungenzum so genannten Gallus Anonymus,in: DeutschesArchivzur Er- forschungdes Mittelalters  (), –.  Marian Plezia (Hrsg.), Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum. (Monumenta Poloniae Historica. NovaSeries,Bd. .) Kraków ; EduardMühle (Hrsg.),Die Chronik der Polendes Magisters Vincentius/Magistri Vincentii Chronica Polonorum. (Ausgewählte Quellen zur Geschichtedes Mittelalter,Bd. .) Darmstadt , ;vgl. auch František Graus,Die Natio- nenbildung der Westslawen im Mittelalter.(Nationes. Historische und philologische Untersu- chungenzur Entstehungder europäischen Nationen im Mittelalter,Bd. .) Sigmaringen , .  Vgl. Arnold Angenendt,Der eine Adam und die vielen Stämme. Idee und Wirklichkeit der Origogentis im Mittelalter,in: Peter Wunderli (Hrsg.),Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation.Sigmaringen , –,bes. –; Alheydis Plass- mann,Origogentis.Identitäts-und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Her- kunftserzählungen. (Orbis mediaevalis,Bd. .) Berlin ,bes. –.  Dies im Titel so klar benannt: „Dies sind die Erzählungen vonden Anfangsjahren,woher das rusʼische Land kam[und] werinKiev als ersterzuherrschen begann“, Lichačev (Hrsg.),Povest’ (wie Anm. ), ;zur Quelle auch Ilina Tschekova,Genese und kommunikative Funktion der altrussischen Nestorchronik, in: Erik Kooper (Hrsg.),The Medieval Chronicle II. Proceedingsofthe nd International Conferenceonthe Medieval Chronicle Driebergen/Utrecht – July . Amsterdam /New York , –. Die Slaven im Mittelalter 43

Babel, die sie direkt oder vermitteltbyzantinischen Quellen, insbesondere dem Chronikon des Georgios Monachos (Hamartalos) entnahm¹³⁷,mit einerspezifi- schen Migrationsgeschichte der Sloveni: Nach der babylonischen Sprachverwir- rung seider jazyk’ slověnec’ (языкъсловѣнесъ), d.h. die slavische Sprache bzw. das slavische Volk – beide Varianten der Übersetzungdes altkirchenslavischen языкъ sind möglich – eine der neuen 72 Sprach(gemeinschaft)en gewesen.¹³⁸ Im Anteil Jafets hätten sich die Sloveni „an der Donauniedergelassen, wo jetzt das Ungarische Land ist und das Bulgarische.“ Vondort aushättensie sich – von rätselhaftenVolochen (Волохи)bedrängt –„über die Erde“ ausgebreitet und „mit eigenen Namen“ benannt,jenachdem „wo sie siedelten, an welchen Orten.“ So sei es zu den BezeichnungenMährer (Морава), Böhmen (Чеси), Kroaten (Хровате), Serben (Серебь), Karantanen (Хорутане), Polen (Ляхове), aber auch zur Be- nennung slavischer Verbändeinnerhalb der Kiever Rus’,nämlich der Poljanen (Поляне), Derevljanen (Древляне), Dregovičen (Дреговичи), Poločanen (Поло- чане)Severanen (Сѣвръ)und der am Ilmensee siedelnden Slovenen (словѣни) gekommen.¹³⁹ Im chronologischen Teil der Povest’ begegnet die gleiche Ge- schichte zum Jahr 6406 (= 898) noch einmal in einer Kurzversion. Diese lässt die herrschaftslegitimierende Stoßrichtung der Erzählungbereits deutlicher hervor- treten. Denn zum einen verband sie den языкъ словѣнесъ – die slavische Sprache/ das slavische Volk – nun explizit mit der Rus’,zum anderen mit der Heiligen Schrift.Für die Rus’,sodie Chronik, „wurden zuerst die Bücher [= die Hl. Schrift], [und zwar]inMähren, übersetzt,die [auch] ‚slavische Schrift‘ genannt wird, die auch in der Rusʼ und bei den Donaubulgaren die [gültige]Schrift ist.“¹⁴⁰ Ganz augenscheinlich sollte die Legende vonder pannonischen ‚Urheimat‘ und der von dort ausgegangenen Ausbreitung des языкъ словѣнесъ bzw.der словѣни bis in die unterschiedlichen Gebiete der Kiever Rusʼ hinein diese an die älteren christlichen Herrschaftsbildungender Bulgaren und Mährer sowie deren Missionsgeschichte

 Vasilij M. Istrin (Hrsg.), Knigy vremennaja iobraznaja Georgija Mniha. ChronikaGeorgij Amartola vdrevnem slavjanorusskom perevode. Petrograd ,NDMünchen .  Lichačev (Hrsg.), Povest’ (wie Anm. ), –.  Deutsch zitiert nach Ludolf Müller (Hrsg.),Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor,inder Redaktiondes AbtesSil’vestr ausdem Jahre ,rekonstruiertnach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja. (Handbuch zur Nestorchronik, Bd. .) München , f.  Lichačev (Hrsg.), Povest’ (wie Anm. ), : яже нынѣ зовомая Рус. Симъ бо первое пре- ложены книги, моравѣ, яже прозвася грамота словѣньская, яже грамота есть вРуси ив болгарѣх дунайсихъ;eigene Übersetzung,vgl. aber Müller (Hrsg.), Die Nestorchronik (wie Anm. ),  und ReinholdTrautmann (Hrsg.),Die altrussische NestorchronikPovest’ vre- mnennychlet.(Slavische-baltische Quellen und Forschungen, Bd. .) Berlin , . 44 EduardMühle anschließen. Aufdiese Weisekonnten das rusʼische Land als uralter Teilhaber der christlichen Heilsgeschichte, der aktuelle Kiever Großfürst Vladimir Monomach (gest.1125) als legitimer Senior der herrschenden Rjurikiden und die Rusʼ als eine im Konzert der zeitgenössischen politischen Kräfte ebenbürtigeMacht erwiesen werden.¹⁴¹ Dass der Chronist dabei aufmündlich überlieferte Erinnerungen an tatsächliche slavische Wandervorgänge zurückgegriffen hat,erscheint ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass seine Geschichte ein ethnisch-ge- samtslavisches Selbstbewusstsein ausdrücken wollte. Hier kamallenfalls ein Bewusstsein vonjener sprachlich-kulturellen Verbindungzum Ausdruck, die in der kyrillo-methodianischen Tradition der slavischen Liturgiesprache verankert war.Die ‚Herkunfts- und Wanderlegende‘ der Povest’ dürftealsonichts anderes als eine vonbiblischen Bildern inspirierte gelehrte Erfindunggewesen sein¹⁴²,wie sie in zahllosen Varianten der biblischen origo gentis auch andernorts begegnet und wohl auch hinter jenen älteren Andeutungeneinervermeintlichen slavischen ‚Urheimat‘ oder ‚Urgemeinschaft‘ vermutet werden darf, die bei Jordanes,dem Kosmographen vonRavenna, dem BayrischenGeographen, al-Masʼūdī und KonstantinPorphyrogennetos begegnen.¹⁴³ Ähnliche geschichtspolitische Absichten,wie sie die slavische Herkunfts- und Wandersageder Povest’ motiviert haben, wurden seitdem letzten Viertel des 13.Jahrhunderts auch in böhmischen und polnischenTexten verfolgt.Soappel- lierte ein dem Prager Notar Heinrich vonIsernia (gest.nach 1278)zugeschriebenes Manifest Přemysl Otakars II. 1278 an die Bluts- und Sprachverwandschaft der Böhmen und Polen, um die piastischen Herzöge sowie die schlesischen und böhmischen Adligen für den gemeinsamen Kampf gegenKönig Rudolf I. zu ge-

 Vgl. Arno Borst,Der Turmbauvon Babel. Geschichteder Meinungenüber Ursprungund Vielfalt der Sprachen und Völker. Bd. :Fundamenteund Aufbau. Stuttgart , –; Bd. :Ausbau. Stuttgart , –; Alexander Rukavishnikov,Tale of Bygone Years: the Russian Primary Chronicle as afamilychronicle, in: EarlyMedieval Europe / (), –; Oleksiy P. Tolochko,The Primary Chronicle’s ‚Ethnography‘ Revisited: Slavs and Varangians in the Middle Dniepr Region and the Origin of the Rus’ State, in: Ildar H. Garipzanov /Patrick J. Geary / Przemysław Urbańczyk(Hrsg.),Franks,Northmen,and Slavs. Identities and StateFormation in EarlyMedieval Europe. (Cursor Mundi, Bd. .) Turnhout , –,bes. –; Elena Melnikova,Mental Maps of the Old Russian chronicle-writer of the earlytwelth century,in: Line Bjerg/John H. Lind /SorenM.Sindbaek (Hrsg.),From Goths to Varangians.Communication and Cultural Exchange between the Baltic and the Black Sea. (Black Sea Studies,Bd. .) Aarhus , –,bes. –.  Zumbiblischen Hintergrund der Povest’ ausführlich Igor’ N. Danilevskij,Povest’ vremennych let.Germenevtičeskie osnovy istočnikovedenija letopisnychtekstov,Moskva .  Vgl. Gerard Labuda,Okres ’współnoty’ słowiańskiej w świetle źródeł itradycji historycznej, in: Slavia Antiqua  (), –. Die Slaven im Mittelalter 45 winnen.¹⁴⁴ Warhier noch nicht voneiner slavischen Gemeinschaft die Rede¹⁴⁵,so führte das im ersten Drittel des 14.Jahrhunderts im Zisterzienserkloster Königssaal bei Prag verfasste Chronicon Aulae Regiae die Bereitschaft der polnischen Großen, den böhmischen König Wenzel II. (gest.1305)auch zu ihrem polnischen Königzu erheben,bereits ausdrücklich aufdie slavische Gemeinsamkeit zurück.¹⁴⁶ Die Geschichtspolitik Karls IV.(gest.1378) hat diese Art vonPropaganda dann weiter verfeinert und die ‚slavische Idee‘ systematischer – wenn auch im Ergebnis tat- sächlich wenig wirkmächtig – als legitimitätsstiftendes Instrumenteingesetzt.Das geschah zum einen durch eine besondere Förderungdes römisch-glagolitischen Kirchenritus und des Kultes des Heiligen Hieronymusals dessen vermeindlichem Urheber;¹⁴⁷ zum anderen mit Hilfe der offiziellen Hofgeschichtsschreibung.¹⁴⁸ Sowohl die 1355–1358 als königliches Auftragswerk entstandene Cronica Bo-

 O(ttacarus),rex Boh. auxilium exposcitaducibus Poloniae, in: Josef Emler (Hrsg.),Regesta diplomaticanecon epistolaria Bohemiae et Moraviae, Bd. .Prag , –: nobis magisest conformis spaciose Polonie nacio et inter universas orbis provincias nostris (…)regionibus eadem cuiusdam proprietate similitudinis magis eciam est affinis;ipsa enim in lingue consonancia nobis convenit: ipsa proxima loci contiguitate, nullius interiecta distancie spacio,terris nostris coniungitur: ipsa et unione glutinatur sanguinis,etaffinitatis nobis connectitur vinculo.  Vgl. Roman Heck,Poczucie współnoty słowiańskiej wczesko-polskich stosunkach polit- ycznychwśredniowieczu, in: Zpolskich studiów slawistycznych. Seria :Historia. Prace na VI międzynarodowy kongres slawistów wPradze .Warszawa , –,hier f.; Feliks Grabski,Poczucie jedności słowiańskiej a świadomość narodowościowa wPolsce śred- niowiecznej,in: ebd., –,hier ; Graus,Nationenbildung (wie Anm. ), f.; Jerzy Strzelczyk,Auf der Suche nach der nationalenIdentität im Mittelalter.Der Fall Polen, in: Borgolte (Hrsg.), Das europäische Mittelalter (wie Anm. ), –,hier .  Petra Žitavského Kronika Zrabslavská, in: Josef Emler (Hrsg.), Fontes rerum Boehmicarum, Bd. .Prag , : Convenientenim in rege et sub uno gaubebunt principe, qui non multum dissonant in idiomate Slauice lingwe. Nam qui idem lingwagium locuntur,plerumque amoris se arcioris nexibus complectuntur.  Graus,Nationenbildung (wie Anm. ), ; Julia Verkholantsev,St. Jerome, Apostle to the Slavs, and the Roman Slavonic Rite, in: Speculum  (), –,bes. –.  Vgl. MariaBláhová,Die Hofgeschichtsschreibungamböhmischen Herrscherhof im Mittel- alter,in: Rudolf Schieffer /Jarosław Wenta (Hrsg.),Die Hofgeschichtsschreibungimmittelalter- lichen Europa. (Subsidia Historiographica, Bd. .) Toruń , –,bes. –; Dies.,Zur Fälschungund Fiktion in der offiziellen Historiographie der Zeit Karls IV., in: Horst Fuhrmann (Hrsg.), FälschungenimMittelalter.Teil :Kongreßdaten und Festvorträge, Literatur und Fäl- schung. (MGH Schriften, Bd. ,.) Hannover , –,bes. ; Norbert Kersken,Ge- schichtsschreibung im Europa der ‚nationes‘.Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungenim Mittelealter.(Münstersche Historische Forschungen, Bd. .) Köln /Wien /Weimar , – ; Václav Žůrek,Godfrey of Viterbo and his Readers at the Court of Emperor Charles IV,in: Thomas Foerster(Hrsg.),Godfrey of Viterbo and his Readers.Imperial Tradition and Universal History in LateMedieval Europe. (Church, Faith and Culture in the Medieval West.) Farnham / Burlington , –. 46 Eduard Mühle emorum des Florentiners Johannes vonMarignola (gest.1358/59) als auch das 1374 vondem südböhmischen Adligen Přibíb Pulkava vonRadenín(gest.1380) ver- fasste gleichnamige Werk banden die böhmische Geschichte an eine bis aufbi- blischeZeiten zurückgeführte, selbst römische Kaiser als slavische Vorfahren beanspruchendeslavische Frühgeschichte zurück.¹⁴⁹ Damit solltenicht nur das Selbstbewusstsein der böhmischen Adelsgesellschaft gehoben, sondern vorallem der landfremde König als Sohn einer böhmischen Přemyslidin in die genealogi- sche Konstruktion einer slavischen, letztlich biblischen Abstammungsgemein- schaft eingeschrieben werden.¹⁵⁰ Auch Karls Zeitgenosse Kasimir III. (gest.1370) scheint das legitimitätsstif- tende Potential der ‚slavischen Idee‘ entdeckt zu haben. Jedenfalls stellte sein Unterkanzler Janvon Czarnków,einer der herausragenden politischen Köpfe seiner Zeit,die polnische Geschichte erstmalsbewusst in einen gesamtslavischen Zusammenhang.Dazu fügte er in der ihm zugeschriebenen Redaktion der Groß- polnischen Chronik¹⁵¹ der bereits zu Beginn des 14.Jahrhunderts in der Chronik des Krakauer Franziskaners Dzierzwa konstruierten biblisch-antiken Genealogie

 KronikaJana zMarignoly/Cronica Boemorum, in: Josef Emler (Hrsg.), Fontesrerum Bohe- micarum, Bd. .Prag , –,bes. : Helysa [= Sohn, recte: Enkel Jafets] enim, pater Sclauice gentis fuit, unde Sclaui quasi Helisani vel gloriosi dicuntur.(…)Quis ergo maior gloria domus Sclauice gentispotest esse, quam proles inclita illustrissime Elisabeth Karolus,Romanorumimpe- rator et semper augustus,heres Boemici regni?Nam si eiusdem generis et sa]n]gwinisfuerit maximus Dyoclecianus augustus et Maximimianus eius filius, Romani imperatoris.  Anders als die Chronik des Johannes vonMarignola leitete das zweite,von Karl IV.inAuftrag gegebene offizielle Geschichtswerk, die Chronik des Přibíb Pulkavavon Radenín, das Ethnonym Slouani vomslavischen Wort slovo (= Wort) ab: Ibi eciam unum ydioma slouanicum (…)sumpsit inicium, de quo gentes eiusdem ydiomatis Slouani suntvocati. In lingua enim eorum slowo verbum, slowaverba dicuntur,etsic averbo velverbis dicti ydiomatis vocatis Slouani. Zugleich führte Pulkava erstmals das Bild der beiden Brüder Czech und Lech als Symbol der slavischen Bruderschaft ein und akzentuierteBöhmen geographisch als Ausgangspunkt der weiteren Ausbreitung der mit- teleuropäischen Slaven, woraus gleichfalls zeitgenössischeVormachtansprüche abgeleitet wer- den konnten: Polonia, Russia et multis aliis ducatibus et terris (…)regno et corone Boemi subiecit; KronikaPulkova/Cronica Przibiconis dicti Pulkaua, in: Josef Emler (Hrsg.)Fontesrerum Bohe- micarum, Bd. .Prag , –,hier f., .  Die bis heutesehr kontroversen Positionen der polnischen Forschungzur Entstehungsge- schichteder Großpolnischen Chronik zuletzt ausführlich erörtert bei Wojciech Drelicharz,Idea zjednoczenia królestwa w średniowiecznymdziejopisarstwie polskim.Kraków , –; vgl. auch JerzyStrzelczyk,Westslawische Reminiszenzen der Großpolnischen Chronik, in: Wolf- gangJürries (Hrsg.),Beiträgezur Archäologie und GeschichteNordostniedersachsens.Berndt Wachterzum .Geburtstag.(Schriftenreihe des Heimatkundlichen Arbeitskreises Lüchow- Dannenberg, Bd. .) Lüchow , –,hier f.; Janusz Bieniak,Jan (Janek)von Czarnków.Unvollendete polnische Chronik ausdem .Jahrhundert,in: Quaestiones Medii Aevi Novae  (), –. Die Slaven im Mittelalter 47 der Polen¹⁵² einen Heros Eponymos namens Pan ein.Vondiesemetymologisch mit ‚Herr‘ bzw. ‚Herrscher‘ verknüpften Namen leiteteereine slavische Urheimat in Pannonien [sprich: Ungarn] ab.¹⁵³ Zugleich erweiterte er das Zwei-Brüder-Motiv der Pulkava-Chronik zu einem Drei-Brüder-Motiv, indem er neben Czech und Lech mit Ruseinen dritten Sohn des Pan vorstellte.Damit statteteJan vonCzarnkówdie drei zeitgenössischen ostmitteleuropäischen Königreiche – Ungarn, Böhmen, Polen – sowie die Rusʼ,deren westliche Teile (Halič-Wolhynien) Kasimir III. für das Königreich Polen erobert hatte – nicht nur mit einemaltehrwürdigen Stammbaum aus, sondern profiliertesie auch als die historisch maßgeblichen Mächte, aus denen pluraalia regna et dominia Slawonice nacionis excreverunt.¹⁵⁴ Wenn dabei den Polen explizit die Vorherrschaft zugeschrieben wurde,¹⁵⁵ so rührte das aus einer ähnlichengeschichtspolitischen Absicht,wie sie die Hofhistoriographen Karls IV.verfolgten – auch Kasimirs machtpolitisches, aufslavische Gebiete im Norden und Osten ausgerichtetes Expansionsprogramm bedurfteder Legitimati- onsstiftung.¹⁵⁶

 Krzysztof Pawłowski (Hrsg.),Chronica Dzirsvae /KronikaDzierzwy.(MPH NS, Bd. .) Kraków , –: Sciendum ergo est, quod Poloni de stirpe sunt Japheth,qui fuit filius Noe. Die hieran angeschlossene Genealogie ließ die Polen nicht nur vonNoah abstammen, sondern erklärtesie über die Einreihung des Aeneas auch zu Nachfahren der Trojaner.Inder weiterfolgenden Übersicht über die regiones et regna,die die Nachkommen Jafets bzw.des pater Polonorum Wandalus in Besitz genommen hätten, werdenimeinzelnen Russia, Polonia, Pomorania, Swecia, Cassubia, Sarnia, Bohemia, Moravia, Stiria, Carinthia, Carneola, Sclavonia, que nunc Dalmatcia dicitur,Chorvatia, Pannonia, Bulgaria genannt,nicht aber eine einheitliche Sclavia. Dennoch wird hier implizit die Vorstellungvermittelt,dass all diese Länder untereiner gewissen Führungder Polonia, die als maxima terraetmater bezeichnet wird, eine Einheit gebildet hätten; vgl. Brygida Kürbisówna,Kształtowanie się pojęć geograficznychosłowiańszczyźnie wpolskich kronikach przeddługoszowych, in: Slavia Antiqua  (/), –,hier f.; Jacek Banaszkiewicz, KronikaDzierzwy. XIV-wieczne kompendium historii ojczystej. Wrocław u.a. , –, – ; Kersken,Geschichtsschreibung (wie Anm. ), –.  Brygida Kürbis (Hrsg.), Chronica Poloniae Maioris /Kronika Wielkopolska. (MPH NS, Bd. .) Warszawa , : Scribitur enim in vetustissimis codicibus quod Pannonia sit mater et origo omnium Sclauonicarum nacionum, Panenim iuxta grecam et Sclauorum interpretacionem dicitur totum habens.  Kürbis (Hrsg.), Chronica Poloniae Maioris(wie Anm. ), .  Kürbis (Hrsg.), Chronica Poloniae Maioris (wie Anm. ), : apud Lechitasetdominium ac tocius superioritatis imperii, prout tam ex cronicis quam ex gadibus apperet, semper habebatur.  Brygida Kürbisówna,Studia nad Kroniką wielkopolską.Poznań , ; Dies.,Kształto- wanie (wie Anm. ), f., ; Grabski,Poczucie (wie Anm. ), –, ; Heck,Poczucie (wie Anm. ), f., ; Graus,Nationenbildung (wie Anm. ), f.; Kersken,Geschichts- schreibung (wie Anm. ), –. 48 EduardMühle

Karte4:Das östliche Europa um 1400 Die Slaven im Mittelalter 49

Auch die böhmischen und polnischen ‚slavischen Konzeptionen‘ des 13.und 14.Jahrhunderts, deren zeitgenössischeWirkungletztlich gering blieb,¹⁵⁷ können schwerlich als Beleg für ein uraltes-primordiales oder erst im Mittelalter ausge- formtes gesamtslavisches Bewusstsein angesehen werden. Sie stellten nicht mehr als künstlich produzierte, gelehrte Konstrukte dar, die in einerkonkreten politi- schen Situationeine ganz bestimmtegeschichtspolitische, Legitimität stiftende und politische Allianzen fördernde Funktion zu erfüllen hatten. Damit aber standen sie neuzeitlichen panslavischen Konzepten und deren Instrumentali- sierungen bereits weitaus näherals der mittelalterlichen Wirklichkeit der sla- vischsprachigen Lebenswelten. Wiediese jenseits der Sklabenoi-, Ṣaqāliba -, und Sclavi-Konzepte der by- zantinischen, arabischenund lateinischen Quellen des 6.–14.Jahrhunderts konkret aussahen, konntehier nur angedeutet,nicht aber detailliert ausgeführt werden. Das ist eine neue, umfangreiche Aufgabe, für die – das sollten die vor- stehenden Ausführungen gezeigt haben – ein pauschaler,undifferenzierter Sla- ven-Begriff kaum ein zureichendes heuristisches Instrument darstellen kann. Selbst im frühen Mittelalter haben slavischsprachigeVerbändekeine ethnisch einheitlichen Gruppen gebildet,vielleicht nicht einmal ein Bewusstseinder Zu- sammengehörigkeit besessen.¹⁵⁸ Eine gesamtslavische – ethnische oder auch nur kulturelle – Einheit haben sie, mögen die Archäologen auch glauben, eine ganz Osteuropa überspannende ‚slavische materielle Kultur‘ nachweisen zu können¹⁵⁹,

 Vgl. auch Andrzej Janeczek, Świadomość wspólnotysłowiańskiej wpełnymipóźnym śred- niowieczu, in: Krzysztof A. Makowski /MonikaSaczyńska(Hrsg.), Słowianie.Idea irzeczywistość. Poznań , –,bes. f.; MonikaSaczyńska,Czy istnieli Słowianie wpóźnym śred- niowieczu?Uwagi na podstawie lektury Roczników Jana Długosza, in: ebd., –.  Walter Pohl,Die Awaren und ihre Beziehungenzuden Slawen, in: Rajko Bratož (Hrsg.), Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antikeund Karolingischer Epoche. Anfänge der slowenischen Ethnogenese, Bd. .Ljubljana , –; Ders.,Die ethnische Wende (wie Anm. ); JerzyGassowski,The EarlySlavs – Nation or Religion?, in:Walter Pohl/Max Diesenberger (Hrsg.), Integration und Herrschaft.Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmit- telalter.(Denkschriften.Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Bd. .) Wien , –; Sebastian Brather,Ethnische Identitäten ausarchäolo- gischer Perspektive,in: Stefan Zimmer (Hrsg.), Kelten am Rhein. Akten des dreizehntenInter- nationalenKeltologiekongresses.(Beihefteder Bonner Jahrbücher,Bd. .) Mainz , –, hier f.; Michael Borgolte,Mythos Völkerwanderung.Migration oder Expansionbei den ‚Ur- sprüngenEuropas‘,in: Viator.Medieval and RenaissanceStudies  (), –,hier f.  Allerdingsmehren sich auch unterArchäologenZweifel an diesem Paradigma, vgl. Marek Dulinicz,Die Slawen – das zersplitterteVolk, in: Srednij vek. Arheološke raziskavemed Jadranskim morjem in Panonskonižino /Mittelalter.Archäologische Forschungenzwischen der Adria und der Pannonischen Tiefebene. Ljubljana , –,bes. ; Sebastian Brather,Die Anfänge sla- wischer Besiedlung westlich vonOder und Neisse, in: Piotr Kaczanowski /Michal Parczewski 50 Eduard Mühle sicher nicht gebildet.Und auch die slavische Sprache mag zwar dasleichte ge- genseitigeVerstehen ermöglicht,aber nicht notwendigerweise auch ein wech- selseitiges Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame Identitätgestiftet haben.¹⁶⁰ Der „Verlockungvon Identitätsbehauptungen“ solltealso künftigwi- derstanden werden.¹⁶¹ Denn die Zweifel, die die Mediävisten neuerdings an der christlichen Einheitskultur Europas hegen,¹⁶² können mit umso größerer Be- rechtigung gegenüber einer vermeintlichen mittelalterlichen slavischen Ein- heitskultur ins Feld geführt werden.¹⁶³

(Hrsg.), Archeologia opoczątkach Słowian. Kraków , –; Ders.,The WesternSlavs of the Seventh to the Eleventh Century – An Archaeological Perspective,in: History Compass  (), –.  Hans-Werner Goetz,Lingua. Indizien und Grenzen einer Identität durch Sprache im frühen Mittelalter,in: Walter Pohl (Hrsg.),Sprache und Identität im frühen Mittelalter.(Forschungenzur Geschichtedes Mittelalters, Bd. .) Wien , –,bes. .  Michael Borgolte,Mittelalter in der größerenWelt.Eine europäische Kultur in globaler Per- spektive,in: Historische Zeitschrift  (), –,hier .  Klaus Herbers,Zur EinführungGrenzräume und GrenzüberschreitungenimVergleich, in: Ders. /Nikolas Jaspert (Hrsg.), Grenzräume und GrenzüberschreitungenimVergleich. Der Osten und der Westendes mittelalterlichen Lateineuropa. (Europa im Mittelalter,Bd. .) Berlin , – ,hier .  Schon Manfred Hellmann,Herrschaftliche und genossenschaftliche Elementeinder mit- telalterlichen Verfassungsgeschichteder Slawen, in: Zeitschrift für Ostforschung  (), – ,hier  betonte, „dass voneiner slawischen Einheit nicht gesprochen werden kann, (…) sondern dass vonallem AnfanganVielfalt und Vielschichtigeit als Kennzeichen des Slawentums anzusehensind.“ Mit dem Begriff „Slawentum“ hielterhier zwar implizit an der an sich in Zweifel gezogenen Einheit fest,doch würde der  verstorbene Osteuropahistoriker heutezweifellos der Feststellungvon Michael Borgolte,Migrationenals transkulturelle Verflechtungenimmit- telalterlichen Europa. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder,in: Ders.,Mittelalter in der größeren Welt (wie Anm. ), –,hier  zustimmen, dass es „in transkultureller Perspektive (…)keine reinen, sondern (…)nur hybride Kulturen [gibt], in denen sich Elemente verschiedenerHerkunft vermischt und gegebenenfalls etwas ganz Neues ergeben haben.“ Zu Person undWerk des Autors

EduardMühle (geb.1957) wurdenach Studien u.a. in London und Jerusalemin Münster 1990 miteiner Abhandlungüber die mittelalterliche Rusʼ promoviert („Die städtischenHandelszentren der nordwestlichen Rusʼ.Anfängeund frühe Entwicklungaltrussischer Städtebis gegenEnde des 12.Jahrhunderts“.Stuttgart 1991). Danach schrieb er für die Frankfurter AllgemeineZeitung und warReferats- und Abteilungsleiter in der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Hoch- schulrektorenkonferenz, bevor er 1995 für ein Jahrzehnt Direktor des Leibniz-In- stituts für historische Ostmitteleuropaforschung (Herder-Institut) in Marburg wurde. 2004 konntesich Mühle in Marburghabilitieren; die Abhandlungwar mit Hermann Aubin einer wichtigen Gestalt der deutschenMittelalterforschungder 1910 –1960erJahre und dem führenden Vertreter der berüchtigten sogenannten deutschenOstforschung gewidmet(„Für Volk und Deutschen Osten“.Düsseldorf 2005). Noch im selben Jahr wurde Mühle aufdie Professur für Geschichte Ost- mitteleuropas und Osteuropas und zum Direktor der Abteilung für Osteuropäische Geschichte an der Universität Münster berufen. Schon 2008 unterbrach er dort seine Tätigkeit wieder, um für fünf Jahre Direktor des Deutschen Historischen InstitutsinWarschauzuwerden; seit 2013 ist er in Münster zurück. Seinen Aufenthalt in Warschauhat EduardMühle dazu genutzt,sich be- sonders nachdrücklich der polnischen Geschichte zu widmen. 2011 erschien eine Darstellungdes bedeutenden polnischenHerrschergeschlechts der Piasten, 2015 eine Geschichte der Stadt Breslau, die im Titel weder als deutsche noch als pol- nische,sondern als europäische Metropole bezeichnet wird. Mehrere Monogra- phien und Sammelbände hat Mühle den Hochschulreformen in Russland und Ungarn sowie dem Hochschulweseninanderen osteuropäischenLändern nach dem Ende des Kalten Krieges gewidmet; besondere Verdienste hat er sich dadurch erworben, dass er die Erträgeder polnischenMediävistik in deutschen Überset- zungen verbreitete (u. a.: „Monarchische und adligeSakralstiftungen im mittel- alterlichen Polen“ in der Reihe „StiftungsGeschichten“ des Akademie Verlags/ VerlagsdeGruyter,Berlin 2013). WiesehresMühle ein Anliegen ist,die Auf- merksamkeit deutscher Historiker_innen aufPolen zu lenken, hat er auch dadurch belegt,dass er 2014 eine deutsche Übersetzungder lateinischen Chronik des Magisters Vincentius vorlegte, einerder bedeutendsten Quellen des polnischen Mittelalters.Imselben Jahr wurdeermit dem Alexander vonHumboldt-For- schungspreis der Fundacja na rzecz Nauki Polskiej (Stiftung für die Polnische Wissenschaft) ausgezeichnet.