Quellentexte zu Michelangelos ›‹ 1

GIORGIO VASARI zu Ende, ohne dass irgend jemand es sah. Der Marmor war, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori wie ich schon sagte, durch Simone verhauen und verdor- (21568) ben und genügte deshalb an einigen Stellen den Absichten Michelagnolos nicht; darum richtete er es ein, dass an den [über Michelangelos David] äußern Enden des Steins einige von Simones ersten Meißel- strichen blieben, die man teilweise noch jetzt sieht; und ge- […] So stieg der Ruf seines [Michelangelos] Talents durch wiss ein Wunder war es von Michelagnolo, einen der bereits | dieses Werk mehr als durch alle seine früheren Arbeiten, zu den Toten gezählt wurde, zum Leben aufzuerwecken. und einige Freunde aus Florenz schrieben ihm, er solle da- Als die Statue fertig und zu diesem Grad | der Vollkom- hin kommen; es sei nicht unmöglich, dass er den Marmor- menheit gebracht war, entstand allerlei Streit, wie man sie block erhalten könne, der verhauen im Domhof liege und zum Platz der Signoren3 bringen könne. Deshalb fertigten den Piero Soderini, damals auf Lebzeiten zum Gonfaloniere Giuliano und Antonio da Sangallo4 zu diesem Zweck ein der Stadt ernannt, wie er oft geäußert hatte, an Lionardo starkes Holzgerüst, befestigten die Statue mit Tauen daran, da Vinci schicken gewollt, und der nunmehr an Meister so dass sie nicht anstoßen und zerbrechen, sich vielmehr Andrea Contucci dal Monte Sansovino, einen treffl ichen stets leise wiegen konnte, schaff ten sie mit fl achen Balken Bildhauer, der ihn gerne haben wollte, gegeben werden soll- auf der Erde und mit Winden vorwärts und stellten sie auf. te. Es schien kaum möglich, eine Statue daraus zu arbeiten, An dem Tau, woran die Figur hing, hatte er einen Knoten ohne dass man Stücke ansetzte, und keiner hatte Lust und geschlungen, welcher leicht herab glitt und sich zusammen Mut dazu, außer Michelagnolo, der den Block schon viele schnürte wenn die Last ihn niederzog – eine schöne, sinn- Jahre vorher gewünscht hatte und, sobald er in Florenz war, reiche Erfi ndung, davon ich eine durch ihn selbst ausge- sogleich ihn zu erlangen trachtete. Er war neun Ellen hoch, führte Abbildung in meinem Zeichenbuch aufbewahre; und ein Meister Simone aus Fiesole hatte unglücklicher sie gewährt bewunderungswürdige Sicherheit und ist sehr Weise angefangen, eine kolossale Gestalt daraus zu arbei- geeignet Lasten aufzuhalten. | ten, hatte ihn aber dabei so übel zugerichtet, dass zwischen Als die Statue aufgestellt war, trug es sich zu, dass Piero den Beinen ein Loch durchgehauen, und er ganz verdorben Soderini hinkam, um sie in Augenschein zu nehmen, wäh- und verstümmelt war, weshalb die Dombauverwalter von rend Michelagnolo noch einiges daran nachbesserte; sie ge- Santa Maria del Fiore2, welche die Aufsicht führten über fi el ihm sehr wohl, doch bemerkte er, die Nase der Gestalt diese Dinge, sich nicht um seine Vollendung kümmerten, scheine ihm etwas zu dick. Michelagnolo, der wohl sah, sondern ihn beiseite gestellt hatten, wo er seit Jahren stand dass der Gonfaloniere unter der Figur stehe, und deshalb und wohl fort und fort gestanden haben würde. Michelag- keine richtige Ansicht des Werks haben könne, nahm, um nolo nun maß ihn von neuem und prüfte, ob er eine Figur ihn zufrieden zu stellen, vom Gerüst neben seiner Schul- aus dem Block würde schlagen können, und indem er sich ter in die linke Hand einen Meißel und von den Brettern mit der Stellung nach der Form des von Meister Simone des Gerüstes ein wenig Marmorstaub, fi ng sodann an, den verstümmelten Blocks richtete, beschloss er, ihn von den Meißel leise zu rühren und ließ dabei den Staub langsam Dombauverwaltern und von Soderini zu begehren, die ihn niederfallen, ohne an der Nase irgend etwas zu verändern. als ein nutzloses Ding hingaben, überzeugt, dass was | er Darauf schaute er nieder zum Gonfaloniere, der ihm zusah auch aus ihm schaff e, besser sein werde als der Zustand, in und sprach: »Nun betrachtet ihn!« – »Was mich anlangt,« welchem er sich jetzt befand, wo er weder geteilt noch ganz antwortete dieser, »so gefällt er mir besser, Ihr habt ihm dem Bau irgendeinen Nutzen bringen konnte. Leben gegeben!« – Und Michelagnolo stieg herab, mitleidig Demnach formte Michelagnolo ein Modell aus Wachs, lächelnd über Leute, die sich das Ansehn geben, Kenner zu in welchem er einen jungen David mit der Schleuder in sein, während sie nicht wissen, was sie sagen. der Hand als Wahrzeichen des Palastes darstellte. Dies sollte Als das Werk festgestellt und vollendet war, deckte Mi- andeuten: dass, wie jener Held sein Volk verteidigt und ge- chelagnolo es auf, und es ist wahr, dass es alle antiken und recht beherrscht habe, auch die so über die Stadt gebieten, modernen Statuen, griechische wie römische, um ihren in ihrer Vertretung Mut und in ihrer Regierung Gerechtig- Ruhm brachte; und man kann sagen, weder der Marforio keit zeigen möchten. Er begann die Statue im Dombauhof zu Rom noch der Tiber und der Nil im , noch die von Santa Maria del Fiore, machte sich gegen die Mauer ei- Kolosse von Monte Cavallo lassen sich ihm irgend verglei- nen Verschlag von Brettern rings um den Marmor, bearbei- chen, in so richtigem Verhältnis, so schön und gut ist diese tete diesen ohne Unterlass und führte sein Werk vollständig Gestalt vollendet. Die Umrisse der Beine sind sehr schön, Quellentexte zu Michelangelos ›David‹ 2 die Ver-|bindung der Glieder, die Schlankheit der Seiten ist O: Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e ar architettorichitettori, göttlich, und nie hat man ein so liebliches Ruhen des Kör- Rom 997 (i mammut; 4). Digitalisierte Version unter , 26. September 2006, S. 682f. noch Füße, Hände und Kopf, die durch Treffl ichkeit der Kunst, Ebenmaß und Zeichnung [disegno] in allen Teilen sowohl übereinstimmen. Gewiss, wer dieses Bildwerk sieht, Anmerkungen Ch. B. braucht nicht darum zu sorgen, auch noch ein anderes, von 1 Gemeint ist Michelangelos Pietà, 1497-99, die sich heute im Peters- irgendeinem Meister unserer oder früherer Zeit, zu sehen. dom in Rom befi ndet. Michelagnolo erhielt für diese Statue von Piero Soderini 2 Santa Maria del Fiore ist der NameName des FFlorentinerlorentiner DDoms.oms. 400 Scudi und richtete sie auf im Jahr 504, der Ruf aber, 3 Der ›Platz der Signorien‹ ist die , an der sich auch der Palazzo della Signoria, befi ndet (später genannt). den er dadurch erlangte, bestimmte den oben genannten Die Signoria (ital., ›H ›Herrschaft‹)errschaft‹) war die v verbreiteteerbreitete politische H Herr-err- Gonfaloniere, ihn einen sehr schönen David in Bronze ma- schaftsform oberitalienischer Städte vom 3. bis 6. Jh. Die Signoria chen zu lassen, der nach Frankreich geschickt wurde. in Florenz bestand seit 293 als oberste politische Behörde. Sie Stand unter der Leitung eines Gonfaloniere. D: Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Bau- 4 Giuliano da Sangallo (um 443 bis 56) und sein Bruder Antonio da meister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Bd. V, hrsg. v.v. LudwigLudwig Schorn und Sangallo (455 bis 534) waren zwei für die Renaissancearchitektur sehr Ernst Förster, Stuttgart, Tübingen 847. Nachdr. neu hrsg. und eingel. v. wichtige Architekten. Giuliano z. B. baute u. a. den (ab Julian Kliemann, Darmstadt 983, S. 276-28. 489) und den Palazzo Gondi (490-94) in Florenz.Florenz.

GIORGIO VASARI Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori (21568)

[über die Beschädigung des Davids im JahreJahre 527]

Als die Medici 527 aus Florenz vertrieben wurden, schleu- derte man bei der Verteidigung des Palastes der Signoria eine Bank von oben herab auf diejenigen, welche unten gegen die Tür stürmten; sie fi el aber zufällig auf den Arm des David von Buonarroti, der neben der Tür oberhalb des Rednerstuhls steht, und zerbrach ihn in drei Stücke. Diese lagen drei Tage auf der Erde, ohne dass jemand sie aufnahm; da ging Francesco nach und suchte Giorgio auf, teilte ihm sein Vorhaben mit und beide gingen, Kna- ben wie sie waren, ohne der Gefahr zu achten, durch die wachhabenden Soldaten hindurch zum Platz, nahmen die Stücke des Arms und trugen sie zur Gasse von Herrn Bi- vigliano in das Haus von Francescos Vater, Michelagnolo. Von dort erhielt sie später Herzog Cosimo und ließ sie mit Kupferzapfen wieder an der Statue befestigen.

D: Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Bau- meister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Bd. V, hrsg. v.v. LudwigLudwig Schorn und Ernst Förster, Stuttgart, Tübingen 847. Nachdr. neu hrsg. und eingel. v. Julian Kliemann, Darmstadt 983, S. 26f. O: Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e ar architettorichitettori, Rom 997 (i mammut; 4). Digitalisierte Version unter , 26. September 2006, S. 652. Florenz, Piazza della Signoria.