Jahresbericht 2019 Jahresbericht

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Jahresbericht 2019 Schwerpunktthema: Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus Gedenken Bewahren Forschen Bilden

Geschichte begreifen – für die Zukunft handeln.

Die Stiftung niedersächsische Gedenk­ Die Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten verbindet staatliche Verantwortung stätten verwirklicht ihren Stiftungszweck und bürgerschaftliches Engagement für darüber hinaus durch die Auseinandersetzung mit den Ver­ • Zeitzeugengespräche, Film- und brechen des Nationalsozialismus und Theateraufführungen und Lesungen; die Würdigung der Opfer. Ihr Ziel ist die • Sonderausstellungen, wissenschaft- Förderung eines kritischen Geschichts-­ liche Tagungen und Netzwerktreffen; bewusstseins. • Projekte im Bereich Forschung, Vermittlung und Bildung; Die Stiftung ist Trägerin der Gedenk­ • Fortbildungen für Gedenkstätten- stätten Bergen-Belsen und Wolfenbüttel. mitarbeiter, Lehrkräfte und Multi- Zudem fördert und berät sie die weite­ plikatoren; ren Gedenkstätten sowie Erinnerungs­ • Publikationen und Informations- initiativen in Niedersachsen und betreibt materialien. eigene Forschungs- und Vermittlungs­ projekte zur Zeit des Nationalsozialismus und seinen Folgen. Inhalt

EDITORIAL...... 2 GEDENKSTÄTTE IN DER JVA WOLFENBÜTTEL...... 87 Allgemeiner Berichtl ...... 88 SCHWERPUNKTTHEMA Pädagogische Projekte der Gedenkstätte in der JUSTIZ UND STRAFVOLLZUG IM NATIONALSOZIALISMUS....5 JVA Wolfenbüttel...... 90 Strafvollzug im Nationalsozialismus – ein Überblick mit Trauer um Jean-Luc Bellanger ...... 93 Beispielen aus Wolfenbüttel...... 6 „Erinnern ist Zukunft“ – Eröffnung des neuen Justiz und Nationalsozialismus im Land ...... 14 Dokumentationszentrums ...... 94 Pädagogische Arbeit in einer Gedenkstätte zur NS-Justiz: Die neue Dauerausstellung „Recht. Verbrechen. Folgen. das Beispiel des ehemaligen Strafgefängnisses Wolfenbüttel..21 Das Strafgefängnis Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“... 96 Die Strafgefangenenlager im Emsland als Prestigeprojekt der Justizverwaltung...... 26 GEDENKSTÄTTENFÖRDERUNG NIEDERSACHSEN...... 101 Allgemeiner Bericht ...... 102 STIFTUNG...... 33 Dokumentationsstelle Widerstand und Verfolgung Bericht des Geschäftsführers ...... 34 1933–1945 auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen...... 104 Kalendarium der Stiftung...... 37 Tagung „Opfer des Nationalsozialismus – Friedhöfe Publikationen der Stiftung...... 46 und Grabstätten“...... 106 Veröffentlichungen und Vorträge sowie Lehraufträge Neu aufgefundene bzw. lokalisierte Aschegräber im von Beschäftigten der Stiftung und Mitarbeit in Gremien...... 46 ehemaligen KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte...... 108 Fünf Jahre Projekt KogA: Erfahrungen, Erkenntnisse und Qualifizierung und Vernetzung der Bildungsarbeit Faktoren zum Gelingen einer antiziganismuskritischen in niedersächsischen Gedenkstätten ...... 110 Bildungsarbeit...... 54 Förderung der Gedenkstättenarbeit und Erinnerungs- Projekt KogA: Neue Formate und Themen, neue kultur durch finanzielle Zuwendungen ...... 112 Kooperationen und Zukunftsperspektiven ...... 58 Ideologie in Symbolen: Was haben Wolfsangel, GEFÖRDERTE GEDENKSTÄTTEN...... 117 Germanenkult und Hermann Löns mit dem National- Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht ...... 118 sozialismus zu tun? ...... 60 Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte...... 122 Gedenkstätte Esterwegen ...... 126 GEDENKSTÄTTE BERGEN-BELSEN...... 63 Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V...... 130 Allgemeiner Bericht ...... 64 „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg ...... 134 Die Wanderausstellung „Lebensläufe. Verfolgung und KZ-Gedenkstätte Moringen ...... 138 Überleben im Spiegel der Sammlung von Shaul Ladany“..... 66 Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel ...... 142 Die Ausstellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“...... 68 Archiv und Dokumentation...... 69 Impressum...... 146 Namensverzeichnis der Häftlinge des Konzentrations- lagers Bergen-Belsen...... 72 Niedersachsen-Kaserne / Kriegsgefangene Bergen-Belsen....74 Bildung und Begegnung...... 76 Gesellschaftsgeschichte in der Bildungsarbeit vermitteln..... 78 Auf die Besucher_innen geschaut...... 80 Demokratie leben lernen...... 82 Partnerschaft für Demokratie in Bergen – eine Kooperation zwischen der Gedenkstätte Bergen-Belsen und der Stadt Bergen...... 82 Gedenkstättenarbeit im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen – Herausforderung für Vermittelnde und Teilnehmende...... 83

Editorial

Jens-Christian Wagner

2 Liebe Leserinnen und Leser, Heute wird der liberale Rechtsstaat Es liegt an uns allen, uns aktiv dafür ein- Sie halten den Jahresbericht 2019 der in vielen Ländern Europas frontal ange- zusetzen, dass die offene, auf Rechts- Stiftung niedersächsische Gedenkstätten griffen. Auch in Deutschland sitzen Poli- staatlichkeit, Demokratie und für alle in den Händen. Er vermittelt Ihnen einen tiker_innen, die die liberale Demokratie geltende Menschenrechte basierende Eindruck von den vielfältigen Aktivitäten und Rechtsstaatlichkeit verachten, mitt- Gesellschaftsordnung in Deutschland der Gedenkstätten in Niedersachsen – von lerweile in fast allen Parlamenten. Ge- und Europa erhalten bleibt. innovativen Bildungsformaten über Ge- schichte wiederholt sich nicht eins zu Ich wünsche allen Leserinnen und Le- denkveranstaltungen, Lesungen, Aus- eins. Aber Verbrechen gegen die sern eine anregende Lektüre und bedanke stellungen, Publikationen, Tagungen, Menschlichkeit können, wie die Ge- mich sehr herzlich bei allen Autorinnen Forschungsprojekten, Vorträgen und schichte der vergangenen 75 Jahre zeigt, und Autoren! Seminaren bis zu künstlerischen Projek- in ähnlicher Form wie zwischen 1933 und ten. Sie alle eint unser Bemühen, die 1945 erneut begangen werden. Und die Opfer der NS-Verbrechen zu würdigen ideologischen Grundlagen des National- und zugleich mittels historisch-politi- sozialismus, nämlich Rassismus, Anti- scher Bildung Fragen nicht nur an die semitismus, Nationalismus und Autori- Geschichte, sondern auch an die Gegen- tarismus, zeigen erschreckende Kontinui- wart zu stellen. täten und sind derzeit stärker als noch Wie in den vergangenen Jahren hat vor wenigen Jahren: alter Wein in neuen auch der Bericht für das Jahr 2019 ein in- Schläuchen. haltliches Schwerpunktthema. Diesmal Es ist unsere Aufgabe, wissenschaft- ist es die Geschichte von Justiz und lich fundiert herauszuarbeiten, welche Strafvollzug im Nationalsozialismus – Parallelen, aber auch, welche Unter- samt der Frage, welche Schlussfolge- schiede sich zwischen Ausgrenzungsdis- rung wir daraus für die Entwicklung von kursen und -praktiken der 1930er Jahre Rechtsstaat und Demokratie heute zie- und heute aufzeigen lassen. Wer die hen können. Gerade der Blick auf Konti- neue Dauerausstellung in der Gedenk- nuitäten und Brüche in der Justiz nach stätte in der JVA Wolfenbüttel besucht, 1945 zeigt, dass die Geschichte des wird erschreckt feststellen, wie schnell Nationalsozialismus bis in unsere Zeit grundlegende Rechte und Freiheiten im hineinreicht. Frühjahr 1933 abgebaut werden konnten. Erlauben Sie abschließend noch eine und Weimar trotz allem anzunehmen: sehr herzlich bedanken und möchte Sie 3 persönliche Erklärung: Zum 1. Oktober Zum einen bietet das Historische Institut alle bitten, die Stiftung auch unter neuer 2020 werde ich die Stiftung niedersäch- in Jena für Zeithistoriker hervorragende Leitung tatkräftig zu unterstützen. sische Gedenkstätten verlassen. Ich Arbeitsbedingungen, auch wegen des übernehme eine Professur an der Uni- Jena Centers Geschichte des 20. Jahr- versität Jena in Verbindung mit der Lei- hunderts und des Kértesz-Kollegs sowie tung der Stiftung Gedenkstätten Buchen- wegen einer neuen Professur für Museums- wald und Mittelbau-Dora – jener Stiftung, wesen, die parallel zu meinem künftigen für die ich bereits vor meinem Wechsel Lehrstuhl besetzt wird. Das ermöglicht nach Niedersachsen im Sommer 2014 ausgezeichnete Chancen für Lehre und tätig war. Der vorliegende Jahresbericht Forschung und ihre Einbindung in die ist damit der letzte, der unter meiner Lei- Gedenkstättenarbeit. Zum anderen ist tung erscheint. es ein gewisses Verantwortungsgefühl Die Entscheidung zum Wechsel ist mir gegenüber der Stiftung in Thüringen, alles andere als leicht gefallen, vor allem, die sich derzeit in einer nicht zuletzt ge- weil mir die Arbeit in und für die Stiftung schichtspolitisch schwierigen Situation sehr viel Freude bereitet und ich die Zu- befindet. Ich weiß, auch gegenüber un- sammenarbeit mit den Kolleg_innen und serer Stiftung habe ich eine große Ver- den Stiftungsgremien, insbesondere antwortung, aber ich glaube, ich kann in auch mit dem Stiftungsrat und dem Stif- Thüringen derzeit noch wirksamer tätig tungsbeirat, immer als ausgesprochen werden – gerade auch im politischen gut und vertrauensvoll empfunden habe. Raum. Am schwersten fällt mir aber der Ab- Für ihr Vertrauen möchte ich mich bei schied von den Überlebenden und An- allen Freundinnen und Freunden sowie gehörigen. Sie alle unterstützten unsere den Kolleginnen und Kollegen in den Stiftungsarbeit auf ganz großartige Weise, niedersächsischen Gedenkstätten, bei und dafür möchte ich mich sehr herzlich Minister Grant Hendrik Tonne wie auch bedanken! seiner Vorgängerin Frauke Heiligenstadt Letztendlich sind es zwei Hauptgründe, und bei den Kolleginnen im Kultusminis- Jens-Christian Wagner auf dem Richtfest des neuen Dokumentationszentrums der Gedenkstätte in der die mich veranlassen, den Ruf nach Jena terium sowie in den Stiftungsgremien JVA Wolfenbüttel • Jesco Denzel

Editorial 4 Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus

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Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus Strafvollzug im Nationalsozialismus – ein Überblick mit Beispielen aus Wolfenbüttel

Anett Dremel, Jens-Christian Wagner

6 In ihrem Standardwerk „Elemente und der Weimarer Republik waren für sie an- werden, neue Verbrechen zu begehen. Ursprünge totalitärer Herrschaft“ be- schlussfähig? Wie entwickelten sich die Ihre „Gefährlichkeit“ stand im Fokus; die zeichnete Hannah Arendt die Konzentra- Existenzbedingungen im Strafvollzug? Kriminalität wurde als soziale Krankheit tionslager in den 1950er Jahren als die Wer unterlag dem Polizeirecht und wer betrachtet, die in der Haft „geheilt“ wer- „zentrale Institution des totalen Macht- der „regulären“ Justiz? Gab es so etwas den könnte. Daraus entwickelte sich die und Organisationsapparates“ im NS- wie eine reguläre Justiz überhaupt? Wel- Unterscheidung zwischen „Besserungs- Staat.1 Und tatsächlich waren die Kon- che Rolle spielten die Akteure nicht nur fähigen“ und solchen Gefangenen, bei zentrationslager ja auch zentrale Stätten in Staatsanwaltschaften und Gerichten, denen keine Hilfe fruchtete und vor denen von Verfolgung, Terror und Mord im Na- sondern auch in den Strafanstalten und die Gesellschaft dauerhaft geschützt tionalsozialismus. Aber sie waren nicht Zuchthäusern? werden müsste.3 isoliert, sondern eingebunden in ein um- Einerseits waren solche Vorstellungen fassendes Netz von Haftstätten, die der Strafvollzug im Kaiserreich und deutlich von der Ende des 19. Jahrhun- Repression und Ausgrenzung sozialrassis- in der Weimarer Republik derts immer breiter rezipierten Idee des tisch oder politisch Unerwünschter im genetisch oder „rassisch“ veranlagten Nationalsozialismus dienten. Auch der Noch während des größten Teils des „Berufs“- oder „Gewohnheitsverbrechers“ Strafvollzug war in dieses System einge- 19. Jahrhunderts war die Strafjustiz in geprägt. Andererseits hielt die Idee der bunden. Doch im Unterschied zum neu Deutschland vom Gedanken der Ab- Resozialisierung Einzug. Dieses „Dop- eingeführten Instrument der Konzentra- schreckung und Sühne geprägt. Straf- pelgesicht von Besserung und Siche- tionslager war er keine Erfindung der täter sollten für ihre Tat angemessen bü- rung“, wie es Nikolaus Wachsmann be- Nationalsozialisten, sondern ein Mittel der ßen; zugleich sollte die Strafandrohung zeichnet hat,4 wurde nach dem Ende des staatlichen Durchsetzung der Rechtsord- die Bürger davon abhalten, Straftaten zu Kaiserreiches maßgeblich für den Straf- nung, das auf eine lange Tradition auch begehen.2 Ende des 19. Jahrhunderts vollzug der Weimarer Republik. unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen begann sich das Prinzip der allgemeinen Mitte der 1920er Jahre führten mehrere zurückblickte. Dieses Mittel machten sich Prävention zu ändern. Während bisher Länder ein dreigliedriges Stufensystem die Nationalsozialisten zu eigen. die Bestrafung bereits begangener Taten ein, das Gefangene bei guter Führung in Worauf konnten sie dabei aufbauen, im Mittelpunkt gestanden hatte, sollten Arbeit und Ausbildung belohnte und sie welche Elemente in Theorie und Praxis die Straftäter nun davon abgehalten 3 Vgl. Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, des Strafvollzugs des Kaiserreiches und in: Ders. (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 2 Vgl. auch im folgenden Nikolaus Wachsmann, Bd. 1, 1905, S. 126-179 1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im Herrschaft, Frankfurt/Main 1959, S. 645. NS-Staat, München 2006, S. 20 ff. 4 Wachsmann, Gefangen, S. 23. auf eine höhere Stufe mit Vergünstigun- punkt. Zugleich war die Reformidee von betroffen, darunter auch der Anstalts- 7 gen beförderte. Zugleich konnten Gefan- der „Unverbesserlichkeit“ mancher Ge- leiter Dr. Gustav Weiss, der sich in der gene nach Vergehen gegen die Gefäng- fangener für die Nationalsozialisten an- Weimarer Zeit stark für die Einführung nisordnung zurückgestuft werden.5 Auch schlussfähig, denn sie passte in ihr sozial- des Reformstrafvollzugs eingesetzt hat- sonst fand die Idee der Resozialisierung rassistisches Weltbild einer „Volksge- te. Gleichzeitig kam 1933 auch neues in der Gesellschaft und in der Justiz im- meinschaft“, die sich von allen „Gemein- Personal in die Strafanstalt. Insgesamt mer mehr Anhänger. Doch gleichzeitig schaftsfremden“ trennen müsse: den wurden 14 Personen neu eingestellt, vie- gab es die Kategorie der „Unverbesser- Kranken, den „Asozialen“, den „Unpro- le von ihnen hatten einen nationalsozia- lichen“. Sie wurden als unerziehbar ein- duktiven“, den „rassisch Minderwerti- listischen Hintergrund und waren Mit- gestuft und blieben die gesamte Zeit ih- gen“ und den „politisch Unzuverlässi- glieder in SA oder SS. rer Haft unter den harten Bedingungen gen“. Diese Personengruppen wurden Ziel des Strafvollzugs waren nun Stra- der untersten Stufe; mehr noch: die Haft- identifiziert, ausgesondert und anschlie- fe und Abschreckung und die möglichst bedingungen der „Unverbesserlichen“ ßend in vielen Fällen ermordet. dauerhafte Aussonderung aller, die als wurden teilweise deutlich verschärft, ins- Unmittelbar nach ihrer Machtüber- „unverbesserlich“ galten. Dazu erließ besondere in den Zuchthäusern, in denen nahme begannen die Nationalsozialis- die neue Reichsregierung im November zu langen Freiheitsstrafen Verurteilte in- ten, den Strafvollzug nach ihren Vorstel- 1933 das „Gesetz gegen gefährliche Ge- haftiert waren und in denen härtere Haft- lungen zu verändern. So wurde die in der wohnheitsverbrecher und über Maß- bedingungen als in den Strafgefängnis- Weimarer Republik eingeführte Stufen- regeln der Sicherung und Besserung“ sen herrschten. regelung, die das Ziel der Resozialisie- (Gewohnheitsverbrechergesetz). Um rung hatte, zunächst eingeschränkt und den „Schutz der Volksgemeinschaft“ ge- Strafvollzug zu Beginn der NS-Herrschaft schließlich abgeschafft. Das „Gesetz zur gen die „verbrecherischen Schädlinge“ Wiederherstellung des Berufsbeamten- zu gewährleisten, wurde bei Mehrfach- Die Machtübernahme der Nationalso- tums“ vom 7. April 1933 erlaubte es den tätern eine unbefristete Unterbringung, zialisten im Januar 1933 bedeutete auch Nationalsozialisten, alle politisch miss- „Klagelied der Schwerverbrecher“. Wolfenbütteler für den Strafvollzug einen deutlichen Ein- liebigen Beamten aus dem Strafvoll- Kreiszeitung, 25./26. November 1933. schnitt. Vergeltung und Abschreckung zugsdienst zu entlassen. Dies traf vor Die Karikatur stellt den angeblich zu nachsichtigen Strafvollzug der Weimarer Republik dem Umgang mit rückten nun auf Kosten der Besserung allem Anhänger des demokratischen Straftätern im Nationalsozialismus gegenüber. Zugleich bedient sie antisemitische und sozial-rassistische und Erziehung wieder in den Mittel- Reformstrafvollzugs. Klischees. Im Strafgefängnis Wolfenbüttel waren Strafgefangene der Emslandlager bei der Moorkultivie- 5 Vgl. ebd. S. 30 f. zehn Angestellte und Bedienstete davon rung, 1935. • Library of Congress, Washington

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 8 die Sicherheitsverwahrung, angeordnet. de, waren alle tatsächlich oder angeblich zu Zeiten der Weimarer Republik nicht Eine Überprüfung des Urteils sollte alle gegen die Regierung gerichteten Äuße- hinter Gittern gesessen.6 drei Jahre durch das zuständige Gericht rungen oder Handlungen unter Strafan- Mehrere Zehntausend Gefangene wa- stattfinden. Den Richtern wurde bei ihren drohung bis hin zu Todesstrafe gestellt. ren wegen politischer Delikte verurteilt Beurteilungen ein breiter Ermessens- Den Richtern wurde dabei ein großer Er- worden, viele nach der Reichstagsbrand- spielraum zugestanden, da es keine fest- messensspielraum eingeräumt, den die verordnung sowie nach der Heimtücke- gelegte Definition des „Gewohnheitsver- meisten im Sinne drastischer Urteile verordnung bzw. dem Heimtückegesetz. brechers“ gab. Bei einem Großteil der nutzten. Tatsächlich befanden sich 1935 deutlich geahndeten Vergehen handelte es sich Ein weiterer verschärfter Straftatbe- mehr Regimegegner im Gewahrsam der um kleinere Eigentumsdelikte. 1941 wur- stand betraf homosexuelle Handlungen Justiz als in den Konzentrationslagern. de das Gesetz noch einmal verschärft: unter Männern. Im September 1935 ver- Diese hatten 1935 eine Gesamtbelegung Tatsächliche oder vermeintliche Wieder- schärfte die Regierung § 175 RStGB dras- von lediglich 3.500 Häftlingen – eine holungstäter konnten nun auch mit dem tisch und führte zudem § 175a RStGB Zahl, die allerdings ab Ende der 1930er Tode bestraft werden. ein, der bei besonders „schweren“ Fällen Jahre sehr stark anstieg. Anfang 1945 Neben einer Verschärfung bestehender eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn befanden sich über 714.000 Menschen in Gesetze führten die Nationalsozialisten Jahren vorsah. den Konzentrationslagern.7 völlig neue Straftatbestände ein, insbe- Die neu eingeführten Straftatbestände Rein quantitativ fanden die meisten sondere mit dem Ziel der Unterdrückung und die harte Urteilspraxis der Gerichte Verbrechen im Nationalsozialismus, dar- abweichender politischer Meinungen. bewirkten einen deutlichen Anstieg der unter das monströseste Verbrechen über- Maßgeblich war dabei die Reichstags- Gefangenenzahlen. Trotz eines mit der haupt, nämlich der Mord an den Juden brandverordnung vom 28. Februar 1933, wirtschaftlichen Erholung einhergehen- sowie an den Sinti und Roma, überwie- die nicht nur sämtliche Freiheitsrechte den Rückgangs der gewöhnlichen Krimi- gend außerhalb der Zuständigkeit der suspendierte, sondern auch neue Straf- nalität stiegen diese etwa in Preußen be- Justiz unter der Ägide von Polizei, Partei tatbestände für politischen Widerstand reits im Jahr 1933 um fünfzig Prozent. und Wehrmacht statt. Wenn überhaupt einführte. Die Verordnung erlaubte es Reichsweit erreichten die Zahlen im Feb- nach „Recht“ gehandelt wurde, dann dem Regime, jeglichen Widerstand zu ruar 1937 mit 122.000 Personen einen 6 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 60. unterdrücken. Mit der sogenannten Vorkriegshöchststand (zehn Jahre zuvor 7 Vgl. Angelika Königseder, Die Entwicklung des KZ- Heimtückeverordnung vom 21. März waren es nur 69.000 gewesen). Nach Systems, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort 1933, die im Dezember 1934 mit dem Schätzungen von Nikolaus Wachsmann des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Kon- zentrationslager, Bd. 1, München 2005, S. 30-42, hier S. Heimtückegesetz noch verschärft wur- hätten etwa 50.000 dieser Gefangenen 37 f. nach Polizeirecht. Richterliche Urteile gab Wer „vorsätzlich unter Ausnutzung der Trotz der steigenden Gefangenenzah- es in den seltensten Fällen. Ein Beispiel durch den Kriegszustand verursachten len nach Kriegsbeginn nahm der Anteil dafür ist das polizeirechtliche Instrument außergewöhnlichen Verhältnisse eine an ausgebildetem Gefängnispersonal der „Schutzhaft“, das den meisten KZ- Straftat begeht“,10 konnte mit dem Tod nach 1939 ab. Von den jüngeren Be- Einweisungen zugrunde lag. Die Schutz- bestraft werden. Mit dem Begriff „Volks- diensteten wurden viele zur Wehrmacht haft wurde polizeilich verfügt und nicht schädling“ waren in der sogenannten eingezogen. Für die Bewachung der Ge- richterlich angeordnet. Gesetzliche Grund- Kampfzeit der NSDAP „Schieber und fangenen blieben vielfach ältere Beamte lagen waren die Reichstagsbrandverord- Wucherer“ bezeichnet worden. Nun oder ungelernte Hilfswachtmeister zu- nung vom 28. Februar 1933 und der „Rund- regelte die VVO, wer „Volksschädling“ rück. Gleichzeitig machte der Ausbau erlaß des Reichsministers des Innern war. Die Bestimmungen waren bewusst der Gefangenenarbeit eine stärkere Auf- über die Bestimmungen zur Anwendung weit und vage gefasst, was es der NS- sicht notwendig und veränderte den der Schutzhaft“ von April 1933. Justiz erlaubte, schon bei kleineren De- traditionellen Strafvollzug radikal. Der Die Trennung der Aufgabenbereiche likten schwere Strafen zu verhängen, Mangel an Aufsichtspersonal, fehlende von Polizei (dazu zählten auch die SA, wenn das Gericht glaubte, dass diese Kontrolle und Arbeitsüberlastung be- der SD und die SS) und Justiz bedeutete unter „Ausnutzung des Kriegszustandes“ günstigten wiederum Dienstversäumnis- aber bei weitem nicht, dass es in der begangen worden waren. Die Richter se und Gewalt gegenüber Gefangenen. Justiz rechtsstaatlich zugegangen wäre. konnten de facto jede Straftat mit dem Ein weiterer einschneidender Wandel Vielmehr wurden auch das Strafrecht Tod bestrafen. Die Verfahren erfolgten nach Kriegsbeginn betraf die Herkunft und der Strafvollzug Instrumente zur vor Sondergerichten, wodurch sie be- der Strafgefangenen: Immer mehr nicht- Durchsetzung der nationalsozialistischen schleunigt wurden. deutsche Gefangene befanden sich in Diktatur und des Rassenstaates. Um ihre Als Instrument zum Schutz der „Heimat- den Gefängnissen. Zum einen lag das Unterstützung für das neue Regime zu front“ gedacht, erlaubte es die VVO der daran, dass sich die deutsche Gerichts- demonstrieren, stimmten die Justizbe- NS-Justiz, drastisch gegen abweichen- barkeit auf die annektierten Gebiete der hörden für eine gewisse Zeit zu, auch des Verhalten vorzugehen, sofern es Nachbarstaaten ausdehnte und ab der ihre Haftstätten für die Belegung mit nach Ansicht des Gerichtes die deut- zweiten Kriegshälfte die Insassen ge- Schutzhäftlingen zu öffnen.8 schen Kriegsanstrengungen beeinträch- räumter frontnaher Gefängnisse in den Auch die Braunschweiger Politische tigte. Spätestens jetzt war das Strafrecht besetzten Ländern ins Reich gebracht Polizei (ab 1936 Braunschweig) durch und durch nationalsozialistisch ge- wurden. Zum anderen war es eine Folge nutzte mangels eigener Räumlichkeiten prägt. Weitere Verordnungen ergänzten des umfangreichen (Zwangs-)Einsatzes andere Orte zur Unterbringung ihrer die repressiven Bestimmungen der VVO, ausländischer Arbeitskräfte im Reich. Häftlinge. Bekannteste Beispiele für so etwa die „Verordnung zur Ergänzung Rund 13 Millionen Menschen, vor allem Braunschweig sind das AOK-Gebäude, der Strafvorschriften zum Schutz der aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich, das Volksfreundhaus und das Braun- Wehrkraft des deutschen Volkes“ vom Belgien, den Niederlanden, Italien und schweiger Kreis- und Untersuchungs- 25. November 1939, die unerwünschte dem „Protektorat“ mussten zwischen gefängnis in der Rennelbergstraße. Da- Kontakte zu Kriegsgefangenen unter 1939 und 1945 im Deutschen Reich 9 neben wurden jedoch insbesondere im Strafe stellte, die „Verordnung gegen Ge- Zwangsarbeit leisten.13 Parteidienststel- Frühjahr 1933 auch im Strafgefängnis waltverbrecher“ vom 5. Dezember 1939, len und der Repressionsapparat betrach- Wolfenbüttel zahlreiche „Schutzhäftlin- die alle Straftäter, die bei ihrer Tat eine teten den kriegswirtschaftlich bedingten ge“ untergebracht. Auch später nutzte Waffe benutzt hatten, mit der Todesstrafe Ausländereinsatz im Reich mit Argwohn. die Gestapo Braunschweig das Gefäng- bedrohte, oder auch die Kriegswirtschafts- Sie fürchteten um die „Reinheit des nis in Wolfenbüttel zur Unterbringung verordnung vom 4. September 1939 und deutschen Blutes“ und betrachteten die von „Schutzhäftlingen“. So wurden 1938 die Verbrauchsregelungs-Strafverord- ausländischen Arbeitskräfte als Gefahr im Zuge der Novemberpogrome 137 jü- nung vom 6. April 1940, die „kriegs- für die öffentliche Ordnung. Das Regime dische Männer durch die Gestapo einge- schädliche“ Handlungen unter Strafe setzte deshalb alles daran, die nichtdeut- liefert und in der Folge in das Konzentra- stellten. Zudem konnten ab Oktober 1939 schen Arbeitskräfte von der deutschen tionslager Buchenwald transportiert. Jugendliche ab 16 Jahren wie Erwachsene Bevölkerung zu separieren. Repressive Nach Kriegsbeginn waren vielfach aus- bestraft werden.11 Aufenthalts- und Arbeitsbestimmungen ländische Zwangsarbeiter von der Ver- Die Ausweitung der mit drastischen engten ihren Bewegungs- und Hand- hängung von Schutzhaft betroffen.9 Strafen bedachten Straftatbestände und lungsraum deutlich ein. die harte Spruchpraxis der Gerichte hat- Für Polen führten die Nationalsozialis- Strafvollzug im Krieg ten eine deutliche Steigerung der Zahl ten ein eigenes Strafrecht ein. Die „Polen- der Verurteilungen zur Folge: Zwischen strafrechtsverordnung“, gültig ab 1. Ja- Mit dem deutschen Überfall auf Polen Sommer 1939 und September 1942 stieg nuar 1942, ermächtige Richter, de facto begann am 1. September 1939 der Zweite die Zahl der Gefangenen trotz Amnestien jedes Vergehen, das Polen angelastet Weltkrieg. Nur wenige Tage später, am für kleinere Delikte von 108.000 auf über wurde, mit dem Tode zu bestrafen. Be- 5. September 1939, wurde die „Volks- 190.000 an. Zugleich stieg die Zahl der reits zuvor, im Oktober 1940, waren spe- schädlingsverordnung“ (VVO) erlassen. im Deutschen Reich gefällten Todesur- zielle Vorschriften für den Vollzug an teile von 85 im Jahr 1939 auf über 5.300 8 Vgl. Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der na- 12 Gefangene aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel bei tionalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016, S. im Jahr 1943 an. Gleis- und Erdbauarbeiten, undatiert. • GWF, Reproduk- 45. tion im Privatbesitz Wolfgang Lange

9 Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts in Braun- 10 Reichsgesetzblatt 1939 I, S. 1679. schweig an das RJM am 17.4.1940, NLA Wolfenbüttel, 13 Vgl. Jens-Christian Wagner, Zwangsarbeit im Natio- Fb. 3 Zg. 1/1995 Nr. 65, Bl. 28, sowie Schreiben des Vor- 11 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 220 f. nalsozialismus – ein Überblick, in: Volkhard Knigge u.a. standes des Strafgefängnisses Wolfenbüttel an den Ge- (Hg.), Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter neralstaatsanwalt in Braunschweig am 22.10.1942, NLA 12 Zahlen nach Wachsmann, Gefangen, S. 445 (Dia- und der Krieg. Begleitband zur internationalen Wander- Wolfenbüttel, Fb. 3 Zg. 1/1995 Nr. 65, Bl. 45. gramm 1) u. S. 451 (Diagramm 6). ausstellung, Weimar 2010, S. 180-193.

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus polnischen Justizgefangenen erlassen „Vernichtung durch Arbeit“ zu bezeich- reichte die Arbeitslosigkeit im Jahr 1933, worden, die wegen Arbeitsverweige- nen.17 Wenige Tage später legte Thierack als etwa 67 Prozent der Gefangenen rung oder Widersetzlichkeit verurteilt die Einzelheiten mit SS-Chef Heinrich ohne Beschäftigung waren.23 Erst lang- worden waren. Zudem wurde die Tren- Himmler fest. Danach sollte die Justiz sam setzte es sich durch, dass die Ge- nung deutscher und polnischer Gefange- „die Sicherungsverwahrten, Juden, Zi- fangenen zur Arbeit herangezogen wur- ner in den Vollzugsanstalten festgelegt. geuner, Russen und Ukrainer, Polen über den, zunächst im Sinne der Vergeltung Ab 1941 galt die Kennzeichnungspflicht 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche und Sühne bei möglichst eintönigen Tä- für polnische Gefangene.14 über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung tigkeiten, etwa dem Tütenkleben oder Ebenfalls vogelfrei waren sowjetische des Reichsjustizministers“ in die Konzen- dem Mattenflechten. In den Emsland- Zwangsarbeiter. Doch für sie war nicht trationslager überstellen.18 Das wurde lagern (siehe dazu den Beitrag von die Justiz, sondern die Gestapo zustän- bald umgesetzt: Zwischen November David Reinicke in diesem Jahresbericht, dig. Andernfalls wären die Gefangenen- 1942 und April 1943 wurden von der S. 26-31.) wurden Strafgefangene auch zahlen in den Strafgefängnissen und Justiz fast 15.000 Gefangene, darunter bei Moorkultivierungsarbeiten eingesetzt. Zuchthäusern noch stärker angestiegen etwa zur Hälfte Sicherungsverwahrte Hier stand das Ziel der Gewöhnung an – und auch die Zahl der von der Justiz und über 6.000 Polen, an die Konzen- Disziplin und der „Erziehung“ im Mittel- zum Tode Verurteilten, denn Frauen und trationslager abgegeben. Weitere 5.000 punkt. Weder hier noch bei den „klassi- Männer aus der Sowjetunion stellten ab Gefangene kamen nach individuellen schen“ Gefängnisarbeiten wurde auf 1942, deutlich vor den Polen, die große Überprüfungen zwischen Frühjahr 1943 Effizienz geachtet. Das änderte sich im Mehrheit der zivilen ausländischen Ar- und 1945 noch hinzu.19 In den Konzentra- Rahmen der Kriegsvorbereitung ab 1938. beitskräfte im Reich. tionslagern, in denen sie zu härtester Die Gefängnisarbeit wurde nun stärker Angesichts des Umstandes, dass im Zwangsarbeit u.a. in Steinbrüchen her- auf den Vierjahresplan und damit auf Laufe des Krieges immer mehr „Gemein- angezogen wurden, litten sie unter ei- wirtschaftliche Erfordernisse des Regi- schaftsfremde“ und „Volksschädlinge“ nem höheren Vernichtungsdruck als die mes ausgerichtet.24 Zudem machte sich nach Polizeirecht inhaftiert und ermordet anderen Häftlingsgruppen – mit der Fol- zunehmend ein Mangel an Arbeitskräf- wurden (übrigens auch Polen, für die ge, dass insbesondere von den Sicherungs- ten außerhalb der Anstalten bemerkbar. eigentlich ja die Justiz zuständig war), verwahrten kaum einer überlebte.20 Auch das trug dazu bei, dass der Anteil während die Zahl der Verurteilungen Doch nicht nur in den Konzentrations- der Gefangenen, die zur Arbeit einge- durch die Justiz nur mäßig stieg, machte lagern starben Justizgefangene in gro- setzt wurden, bis 1939 auf 95 Prozent sich unter Parteifunktionären ab 1941/42 ßer Zahl. Auch in den Gefängnissen stieg.25 immer mehr Unmut über die angeblich stieg die Todesrate während des Krieges Die Geschichte des Strafgefängnisses zu weiche Justiz breit – zumal sie, als stark an. Zum einen war das die Folge Wolfenbüttel spiegelt diese Entwicklung. sich ab 1942 ein längerer Abnutzungs- zunehmender Gefangenenzahlen bei Der Aufbau des Volkswagenwerkes in krieg oder sogar eine Kriegsniederlage gleichzeitig rationierten Lebensmittel- Fallersleben und der „Reichswerke Her- abzeichnete, eine Wiederholung der re- lieferungen. Ab 1940 standen den Straf- mann Göring“ im Gebiet führ- 10 volutionären Ereignisse im Herbst 1918 gefangenen keine größeren Rationen als ten schon seit 1938 zu einem erheblichen fürchteten. klagte in diesem KZ-Häftlingen zu.21 Bis zum Frühjahr 1942 Arbeitskräftemangel im Land Braun- Zusammenhang wiederholt darüber, sanken die Rationen im Vergleich zu 1939 schweig. Die Arbeitskraft der Gefange- Verbrecher würden in den Gefängnissen bei Brot um zehn, bei Fett um 15 und bei nen wurde damit zu einem gefragten „konserviert“, während von den Solda- Fleisch sogar um 30 Prozent.22 Ab Mitte Gut in der Region. Der Wolfenbütteler ten an der Front schwere Opfer gebracht des Krieges wurde der Hunger in den Anstaltsleiter stellte daher wiederholt würden.15 Gefängnissen zu einem Massenphäno- die Forderung an das Reichsjustizminis- Am 20. August 1942 entließ Hitler den men. Aber auch die Zwangsarbeit trug terium, von der Abgabe von Gefangenen kommissarischen Reichsjustizminister maßgeblich zur Steigerung der Todes- aus Wolfenbüttel an die Emslandlager Franz Schlegelberger und setzte den bis- zahlen bei. abzusehen, um sie für Arbeiten vor Ort herigen Präsidenten des Volksgerichts- einsetzen zu können.26 Aber auch außer- hofes Otto-Georg Thierack als neuen Zwangsarbeit halb Wolfenbüttels wuchsen Begehrlich- Justizminister ein. Dieser machte sich keiten der Wirtschaft hinsichtlich der sofort daran, den Wunsch Hitlers nach Anfangs, zu Zeiten der Massenarbeits- Arbeitskräfte aus dem Strafgefängnis. einem härteren Vorgehen gegen die Justiz- losigkeit der frühen 1930er Jahre, spielte Auf Betreiben der Firmenleitung eines gefangenen umzusetzen. Ende August Arbeit in den Gefängnissen keine große Kalkwerks in Oker bei Goslar wurde dort oder Anfang September 1942 beriet er Rolle. Die Mehrzahl der Gefangenen war bereits im Juni 1939 das erste feste Ar- sich mit führenden Strafvollzugsbeamten ohne Arbeit. Den höchsten Stand er- beitskommando eingerichtet. Die Gefan-

seines Ministeriums über die Tötung der 17 Vgl. Besprechungsnotiz Otto Thieracks, 14.9.1942, genen aus Wolfenbüttel waren vor Ort „Minderwertigen“ in den Gefängnissen,16 Staatsarchiv Nürnberg, Nürnberger Dok. PS-682.

und am 14. September traf er sich mit 18 Vgl. Aufzeichnung Thieracks über ein Gespräch mit 23 Vgl. Möhler, Strafvollzug, S. 94. Himmler am 18.9.1942, Nürnberger Dok. PS-654, abgedr. Propagandaminister Joseph Goebbels, in: IMT, Bd. 26, S. 200 ff., hier S. 201. 24 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 239 ff. sowie Ders., der ihn offenbar auf die Idee brachte, Strafvollzug und Zwangsarbeit im Dritten Reich, in: Hel- 19 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 314 ff. mut Kramer/Karsten Uhl/Jens-Christian Wagner, den Mord an den Justizgefangenen als Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der 20 Vgl. Jens-Christian Wagner, Vernichtung durch Ar- Justiz, Nordhausen 2007, S. 32-47. 14 Vgl. Rainer Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“. beit? Sicherungsverwahrte als Häftlinge im KZ Mittel- Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel bau-Dora, in: ebd., S. 84-93. 25 Vgl. Johannes Fülberth, Das Gefängnis Spandau des Saarlandes, in: Heike Jung u. Heinz Müller-Dietz 1918–1947. Strafvollzug in Demokratie und Diktatur, Ber- (Hg.), Strafvollzug im „Dritten Reich“. Am Beispiel des 21 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 253. lin/Brandenburg 2014, S. 236. Saarlandes, Baden-Baden 1996, S. 9-302, hier S. 144. 22 Vgl. Christoph Bitterberg, Die Gefangenenernährung 26 Vgl. Schreiben des Vorstandes des Strafgefängnisses 15 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 218 ff. während des Zweiten Weltkriegs, Bericht zum Werkver- Wolfenbüttel an den Generalstaatsanwalt in Braun- trag für die Gedenkstäte in der JVA Wolfenbüttel, unver- schweig, 8.6.1939, NLA Abteilung Wolfenbüttel, 42 A 16 Vgl. ebd., S. 310. öffentlichtes Ms., 2018. Neu Fb. 3 Zg. 37/1983 Nr. 58, Bl. 36ff. untergebracht und mussten im Kalkwerk 1942, als sich mit dem Scheitern der Industriebetrieben zu bringen, als Ma- 11 arbeiten – auf Wunsch der Firmenleitung Blitzkriegsstrategie nach dem Überfall schinen in die Strafanstalten zu schicken. nicht nur tagsüber, sondern auch in auf die Sowjetunion und ständig neuen Deshalb entstanden – ähnlich wie im KZ- Nachtschichten. Ihren Antrag auf Nacht- Einberufungswellen zur Wehrmacht der System – vielfach Außenlager des Strafvoll- arbeit der Gefangenen begründete die Arbeitskräftemangel im Deutschen zugs in der Nähe von Rüstungsbetrieben Firmenleitung mit dem Hinweis, dass Reich immer mehr bemerkbar machte. oder auch bei Bauprojekten, bei denen „die Heranziehung und Nutzbarma- Nun sollten alle Kräfte für die Kriegs- ungelernte Justizgefangene als Bauarbei- chung des allerletzten Betriebes und wirtschaft mobilisiert werden, und ter eingesetzt wurden. Im Sommer 1944 des allerletzten Mannes, also auch der dazu zählten auch die Justizgefange- waren fast 23.000 Justizgefangene in Gefangenen“ nötig sei.27 nen. Das Reichsministerium der Justiz solchen Außenlagern untergebracht.30 Kurz nach Kriegsbeginn wurde im Ok- verdeutlichte dazu Anfang 1943, dass Rüstungsunternehmen, die Bauwirt- tober 1939 die tägliche Arbeitszeit für es „zur Erfüllung der der Kriegswirt- schaft, mittelständische Betriebe und die Justizgefangene erhöht, für Zuchthaus- schaft gestellten Aufgaben […] erfor- Landwirtschaft wie auch die Haftanstal- gefangene und Sicherungsverwahrte auf derlich [ist], die gesteigerten Bedürf- ten selbst profitierten von der Zwangsar- zwölf Stunden, für sonstige Gefangene nisse der Wehrmacht vorweg zu be- beit von Justizgefangenen. Willkürliche auf elf Stunden. Zudem sollten Gefange- friedigen und die Möglichkeiten hierzu Gewalt und Schwerstarbeit von bis zu ne zu „volkswichtigen Arbeiten“ heran- bis zum äußersten auszuschöpfen. Die zwölf Stunden am Tag waren allgegen- gezogen werden. „Arbeitsverweigerung“, Justizvollzugsanstalten mit ihren viel- wärtig. Viele Gefangene gingen an den „Faulheit“ oder „schlechte Arbeit“ soll- fach umfangreichen Arbeitsbetrieben Arbeitsbedingungen zugrunde; Nikolaus ten streng geahndet werden. Der Cha- haben die Aufgabe und Pflicht, die hier- Wachsmann schätzt ihre Gesamtzahl auf rakter der Gefangenenarbeit wandelte für in Frage kommenden Betriebe in höchst- über 20.000.31 sich. Die Vollzugsanstalten wurden zu- möglichem Maße für wehrwirtschaft- 29 Schlafpritschen in einem Stollen des Arbeitskomman- nehmend in den Dienst der Kriegspro- liche Zwecke nutzbar zu machen.“ dos Walbeck des Strafgefängnisses Wolfenbüttel, 1945 duktion gestellt.28 Teilweise verlagerten Rüstungsbetrie- (nach der Befreiung). Die Gefangenen mussten in den Stollen Zwangsarbeit Eine entscheidende Funktionserwei- be ihre Produktion in die Gefängnisse, beim Ausbau einer unterirdischen Rüstungsfabrik leisten und waren dort auch untergebracht. Ähnlich terung der Gefängnisarbeit entstand ab vielfach war es für die Rüstungsplaner waren die Verhältnisse im Bergwerk Hambühren bei aber einfacher, die Gefangenen zu den Celle: Dort waren Gefangene aus dem Zuchthaus Celle untertägig untergebracht. • CEGESOMA Brüssel 27 Antrag der Firma Willikens an den Generalstaatsan- walt in Braunschweig, 22.6.1939, NLA Abteilung Wolfen- 29 Schreiben des Reichsministeriums der Justiz an die büttel, 61 Nds Fb. 1 Zg. 1/1995 Nr 127, Bl. 16-18. Vorstände der Justizvollzugsanstalten, 4.2.1943, NLA 30 Vgl. ebd., S. 36. Abteilung Wolfenbüttel, 42 A Neu Fb. 3 Zg. 37/1983 Nr. 28 Vgl. Möhler, Strafvollzug, S. 99. 36, Bl. 93. 31 Vgl. Wachsmann, Gefangen, S. 265.

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus In Wolfenbüttel wurden die Gefange- stetig an. Zugleich machten sich immer leitungen auch hier, als besonders ge- nen zwischen 1933 und 1945 in mehr als mehr Versorgungsengpässe bemerkbar. fährlich erachtete Gefangene abzutrans- siebzig Arbeitsbetrieben eingesetzt. Die Folge war eine chronische Mangel- portieren – was allerdings kaum noch Dazu gehörten anstaltseigene Betriebe ernährung der Gefangenen. möglich war, weil die noch von der wie der Holzhof, die Schneiderei oder Im Januar 1945 kamen die Alliierten Wehrmacht gehaltenen Gebiete immer die Tischlerei. In diesen Betrieben arbei- an den Fronten sowohl im Osten als kleiner wurden. teten die Gefangenen innerhalb der An- auch im Westen immer schneller voran. Auch von Wolfenbüttel aus wurden staltsmauern. Gleiches galt auch für Spätestens Anfang 1945 sandte das Reichs- Gefangene kurz vor der Ankunft ameri- lokale Betriebe, die ihre Produkte von justizministerium den regional für den kanischer Truppen weggebracht. Auf Gefangenen im Strafgefängnis fertigen Strafvollzug zuständigen Staatsanwälten Anweisung des Braunschweiger General- ließen, wie der Konservenfabrikant „Richtlinien für die Räumung von Justiz- staatsanwalts wurden Anfang April 1945 Busch, Barnewitz & Co. oder die opti- vollzugsanstalten im Rahmen der Frei- etwa 300 „Nacht-und-Nebel“-Gefangene sche Firma Voigtländer & Sohn, die Ziel- machung bedrohter Reichsgebiete“.32 und fünfzig zum Tode Verurteilte zu- fernrohre und Monokulare für die Wehr- Danach sollten frontnahe Haftanstalten nächst auf Transport nach Magdeburg macht herstellen ließ. Wolfenbütteler beim Herannahen der Alliierten geräumt geschickt. Die „Nacht-und-Nebel“-Ge- Gefangene wurden aber auch bei lokalen werden. Wenn das nicht möglich war, fangenen mussten von dort zu Fuß wei- Firmen vor Ort eingesetzt. Die bekann- sollten Gefangene, „deren reibungslose ter in Richtung des Zuchthauses Branden- testen Unternehmen waren die Büssing Einordnung in die Volksgemeinschaft“ burg-Görden marschieren. Kranke wurden NAG, die Firma Gebr. Welger oder das zu erwarten sei, freigelassen werden. mit LKWs transportiert.36 Am 15. April Kalkwerk Bahl & Co. Dazu rückten die Alle anderen, insbesondere „staatspoli- erreichten 257 Gefangene Brandenburg.37 Gefangenen morgens in die Betriebe aus tisch Gefährliche“, worunter ausländische Die Überlebenden wurden am 27. April und kamen abends wieder zurück in die Widerstandskämpfer, Juden sowie Sinti im Zuchthaus Brandenburg-Görden von Anstalt. Waren Arbeitsbetriebe weiter und Roma fielen, seien „der Polizei zur sowjetischen Truppen befreit. entfernt, wurden die Gefangenen vor Beseitigung zu übergeben“ oder „durch Parallel dazu erreichte am 6. April ein Ort untergebracht. Ein Beispiel dafür ist Erschießen unschädlich zu machen“.33 Räumungstransport mit Gefangenen aus das bereits erwähnte, 1939 eingerichtete In den meisten Gefängnissen bereitete dem Zuchthaus Celle das Strafgefängnis Arbeitskommando beim Kalkwerk Adolph das Justizpersonal dieser Anweisung Wolfenbüttel. Aus einem Erinnerungsbe- Willikens in Oker. Ab dem Sommer 1944 entsprechend Selektionslisten vor. Für richt eines politischen Gefangenen geht wurden mit Arbeitsstellen in Wesendorf, geordnete „Rückführungen“ standen hervor, dass es dabei zu einer großen Walbeck, Blankenburg-Odawerk und aber keine Transportmittel bereit. Als im Zahl von Todesfällen kam. Von den 280 Blankenburg-Klosterwerk weitere Au- Januar 1945 sowjetische Truppen in Ost- Gefangenen, die in Celle aufbrachen, ßenkommandos des Strafgefängnisses preußen und Schlesien vordrangen, trie- sollen nur 180 in Wolfenbüttel angekom- eingerichtet. Hier brachte man haupt- ben die Gefängnisleitungen die Gefange- men sein.38 Nur wenige Tage später, am sächlich die zwischen Juli und Septem- nen häufig zu Fuß auf lange Räumungs- 11. April 1945, befreiten amerikanische 12 ber 1944 eingetroffenen polnischen und transporte.34 Truppen das Strafgefängnis. italienischen Gefangenen unter. Das Von der Regelung, dass als weniger Je näher die Befreiung durch die Alli- letzte feste Außenkommando des Straf- „gefährlich“ erachtete Gefangene ent- ierten rückte, desto wahrscheinlicher gefängnisses Wolfenbüttel wurde im Fe- lassen werden sollten, scheint vielfach wurde für viele Gefangene der Tod. bruar 1945 bei der Reichsbahn in Halber- Gebrauch gemacht worden zu sein. Das Oft bedeutete der Einmarsch der Alli- stadt eingerichtet. Die Arbeit bei den gilt auch für die Festlegung, dass beson- ierten die Rettung in letzter Minute. Außenkommandos war körperlich aus- ders „gefährliche“ Gefangene zu ermor- Die Rote Armee ließ fast alle Gefäng- zehrend; die Lebensbedingungen waren den waren. Aufgrund fehlender Studien nisinsassen sofort frei, weil sie diese teils ähnlich katastrophal wie in den lässt sich nicht beziffern, wie viele Gefan- für Opfer des NS-Staates hielt. Ähnlich Konzentrationslagern. gene Mordopfer regionaler Instanzen wa- agierten die Amerikaner. Die Briten ren. Allein bei den drei größten bekann- hingegen überprüften die Gefangenen Das Ende ten Massakern in Sonnenburg (Branden- und ließen diejenigen in Haft, von de- burg, heutiges Polen), Stein (Niederöster- nen sie annahmen, dass sie gewöhnli- Ab dem Sommer 1944 verschlechter- reich) und im Ruhrgebiet starben aber che Kriminelle waren. Dazu zählten sie ten sich die Bedingungen in den Gefäng- etwa 1.300 Justizgefangene.35 auch aufgrund § 175 RStGB Verurteil- nissen und ihren Außenlagern drastisch. In den überfüllten Gefängnissen im te. Nur explizit politische Gefangene Die Gefangenenzahlen stiegen weiter an Reichsinnern verschlechterten sich die und die meisten Ausländer ließen sie – u.a. eine Folge von Räumungstrans- Bedingungen nach der Aufnahme der frei – so auch in Wolfenbüttel: am porten aus frontnahen Gefängnissen „rückgeführten“ Gefangenen aus den 19. April begannen die Briten hier mit u.a. in Polen, Frankreich, Belgien und frontnahen Haftstätten noch einmal dra- der Überprüfung der Gefangenen. Italien. So kamen auf Verfügung des matisch. Teils versuchten die Gefängnis- Wenige Tage später waren bereits

Reichsjustizministeriums im Sommer 32 Vgl. Christoph Bitterberg/Sylvia de Pasquale, Mord, etwa 500 Gefangene entlassen wor- und Herbst 1944 mehr als 600 Gefange- Massensterben und „Rückführungen“. Die letzten Kriegsmonate im nationalsozialistischen Strafvollzug, 36 Vgl. Georges Michotte, Le Parti National 1940-1945. ne aus den polnischen Haftanstalten in: Konzentrationslager. Studien zur Geschichte des NS- Récit d’un condamné à mort, 1982, S.159. Terrors 1 (2015), S. 81-96, hier S. 81. Wisnicz-Nowy, Krakau, Petrikau und 37 Vgl. Zugangsliste des Zuchthauses Brandenburg-Gör- Tschenstochau sowie etwa 200 italieni- 33 Zit. nach ebd., S. 82. Vgl. auch Wachsmann, Gefan- den, 15.4.1945, Brandenburgisches Landeshauptarchiv gen, S. 362 ff., sowie Sven Keller, Volksgemeinschaft am Potsdam, Rep 29 Zuchthaus Brandenburg Do 10. sche Gefangene aus der Haftanstalt Ende, Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013, S. 252 ff. 38 Richard Trampenau, Aus dem Zuchthaus ins befreite Castelfranco nach Wolfenbüttel. Aber Wilhelmsburg, in: VVN-BdA Harburg (Hrsg.): „Demokra- auch der Anteil an belgischen und fran- 34 Vgl. Bitterberg/de Pasquale, S. 83 ff. tie in kurzen Hosen“ – Die Befreiung Harburgs und Wil- helmsburgs vom Faschismus und die verpassten Chan- zösischen Gefangenen stieg ab 1942 35 Vgl. ebd., S. 86. cen nach 1945, Hamburg 1995, S.45-49, hier S. 45. Brandenburg-Görden oder von Johannes Fülberth zum Gefängnis Spandau.42 Ins- gesamt aber ist das Thema in der Ge- schichtsforschung nach wie vor unter- repräsentiert. Das gilt auch für die öffent- liche Wahrnehmung. Es bleibt daher zu hoffen, dass die neue Dauerausstellung in der Gedenkstätte Wolfenbüttel dazu beiträgt, dass beim Thema „Justiz im Nationalsozialismus“ nicht nur an „furchtbare Juristen“43 in Gerichtssälen und in Ministerien gedacht wird, sondern auch an die vielfach verbrecherische Vollzugspraxis in den Gefängnissen während der NS-Zeit.

den. Ende April befanden sich nur dass die Justiz anständig geblieben 13 noch 500 Gefangene vor Ort in Haft.39 sei und damit auch der Strafvollzug so schlecht nicht gewesen sein könne. Ahndung der Verbrechen im Gleichzeitig misstrauten die Richter den Strafvollzug ehemaligen Gefangenen, die als Zeugen aussagten, insbesondere, wenn sie we- Nach der Befreiung der Strafanstalten gen gewöhnlicher krimineller Delikte in und dem Ende der NS-Herrschaft entlie- Haft gewesen waren.40 ßen die Alliierten zunächst einen großen Wegen Überalterung des unbelasteten Teil der Gefängnisbeamten. Die Lücken Personals und Personalmangels waren sollten durch unbelastetes Personal ge- schon bald nach Kriegsende viele von den füllt werden. Dabei griff man auch auf Alliierten zunächst entlassene Gefäng- 1933 entlassene Bedienstete oder An- nisbeamte wieder im Dienst. Der Um- staltsleiter zurück, die dem Weimarer gang mit dem Gefängnispersonal folgte Reformstrafvollzug angehört hatten. dabei im Wesentlichen dem gleichen Nur in einigen wenigen Verfahren vor „Kreislauf von Entlassung, Entnazifizie- alliierten Militärgerichten wurde gegen rung und Wiedereinstellung“41 wie Gefängnisbeamte Anklage erhoben. Der beim sonstigen Justizpersonal. Großteil der Anklagen wurde vor deut- Wenig Interesse widmete über Jahr- Im Strafgefängnis Wolfenbüttel an den Folgen von schen Zivilgerichten verhandelt. Die zehnte auch die Geschichtsschreibung Hunger und Krankheiten gestorbene Gefangene, April 1945. deutsche Justiz unternahm jedoch keine dem Thema Strafvollzug im National- Auf der Rückseite des Fotos notierte der belgische großen Anstrengungen, um die Zustän- sozialismus. Erst 2004 erschien mit Niko- Kriegsberichterstatter Raphael Algoet: „Keller des Lazaretts (dort gelagerte, mindestens 15 Tage alte de in den Strafanstalten aufzuarbeiten. laus Wachmanns „Hitler’s Prisons“ ein Leichen“. • CEGESOMA Brüssel Vielfach zeigten die Richter eher Sympa- erster Gesamtüberblick zum Thema thien für die angeblich schwere Arbeit (dt.: „Gefangen unter Hitler“, 2006). Es der Gefängnisbeamten bei der Bewa- folgten seither einige Detailstudien, u.a. 42 Sylvia de Pasquale, Zwischen Resozialisierung und „Ausmerze“. Strafvollzug in Brandenburg an der Havel chung von „Kriminellen“ und „Schwer- von Sylvia de Pasquale zum Zuchthaus (1920-1945), Berlin 2013; Johannes Fülberth, Gefängnis Spandau 1918-1947. Strafvollzug in Demokratie und erziehbaren“. Zudem pochten sie darauf, Diktatur, Berlin/Brandenburg 2014. 40 Vgl. Wachsmann, S. 390 ff. 39 Vgl. The National Archives London, WO 171-1918, Bl. 43 Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte 16 ff. 41 Ebd., S. 395. Vergangenheit der deutschen Justiz, Berlin 2014.

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus Justiz und Nationalsozialismus im Land Braunschweig

Hans-Ulrich Ludewig

14 „Unser Rechtswesen muß in erster lücken gibt, von zivilrechtlichen Verfah- Gebäude. In beiden Gebäuden wurden Linie der Erhaltung der Volksgemein- ren ganz zu schweigen.3 im März 1933 Haftstätten für Schutzhäft- schaft dienen. Der Unabsetzbarkeit der Das Land Braunschweig hatte für die linge eingerichtet. Bereits am 11. März Richter auf der einen Seite muß die Elas- NSDAP besondere Bedeutung. Seit dem 1933 kam es in Braunschweig zu antise- tizität der Urteilsfindung zum Zweck der Herbst 1930 war sie, zusammen mit der mitischen Ausschreitungen, zu Verwüs- Erhaltung der Gesellschaft entsprechen. nationalkonservativen DNVP, Regie- tungen jüdischer Geschäfte. Der reichs- Nicht das Individuum kann der Mittel- rungspartei. Länger als anderswo hatte weit angeordnete Boykott am 1. April punkt der gesetzlichen Sorge sein, son- sie Zeit, wichtige Machtpositionen zu be- 1933 wurde in Braunschweig besonders dern das Volk“.1 Bereits in seiner Regie- setzen und den Rechtsstaat Schritt für aktiv durchgeführt. Auch in Braun- rungserklärung vom 23. März 1933 vor Schritt auszuhöhlen. Im Februar 1932 er- schweig veranstalteten Mitglieder der dem Reichstag formulierte Adolf Hitler nannte die bürgerlich-nationalsozialisti- Deutschen Studentenschaft am 10. Mai diesen Grundsatz nationalsozialistischer sche Koalitionsregierung Hitler zum 1933 eine Bücherverbrennung vor dem Rechtsauffassung. In vielen Urteilen Braunschweiger Regierungsrat und er- Schloss. Mit der Ermordung von neun Braunschweiger Gerichte aus den Jahren möglichte damit seine Einbürgerung.4 Kommunisten und einem Studenten in 1933 bis 1945 lässt sich diese Grundidee Mit der Machtübernahme im Reich Rieseberg erreichte der NS-Terror An- finden. am 30. Januar 1933 gingen die Braun- fang Juli 1933 seinen Höhepunkt.5 Der folgende Überblick konzentriert schweiger Nationalsozialisten zur offenen Braunschweig erwarb sich den zweifel- sich auf die Strafverfahren im Oberlandes- Anwendung von Gewalt und Terror ge- haften Ruf, Hochburg der Gewaltexzesse gerichtsbezirk Braunschweig,2 wobei die gen Kommunisten, Sozialdemokraten in Deutschland zu sein. Verantwortlich Rechtsprechung am Braunschweiger und Gewerkschafter über. Sie verwüste- dafür waren neben Ministerpräsident Sondergericht im Mittelpunkt steht. Sie ten, prügelten und töteten beim Sturm die beiden SS-Führer ist für die NS-Zeit am besten erforscht, auf das Volksfreundhaus und im AOK- und Friedrich Jeckeln. während es für die strafrechtliche Recht- Alpers wurde im Mai 1933 Braunschwei- 3 Zur Geschichte des Braunschweiger Sondergerichts sprechung an den Landgerichten und an vgl. Wassermann, Geschichte, S. 64 ff. Hans-Ulrich ger Justizminister. Ludewig u. Dietrich Kuessner, „Es sei also jeder ge- den Amtsgerichten noch große Forschungs- warnt“. Das Sondergericht Braunschweig 1933-1945, Braunschweig 2000. 1 Verhandlungen des Reichstags, VIII. Wahlperiode, 1933. Bd. 457, S. 28. 4 Ernst August Roloff, Bürgertum und Nationalsozialis- 5 Landgericht Braunschweig, Im Namen des Rechts! mus, Hannover 1961. Bernd Rother, Der Freistaat Braun- Das Urteil gegen Dietrich Klagges, 1950, S. 86 ff. Vgl. 2 Rudolf Wassermann, Zur Geschichte des Oberlandes- schweig in der Weimarer Republik (1919-1933), in: Horst- auch Alfred Oehl, Der Massenmord in Rieseberg, Braun- gerichts Braunschweig, in: Rudolf Wassermann (Hg.), Rüdiger Jarck u. Gerhard Schildt (Hg.), Die Braun- schweig 1981. Werner Sohn, Im Spiegel der Nachkriegs- Justiz im Wandel der Zeit. Festschrift des Oberlandesge- schweigische Landesgeschichte, Braunschweig 2000, prozesse: Die Errichtung der NS-Herrschaft im Freistaat richts Braunschweig, Braunschweig 1989, S. 11-110. S. 945-980. Braunschweig, Braunschweig 2003, S. 155 ff. Nicht nur Gewalt und Terror prägten sozialistische Parlament Deutschlands. gingen Reichsregierung und Landesre- 15 diese Wochen. Man sah in diesen Tagen In den Kammern, Verbänden und Verei- gierungen mit Entlassungen vor. Hand- häufig begeisterte Menschen auf den nen übernahmen Nationalsozialisten die habe dafür bot das „Gesetz zur Wieder- fahnengeschmückten Straßen und Plät- Führungspositionen. In den seltensten herstellung des Berufsbeamtentums“ zen. Diese massenhafte Zustimmung der Fällen war dabei Gewaltandrohung oder („Berufsbeamtengesetz“) vom 7. April Bevölkerung war ein entscheidendes gar Gewaltanwendung notwendig.6 1933. Im OLG-Bezirk wurden Oberlan- Merkmal der nationalsozialistischen In diesem politisch-gesellschaftlichen desgerichtsrat Dr. Felix Kopfstein und Machtdurchsetzung. Das Programm- Umfeld ist das Verhalten der Braun- Landgerichtsrat Curt Staff entlassen; sie Konglomerat der Nationalsozialisten – schweiger Justiz zu sehen. In einer Ver- boten nach § 4 des Gesetzes nicht die die Mischung aus Antiliberalismus, Anti- sammlung des NS-Juristenbundes am Gewähr, dass sie „rückhaltlos für den parlamentarismus, Antimarxismus und 27. April 1933 beantragten alle Anwesen- nationalen Staat eintreten“ würden.8 Antisemitismus – enthielt ein Angebot den bis auf drei, der NSDAP beizutreten.7 Oberlandesgerichtspräsident Willy für die politischen, sozialen und nationa- Der Parteieintritt war nicht nur ein for- Röpcke, Mitglied der liberalen DDP, wur- len Wünsche der unterschiedlichsten maler Akt. Die nationalsozialistische de in das Amt des Oberlandesgerichts- Bevölkerungsgruppen. Die Nationalsozia- Machtergreifung stieß bei der Mehrzahl rats versetzt, Landgerichtspräsident listen schienen dem weit verbreiteten der Richter und Staatsanwälte auf wohl- Kurt Trinks wurde zum Amtsgerichtsrat Bedürfnis der Menschen zu entspre- wollende bis begeisterte Zustimmung. zurückgestuft. Gemaßregelt wurde auch chen, in einer Gemeinschaft jenseits von Viele Juristen teilten ihre antidemo- Landgerichtsrat William Pockels. Die Ge- Parteien und Klassen aufgehoben zu kratische, republikfeindliche und autori- richtsassessoren Franz Zwilgmeyer und sein; sie schienen die Sehnsucht nach täre Einstellung mit dem National- Werner Hofmeister wurden entlassen. Vergangenem zu stillen, gleichzeitig et- sozialismus. was Neues, Zukunftsträchtiges und Dy- Gegen diejenigen Justizbeamten, die Hilfspolizisten verbrennen eine Fahne aus dem Volks- freundhaus. • Stadtarchiv Braunschweig, H XVI: H III namisches zu versprechen. Das alles als politisch unzuverlässig galten und 1f/1933 verband sich mit der geradezu kultischen „nichtarischer Abstammung“ waren, Ausweis des Braunschweigischen Landtags Friedrich Begeisterung für den neuen Reichskanz- 6 Hans-Ulrich Ludewig, Das Land Braunschweig im von Alpers 1933. • NLA WO, 23 Neu, Nr. 2118 ler in Berlin. Das Bürgertum war in diesen Dritten Reich (1933-1945), in: Braunschweigische Lan- desgeschichte, S. 981-1024. 8 Beide Richter erhielten keine Pension. Vgl. zu Kopf- Tagen auf dem Weg ins nationalsozialis- stein: Michael Schlüter u. Dieter Miosge, Zulassung ist 7 Wassermann, Geschichte, S.42. Michael Schlüter, Die zurückgenommen. Das Schicksal der Juristen im Bezirk tische Lager. Die bürgerlichen Parteien Geschichte der Rechtsanwaltskammer Braunschweig, in: Braunschweig von 1933-1945, Braunschweig 2006, lösten sich auf. Braunschweig meldete Edgar Isermann u. Michael Schlüter (Hg.), Justiz und An- S. 78-82. Curt Staff wurde nach Kriegsende General- waltschaft in Braunschweig 1879-2004, Braunschweig staatsanwalt in Braunschweig und 1951 OLG-Präsident am 29. April 1933 das erste rein national- 2004, S. 70-74. in Frankfurt.

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 16 Die beiden jüdischen Oberlandesge- sozialisten als Sozialdemokraten, als befreit und durch die Überführung in richtsräte Rudolf Heymann und Wilhelm Landtagsabgeordneter, Minister und Strafhaft den Willkürmaßnahmen der Mansfeld wurden beruflich und gesell- Ministerpräsident der eine, als Braun- Hilfspolizisten entzogen zu werden“.12 schaftlich diskriminiert, blieben jedoch schweiger Oberbürgermeister der ande- Heusinger intervenierte auch bei Alpers, im Amt. Für beide Richter galt die Aus- re, besonders verhasst. Otto Bracke, als er von den staatsanwaltlichen Behin- nahmeregelung des „Berufsbeamtenge- Sohn des SPD-Gründers Wilhelm Bracke derungen der Ermittlungen im Zusam- setzes“, da sie bereits vor dem 1. April und Mitglied der DDP, wurde aus dem menhang mit den Rieseberg-Morden er- 1914 zu Beamten ernannt worden wa- Amt des Notars entlassen und beging fuhr. Nach weiteren Konflikten erfolgte ren.9 Gleichgeschaltet wurde auch die Suizid.11 Ende 1934 Heusingers Ablösung als OLG- Anwaltskammer, die ihren bisherigen Für die Nachfolge des OLG-Präsiden- Präsident. Er wurde in das Amt eines Vorstand auswechselte.10 Den jüdischen ten Röpcke wurde ein parteinaher Jurist Senatspräsidenten beim OLG Braun- Rechtsanwälten entzogen die National- gesucht. Der neue Justizminister Alpers schweig versetzt, behielt aber seinen sozialisten Schritt für Schritt die Grund- glaubte, ihn mit dem erst 33 Jahre alten Titel. Seine im Frühjahr 1933 beantragte lage ihrer Berufsausübung, beginnend Oberlandesgerichtsrat Bruno Heusinger Aufnahme in die NSDAP wurde jetzt mit dem „Gesetz über die Zulassung zur gefunden zu haben. Er sollte sich täu- abgelehnt.13 Rechtsanwaltschaft“ vom 7. April 1933. schen. Bereits kurz nach seinem Amts- Die Nachfolge Heusingers trat am Die jüdischen Rechtsanwälte Norbert antritt am 1. Juni 1933 geriet Heusinger 1. November 1935 Günther Nebelung Regensburger, Erich Salomon und Bruno mit dem Minister in Konflikt. Er protes- an. Er war seit 1928 Mitglied der NSDAP; Mielziner begingen Suizid. Ulrich Moser, tierte gegen die furchtbaren Zustände in seinen rasanten Aufstieg an die Spitze Julius Frank, Walter Aronheim und Leo den Haftlokalen der SA und der SS, die der Braunschweiger Justiz verdankte er Tannchen verloren ihre Anwaltszulas- diese im Volksfreundhaus und im AOK- seiner Parteikarriere. Die im Juli 1934 sung; sie überlebten in der Emigration. Gebäude für politische Gegner errichtet erfolgte Ernennung vom Rechtsanwalt Schwere Misshandlungen erfuhren die hatten. Heusinger erreichte, dass ein Ge- und Notar in Seesen zum Senatspräsi- Rechtsanwälte Heinrich Jasper und richt im AOK-Gebäude tagte und die Ge- denten am OLG Braunschweig war ein Ernst Böhme. Sie waren den National- fangenen im beschleunigten Verfahren verurteilte. Die Häftlinge empfanden es 9 Im November 1939 ging Wilhelm Mansfeld vorzeitig in Pension. Im April 1945 setzte die Militärregierung ihn als „Erleichterung, durch einen Urteils- 12 Urteil im Klagges-Prozess, S. 142. als OLG-Präsidenten ein. Dieter Miosge, Die Braun- schweiger Juristenfamilie Mansfeld, in: Wassermann, spruch von der quälenden Ungewißheit 13 Manfred Flotho, Bruno Heusinger – ein Präsident im Justiz, S.328-348. Konflikt zwischen Solidarität und Gewissen, in: Wasser- 11 Zu den Einzelbiografien vgl. Schlüter/Miosge, mann, Justiz, S. 349-369. Heusinger wurde 1948 OLG- 10 Isermann /Schlüter, Justiz, S. 71. Zulassung. Präsident in Braunschweig. spektakulärer Karriereschritt.14 vertretend die Aufgaben des General- mit aller strafrechtlichen Härte gegen 17 Im Mai 1941 nahm Nebelung zusam- staatsanwaltes wahr. „Volksschädlinge“ vorging, steht dabei men mit Oberstaatsanwalt Wilhelm Hirte Aufgrund einer Verfügung des Reichs- außer Frage. in Berlin an der Besprechung aller OLG- justizministers mussten alle OLG-Präsi- Am 1. Januar 1935 gingen die Zustän- Präsidenten und Generalstaatsanwälte denten und Generalstaatsanwälte im digkeiten der obersten Landesjustizbe- teil, in der über das „Euthanasie“-Pro- Reich seit Ende 1935 monatlich abwech- hörden auf den Reichsjustizminister gramm informiert wurde; Widerspruch selnd vertrauliche Lageberichte direkt an über. In Braunschweig vollzog der gegen diese Mordaktion kam von kei- den Reichsjustizminister liefern.16 Sie Staatssekretär im Reichsjustizministeri- nem Teilnehmer.15 Letzter OLG-Präsi- sind für den Historiker eine – freilich kri- um, Roland Freisler, am 11. Januar 1935 dent in der NS-Zeit war Richard Kulen- tisch zu lesende – aufschlussreiche die Übernahme in einem feierlichen Akt. kamp, der zum 1. Juli 1944 nach Quelle aus dem inneren Kreis der Justiz: Fortan waren Einfluss- und Lenkungsmaß- Braunschweig versetzt wurde. Wäh- Stimmungsberichte über die politische nahmen durch das Reichsjustizministeri- rend der kriegsbedingten Abwesenheit Situation, über die täglichen Probleme um noch leichter möglich als bisher. Das Nebelungs führte Paul Döring die Ge- des Gerichtsalltags, im Krieg immer Reichsjustizministerium konnte Rügen schäfte des Präsidenten. General- häufiger über das Alltagsleben der Men- aussprechen; der Oberreichsanwalt hat- staatsanwälte am OLG Braunschweig schen. Bemerkenswert sind in den Be- te das Recht, am Reichsgericht, beim in der NS-Zeit waren Heinrich Müller richten Nebelungs die Klagen über die Volksgerichtshof und beim Reichskriegs- 1933–1941, Willy Rahmel 1942–1943 Übergriffe der Politischen Polizei, der SS gericht „außerordentlichen Einspruch“ und Werner Meißner 1944–1945. Nach- und der Partei in die Kompetenzen der gegen ein Urteil einzulegen; seit Februar dem Müller 1939 zum Wehrdienst ein- Justiz. Als „alter Kämpfer“ konnte er 1940 konnte der Oberreichsanwalt darü- gezogen wurde, nahm Wilhelm Hirte sich diese Kritik leisten. Das Ansehen ber hinaus beim Reichsgericht „Nichtig- von September 1939 bis Juli 1942 stell- der Justiz nach außen war ihm wichtig. keitsbeschwerde“ einlegen, wenn ihm Immer wieder betonte er die Notwendig- ein Urteil „ungerecht“ erschien. Als Hitler 14 Im Juli 1944 wurde er an den Volksgerichtshof in Ber- lin versetzt und übernahm den Vorsitz im 4. Senat, zu- keit rechtsförmiger Verfahren auch im in seiner Reichstagsrede vom 26. April ständig für Landesverratssachen. „völkischen Staat“. Dass Nebelung über- 1942 die Justiz angriff und den Richtern, 15 Wassermann, Geschichte, S. 48 ff. Wilfried Knauer, zeugter Nationalsozialist war, das Füh- „die ersichtlich das Gebot der Stunde Günther Nebelung (1896-1970), in: Isermann/Schlüter, Justiz, S. 141-145. Dieter Miosge, Günther Nebelung, in: rerprinzip auch in der Justiz vertrat und Reinhard Bein (Hg.), Hitlers Braunschweiger Personal, Braunschweig 2017, S. 198-203. Gegen die Teilnehmer Die Landtagsfraktion 1930 im Garten des Landtagsge- der Konferenz vom Mai 1941 erhob 1965 der Frankfurter 16 Wilfried Knauer, Die ‚Lageberichte‘ des Braunschwei- bäudes. Heinrich Jasper und Ernst Böhme sitzend in der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Anklage. Das Verfahren ger Oberlandesgerichtspräsidenten im Zweiten Welt- ersten Reihe (Mitte und 1.v.r.) • NLA Wolfenbüttel 50 Slg, wurde eingestellt. krieg, in: Isermann/Schlüter, Justiz, S. 110-117. Zg. 06/2003, Nr. 310

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 18 nicht erkennen“, mit Amtsenthebung Urteile, keine Bewährung, keine Straf- den meistens vor den Strafsenaten der drohte – bis Kriegsende wurde aller- aussetzung. Das Sondergericht setzte sich Oberlandesgerichte bzw. vor dem Volks- dings kein Braunschweiger Sonderrich- aus dem Vorsitzenden und zwei Beisitzern gerichtshof verhandelt. Die spektakulä- ter seines Amtes enthoben –, nahmen zusammen; ein Oberstaatsanwalt fungier- ren politischen Prozesse gegen Regime- die Lenkungsmaßnahmen seitens des te als Leiter der Anklagebehörde, unter- gegner fanden deshalb nicht vor dem Justizministeriums zu: Mittelbar durch stützt von mehreren Staatsanwälten. Die Sondergericht statt, sondern vor dem Weisungen des Reichsjustizministers, Berufung der Mitglieder erfolgte in den Strafsenat des Oberlandesgerichts. Nach vor allem aber durch die „Richterbriefe“, ersten Jahren durch das Präsidium des der Entdeckung einzelner kommunisti- die von Oktober 1942 bis zum Dezember Landgerichts, später durch den Präsiden- scher Widerstandsgruppen im Jahre 1944 einmal pro Monat an die Gerichte ten des Oberlandesgerichts. In der Kriegs- 1934 durch die Gestapo folgten Verfah- geschickt wurden. zeit gab es zuweilen Personalmangel, der ren vor dem 1. Strafsenat des Oberlan- Von Anfang an setzten die National- Auswirkungen auf die Besetzung des Ge- desgerichts, der hohe Zuchthausstrafen sozialisten das Strafrecht zum Kampf ge- richts hatte. Die Angeklagten hatten An- verhängte. Voller Befriedigung schrieb gen den politischen Gegner ein. Neben spruch auf einen Verteidiger. Häufig wa- OLG-Präsident Nebelung Anfang 1936 in dem 1934 errichteten Volksgerichtshof ren es Pflichtverteidiger, bei denen man seinem Lagebericht an den Reichsjustiz- in Berlin dienten ihnen hierzu vor allem routiniertes, ängstliches oder gleichgülti- minister: „Tätige politische Gegner- die Sondergerichte. Sondergerichte ges Verhalten feststellen konnte. Es gab schaft, die sich etwa in Hochverrats- wurden aufgrund einer Notverordnung auch mutige Verteidiger, Oskar Kahn war klagen zeigte, ist fast ganz verschwunden, des Reichspräsidenten Paul von Hinden- einer von ihnen.18 die zuletzt abgeurteilten Fälle von Bedeu- burg vom 21. März1933 für den Bezirk ei- Die Sondergerichte waren zunächst zu- tung haben sich noch 1934 zugetragen“.19 nes jeden Oberlandesgerichts gebildet.17 ständig für Verstöße gegen die „Verord- Die überwiegende Zahl der sonderge- Sie lassen sich als eine Form von Schnell- nung zum Schutz von Volk und Staat“ richtlichen Verfahren in den Friedens- justiz charakterisieren, welche die Rech- vom 28. Februar 1933, die sogenannte jahren betraf die „Heimtücke-Gesetz- te der Angeklagten entscheidend be- Reichstagsbrandverordnung. Als schwer- gebung“, die Kritik gegen Regierung, schränkte: Es gab keine gerichtliche Vor- wiegend eingeschätzte Verstöße gegen NS-Größen und NS-Organisationen un- untersuchung, die Ladungsfrist wurde die Reichstagsbrandverordnung sowie ter Strafen stellte. Jede regimekritische verkürzt, die mündliche Haftprüfung ent- Fälle von Hoch- und Landesverrat wur- Äußerung konnte als „Heimtücke“ be- fiel, es gab keine Rechtsmittel gegen straft werden, wobei zentrale Begriffe 18 Wilfried Knauer, Rechtsanwalt und Notar Dr. Oskar 17 Zu den meisten Sondergerichten im Deutschen Reich Kahn (1901-1972), in: Isermann/Schlüter, Justiz, S. 19 Lagebericht vom 4.1.1936, Bundesarchiv Berlin, R liegen inzwischen Einzelstudien vor. 215-217. 22/3357. des Gesetzes nicht exakt definiert und Auch in Braunschweig gab es seit dem Land Braunschweig statt.25 Seit Bestehen in hohem Maße auslegungsfähig waren. Frühjahr 1933 ein Sondergericht.21 Weit des Sondergerichts wurde über dessen Kritik an sozialen und politischen Verhält- über 7.000 Personen kamen hier mit die- Tätigkeit in der Presse berichtet. Gerade nissen, Kritik an führenden Personen und ser gefürchteten Institution in Berührung. die ersten Urteile gegen die politischen Institutionen des NS-Staates, schließlich Es begleitete die Herrschaft der Natio- Gegner im Frühjahr und Sommer 1933 das Erzählen von Witzen – all das konnte nalsozialisten von den ersten Anfängen sollten abschreckend wirken und wurden gefährlich werden. bis in die letzten Tage des Zusammen- dementsprechend in den Zeitungen In der Kriegszeit verstand sich das bruchs. Es arbeitete noch mit Effizienz präsentiert. Im Krieg berichteten die Sondergericht als „Panzertruppe der und Verlässlichkeit an der „inneren Zeitungen vor allem über Verfahren ge- Rechtspflege“20 an der inneren Front. Sie Front“, als die Städte schon längst in gen Schwarzschlachter und gegen zu stabilisieren gegen Feinde jeglicher Schutt und Asche lagen. „Plünderer“; auch über spektakuläre Art, sah die sondergerichtliche Recht- Am 8. April 1933 trat das Braunschwei- Prozesse, welche die NS-Machthaber sprechung als ihre Hauptaufgabe. In den ger Sondergericht zum ersten Mal zu- zur Einschüchterung der Bevölkerung Mittelpunkt rückten neue, bei Kriegs- sammen. Der neu ernannte Vorsitzende nutzen wollten. Häufig wurden Urteile beginn erlassene Straftatbestände. Vor des Sondergerichts, Landgerichtsdirek- – insbesondere Todesurteile – öffentlich einem Sondergericht wurde angeklagt, tor Friedrich Lachmund, ließ in seiner Er- angeschlagen. wer ausländische Rundfunksender ab- öffnungsansprache keinen Zweifel am Die besondere Härte in der Rechtspre- hörte, wer schwarz schlachtete, Lebens- Sinn und Zweck des Gerichts. Es werde chung der Sondergerichte in der Kriegs- mittel beiseite schaffte, wer sich der von Anfang an mit fester Hand zupacken, zeit macht eine wissenschaftliche Ausei- Wehrpflicht entzog, wer Soldaten zur um dem Rechnung zu tragen, was die nandersetzung mit diesen Gerichten und Fahnenflucht aufforderte, wer die Wehr- nationale Erhebung des deutschen Vol- ihren erschreckenden Urteilen unerläss- kraft zersetzte, wer mit Kriegsgefange- kes erfordere. Die zu erwartenden hohen lich. Doch die Sondergerichte ausschließ- nen in einer Weise Umgang pflegte, Strafen sollten so erzieherisch wirken, lich mit Todesurteilen in Verbindung zu „welche das gesunde Volksempfinden „daß binnen kurzem sowohl bei Verführ- sehen, würde die Sondergerichtsbarkeit gröblich“ verletzte, wer plünderte und ten wie bei gewohnheitsmäßigen Rechts- nicht hinreichend charakterisieren. Viele wer eine Straftat beging und dabei die brechern die Einsicht einkehrt, es sei Angeklagte erhielten „nur“ Gefängnis- zur Abwehr von Fliegerangriffen getrof- richtiger, mit dem Strom als gegen den strafen, es kam auch zu Freisprüchen fenen Maßnahmen, z.B. Verdunkelungen, Strom zu schwimmen“.22 Lachmund war und zur Verfahrenseinstellung. Bis ausnutzte. Wenn die Richter die Tat als im Frühjahr 1932 der NSDAP beigetre- Kriegsausbruch sind nicht die drakoni- „besonders verwerflich“ beurteilten, ten. Auf sein Drängen hin wurde Staats- schen Strafen das Merkmal des Sonder- oder wenn sie sich wider das „gesunde anwalt Paul Rasche, Mitglied der NSDAP, gerichts, sondern vielmehr die Diskre- Volksempfinden“ richtete, konnte der zum Vertreter der Anklagebehörde beim panz zwischen der Einleitung des Täter als „Volksschädling“ mit dem Tode Sondergericht ernannt: er brauche einen Verfahrens überhaupt und dem für uns bestraft werden. Es fallen die Unschärfe Staatsanwalt „der bellen kann“.23 Lach- heute gänzlich harmlos erscheinenden der Tatbestände sowie der weite Ermes- mund blieb bis Ende 1936 Vorsitzender Charakter vieler Fälle. Ob Freispruch 19 sensspielraum für das Gericht auf. Was des Braunschweiger Sondergerichts. oder geringe Strafe, entscheidend war, war „gesundes Volksempfinden“ und Als er mit der örtlichen SS in einen man war den Behörden und der Polizei was war „besondere Verwerflichkeit“? schweren Konflikt geriet, wurde er von auffällig geworden und damit am Ar- Die Richter hatten für ihre Entscheidung Reichsjustizminister Franz Gürtner an beitsplatz und bei den Nachbarn ge- Spielraum; sie nutzten ihn während der das Landgericht Krefeld versetzt.24 Die zeichnet. Hier lag eine der wichtigsten letzten Kriegsphase erschreckend selten weiteren Vorsitzenden waren bis Kriegs- Funktionen der Sondergerichte: ein- zugunsten der Angeklagten. ende Wilhelm Ehlers, Karl Höse, Hugo schüchtern und disziplinieren. Im Krieg Im Verlauf des Krieges kamen weitere Kalweit und Walter Lerche. Als Beisit- verschärften sich die Strafen von Jahr Strafverschärfungen hinzu. Die „Verord- zende am Sondergericht amtierten in zu Jahr. Die Zahl der Zuchthausstrafen nung über die Strafrechtspflege gegen diesen Jahren u.a. Walter Ahrens, Her- nahm deutlich zu und das Sondergericht Polen und Juden in den eingegliederten mann Angerstein, Ernst von Griesbach, Braunschweig verhängte Todesstrafen, Ostgebieten“ („Polenstrafrechtsveror- Rudolf Grimpe, Hermann Grotrian, Kurt 92 bis Kriegsende. dung“) vom 4. Dezember 1941 sah ge- Seggelke und Gebhard Spies. Fast alle sozialen Schichten standen gen Polen und Juden aus oder in den Die Verfahren fanden vor dem Sonder- vor dem Sondergericht. Bei genauerem Ostgebieten u.a. bei „deutschfeindlichen gericht im Gebäude des Landgerichts an Hinsehen gibt es Auffälligkeiten. Die so- Äußerungen“ die Todesstrafe vor. Nur in der Münzstraße, bei minder schweren ziale Zusammensetzung der Beschuldig- „minderschweren Fällen“ durfte auf Fällen auch vor den Amtsgerichten im ten und Verurteilten veränderte sich

Freiheitsstrafe erkannt werden. 21 Mit der Rechtsprechung des Sondergerichts Braun- über die Jahre hinweg. In den Anfangs- schweig hat erstmals Helmut Kramer bekannt gemacht. jahren waren Arbeiter und Mitglieder Helmut Kramer, Die NS-Justiz in Braunschweig und ihre Bewältigung ab 1945, in: Helmut Kramer, Braunschweig der Arbeiterorganisationen überreprä- unterm Hakenkreuz, Braunschweig 1981, S. 29-60. Vgl. auch Albrecht Lein, Braunschweiger Justiz im National- sentiert. Ihr Anteil ging in den folgenden sozialismus: Zwischen Anpassung und „innerer Emigra- Jahren deutlich zurück, vor allem der der tion“, in: Kramer, Braunschweig, S. 61-78. Wassermann, Justiz, S. 64 ff. Industriearbeiter. In den Jahren 1935 bis

22 Braunschweigische Landeszeitung vom 11.4.1933. 1939 mussten sich Menschen mit eher

23 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: Lude- 25 Arnulf Heinemann untersucht gerade die Rechtspre- wig/Kuessner, Sondergericht. chung am Amtsgericht Wolfenbüttel. 20 Diese Charakterisierung verwandte der damalige Staatssekretär im Reichsjustizministerium und spätere 24 Ausführlich zu diesem Konflikt Wassermann, Justiz, Reichsgesetzblatt vom 28. Februar 1933 mit der Be- Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler am 24. S. 53 ff. Friedrich-Wilhelm Müller, Friedrich Lachmund, kanntmachung der „Verordnung zum Schutz von Volk Oktober 1939 auf einer Tagung im in: Isermann/Schlüter, Justiz, S.159 f. Ludewig/Kuessner, und Staat“ • Bayerische Staatsbibliothek München / Reichsjustizministerium. Sondergericht, S. 257 ff. Bildarchiv

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus traditionellen Arbeiterberufen verant- lager Dachau gebracht, wo er 1938 starb. das Dilemma der Justiz im Dritten Reich worten, auch Landarbeiter und Gelegen- Pfarrer Hans Buttler, den das Sonderge- zutreffend mit dem Satz beschrieben: heitsarbeiter, Kaufleute, Bauern, kleinere richt im Frühjahr 1939 nach neunmonati- „Unrecht konnte vor noch größerem Un- Angestellte. Im Krieg wurden Zwangs- ger Untersuchungshaft freigesprochen recht bewahren“.28 Die Justiz hatte durch arbeiter_innen und Kriegsgefangene zur hatte, kam nach dem Freispruch bis 1945 ihre Anpassungstaktik und durch ihre zahlenmäßig stärksten Gruppe. In der Re- in Konzentrationslagerhaft, die er über- partielle Übereinstimmung mit NS- gel wurden sie für vergleichbare Delikte lebte. Nach sogenannten Urteilskorrek- Rechtsvorstellungen diese Situation ungleich härter bestraft als deutsche An- turen kam es zu polizeilichen Liquidie- selbst herbeigeführt. geklagte. Von den 92 vom Sondergericht rungen bei zu „milden“ gerichtlichen Braunschweig zum Tode Verurteilten Urteilen. Im Krieg verschärfte sich der waren 44 Zwangsarbeiter_innen. Viele Konkurrenzkampf zwischen Justiz und Urteile gegen Zwangsarbeiter_innen wa- SS, wobei die Justiz immer mehr Zuge- ren von ideologischen und rassistischen ständnisse machte. Seit September 1942 Vorstellungen der Richter geprägt. Bei überließ die Justiz die Strafverfolgung kleineren Vergehen wurden Zwangsar- von Juden, Polen, Sinti und Roma sowie beiter_innen und Kriegsgefangene auch Menschen aus der Sowjetunion zuneh- vor Amtsgerichten angeklagt.26 mend der Polizei. Nur wenn es „stimmungs- Um die Rolle der Sondergerichte ein- politisch“ opportun erschien, oder ein schätzen zu können, muss auf ein cha- Todesurteil zu erwarten war, konnte ein rakteristisches Strukturmerkmal des NS- Sondergerichtsverfahren eingeleitet Systems hingewiesen werden: Nicht nur werden. Auch „ Volksschädlinge“, „Ge- mit Hilfe des Strafrechts und der Gerich- wohnheitsverbrecher“ und „Asoziale“ te ging das NS-System gegen seine überstellte die Justiz immer häufiger der Gegner vor. Von Anfang an entwickelte Polizei. Wozu bedurfte das Regime über- das System eine noch wirksamere Ebe- haupt der Justiz, wo es doch mit der Ge- ne: die polizeiliche Gegnerbekämpfung. stapo und der SS wirkungsvollere Ver- Hierfür zuständig war die Gestapo und folgungsinstrumente besaß? Diktaturen das von ihr angewandte Mittel war die verwenden aus Gründen der Selbstdar- Schutzhaft. Die auf Artikel 48 der Weima- stellung gerne die Kulisse des öffentlichen rer Verfassung gestützte „Verordnung Gerichtsverfahrens, sie wollen den An- des Reichspräsidenten zum Schutz von schein von Recht und Gerechtigkeit wah- Volk und Staat“ („Reichstagsbrandver- ren. Schritt für Schritt sollte die Justiz in ordnung“) vom 28. Februar 1933 hatte den Unrechtsstaat mit hineingezogen die entscheidende Bresche in das bishe- werden. 20 rige Rechtssystem geschlagen. Sie setzte In dem Konkurrenzkampf unterschied- die Grund- und Freiheitsrechte außer licher Machtzentren versuchten sich die Kraft und ermöglichte Verhaftungen Sondergerichte anzupassen: Sie ver- ohne Beteiligung der Justiz. Diese poli- standen sich gerade im Krieg als Schnell- zeiliche Schutzhaft bildete die Grundlage gerichte. Sie wollten ihren Beitrag zur des KZ-Systems und entwickelte sich zu Stabilisierung der „inneren Front“ leis- einem wesentlichen Bestandteil des SS- ten. Sie wollten sich mit der nationalso- Staates. Konkurrenz zur Justiz war von zialistischen Rechtsvorstellung und dem Anfang an gegeben und gewollt. Das obersten Gerichtsherrn Hitler in Einklang Spannungsverhältnis zwischen Normen- befinden. Dabei verschärften sie in den staat (Justiz) und Maßnahmenstaat (Po- letzten beiden Kriegsjahren die sonder- lizei) bei der Gegnerbekämpfung prägte gerichtliche Rechtsprechung in einer den nationalsozialistischen „Doppel- Weise, dass sie zunehmend den Willkür- staat“27. Es kam immer wieder vor, dass handlungen des SS-Staates ähnelten. nach Haftbeendigung, nach Verfahren- Der Normenstaat glich sich dem Maß- seinstellungen oder Freisprüchen die nahmenstaat an. Die vom Sondergericht Beschuldigten von der Gestapo in Schutz- erlassenen Haftstrafen konnten durch- haft genommen wurden. Otto Thiele- aus vor Schutzhaft und damit vor der mann, Redakteur des sozialdemokrati- Einlieferung ins Konzentrationslager be- schen „Volksfreunds“ und den Nazis wahren. Die Verschärfung der Recht- besonders verhasst, wurde nach Verbü- sprechung wäre dann als Versuch zu se- ßung seiner vom Sondergericht verhäng- hen, schlimmere und lebensbedrohliche ten dreijährigen Haft von der Gestapo Inhaftierungen durch die SS zu verhin- als Schutzhäftling ins Konzentrations- dern. Dies war die Rechtfertigungsstrate-

26 Hans-Ulrich Ludewig ,Zwangsarbeiter vor Braun- gie der Justiz nach 1945. Angesichts der schweiger Gerichten, in: Gudrun Fiedler u. Hans-Ulrich außerordentlichen Härte vieler Urteile in Ludewig (Hg.), Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft im Lande Braunschweig 1939-1945, Braunschweig 2003, S. den letzten Kriegsjahren, angesichts der 263-286. zahlreichen Todesurteile, wird man die- 27 Den zentralen Begriff für die Analyse des NS-Systems ses Erklärungsmuster kritisch hinter- prägte Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat: Recht und Justiz 28 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt, Berlin im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1974. fragen müssen. Hans-Ulrich Thamer hat 1986, S. 387. Pädagogische Arbeit in einer Gedenkstätte zur NS-Justiz: das Beispiel des ehemaligen Strafgefängnisses Wolfenbüttel

Gustav Partington

Das Thema „Justiz im Nationalsozia- – als Marinerichter in der NS-Zeit für gar geschützt werden muss? Sind Urteile, 21 lismus“ spielt im schulischen Unterricht mehrere Todesurteile verantwortlich – die von einer Justiz gefällt werden, die eine eher untergeordnete Rolle, was sich zugeschriebene Zitat: „Was damals sich an geltendes Recht hält, nicht im daran belegen lässt, dass wir bei Besu- Rechtens war, kann heute nicht Unrecht Wortsinn „rechtmäßig“? cher_innengruppen geringe oder gar sein!“, ist von der Wissenschaft hinläng- Hier gilt es zunächst, Besucher_innen zu keine Vorkenntnisse feststellen. Auch lich als Rechtfertigung moralisch verwerf- verdeutlichen, dass die Justiz im National- bei Erwachsenen muss dies konstatiert lichen Handelns entlarvt. Der nationalso- sozialismus keineswegs rechtsstaatlichen werden, das ist oft sogar der Fall, wenn zialistische Staat war ein Unrechtsstaat, Ansprüchen genügte, dass z.B. die Bürger- die Besucher_innengruppe aus dem Be- Filbinger einer der „furchtbaren Juristen“ rechte schon kurz nach der Machtüber- reich „Justiz“ (Staatsanwält_innen, (Rolf Hochhuth), der als willfähriger Er- tragung mithilfe der sogenannten „Reichs- Richter_innen, JVA-Mitarbeiter_innen) füllungsgehilfe dieses Unrecht vollzog. tagsbrandverordnung“ vom 28. Februar kommt. Dabei sollte die Bedeutung die- Den Nationalsozialisten war jedoch ses Themas für das Leben der Menschen daran gelegen, den Schein der Legalität „Es ist mir ganz wichtig, dass in der nationalsozialistischen Zeit und zumindest in Teilen aufrechtzuerhalten. den Menschen, nicht nur den Schü- für die Etablierung des allgegenwärtigen Als Institutionen erfüllten beispielhaft lerinnen oder Schülern, bewusst ge- Terror-, Unterdrückungs- und Vernich- Gerichte und Gefängnisse diese Funkti- macht wird, wie wichtig es ist, heut- tungssystems der Nationalsozialisten on. Damit stellt sich eine erste Heraus- zutage eine Rechtssicherheit zu nicht unterschätzt werden. Zudem ist es forderung bei der Durchführung von haben und sich auch für diese wichtig zu verdeutlichen, dass die Men- Workshops in einer Justiz-Gedenkstätte: Rechtssicherheit einzusetzen, dass schen- und Bürgerrechte nicht wie „die Besucher_innengruppen stellen im Normal- sie die Werte des Grundgesetzes Luft zum Atmen“ vermeintlich selbstver- fall nicht in Frage, dass an einem offen- gemeinsam leben und diese auch ständlich zur Verfügung stehen, sondern sichtlichen Unrechtsort wie einer Folter- schätzen“. Robert Heldt, pädagogi- auch heute noch errungen und verteidigt stätte der Gestapo, in einem Konzentra- scher Mitarbeiter werden müssen. tions- oder Vernichtungslager eine

Gedenkstätte eingerichtet wird. Aber in Blick in eines der Hafthäuser im Strafgefängnis Wolfen- Justiz im Nationalsozialismus: einem Gefängnis? Ist eine Haftanstalt büttel. Foto: Raphaël Algoet, 1945 (nach der Befreiung). • CEGESOMA Brüssel ein Unrechtsstaat nicht eigentlich ein insofern „normaler“ Belegung des Strafgefängnisses Wolfenbüttel, 1934- Ort, als dort Menschen eingesperrt wer- 1945. Das Gefängnis hatte eine Belegungsfähigkeit von Das dem ehemaligen Ministerpräsiden- den, die sich nicht an Gesetze halten, vor bis zu 940 Personen. In den letzten beiden Kriegsjahren war das Gefängnis stark überbelegt • Grafik: Studio ten Baden-Württembergs, Hans Filbinger, denen die Gesellschaft im Extremfall so- Tabassomi

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 22 1933 außer Kraft gesetzt worden waren. allergrößter Härte – bis hin zur Todes- das Konzentrationslager Buchenwald Auch die Funktion der „Sondergerichte“ strafe – sanktioniert wurden. Beispielhaft verbracht wurden. mit dem klaren Auftrag der Verhängung sind folgende Opfergruppen zu nennen: Nicht zuletzt wurde in dem Strafge- politischer Urteile im Sinne der NS-Ideo- Politische Gefangene vor allem in den fängnis 1936/37 eine von zwanzig Justiz- logie muss erkannt werden. Jahren nach der Machtübernahme (An- Hinrichtungsstätten im Deutschen Reich Als Teil der dominierenden Rassenideo- gehörige der SPD, KPD, Gewerkschaften, eingerichtet, in der bis zum Ende der logie war es die Vorstellung der Etablie- aber auch NS-kritische Journalisten, nationalsozialistischen Herrschaft 526 rung einer fiktiven „Volksgemeinschaft“, Rechtsanwälte, Lehrer …), Zeugen Jeho- Frauen und Männer mit der Guillotine die als Hintergrund für die NS-Unrechts- vas, Homosexuelle, Sinti und Roma auf- getötet wurden. justiz entscheidend war. Nicht nur dort, grund ihrer „Rassenzugehörigkeit“ (oft Mit dem Kriegsbeginn 1939 radikalisier- aber vor allem in den „Sondergerichten“ als Vorstufe zu einem Transport in die te sich die Behandlung „Gemeinschafts- haben Richter darüber entschieden, wer Konzentrations- und Vernichtungslager). fremder“ durch die Justiz noch einmal als „Gemeinschaftsfremder“ eingesperrt Auch mit der Ausgrenzung und Ver- stark. Betrachtet man die Hinrichtungs- oder getötet werden musste. Orte der nichtung der Jüd_innen, die im Regelfall opfer, so lassen sich vor allem drei Op- Vollstreckung dieser Urteile waren ne- in den Konzentrations- und Vernichtungs- fergruppen erkennen: „Gemeinschafts- ben den Konzentrationslagern die Ge- lagern stattfand, kam das Strafgefängnis fremde“, die als sogenannte „Volks- fängnisse im Deutschen Reich sowie in in Berührung: Nach der Pogromnacht im schädlinge“ gemäß der entsprechenden den besetzten Gebieten. November 1938 wurden alle jüdischen Verordnung vom 5. September 1939 hin- Jugendlichen und Männer, die sich im gerichtet wurden, polnische Zwangsar- Das Strafgefängnis Wolfenbüttel in der Freistaat Braunschweig aufhielten, im beiter_innen, die gemäß „Polenstraf- NS-Zeit: keine „normale“ Haftanstalt Strafgefängnis Wolfenbüttel festgesetzt, rechtsverordnung“ vom 4. Dezember 1941 bevor sie in einem Sammeltransport in zumeist wegen geringfügigster Verge- In dem Strafgefängnis Wolfenbüttel hen zum Tode verurteilt wurden, sowie waren zwischen 1933 und 1945 nicht nur „Ich betone gern, dass Recht nicht ausländische Widerstandkämpfer_innen, Straftäter im herkömmlichen Sinn unter- in jedem Fall richtig oder gerecht die unter anderem als sogenannte gebracht (z.B. wegen Eigentumsdelikten für alle ist. Dahingehend gilt es die „Nacht- und Nebel“-Gefangene in dem oder Körperverletzung), sondern auch Justiz immer wieder kritisch zu hin- Strafgefängnis Wolfenbüttel inhaftiert Opfer der NS-Justiz, die aus heutiger terfragen“. Reimar Fröhnel, pädago- und zum Teil hingerichtet wurden oder Sicht keine Straftat begangen haben gischer Mitarbeiter aufgrund der Haftbedingungen verstor- oder die für geringfügige Vergehen mit ben sind. Die wichtige Funktion dieses Gefängnisses im Rahmen des NS-Un- Die zwei Orte der Gedenkstätte 23 rechtssystems verdeutlicht die Tatsache, „Am allerwichtigsten ist mir bei dass 10 % aller „Nacht- und Nebel“-Ge- Seit November 2019 teilt sich die Ge- dieser Arbeit, dass Menschen ler- fangenen des Deutschen Reiches in denkstätte auf zwei Orte auf. nen, dass es, egal in welchem politi- Wolfenbüttel inhaftiert waren. Zum einen handelt es sich um die in schen System man lebt, immer Ein letztes Schlaglicht auf die Tatsache, der heutigen JVA gelegenen histori- Handlungsspielräume gibt. In der dass es sich nicht um eine „normale“ schen Orte: Gemeinschaftshaftzellen, Demokratie sind sie größer und in Haftanstalt handelte, wirft die Situation eine Einzelarrestzelle, die Haftzelle der einer Diktatur kleiner, aber jeder in den letzten Kriegsmonaten, als die Zu- Todeskandidaten (nach Sanierung von Mensch konstituiert mit seinen stände nach der Ankunft von „Evakuie- Haus I zugänglich) und die ehemalige Handlungen die gesellschaftliche rungstransporten“ aus anderen Gefäng- Hinrichtungsstätte in der „alten Schlos- Wirklichkeit, ist also Teil des Ganzen nissen und Lagern denen von Konzen- serei“. Da alle Räumlichkeiten auf dem und trägt dazu bei, wie Wirklichkeit trationslagern nahekamen: Die Todes- Gelände einer in Betrieb befindlichen ist. Anhand der Biographien in der zahlen stiegen als Folge von Krankhei- JVA gelegen sind, ist der Zugang nur Gedenkstätte kann man gut sehen, ten, Hunger und Zwangsarbeit sprung- nach Beachtung der Vorgaben der JVA wie diese Handlungsspielräume un- haft an. Dies gilt insbesondere für die möglich (u.a. Voranmeldung mindestens terschiedlich ausgefüllt werden: Außenorte des Gefängnisses, wo die 14 Tage vor dem Besuch zur Durchfüh- dass man sie positiv gestalten kann, Häftlinge über einen längeren Zeitraum rung der Sicherheitskontrolle seitens der für den Menschen, mitmenschlich, (z.B. im Kalkwerk Oker) oder auf Anfor- JVA; Ein- und Auslass sowie Zugang zu dass man sie aber auch anders ge- derung (z.B. auf dem Hauptfriedhof bestimmten Orten nur in vorgegebenen, stalten kann.“ Conny Schmidthals, Braunschweig, wo sie nach der verhee- häufig sehr schmalen Zeitfenstern er- pädagogische Mitarbeiterin renden Bombardierung der Stadt im Ok- laubt; kein Zutritt für Einzelpersonen). tober 1944 Gräber ausheben mussten) Zum anderen ermöglicht das neu er- malen Museumsöffnungszeiten. Zudem Zwangsarbeit verrichteten. Je näher das öffnete Dokumentationszentrum einen werden sie in einer modernen, umfas- Ende des Krieges rückte, desto schlim- niedrigschwelligen Zutritt. Zwar können senden Ausstellung über das Thema mer wurden die Zustände. Besucher_innen die historischen Orte nicht physisch betreten, aber mithilfe

von „Augmented Reality“ zumindest vir- Pädagogische Materialien der Gedenkstätte • Sarah Kunte tuell – und das ohne die strengen Sicher- Biografische Stelen erinnern am historischen Ort an die heitsbestimmungen der JVA und zu nor- dort Hingerichteten • Jesco Denzel

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 24 Justiz im Nationalsozialismus, die Konti- Durch das Antizipieren von Gerichtsur- gel für die Teilnehmer_innen der am nuitäten in der Bundesrepublik Deutsch- teilen wird zum Beispiel vermeintliches meisten beeindruckende und nachhal- land sowie die Erinnerungsarbeit mit Vorwissen revidiert und das eigene Ge- tigste Teil des Workshops ist. Hier ste- Angehörigen der zweiten und dritten schichtsbild hinterfragt. hen eindeutig die Opfer im Zentrum des Generation der Opfer der NS-Justiz Im Zentrum der Erarbeitung stehen Gedenkens: nur selten vermitteln Besu- informiert. die Multi-Touch-Tische in den ehemali- cher_innen den Eindruck, dass ihnen der Hier bieten sich also neue Möglich- gen Gemeinschaftshaftzellen des „Alten „Nervenkitzel“ der Guillotine, auf deren keiten für die Pädagogik, gerade auch, Hauses“ des Strafgefängnisses. Ihre Präsentation bewusst verzichtet wird, wenn der Zugang zur JVA nicht möglich Touchscreen-Oberfläche funktioniert fehlt. Spätestens hier wird auch der Ge- ist. Die bisherige Erfahrung lehrt jedoch wie bei einem Smartphone und daher genwartsbezug deutlich, wenn die Fol- ebenso, dass sich Besucher_innengrup- ist die Benutzung für die meisten Besu- gen der mörderischen NS-Justiz, wenn pen nach wie vor den Zutritt zu den his- cher_innen intuitiv erschließbar. die Konsequenzen der Verhängung der torischen Orten wünschen. Zugute kommt uns dabei die ausge- Todesstrafe begreifbar werden. zeichnete Quellenlage bezüglich der Ein typischer Workshop mit Ein­ Haftanstalt in der NS-Zeit: Projektmitar- Themen der Workshop-Arbeit beziehung der historischen Orte beiter_innen haben in den vergangenen Jahren eine Fülle von Originaldokumen- In der Gedenkstätte können die Päda- Zu Anfang eines Workshops werden ten in in- und ausländischen Archiven gog_innen neben dem „normalen“ An- die Teilnehmer_innen – je zur Hälfte han- gesichtet und für die pädagogische Ar- gebot zum Thema „Justiz im Nationalso- delt es sich um Schüler_innen- und Er- beit erschlossen. Ergänzt werden die zialismus“ andere/weitere Schwer- wachsenengruppen – über die Geschich- Archivalien von Gegenständen, die uns punkte setzen: z.B. die Verfolgung ho- te der Landesstrafanstalt, deren Wurzeln von Angehörigen der Inhaftierten und mosexueller Männer nach § 175 StGB, bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zu- Ermordeten überlassen wurden. den Widerstand im Nationalsozialismus rückreichen, informiert. Nach einem as- So können Besucher_innengruppen am Beispiel der „Nacht- und Nebel“-Ge- soziativen Bilder- oder Objekteinstieg Täter- und Opferbiographien untersu- fangenen, die Erinnerungskultur in der klären wir sie anschließend über die chen, beide Perspektiven lassen sich Bundesrepublik am Beispiel der Ge- oben geschilderten Besonderheiten der hervorragend darstellen. Nach einer schichte der Gedenkstätte, das Pro und NS-Justiz auf. Methodisch steht dabei multimedialen Präsentation der Arbeits- Contra zur Todesstrafe. kein dozierendes, sondern ein fragend- ergebnisse ist es der Besuch der ehema- Ganz wesentlich hängt dies davon ab, forschendes Verfahren im Vordergrund. ligen Hinrichtungsstätte, der in der Re- wieviel Zeit die Besucher_innengruppen mitbringen. Mindestens drei Stunden Wenn Lehrkräfte erwarten, dass wir ihre 25 sollten es nach Möglichkeit sein; bei rechtsextrem denkenden Schüler_innen mehrtägigen Workshops können weitere durch einen Besuch der Gedenkstätte Erinnerungsorte einbezogen werden, läutern, so müssen wir von vorneherein wie z.B. das Gräberfeld mit den Hinrich- die Erwartungen bremsen: Wir machen tungsopfern auf dem Hauptfriedhof (Denk-)Angebote, positionieren uns da- Wolfenbüttel. bei eindeutig (z.B. contra Todesstrafe) Eine Erweiterung des Angebots in Be- und hoffen, dass wir damit (Denk-)Pro- zug auf „Einfache Sprache“ wird derzeit zesse anregen. erarbeitet und erprobt. Beispielhaft sei eine Auszubildende von MAN Salzgitter zitiert, die am Ende Fazit eines zweitägigen Workshops im Novem- ber 2019 ihre Eindrücke so zusammen- Ein Vierklang macht den Besuch der fasste: Gedenkstätte für Besucher_innengrup- „Es geht nicht darum, den einen Weg pen attraktiv (und erleichtert damit uns zu gehen, den das Leben bietet. Es geht Pädagog_innen die Arbeit): die Mischung darum, viele Wege erkunden zu können, aus Großexponaten (die historischen keinen davon zu verurteilen, neugierig Orte), modernen pädagogischen Mitteln zu sein, was man vielleicht davon lernen (u.a. die Multi-Touch-Tische), dem „Flair“ könnte. Es geht nicht darum, einer Mei- einer in Betrieb befindlichen JVA sowie nung zu folgen, sondern selbst eine zu dem neuen Dokumentationszentrum mit entwickeln, sich ständig zu hinterfragen, einer instruktiven Dauerausstellung. nie stehen zu bleiben, seine Wertvorstel- Durchgängig werden bei allen Work- lungen nicht zu vergessen. Durch jeden shops Bezüge in die heutige Zeit herge- Menschen fließt Blut, in jedem schlägt stellt, was angesichts des Aufenthalts in ein Herz. Das ist es, was zählt, keine Augmented Reality am Modell des Strafgefängnisses. Tablets ermöglichen den Besucher_innen der Daueraus- der JVA für Besucher_innengruppen au- Religion, keine Herkunft, kein Name. stellung einen Einblick in die historischen Räume, die sich innerhalb der JVA befinden • Sarah Kunte tomatisch naheliegt. Allerdings können Der Mensch braucht Menschlichkeit. wir kein Reparaturbetrieb für gesell- Nur so kann Frieden herrschen.“ Workshop-Teilnehmende präsentieren ihre Rechercheer- gebnisse zur Biografie einer Hingerichteten in der schaftliche Fehlentwicklungen sein. multimedialen Lernumgebung • Sarah Kunte

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus Die Strafgefangenenlager im Emsland als Prestigeprojekt der Justizverwaltung

David Reinicke

26 Die Strafgefangenenlager im Emsland gen in diesen Lagern ähnelten vielfach ließ er die Zuständigkeit für die Lager bildeten bis 1937, als das KZ-System aus- denen in frühen Konzentrationslagern. per Erlass an das Preußische Justizminis- gebaut wurde, den größten zusammen- terium übergehen. Lediglich das Lager hängenden Komplex von Zwangslagern Entstehung und Entwicklung Esterwegen blieb bis Ende 1936 weiter- im Dritten Reich für bis zu 5.500 Gefäng- der Emslandlager hin als Konzentrationslager bestehen nis- und Zuchthausgefangene. Die Justiz- – nun allerdings wieder unter SS-Führung behörden wollten mit ihnen – in bewuss- Die ersten Lager im Emsland waren ab und organisiert nach dem ‚Dachauer- ter Konkurrenz zu den Konzentrations­- Juni 1933 als ‚staatliche Konzentrations- Modell‘.3 lagern der SS – modellhaft demonstrie- lager‘ eingerichtet worden, in denen vor Die Lager Börgermoor, Brual-Rhede, ren, wie eine weltanschauliche Verfol- allem politische Gegner als Schutzhäftlin- Neusustrum und Oberlangen wurden gung und der Anspruch einer ‚volksge- ge inhaftiert wurden. Mit ihnen wollte dagegen ab April 1934 als Strafgefange- meinschaftlichen Generalprävention‘ im Hermann Göring als Preußischer Minis- nenlager der Justizverwaltung genutzt Rahmen der regulären Strafrechtspre- terpräsident ein Lagersystem unter seiner und die bisherigen KZ-Häftlinge durch chung umgesetzt werden konnten.1 eigenen Kontrolle errichten. Als die ur- Strafgefangene aus regulären Vollzugs- Die Legitimation dieses Lagerprojekts sprünglichen SS-Wachmannschaften sich anstalten ersetzt. Die erst im Dezember basierte neben der besonders harten den Kontrollansprüchen des zuständigen 1933 eingesetzten SA-Wachmannschaf- Form eines vorgeblich modernen Straf- Preußischen Innenministeriums wider- ten blieben jedoch weiter für die Bewa- vollzugs auf dem umfassenden Einsatz setzten, wurden sie in einem beispiel- chung zuständig und setzten ihre exzes- der Häftlinge zur Zwangsarbeit in der losen Vorgang von Polizeieinheiten unter sive Gewaltpraxis gegenüber den Moorkultivierung. Gemäß der ‚Blut-und- Gewaltandrohung abgelöst und im weite- Häftlingen nahezu ungehemmt fort. Boden’ Ideologie sollten den Planungen ren Verlauf durch SA-Einheiten ersetzt.2 1935 wurden mit Aschendorfermoor zufolge in einem großangelegten Sied- Nachdem die Pläne für ein preußi- und Walchum zwei weitere Lager in Be- lungsprojekt 2.000 neue Bauernstellen sches Lagersystem um den Jahreswech- trieb genommen, wodurch sich insge- entstehen. Die von Gewalt, Schikane und sel 1933/34 jedoch scheiterten und ab- samt eine Belegungskapazität von 5.500 Zwangsarbeit bestimmten Haftbedingun- sehbar wurde, dass Göring die Kontrolle Häftlingen ergab. Im Gegensatz zu den über diese Konzentrationslager an Hein- Konzentrationslagern zu dieser Zeit waren 1 Vgl. als detaillierten Überblick über die Entwicklung der emsländischen Konzentrations-, Strafgefangenen- rich Himmler würde abtreten müssen, die Strafgefangenenlager nahezu voll- und Kriegsgefangenenlager Habbo Knoch, Die Emsland- lager 1933–1945, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti- 2 Vgl. Hans-Peter Klausch, Tätergeschichten. Die SS- 3 Vgl. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisa- schen Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager, Dach- Kommandanten der frühen Konzentrationslager im Ems- tionsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Kon- au, Emslandlager, München 2005, S. 531-570. land, Bremen 2005. zentrationslager“ 1934–1938, Boppard 1991, S. 60-95. ständig ausgelastet. Durch die Übernah- Die Strafgefangenenlager als Prestige- spiel aus gezielt harten Haftbedingungen 27 me des Lagers Esterwegen und den Aus- projekt der Justizverwaltung und körperlich schwerer Zwangsarbeit bau der bestehenden Standorte im Jahr konnten Vorstellungen von „Sühne“ und 1937 stieg die maximale Belegungszahl Für das Reichsjustizministerium (RJM), „Vergeltung“ als Grundlagen des neuen auf 10.500 Strafgefangene an. Wenig spä- das im Zuge der im Juni Strafverständnisses veranschaulicht wer- ter konnte sich die Justizverwaltung end- 1934 die Lager übernommen hatte, bo- den. Dies erläuterte Rudolf Marx, Leiter gültig gegen den konkurrierenden Reichs- ten die Strafgefangenenlager zunächst der Unterabteilung Strafvollzug im RJM, arbeitsdienst (RAD) durchsetzen, der im die Möglichkeit, die überbelegten regu- in einem Aufsatz zu den Emslandlagern: südlichen Emsland ebenfalls Kultivie- lären Haftanstalten zu entlasten und der „Das Problem des Strafvollzuges ist rungsarbeiten durchführte und mehrfach grassierenden Gefangenenarbeitslosig- das Problem der Gefangenenarbeit. Mit versucht hatte, die Oberhoheit über das keit entgegenzuwirken. Schon bei der ihr steht und fällt der gesamte Strafvoll- Kultivierungsprojekt zu erlangen. Einrichtung der Lager 1933 war ein Ar- zug. Mit der Einführung der zwangswei- Nach dem Abzug des RAD 1938 war beitseinsatz der Häftlinge in der Moor- sen Erziehung durch Arbeit und zur Ar- eine nochmalige Erweiterung der Straf- kultivierung vorgesehen worden. beit ist dem ehemals toten Körper der gefangenenlager auf eine Gesamtkapazi- Eine Vielzahl von Akteuren, Reichs-, Freiheitsstrafe erst eine Seele einge- tät von 20.000 Strafgefangenen durch Bezirks- und Lokalbehörden – von der haucht worden. […] den Neubau acht weiterer Lager im süd- ‚Reichsstelle für Raumordnung‘ über die Durch sie [die Gefangenenarbeit, D.R.] lichen Emsland geplant. Das Bauvorha- Bezirksregierung Osnabrück bis hin zu wird der in der Strafe liegende Sühnege- ben geriet im Zuge der Kriegsvorberei- Teilen der emsländischen Bevölkerung – danke erst verwirklicht. Der Rechtsbrecher tungen jedoch ins Stocken und nur ein verband eigene Interessen mit dem La- ist gezwungen, während Verbüßung sei- Teil der Lager wurde bis 1939 mit Straf- gerprojekt. Als verantwortliche Träger- ner Strafzeit durch Hergabe seiner ganzen gefangenen belegt. Ab Kriegsbeginn wur- institution des Siedlungsprojekts konnte Arbeitskraft dem Volksganzen zu dienen.“4 den die neugebauten Lager und der be- sich jedoch das RJM öffentlichkeitswirk- stehende Standort Oberlangen schließlich sam darstellen, sodass sich die emslän- 4 Rudolf Marx, Die Gefangenenarbeit unter besonderer von der Wehrmacht als Kriegsgefange- dischen Strafgefangenenlager schnell zu Karte der Emslandlager 1933-39. • Bruno Brückner, nenlager genutzt. Die anderen sechs einem Prestigeprojekt der Justizverwal- Papenburg Lagerstandorte blieben jedoch bis 1945 tung entwickelten. Foto des Lagers Walchum, 1935. • Aktionskomitee DIZ (und zum Teil darüber hinaus) Straf- Zudem wurde den Lagern eine zentrale Emslandlager e.V., Papenburg gefangenenlager. Rolle im nationalsozialistischen Strafvoll- Berücksichtigung der Urbarmachung von Ödländereien, zug zugemessen. Durch das Zusammen- in: Deutsches Strafrecht 2 (1935), S. 364-373, hier: 364.

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 28 Gleichzeitig stellte sich Marx zufolge amten besichtigt; zudem wurde Gefäng- Lager auch anderen Besuchern – neben der Strafvollzug „damit in den Dienst nispersonal von anderen Vollzugsein- hochrangigen SA-Führern auch lokalen der nationalsozialistischen Aufbauarbeit. richtungen regelmäßig zur ‚informatori- Honoratioren oder dem Osnabrücker Es galt ein Gebiet gewaltigen Ausmaßes schen Beschäftigung‘ ins Emsland Bischof Wilhelm Berning – als muster- mit tunlichster Beschleunigung in Kultur abgeordnet. gültige Haftanstalten präsentiert.7 zu bringen, um den Landhunger des Vol- Gleichzeitig entwickelten die SA-Wach- kes zu stillen und neues Bauerntum zu mannschaften unter ihrem Kommandeur Lageralltag und Gewalt schaffen.“5 Werner Schäfer, der mit der Übernahme Insofern boten die Emslandlager der der Lager durch die Justizverwaltung ei- Trotz dieser repräsentativen Funktion Justizverwaltung die Möglichkeit, ihre gens von seinem vorherigen Posten als der Lager bestand innerhalb der Justiz- Vorstellungen eines ‚produktiven‘ Straf- Kommandant des KZ Oranienburg abge- verwaltung kaum ein Interesse an der vollzugs im Dienste der ‚Volksgemein- worben worden war, eigene Ambitionen Ausgestaltung der Alltags und der Haft- schaft‘ modellhaft zu verdeutlichen. Da- zur Ausgestaltung des Lagerprojekts. bedingungen in den Lagern, die dadurch durch besaßen die Strafgefangenenlager Vor allem hoffte ein Teil der Wachleute, nahezu vollständig den SA-Wachmann- für das Justizministerium einen erheb- später selbst neugeschaffene Siedler- schaften überlassen blieb. Werner Schä- lichen Vorzeigewert. 1935 wurden die stellen zu übernehmen. Die Wachmann- fer verstand es zudem, die doppelte Zu- Teilnehmer des Internationalen Straf- schaften, die sich selbst den Namen ständigkeit von Justiz und SA für die rechts- und Gefängniskongresses zu ei- ‚Moor-SA‘ gaben, stellten sich daher Wachmannschaften auszunutzen, um ner Besichtigungsfahrt ins Emsland ein- öffentlich als ‚Pioniere‘ der Emslander- eine weitgehende Handlungsautonomie geladen, bei der ihnen die Lager als schließung dar. Rückendeckung erhielten der ‚Moor-SA‘ zu erreichen. mustergültige Haftanstalten präsentiert sie dabei von der Obersten SA-Führung, Für die Häftlinge bedeutete dies, dass wurden. Ein Schweizer Gast beschrieb für die die Strafgefangenenlager eben- sie sich ohne nennenswerte Schutzme- das Projekt anschließend als „großartig falls einen besonderen Prestigecharak- chanismen der Gewaltpraxis der SA- und staunenswert.“6 Auch zu anderen ter erlangten, da SA-Einheiten hier auch Wachmannschaften, die diese vielfach Anlässen wurden die Strafgefangenen- nach dem ‚Röhm-Putsch‘ noch staat- aus den frühen Konzentrationslagern lager wiederholt von höheren Justizbe- liche Aufgaben wahrnahmen. Die ausgedehnte öffentliche Repräsen- 7 Vgl. David Reinicke, Aufstieg durch Gemeinschaft. 5 Ebd., S. 369. Sozialutopie und Gemeinschaftspraxis der SA-Wach- tation der ‚Moor-SA‘ lag wiederum, zu- mannschaften emsländischer Strafgefangenenlager 6 Otto Kellerhals, Die Kongress-Studienreise, in: mindest anfänglich, ganz im Interesse der 1934–1942, in: Ders. u.a. (Hg.), Gemeinschaft als Erfah- Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 39 (1935), S. rung. Kulturelle Inszenierung und soziale Praxis 1930– 442-463, hier: 462. Justizverwaltung. Durch sie wurden die 1960, Paderborn u.a. 2014, S. 129-155. übernommen hatten, ausgesetzt sahen.8 Die entgrenzte Gewalt der SA-Männer Unterstützung durch Maschinen verzich- 29 Bereits bei der Ankunft neuer Häftlings- war dabei ein zyklisches Phänomen, das tet – auch wenn diese aus ökonomischer transporte bildete die Gewalt ein wieder- den Häftlingen insbesondere in den ers- Sicht erforderlich gewesen wäre. Die kehrendes ‚Begrüßungsritual‘: ten Wochen nach ihrer Einlieferung die tägliche Arbeitszeit lag je nach Jahres- „Als der Kommandoführer der Justiz- Machtverhältnisse in den Lagern demon- zeit bei acht bis zehn, ab Kriegsbeginn wachmannschaft uns an die Wachmann- strieren sollte. Auf den Arbeitsstellen im bei zwölf Stunden. schaft der Moorlager übergeben hatte, Moor wurden Gefangene geschlagen, Die umfassende Unterversorgung in stürzten diese Horden in die Waggons und schikaniert, in Wassergräben gestoßen, den Bereichen Ernährung, medizinische trieben die Strafgefangenen mit Karabi- mussten stupide und unsinnige Aufga- Versorgung und Hygiene trug zur körper- nerkolben, Gummiknüppel und Hunden ben endlos wiederholen oder sich mit lichen Auszehrung der Häftlinge in er- heraus. Im Laufschritt ging es auf die be- nassen Torfsoden auf dem Kopf in den heblichem Maß bei. Darauf abgestimmt reitstehenden Lastwagen. Die Gefange- Wind stellen. Nach der Rückkehr ins La- waren weitere Schikanen der SA-Wach- nen mußten während der Fahrt zum La- ger wurden die Misshandlungen beim mannschaften wie Sonderapelle, nächt- ger in der Hocke unten bleiben. […] Zur ‚Strafexerzieren‘ oder ‚Lagersport‘ oft- liche ‚Putz- und Flickstunden‘ oder der Warnung wurde unterwegs ein paarmal mals fortgesetzt. berüchtigte ‚Bettenbau‘, bei dem kleins- über die Köpfe hinweggeschossen.“9 Nach einiger Zeit ebbte diese ent- te Ungenauigkeiten brutal bestraft wur- Auch bei der Ankunft im Lager selbst grenzte Gewalt in der Regel zwar wieder „wurde das Zugangskommando mit ab, da die Arbeit für das Siedlungspro- Originalbeschriftung: „Marsch zur Arbeit“. Aus dem Gummiknüppel und Hunden durch das jekt zumindest in Ansätzen ökonomi- Fotoalbum eines Wachmanns. • Aktionskomitee DIZ Tor ins Lager getrieben.“10 schen Effizienzanforderungen unterlag. Emslandlager e.V., Papenburg Allerdings war sie ohnehin nur ein ver- Truhe für Reichsjustizminister Franz Gürtner anlässlich des Neubaus der acht südlichen Strafgefangenenlager schärfendes Element in einem „System 1938 • Aktionskomitee DIZ Emslandlager e.V., Papenburg 8 Vgl. David Reinicke, „Erziehung fleißiger Staatsbürger von Belastungsfaktoren“.11 Bei der körper- für das 3. Reich“. Gewaltpraxis und Gruppendynamik Werner Schäfer (ohne Kopfbedeckung) und SA-Wach- der ‚Moor-SA‘, in: Dietmar von Reeken/Malte Thießen lich anstrengenden Zwangsarbeit beim männer bei einem Aufmarsch in Papenburg 1935. (Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue For- • Privatbesitz Gertrud Sieg, Papenburg schungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u.a. Grabenbau oder dem Umgraben ent- 2013, S. 275-289. wässerter Moorflächen wurde aus ideo- Aus dem Wachmannschaftsbereich des Strafgefange- nenlagers Esterwegen. • Aktionskomitee DIZ Emsland- 9 Paul Langer: Moorsoldat im Lager Aschendorfer- logischen Gründen bewusst auf eine lager e.V., Papenburg moor, in: Hermann Bogdal, „Was ist wichtig?“ Das Leben des Kommunisten Paul Langer, Bremen 1997, S. 68-80, 11 Elke Suhr: Die Emslandlager. Die politische und wirt- Originalbeschriftung: „SGLVI Oberlangen 1935-36, hier: 69. schaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentra- Antreten morgens vor dem Ausrücken zum Arbeits- tions- und Strafgefangenenlager 1933–1945, Bremen dienst “. Aus dem Fotoalbum eines Wachmanns. 10 Ebd. 1985, S. 80. • Privatbesitz Gertrud Sieg, Papenburg

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 30 den, durch die die nötigen Erholungs- tiert. Die Innenbewachung der Lager den harten Lagervollzug ‚umerzogen‘ pausen der Häftlinge verkürzt wurden. wurde anschließend Justizbeamten aus werden sollten. Im März 1939 wurde im Daran lässt sich ein ‚erzieherischer‘ An- regulären Haftanstalten übergeben, je- Lager Esterwegen eine eigene Abteilung spruch ablesen, den sich die Wachmän- doch gelangten anschließend zahlreiche für 1.100 Sicherungsverwahrte einge- ner gegenüber den Häftlingen selbst zu- SA-Wachmänner auf diese Posten. Auch richtet, deren Einsatz bei der ‚Ehrenauf- maßen. Bis 1939 forderten Gewalt und die Justizbeamten beteiligten sich gabe‘ der Moorkultivierung noch zwei Haftbedingungen mindestens 105 Todes- schnell an der Gewalt gegen Häftlinge, Jahre zuvor ausgeschlossen worden opfer unter den Strafgefangenen. sodass die alten Verhältnisse bald wie- war.13 Im September 1942 wurden die derhergestellt waren. Häftlinge dieser Kategorie an das KZ Die Strafgefangenenlager als gezielte Die Justizverwaltung nutzte die harten Neuengamme überstellt und der ‚Ver- Form der Strafverschärfung Haftbedingungen in den Strafgefangenen- nichtung durch Arbeit‘ preisgegeben.14 lagern hingegen bewusst als „Maßnahme Das Justizministerium unternahm kei- der ergänzenden Strafverschärfung“,12 Die Strafgefangenenlager im Zweiten ne nennenswerten Versuche, die Gewalt der gezielt bestimmte Häftlingsgruppen Weltkrieg der Wachmannschaften einzudämmen. ausgesetzt wurden. So stieg ab Mitte Als Teil des Strafvollzugs gab es zwar 1935 der Anteil der zu Zuchthaus- und Die Idee, bestimmte Gefangenengrup- auch in den Emslandlagern formal gese- langjährigen Gefängnisstrafen Verurteil- pen durch die Haft in den Emslandlagern hen ein Beschwerderecht, doch selbst ten bis 1939 kontinuierlich an. Durch- einer besonders harten Form des Straf- wenn Häftlinge diese Möglichkeit trotz schnittlich zehn Prozent der Gefangenen vollzugs auszusetzen, wurde auch nach des Drucks der Wachmannschaften waren aus politischen Gründen – Hoch- Beginn des Zweiten Weltkriegs fortge- nutzten, schlug die Justiz diese Verfah- oder Landesverrat, „systemfeindlichen setzt. Dies bezog sich vor allem auf ver- ren schnell nieder: bei 45 Ermittlungs- Äußerungen“ oder dem illegalen Abhören urteilte Wehrmachtssoldaten, zu denen verfahren zwischen 1935 und 1937 wurde von Radiosendern – verurteilt worden. in keinem Fall auch nur Anklage erho- Im Vergleich zu den Konzentrationsla- 13 Vgl. Erich Kosthorst/Bernd Walter (Hg.): Konzentra- tions- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Bei- ben. Anfang 1938 wurde ein Dienststraf- gern lag der Anteil der als homosexuell spiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhält- verfahren gegen Werner Schäfer eröff- Verfolgten mit etwa 2,6 % deutlich hö- nis von NS-Regime und Justiz, Bd. 1, Düsseldorf 1983, S. 1285-1315 (im Folgenden zitiert als KW). net, das aber vor allem machtpolitisch her; gleichzeitig waren unter diesen ver- 14 Schon seit Ende der 1930er Jahre kam es zwischen motiviert war. Schäfer überstand das hältnismäßig viele ‚Ersttäter‘, die durch Justiz- und Polizeibehörden zunehmend zu Kompromis- Verfahren mit einem Verweis und sah sen und Kooperation. Vgl. Nikolaus Wachsmann: Gefan- gen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS- sich anschließend vollständig rehabili- 12 Knoch, Emslandlager, S. 547. Staat, München 2006, S. 167-194. Ein Großteil der SA-Wachmänner wur- de bereits in den ersten beiden Kriegs- jahren zur Wehrmacht eingezogen und durch meist ältere Notdienstverpflichte- te ersetzt, die den ideologischen Hinter- grund der SA-Männer kaum noch teilten. Umgekehrt kam nun den Funktionshäft- lingen eine größere Bedeutung zu, wie der wehrmachtgerichtlich Verurteilte Hans Frese beschreibt: „Ist der Stubenälteste ein guter Mensch, kann man auch Erholung finden. Aber in den meisten Fällen ist er eine Bestie. […] Bei grausiger Kälte treibt er die Leute vor die Baracken und läßt sie dort unnütz stehen. Jeden Morgen sind im Wasch- raum Schemel zu schrubben, die über- haupt nicht schmutzig sind. Seine Freunde haben alles, wir nichts.“18 Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wur- de die Arbeitskraft der Strafgefangenen immer rücksichtsloser ausgenutzt. Ab 1943 wurden Häftlinge vermehrt zur Be- seitigung von Bombenschäden eingesetzt – eine aufgrund von Blindgängern und weiteren Angriffen gefährliche Arbeit. Ende des gleichen Jahres entstanden in den Lagern Brual-Rhede und Esterwegen Betriebe der Firma Klatte zur Fertigung von Flugzeugteilen. Über die dortigen Ar- beitsbedingungen berichtete der Strafge- fangene Paul Groß: „Die Gasluft bei Klatte brachte den Gefangenen in kurzer Zeit dermaßen herunter, dass Krankheiten das RJM schon am 1. November 1939 76 Todesfälle wurden vom Standesamt schwerster Art unausbleiblich waren.“19 31 bestimmte: „Jeder Strafgefangene der Esterwegen registriert. Im Frühjahr 1944 Zu der Entkräftung durch die Zwangs- Justiz, der auf Grund wehrmachtgericht- wurden die NN-Gefangenen aus dem arbeit kam für die Häftlinge eine völlig lichen Urteils wehrunwürdig geworden Emsland in schlesische Haftanstalten unzureichende Ernährung während der ist, ist sofort dem Strafgefangenenlager verlegt, bevor sie im September schließ- gesamten Kriegszeit hinzu. Zwischen Esterwegen im Emsland zu überweisen“.15 lich an Konzentrationslager überstellt 1940 und 1945 starben in den Emsland- Die Militärstrafgefangenen, die bald wurden. lagern mindestens 1.481 Strafgefangene, auch in den anderen Emslandlagern un- Während die NN-Gefangenen bewusst überwiegend durch Krankheit, Hunger tergebracht wurden, bildeten spätestens von anderen Häftlingsgruppen isoliert und Entkräftung. Der schonungslose ab 1943 die größte Häftlingsgruppe. Als und nur innerhalb ihrer Lagerbereiche Arbeitseinsatz im Krieg forderte damit zusätzliche Verschärfung galt ab Juni zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, etwa 14 Mal so viele Opfer wie in der 1940 für sie, dass ihre eigentliche Straf- machte sich für die übrigen Gefangenen Vorkriegszeit. zeit erst nach dem Krieg beginnen sollte. die Umstellung des Arbeitseinsatzes auf Diese Verlängerung der Haftzeit, die die Anforderungen der Kriegswirtschaft auch für „zivile Kriegstäter“ galt, konnte deutlich bemerkbar. Schon in den letzten nur über ‚Frontbewährung‘ aufgehoben Vorkriegsjahren waren Strafgefangene 16 werden. zu Erntearbeiten herangezogen worden. 18 Hans Frese: Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Ab Mai 1943 wurden zudem 2696 „Nacht- Nach Kriegsbeginn wuchs die Zahl der in Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941–1945, und-Nebel“-Gefangene aus Belgien und der Landwirtschaft eingesetzten Strafge- Bremen 1989, S. 59.

Frankreich in die Lager Börgermoor und fangenen deutlich an; später wurden 19 Zit.n. Kurt Buck, Lageralltag und Zwangsarbeit, in: Esterwegen verbracht. Dort wurden na- Häftlinge zunehmend auch in der kriegs- Bernd Faulenbach/Andrea Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945, Göttingen 2017, S. 99-112, hezu 500 Sondergerichtsprozesse durch- wichtigen Torfindustrie und den wenigen hier S. 111. geführt, in denen 165 dieser Gefangenen Rüstungsbetrieben der Region eingesetzt. Erinnerungsbericht des ehemaligen NN-Gefangenen zum Tod verurteilt wurden.17 Weitere Parallel verlor das Siedlungsprojekt auf- Edouard Froidure von 1945. • Aktionskomitee DIZ Ems- landlager e.V., Papenburg 15 Reichsjustizminister an die Generalstaatsanwälte, grund der in den eroberten Gebieten ein- 1.11.1939, in: KW II, S. 1316. setzenden ‚Ostraumplanung‘ an Bedeu- „Grabender Moorsoldat“. Bleistiftzeichnung von Ernst Walsken aus dem Strafgefangenenlager Aschendorfer- 16 Vgl. Frank Bührmann-Peters: Ziviler Strafvollzug für tung. Die Neukultivierung von Moorge- moor und Esterwegen 1937-39. • Aktionskomitee DIZ die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlager e.V., Papenburg Emslandlagern 1939–1945, Diss. Osnabrück 2002. bieten wurde 1941 eingestellt und nur die bereits kultivierten Flächen weiter „Am Tisch (verelendet)“. Bleistiftzeichnung von Ernst 17 Diese Todesurteile wurden überwiegend in den Straf- Walsken 1937-39. • Aktionskomitee DIZ Emslandlager gefängnissen Wolfenbüttel und Hamm vollstreckt. bewirtschaftet. e.V., Papenburg

Schwerpunktthema Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus 32 Stiftung

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Stiftung Bericht des Geschäftsführers

Jens-Christian Wagner

• Helge Krückeberg, Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel • Helge Krückeberg, Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

Begrüßungsrede des Geschäftsführers anlässlich der Juristen im Nationalsozialismus. Biografien in der neuen Eröffnung des Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Dauerausstellung der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel in der JVA Wolfenbüttel, 17. November 2019

34 2019 war für die Stiftung niedersächsi- Lernort M.B. 89 in der Niedersachsen- zwischen Sandbostel im Norden und sche Gedenkstätten ein gleichermaßen Kaserne, eine weitere zur Biographie von Moringen im Süden Niedersachsens ge- erfolgreiches wie schwieriges Jahr. Shaul Ladany, der Bergen-Belsen und leistet wird, ist vorbildlich. Vieles davon Schwierig, weil es insbesondere in der das Olympia-Attentat 1972 in München geschieht ehrenamtlich, aber dennoch auf Verwaltung der Stiftung bedingt durch überlebte, und schließlich die umfang- hohem professionellem Niveau. Erfreu- längere Krankheiten und das Ausschei- reiche neue Dauerausstellung „Recht, licherweise hat das Land Niedersachsen den von an Schlüsselpositionen be- Verbrechen, Folgen“ im neu errichteten die 2014 ursprünglich auf fünf Jahre be- schäftigten Kolleg_innen, aber auch Dokumentationszentrum der Gedenk- fristete Bau- und Investitionshilfe für die wegen neuer Projekte und zusätzlicher stätte in der JVA Wolfenbüttel. Hinzu niedersächsischen Gedenkstätten fort- Aufgaben erhebliche Personalengpässe kommt unsere Wanderausstellung „Kin- geschrieben, so dass auch weiterhin gab und gibt. Vakante Stellen konnten der im KZ Bergen-Belsen“, die – ergänzt nicht nur drängende Sanierungs- und Er- aufgrund der schwierigen Lage auf dem um umfangreiche Begleitprogramme – neuerungsarbeiten in den bestehenden Arbeitsmarkt nicht besetzt werden – mit sehr erfolgreich in der Gedenkstätte Gedenkstätten (etwa in Bergen-Belsen) dem Ergebnis, dass auf die verbliebenen Ravensbrück, in St. Gallen in der Schweiz vorgenommen, sondern auch Neuge- Mitarbeiter_innen zusätzliche Aufgaben und in Perl im Saarland gezeigt wurde. staltungsprojekte in Angriff genommen verteilt werden mussten. Für ihr großes Außerdem gab es etliche Publikationen, werden können – teils in Kofinanzierung Engagement möchte ich den betroffe- mehrere tausend teils in Tages- und durch den Bund. Auf Hochtouren laufen nen Kolleginnen und Kollegen sehr herz- Mehrtagesformaten intensiv betreute etwa die Arbeiten an der neuen Daueraus- lich danken! Auf Dauer wird dieser Not- Besuchergruppen, Lesungen, Musik- stellung in den Gedenkstätten Gestapo- fallmodus aber trotz allen Engagements und Theaterveranstaltungen, Seminare keller und Ohrbeck in Osnabrück, die im und trotz aller Überstunden nicht durch- und Tagungen, Multiplikator_innenschu- April 2020 eröffnet wird. zuhalten sein. lungen, zahlreiche Betreuungen von Über- Eine zusätzliche Unterstützung erfah- In der Öffentlichkeit werden diese lebenden und Angehörigen, Gedenkver- ren die Gedenkstätten in Niedersachsen Schwierigkeiten kaum bemerkt worden anstaltungen und vieles mehr. mit der Förderung durch die Klosterkam- sein. Stattdessen machte die Stiftung Ein wichtiges Standbein der Stiftung mer Hannover, die für einen Zeitraum vor allem durch positive Nachrichten ist die Förderung der nicht in Träger- von fünf Jahren insgesamt 1 Million EUR von sich reden: So wurden allein drei schaft der Stiftung befindlichen Gedenk- für die Finanzierung von Bildungsprojek- neue Ausstellungen eröffnet – eine zur stätten in Niedersachsen. Was in den ten zur Geschichte des Nationalsozialis- Geschichte des Truppenübungsplatzes Gedenkstätten zwischen Esterwegen im mus und seinen Folgen zur Verfügung Bergen und der Wehrmacht im neuen Westen und Braunschweig im Osten, stellt. Damit, wie mit der gegenüber • Stephanie Billib, Gedenkstätte Bergen-Belsen • Andrea Hoffmann, Schlosstheater Celle

Die digitale Konstruktion, die Teil der Ausstellung im Ge- Auftaktveranstaltung zur „Celler Erklärung der Vielen“ im bäude M.B. 89 der Niedersachsen-Kaserne ist, bietet einen Schlosstheater, mit der sich zahlreiche Kultureinrichtungen Überblick über die Kaserne und ihre Nutzung zu verschiede- der deutschlandweiten Kampagne gegen rechtspopulistische nen Zeiten. Somit kann sich der Besuchende diesen histori- Angriffe auf das kulturelle Leben angeschlossen haben. schen Ort erschließen, der als militärischer Sicherheitsbe- reich nicht zugänglich ist.

2016 seitens des Landes vervierfachten – d.h., neben der Würdigung der Opfer tentat auf die Synagoge in in Halle, das 35 Summe für die Förderung von Gedenk- die Perspektive unserer historisch-politi- rassistisch motivierte Attentat von Hanau stättenfahrten, sind die finanziellen Vor- schen Bildungsarbeit deutlicher als frü- und die Wahlerfolge rechtsextremer Par- aussetzungen für eine erfolgreiche Bil- her auf die Gesellschaftsgeschichte des teien berühren die Gedenkstättenarbeit dungsarbeit in den Gedenkstätten in den Nationalsozialismus sowie auf die Täter_- in ihrem Kern. Es liegt an uns, der Hetze kommenden Jahren gegeben – auch innen, Mittäter_innen, Zuschauer_innen und den geschichtsrevisionistischen mittels neuer, innovativer Formate. Hier und Profiteure zu lenken sowie nach den Provokationen eine fachlich und ethisch spielt insbesondere die Digitalisierung Kontinuitäten und Brüchen nach 1945 zu begründete Auseinandersetzung mit der der Gedenkstättendidaktik eine wichtige fragen. Gerade die Abschnitte zur Justiz- Geschichte und den Nachwirkungen des Rolle. Auch mit Blick darauf wurden in geschichte der jungen Bundesrepublik Nationalsozialismus entgegenzusetzen. der Gedenkstätte Bergen-Belsen inner- sowie zur Geschichte der Gedenkstätte Es geht darum, historisches Urteilsver- halb der Abteilung Bildung und Begeg- stoßen auf besonderes Interesse der Be- mögen in der Gesellschaft zu stärken nung neue Kolleg_innen eingestellt. Sie sucher_innen in der neuen Daueraus- und diese zu befähigen, auf komplexe sollen das Betreuungsangebot für Grup- stellung in Wolfenbüttel. Gegenwartsfragen fundierte und der pen inhaltlich und methodisch erweitern. Der Perspektivwechsel in Richtung Humanität sowie den Menschenrechten Zudem sollen sie den neuen Lernort Tätergesellschaft und Nachkriegszeit verpflichtete Antworten zu finden. M.B. 89 in der benachbarten Nieder- erlaubt es, wissenschaftlich und nach sachsen-Kaserne in die Bildungsange- allen Regeln der Quellenkritik aus der bote der Gedenkstätte integrieren. Geschichte herausgearbeitet Aktualitäts- Der Höhepunkt der Stiftungsarbeit im bezüge herzustellen und Fragen auch an Jahr 2019 war sicherlich die Eröffnung die Gegenwart zu stellen – eine Aufgabe, des Dokumentationszentrums in Wolfen- die angesichts der zunehmenden Angrif- büttel. Die positive Resonanz auf den fe auf die Gedenkstättenarbeit von Neubau wie auch auf die Ausstellung, an rechts sowie des Erstarkens von Rassis- der das Team um Gedenkstättenleiterin mus, Antisemitismus, Holocaust-Leug- Martina Staats fünf Jahre gearbeitet hat, nung und Nationalismus nicht nur in ist uns Ansporn und Ermutigung zu- Deutschland, sondern fast überall auf der gleich, den eingeschlagenen Weg nicht Welt, eine ganz neue Relevanz erhalten nur in Wolfenbüttel, sondern in allen Be- hat. Der Mord am CDU-Politiker Walter reichen der Stiftungsarbeit fortzusetzen Lübcke, die Morde und das versuchte At-

Stiftung Einnahmen der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (in Mio €)

Sonstige Einnahmen (u.a. Buchverkauf, Spenden, Gebühren für Besucherbetreuungen) 0,16 Millionen

Projekt- / Drittmittel 0,52 Millionen 3,72 Millionen Land Niedersachsen

Bund (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) (Verwendung nur für die Gedenkstätte Bergen-Belsen) 1,2 Millionen

Einnahmen insgesamt 5,6 Millionen

36 Ausgaben der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (in Mio €)

Projekte 0,5 Millionen Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (einschließlich Gedenkstättenförderung 1,7 Millionen Niedersachsen und Gedenkstätte Wolfenbüttel)

Ausgaben insgesamt 5,6 Millionen

Gedenkstätte Bergen-Belsen 3,4 Millionen Kalendarium der Stiftung

Januar März 37

17. Januar: Pressekonferenz zum Abschluss des Projektes 14. März: Das Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus“ „§ 175 StGB – 20 Jahre legitimiertes Unrecht in der Bundes- organisierte gemeinsam mit Hannover 96, dem Fanprojekt republik am Beispiel des Strafvollzugs in Wolfenbüttel“ mit Hannover und dem Arbeitskreis „96-Fans gegen Rassismus“ Vorstellung der Publikation „Ein Mann, der mit einem ande- eine Abendveranstaltung mit dem Titel „Kriminalpolizist und ren Mann Unzucht betreibt […] wird mit Gefängnis bestraft“. DFB-Präsident. Felix Linnemann und der Genozid an den Sinti Neben der Projektmitarbeiterin Maria Bormuth sprachen und Roma“. Dr. Hans-Dieter Schmid beleuchtete in seinem die Niedersächsische Sozialministerin Dr. Carola Reimann, Vortrag die Kriminalpolizeileitstelle Hannover als einen zent- Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung Nie- ralen Akteur des stufenweisen Entrechtungsprozesses, der im dersächsische Gedenkstätten, Hans Hengelein, Referent für Genozid an den Sinti und Roma kulminierte. Im Anschluss LSBTTI & Aids-Koordinator im Niedersächsischen Ministerium stellte Dr. Hubert Dwertmann den biographischen Werde- für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Gedenkstätten- gang Felix Linnemanns und den Umgang mit seiner Person leiterin Martina Staats und Thomas Wilde, Geschäftsführer nach 1945 bis in die Gegenwart dar. des Queeren Netzwerkes Niedersachsen.

Die wissenschaftliche Projektmitarbeiterin Maria Bormuth mit der Publikation Dr. Hubert Dwertmann referiert über den biographischen Werdegang Felix • Sarah Kunte Linnemanns und den Umgang mit seiner Person nach 1945 bis in die Gegenwart • Michael Pechel Stiftung 17. März: Eröffnung der Sonderausstellung „Die Exodus- 15. April: Buchvorstellung „Menschen in Bergen-Belsen. Affäre. Schleswig-Holstein und die Gründung Israels“ des Biographische Skizzen zu Häftlingen des Konzentrationslagers“ Jüdischen Museums Rendsburg mit einem Einführungsvor- in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz Bibliothek in Hannover. Die trag von Dr. Carsten Fleischhauer. Die Ausstellung wurde in Herausgeber Dr. Thomas Rahe und Dr. Jens-Christian Wagner der Gedenkstätte Bergen-Belsen bis zum 26. Mai gezeigt. stellten gemeinsam mit einer der Mitautor_innen, Dr. Monika Gödecke, beispielhaft drei Häftlingsbiographien vor.

April

1. April: Sitzung der Internationalen Expertenkommission zur Neugestaltung der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, die sich auch über die aktuellen Entwicklungen auf der Bau- stelle informierte.

Thedel von Wallmoden, Geschäftsführer des Wallstein Verlages, Göttingen, bei seiner Begrüßung zur Buchpräsentation • Jens Binner

16. April: Gedenkgottesdienst „Gegen das Vergessen“ in der St.-Petrus-Kirche in Wolfenbüttel. Kooperationsveranstaltung der Gedenkstätte mit der Kolping- familie, Amnesty International und der Pfarrgemeinde St. Pet- rus. Erstmals stand in diesem Jahr keine spezielle Opfergruppe Mitglieder der Internationalen Expertenkommission und die Mitarbeiter_innen des Neugestaltungsprojekts im Neubau • Sarah Kunte im Mittelpunkt, sondern das Schicksal der Angehörigen von während der NS-Zeit im Strafgefängnis Wolfenbüttel Inhaf- tierten und Hingerichteten. 14. April: Familientreffen für Angehörige von während der NS-Zeit im Strafgefängnis Wolfenbüttel Inhaftierten und Hin- gerichteten. Vor der Gedenkfeier im ehemaligen Hinrich- 28. April: Gedenkfeier zum 74. Jahrestag der Befreiung in 38 tungsgebäude trafen sich die Angehörigen zunächst mit den der Gedenkstätte Bergen-Belsen Mitarbeiter_innen der Gedenkstätte, um sich beim gemeinsa- Nachmittags fand die Übergabe des Gebäudes M.B. 89 in der men Frühstück untereinander auszutauschen und über die Niedersachsen-Kaserne durch Dr. Peter Tauber, Parlamentari- Arbeit zu informieren. scher Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, an die Gedenkstätte Bergen-Belsen sowie die Eröffnung der Ausstellung „Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehr- macht und die Kaserne Bergen-Hohne 1935–1945“ statt.

Traditionelles Frühstück mit den Familienangehörigen • Sarah Kunte

Ansprache von Michael Gelber bei der Gedenkveranstaltung der AG Bergen-Belsen an der Rampe • Martin Bein Mai

30. April bis 6. Mai: In dieser Woche kamen Studierende aus Niedersachsen und Perm zum zweiten Teil des Begegnungs- programms „Erinnerungskulturen im deutsch-russischen Ver- gleich“ zusammen. Die Teilnehmenden besuchten die Ge- denkstätte Bergen-Belsen, wobei ein Schwerpunkt auf dem Thema sowjetische Kriegsgefangene lag, und stellten sich unterschiedliche Orte des Erinnerns in beiden Ländern vor. Außerdem traf sich die Gruppe zum Gespräch mit der nieder- sächsischen Ministerin für Bundes- und Europaangelegen- heiten und Regionale Entwicklung, Birgit Honé.

Dr. Peter Tauber bei seiner Ansprache am Obelisken • Martin Bein

Gruppenbild der Teilnehmer_innen des deutsch-russischen Begegnungsprogramms mit der niedersächsischen Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung, Birgit Honé • Daniel Tonn

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Ansprache von Dr. Zsuzsa Misur, Mitglied des Stiftungsbeirates, Überle- bende des KZ Bergen-Bel- sen • Jesco Denzel

Die niedersächsische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regio- nale Entwicklung, Birgit Honé, im Gespräch mit Teilnehmer_innen des deutsch-russi- schen Begegnungsprogramms • Daniel Tonn

Ansprache von Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel, bei der Kranzniederlegung auf dem Kriegsgefangenenfriedhof Bergen-Belsen • Jesco Denzel

Stiftung 30. April/1. Mai: Besuch einer Gruppe des „Vriendenkring 16. und 17. Mai: Internationaler Workshop „Staging History: Neuengamme“, die neben den historischen Orten des ehema- Archives, Objects and Architecture“, eine Kooperation der ligen Strafgefängnisses Wolfenbüttel (Foto) auch den ehema- Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel mit der Université libre ligen Schießplatz der Wehrmacht in der Buchhorst in Braun- de Bruxelles, den State archives of Belgium und der Philipps- schweig besichtigten. Universität Marburg.

Gedenkstättenleiterin Martina Staats (re.) erläuterte in einer ehemaligen Gemein- Ankündigung des Workshops (Zuschnitt) • Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel schaftshaftzelle die Kontinuitäten in Justiz und Strafvollzug zwischen der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik • Sarah Kunte

22. Mai: Die Stadt Bergen und die Gedenkstätte Bergen- 5. Mai: Gespielte Erinnerungen von Fanny Heymann „Liebe Belsen haben Interessierte zu einer Talkshow eingeladen. Mutti, ich möchte mit Dir sprechen.“ In der Malerei hat die als Unter dem Titel „Wo ist mein Platz? – Kinderrechte in Bergen“ Kind im KZ Bergen-Belsen Inhaftierte, deren Eltern beide in diskutierten Rainer Prokop (Bürgermeister der Stadt Bergen), Bergen-Belsen starben, ein Medium zur Verarbeitung und Er- Dr. Jens-Christian Wagner (Leiter der Gedenkstätte Bergen- forschung ihrer Familiengeschichte gefunden. Anhand ihrer Belsen), Bianca Höltje (Schulleiterin der Eugen-Naumann- Gemälde stellte sie ihre Lebensgeschichte in besonderer Weise Schule Bergen), Bernd Mill (Stadtjugendpfleger, Jugendfrei- dar: sie befand sich imaginär in ihrem Atelier und malte u.a. zeitstätte Bergwerk und Aspik), Emily Böker (Jugendforum ihre Mutter, sprach mit ihr und spielte abwechselnd verschie- Bergen) und Axel Stahlmann (Pastor in der St. Lamberti Kirchen- dene prägnante Episoden aus der Familiengeschichte. gemeinde Bergen) miteinander. Zusätzlich präsentierten Schüler_innen der Hinrich-Wolff- und der Eugen-Naumann- Schule ein Video- und ein Kunstprojekt. 40

Fanny Heymann inmitten ihrer Bilder • Tessa Bouwman

Talkshow „Wo ist mein Platz? – Kinderrechte in Bergen“ • Leyla Ferman

16. Mai: Die Abteilung Gedenkstättenförderung Nieder- sachsen führte in Schwanewede einen Workshop zum Thema „Erschließung der Rüstungslandschaft Farge/Schwanewede für die historisch-politische Bildungsarbeit“ mit Vertreter_in- nen der Heimatfreunde Neuenkirchen e. V., des Geschichts- lehrpfads Lagerstraße/U-Boot-Bunker Valentin e. V., der Inter- nationalen Friedensschule Bremen und des Denkorts Bunker Valentin durch. Juni 14. bis 15. August: Im Rahmen einer durch die EU-Delegation in Russland sowie Memorial International organisierten Studien- Juni: Die Freiwilligen der Gedenkstätte, Anton Brüggeboes reise besuchten 10 Geschichtslehrer_innen aus verschiedenen und Levy Lüdecke, führen als eigenständiges Projekt einen Teilen Russlands die Gedenkstätte Bergen-Belsen und den Workshop mit anschließender Zeitzeugenbegegnung mit Teil- Kriegsgefangenenfriedhof Hörsten. Am zweiten Tag hospi- nehmenden einer 6. und 7. Klasse der Anne-Frank-Oberschule tierten die Teilnehmenden am Hermann-Billung-Gymnasium Bergen durch. Nach einer Auseinandersetzung mit eigenen Celle, um sich einen Eindruck vom deutschen Schulunterricht Ausgrenzungserfahrungen, aber auch eigenen Vorurteilen, zu verschaffen. erarbeiteten sich die Teilnehmenden bei einem Besuch in der Gedenkstätte selbst den geschichtlichen Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus und im Speziellen zur Biographie des Zeitzeugen Gerd Klestadt, der als Kind im KZ Bergen-Belsen war. Die Teilnehmenden stellten Herrn Klestadt ihre im Vor- feld entwickelten Fragen zu seiner Lebensgeschichte, aber auch zu aktuellen Themen, wie der Ausgrenzung von geflüch- teten Menschen. Im Anschluss entwickelte sich eine angereg- te Diskussion über diverse Ausgrenzungserfahrungen in Ge- schichte und Gegenwart.

23. Juni: Busexkursion zu den Kriegsgefangenenfriedhöfen Bergen-Belsen, Fallingbostel-Oerbke und Wietzendorf mit thematischen Führungen an den jeweiligen Orten. Besuch russischer Geschichtslehrer_innen in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im August 2019 • Daniel Tonn

Juli 21. August: Der in Wolfenbüttel lebende Künstler Prof. Peter 22. Juli: Die Geschäftsführerin der Curt Mast Jägermeister- Tuma überlässt der Gedenkstätte fünf seiner Zeichnungen als stiftung Manja Puschnerus besuchte die Gedenkstätte in der Schenkung. In den Werken, die 1991 im Rahmen der Ausstel- JVA Wolfenbüttel. Nach einer Besichtigung der historischen lung „KÖPFE/ Dunkle Zeichen“ entstanden waren, verarbeite- Orte und der multimedialen Lernumgebung (Foto) erläuterte te er seine Betroffenheit über das Geschehen im Strafgefäng- ihr Gedenkstättenleiterin Martina Staats aktuelle und geplante nis Wolfenbüttel während der NS-Zeit. Projekte.

August 41

3. bis 14. August: In der Bergen-Belsen International Summer School beschäftigten sich 20 internationale Masterstudieren- de, Doktorand_innen und Berufseinsteiger_innen verschiedener Fachrichtungen mit transnationaler Erinnerung. Das Programm umfasste neben Vorlesungen, Workshops und Führungen auch eine Exkursion nach Hamburg, wo die Teilnehmenden den neuen Gedenkort „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ besuchten.

Martina Staats und Prof. Peter Tuma bei der Übergabe der Zeichnungen • Sarah Kunte

23. August: Besuch des Landesbischofs der Evangelisch- lutherischen Landeskirche in Braunschweig Dr. Christoph Meyns in der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel. Gemein- sam mit Konstantin Dedekind, evangelischer Pfarrer der Justiz- vollzugsanstalt, besichtigte er das ehemalige Hinrichtungsge- bäude und ließ sich anschließend verschiedene Konzepte und Methoden der pädagogischen Arbeit vorstellen.

Die Teilnehmer_innen der Summer School 2019 mit Mitarbeiter_innen der Gedenk- stätte Bergen-Belsen • Sabine Thubauville

Stiftung 24. August: Die Gedenkstätte Bergen-Belsen organisierte ge- 12. September: Fortbildungsfahrt für die Mitarbeiter_innen meinsam mit dem Jugendforum Bergen und der Stadt Bergen der Stiftung. Auf dem Programm standen der Besuch des das erste „Festival der Vielfalt“. Unter dem Motto „Ja zu Viel- Lernorts „Ehemalige Synagoge“ in Stadthagen sowie ein falt, Respekt und Toleranz, Nein zu Rassismus, Gewalt und Rundgang zu Orten der NS-Zeit in Bückeburg. Fremdenfeindlichkeit“ konnten die Teilnehmer_innen an fünf Informationsständen miteinander ins Gespräch zu kommen.

Andreas Kraus, erster Vorsitzender des Trägervereins, informierte über die Bildungs- arbeit und Projekte des Lernorts „Ehemalige Synagoge Stadthagen“ • Daniel Tonn

19. September: Workshop in Hannover zum Umgang mit rechten, rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen und/oder Äußerungen in Bildungsveranstaltungen in Gedenk- stätten, organisiert von der Abteilung Bildung und Begegnung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, der Abteilung Gedenkstätten- Plakat vom „Festival der Vielfalt“ • Leyla Ferman förderung Niedersachsen und der Interessengemeinschaft der niedersächsischen Gedenkstätten und Initiativen zur Erin- nerung an die NS-Verbrechen. 35 Teilnehmende aus mehreren 29. August: 9. niedersachsenweite Tagung der Abteilung Ge- niedersächsischen Gedenkstätten tauschten ihre Erfahrungen denkstättenförderung Niedersachsen zum Thema „Friedhöfe als aus, formulierten Bedarfe und diskutierten Konsequenzen für Gedenk- und Lernorte“ in Hannover mit 70 Teilnehmer_innen. die weitere Arbeit.

42 September Oktober

2. September: Bereits zum zweiten Mal konnte in Kooperation 7. bis 10. Oktober: In Kooperation mit der Jugendfreizeit- mit der Buchhandlung Behr in Wolfenbüttel eine Lesung aus stätte Bergwerk der Stadt Bergen und gefördert vom Bundes- Jean-Luc Bellangers: „‘Feindbegünstigung‘. Als politischer programm „Demokratie leben!“ fanden sich unter dem Motto Häftling im Strafgefängnis Wolfenbüttel“ stattfinden. Auszüge „Demokratie und Kunst“ 15 Jugendliche im Alter zwischen 13 wurden von dem Schauspieler Jürgen Beck-Rebholz vor- und 21 Jahren zusammen, um gemeinsam zu schmieden, zu getragen. töpfern und zu malen. Die Auseinandersetzung mit der Lager- geschichte Bergen-Belsens war der Ausgangspunkt, um über 5. September: Eröffnung der Ausstellung „Zweifach über- das demokratische Zusammenleben künstlerisch zu reflektie- lebt. Die Geschichte des israelischen Sportlers Shaul Ladany“. ren. Bei einer Vernissage präsentierten die Jugendlichen ihre Die Ausstellung wurde in der Gedenkstätte Bergen-Belsen bis Kunstwerke im Stadthaus Bergen der Öffentlichkeit. zum 20. Dezember gezeigt.

Kunsttage im Bergwerk. Demokratie und Kunst, Teilnehmende schmieden eine Rose • Brigita Malenica 8. Oktober: Als eine Station des Fotoworkshops „Remember. November Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Denkmälern und Erinnerungsorten“ der Bundesakademie für kulturelle Bildung 1. November: Besuch der Vizepräsidentin des Deutschen lud die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel die Teilnehmen- Bundestages, Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) in der Ge- den ein, Aufnahmen an den historischen Orten anzufertigen. denkstätte Bergen-Belsen. Der Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Dr. Jens-Christian Wagner, und weitere Mitarbeiter_innen informierten Frau Roth bei einem Gang durch die Dauerausstellung und über das ehemalige Lager- gelände über Ortes sowie über das Projekt KogA. Am Obelisken legte Claudia Roth einen Kranz nieder.

Ein Workshop-Teilnehmer im Flur des ehemaligen Hinrichtungsgebäudes • Sarah Kunte

20. Oktober: Aus Anlass des 80. Jahrestages der sogenann- ten Kindertransporte berichtete der Zeitzeuge Keith Stuart im Kranzniederlegung am Obelisken. v.l.: Filiz Polat (MdB, Bündnis 90/Die Grünen), Berger Stadthaus aus seinem Leben. Geboren als Kurt Schöne- Ottmar von Holtz (MdB, Bündnis 90/Die Grünen), Julia Willie Hamburg (MdL, Bündnis 90/Die Grünen), Claudia Roth (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages), Marina wetter in einer jüdischen Familie in Berlin kam der heute 94-Jäh- Jalowaia (Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen), Jens-Christian rige 1939 mit einem Kindertransport nach England. Im Krieg Wagner (Geschäftsführer der Stiftung nds. Gedenkstätten) • Martin Bein kämpfte er in der britischen Armee und arbeitete später für die britischen Besatzungsbehörden. Dr. Thomas Rahe führte in das Thema der Rettung jüdischer Kinder ein; Diana Gring 1. bis 3. November: Die Gedenkstätte Bergen-Belsen führte stellte die Biografie von Keith Stuart vor und moderierte das in Kooperation mit der Stiftung Linerhaus Celle einen Rap- Gespräch. Workshop durch. Die engagierten Celler Jugendlichen be- schäftigten sich mit der Geschichte von Bergen-Belsen und diskutierten über Ausgrenzung und Diskriminierung heute. Unter Leitung von zwei Rap-Pädagogen haben sie schließlich 43 einen Song aufgenommen, in dem sie mehr Toleranz fordern.

Keith Stuart und Diana Gring im Gespräch auf der Bühne des Stadthauses in Bergen • Wilfried Reck

Die Teilnehmenden des Rap-Workshops zusammen mit Tessa Bouwman • Amin Saleh

Stiftung 5. November: Das Team des Projekts „Kompetent gegen 17. November: Mit einem Festakt im Lessingtheater wurde Antiziganismus – in Geschichte und Gegenwart“ (KogA) lud das Dokumentationszentrum der Gedenkstätte in der JVA zu einem Fachforum in Celle ein. Gemeinsam mit rund acht- Wolfenbüttel mit der neuen Dauerausstellung „Recht. Verbre- zig Teilnehmer_innen standen die folgenden Fragestellungen chen. Folgen. Das Strafgefängnis Wolfenbüttel im National- im Vordergrund: Wie kann historisch-politische Bildung wir- sozialismus“ eröffnet. Im Anschluss hatten die rund 400 gela- kungsvoll zum Abbau antiziganistischer Diskriminierung bei- denen Gäste die Möglichkeit, den Neubau und die Aus- tragen und an der Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe von stellung zu besichtigen. Sinti_ze und Rom_nja mitwirken? Was sind vielversprechen- de Ansätze und Good Practices der antiziganismuskritischen Bildungs- und Beratungsarbeit sowie des Empowerments? Und wo liegen neue Arbeitsfelder und unbearbeitete Leerstellen?

Durchschneiden des roten Bandes vor dem Eingang (v.l.) Gedenkstättenleiterin Martina Staats, Architekt Henner Winkelmüller, Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta, Kultusminister Grant Hendrik Tonne und Maria Bering von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) • Helge Krückeberg

18. November: Vor dem ersten regulären Öffnungstag Podiumsgespräch während des KogA-Fachforums „Strategien gegen Antiziganismus. Was haben wir erreicht? Was ist zu tun?“ mit Tobias Neuburger, Hochschule Hannover, hatten angereiste Familienangehörige und Leihgeber die Ingo Lindemann, 1. Sinti-Verein-Ostfriesland e.V., Daniel Tonn (Projekt KogA, Mode- ration), Dr. Mareile Krause, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Möglichkeit, die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte in Hamburg,und Emran Elmazi, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti der JVA Wolfenbüttel gemeinsam mit den Kurator_innen zu und Roma • Martin Bein besichtigen.

10. November: Buchvorstellung „Zeichen setzen / Taking a stand“ in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Am 28. August 2016 wurde zum einhundertsten Geburtstag von Yehudi Menuhin 44 im Roundhouse der Kaserne Bergen-Hohne ein Gedenkkonzert unter der Schirmherrschaft des niedersächsischen Minister- präsidenten Stephan Weil veranstaltet. Es erinnerte an zwei Konzerte vom 27. Juli 1945, die Yehudi Menuhin gemeinsam mit Benjamin Britten für die Displaced Persons in der Kaserne Bergen-Hohne gab. Das Gedenkkonzert wird in der Publikati- on dokumentiert, die von den Herausgebern Werner Schmitt und Hendrik Feindt vorgestellt wurde.

Familienangehörige im Ausstellungsbereich „Raum für Erinnerungen“ • Helge Krückeberg 19. November: Eine Gruppe von rund 20 Lehrer_innen aus Dezember den Schweizer Kantonsgymnasien St. Gallen und Trogen be- suchte für zwei Tage die Gedenkstätte Bergen-Belsen und in- 5./6. Dezember: 13. Workshop „Geschichte verstehen, Tole- formierte sich über die wissenschaftliche und pädagogische ranz leben“ mit Auszubildenden der MAN Truck & Bus SE, Arbeit. Die Lehrkräfte hatten mit ihren Schüler_innen die Aus- Berufsbildung Werk Salzgitter in Kooperation mit der Justiz- stellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“ im Historischen Mu- vollzugsanstalt Wolfenbüttel. seum St. Gallen besucht und an Zeitzeugengesprächen teilge- nommen. Daraus war das Interesse erwachsen, sich vor Ort intensiv mit den historischen Hintergründen und der Lager- geschichte von Bergen-Belsen zu befassen.

MAN-Azubis in der ehemaligen Hinrichtungsstätte • Simona Häring

Die Gruppe aus Schweizer Lehrer_innen mit Katja Seybold und Diana Gring vor dem neuen Lernort M.B. 89 • Christoph Bischof

20. November: Neun Grundschulen und Kindergärten in Bergen gestalteten den Internationalen Tag der Kinderrechte. Am Vormittag hatten ca. 700 Kinder Puzzleteile mit Wünschen und Forderungen an die Bürgermeisterin der Stadt, Frau Dettmar- Müller, überreicht. Am Nachmittag folgte eine Veranstaltung im Stadthaus von, mit und für Kinder mit verschiedenen inter- aktiven Ständen für Besucher_innen. Koordiniert wurde die Veranstaltung durch die von der Gedenkstätte Bergen-Belsen 45 und der Stadt Bergen gemeinsam getragene „Partnerschaft für Demokratie“.

Internationaler Tag der Kinderrechte in Bergen • Leyla Ferman

17 .November: Zeitzeugengespräch „Schwules Leben im Schatten der Verfolgung“ im „Andersraum“, Hannover In einem Gespräch mit vier Zeitzeugen, die die 1950er und 1960er Jahre als junge Erwachsene erlebt haben, beleuchtete Dr. Thomas Rahe die Auswirkungen der Bedrohung durch das damalige Strafrecht auf Leben und Selbstbild homosexueller Männer in dieser Zeit.

Stiftung Publikationen der Stiftung

„Jahresbericht 2018“ Maria Bormuth Karl Kassenbrock Herausgegeben von der Stiftung „,Ein Mann, der mit einem anderen „Konzentrationslager auf niedersächsische Gedenkstätten Mann Unzucht treibt […], wird mit Ge- Schienen. Die Geschichte der 154 Seiten fängnis bestraft.´ § 175 StGB – 20 Jahre 5. SS-Eisenbahnbaubrigade.“ Schwerpunktthema: Wehrmacht legitimiertes Unrecht in der Bundes­ Schriftenreihe der Stiftung nieder­ und Verbrechen republik am Beispiel des Strafvollzugs sächsische Gedenkstätten, Band 5 in Wolfenbüttel“ 245 Seiten Schriften der Gedenkstätte in der JVA Wallstein Verlag, Göttingen 2019 Wolfenbüttel, Band 2 62 Seiten Celle, 2019

46 Veröffentlichungen und Vorträge sowie Lehraufträge von Beschäftigten der Stiftung und Mitarbeit in Gremien

Veröffentlichungen Gring, Diana Neuburger, Tobias „Georg Rosenbaum“, in: Menschen in „Emanzipation statt Ethnokitsch. Der Binner, Jens Bergen-Belsen. Biografische Skizzen zu lange Kampf der Sinti und Roma um „Wehrmacht und Verbrechen“, in: Jahres- Häftlingen des Konzentrationslagers, hg. Emanzipation und Anerkennung“, in: bericht 2018. Schwerpunktthema: Wehr- Thomas Rahe / Jens-Christian Wagner, Jungle World, 2019, H. 40. macht und Verbrechen, hg. v. der Stif- Celle 2019, S. 221-231. „Wir brauchen mehr von diesem tung niedersächsische Gedenkstätten, „Licht am Ende der Nacht. Die Trans- Engagement.“ Der Historiker Tobias Celle 2019, S. 6-11. porte aus dem KZ Bergen-Belsen nach Neuburger über die Vision eines Roma- St. Gallen“ zusammen mit Peter Müller, Denkmals, in: d|ROM|a. Romani Politik, Bouwman, Tessa Hg. Stiftung niedersächsische Gedenk- Kultura, Tschib, 2019, H. 56. (zusammen mit Vogel, Maximilian) stätten / Historisches und Völkerkunde- „Elenta und Marepin“. Ein digitales Ar- „International Summer School in Bergen- museum St. Gallen, St. Gallen 2019. chiv der Sinti und Roma entwirft Gegen- Belsen“ in: Museumsverband Nieder- erzählungen, in: Junge Welt, 22.6.2019. sachsen und Bremen e.V. (Hg.), Zeitschrift Keller, Rolf „Das Feindbild ,Zigeuner‘ ist weiterhin „museums.zeit“, 1/2019, Hannover 2019, (zusammen mit Silke Petry) „‚Rest in am Leben.“ Ein Gespräch über Antiziga- S.22. peace, dear comrades…‘. The cemetery of nismus im Allgemeinen und in Hameln the Bergen-Belsen prisoner-of-war-camp. im Besonderen, in: Deister- und Weser- Grafe-Ulke, Bernd History and culture of emembrance“, zeitung, 12.4.2019. „Diskriminierung von Sinti und Roma Göttingen 2019. nimmt spürbar zu“, in: MiGAZIN.de, (zusammen mit Reinhard Otto) „Sow- Petry, Silke 20.3.2019. jetische Kriegsgefangene im System der (zusammen mit Rolf Keller) „‚Rest in „Antiziganismus ist ein gewaltsames Konzentrationslager“, Wien/Hamburg peace, dear comrades…‘. The cemetery of Phänomen“, in: Weser-Kurier, 8.4.2019. 2019 (Mauthausen-Studien, Band 14). the Bergen-Belsen prisoner-of-war-camp. History and culture of remenbrance“, Göttingen 2019. „Menschen in Bergen-Belsen. Silke Petry, Rolf Keller Thomas Rahe, Rainer Hoffschildt Biografische Skizzen zu Häftlingen „,Rest in peace, dear Comrades…´ „Homosexuelle im KZ Bergen-Belsen“ des Konzentrationslagers.“ The cemetery of the Bergen-Belsen 40 Seiten Bergen-Belsen – Berichte und prisoner-of-war-camp. History and Celle, 2019 Zeugnisse, Band 9 culture of remembrance.“ Herausgegeben von Thomas Rahe und Englische Ausgabe Jens-Christian Wagner 92 Seiten 271 Seiten Wallstein Verlag, Göttingen 2019 Wallstein Verlag, Göttingen 2019

Rahe, Thomas Seybold, Katja (Zusammen mit Anett Dremel) „Straf- 47 „Menschen in Bergen-Belsen. Biogra- „Zeev Fischler“, in: Thomas Rahe/ vollzug im Nationalsozialismus – ein fische Skizzen zu Häftlingen des Konzen- Jens-Christian Wagner (Hg), Menschen Überblick“, in: Martina Staats/Jens- trationslagers“, hg. von Thomas Rahe in Bergen-Belsen. Biographische Skizzen Christian Wagner (Hg.), Recht. Verbre- und Jens-Christian Wagner, Göttingen zu Häftlingen des Konzentrationslagers, chen. Folgen. Das Strafgefängnis Wol- 2019 (darin Beiträge zu Josef Capek, Gy- Göttingen 2019, S. 57-73. fenbüttel im Nationalsozialismus, örgy Denes (zus. mit Stephanie Billib), Göttingen 2019, S. 254-263. Hans Goslar, Rudolf Küstermeier und Staats, Martina „Erkenntnis statt Bekenntnis. Ein Plä- Ceija Stojka). „Recht. Verbrechen. Folgen. Das Straf- doyer für eine zukunftsfähige Gedenk- (zusammen mit Rainer Hoffschildt) gefängnis Wolfenbüttel im Nationalsozi- stättenarbeit“, in: Frauke Geyken/Micha- „Homosexuelle Häftlinge im Konzentra- alismus“ zusammen mit Jens-Christian el Sauer (Hg.), Zugänge zur Public tionslager Bergen-Belsen“, Celle 2019. Wagner (Hg.), Göttingen 2019. History. Formate – Orte – Inszenierungs- „Jenö Kolb, ,Glaube an den Men- „Gebrochenes Schweigen. Der Um- formen, Frankfurt/Main 2019, S. 89-103. schen´. Ein Bergen-Belsen Tagebuch“, gang von Familienangehörigen mit den „Ingenieur und Blender. Der steile Auf- hg. von Lajos Fischer und Thomas Rahe, Folgen von NS-Verurteilungen“, in: stieg Wernher von Brauns“, in: ZEIT Ge- Göttingen 2019. Martina Staats, Jens-Christian Wagner schichte, Heft 3/2019, S. 78-79. (Hg.): Recht. Verbrechen. Folgen. Das „Der Truppenübungsplatz Bergen und Sachweh, Jannik Strafgefängnis Wolfenbüttel im Natio- die Kaserne Bergen-Hohne 1939 bis „ ,… wegen Plünderns zum Tode ver- nalsozialismus, Göttingen 2019, S. 1945“, in: Jahresbericht 2018 der Stif- urteilt.´ Verbrechen der Justiz in Weser- 286-293. tung niedersächsische Gedenkstätten, münde während des Zweiten Weltkrie- Celle 2019, S. 12-17. ges“, in: Niederdeutsches Heimatblatt. Wagner, Jens-Christian „,Ich habe nur, wie jeder andere auch, Beilage der Nordsee-Zeitung Nr. 839, „Simulierte Authentizität? Chancen meinen Dienst gemacht.´ Wehrmachts- November 2019, S. 1-2, H 4. und Risiken von augmented und virtual soldaten als KZ-Bewacher“, in: Jahres- reality an Gedenkstätten“, in: Gedenk- bericht 2018 der Stiftung niedersächsi- stättenrundbrief Nr. 196, 12/2019, S. 3-9. sche Gedenkstätten, Celle 2019, S. (Hg. mit Martina Staats) „Recht. Ver- 30-35. brechen. Folgen. Das Strafgefängnis „Täter, Mittäter und Zuschauer der Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“, NS-Verbrechen. Chancen und Risiken ei- Göttingen 2019. ner integralen Gedenkstättendidaktik“,

Stiftung „Recht. Verbrechen. Folgen. Jenö Kolb Diana Gring, Peter Müller Das Strafgefängnis Wolfenbüttel „Glaube an den Menschen. „Licht am Ende der Nacht. Die Transporte im Nationalsozialismus“ Bergen-Belsen Tagebuch“ aus dem KZ Bergen-Belsen nach Katalog zur neuen Dauerausstellung Bergen-Belsen – Berichte und St. Gallen“ in der Gedenkstätte Wolfenbüttel Zeugnisse, Band 7 43 Seiten Herausgegen von Martina Staats und 310 Seiten Celle / St. Gallen, 2019 Jens-Christian Wagner Wallstein Verlag, Göttingen 2019 Wallstein Verlag, Göttingen 2019

48 in: Jahresbericht 2018 der Stiftung nie- Vorträge Osteuropäische Geschichte der Univer- dersächsische Gedenkstätten, Celle sität Bonn, 25. Oktober. 2019, S. 40-43. Binner, Jens „Warum ist es wichtig, sich nicht nur mit „Osnabrück steht auf gegen Antisemi- Bouwman, Tessa den Opfern, sondern auch mit den Tätern, tismus“; Friedensveranstaltung des Run- „Geschichte.Bewusst.Sein. Bildungsan- Mittätern und Zuschauern der NS-Verbre- den Tisches der Religionen, Osnabrück, gebote der Gedenkstätte Bergen-Belsen“ chen auseinanderzusetzen?“, in: Imanuel 13. März. Workshop beim Kinder zum Olymp!- Baumann (Hg.), Gestapo und Judenmord. „Von Peine in den Tod. Die Deportatio- Kongress „Meins?! Kulturerbe und kultu- Lehr- und Lernheft für einen Workshop im nen der jüdischen Bevölkerung ab März relle Bildung“, KZ-Gedenkstätte Buchen- „Hotel Silber“, Stuttgart 2019, S. 28-33. 1942“, Begleitprogramm der Ausstellung wald, 7. Juni. (Hg. zusammen mit Thomas Rahe) „Deportationsort Ahlem. ‚Judentrans- „Social Media im Spannungsfeld von „Menschen in Bergen-Belsen. Biografi- porte‘ ab Hannover 1941-1944“, Kreis- PR und Vermittlung“ Workshop beim sche Skizzen zu Häftlingen des Konzen- museum Peine, 1. April. 65. bundesweiten Gedenkstättensemi- trationslagers“, Göttingen 2019 (mit „Sowjetische Kriegsgefangene in nar „Herausforderungen des Digitalen Beiträgen zu Michel Fliecx und Clemens deutscher Hand. Eine vergessene Opfer- für Gedenkstätten und Dokumentations- Högg sowie (zus. mit Thomas Rahe) der gruppe?“; Abschlusspräsentation des zentren“, Bad Arolsen, 28.-29. Juni. Einleitung). Projektes „Memory-Wiki – Auf den Spu- ren der Erinnerung an ‚vergessene‘ NS- Grafe-Ulke, Bernd Opfer in der Ukraine, Russland und „Wer an der Gesellschaft teilhaben will, Deutschland“, Haus der Wissenschaft muss sich organisieren“, Vortrag in Nien- Bremen, 20. August. burg auf der 2. Tagung des „Interessen- „Die Opfer des deutschen Vernichtungs- verbundes für Sinti und Roma / Weser- kriegs – Bestandsaufnahme einer Leer- Ems in Niedersachsen“, 4. Oktober. stelle in der deutschen Erinnerung“, „KogA – Ergebnisse und Erkenntnisse Workshop „Gedenken an die Opfer der aus fast fünf Jahren Projektarbeit“, Vor- NS-Gewalt im östlichen Europa: Funktio- trag in Celle, Fachforum „Kompetent ge- nen, Formen, Perspektiven. Erfahrungen gen Antiziganismus. Teilhabe und Empo- und Impulse aus der Arbeit der Gedenk- werment“, 5. November. stätten und zivilgesellschaftlichen Initia- tiven in Deutschland“ an der Abteilung John Cramer „Vier Kieselsteine – Die Geschichte „Kinder im KZ Bergen-Belsen“ „Belsen Trial 1945 – Der Lüneburger der Familie Blumenthal“ Begleitheft zur Ausstellung heraus­ Prozess gegen Wachpersonal der Bildungsmaterialien für den Unterricht gegeben von Jens-Christian Wagner Konzentrationslager Auschwitz und an Grund- und weiterführenden Schulen Zweite Auflage Bergen-Belsen“ Zweite Auflage 68 Seiten Zweite Auflage Box mit Leseheft für Schüler_innen Celle, 2019 Bergen-Belsen – Forschungen (72 Seiten), und Dokumente, Band 1 Heft für Lehrende/Unterrichtende 427 Seiten (84 Seiten), Wallstein Verlag, Göttingen 2019 zwei Sätze mit Karten (ca. 90 Karten) Celle, 2019

Gring, Diana Survivors“, Vortrag im Seminar „Väter „Vor 80 Jahren – Die ‚Kindertransporte‘ 49 „Zeichnen gegen das Vergessen, Zei- oder Täter? Geschichtskultur in der nach England. Zeitzeugengespräch mit chen gegen das Vergessen. Über Aus- Schweiz und in Deutschland“ der Päda- Keith Stuart“, Moderation und Gespräch prägungen, Entwicklungen und Perspek- gogischen Hochschule St. Gallen, Gossau, mit Keith Stuart, Stadthaus Bergen, tiven des Erinnerns“, Podiumsgespräch 10. Mai. 20. Oktober. mit Manfred Bockelmann, Bildraum „Die Ausstellung ‚Kinder im KZ Bergen- „Die ermordete Kindheit. Folgen der Bodensee, Bregenz, 28. Februar. Belsen‘“, Einführungsvortrag, Historisches Verfolgung bei Kinderüberlebenden des „Das Trauma des Holocaust. Kinder- und Völkerkundemuseum St. Gallen, KZ Bergen-Belsen“, Vortrag auf Einladung überlebende und ihre Lebensgeschich- 12. Mai. des Vereins Gedenkweg 9. November e.V., ten zwischen Extremtraumatisierung „Aus dem KZ Bergen-Belsen in die Evangelisches Kirchenzentrum Paulusge- und Bewältigung“, Vortrag und Fortbil- Schweiz – Zur Biografie von Ladislaus meinde Südstadt, Burgdorf, 29. Oktober. dungsveranstaltung in der MEDICLIN Löb“, Vortrag und Gespräch mit Prof. Klinikum Soltau, 13. März. Ladislaus Löb, Historisches und Völker- Keller, Rolf „Kinder im KZ Bergen-Belsen“, Gruß- kundemuseum St. Gallen, 23. Juni. „Sporadisch, fragmentarisch, disparat: wort zur Eröffnung der Ausstellung „Kin- „Das Trauma des Holocaust. Kinderü- Quellen zum Arbeitseinsatz der sowjeti- der im KZ Bergen-Belsen“ im Historischen berlebende und ihre Lebensgeschichten schen Kriegsgefangenen“, Workshop und Völkerkundemuseum St. Gallen, zwischen Extremtraumatisierung und „Sowjetische Kriegsgefangene in archi- 11. April. Bewältigung“, Vortrag im Historischen valischer Überlieferung“ der Histori- „Zur Biografie von Michael Gelber“, und Völkerkundemuseum St. Gallen, schen Kommission für Westfalen, des Einführungsvortrag bei der Gedenkfeier 1. September. Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe der AG Bergen-Belsen zum Jahrestag „Gegen das Vergessen. Erinnerungs- und der Dokumentationsstätte Stalag der Befreiung, Bergen, 27. April. kultur heute am Beispiel der Ausstellung 326/VI K Senne, Detmold, 2. Juli. „Die Ausstellung ‚Kinder im KZ Bergen- ‚Kinder im KZ Bergen-Belsen‘“, Podiums- „Sowjetische Kriegsgefangene im Sys- Belsen‘ – Historischer Kontext und thema- diskussion, Historisches und Völkerkun- tem der Konzentrationslager“, Buchprä- tische Aspekte“, Vortrag vor der Fachleh- demuseum St. Gallen, 29. September. sentation, veranstaltet von der KZ-Gedenk- rergruppe Geschichte der Kantonsschule „Kinder im KZ Bergen-Belsen“, Gruß- stätte Mauthausen, Wien, 9. Dezember. am Burggraben, St. Gallen, 9. Mai. wort zur Eröffnung der Ausstellung „Aktuelle Debatten zur Erinnerungs- „Kinder im KZ Bergen-Belsen“ im Neuburger, Tobias kultur in Deutschland & Die letzten Zeu- Deutsch-Luxemburgischen Schengen- „77 Jahre Auschwitz-Erlass: das Fort- gen – Interviews mit Holocaust Child Lyzeum, Perl, 10. Oktober. leben des Antiziganismus“, Volkshoch-

Stiftung „Children in the Bergen-Belsen Gedenkstätte Bergen-Belsen Gedenkstätte Bergen-Belsen Concentration Camp“ „Halbjahresprogramm“ „Halbjahresprogramm“ Exhibition booklet edited by April bis September 2019 Oktober 2019 bis März 2020 Jens-Christian Wagner Englische Ausgabe Zweite Auflage 68 Seiten Celle, 2019

50 schule Celle, 16. Dezember. schen Sommeruniversität in der Mahn- Staats, Martina „,Glück ohne Macht´? Die Kritik des und Gedenkstätte Ravensbrück, „Martha Fuchs: ‚[…] wollen wir alle Antiziganismus und das Verhältnis zu 4. November. mithelfen, diese Welt umzubauen, […].‘ Antisemitismus und Rassismus“, AK „Verfolgte und Hinterlassenschaften. Ihre Auseinandersetzung mit den natio- Unbehagen in der Struktur, Lüneburg, Erfahrungsgeschichte und Sammlungs- nalsozialistischen Verfolgungserfahrun- 11. November. logiken“. Vortrag beim Workshop „Das gen“, Vortrag auf dem wissenschaft- „Strategien gegen Antiziganismus – Museum am Tatort. Sammeln und Depo- lichen Abschluss-Symposium zur Veran- Was haben wir erreicht? Was bleibt zu nieren“, Gedenkstätte und Museum staltungsreihe „Martha Fuchs“, Dornse, tun?“, Podiumsdiskussion im Rahmen sachsenhausen/Mahn- und Gedenk- Braunschweig, 2. April. des Fachformus Kompetent gegen Anti- stätte Ravensbrück, 9. Dezember. „Roundtable: Handling mass docu- ziganismus – Teilhabe und Empower- ments“, Impulsvortrag auf dem Interna- ment, Stiftung niedersächsische Ge- Seybold, Katja tionalen Workshop „Staging History: denkstätten, Celle, 5. November. Vortrag über „Soviet Prisoners of War Archives, Objects and Architecture“, „Institutioneller Antiziganismus. Effekte at Bergen-Belsen“ im Rahmen der Wolfenbüttel, 16. Mai. und Mechanismen“, Fachbereich Sozia- deutsch-russischen Begegnung „Erinne- „Vermittlung historischen Wissens les der Landeshauptstadt Hannover, Ko- rungskulturen im Vergleich“ in der Ge- und Möglichkeiten der Erinnerungskul- ordinierungsstelle Zuwanderung Ost- denkstätte, 2. Mai. tur“, Impulsvortrag, Roter Saal, Schloss europa, Hannover, 10. Juli. Rundgang durch die Dauerausstellung Braunschweig, 25. Juni. „Sozialpsychologie eines Vorurteils – und über das ehemalige Lagergelände Kulturnacht der Stadt Wolfenbüttel, das Beispiel der Sinti und Roma“, Volks- zum Thema: „Sinti und Roma in Bergen- Eröffnungsrede, 21. September. hochschule Celle, 11. Juni. Belsen und der bis heute anhaltende „Die Bedeutung der Erinnerung an die Kampf um Anerkennung und Wiedergut- NS-Verbrechen in der Gegenwart“, Rede, Rahe, Thomas machung“, 27. Oktober. Logenhaus Wolfenbüttel, 29. November. „Das jüdische DP-Camp Bergen-Belsen Bericht über den Arbeitskreises der 1945–1950“. Vortrag beim Jahresemp- Gedenkstätten an ehemaligen Haftorten fang des Fördervereins der Gedenkstätte von Justiz und Polizei, zusammen mit Ahlem, Hannover, 25. August. Lars Skowronski, Bundesweite Gedenk- „Die Entwicklung der Gedenkstätte stättenkonferenz, Gedenkstätte Flossen- Bergen-Belsen und ihrer Sammlungstä- bürg, 5. Dezember. tigkeit“. Vortrag im Rahmen der Europäi- „Kinder im KZ Bergen-Belsen – „Vier Kieselsteine. Die Geschichte der „Fortbildungsprogramm 2019“ Pädagogische Materialien und Familie Blumenthal – Bildungsmaterialien Abteilung Bildung und Begegnung Begleitheft zur Ausstellung“ für den Unterricht an Grund- und der Gedenkstätte Bergen-Belsen Faltblatt / Bestellformular zu den weiterführenden Schulen und die 14 Seiten Publikationen außerschulische Bildungsarbeit“ Faltblatt / Bestellformular zu den Publikationen

Tonn, Daniel bahn“. Vortrag anlässlich der Eröffnung kunft der Gedenkstättenarbeit“ Vortrag 51 „Youth and memorial work“. Work- des Lernortes der Stadt Schneverdingen in Gardelegen, 10. September. shop im Rahmen des International Net- zu den Räumungstransporten im April „Wie umgehen mit rechten Besucher_ work Meeting „Integration in rural areas“, 1945, 31. März. innen und geschichtsrevisionistischen veranstaltet von der Ländlichen Erwach- „Michel Fliecx. Häftling in Peenemünde, Parolen?“ Vortrag anlässlich einer Netz- senenbildung in Niedersachsen e.V., Dora und Bergen-Belsen.“ Beitrag zur werktagung der niedersächsischen Ge- Duderstadt, 5. Dezember. Vorstellung des Buches „Menschen in denkstätten mit der niedersächsischen Bergen-Belsen“ in der Leibniz Bibiothek Beratungsstelle gegen Rechtsextremis- Wagner, Jens-Christian Hannover, 15. April. mus, Hannover-Linden, 19. September. „Was können wir aus der NS-Ge- „Geschichte begreifen, für die Zukunft „Die Modernisierung der Gedenkkultur. schichte lernen?“ Rede zur zentralen handeln. Anforderungen an eine zukunfts- Eine Kontroverse?“ Vortrag anlässlich des Gedenkveranstaltung der Hansestadt gerichtete KZ-Ausstellung“. Vortrag im 19. Dialogforums Mauthausen, Gedenk- Bremen im Lernort Bunker Valentin, Gemeindehaus Bisingen, 02. Juni. stätte Mauthausen, 20. September. 27. Januar. „Erkenntnis statt Bekenntnis. Gedenk- „The Belsen Memorial.“ Vortrag im „Lässt sich spielerisch aus der NS-Ge- stättenarbeit und Public History.“ Öffent- Rahmen einer IHRA-Tagung an der Univ. schichte lernen?“ Input zur Fachtagung licher Vortrag an der Universität Erfurt, Cambridge, Archäologisches Institut, des Landesjugendringes in Oldau, 26. Juni. 24. September. 28. Januar. „Chancen und Risiken von Augmented Öffentlicher Abendvortrag „Gedenk- „Vor aller Augen. KZ-Todesmärsche Reality und Virtual Reality an Gedenk- stätten als Argument“ anlässlich der 1944/45.“ Öffentlicher Vortrag in Lage stätten.“ Vortrag anlässlich der bundes- Tagung „Landesgeschichte und Public (Westfalen), 28. Januar. weiten Gedenkstättenkonferenz in Bad History“ an der Universität Göttingen, „Erkenntnis statt Bekenntnis. Gedenk- Arolsen, 28. Juni. 26. September. stättenarbeit in Niedersachen.“ Vortrag „Rassismus und Vernichtungskrieg: Podiumsdiskussion „Zeppelin-Tribüne: zur Auftaktveranstaltung der Lehrer_innen- Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs Erhalt um jeden Preis?“ (mit Oberbürger- Fortbildung Yad Vashem in Hannover, für die deutsche Politik im Zweiten meister Dr. Ulrich Maly, MdL Karl Freller, 18. Februar. Weltkrieg.“ Vortrag anlässlich des Stiftung Bayerische Gedenkstätten), Do- „Zur Arbeit der Stiftung niedersächsi- 80. Jahrestages der Beginns des Zwei- kumentationszentrum Reichsparteitags- sche Gedenkstätten.“ Vortrag vor dem ten Weltkrieges, Stiftungssitz Celle, gelände Nürnberg, 2. Oktober. Aller-Klub Celle, 25. März. 1. September. „Topographie der Zwangsarbeit in „KZ-Räumungstransporte auf der Heide- „Erkenntnis statt Bekenntnis. Zur Zu- Niedersachsen – NS-Lager und ihre

Stiftung „Richtfest für den Neubau eines Doku- „Veranstaltungsprogramm 2020“ „Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel. mentationszentrums der Gedenkstätte Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Architektonisches Konzept.“ in der JVA Wolfenbüttel 26. September 39 Seiten Flyer zur Architektur / winkelmüller.ar- 2018. Reden und Fotografien.“ chitekten gmbh 31 Seiten 5 Seiten

52 Nachnutzung.“ Vortrag anlässlich des In- Hochschullehre Praxisseminar: Erarbeitung einer Wan- ternationalen Workshops „Stätten der derausstellung zum Thema „Heimkehr? NS-Zwangsarbeit in Sachsen, Böhmen Neuburger, Tobias Wege nach der Befreiung 1945“ an der und Schlesien als archäologische Kultur- Seminar „Was heißt Ethnisierung? Leibniz Universität Hannover, Winter- denkmale und Erinnerungsorte“, , Eine soziologische Einführung“, Hoch- semster 2019/20. 7. November. schule Hannover, Fakultät V, Studien- „Desafíos de la memoria ante la gang Soziale Arbeit, Wintersemester amenaza de la derecha extrema.“ Vor- 2019/20. Mitarbeit in Gremien trag am Museu d‘Art Contemporani de Seminar „Ausgrenzung und Diskrimi- Barcelona, 29. November. nierung. Einführung in die Soziologie“, Keller, Rolf Hochschule Hannover, Fakultät V, Studien- Beirat des Dokumentations- und Lern- Wolpers, Christian gang Soziale Arbeit, Sommersemester ortes Bückeberg gGmbH „,Vier Kieselsteine´ als Material für die 2019. Beirat der Gedenkstätten Gestapo- biografische Arbeit zu Entrechtung und keller Osnabrück und Augustaschacht Verfolgung im Nationalsozialismus in Wagner, Jens-Christian Ohrbeck der Oberschule“, FK Geschichte an der Praxisseminar „Wehrmacht und Ver- Beirat des Denkorts Bunker Valentin Oberschule Westercelle, 27.Mai. brechen. Erarbeitung einer Werkstatt- der Landeszentrale für politische Bildung ausstellung zur Geschichte des Truppen- Bremen übungsplatzes Bergen im National- Beirat des Leitprojekts „Grenz- sozialismus“ an der Leibniz Universität geschichte(n)“ der Metropolregion Hannover, Wintersemester 2018/19. Hamburg Praxisseminar „Zweifach überlebt: Wissenschaftlicher Beirat des Neuge- Bergen-Belsen 1944 und München 1972. staltungsprojekts der Gedenkstätten Erarbeitung einer Ausstellung zur Bio- Gestapokeller Osnabrück und Augusta- graphie des Holocaust-Überlebenden schacht Ohrbeck und israelischen Sportlers Shaul Lada- Wissenschaftlicher Beirat des Projekts ny“ an der Leibniz Universität Hannover, zur Geschichte des Kriegsgefangenen- Sommersemester 2019. lagers Gudendorf Staats, Martina Fachkommission zur Neugestaltung der 53 Beirat der Stiftung Gedenkstätte Linden- „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg straße Potsdam Wissenschaftlicher Fachbeirat der Vertreterin des Arbeitskreises Gedenk- KZ-Gedenkstätte Flossenbürg stätten an Polizei- und Justizhaftorten Wissenschaftlicher Beirat des Museums Vorsitzende des Kulturrats der Stadt Friedland Wolfenbüttel Historische Kommission für Nieder- Vorsitzende des Arbeitskreises Andere sachsen und Bremen Geschichte e. V., Braunschweig

Wagner, Jens-Christian International Committee of the Auschwitz-Birkenau Foundation, Warschau Memorial Sites Committee der Memo- rials Management Foundation, Warschau Leitungsgruppe Gedenkstätten und Erinnerungskultur beim Schleswig- Holsteinischen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Kiel Fachbeirat zur Neukonzeption der Gedenkstätte Hadamar Fachbeirat der Gedenkstätten Augusta- schacht und Gestapokeller Osnabrück Fachbeirat des Denkortes Bunker Valentin, Bremen Fachkommission der Gedenkstätte Ahlem, Hannover Stiftungsrat der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Stiftung Fünf Jahre Projekt KogA: Erfahrungen, Erkenntnisse und Faktoren zum Gelingen einer antiziganismuskritischen Bildungsarbeit

Bernd Grafe-Ulke, Tobias Neuburger, Daniel Tonn, Marion Seibel

54 Seit Sommer 2015 führt die Stiftung nargruppen relativ divers. Diese Hetero- munen, in schulischen Kontexten und in niedersächsische Gedenkstätten das im genität beurteilten die Teilnehmer_innen der Sozialen Arbeit gut erreicht haben, Bundesprogramm „Demokratie leben!“ aller Jahrgänge als erkenntnisfördernd konnten wir Multiplikator_innen aus den geförderte Modellprojekt „Kompetent und positiv. Bereichen Polizei, Justiz und Justizvoll- gegen Antiziganismus – in Geschichte In dem Bildungsprogramm wurde die zug sowie Presse, Medien und Öffent- und Gegenwart“ (KogA) durch. 2019 en- Auseinandersetzung mit historischen lichkeitsarbeit leider nicht wie ge- det die aktuelle Förderperiode für KogA. Entrechtungserfahrungen der Sinti_ze wünscht für eine Teilnahme gewinnen. Nach fast fünf Jahren nehmen wir den und Rom_nja und insbesondere ihrer Dafür gibt es sicher unterschiedliche folgenden Beitrag deshalb zum Anlass Verfolgungsgeschichte während des Na- Gründe: Vielleicht ist neben einem ver- Erfahrungen, Erkenntnisse und Faktoren tionalsozialismus in einer multiperspek- gleichsweise geringeren Handlungs- zum Gelingen einer antiziganismuskriti- tivischen Herangehensweise mit Gegen- druck das eher unübliche langzeitpäda- schen Bildungsarbeit aus Projektsicht wartsbezügen und aktuellen politischen gogische Format ausschlaggebend. Eine vorzustellen. Fragestellungen zu Demokratie, Men- weitere Ursache waren zweifelsohne schenrechten und Inklusion miteinander mangelnde Kontakte zu Schlüsselper- Was und wen haben wir erreicht? verbunden. Die historisch-politische Ver- sonen in beruflichen Aus- und Weiter- mittlung erfolgte mit konkretem Bezug bildungsinstitutionen. Den Kern von KogA bildete das Bildungs- zum historischen Ort Bergen-Belsen als programm „Kompetent gegen Diskrimi- ehemaligem Konzentrations- und Kriegs- Insgesamt hat KogA mit den Bildungs- nierung von Sinti_ze und Rom_nja“, das gefangenenlager sowie zu weiteren Orten programmen rund 80 Multiplikator_in- zwischen 2016 und 2019 vier Mal erfolg- des Erinnerns an die Zeit des National- nen in 42 Seminar- und Beratungstagen reich umgesetzt werden konnte und sich sozialismus in Niedersachen. Haupt- qualifiziert. Die Rückmeldungen der Teil- vorrangig an berufliche Multiplikator_in- ziel des Modellprojektes war die Qualifi- nehmenden in den schriftlichen Evalua- nen aus den folgenden Bereichen richtete: zierung von Multiplikator_innen für vor- tionen fielen überwiegend positiv aus: Soziale Arbeit, Jugendarbeit, schulische urteils- und diskriminierungsbewusstes 60 Prozent zeigten sich „sehr zufrieden“, und außerschulische Bildung; öffentliche Handeln, um die gesellschaftliche Teil- 35 Prozent „zufrieden“, weniger als fünf Einrichtungen, Behörden, Verwaltungen; habe von Rom_nja und Sinti_ze zu unter- Prozent waren „weniger oder gar nicht Polizei, Justiz und Justizvollzug; Presse, stützen und gegen Antiziganismus vor- zufrieden“. Besonders erfreulich: 94 Pro- Medien, Öffentlichkeitsarbeit. Wenn- zugehen. zent der Multiplikator_innen betrachte- gleich jedes Jahr eine spezifische Ziel- Während wir berufliche Multiplikator_- ten ihre Teilnahme als beruflich „sehr gruppe im Fokus stand, waren die Semi- innen in Behörden, Verwaltungen, Kom- nützlich“ (52 Prozent) oder „nützlich“ (42 Prozent), lediglich 6 Prozent gaben Verwaltungen, Kommunen sowie in mussten wir Überzeugungsarbeit leis- 55 „weniger nützlich“ an. Zu ähnlich positi- schulischen Kontexten und in der Sozia- ten, dass dieser Ansatz weder zielfüh- ven Ergebnissen kam auch eine wissen- len Arbeit mit migrierten Rom_nja aus rend noch realistisch ist. Mit bis zu elf schaftliche Evaluation des Bildungspro- diesen Staaten zu tun haben. Aus Sicht Veranstaltungstagen im Basis-, Aufbau-, gramms 2018 durch das Deutsche Jugend- der professionellen Akteur_innen und Vertiefungs- und Praxismodul war das institut. der hinter ihnen stehenden Organisatio- Bildungsprogramm zeitlich relativ um- Darüber hinaus hat KogA über die Jah- nen / Institutionen gab und gibt es ver- fangreich aufgestellt. Doch um ein tiefe- re eine Reihe weiterer Angebote mit ins- schiedene Herausforderungen der Inte- res Bewusstsein für Antiziganismus zu gesamt 75 Veranstaltungstagen umge- gration und Teilhabe dieser Menschen erlangen, braucht es diese Zeit. setzt oder begleitet. Im Rahmen von in den Bereichen Bildung, Arbeit oder Immer wieder brachten Teilnehmer_- Fachtagungen, Workshops, Seminaren Wohnen. Ein wichtiger Beweggrund für innen ein durch Stereotypen verzerrtes und Vortragsabenden konnten wir zu- die Teilnahme an unserem Bildungspro- Vorwissen mit. Neben der weiteren Wis- sätzlich rund 1.700 Personen erreichen. gramm war für Viele die Erkenntnis, sensvermittlung und Sensibilisierung für dass sie ohne fundiertes Wissen zum das Machtverhältnis Antiziganismus ziel- Langzeitpädagogischer Ansatz trotz Hand- Thema Antiziganismus und ohne Netz- te das Bildungsprogramm vor allem dar- lungsdrucks und hohen Erwartungen werke nicht weiterkommen und keinen auf ab, die Vorstellung des kategorialen Zugang zu Sinti_ze und Rom_nja auf- Andersseins von Sinti_ze und Rom_nja Die wirtschaftliche und soziale Lage bauen können. Auf diesen Bedarf konn- zu dekonstruieren. Äußerungen von Teil- sowie Formen der kumulativen Diskrimi- ten wir reagieren, wobei der Handlungs- nehmer_innen im Rahmen der Bildungs- nierung in Nicht-EU-Staaten des ehema- druck aus den Organisationen / Institu- programme legten nahe, dass sie nicht ligen Jugoslawien, aber auch aus EU- tionen und die Erwartungen der Teilneh- selten von folgender Grundannahme Staaten wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn mer_innen an sich selbst und das Pro- ausgingen: Sinti_ze und / oder Rom_nja und Tschechien, führten in den letzten gramm oft sehr hoch waren: Auf der werden diskriminiert, weil sie anders Jahren zu einer verstärkten Migration Suche nach schnellen Lösungsansätzen wären. Dieses Narrativ zu dekonstruieren, von Rom_nja nach Deutschland – die der Bildung, Beratung und Mediation das zeigt unsere Erfahrung, benötigt viel EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit hatten nicht Wenige den Anspruch, Zeit. Daher sind – bei aller Problematik ermöglichte dies rechtlich für alle Bür- möglichst sofort viele Informationen ger_innen der EU. In den KogA-Bildungs- und umfangreiche Kompetenzen zu er- Teilnehmer_innen des Workshops „Neue Vorbilder statt programmen waren vor allem berufliche werben, die sie sogleich in ihrer Tätigkeit alter Vorurteile – Sinti_ze- und Rom_nja-Sportler_innen“ besichtigen die Ausstellung „Abseits im eigenen Land“ Akteur_innen vertreten, die in Behörden, einsetzen könnten. An dieser Stelle während des KogA-Fachforums in Celle • Martin Bein

Stiftung 56 in Bezug auf Zeitkapazitäten der jeweili- scher Bildungsarbeit. Die Haltung von Methode, die sich hierbei gut bewährt gen Ziel- und Berufsgruppen – langzeit- KogA war an dieser Stelle eindeutig: Wir hat, ist es, Seminareinheiten als Tandem pädagogische Ansätze sinnvoll, um das als „Gadje“, also Menschen ohne zu konzipieren und durchzuführen, beste- (berufsbedingte) Alltagsbewusstsein und Romnohintergrund, vermitteln nichts, hend aus je einer/einem Referent_in aus Handeln kritisch zu reflektieren. was dem Bedürfnis Rechnung trägt, in der Community und vom KogA-Team. Spätestens nach dem zweiten Modul homogenen Kategorien zu denken und Dieses Tandem-Modell verstehen wir als des Bildungsprogramms fühlten sich die Kultur als zentrale Erklärung für Verhal- einen Baustein einer strategischen Allianz Teilnehmer_innen im Thema „angekom- tensweisen, Handlungen und Einstellun- mit dem Ziel des Powersharings: sich ge- men“, konnten Dinge für sich besser ein- gen heranzuziehen. Vor allem durch Be- genseitig Kompetenzen vermitteln – und ordnen und erkannten einen roten Faden gegnungen mit Sinti_ze und Rom_nja, eben nicht zuletzt auch gemeinsam gegen hinter den aufeinander aufbauenden Se- die „Expert_innen ihres eigenen Lebens“ Antiziganismus vorgehen. minarmodulen. Sehr wichtig war es zu- sind, kann deutlich werden, dass es nicht dem, viele praxis- und handlungsorien- „die“ Kultur der Sinti_ze und Rom_nja, Mechanismen und Effekte struktureller tierte Methoden und Ansätze anzubieten. sondern vielfältige Traditionen und und institutioneller Diskriminierung So konnten wir die Teilnehmenden moti- Lebensentwürfe gibt. vieren und befähigen, eigene Praxisan- Von großer Bedeutung in der antiziga- Da relativ viele Teilnehmer_innen der wendungen zu erarbeiten, diese mit der nismuskritischen Bildungsarbeit ist es Bildungsprogramme in Behörden und Seminargruppe kollegial zu beraten und zudem, Narrativen und Diskursen entge- Verwaltungen arbeiten, zielt das Bil- in ihren Institutionen / Organisationen genzuwirken, die Personen aufgrund ih- dungsprogramm auch darauf ab, ein Be- umzusetzen. rer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer wusstsein für Formen der strukturellen Lebensgewohnheiten als Rom_nja und und institutionellen Diskriminierung zu Umgang mit Kulturalisierung und Sinti_ze ethnisieren. Als herausfordernd schaffen, deren Effekte in nahezu allen Ethnisierung haben sich selbstethnisierende oder relevanten Lebensbereichen (Arbeit, Bil- selbst-kulturalisierende Aussagen durch dung, Gesundheit, Wohnen etc.) identifi- „Ich möchte mehr über die Kultur der Vertreter_innen aus Verbänden und Ver- ziert werden können. Wiederkehrende Sinti_ze und Rom_nja erfahren“. Diesen einen herausgestellt. Bedingt durch die Themen in den Seminaren waren des- Wunsch äußerten viele Teilnehmer_in- „Authentiziät“, die in der Regel von Teil- halb zum Beispiel die sichere Herkunfts- nen der KogA-Bildungsprogramme im- nehmer_innen einem Sinto oder einer staatenregelung der Bundesrepublik mer wieder. Er steht exemplarisch für Romni zugeschrieben wird, muss sehr Deutschland, Ausreisesperren für Rom_- die Gratwanderung antiziganismuskriti- behutsam vorgegangen werden. Eine nja in den Westbalkanstaaten, polizeili- che Sondererfassungen von Sinti_ze und auf die Geschichte die Gewordenheit Rom_nja oder die überproportionale und Prozesshaftigkeit der Gegenwart Beschulung von Sinti_ze in Sonder- und und ihrer antiziganistischen Machtver- Förderschulen. hältnisse begreifbar macht. Das Thema institutionelle Diskriminie- rung war für die Teilnehmenden sehr he- Ausblick rausfordernd, da sie in der Regel anneh- men, dass nach Recht und Gesetz Durch die erneute Förderung als Modell- gehandelt wird bzw. gehandelt werden projekt im Bundesprogramm Demokratie muss. Zu erkennen, wie organisationale leben! können wir unsere Arbeit erfreu- Stereotypien durch „gelerntes Wissen licherweise bis 2025 fortsetzen. In den und Erfahrung“ verinnerlicht sind und nächsten Jahren werden wir die Semin- wie bestimmte Gesetze und Verwal- armodule unseres Bildungsprogramms tungsvorschriften zur Diskriminierung weiterentwickeln und darüber hinaus beitragen, berührt das Berufsethos der neue Angebote der Beratung und Pro- beruflichen Akteur_innen. Es zeigt auf, zessbegleitung konzipieren. dass diskriminierende Praktiken nicht Individuelle Formen der Diskriminie- nur singuläres „Fehlverhalten“ bedeu- rung müssen immer auch vor dem Hin- ten, sondern auch Personen betrifft, die tergrund systemischer Handlungen be- von sich annehmen und überzeugt sind, trachtet werden. Deshalb legen wir diskriminierungsfrei zu handeln. einen Schwerpunkt auf Formen von strukturellem und institutionellem Anti- Lernen aus der Geschichte, oder durch ziganismus. Zusammen mit den berufli- die Geschichte? chen Akteur_innen wollen wir Strategien entwickeln, um der Diskriminierung ent- Um gegenwärtigen Antiziganismus gegenzuwirken und inklusive Praktiken verstehen und richtig einordnen zu kön- zu befördern. Angelehnt an den „Index nen, ist der Blick in die Geschichte der für Inklusion“ geht es darum, Kulturen, Diskriminierung, Ausgrenzung und Ver- Strukturen und Praktiken kritisch zu hin- folgung von Sinti_ze und Rom_nja im terfragen und langfristig zu verändern. Nationalsozialismus unerlässlich. Die Deshalb werden wir auch Inhouse-Ange- NS-Verbrechen haben Auswirkungen bis bote konzipieren, um zukünftig stärker in in die Gegenwart. Dies zeigt sich zum Institutionen und Organisationen hinein- Beispiel daran, dass Überlebende bis wirken und sie in ihrer Gesamtheit ad- heute traumatisiert sind und ihre Ängste ressieren zu können. 57 oft an die nächste Generation weiterge- In den nächsten Jahren wollen wir geben haben. Zudem ist die NS-Ideolo- Kontakte zu Schlüsselpersonen ausbau- gie teilweise heute noch in Form rassis- en, um bislang kaum oder nicht erreich- tischer Denkstrukturen und Diskurse in te Zielgruppen zu gewinnen. Im ersten der Gesellschaft präsent. Vor diesem Schritt konzentrieren wir uns auf Multi- Hintergrund waren und werden Ansätze plikator_innen bei der Polizei. Über die der historisch-politischen Bildung über Datenbank „Politische Bildung und den Nationalsozialismus sowie die Auf- Polizei“ der Bundeszentrale für politi- klärung und Bewusstmachung von Kon- sche Bildung sind bereits seit diesem Jahr tinuitäten, Diskontinuitäten und Wand- Seminarangebote von KogA buchbar, lungen der Formen des Antiziganismus, die einen Fokus auf Mechanismen und jenseits von unzutreffenden Analogien, Effekte institutioneller Diskriminierung ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit legen und die ermöglichen, eigene Hal- bleiben. Bislang waren die Bildungspro- tungen zum Thema Antiziganismus und gramme chronologisch aufgebaut, so deren Wirkung auf die berufliche Rolle dass sich die Inhalte sozusagen linear zu reflektieren. Außerdem planen wir ein von der Geschichte in die Gegenwart neues Format zu schaffen, mit dem wir bewegt haben. Nach fast fünf Jahren die Alumni unserer Bildungsprogramme Erfahrung stellen wir uns jedoch die weiter begleiten und bei der Umsetzung grundlegende Frage, ob die Vermittlung von Maßnahmen in ihren jeweiligen Ins- Emran Elmazi vom Dokumentations- und Kulturzent- raum Deutsche Sinti und Roma im Gespräch mit Claudia der historischen Verbrechen „en bloc“ titutionen und Organisationen unterstüt- Schanz vom Niedersächsischen Kultusministerium nicht die Gefahr birgt, das Unrecht im zen. Nicht zuletzt werden wir unsere Zu- während des KogA-Fachforums in Celle • Martin Bein heutigen Rechtsstaat aus den Augen zu sammenarbeit mit verschiedenen Selbst- Tobias von Borcke vom Bildungsforum gegen Antiziga- nismus in Berlin spricht über Präventionsarbeit gegen verlieren. Um einer Abwehr zeitgenössi- organisationen der Sinti_ze und Rom_nja Antiziganismus und Empowerment für Sinti_ze und scher Formen des Rassismus von vorn- in Niedersachsen und bundesweit stärken Rom_nja während des KogA-Fachforums in Celle • Martin Bein herein zu begegnen, kann es daher sinn- und weiterentwickeln. KogA-Projektleiter Bernd Grafe-Ulke im Gespräch mit voll sein, einen Ansatz zu wählen, der Teilnehmer_innen des Workshops „Historisch-politische von der Gegenwart ausgeht, und durch Bildung gegen Antiziganismus für Multiplikator_innen unterschiedlicher Berufsgruppen“ während des KogA- gezielte und punktuelle Bezugnahmen Fachforums in Celle • Martin Bein

Stiftung Projekt KogA: Neue Formate und Themen, neue Kooperationen und Zukunftsperspektiven

Bernd Grafe-Ulke, Marion Seibel, Daniel Tonn

58 2019 war für das Projekt „Kompetent und an der Stärkung gesellschaftlicher das sich vorrangig an berufliche Akteur_- gegen Antiziganismus“ (KogA) der Stif- Teilhabe von Sinti_ze und Rom_nja mit- innen aus den Tätigkeitsfeldern Presse, tung niedersächsische Gedenkstätten wirken? Was sind vielversprechende An- Medien und Öffentlichkeitsarbeit richte- das letzte Förderjahr im Rahmen des zu- sätze und Good Practices der antiziganis- te. Wir haben das Programm in diesem rückliegenden, fünfjährigen Bundespro- muskritischen Bildungs- und Beratungs- Jahr von vier auf zwei Module verkürzt gramms Demokratie leben! Seit 2015 arbeit sowie des Empowerments? Und und damit statt wie bisher elf, nur sechs haben wir eine Vielzahl an Multiplika- wo liegen neue Arbeitsfelder und unbe- Seminartage durchgeführt. Wir wollten tor_innen aus unterschiedlichen Berufs- arbeitete Leerstellen? Diese und weitere erproben, wie dieses kompaktere For- feldern adressiert, um zum Thema Anti- Fragen diskutierten die rund 80 Teilneh- mat funktioniert und den Zugang für die ziganismus Wissen zu vermitteln, für mer_innen aus den Bereichen kommu- Teilnehmer_innen niedrigschwelliger ge- Machtverhältnisse zu sensibilisieren und nale Verwaltung, formale und non-for- stalten. Leider haben wir die anvisierte Handlungsstrategien gegen die Diskrimi- male Bildung, Polizei, Justizvollzug Zielgruppe nicht wie geplant erreicht – nierung von Sinti_ze und Rom_nja zu ent- sowie Soziale Arbeit. Damit spiegelte die die Gründe hierfür gilt es eingehender wickeln. Die vergangenen zwölf Monate Veranstaltung die diversen Hintergründe zu eruieren. Nichtsdestotrotz waren die sind vor allem durch unser Fachforum, der beruflichen Multiplikator_innen und Teilnehmenden aus schulischen Kontex- unser Bildungsprogramm mit dem zivilgesellschaftlichen Akteur_innen wi- ten, Kommunen und Sozialer Arbeit sehr Schwerpunkt „Antiziganismus und Me- der, die KogA mit seinen Bildungsange- daran interessiert, wie öffentlich-media- dien“ sowie neue Kooperationen be- boten qualifiziert. Besonders hervorzu- le Diskurse über Rom_nja und Sinti_ze stimmt worden. heben ist zudem die Teilnahme zahl- funktionieren, auf welche Formen der reicher Vertreter_innen von Selbstorga- visuellen Repräsentation diese zurück- KogA-Fachforum nisationen der Sinti_ze und Rom_nja, greifen und mit welchen Strategien stereo- die sich aktiv in das Forum eingebracht typen Darstellungen begegnet werden Im Rahmen unseres Fachforums haben. kann. Während der Seminare haben wir „Kompetent gegen Antiziganismus. Teil- mit den Teilnehmenden deshalb auch habe und Empowerment“ im November Bildungsprogramm 2019: zwei Beispiele in Niedersachsen disku- in Celle haben wir den Blick nicht nur zu- „Antiziganismus und Medien“ tiert, anhand welcher der unterschied- rück, sondern auch in die Zukunft ge- liche Umgang mit dem Thema Antiziga- richtet. Wie kann historisch-politische In unserem diesjährigen Bildungspro- nismus deutlich wird. In einem Fall re- Bildung wirkungsvoll zum Abbau antizi- gramm bildete das Thema „Antiziganis- produzierte ein Redakteur der Celle- ganistischer Diskriminierung beitragen mus und Medien“ einen Schwerpunkt, schen Zeitung das alte Vorurteil, Sinti_ze und Rom_nja neigten zur Kriminalität. Parolen basieren auf unseren mehrjähri- Dokumentations- und Kulturzentrum So schrieb er über einen Trickbetrug an gen Erfahrungen in der antiziganismus- Deutscher Sinti und Roma zu nennen. einem Rentnerehepaar 2018, dass es kritischen Bildungsarbeit und dem Aus- Ein besonderer Dank gebührt zudem sich bei den Täterinnen um „[…] zwei tausch mit Vertreter_innen von Selbst- unserem Projektkollegen Tobias Neubur- Frauen […], nach Zeugenaussagen wahr- organisationen, die häufig selbst von ger, der sich im November nach vier er- scheinlich Sinti und Roma […]“ gehan- Diskriminierung betroffen sind und waren. folgreichen Jahren gemeinsamer Bildungs- delt habe, welche „[…] die Wehrlosigkeit Auf diesem Projekt aufbauend werden arbeit gegen Antziganismus aus unserem ihrer Opfer schamlos und dreist ausge- wir uns 2020 im Rahmen einer von der Team verabschiedet hat. Als wissen- nutzt“ hätten. Auf einen kritisch-konst- LpB angebotenen Ausbildung zum Argu- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für ruktiven Brief von KogA und dem Ge- mentationstrainer auch selbst weiter- Didaktik der Demokratien der Leibniz schäftsführer der Stiftung, verbunden qualifizieren. Universität Hannover forscht er von nun mit einem Gesprächsangebot, gab es Außerdem haben wir eine neue Ko- an zum Thema „Inklusive Stadtgesell- keine Reaktion. Dass Medien ihrer Ver- operation mit dem Niedersächsischen schaft und Migration: kommunale Hand- antwortung durchaus nachkommen und Landesinstitut für schulische Qualitäts- lungsroutinen und EU-Binnenmigration rassistische Diskriminierung thematisie- entwicklung (NLQ) und der Landesschul- aus Rumänien und Bulgarien“. ren, zeigte die Deister- und Weserzeitung behörde aufgenommen. In diesem Jahr (DEWEZET). Die DEWEZET berichtete konnten wir als „Kick-Off“ eine Fortbil- Anfang 2019 ausführlich über einen Fall dung zum Thema „Interkulturelle Bildung von Antiziganismus, bei dem einer Hamel- am Beispiel von Rom_nja“ mit Koordina- ner Sintezza von einer dortigen Wohnungs- tor_innen für sprachliche und interkultu- 59 baugesellschaft mit der Begründung relle Bildung sowie den jeweiligen Fach- „leichter Zigeunereinschlag“ ein Miet- dezernent_innen aus den vier Regional- verhältnis verwehrt werden sollte. Im abteilungen und Außenstellen der Nie- Zuge ihrer Berichterstattung führte die dersächsischen Landesschulbehörde in Zeitung auch ein Interview mit unserem Kooperation mit dem NLQ durchführen. Teamkollegen Tobias Neuburger. 2020 planen wir gemeinsam ein mehrtä- giges Bildungsangebot für Mitarbeiter_ Neue Kooperationen innen der Landesschulbehörde mit Ko- ordinierungsfunktion zu konzipieren Menschenverachtende Aussagen ge- und umzusetzen. gen Einzelne oder Gruppen haben leider Hochkonjunktur – in digitalen Räumen, In der zweiten Jahreshälfte haben wir aber auch außerhalb. Um dem etwas verschiedene Anträge gestellt, um die entgegenzusetzen, hat KogA deshalb Arbeit von KogA fortsetzen und weiter- das Kooperationsangebot der Nieder- entwickeln zu können. Im Dezember er- sächsischen Landeszentrale für politi- hielten wir schließlich die erfreuliche sche Bildung (LpB) angenommen und an Nachricht, dass im Rahmen des neuen der neuen App „KonterBUNT. Einschrei- Bundesprogramms Demokratie leben! ten für Demokratie“ mitgearbeitet. Mit weitere fünf Jahre als Modellprojekt ge- der im Juni erschienenen und kostenlos fördert werden. Der bewilligte Antrag ist KogA-Leiter Bernd Grafe-Ulke spricht auf dem Fachfo- für „Android“ und „iOs“ nutzbaren App nicht zuletzt auch der in den zurücklie- rum in Celle über Erkenntnisse aus fünf Jahren Projekt- können sich Anwender_innen mit Hate genden Jahren vertrauensvoll gewach- arbeit • Martin Bein Speech und Stammtischparolen kritisch senen Zusammenarbeit mit verschiede- Mario Franz vom Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti und Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer auseinandersetzen. Die Themenbereiche nen Selbstorganisationen der Sinti_ze der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, während sind breit gefächert und reichen von und Rom_nja zu verdanken. Stellvertre- des KogA-Fachforums in Celle • Martin Bein Antisemitismus über Sexismus bis zu tend für weitere Organisationen sind Nadine, Charmaine und Michael Wagner (von li. n. re.) vom 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V. moderieren den Rassismus – das Themenfeld Antiziga- hier insbesondere der Niedersächsische Workshop „Teilhabe in Schule und Kindergarten för- nismus hat KogA inhaltlich befüllt. Die Verband Deutscher Sinti e.V., der 1. Sinti- dern. Sinti*ze als Bildungsbegleiter*innen in Leer/ Ostfriesland“ im Rahmen des KogA-Fachforums in Entgegnungen auf die dort genannten Verein Ostfriesland in Leer und das Celle • Martin Bein

Stiftung Ideologie in Symbolen: Was haben Wolfsangel, Germanenkult und Hermann Löns mit dem Nationalsozialismus zu tun?

Jens-Christian Wagner

60 Im Frühjahr 2019 erreichten die Ge- dahin war ihre Verwendung politisch litischem Symbol in völkischen und später denkstätte Bergen-Belsen zunehmend unbelastet. nationalsozialistischen Kreisen hat maß- Beschwerden von Besucher_innen über Das änderte sich an der Wende zum geblich Hermann Löns beigetragen, der einen Findling, der an der Straße von 20. Jahrhundert. Die neu entstehende „Naturschutz“ als „gleichbedeutend mit Winsen/Aller Richtung Gedenkstätte völkische Bewegung, die sich vor allem Rasseschutz“ bezeichnete und schrieb, steht und auf dem neben dem Namen durch Nationalismus und Antisemitismus der „letzte und wichtigste Zweck des ge- eines örtlichen Unternehmers eine auszeichnete, entdeckte das Runenal- samten Heimatschutzes“ sei der „Kampf Wolfsangel abgebildet ist. Nach diver- phabet als Beweis für die Kulturleistung für die Gesunderhaltung des gesamten sen Pressemeldungen über diesen als einer angeblich jahrtausendealten ger- Volkes, ein Kampf für die Kraft der Nation, unangemessen empfundenen Stein ent- manischen Rasse. Heute gilt allerdings für das Gedeihen der Rasse“.1 Über- wickelte sich in der Region eine lebhafte als unbestritten, dass die ersten Runen, haupt war Löns, wie viele in seiner Zeit, Diskussion über die Verwendung der die im zweiten Jahrhundert nach Christus Nationalist, bisweilen auch mit antisemi- Wolfsangel. Dabei zeigte sich ein ver- auftauchten, eine Adaption südeuropäi- tischen Ausschlägen. 1910 schrieb er in breitetes Unwissen nicht nur über das scher Schriften waren. einem Brief an Artur Kutscher: „Ich bin Symbol selbst, sondern auch hinsicht- Für die Völkischen waren nicht nur Teutone hoch vier. […] Wir haben genug lich der Rezeption des Werkes von Her- die Runen, sondern auch die Wolfsangel mit Humanistik, National-Altruismus mann Löns, der die Wolfsangel als aber Symbole angeblicher germanischer und Internationalismus uns kaputt ge- Symbol popularisierte. Was also ist die Kulturhegemonie und Wehrhaftigkeit. macht, so sehr, dass ich eine ganz gehö- Wolfsangel, und was hat sie mit Her- Deshalb wurde sie schnell bei ihnen be- rige Portion Chauvinismus sogar für un- mann Löns und dem Rechtsextremis- liebt: Spätestens in den 1920er Jahren bedingt nötig halte. Natürlich passt das mus zu tun? war die Wolfsangel ein vor allem von den Juden nicht und darum zetern sie Die Wolfsangel ist ein jahrhunderte- Völkischen und Nationalsozialisten ge- über Teutonismus. Das aber ist der Weg, altes Symbol. Es zeigt eine mit einem nutztes politisches Erkennungszeichen. die Wahrheit und das Leben.“2 Querbalken versehene Sigrune und geht Gerne wurde sie auf Findlingen ange- Stark von rassistischer Ideologie durch- wohl als Zeichen auch auf eine Wolfs- bracht, jenen angeblich urgermanischen tränkt ist auch Löns‘ Roman „Wehrwolf“ falle zurück. Seit dem Mittelalter tauchte und unzerstörbaren Steinen, die in der sie in Stadt- und Adelswappen auf, und Kunstgeschichte als die Kennzeichen 1 Hermann Löns, Naturschutz und Rassenschutz, in: Ders., Nachgelassene Schriften, hrsg. von Wilhelm im 19. Jahrhundert wurde sie als Grenz- schlechthin für die völkische Memorial- Deimann, Leipzig/Hannover 1928, S. 486. markierung sowie zur Kennzeichnung kultur gelten. 2 Zit. nach Thomas Dupke, Hermann Löns – Mythos von Forstbeschäftigten genutzt. Bis Zur Verbreitung der Wolfsangel als po- und Wirklichkeit. Eine Biographie, Berlin 1994, S. 161. aus dem Jahr 1910, in dem er mit archa- wahlkampf etwa nutzte die NPD auf ischer Blut-und-Boden-Romantik von Plakaten eine leicht verfremdete Wolfs- heldenhaften Heidebauern erzählt, die angel als Kennzeichen für „nationale sich gegen gefährliche fremde Eindring- Schutzzonen“, und in der Ukraine (dort linge wehren. In diesem Buch führte er ist das Zeichen nicht verboten) dient die die Wolfsangel als Symbol germanischer Wolfsangel als Kennzeichen für rechts- Wehrhaftigkeit ein: Die Kapelle des extreme Milizen. wehrhaften Heidedorfes zieren zwei Fazit: Wenn wir uns mit den ideologi- Wolfsangeln. Etwa seit dieser Zeit ver- schen Ursprüngen und Folgen der NS- sah Löns zudem seine Unterschrift bis- Herrschaft und den Gründen für die weilen mit einer Wolfsangel, und als die breite Mitmachbereitschaft im National- Nationalsozialisten den „Wehrwolf“ im sozialismus beschäftigen – und darin Zweiten Weltkrieg zur Pflichtlektüre für liegt eine der Hauptaufgaben der Ge- die Hitlerjugend machten, prangte auf denkstättenarbeit –, dann müssen wir dem Buchtitel längst die Wolfsangel. auch über Symbole wie die Wolfsangel, Weil das Buch genutzt wurde, um die den Löns-Kult der Nazis und die aktuelle Jugendlichen zum Untergrundkampf ge- Verwendung des Symbols durch Rechts- gen die Alliierten aufzurufen, wurde es extreme sprechen: Es war und ist ein von diesen nach der deutschen Kapitula- Erkennungszeichen der rechtsextremen tion im Mai 1945 auf den Index gesetzt. Szene. Bei jeder Verwendung sollte man Nicht nur für den Buchtitel des „Wehr- daher historisch-politische Sensibilität wolfs“ wurde die Wolfsangel verwendet. und Wachsamkeit walten lassen. Das be- Auch das Grab von Hermann Löns wurde deutet nicht, dass das Symbol von je- 1935 damit geschmückt. 1934 waren die dem Löns-Stein oder aus Stadtwappen angeblichen Gebeine von Löns, der 1914 entfernt werden muss. Die Verwendung im Ersten Weltkrieg an der Westfront ge- der Wolfsangel sollte aber historisch storben war, in Frankreich entdeckt und kontextualisiert werden, etwa mittels nach Deutschland gebracht worden. Sein Infotafeln. Begräbnis nutzten die Nationalsozialisten Mit einer solchen zeitgeschichtlichen für propagandistische Zwecke – genauer Kontextualisierung lässt sich viel aus gesagt: die Wehrmacht, die die Gebeine den Spuren lernen, die der Nationalsozi- bei Fallingbostel bestatten und die Grab- alismus und seine geistigen Vorläufer platte – einen Findling – mit dem Symbol auf Gedenksteinen und Bauten hinterlas- der Wolfsangel versehen ließ. Mit ins sen haben: Es lässt sich lernen, dass die Grab gegeben wurde eine Kapsel mit Nazis 1933 nicht vom Himmel gefallen 61 Hitler-Worten. sind, sondern ihren Rassismus und ihren Mit dem Begräbnis in Fallingbostel er- Antisemitismus auf völkischen und natio- reichte der Löns-Kult der Nationalsozia- nalistischen Ideologemen aufbauten, die listen seinen Höhepunkt. Das gilt auch seit der Jahrhundertwende von immer für die politische Verwendung der Wolfs- mehr Deutschen bereitwillig aufgesogen angel, die bald als Kennzeichen für diverse und verinnerlicht wurden. Zum Erfolg NS-Organisationen genutzt wurde, etwa der NS-Propaganda und zur breiten ge- für die SS-Division „Das Reich“ oder für sellschaftlichen Akzeptanz der von den Verbände der Hitlerjugend. Auch in der Nationalsozialisten propagierten „Volks- Region um Celle wurde die Wolfsangel gemeinschaft“ haben ihre ideologischen gerne genutzt, beispielsweise im ehema- Vorreiter ganz erheblich beigetragen. ligen Kreis Burgdorf, der sie 1935 mit Be- Und nach 1945 wirkten Teile dieser Ideo- zug auf Löns‘ „Wehrwolf“ in sein Wappen logie nach. Auch dafür stehen die Wolfs- aufnahm (in den 1970er Jahren übernah- angel und der Löns-Kult exemplarisch. men die Stadt Burgwedel und die Ge- Umso mehr sollte man heute kritisch mit meinde Wedemark das Zeichen in ihren solchen Symbolen umgehen – ganz im Wappen). Sinne eines reflexiven Geschichtsbe- Nach 1945 nutzten Neonazis die Wolfs- wusstseins, das zu vermitteln Aufgabe angel als Erkennungszeichen, etwa die der Gedenkstätten ist. 1982 verbotene „Junge Front“. Seit dem Verbot dieser Organisation ist die Ver- wendung der Wolfsangel als Symbol im politischen Kontext verboten. Ansonsten Gedenkstein für Hermann Löns in Winsen (Aller), 2019. hat sie Bestandsschutz und darf etwa in Der Stein wurde 1966 anlässlich des 100. Geburtstages Wappen, auf Steinen oder in der Forst- von Hermann Löns aufgestellt. In einem Gemeinschafts- projekt der Gedenkstätte mit der Schule im Allertal und wirtschaft verwendet werden. Trotz des der Gemeinde Winsen soll 2020 eine erläuternde Infotafel zu dem Stein erarbeitet werden. • Jens-Christian Wagner Verbotes im politischen Kontext wird die Wolfsangel aber weiterhin von Rechts- Gedenkstein für Hermann Löns bei Bockelskamp (Land- kreis Celle), 2019. Der Stein wurde erst 2004 von einem extremisten genutzt. Im letzten Europa- örtlichen Verein aufgestellt. • Jens-Christian Wagner

Stiftung 62 Gedenkstätte Bergen-Belsen

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Gedenkstätte Bergen-Belsen Gedenkstätte Bergen-Belsen

Thomas Rahe, Katrin Unger, Jens-Christian Wagner

64 Die für die Öffentlichkeit wohl am rassistischer und antisemitischer Strö- tagebücher aus dem KZ Bergen-Belsen stärksten sichtbaren Ereignisse in der mungen ein deutliches Zeichen kritischen vor – die mit Abstand größte Zahl von Gedenkstätte Bergen-Belsen waren Geschichtsbewusstseins entgegenzu- Tagebüchern aus einem einzelnen NS- 2019 die Erweiterung der Gedenkstätte setzen. Konzentrationslager. Sowohl für die his- auf ein Teilareal der benachbarten Nieder- Erst mit dem Aufbau der Gedenkstätte torische Forschung als auch für die Bil- sachsen-Kaserne mit der Einweihung Bergen-Belsen als „arbeitende Einrich- dungsarbeit kommt ihnen eine große des Lernortes M.B. 89 zum 74. Jahrestag tung“ mit wissenschaftlichem Personal Bedeutung zu. Dementsprechend setzte der Befreiung des KZ Bergen-Belsen im Ende der 1980er Jahre begann eine sys- die Gedenkstätte auch im vergangenen April, die Eröffnung der Ausstellung tematische Sammeltätigkeit zur Ge- Jahr mit der Edition des ungarischspra- „Lebensläufe. Verfolgung und Überleben schichte des Kriegsgefangenen- und chigen Tagebuchs von Jenö Kolb ihre im Spiegel der Sammlung von Shaul Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Praxis fort, Häftlingstagebücher aus Ladany“ im September und die Präsen- Daran gemessen hat diese Sammlung dem KZ Bergen-Belsen in einer kom- tation unserer Wanderausstellung „Kin- mittlerweile einen bemerkenswerten mentierten deutschen Übersetzung zu der im KZ Bergen-Belsen“ in der Gedenk- Umfang erreicht. Auch im vergangenen veröffentlichen. stätte Ravensbrück, im Historischen und Jahr konnten zahlreiche Zuwächse an 2019 wurden die internationalen Be- Völkerkundemuseum St. Gallen und in Originalerwerbungen zu verschiedenen züge der Arbeit der Gedenkstätte Bergen- Perl / Saarland. Aspekten und Phasen der Geschichte Belsen noch deutlicher sichtbarer als in Nicht zuletzt diesen Aktivitäten ist es des Lagers Bergen-Belsen verzeichnet den Vorjahren. Nicht zuletzt mit der Prä- zu verdanken, dass die Gedenkstätte werden, viele davon als Schenkungen sentation der Ausstellung „Kinder im weit über die Region Celle hinaus medial von Überlebenden oder Angehörigen. KZ Bergen-Belsen“ im schweizerischen präsent war und sich viele Menschen Zu den bemerkenswertesten Ergebnis- St. Gallen und der Organisation eines mit der Geschichte Bergen-Belsens aus- sen der Sammlungsaktivitäten der Ge- umfassenden Begleitprogramms, in einandersetzen konnten, ohne selbst vor denkstätte Bergen-Belsen gehört die dem ehemalige Häftlinge aus ihren Erin- Ort zu sein. Das entspricht der Zielset- außerordentlich große Zahl von Häft- nerungen berichteten, war die Gedenk- zung der Stiftung niedersächsische Ge- lingstagebüchern aus dem Konzentrations- stätte im Ausland so präsent und aktiv denkstätten, deutlich stärker als bisher lager. Allein im vergangenen Jahr konn- wie nie zuvor. Die hohen Besucher_innen- in die Gesellschaft hineinzuwirken, um ten drei weitere, bisher unbekannte zahlen und die große mediale Resonanz diese im Sinne historischen Urteilsver- Tagebücher ermittelt werden, darunter darauf bestätigten die internationale Be- mögens demokratisch zu stärken und erstmals auch eines aus dem Frauen- deutung der Arbeit der Gedenkstätte damit dem Aufstieg nationalistischer, lager. Insgesamt liegen nun 34 Häftlings- Bergen-Belsen. Auch in anderen Arbeitsbereichen Tag eröffneten Studierende der Leibniz nen spiegeln in gewissem Maße die ge- 65 zeigten sich 2019 deutlich die internatio- Universität Hannover die Ausstellung sellschaftlichen Veränderungen nicht nalen Kontexte, in die die Gedenkstätte „Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die nur in Deutschland, sondern weltweit. Bergen-Belsen eingebunden ist, wie bei Wehrmacht und der Truppenübungs- Für die in der Vermittlung Tätigen ist es der Teilnahme an der internationalen platz Bergen“, die sie in Zusammenar- wichtig, sich damit entsprechend aus- Konferenz zur Namensdokumentation beit mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen einanderzusetzen und in konkreten Situa- von NS-Verfolgten in Yad Vashem, bei erarbeitet hatten. Die Abteilung Bildung tionen entsprechend und angemessen den zahlreichen externen Anfragen oder und Begegnung entwickelt im Lernlabor zu handeln. Daher widmeten sich Fort- der Nutzungen der Sammlung der Ge- M.B. 89 zukunftsfähige und innovative bildungen für feste wie freie Mitarbei- denkstätte vor Ort im Kontext von histo- Formate, um neben der „klassischen“ ter_innen in der Vermittlung zunehmend rischer Forschung, Ausstellungs- und Zielgruppe von Jugendlichen verstärkt auch dem Umgang mit geschichtsrevisi- Publikationsvorhaben innerhalb und auch Erwachsene in beruflichen Kon- onistischen und populistischen Vor- außerhalb Europas. texten als Zielgruppe zu erreichen. kommnissen in Gedenkstätten. International ging es auch beim 25. Inter- Die Erhöhung der finanziellen Förde- nationalen Workcamp vom 8. bis 18. April rung durch die Bundesbeauftragte für Die Mitglieder des International Advisory Boards der zu, welches der Landesjugendring Nieder- Kultur und Medien und das Land Nieder- Gedenkstätte Bergen-Belsen • Maximilian Vogel sachsen in Kooperation mit der Gedenk- sachsen ermöglichte 2019 die Einstel- Eröffnung der Ausstellung zum 25-jährigen Jubiläum des stätte durchführte. Rund 50 Jugendliche lung mehrerer zusätzlicher Mitarbei- Internationalen Jugendworkcamps Bergen-Belsen im Beisein der Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta und junge Erwachsene aus zehn Nationen ter_innen in der Abteilung Bildung und • Martin Bein haben sich mit der Geschichte des ehe- Begegnung. Damit kann die Gedenk- Die von den Gedenkstätten Ravensbrück, Bergen-Belsen maligen Kriegsgefangenen- und Konzen- stätte nun besser auf die Bedürfnisse und Dachau gemeinsam konzipierte und organisierte Tagung „Religiosität in Konzentrationslagern und trationslagers Bergen-Belsen auseinan- der Besucher_innen der Gedenkstätte anderen NS-Haftstätten“ fand am 28. und 29. Juni in der dergesetzt. In zwei Phasen wählten die und die sich verändernden Rahmenbe- KZ Gedenkstätte Ravensbrück statt. Die Mehrzahl der Beiträge soll 2021 in einem Themenheft der Zeitschrift Teilnehmenden aus sieben Workshops dingungen eingehen. „Beiträge zur nationalsozialistischen Verfolgung“ veröffentlicht werden, die künftig von der KZ-Gedenk- und wurden inhaltlich sowie kreativ Gedenkstätten sind zunehmend Ziel stätte Neuengamme in Kooperation mit der Arbeitsge- tätig. von Angriffen und Provokationen von meinschaft der KZ-Gedenkstätten herausgegeben wird. • Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Am 28. April wurde im Rahmen der Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Die aufgrund der großen Resonanz bereits mehrfach Feierlichkeiten zum 74. Jahrestag der Das gilt auch für die Gedenkstätte Bergen- durchgeführte szenische Lesung zu Irma Grese fand Befreiung des KZ Bergen-Belsen der Belsen. Rechtsextreme Meinungen und 2019 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, in Burgdorf und am 20. Januar im Schlosstheater Celle Lernort M.B. 89 eingeweiht. An diesem geschichtsrevisionistische Provokatio- (Foto) statt. • Diana Gring

Gedenkstätte Bergen-Belsen Die Wanderausstellung „Lebensläufe. Verfolgung und Überleben im Spiegel der Sammlung von Shaul Ladany“

Tessa Bouwman, Jens-Christian Wagner

66 Im Alter von acht Jahren wurde Shaul diese Dokumente mit der Ausstellung Kasztners, die Flüchtlingspolitik der Ladany 1944 mit seiner Familie aus Un- „Lebensläufe“ in der Gedenkstätte Bergen- Schweiz, der Aufbau einer Nachkriegs- garn in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Belsen ab September 2019 erstmals der Existenz und die Entwicklung der Erinne- Er gehörte zu den wenigen jüdischen Öffentlichkeit vorgestellt. rungskultur in Israel – sowie das Bemü- Häftlingen, die aufgrund von Verhand- Die Ausstellung gliedert sich in die hen vieler Überlebender, ihrer Nachwelt lungen ungarischer und schweizerischer Abschnitte: Jugoslawien und Ungarn Dokumente über das Grauen in Bergen- jüdischer Organisationen mit der SS ge- 1941 bis 1944 – Bergen-Belsen – Schweiz – Belsen zu hinterlassen. rettet wurden und im Dezember 1944 Rückkehr und neue Existenz in Israel – Am 5. September 2019, dem 47. Jahres- mit dem sogenannten Kasztner-Trans- Olympia-Attentat 1972 – Sammeln ge- tag des Attentats auf das israelische port in die Schweiz ausreisen durften. gen das Vergessen. Alle Inhalte der Aus- Olympia-Team in München, wurde die Später wanderte Shaul Ladany nach stellung werden auf großen Stelltafeln Ausstellung in Anwesenheit zahlreicher Israel aus und wurde ein bekannter Wis- präsentiert. Um die Fotos und Dokumen- Gäste aus dem In- und Ausland in der senschaftler und Sportler. Als Geher te aus der Sammlung von Shaul Ladany Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnet. nahm er an den Olympischen Spielen in herauszuheben, werden diese in Holz- Shaul Ladany berichtete eindrucksvoll München teil und überlebte den An- rahmen gezeigt. Alle anderen Dokumen- über seine Erinnerungen an das KZ Bergen- schlag der palästinensischen Terror- te, Fotos und Texte sind direkt auf die Belsen und an Olympia 1972. Grußworte gruppe auf die israelische Mannschaft Tafeln gedruckt. Auf diese Weise sollen hielten Aaron Sagui, Gesandter der Bot- am 5. September 1972. Der Leistungs- die individuellen Exponate aus der schaft des Staates Israel, Michaela Küch- sportler hörte damals nicht auf: Noch Sammlung von Shaul Ladany zum einen ler, Sonderbeauftragte im Auswärtigen heute nimmt er an internationalen Sport- historisch kontextualisiert werden, zum Amt für Beziehungen zu jüdischen Orga- wettkämpfen teil. Shaul Ladany verfügt anderen soll deutlich werden, dass die nisationen, und Uschi Schmitz, Vizeprä- über eine große Sammlung von Origi- Geschichte der Familie Ladany stellver- sidentin des Deutschen Olympischen naldokumenten zu seiner Verfolgung im tretend für die vieler anderer NS-Ver- Sportbunds. Nationalsozialismus. Ergänzt um Infor- folgter steht. Im Kern wird nicht eine Dass die Ausstellung, die bis Dezember mationen zur deutschen Besatzungs- biographische Ausstellung über Shaul 2019 in Bergen-Belsen gezeigt wurde, herrschaft in Serbien und in Ungarn, zu Ladany präsentiert, sondern seine Le- realisiert werden konnte, ist vor allem den Rettungsbemühungen des ungari- bensgeschichte ist der rote Faden für Shaul Ladany zu verdanken, der seine schen Zionisten Rudolf Kasztner und verschiedene thematische Zugriffe: die umfangreiche Sammlung zur Verfügung zum Neuanfang der Überlebenden im NS-Verfolgung in Jugoslawien und Un- stellte. Mit großem Sachverstand und neu gegründeten Staat Israel wurden garn, die Rettungsbemühungen Rudolf dem Blick für Details sichtete und scannte Antje Naujoks in Ladanys Haus in Omer bei Be’er Sheva in Israel alle wichtigen Unterlagen. Beiden sei sehr herzlich ge- dankt! Das gilt auch für das Auswärtige Amt, das die Ausstellung großzügig förderte. Die Ausstellung wurde als Wanderaus- stellung konzipiert und kann kostenlos ausgeliehen werden. Sie besteht aus fünf je ca. vier Meter langen Stellwän- den sowie einer Prolog-Stele und ist in- nerhalb eines Tages montierbar. Leih- nehmer wenden sich bei Interesse bitte an Till Amelung, Tel. 05051-4759-175, Email: [email protected].

Bei der Ausstellungseröffnung am 05. September v.r.: Michael Fürst (Vorsitzender der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen), Michaela Küchler (Sonderbeauftragte im Auswärtigen Amt für Beziehungen zu jüdischen Organisationen), Michaela Engelmeier(Makkabi Deutschland), Shaul Ladany, Jens-Christian Wagner, Patricia Schikore (Makkabi Deutschland). • Katrin Unger

Blick in die Ausstellung. • Jens-Christian Wagner

Blick in die Ausstellung. • Jens-Christian Wagner

Shaul Ladany bei der Ausstellungseröffnung am 5. September. • Jens-Christian Wagner

Anlässlich des internationalen Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus wurde die Ausstellung „Lebensläufe“ vom 29. Januar bis zum 7. Februar 2020 im niedersächsischen Landtag präsentiert. Shaul Ladany hielt am 29. Januar eine Rede vor dem Landtag. • Jens-Christian Wagner

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Gedenkstätte Bergen-Belsen Die Ausstellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“

Diana Gring

Sechs Überlebende waren Ehrengäste der Eröffnungs- veranstaltung im HVM St. Gallen: v.l.n.r. Sigmund Baumöhl, Gabriella Bartholdi, Ladislaus Löb, Egon Holländer, Katharina Hardy, Ivan Lefkovits, hinten: Anita Winter (Gamaraal-Stiftung) und Diana Gring (Gedenk- stätte Bergen-Belsen), 11. April 2019 • Michael Elser

Nach einem zweistündigen Zeitzeugengespräch umrin- gen einige Schüler_innen der St. Galler Kantonsschule am Burggraben den Überlebenden Ivan Lefkovits für weitere Fragen, 2. September 2019 • Diana Gring

68 Ein erfreulich großes Besucherinteres- unfassbare Leid des Holocaust erleben Auch mit der Pädagogischen Hoch- se und eine positive Resonanz begleite- mussten. schule St. Gallen und dem Kantonsgym- ten die Wanderung unserer Sonderaus- Durch eine enge Kooperation zwi- nasium am Burggraben ergab sich eine stellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“.1 schen dem Museum und der Gedenk- Zusammenarbeit. Es wurden Multiplika- Die Ausstellung über das Schicksal von stätte konnte ein vielseitiges Begleitpro- torenschulungen durchgeführt, mit Se- Häftlingen unter 15 Jahren und ihr Leben gramm für den Ausstellungszeitraum minarteilnehmer_innen gearbeitet und nach der Befreiung als „Child Survivors“ angeboten werden. So hielt Diana Gring Zeitzeugengespräche organisiert. Im wurde bis Anfang April 2019 in der Ge- als Kuratorin der Ausstellung mehrere Kantonsgymnasium konnten in den Ver- denkstätte Ravensbrück gezeigt. Als Vorträge mit verschiedenen Themen- anstaltungen mit den Überlebenden nächste Stationen folgten das renom- schwerpunkten und moderierte Zeitzeu- Katharina Hardy und Prof. Ivan Lefkovits mierte Historische und Völkerkunde- gengespräche. Peter Müller, Provenienz- rund 500 Schüler_innen erreicht werden, museum St. Gallen (HVMSG) in der forscher im HVMSG, bot Führungen mit die mit großem Interesse den Schilde- Schweiz und das Deutsch-Luxembur- einem lokalgeschichtlichen Fokus an. rungen lauschten und engagiert an der gische Schengen-Lyzeum in Perl. Zur Finissage am 29. September 2019 Diskussion teilnahmen. Am 11. April 2019 fand im Museum diskutierte ein illustres Podium die Vom 10. Oktober bis 6. Dezember 2019 St. Gallen in einem feierlichen Rahmen Erinnerungskultur(en) in der Schweiz präsentierte das Deutsch-Luxembur- die Ausstellungseröffnung statt, an der und in Deutschland unter dem Titel gische Schengen-Lyzeum die Ausstellung neben mehr als zweihundert Gästen „Gegen das Vergessen“. in ihren Räumen. Nur einen Tag nach auch sechs Zeitzeug_innen teilnahmen, Im Rahmen der Kooperation mit dem dem antisemitisch motivierten Anschlag die als Kinder das KZ Bergen-Belsen Museum St. Gallen entstand zudem die in Halle fand auf der Eröffnungsfeier der überlebten und heute in der Schweiz Broschüre „Licht am Ende der Nacht“, ver- Überlebende Gerd Klestadt bei seinem wohnhaft sind. Die parallel präsentierte fasst von Diana Gring und Peter Müller. Grußwort eindrückliche Worte der Mah- Wanderausstellung „Last Swiss Holo- Die Publikation dokumentiert erste For- nung und der Trauer. In den Wochen caust Survivors“2 der Gamaraal-Stiftung schungsergebnisse und Quellenfunde zu danach besuchten deutsche und luxem- ergänzte und komplettierte die berüh- einem bisher weitgehend unbekannten burgische Schulklassen die Ausstellung. rende Begegnung der Besucher_innen Teil der Lokalgeschichte St. Gallens: Im mit Menschen, die in ihrer Kindheit das Winter 1944/45 war die Stadt Zwischen- station für zwei Transporte mit losge- 1 www.kinder-in-bergen-belsen.de kauften und ausgetauschten Häftlingen 2 www.last-swiss-holocaust-survivors.ch aus dem KZ Bergen-Belsen. Archiv und Dokumentation

Klaus Tätzler

Im Arbeitsbereich „Archiv und Doku- Die Korrektur und Anlage der neuen hang mit der Befreiung in Bergen-Belsen 69 mentation“ wurden 2019 mehr als 150 Datensätze bezog sich wie in den ver- erhalten hatte. Von Joanne Lagerstrom Besucher_innen betreut. Im Vergleich gangenen Jahren vorwiegend auf Fotos erhielt die Gedenkstätte eine hölzerne zum Vorjahr bedeutete das nochmals zur Familiengeschichte, Augenzeugen- Brosche mit einer Beschriftung auf der eine Steigerung. Zum Großteil handelte berichte ehemaliger Häftlinge und Zu- Innenseite: Estonian DP Camp Celle 1946. es sich bei den betreuten Besucher_in- gänge in den Objektsammlungen. Im Die Brosche gehörte ihrer Tante Margaret nen um Studierende bzw. Wissenschaft- Frühjahr konnten weitere Fundstücke Lagerstrom, die als Angehörige der ler_innen, die die Bestände der Gedenk- vom ehemaligen Lagergelände inventa- UNRRA vermutlich in den DP Camps stätte und ihre Beratungskompetenz für risiert werden. Eine geplante Fortset- Bergen-Belsen und Celle tätig war. verschiedene Forschungsprojekte nutz- zung gegen Ende des Jahres kam zwar Schließlich gelang es, aus dem Nachlass ten. Die weiteren Besucher_innen teilten leider nicht zustande, dennoch war in des Künstlers Gerd Piepenhagen ein sich in sehr unterschiedliche Interessen- diesem Sammlungsbereich ein deutli- Werk in die Sammlung der Gedenkstätte gruppen, so kamen z.B. Angehörige von cher Zuwachs zu verzeichnen. Von den zu übernehmen. Ein weiteres Kunstwerk zehn britischen Soldaten, die an der Be- über 120 neu inventarisierten Gegen- von ihm mit explizit inhaltlichem Bezug freiung des KZ Bergen-Belsen beteiligt ständen und Originaldoku­menten in konnte an die Kolleg_innen in der Ge- waren, in die Gedenkstätte. Von einigen den Objektsammlungen waren in die- denkstätte Mittelbau-Dora vermittelt erhielt die Gedenkstätte zudem Fotos sem Jahr jedoch bemerkenswert viele werden. und Dokumente für die Sammlungen. – ca. fünfzig – aus Nachlässen ehemaliger Außerdem konnten für die Sammlung Zu den Alltagsaufgaben gehörte auch Häftlinge und anderer Zeitzeugen. Von der Originaldokumente mehrere sehr wieder die Beantwortung von zahlrei- Frieda Struyf, der Nichte von Adolphe seltene Publikationen aus dem DP Camp chen schriftlichen und telefonischen An- Bourguignon, erhielt die Gedenkstätte Bergen-Belsen erworben werden. fragen aus einem breiten Spektrum von seine Häftlingsjacke und eine umfang- Der Bestand von rund 2.900 Entschädi- sehr unterschiedlichen Interessen, vom reiche Fotosammlung. Adolphe Bourgu- gungsakten in siebzig Aktenkartons, die historischen Detail bis hin zur Lieferung ignon war als Mitglied einer belgischen von Materialien. Für Ausstellungs- und Widerstandsgruppe Häftling in Buchen- Adolphe Bourguignon in seiner Häftlingsjacke ; vermut- Publikationsprojekte wurden Samm- wald und Mittelbau-Dora gewesen und lich aufgenommen nach der Rückkehr aus Bergen-Belsen in Belgien, ca. Ende 1945 • Stiftung niedersächsische lungsrecherchen geleistet und Rechte- in Bergen-Belsen befreit worden. Gedenkstätten klärungen vorgenommen. Eine weitere wichtige Schenkung war Frieda Struyf übergibt die Häftlingsjacke ihres Onkels In den Archivdatenbanken wurden eine Halskette, die ein britischer Soldat Adolphe Bourguignon bei einem Besuch der Gedenk- stätte Bergen-Belsen am 22.8.2019 • Stiftung nieder- 2019 etwa 500 neue Datensätze angelegt. von einer Überlebenden im Zusammen- sächsische Gedenkstätten

Gedenkstätte Bergen-Belsen 70 die Gedenkstätte in den 1990er Jahren langte er zurück nach Budapest. Dort cher kein Zufall, dass er als Beauftragter vom israelischen Verband jüdischer erwarb er 1948 einen Universitätsab- für einen Wagen beim Repatriierungs- Überlebender des KZ Bergen-Belsen er- schluss in Chemie und Naturkunde und transport von Theresienstadt nach Buda- halten hat, soll in den nächsten Jahren arbeitete anschließend als Lehrer. pest zuständig wahr; entsprechend fand komplett digitalisiert werden. Mit dem Imre Pick starb am 4. April 1990 in sich in seinen Unterlagen ein mehrseiti- Zentrum für Arbeit und Beratung Celle Budapest. ger handschriftlicher Text über seine (ZAC), einer Einrichtung der Lebenshilfe Um seinen Nachlass kümmerte sich Aufgaben während des Transportes. Celle, konnte 2018 ein Partner gefunden seine Nichte Klára Székffy. Ende 2018 Neben einer ganzen Reihe von ausge- werden, der verlässlich und kostengüns- entschloss sich Frau Székffy, mit der Ge- füllten Formularen, Bescheinigungen tig bereit ist, diese Aufgabe zu überneh- denkstätte Bergen-Belsen Kontakt auf- und Ausweisen, die sich auf Imre Pick men. Mittlerweile ist ungefähr die Hälfte zunehmen. Im September 2019 besuchte beziehen, gibt es aber auch viele persön- – ca. 50.000 Blatt – einzeln gescannt und sie die Gedenkstätte und übergab als liche Aufzeichnungen, etwa zwei Ge- bearbeitet worden. Schenkung über vierzig Dokumente, dichte. Das eine wurde im KZ Bergen- einige Objekte und mehrere Fotos aus Belsen im Februar 1945 verfasst, das Der Nachlass von Imre Pick dem Nachlass von Imre Picks. Darunter andere nach der Befreiung im Juni 1945. befanden sich Dokumente, die sich nicht Von herausragender Bedeutung für die Imre Pick wurde am 17. August 1921 nur auf die Monate in Bergen-Belsen Sammlung der Gedenkstätte ist zweifels- in Pomaz / Ungarn geboren. Er wuchs in und Theresienstadt bezogen, sondern ohne ein Tagebuch, das Imre Pick im einer Arbeiterfamilie auf. 1944 verpflich- auch viele, die unmittelbar vor der De- Zeitraum vom 3. Dezember 1944 bis zum teten ihn die ungarischen Behörden zur portation und kurz nach der Repatriie- 25. Juni 1945 führte. Darin finden sich Zwangsarbeit in einem jüdischen Arbeits- rung entstanden. So gibt es z.B. aus der viele Anmerkungen, die in charakteris- bataillon. Ende 1944 wurde er aus Buda- Zeit im Arbeitsbataillon ein Foto, auf tischer Weise Alltagssituationen im pest deportiert und traf mit einem Trans- dem man Imre Pick mit seinen Kamera- Ungarnlager in Bergen-Belsen wider- port am 14. Dezember 1944 im Ungarn- den am Tisch sitzen sieht; in der Hand spiegeln. So besteht z.B. der Eintrag lager des KZ Bergen-Belsen ein. Kurz vor hält er Stift und Papier. In vielerlei Hin- vom 19. März 1945 in Bergen-Belsen der Befreiung wurde er am 3. April 1945 sicht scheint diese Aufnahme charakte- weitgehend aus einem Rezept, in dem auf einen Räumungstransport nach ristisch zu sein. Imre Pick hat nicht nur ausführlich die Zubereitung von Spinat- Theresienstadt geschickt, wo er schließ- für persönliche Zwecke Notizen ge- rouladen beschrieben wird. Diese Art lich am 8. Mai 1945 von der sowjetischen macht, sondern auch koordinierende von erträumten und fantasierten Gerich- Armee befreit wurde. Im Juni 1945 ge- Aufgaben wahrgenommen. So ist es si- ten ist auch aus vielen anderen Auf- zeichnungen und Augenzeugenberich- die andere Hälfte durch Schenkungen 71 ten bekannt; sie korrespondiert mit der und vor allem durch Schriftentausch mit katastrophalen Versorgungssituation anderen Institutionen – letzterer wurde und dem allgegenwärtigen Hunger im 2019 stark intensiviert und ausgebaut. Lager. Das Tagebuch ist wie die meisten Der Gesamtbestand an Literatur beläuft Dokumente in ungarischer Sprache ge- sich somit inzwischen auf über 11.000 schrieben. Die Handschrift wurde von Titel. Klára Székffy bereits in Maschinen- Die Anzahl der Bibliotheksnutzer ist im schrift transkribiert und sollte dringend Vergleich zu den Vorjahren leicht gestie- ins Deutsche übersetzt werden. gen, es wurden 230 Anfragen bearbeitet. Außer umfangreichem Schriftgut be- Regen Zuspruch fand die seit 2018 auf finden sich in der Sammlung auch einige einem Bibliotheksrechner installierte Faust- sehr interessante Objekte; darunter ein Datenbank, in der von den Besuchern kleiner hölzerner Stab, auf dem die direkt nach Archivmaterialien recherchiert Zentimeter-Abstände wie auf einem werden kann. selbst angefertigten Lineal gekennzeich- Die Präsenzbibliothek der Gedenk- net sind. In der Lagerzeit diente er zur stätte Bergen-Belsen ist jeweils mon- Tagebuch von Imre Pick, u.a. Eintrag vom 19. März 1945 Rezept zur Zubereitung von Spinatrouladen • Stiftung präzisen Abmessung der Brotrationen. tags, dienstags und donnerstags von niedersächsische Gedenkstätten

Eine erste Auswahl der Dokumente wurde 10.00–16.30 Uhr sowie nach besonderer Zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtete ungarische zur Prüfung und konservatorischen Be- Vereinbarung zugänglich und kann in Juden, rechts mit Stift Imre Pick; vermutlich Mitte/Ende Oktober 1944 in Galánta aufgenommen • Stiftung handlung in das Zentrum für Bucher- diesem Zeitraum von allen interessierten niedersächsische Gedenkstätten haltung in Leipzig gebracht. Besucher_innen, Schüler_innen, Stu- Imre Pick in seinem Arbeitszimmer ; ca. 1950er Jahre • dent_innen oder Wissenschaftler_innen Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Corinna Rathjen: Bibliothek der genutzt werden. Improvisierter Brotmessstab von Imre Pick, der zur exakten Bestimmung von Brotscheibenrationen bei der Gedenkstätte Bergen-Belsen Verteilung in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Theresienstadt diente • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Wie in den Jahren zuvor konnte der 20.5.2019 Lorely French (Pacific University Oregon) bei Bestand der Gedenkstättenbibliothek Recherchen zur Bergen-Belsen Überlebenden Ceija Bergen-Belsen um ca. 200 Titel erhöht Stojka und Rosalie Racine (University of Montréal) bei Recherchen zum Belsen Trial. • Stiftung niedersächsi- werden, davon fast die Hälfte durch Kauf, sche Gedenkstätten

Gedenkstätte Bergen-Belsen Namensverzeichnis der Häftlinge des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Bernd Horstmann

72 Umfangreiche Recherchen in Gedenk- von Forschenden, von Behörden oder an- Besucherbetreuung stätten und Archiven sowie die Unter- deren Einrichtungen, aber auch von Über- stützung von Überlebenden, Angehörigen lebenden selbst ein. Aufgrund der Vielzahl Im vergangenen Jahr sind mehr als ehemaliger Häftlinge oder Forschenden der Anfragen ist bei der Beantwortung 100 Einzelpersonen oder kleine Gruppen machten es möglich, etwa 43 % der Na- eine Priorisierung notwendig. So erhalten betreut worden. Die meisten der Besu- men der Häftlinge des KZ Bergen-Belsen Überlebende Bergen-Belsens in der Regel cher_innen waren Angehörige der 2nd zu rekonstruieren. nach wenigen Tagen eine Antwort. oder 3rd Generation, aber auch sechs ehe- Im Gegenzug erhalten zahlreiche Ein- 2019 beantwortete der Arbeitsbereich malige Häftlinge des KZ Bergen-Belsen richtungen und Forschende mittels Aus- Namensverzeichnis insgesamt 817 zählten dazu. Überlebende und Angehö- zügen aus dem Namensverzeichnis Unter- externe Anfragen gegenüber 724 im rige werden beim Besuch der nahegele- stützung für ihre Projekte. Beispielhaft Vorjahr. Die Anfragen lassen sich vier genen Kaserne begleitet, in der sich die für das vergangene Jahr seien genannt: Gruppen zuordnen: Gebäude des ehemaligen Nebenlagers • Förderverein Gedenkstätte „Laura“, 1. Überlebende des KZ Bergen-Belsen (83), und des Displaced Persons Camps so- Schmiedebach/Thüringen 2. Angehörige oder Nachkommen ehe- wie zwei Friedhöfe befinden. Die Zahl • Gedenkprojekt Häftlinge aus Groß- maliger Häftlinge (400), der Historiker_innen und Forschenden, Rosen, Außenlager Gräben 3. Gedenkstätten, Initiativen, Historiker_- die in den namensbezogenen Quellen • Gedenkbuch Stadt Magdeburg innen, Journalist_innen, interessierte recherchieren, nimmt weiterhin zu. • Projekt Hannoverscher Bahnhof, Privatpersonen, Studierende, etc. (287), KZ-Gedenkstätte Neuengamme 4. Behörden und Suchdienste (47). Totenbuch für die Häftlinge • Kooperation mit Walter Schiffer, Publi- des KZ Bergen-Belsen kation zu Gedenk- und Grabsteinen Die Zunahme von Überlebenden und auf dem Gelände der Gedenkstätte Angehörigen bzw. Nachkommen ehema- Von den insgesamt mindestens 52.000 Bergen-Belsen liger Häftlinge ist vor allem bedingt Toten des Konzentrationslagers Bergen- durch das Interesse am 75. Jahrestag Belsen sind nur etwas mehr als 10.000 Beantwortung namensbezogener der Befreiung des Konzentrationslagers namentlich bekannt. Diese Namen sollen Anfragen Bergen-Belsen, der im April 2020 began- im kommenden Jahr in einem Toten- gen wird.

Zahlreiche personenbezogene Anfragen Gästebuch (links) und zweibändiges Gedenkbuch für die treffen insbesondere von Angehörigen ehe- Häftlinge des KZ Bergen-Belsen im Foyer der Gedenk- stätte. 31 Exemplare des Gedenkbuches wurden 2019 maliger Häftlinge des KZ Bergen-Belsen, ausgegeben.• Bernd Horstmann Dubletten in der „Central Database of Shoah Victim’s Names“ zusammenzu- führen und wird trotz technischer Hilfs- mittel mehrere Jahre in Anspruch neh- men. Der Abgleich geringerer Daten- volumen ist jedoch ebenfalls arbeits- intensiv. So erforderte allein der gründ- liche Abgleich der Häftlingsdatenbank der Gedenkstätte Westerbork mit der Datenbank des Joods Monument drei Jahre, wie José Martins erläuterte. Auch die Möglichkeiten und Formen des Lernens und Erinnerns wurden themati- siert. Sie reichen von webbasierten Dar- stellungen wie „Micro Sites“ (einseitige Website) oder Online-Totenbüchern bis zu klassischen Präsentationsformen, wie der Wall of Names im Mémorial de la Shoah in Paris. Dazu berichtete Valerie buch online veröffentlicht werden. Das das Nederlands Instituut voor Oorlogs- Kleinknecht, dass die Wall of Names 73 Namensverzeichnis der Häftlinge des KZ documentatie (NIOD), das Dokumenta- nach umfangreicher Aktualisierung und Bergen-Belsen bildet die Grundlage für tionsarchiv des österreichischen Wider- Neugestaltung im Jahr 2020 mit mehr das Totenbuch. Für die Realisierung wur- standes (DÖW), das Mémorial de la als 75.000 Namen auf 222 Steinplatten de dieses Jahr im Rahmen einer befris- Shoah, Paris, das Bundesarchiv, das wiedereröffnet werden soll. Schließlich teten Projektstelle mit umfangreichen Polnische Rote Kreuz, die meisten deut- initiierte der Beitrag „Survival Risk of Recherche- und Ergänzungsarbeiten be- schen KZ-Gedenkstätten sowie das Terezín Prisoners“ von Tomáš Fedorovič gonnen. Es geht darum, Quellen zu Todes- NS-Dokumentationszentrum Rheinland- eine anregende Diskussion wissenschafts- fällen abzugleichen, Schreibweisen von Pfalz, das NS-Dokumentationszentrum ­ethischer Fragen. Namen und Datumsangaben zu prüfen Köln, die Gedenkstätte Deutscher Wider- Die Gedenkstätte Kazerne Dossin sowie Ortsnamen zu vereinheitlichen. stand sowie die Stiftung Topographie in Mechelen wird im Herbst 2020 den des Terrors. Erstmalig waren Kolleg_in- nächsten Workshop ausrichten. Workshop „Digitization of Nazi Era nen des Jewish Community Archives Victims’ Data” in Yad Vashem Thessaloniki, des Joint Distribution Committee Jerusalem, des Muzeum Im November fand in der Gedenkstät- POLIN, der Gedenkstätten Beit Theresien- te Yad Vashem der internationale Work- stadt und des Atlit Detention Camps ver- shop „Digitization of Nazi Era Victims’ treten. Data” statt mit mehr als fünfzig Teilneh- Das breite Spektrum der Arbeit mit mer_innen. Seit dem ersten Treffen 1997 namensbezogenen Quellen in den ver- wird diese Konferenz jährlich im Wech- schiedenen Gedenkstätten spiegelte sel von den beteiligten Institutionen aus- sich in den Vorträgen wieder. So stellten gerichtet. Zu den regelmäßig teilnehmen- Esther Fuxbrumer und Alexander Avra- den Einrichtungen gehören die Gedenk- ham ein in Yad Vashem entwickeltes stätte Yad Vashem, das U.S. Holocaust Verfahren vor, bei dem unter Einsatz Memorial Museum, die Gedenkstätten technischer Mittel (Algorithmen) Millio- Auschwitz, Groß-Rosen, Terezín, Wester- nen verschiedener Datensätze verglichen bork und Mauthausen, der International werden, um diejenigen herauszufinden, Führung von Dr. Alexander Avraham, Direktor Hall of Tracing Service (jetzt: Arolsen Archives), welche sich auf ein- und dieselbe Person Names und Central Database of Shoah Victims’ Names, während des Workshops in der Gedenkstätte Yad das Instytut Pamięci Narodowej (IPN), beziehen. Das Verfahren dient dazu, die Vashem • Bernd Horstmann

Gedenkstätte Bergen-Belsen Niedersachsen-Kaserne / Kriegsgefangene Bergen-Belsen

Katja Seybold

74 Die engen Verbindungslinien zwischen Belsen Geborene dienen soll. So steht vor allem aus Russland stammenden dem Kriegsgefangenen- und Konzentra- das Gebäude M.B. 89, das im Wesent- Angehörigen der zweiten, dritten und tionslager Bergen-Belsen und der heuti- lichen die baulichen Strukturen der vierten Generation erst wenige Wochen gen Niedersachsen-Kaserne können mit 1930er/1940er Jahre aufweist, exempla- zuvor erfahren oder durch eigene Re- der seit April 2020 im Lernort M.B. 89 ge- risch für die nach der Befreiung als Un- cherchen ermittelt, dass der Verwandte zeigten Ausstellung zum Thema „Auf- terkünfte für die Überlebenden genutz- im Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen rüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehr- ten Gebäude. Dadurch dient es den Über- verstorben ist. Ein wichtiges Recherche- macht und die Kaserne Bergen-Hohne“ lebenden als Annäherung an die eigene tool, nicht nur für Angehörige, sondern deutlicher konturiert werden. Die digita- Erinnerung und Erfahrung. auch für Forscher_innen stellt hierbei die le Installation, die Teil der Ausstellung Seit Ende April konnten schon zahlrei- Website OBD Memorial (https://obd-me- ist und dennoch auch für sich steht, bie- che Besucher_innen durch das Gebäude morial.ru/html/) dar, die vom russischen tet Interessierten einen Überblick über und historische Areal geführt werden. Verteidigungsministerium betrieben die Kaserne und die Nutzung der Liegen- Wichtige Adressaten und Multiplikatoren wird. Dort kann nach dem Schicksal ge- schaft zu verschiedenen Zeiten. Anders stellen die in der Niedersachsen-Kaser- storbener sowjetischer Kriegsgefange- als im ehemaligen Hauptlager von Bergen- ne stationierten Militärangehörigen dar: ner recherchiert werden. Belsen hat sich die damalige Gebäude- Gemeinsame Rundgänge in M.B. 89 Mit dem Besuch der Angehörigen in struktur der Kaserne bis heute erhalten. dienten dem gegenseitigen Kennenler- der Gedenkstätte Bergen-Belsen ist Da es sich aber um einen militärischen nen und hatten u.a. zur Folge, dass Ge- auch die Hoffnung verbunden, vor Ort Sicherheitsbereich handelt, sind die bäude in der Liegenschaft besichtigt weitere Informationen zum Schicksal meisten original erhaltenen Gebäude, werden konnten, die vorher verschlos- des Verstorbenen zu finden. Aufgrund etwa das Roundhouse, für die meisten sen geblieben waren. nur lückenhafter Überlieferung können Besucher_innen nicht zugänglich. Mit- diese Wünsche seitens der Gedenkstätte hilfe der virtuellen Anwendung können Arbeitsbereich Kriegsgefangenenlager nicht immer befriedigt werden. Einige sie sich von M.B. 89 aus den historischen Bergen-Belsen der bei OBD Memorial hinterlegten Do- Ort erschließen. kumente geben eine genaue Grablage Mit M.B. 89 ist ein neuer Lernort ent- Gegenüber den Vorjahren stieg die für den Verstorbenen auf dem Friedhof standen, der jedoch gleichzeitig als Be- Anzahl der Anfragen und Besuche zur Hans-Jürgen Vehse, Angehöriger eines im Kriegsgefan- gegnungsort für Überlebende des Kon- Klärung des Schicksals in Bergen-Belsen genenlager Bergen-Belsen tätigen Wehrmachtsoldaten zentrationslagers, deren Angehörige wie internierter und verstorbener Kriegsge- lässt sich die virtuelle Rekonstruktion in M.B. 89 erklä- ren, für die er Dokumente aus dem Privatbesitz zur auch im Displaced Persons Camp Bergen- fangener deutlich an. Oftmals haben die Verfügung gestellt hat, 28. April 2019. • Jesco Denzel des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Busexkursion zu den Friedhöfen der 75 Bergen-Belsen an, z.B. Einträge in den ehemaligen Kriegsgefangenenlager Lazarettkarten oder dem fragmentarisch überlieferten Totenregister. Leider sug- Am Sonntag, 23. Juni fand zum dritten gerieren diese Angaben eine vermeint- Mal seit 2015 eine Busexkursion zu den lich genaue Grablage, die heute jedoch Friedhöfen der ehemaligen Kriegsgefan- nicht mehr nachvollziehbar ist, da ein genenlager Bergen-Belsen, Fallingbostel- Friedhofsplan mit der Verzeichnung der Oerbke und Wietzendorf statt. Bei der Gräber bislang nicht aufgefunden wer- Exkursion handelte es sich um eine Ko- den konnte. operationsveranstaltung der Stiftung Gern genutzt wird deshalb von vielen niedersächsische Gedenkstätten mit der Angehörigen die Möglichkeit, eine Ton- Gemeinde Wietzendorf, den gemeinde- tafel mit dem Namen und den Geburts- freien Bezirken Lohheide und Oster- und Sterbedaten anfertigen zu lassen. heide, der Arbeitsgemeinschaft Bergen- Dieses Angebot, initiiert von der AG Bergen- Belsen e.V. sowie der Initiative „Weg des Belsen e.V., wird seit über zehn Jahren Erinnerns“ der OBS Bad Fallingbostel. In regelmäßig in Anspruch genommen. diesem Kontext sei auch insbesondere Die Arbeiten am Totenbuch der in dem nun ehemaligen Bürgermeister der Bergen-Belsen zwischen 1941 und 1945 Gemeinde Wietzendorf, Uwe Wrieden verstorbenen Kriegsgefangenen wurden gedankt, der einmal mehr zu einem ge- in Form weiterer Recherchen und der lungenen Ausklang der Veranstaltung Auswertung bislang unbekannter Quel- mit einem gemeinsamen Kaffeetrinken len fortgesetzt. beigetragen hat.

Der evangelische Militärbischof der Bundeswehr Dr. Rink während des Rundgangs durch die Ausstellung in M.B. 89, 23. Oktober 2019. • Harald Koch / epd bild

Andreas Ehresmann während seiner Rede anlässlich des 74. Jahrestages der Befreiung des KZ Bergen-Belsen auf dem Friedhof des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, 28. April 2019 • Jesco Denzel

Gedenkstätte Bergen-Belsen Bildung und Begegnung

Marc Ellinghaus, Katrin Unger

76 Menschen, die in NS-Gedenkstätten ses sich durch Erfolge in ihrem Kultur- Bildungsangeboten der Abteilung, er- Bildungsangebote gestalten, sehen sich kampf von rechts und die stattfindenden laubt endlich die zentrale Planung auch nicht nur von den Geschichten der Orte Diskursverschiebungen ins Recht gesetzt der mehrtägigen Bildungsangebote und und den generellen Fragen der historisch- fühlen und aus der Deckung trauen. erleichtert die innere Organisation der politischen Bildung an diesen Orten her- Diese Herausforderungen müssen in Arbeit der Abteilung ungemein. ausgefordert. Auch die Gegenwart, auf den Gedenkstätten aufgenommen wer- Die hinzugewonnenen pädagogischen die sich in dieser Bildungsarbeit zu be- den, sie setzen neue Themen in Fort- Mitarbeiter_innen sind in den Betrieb ziehen selbstverständlich ist, fordert bildungen und Fachaustausch auf die besonders der mehrtägigen Bildungsan- stets auf neue Arten heraus, derzeit Tagesordnung, sie erfordern eine neue gebote eingebunden und übernehmen ganz besonders: Neonazis und Rechts- Selbstverständigung und die Schärfung zusätzlich bestimmte Querschnittsauf- extreme verüben Anschläge und Morde, der Sprache und der Analysefähigkeit gaben für die Arbeit der Bildungsabtei- gemeinsam mit Rechtspopulist_innen der Mitarbeiter_innen. lung und des Besucher_innendienstes: bestimmen sie politische Diskurse, sit- Bildung tut Not. Glücklicherweise die Entwicklung, Bereitstellung und zen in Talkshows, Behörden und Parla- konnte die Arbeit der Abteilung Bildung Organisation der durch Guides und Teamen- menten und machen Politik. Teile der und Begegnung im vergangenen Jahr de für die Bildungsarbeit gemeinsam ge- sogenannten Mitte übernehmen ihre entsprechend abgesichert und gestärkt nutzten Materialien, Medien und Infra- Terminologie, Themen und Ziele. Die werden. struktur, insbesondere der digitalen; Verbrechen des Nationalsozialismus Da im Verlauf des zweiten Halbjahres die Unterstützung der Ausbildung und werden in einem neuen Ausmaß umge- eine Stelle für die Verwaltung und Orga- Begleitung des Besucher_innendienstes deutet, relativiert und verharmlost; die nisation der Bildungsabteilung, drei Stel- sowie die Qualitätssicherung und Evalu- Erinnerung an diese Verbrechen wird in len für pädagogische Mitarbeiter_innen, ation der Bildungsangebote; Frage gestellt und attackiert. und eine wissenschaftliche Mitarbeiter_- die Entwicklung eines Profils und Bil- Die Bildungsarbeit an Gedenkstätten innen-Stelle besetzt werden konnten, ist dungsangebots für den Lernort M.B. 89. erfährt deutlicher als bisher, dass be- die Abteilung 2019 um fünf Kolleg_innen Für den Zeitraum von 18 Monaten stimmte Grundannahmen, wie die eines gewachsen. forscht ein wissenschaftlicher Mitarbei- weitgehenden gesellschaftlichen Kon- Die Wiederherstellung einer internen ter zum Thema Täter_innen, Täter_innen- senses über Menschenrechte und der Organisationsstelle für die Bildungs- schaft und Täter_innen-Gesellschaft und Bewertung der NS-Verbrechen, nicht abteilung schließt dabei eine Lücke, die arbeitet an Materialien, Konzepten und ganz der Realität entsprechen. Neu ist, seit einigen Jahren bestand. Sie ermög- Ausstellungen, um hier seit langem be- dass die Gegner eines solchen Konsen- licht eine einheitliche Beratung zu den stehende Lücken zu schließen. Mit Sabine Thubauville, Tessa Bouw- Lernorts M.B. 89 erhöht und Umbauten 77 man, Brigita Malenica, Sarah Ullrich und am Bildungszentrum der Gedenkstätte David Reinicke konnte die Gedenkstätte nötig macht. für diese Aufgaben hochqualifizierte und Ein sich erneuerndes Team muss sich engagierte Kolleg_innen gewinnen. über die Grundlagen seiner Arbeit, auch Weiter verstärken seit Februar Dominic während seiner Arbeit in weit über tau- Sauerbier und seit Schuljahresbeginn send Veranstaltungen, kontinuierlich Sabrina Barking, Daniela Bracher und verständigen. Andrea Kroll, die die Gedenkstätte als Daher werden in den folgenden Bei- abgeordnete Lehrkräfte gewinnen konn- trägen zentrale Themen und Fragen der te, mit einem Teil ihrer Dienstzeit den Bildungs-und Vermittlungsarbeit an der Besucher_innendienst. Gedenkstätte aufgegriffen: Wir sind sehr glücklich über jede_n ein- Gesellschaftsgeschichte in der Bil- zelne_n Kolleg_in, die nun das Team der dungsarbeit vermitteln: Wie kann die Bildung und Begegnung, der Gedenkstätte Geschichte der NS-Massenverbrechen und der Stiftung stärken und bereichern. so vermittelt werden, dass ihr Charakter Das Projekt „Partnerschaft für Demo- als Gesellschaftsverbrechen, die unter kratie“, das die Stadt Bergen seit 2017 Zustimmung und Mittun aus der ganzen erfolgreich in Kooperation mit der Ge- Breite der Bevölkerung heraus verübt denkstätte Bergen-Bergen betreibt, und wurden, deutlich wird? das durch den Bund im Rahmen des Pro- Auf die Besucher_innen geschaut: Auszubildende des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz bei gramms „Demokratie leben“ gefördert Was brauchen die Teilnehmenden, wie Arbeiten im Gelände der Gedenkstätte • Stiftung nieder- wird, hat eine gute Perspektive, um in werden wir ihnen in ihrer Diversität ge- sächsische Gedenkstätten den kommenden fünf Jahren seine Ar- recht und setzen uns in ihrer Sprache Einweihung des Lernorts M.B. 89 und Eröffnung der Ausstellung • Martin Bein beit in Bergen nachhaltig zu verankern. und ihren Medien mit ihren Fragen aus- Das so gewachsene Team im Besu- einander? Besuch des Lernorts M.B.89 während der Bergen-Belsen International Summerschool • Stiftung niedersächsische cher_innendienst und der Abteilung Bil- Gedenkstättenarbeit im Spiegel der Gedenkstätten dung und Begegnung benötigt Platz für Gesellschaft: Welche Herausforderun- Besuch der Ausstellung Hannoverscher Bahnhof in Bildungsangebote und Arbeitsplätze, gen bestehen für die Akteur_innen der Hamburg während der Bergen-Belsen International Summerschool • Stiftung niedersächsische was den Druck auf die Erschließung des Bildungsarbeit in den Gedenkstätten? Gedenkstätten

Gedenkstätte Bergen-Belsen Gesellschaftsgeschichte in der Bildungsarbeit vermitteln

Sarah Ullrich, David Reinicke, Daniel Tonn

78 Ein wesentlicher Anspruch historisch- Fragen anhand der Geschichte Bergen- de die Betrachtung der nationalsozialisti- politischer Bildungsarbeit an NS-Ge- Belsens thematisiert und Aktualitätsbe- schen Gesellschaft bietet hier Anknüpf- denkstätten ist, bei Besucher_innen ein züge untersucht werden können, zeigen ungspunkte. So lassen sich mithilfe der kritisches Geschichtsbewusstsein zu be- die folgenden drei Beispiele, zu denen Kaserne Fragen nach der gesellschaftli- fördern: Indem sie sich analytisch mit zukünftig Bildungsangebote (weiter)ent- chen Verflechtung der Lager stellen sowie historischen Sachverhalten befassen, wickelt werden. die Reaktionen der Bevölkerung beleuch- können sie zu eigenen Bewertungen und ten. Dadurch öffnet sich der Blick auf die Deutungen gelangen, die eine Orientie- Erweiterte Perspektiven durch zutiefst rassistisch organisierte national- rung im Heute ermöglichen. Besonders den Lernort M.B. 89 sozialistische Gesellschaft. In dieser wur- relevant ist in dieser Hinsicht die Ausein- den zuvor bestehende Stigmatisierungs- andersetzung mit der gesellschaftlichen Im April 2019 wurde die Gedenkstätte und Kriminalisierungsdiskurse, die ihren Dimension der NS-Geschichte, welche um einen Teil der heutigen Niedersach- Ursprung nicht erst im Nationalsozialis- die Abteilung Bildung und Begegnung sen-Kaserne erweitert. Im dort entste- mus hatten, in radikaler Weise weiterge- deshalb perspektivisch noch stärker in henden Lernort M.B. 89 kann stärker als führt und in Taten umgesetzt. Schaut man den Blick nehmen wird. zuvor auf die historischen Rahmenbedin- auf diese Diskurse, werden Parallelen zur Zum einen bestanden im Nationalsozia- gungen Bergen-Belsens eingegangen heutigen Gesellschaft sichtbar. lismus zahlreiche Angebote der Integra- werden. Durch die historischen Verbin- tion in die sogenannte Volksgemeinschaft. dungslinien beider Orte, der ehemaligen Antiziganismus in Geschichte Gleichzeitig wurde „Volksgemeinschaft“ Wehrmachtskaserne Bergen-Hohne ei- und Gegenwart durch die nationalsozialistischen Führungs- nerseits und dem ehemaligen Kriegsge- eliten in erster Linie darüber definiert, fangenen- und Konzentrationslager Bergen- Trotz der mühsam durch die Bürger_in- wer ihr nicht angehören durfte. Was wa- Belsen andererseits, können weitere nenrechtsbewegung erkämpften Anerken- ren Mechanismen und Praktiken dieser Themen in den Blick genommen werden, nung der NS-Massenverbrechen und der Exklusion und Entrechtung? Welche die die Komplexität der Geschichte Bergen- politischen Ächtung des Antiziganismus Kontinuitäten, aber auch Brüche zur NS- Belsens stärker in einen größeren gesell- zeigen empirische Befunde über Bevölke- Zeit ergeben sich in Bezug auf die Ab- schaftlichen Kontext einbetten. rungseinstellungen eine relativ hohe und wertung und Diskriminierung bestimm- Bereits jetzt finden diese Themen Be- über den Zeitverlauf stabile Ablehnung ter Gruppen? Wie nutzten historische rücksichtigung in der Vermittlungsarbeit von Sinti_ze und Rom_nja seit den 1990er Akteur_innen die Angebote zur Indienst- der Gedenkstätte. Doch deren Lernpoten- Jahren sowie eine ausgeprägte Vorurteils- stellung für das NS-Regime? Wie diese tiale sind noch nicht ausgeschöpft. Gera- struktur. Obschon die „Porajmos“ ge- sie direkt Gewalttaten an Häftlingen be- gingen und wie sie durch ihre Stellung zum Funktionieren des Lagers beitrugen. Auch bei der Betrachtung von Täter_innen- schaft ist es daher wichtig, einen differen- zierten Blick einzunehmen. Dafür müssen ideologische Motivation, Oppor­tu­nitäts­ strukturen und individuelle Handlungs- spielräume betrachtet und verschiedene Erklärungsansätze wie Gruppendynamik, biographische Prägung oder militärische Männlichkeitsstrukturen diskutiert wer- den. So lassen sich moralische Wertver- schiebungen ausmachen, die das Täter_- innenhandeln erst ermöglichten. Gerade diese Wertverschiebungen – wenn etwa universelle Menschenrechte im Handeln gegenüber bestimmten Gruppen infrage gestellt werden – sind auch gegenwärtig von hoher Relevanz.

Um bestimmte aktuelle Themen ein- ordnen und Formen menschen- und de- mokratiefeindlicher, rassistischer und völkischer Einstellungen demaskieren zu können, hilft der Blick in die Entstehungs-, Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus. Dabei öffnet erst die Auseinandersetzung mit den Themen Entrechtung und Verfolgung, Täter_innenschaft sowie mit den Reakti- onen und Verwicklungen der Umgebungs- bevölkerung den Blick für die nationalso- zialistische Gesellschaft und deren Funk- nannten Massenverbrechen an den nen der Sinti_ze und Rom_nja sehr tionsweise. So wird auch offensichtlich, 79 Rom_nja und Sinti_ze in Deutschland wichtig. dass viele Mechanismen, die die natio- seit 1982 als Genozid anerkannt sind – nalsozialistischen Verbrechen ermöglich- hierfür war auch eine große Gedenk- Auseinandersetzung ten – sei es, weil sie Menschen zu Täter_- und Protestkundgebung 1979 in Bergen- mit Täter_innenschaft innen werden ließen, weil sie zur Unter- Belsen ausschlaggebend –, ist fundiertes stützung und Zustimmung der Gesell- Wissen über diese Geschichte in der Be- Ausgrenzung und Verfolgung im Natio- schaft zum Regime beitrugen oder weil völkerung weiterhin kaum vorhanden. nalsozialismus lassen sich nicht ohne das sie die Ausgrenzung beförderten – nicht Dies ist nicht zuletzt auch darauf zurück- aktive Handeln von Tatbeteiligten auf ver- genuin nationalsozialistisch waren, son- zuführen, dass die Geschichte und Ge- schiedenen Ebenen erklären. So waren dern mehr oder weniger auch heute genwart des Antiziganismus als Thema verschiedene übergeordnete Instanzen noch Gültigkeit besitzen. Erst das Verste- in Schulbüchern und Lehrplänen kaum für die Zustände in Bergen-Belsen maß- hen dieser grundlegenden Mechanismen eine Rolle spielt. Davon ausgehend geblich verantwortlich: für das Kriegsge- ermöglicht das Erkennen und Einordnen lässt sich ein grundsätzlicher Bedarf an fangenenlager die Wehrmachtsführung, ähnlicher, auch aktueller Phänomene Bildung und Vermittlung ableiten. für das Konzentrationslager das Wirt- und befähigt dazu, eigene Verhaltenswei- Daher wird die Gedenkstätte Bergen- schafts- und Verwaltungshauptamt der sen und Handlungsmotive zu reflektieren. Belsen Formate weiterentwickeln, die SS, das Reichssicherheitshauptamt und Dieses erweiterte Themenspektrum soll im Kontext des historischen Ortes die das Auswärtige Amt. nicht zuletzt in der Bildungsarbeit am spezifischen Verfolgungsmaßnahmen Vor Ort bestimmten wiederum die Be- neuen Lernort M.B. 89 stärker zum Tragen und Beteiligungen systemtragender wachungseinheiten die Ausgestaltung kommen. NS-Institutionen an der Vorbereitung des Lageralltags. Zur Rolle dieser Wehr- Teilnehmer_innen einer Fortbildung zum Thema „Sinti_ und Durchführung des Genozids offen- machts- und SS-Angehörigen stellen ze und Rom_nja im KZ Bergen-Belsen“ • Marion Seibel legen. Ebenso müssen gegenwärtige sich verschiedene Fragen, etwa ob sie Verschiedene Publikatinen zur Geschichte des Antiziga- antiziganistische Vorfälle thematisiert als Teil der Lager-SS direkten Zugang zu nismus im Allgemeinen und zur Verfolgungsgeschichte der Sinti_ze und Rom_nja im Nationalsozialismus im werden, die zum Teil in einer deutlichen den Häftlingsbereichen hatten oder als Besonderen. • Daniel Tonn negativen Tradition der NS-Zeit stehen. Angehörige der Wachtruppe „nur“ für Besucherin in der Ausstellung „Aufrüstung, Krieg und Um neue Zugänge zu erproben, ist nicht die Außenbewachung zuständig waren, Verbrechen. Die Wehrmacht und der Truppenübungs- platz Bergen“ zur Eröffnung im April 2019 • Jesco Denzel zuletzt die weitere Vernetzung mit Ak- ob sie schon früh und auf eigenen teur_innen der historisch-politischen Wunsch der SS beitraten oder erst im Bergen-Belsen 1942. Wachablösung der Landesschützen am Eingang des Lagers. Fotograf unbekannt, aus der Samm- Bildung sowie mit Selbstorganisatio- Krieg an die SS überstellt wurden, ob lung des deutschen Soldaten Heinrich V. • Privatbesitz

Gedenkstätte Bergen-Belsen Auf die Besucher_innen geschaut

Tessa Bouwman, Brigita Malenica

80 Das Bildungsangebot der Gedenk- Außerdem nutzen unterschiedliche Er- grund abweichender Vorstellungen über stätte Bergen-Belsen nehmen alljährlich wachsenengruppen unsere Bildungsan- ehemalige Lager, an welche wir im Ver- über Tausend Gruppen aus unterschied- gebote, während der Berufsausbildung, lauf der Veranstaltungen anknüpfen. In lichen Kontexten in Anspruch. Davon für Fort- und Weiterbildungen oder als ähnlicher Weise können sich Teilneh- machen Schulklassen einen erheblichen touristisches Angebot. Auf diesen We- mer_innen anhand von Fundstücken und Teil aus. Bei näherem Hinsehen zeigt gen sowie im Rahmen von Austausch- Bildern als historische Quellen der Ge- sich, dass die Schulgruppen sowohl un- programmen kommen auch zahlreiche schichte Bergen-Belsens annähern. tereinander als auch innerhalb der Klas- internationale Besucher_innen zu uns. Eine Erweiterung erfährt der partizi- sen eine große Diversität aufweisen. pative Ansatz über kreative Zugänge. Bei Die Abteilung Bildung und Begegnung Was bedeutet diese Diversität der Besu- „Kunsttagen“ in der Jugendfreizeitstätte mit ihren festen, wie freien Mitarbeiten- cher_innen für unsere Bildungsarbeit? Bergwerk der Stadt Bergen setzten sich den betreut Schüler_innen verschieden- Jugendliche mit den Themen Gewalt ster Schulformen und Altersstufen ab Mit unseren Bildungsangeboten tra- und demokratisches Zusammenleben 14 Jahren, die mit breit gefächertem Vor- gen wir der Vielfalt der Besucher_innen auseinander. Sie schmiedeten, zeichne- wissen und unterschiedlichen Erwartungs- und ihren unterschiedlichen Bedürfnis- ten und töpferten. In einem Rap-Work- haltungen in die Gedenkstätte kommen. sen, Kenntnissen und Erfahrungen Rech- shop, der in Kooperation mit der Stiftung Wahrzunehmen ist zudem eine steigen- nung. Partizipative Methoden ermögli- Linerhaus in Celle stattfand, verarbeite- de Anzahl an Schüler_innen aus Förder- chen eine offene Arbeitssituation, die zu ten junge Männer mit Migrationsbiogra- schulen. Die am meisten nachgefragten kritischen Fragen und Diskussionen an- fien ihre eigenen Ausgrenzungserfah- Bildungsformate sind mehrstündige regen kann. rungen in einem gemeinsamen Rapsong. Führungen und Studientage. Darüber So aktivieren wir Teilnehmer_innen Indem sich die Jugendlichen künstlerisch hinaus besteht ein wachsendes Interes- beispielsweise im Rahmen eines „Karten- ausdrücken, können sie eine Sprache für se an mehrtägigen Angeboten, die eine einstiegs“, sich über die Vorstellungen Ihre Gedanken und Emotionen zu einem vertiefte Auseinandersetzung mit spezi- von einem Konzentrationslager auszu- herausfordernden Thema finden. fischen Fragestellungen zum National- tauschen. Indem die Gruppe undatierte Die Bergen-Belsen International Sum- sozialismus und der Nachgeschichte der Karten des Lagers in eine chronologi- mer School bietet Studierenden, Nach- nationalsozialistischen Gewalt ermögli- sche Reihenfolge bringt, lässt sich die wuchswissenschaftler_innen und young chen. Gerade diese Formate sind für schrittweise Ausweitung und Verände- professionals den Raum, ihre unter- außerschulische Jugendgruppen sowie rung des Lagers abbilden. Häufig erge- schiedlichen Perspektiven über eigene für Studierende besonders attraktiv. ben sich bereits hier Irritationen auf- Forschungsansätze einzubringen. In ver- schiedenen Workshops haben sie zudem In der Vermittlungsarbeit werfen wir Um noch mehr darüber zu erfahren, 81 die Möglichkeit, eigene Themen zu setzen. zudem die Frage auf, inwieweit ein von wer aus welchen Gründen die Gedenk- Dabei hat sich zum Beispiel das Format vielen Besucher_innen am historischen stätte aufsucht und welche Eindrücke eines Barcamps bewährt, bei dem ledig- Ort erwartetes, unmittelbares Nach- die Besuche hinterlassen, entwickeln wir lich eine Zeitstruktur vorgegeben ist und vollziehen der Geschichte möglich ist unsere Besucher_innenforschung weiter. sich die Teilnehmenden Inhalte und Um- und wo die Grenzen des Digitalen an In Kenntnis der Ergebnisse werden wir setzung der Sessions eigenständig erar- Orten historischer Massenverbrechen unsere Arbeit stetig weiterentwickeln beiten. Hier werden auch digitale Tools liegen. und an den Bedürfnissen und Perspekti- eingesetzt, mit welchen die Teilnehmen- Wir nutzen Social Media, um eine ven unserer Besucher_innen ausrichten. den direkt über das eigene Smartphone globale Öffentlichkeit zu erreichen. Zum in den Ablauf der Veranstaltung eingrei- Beispiel berichten wir über Eindrücke fen können. von Veranstaltungen oder teilen histori- Digitale Medien bieten für den Lernort sche Informationen zu persönlichen Bergen-Belsen weitere Chancen, um die Schicksalen von Menschen, die in Bergen- nicht mehr vorhandene Baustruktur des Belsen inhaftiert waren. Tools, die mit Lagers sichtbar zu machen. Ein Beispiel hier- einer Meinungsbarometer-Funktion Er- für ist der digitale Geländeguide, den wir wartungen, Eindrücke und Fragen direkt bereits seit einigen Jahren in der Bildungs- sichtbar machen, eröffnen weitere Mög- arbeit der Gedenkstätte Bergen-Belsen lichkeiten der Partizipation, die wir in einsetzen und der mit Hilfe von „erwei- neuen Formaten ausbauen werden. Dar- terter Realität“ (augmented reality) ei- über hinaus bieten Videoportale neue Ein Teilnehmer des Rapworkshops sammelt mit seinem Smartphone Eindrücke in der Dauerausstellung der Gedenk- nen komplexen Zugriff auf die Geschichte Wege, Jugendlichen Informationen zur stätte Bergen-Belsen • Amin Saleh des Lagers ermöglicht. Ein anderes Bei- Geschichte Bergen-Belsens zur Verfü- Gruppe von Teilnehmenden der Kunsttage im Bergwerk spiel ist die Virtual Reality-Installation gung zu stellen. Deshalb haben wir in mit Kursleiterin Karla Krüger bei der Erkundung des zur Geschichte der Niedersachsen-Kaser- diesem Jahr begonnen, Video-Formate Gedenkstättengeländes • Brigita Malenica ne im entstehenden Lernort M.B.89, die zu entwickeln. Teilnehmende der Bergen-Belsen International Summer School 2019 arbeiten in der Dauerausstellung der Gedenk- einen alternativen Zugang zum histori- Die beschriebenen Methoden und Me- stätte Bergen-Belsen mit Video-Interviews • Anton schen Ort Bergen-Belsen schafft, indem dien schaffen Möglichkeiten, die zu einer Brüggeboes die Verbindung zwischen den beiden kritischen Auseinandersetzung mit Aus- Kunstwerk von Lena Haase, entstanden bei den Kunst- tagen im Bergwerk und ausgestellt in der Stadthalle Orten erkennbar gemacht wird. grenzung und Gewalt einladen. Bergen • Brigita Malenica

Gedenkstätte Bergen-Belsen Demokratie leben lernen Partnerschaft für Demokratie in Bergen – eine Kooperation zwischen der Gedenkstätte Bergen-Belsen und der Stadt Bergen

Leyla Ferman

82 Anlässlich des 30. Jahrestages der und interaktiven Ständen im Stadthaus 2019 das „Festival der Vielfalt“ mit dem UN-Kinderrechtskonvention erklärten Bergen von und mit Kindern gestaltet. Motto „Ja zu Vielfalt, Respekt und Tole- der Begleitausschuss und das Jugendfo- Die Erfahrungen der Kinder im KZ ranz, Nein zu Rassismus, Gewalt und rum in Bergen 2019 zum „Jahr der Kinder- Bergen-Belsen dienen bei der Ausein- Fremdenfeindlichkeit“, zu dem sechs rechte“. Die beiden ehrenamtlichen Gre- andersetzung mit Kinderrechten heute Bands spielten und Informationsstände mien der Partnerschaft für Demokratie als Warnung. Anhand ihrer Geschichten zum Gespräch und Austausch einluden. förderten in diesem Rahmen unter ande- können wir lernen, wie Kindern durch Ein besonderes Thema ist das Zusam- rem den Aufbau von Kinderparlamenten eine rassistische und demokratiefeind- menleben mit geflüchteten Menschen, an den zwei Bergener Grundschulen, liche Ideologie die Lebens- und Entwick- die neu in Bergen sind und in ihren Hei- damit Schüler_innen mehr teilhaben und lungsmöglichkeiten genommen werden. matländern Gewalt und Leid durch ext- mitbestimmen können. Schüler_innen- Äußerungen und Fragen von Jugend- remistische und ideologisch motivierte parlamente konnten besonders bei zwi- lichen zur Bedeutung von und zu Formen Verfolgung erfahren mussten. Dem ge- schenmenschlichen, sozialen Fragen und Zeitpunkten des Erinnerns an Bergen- sellschaftlichen Wert der Erfahrungen Antworten finden. In einem weiteren Belsen machen deutlich, dass ihnen die- von Geflüchteten für das Zusammen- Projekt richtete die Kita Neuer Weg ei- ser Ort thematisch und räumlich manch- leben vor Ort könnte und sollte auch in nen Kinderrat ein, der Vorschulkindern mal weit weg erscheint. Um Formate der Projektarbeit mehr Raum gewährt mehr Partizipation ermöglicht. Einen zu finden, die den Jugendlichen die Ge- werden. würdigen Abschluss des Jahres der schichte und Gegenwart dieses Ortes Der Begleitausschuss und das Jugend- Kinderrechte stellte die Gestaltung des stärker näherbringen können, fragt die forum Bergen erklärten 2020 zum „Jahr Internationalen Tages der Kinderrechte Gedenkstätte das Interesse von Jugend- des Dialoges zwischen den Genera- am 20. November 2019 in Bergen dar. lichen direkt und indirekt über Multipli- tionen“. Auf dem Friedensplatz überreichten am kator_innen immer wieder ab. Zusam- Vormittag mehr als 700 Kinder aus neun men mit der Anne-Frank-Oberschule- www.demokratieinbergen.de Grundschulen und Kindergärten ihre Bergen organisierte die Bürgerstiftung Wünsche und Forderungen an Bürger- Region Bergen das Programm des inter- meisterin Claudia Dettmar-Müller, wie aktiven Jugendtheaterprojektes „Spuren- z.B. eine bessere Anbindung der Ort- suche – Was für ein Mensch willst Du Internationaler Tag der Kinderrechte, 20. November schaften an die Stadt Bergen oder mehr sein“ über NS-Euthanasie. Gemeinsam 2019, Stadthaus in Bergen • Leyla Ferman Bildungsmöglichkeiten. Am Nachmittag mit dem Jugendforum veranstaltete die Jugendtage „Kunst und Demokratie“ in Kooperation mit der Jugendfreizeitstätte Bergwerk, 7.-10.Oktober wurde ein Programm mit Theater, Musik Gedenkstätte Bergen-Belsen im August 2019 • Sarah Ullrich Gedenkstättenarbeit im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen – Herausforderung für Vermittelnde und Teilnehmende

Brigita Malenica, Sarah Ullrich

Die in der deutschen und europäischen Schwer- und Anknüpfungspunkten in der werden aus verschiedenen Perspektiven 83 Öffentlichkeit wahrnehmbare Radikali- Bildungsarbeit, die sich in der Formulie- von beteiligten Akteur_innen dargestellt, sierung der politischen Rechten sowie rung neuer Fragestellungen und Gegen- beleuchtet und zur Diskussion gestellt, ihr Eindringen in Gesellschaft und Insti- wartsbezüge widerspiegelt. Ebenso fin- ohne dabei neutral zu sein. Zugleich gilt tutionen stellt eine der aktuellen Heraus- den neue geschichtswissenschaftliche es, das Prinzip der Multiperspektivität forderungen für die Gedenkstättenarbeit Erkenntnisse und Forschungsansätze auf die Vermittlungssituation selbst zu dar. An der zunehmenden Ausgrenzung Eingang in die pädagogische Arbeit vor erweitern. Die Einbeziehung der Erfah- und Gewalt bis hin zum Mord an Mig- Ort. Stärker berücksichtigt werden etwa rungen von vermittelnden und teilneh- rant_innen und Andersdenkenden wird Erkenntnisse aus der Forschung zu Tä- menden Personen in die pädagogische die Gefährdung des demokratischen ter_innenschaft und eine zunehmende Arbeit am historischen Ort bietet für alle Zusammenlebens in der Gegenwart gesellschaftsgeschichtliche Betrach- Beteiligten die Möglichkeit, die eigene deutlich. Ziel rechtspopulistischer Strö- tung und Einbettung der nationalsozia- Rolle im Umgang mit historischen und mungen und der Neuen Rechten ist die listischen Verbrechen. Dies erfordert gegenwärtigen Gewalterfahrungen zu radikale Infragestellung und Revision neue Ansätze der Bildungsarbeit, die auf reflektieren. Welchen Zugang Besucher_ demokratischer Errungenschaften, vor die beschriebenen aktuellen Debatten innen der Gedenkstätte dabei zum histo- allem auch der Anerkennung vielfältiger und gesellschaftliche Veränderungen re- rischen und gegenwärtigen Ort sowie Lebensformen und damit von gesell- agieren. Und so stellt sich einerseits die zur NS-Geschichte finden, ist von vielen schaftlicher Diversität. Gedenkstätten Frage, welche Bedeutung diese für uns Faktoren abhängig. Neben der Prägung selbst werden vor allem substantiell in Vermittelnde haben und andererseits durch das soziale Umfeld sind es die ihrem Selbstverständnis als Orte des wie die Gedenkstätte Bergen-Belsen dar- Erfahrungen, die jede_r Einzelne als Teil Gedenkens und Erinnerns an die Opfer auf mit neuen Bildungskonzepten und der Gesellschaft macht: Diskriminie- des Nationalsozialismus durch rechte -inhalten reagiert. rungs- und Anerkennungserfahrungen Akteur_innen angegriffen. Die Abteilung Bildung und Begegnung spielen hier ebenso eine Rolle wie der Aktuelle gesellschaftliche Veränderun- hat sich daher die Aufgabe gestellt, alle Zugang zu Bildung und Teilhabe – von gen und Debatten beeinflussen darüber dort Tätigen in ihrer Rolle als dialogisch politischer Partizipation bis hin zur Be- hinaus nicht nur Gruppen, die Gedenk- agierende Vermittler_innen weiter zu friedigung individueller Bedürfnisse – stätten besuchen, sondern auch die Ver- stärken. Multiperspektivität als didakti- sowie die Möglichkeit, vielfältige Ge- mittelnden selbst und wirken sich damit sche Methode nimmt in der pädagogi- auf die Bildungsarbeit vor Ort aus. Die schen Praxis der Gedenkstätte eine zent- Vermittler_innen des britischen Holocaust Education Trust probieren Bildungsmaterialien zur Geschichte der Folge ist eine stetige Verlagerung von rale Stellung ein. Historische Situationen DPs aus • Daniel Howard-Schiff

Gedenkstätte Bergen-Belsen 84 schichtserzählungen wahrzunehmen Vernetzungstreffen für Mitarbeiter_in- Möglichkeit, historische Rassismus-Er- und einordnen zu können. Wird der Blick nen, Honorarkräfte und abgeordnete fahrungen jenseits einfacher Analogie- der Teilnehmenden als substantieller Lehrer_innen an niedersächsischen bildungen mit individuellen, aktuellen Teil der Wissensvermittlung gesehen, Gedenkstätten und Gedenkstättenini- Erfahrungen in Bezug zu setzen. Das An- öffnet dies Wege, den organisierten Be- tiativen gab es zudem die Gelegenheit, gebot zur Reflexion und Weiterentwick- such der Gedenkstätte als Moment zu Strategien für den Umgang mit rechten lung der eigenen pädagogischen Arbeit erleben, in dem über die Vergangenheit Provokationen und menschenfeindli- muss daher unter anderem sowohl ras- ein gegenwärtiges und zukünftiges Ver- chen Positionen zu entwickeln. sismuskritische als auch demokratieför- ständnis von Gesellschaft verhandelt Andererseits wird in Fortbildungen dernde Ansätze beinhalten. wird. auch reflektiert werden, wie sensibel auf Schließlich baut die Gedenkstätte das Die Honorarkräfte, Lehrkräfte und Mit- mögliche Gewalt- und Diskriminierungs- Angebot an mehrtägigen Seminaren arbeiter_innen in der Bildungsarbeit sol- erfahrungen unter den Teilnehmenden weiter aus, um so eine intensivere Aus- len in Fortbildungen angeregt werden, reagiert werden kann. Eine wesentliche einandersetzung zu ermöglichen und ihr Diversitätsbewusstsein zu schärfen Aufgabe ist dabei, Emotionen und ihrer den Raum für weiterführende Diskussio- und sich auf aktuelle gesellschaftliche Rolle in politischen und gesellschaftli- nen zu öffnen. Im Lernort M.B. 89 der Diskurse und Debatten sowie individuel- chen Konflikten, gerade an einem Ort nahegelegenen Niedersachsen-Kaserne le Erfahrungen einzulassen und konstruk- der Trauer und der Erinnerung an die wird dies in einem Lernlabor erprobt. tiv mit ihnen umzugehen. NS-Gewalt, größere Aufmerksamkeit zu Neue Formate, die unterschiedliche Zu- Fortbildungsangebote beschäftigen schenken. Ein Ziel der Bildungsangebote gänge nutzen und so den verschiedenen sich auch mit der Frage, wie mit rechten, ist, den Teilnehmenden zu ermöglichen, Perspektiven der Besucher_innen ge- menschenfeindlichen und geschichtsre- ihren eigenen Zugang zur Geschichte recht werden, stehen im Mittelpunkt. visionistischen Positionen und Verhaltens- des Ortes und der hier verübten Gewalt Dabei soll auch eine thematische Er- weisen in Bildungssituationen umgegan- zu finden. Dafür müssen angemessene weiterung stattfinden, die stärker die gen werden kann. Gemeinsam mit der Vermittlungsmethoden entwickelt und Akteur_innen der Verbrechen und die Mobilen Beratung gegen Rechtsextremis- einbezogen werden. Die aktive Partizipa- Zivilbevölkerung in den Blick nimmt. mus für Demokratie in Hamburg und in tion an der Auseinandersetzung mit his- Deren Verhaltensweisen und Handlungs- Niedersachen wurden in Workshops torischen Erfahrungen, die zugleich eine optionen bieten Diskussionsmöglichkei- Strategien erarbeitet, um auf Störungen eigene, kritische Haltung gegenüber ge- ten und Denkanstöße, die einerseits die und Angriffe aus der rechten Szene situ- sellschaftlichen Konfliktsituationen för- Funktionsweise der nationalsozialisti- ativ passend zu reagieren. Bei einem dert, eröffnet den Teilnehmenden die schen Gesellschaft verstehen lassen, an- dererseits zum kritischen Hinterfragen 85 eigener heutiger Handlungsweisen und -motivationen anregen. Daher werden beispielsweise diskursive Methoden er- dacht und erprobt, die durch eine ver- tiefte Auseinandersetzung nicht nur zu einer historisch begründeten Einschät- zung menschlichen Verhaltens, sondern auch zu einer eigenen Positionierung be- fähigen. So können biografische Zugän- ge ganz konkrete Handlungsoptionen aufzeigen und beispielsweise zum Nach- denken über widerständiges Verhalten anregen. Nicht nur über die Frage, was im Kontext einer Diktatur unter wider- ständigem Verhalten verstanden werden kann, sondern auch durch das Ergrün- den von Motiven, kann ein spezieller Blick auf die Funktionsweisen der NS- Gesellschaft geworfen werden. Aspekte, die die Ausgrenzung und Integration in diese Gesellschaft thematisieren, aber auch nach Mitmachbereitschaft und -be- dingungen fragen, ermöglichen, über Handlungsbedingungen in gegenwärti- gen gesellschaftlichen Kontexten nach- zudenken. Gedenkstättenarbeit kann so Teilnehmer_innen der Fortbildung „Kriegsgefangenen- durch eine handlungsorientierte Arbeits- lager Bergen-Belsen“ • Brigita Malenica weise zu einer eigenständigen Urteils- Dr. Peter Tauber und Dr. Jens-Christian Wagner bei der Schlüsselübergabe zum neuen Lernort M.B. 89 • Jesco bildung der Teilnehmenden beitragen. Denzel

Gedenkstätte Bergen-Belsen 86 Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

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Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

Martina Staats

Begrüßung der Gäste beim Familientreffen für Angehö- rige von während der NS-Zeit im Strafgefängnis Wolfen- büttel Hingerichteten und Inhaftierten, 14. April 2019 • Sarah Kunte

Elisabeth Jensenius sprach während des 25. Gedenk­ gottesdienstes „Gegen das Vergessen“, 16. April 2019 • Sarah Kunte

Auf der Tagung „Opfer des Nationalsozialismus – Fried- höfe und Grabstätten“ stellten Dr. Gustav Partington und Simona Häring den Schüler_innen-Wettbewerb zur Gestaltung eines Gedenkortes für Hingerichtete, deren Leichname an das Anatomische Institut der Universität Göttingen abgegeben wurden, vor • Juliane Hummel

Arne Westby, März 2017, Noresund • Olaf Markmann

88 Das wichtigste Ereignis für die Ge- Standorts Braunschweig, der Umzug tralen Gefängnis in Wolfenbüttel. Weitere denkstätte in der JVA Wolfenbüttel im und die Zusammenführung der Samm- Stätten, die mit dem Strafgefängnis in Jahr 2019 war, nach siebenjähriger For- lung sowie der Bibliothek fanden statt. Verbindung standen, sind Hinrichtungs- schungs- und dreijähriger Bauzeit, die Zugleich mussten die ausgeschiedenen und Beerdigungsorte. Soldaten, die von Eröffnung des neuen Dokumentations- Mitarbeiter_innen des Neugestaltungs- der Wehrmachtsjustiz zum Tode verur- zentrums. 400 Gäste, darunter über vier- projektes verabschiedet und die neuen teilt worden waren, wurden teilweise zig Familienangehörige von in der NS- Kolleg_innen (Hausmeister, Mitarbeiter_in auch in Wolfenbüttel inhaftiert und von Zeit Inhaftierten und Hingerichteten, am Besuchertresen sowie eine wissen- dort zur Vollstreckung der Urteile zu ei- nahmen an dem Festakt im Lessing- schaftliche Mitarbeiterin) eingearbeitet nem Schießplatz in einem Wald in Braun- theater teil. Im Anschluss besichtigten und die Aufgabenverteilung neu organi- schweig, der Buchhorst, gebracht. Die sie die neue Dauerausstellung „Recht. siert werden. Außerdem wurde mit der Stiftung Braunschweigischer Kulturbe- Verbrechen. Folgen. Das Strafgefängnis Neukonzeption der Bildungsarbeit sowie sitz, die Braunschweigische Stiftung und Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“. dem Aufbau eines Besucher_innen- die Stiftung Zukunftsfonds Asse fördern Die Eröffnung und die Ausstellung fan- dienstes begonnen und Materialien für das zweijährige Projekt mit insgesamt den ein vielfaches und positives Medien- die Öffentlichkeitsarbeit (Flyer) wurden 165.000 €. echo. neu erstellt. Mit dem Projekt „§ 175 StGB – 20 Jahre Seit dem 19. November ist die Ausstel- Das zweijährige Projekt „outSITE legitimiertes Unrecht in der Bundesrepu- lung im regulären Museumsbetrieb für Wolfenbüttel. Das Strafgefängnis Wolfen- blik am Beispiel des Strafvollzugs in die Öffentlichkeit zugänglich und wurde büttel und sein Netzwerk im Land Braun- Wolfenbüttel“ hat die Stiftung nieder- bereits von über 1.000 Besucher_innen schweig“ machte erhebliche Fortschrit- sächsische Gedenkstätten einen Beitrag während der ersten fünf Wochen besich- te; auf der Basis der begonnenen Recher- zur Aufarbeitung der Geschichte von tigt. Ein Veranstaltungsprogramm mit chen ergaben sich neue Forschungser- Männern geleistet, die in der Bundesre- Vorträgen und Führungen informiert im gebnisse, über die die Projektpartner re- publik Deutschland wegen homosexuel- Jahresverlauf vertiefend über den Neu- gelmäßig informiert werden. Neben den ler Handlungen verurteilt wurden. Das bau und die Ausstellung. Gebäuden in Wolfenbüttel selbst verfüg- Projekt wurde durch das Niedersächsi- Insgesamt wurde mit der großen räum- te das Strafgefängnis in der NS-Zeit zu- sche Ministerium für Soziales sowie die lichen Erweiterung der Gedenkstätte sätzlich über Außenorte, die im ganzen Stiftung niedersächsische Gedenkstätten auch eine Neukonzeption der täglichen Freistaat Braunschweig verteilt waren. finanziert. Die Forschungsergebnisse Arbeit notwendig: ein Teilumzug in die Zeitweise befanden sich mehr Gefange- wurden im Januar in einer Publikation Büros im Neubau, die Auflösung des ne an den Außenarbeitsorten als im zen- vorgelegt – Maria Bormuth: „ ‚Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht view ist umso mehr ein wichtiges Ver- denkstätte in der JVA Wolfenbüttel so- 89 treibt […], wird mit Gefängnis bestraft.‘ mächtnis für die Arbeit der Gedenkstätte. wie MAN Truck & Bus SE, Berufsbildung § 175 StGB – 20 Jahre legitimiertes Un- Der 25. Gedenkgottesdienst „GEGEN Werk Salzgitter die Finanzierung des Ge- recht in der Bundesrepublik am Beispiel DAS VERGESSEN“ wurde am 16. April in denkortes auf dem Gräberfeld 13a des des Strafvollzugs in Wolfenbüttel“. Dar- der St. Petrus-Kirche zusammen mit Fa- Hauptfriedhofs geplant. Der Ideenwett- über hinaus bietet die Gedenkstätte seit milienangehörigen gestaltet. Die Dänin bewerb wurde am 29. August bei der Ta- Januar einen Workshop für Schüler_in- Elisabeth Jensenius erinnerte eindrucks- gung „Opfer des Nationalsozialismus – nen und interessierte Gruppen zur Ge- voll an das Weiterleben als Familie mit Friedhöfe und Grabstätten“ in Hannover schichte des § 175 StGB an. den Hafterfahrungen und -traumatisie- durch Mitarbeiter_innen des Pädagogik- Ein wichtiges Anliegen der Gedenk- rungen ihres u.a. im Strafgefängnis Teams vorgestellt. stätte ist die Intensivierung des Kontak- Wolfenbüttel inhaftierten Vaters. Die Am 3. September wurden in Zusammen- tes zu Familienangehörigen von im Straf- Künstlerin Sabine Pinkepank berichtete arbeit mit der Buchhandlung Behr in ei- gefängnis Wolfenbüttel Hingerichteten in einer bewegenden Rede über das ge- ner erneut ausgebuchten Lesung die im und Inhaftierten. brochene Leben ihres Großvaters Henry Göttinger Wallstein-Verlag erschienenen Am 14. April fand erneut ein Begegnungs- Pinkepank, der aufgrund von regime- Lebenserinnerungen Jean-Luc Bellangers treffen, das vierte „Familientreffen“, statt. kritischen Äußerungen zwei Jahre im unter dem Titel „Feindbegünstigung – Nach dem gemeinsamen persönlichen Wolfenbütteler Strafgefängnis inhaftiert Als politischer Häftling im Strafgefäng- Austausch, einem Bericht über die Arbeit war. Der Gedenkgottesdienst wurde er- nis Wolfenbüttel“ von dem Schauspieler der Gedenkstätte und Informationen neut von der Kolpingfamilie, der Kirchen- Jürgen Beck-Rebholz vorgetragen. Er- über die Fortschritte bei der Neugestal- gemeinde St. Petrus, amnesty interna- gänzt wurde die Lesung durch eine his- tung wurde im ehemaligen Hinrichtungs- tional und der Gedenkstätte konzipiert torische Einführung zu der Bedeutung gebäude der Inhaftierten und Hingerich- und durchgeführt. des Kriegsbeginns für das Strafgefäng- teten gedacht. In dem Ideenwettbewerb zum Gedenk- nis Wolfenbüttel. Am 2. Januar 2020, vier Tage vor sei- ort für mindestens 217 Opfer der Hin- nem 100. Geburtstag, verstarb der nor- richtungsstätte Wolfenbüttel, deren wegische „Nacht- und Nebel"-Gefangene Leichname an das Anatomische Institut Arne Westby. Wir fühlen uns in Trauer der Universität Göttingen abgegeben verbunden mit seinem Sohn Jan Westby wurden, wird derzeit, nach der Auswahl und seiner Familie. Das im März 2017 mit der Preisträger_innen im Juni 2018, sei- ihm geführte lebensgeschichtliche Inter- tens der Stadt Wolfenbüttel, der Ge-

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Pädagogische Projekte der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

Gustav Partington, Robert Heldt

90 Gustav Partington: Remember. Eine ihrer Fotoapparate innerhalb (z.B. das für sich selbst sprechen – und das ist vor künstlerische Auseinandersetzung mit ehemalige Hinrichtungsgebäude) und allem sehr bedrückend und beklemmend. Denkmälern und Erinnerungsorten außerhalb (z.B. das Gräberfeld mit den Diesen Ort, der für viele der letzte in Ein Workshop der Bundesakademie für Hinrichtungsopfern auf dem Städtischen ihrem Leben war, mit einer Kamera zu Kulturelle Bildung Wolfenbüttel in Ko- Friedhof) der JVA zu erschließen und erfassen, war anfangs nicht einfach, und operation mit der Gedenkstätte in der abschließend im Rahmen einer kleinen doch hilfreich, um der Sprachlosigkeit JVA Wolfenbüttel Werkschau durch eine Fotodokumen- einen bildnerischen Ausdruck zu ge- Die künstlerisch-kreative Auseinander- tation zu präsentieren. ben.“ Die abschließende Werkschau setzung mit der Geschichte stellt neben In einem ausführlichen Feedback er- bewertet sie uneingeschränkt positiv: der kognitiven ein weiteres wichtiges klärt eine der Teilnehmer_innen, Julia „Diese Auseinandersetzungen eröffnen Standbein der pädagogischen Arbeit in Valerie Zalewski, „dass die künstleri- viele wertvolle Perspektiven und Les- der Gedenkstätte dar. Ein gelungenes sche Auseinandersetzung mit diesen al- arten eines Ortes, an dem Vergangenes Beispiel dafür ist der Workshop „Re- ten und neuen Konzepten des Erinnerns und Gegenwärtiges auf so besondere member“, den Sarah Kuschel von der eine besondere ästhetische Erfahrung Weise korrelieren.“ Bundesakademie für Kulturelle Bildung und produktive Aneignung ermöglichen Eine der entstandenen Arbeiten Wolfenbüttel in Zusammenarbeit mit der kann: Indem wir den direkten Bezug zwi- stammt von Sabine Resch-Hoppstock. Gedenkstätte durchgeführt hat. Unter schen dem Damals und dem Heute Sie hat ein Bildkonzept entwickelt, in Anleitung der international mehrfach künstlerisch herstellen, entsteht etwas dem, wie in der beispielhaften Collage ausgezeichneten Fotografin und Medien- Neues, das uns Vergangenheit und ihre zu sehen ist, ein Foto aus dem ehemali- künstlerin Luise Schröder setzten sich Konstruktionen reflektieren und Bedeu- gen Hinrichtungsgebäude (die Fliesen die Teilnehmer_innen unter anderem mit tungen für die Gegenwart erforschen aus dem Hinrichtungsraum) im öffent- der Frage auseinander: Wie kann Kunst lässt. Wir können reagieren, kommen- lichen Raum platziert wird. Sie kommen- zu einer reflexiven Geschichtsschrei- tieren, hinterfragen, kontextualisieren, tiert ihre Arbeit so: „Die Darstellungs- bung beitragen und bestehende Erinne- erweitern oder völlig neu inszenieren.“ möglichkeit der (Detail-) Fotos an öffent- rungen neu befragen? Besonders beeindruckt hat sie der Be- lichen Orten wie Bushaltestellen oder Die Teilnehmer_innen lernten in die- such der historischen Schauplätze in Plakatwänden würde und sollte zu Irrita- sem Zusammenhang nicht nur die histo- der Gedenkstätte: „Dabei lässt die Ge- tionen und zum Innehalten (im Sinne rischen Orte der ehemaligen Landesstraf- denkstätte die historisch aufgeladenen von „hä, was ist das denn?!“) gerade anstalt Wolfenbüttel kennen, sondern Räume, den bröckelnden Putz, die Briefe auch bei Passanten in und um Wolfen- waren aufgefordert, sich diese mithilfe und Wandeinritzungen der Gefangenen büttel führen. Der so überraschend be- Diesen Fehler nicht nur zu beseitigen, sondern auch aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen, damit hat sich die Bun- desrepublik schwergetan. Schließlich wurde der § 175 erst 1994 endgültig ab- geschafft. Die Gesetze zur Rehabilitie- rung der aufgrund von § 175 verurteilten Männer wurden erst 2002 -– für die Zeit nach 1935 bis Kriegsende – und 2017 für Verurteilungen nach dem 8. Mai 1945 verabschiedet. Trotz der überwiegenden Sprachlosig- keit der Betroffenen ist es Maria Bormuth gelungen, auf der Basis von Akten aus dem Niedersächsischen Landesarchiv – Standort Wolfenbüttel sowie von Inter- views mit Justizvollzugs- und Kriminal- beamten die Verfolgungs- und Haft- situation der Homosexuellen in der frühen Bundesrepublik am Beispiel des Straf- gefängnisses Wolfenbüttel zu rekon- struieren. In dem Workshop wird folglich von Einzelfällen berichtet, über die Gründe der Verurteilungen nach § 175, die aus heutiger Sicht fragwürdigen Haftbedin- gungen, die grassierenden Vorurteile, die vermeintliche Krankhaftigkeit der homosexuellen Veranlagung sowie über die grotesken Versuche, diese angebli- che Krankheit im Sinne einer vermeint- lichen Resozialisierung zu behandeln. Eingebettet wird dieses Thema in eine Vorstellung der Geschichte der Landes- gonnene Prozess muss natürlich aufge- Gustav Partington: Workshop zur Ver- strafanstalt Wolfenbüttel, in der auch 91 griffen und fortgeführt werden. Die folgung homosexueller Männer nach schon in der NS-Zeit Männer wegen § 175 Mitarbeiter der Gedenkstätte (und der § 175 StGB in der Bundesrepublik inhaftiert waren. Ein abschließender Bundesakademie und die Kulturschaf- Deutschland am Beispiel des Strafvoll- Vergleich mit der rechtlichen Situation fenden der Stadt u. Ä.) sollten die so an- zugs in Wolfenbüttel homosexueller Männer weltweit ver- gesprochenen Menschen abholen und deutlicht die Fragilität der gesellschaft- begleiten, um die Gedenkstätte und das Ende Dezember 2018 hat Maria lichen Stellung dieser Minderheit. Furchtbare der systematischen Auslö- Bormuth ihr Projekt zur Verfolgung ho- schung „regimeunpassender Menschen“ mosexueller Männer nach § 175 StGB in ins öffentliche Bewusstsein und die heu- der Bundesrepublik Deutschland abge- tigen Köpfe zu rücken. Dieser Schrecken schlossen. Als Ergebnis liegt nicht nur hat hier vor unserer Haustür und unter eine Veröffentlichung vor („Ein Mann, den Augen und Ohren der damaligen der mit einem anderen Mann Unzucht Bevölkerung stattgefunden.“ treibt […], wird mit Gefängnis bestraft.“ Vorgesehen ist im Jahr 2020 nicht nur § 175 StGB – 20 Jahre legitimiertes Un- ein weiterer Workshop der Bundesakade- recht in der Bundesrepublik am Beispiel mie, der sich der künstlerisch-kreativen des Strafvollzugs in Wolfenbüttel, Schrif- Auseinandersetzung mit den historischen ten der Gedenkstätte in der JVA Wolfen- Orten in der JVA widmet, sondern auch büttel. 2. Band), Maria Bormuth hat auch eine Präsentation der beeindruckenden einen Workshop konzipiert, der mehr- Workshop-Ergebnisse im Multifunktions- fach mit Schüler_innen- und Erwachsen- raum des neuen Dokumentations- gruppen durchgeführt werden konnte. zentrums. Die Frage, ob Minderheiten akzeptiert [Quelle Zitat Zalewski: „Kultursache“ – werden, ist eine Frage zum Zustand der

Newsletter der Bundesakademie für Kul- Demokratie. Für die Zeit der frühen Bun- Collage Sabine Resch-Hoppstock • Sabine turelle Bildung Wolfenbüttel 12/2019; desrepublik sprach Bundespräsident Resch-Hoppstock Zitat Resch-Hoppstock: privat] Frank-Walter Steinmeier 2018 von der Fotoarbeit im Hinrichtungsgebäude • Sarah Kunte

„Unvollkommenheit“ der „neuen freiheit- Werkschau in der Bundesakademie • Luise Schröder lichen Ordnung“. Er sagte: „Die Würde Bildereinstieg zum Workshop zur Verfolgung homosexu- von Homosexuellen, sie blieb antastbar.“ eller Männer mit Zeitstrahl • Gustav Partington

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 92 Robert Heldt: Erinnerungsschablonen – sollen. Im Patio neben dem Multifunktions- Stencils des Gymnasiums Neue Ober- raum werden sie in Zukunft auf zwei Glas- schule Braunschweig für die Gedenk- stelen vorzufinden sein. Die Glasstelen stätte in der JVA Wolfenbüttel zum erlauben es, die historische Gefängnis- Hermann-Tempel-Gedicht „Unter mauer mit den gesprühten Stencils in dem Beil“ Verbindung treten zu lassen und runden die künstlerische Arbeit somit ab. Im März 2019 führte der Kunstkurs der Einen ersten Einblick in das Projekt 9BI der Neuen Oberschule unter der Lei- lieferten zwei Schülerinnen mit ihrer tung von Juliane Heldt einen Workshop Lehrerin bereits zur feierlichen Eröffnung in der Gedenkstätte in der JVA Wolfen- des Dokumentationszentrums: mit Hilfe büttel durch. Ziel der Arbeit war es zu der Stencil-Methode haben sie für die prüfen, inwiefern künstlerisches Han- Besucher_innen Friedenstauben als deln und Gedenken im Kunstunterricht Wegmarken auf den Fußweg zwischen miteinander verknüpft werden können. Lessingtheater und Neubau gesprüht. Im Anschluss an den Workshop stand die Unterrichtseinheit „Streetart“, in der die Schüler_innen die Stencil-Methode, bekannt durch den/die Künstler_in Bank- sy, erprobten. Das Gedicht „Unter dem Beil“ von Herrmann Tempel (Gefangener der Strafanstalt Wolfenbüttel in der NS- Zeit), das sich auch an der Wand des Eingangsbereichs des neuen Dokumen- tationszentrums wiederfindet, diente den Schüler_innen als Vorlage für eigene Schablonen – Erinnerungsschablonen. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind so überzeugend, dass sie im neuen Doku- Gehwegmarkierung • Juliane Heldt mentationszentrum einen Platz finden Stencils zum Tempel-Gedicht • Juliane Heldt Trauer um Jean-Luc Bellanger

Martina Staats

Die Mitarbeiter_innen trauern um Jean-Luc Bellanger hat sich als Mitglied Die Mitarbeiter_innen trauern um ei- 93 den mit der Gedenkstätte eng verbunde- der „Kleinen Kommission“ des Wissen- nen Freund und Ratgeber, der sich mit nen ehemaligen Gefangenen Jean-Luc schaftlichen Beirats für Gedenkstätten- großem Engagement für die Auseinan- Bellanger (1925–2019). arbeit zur Neugestaltung der Gedenkstät- dersetzung mit den NS-Verbrechen und Jean-Luc Bellanger hatte sich als Ju- te Wolfenbüttel beim Niedersächsischen für die Würdigung des Widerstands ge- gendlicher einer Widerstandsgruppe im Kultusministerium (1996 bis 2011) einge- gen die Nationalsozialisten einsetzte. besetzten Frankreich angeschlossen. bracht, nachdem er in den 1990er Jahren Für Jean-Luc Bellanger diente die Ver- 1942 wurde er jedoch denunziert, wegen seine erste Reise nach Wolfenbüttel un- gangenheit dazu, Entwicklungen der Ge- „Feindbegünstigung“ zu zehn Jahren ternommen hatte. Er war von 2005 bis schichte zu verstehen, um so die Zukunft Haft verurteilt und als 17-Jähriger aus 2014 Mitglied des Stiftungsbeirats. Diesen zu gestalten. Frankreich in das Strafgefängnis Wolfen- vertrat er auch im Stiftungsrat der Stif- „Denn diese, wie viele andere Gedenk- büttel gebracht. Dort musste er in der tung niedersächsische Gedenkstätten. stätten in Deutschland, ist ‚Teil der kollek- Bibliothek und im Lazarett arbeiten. Als Zeitzeuge berichtete er in der Öffent- tiven Erinnerung und nationalen Identi- Nach der Befreiung des Strafgefängnis- lichkeit und bei Besuchen in Schulen von tät der Völker Europas‘, wie es in einem ses Wolfenbüttel im April 1945 über- seinen Verfolgungserfahrungen. Im De- Kommissionsbericht des Bundestages nahm Jean-Luc Bellanger wichtige zember 2016 unterstützte er die Arbeit heißt. Deswegen wurde sie gegründet, Verwaltungsaufgaben, um anderen Ge- der Gedenkstätte durch ein lebensge- deswegen muss sie bleiben“, betonte er fangenen zu helfen. Im Mai kehrte er schichtliches Interview, das eine wichtige in seiner Rede zur Eröffnung der Dauer- nach Frankreich zurück. In seiner Heimat Quelle für die neue Dauerausstellung ist. ausstellung „Justiz im Nationalsozialis- schloss er ein Studium und eine Journa- 2018 erschienen die Erinnerungen mus“ im Hafthaus III im Jahr 1999. listenausbildung ab und arbeitete von über seine Verfolgungs- und Hafterfah- 1949 bis 1987 bei Radio France Inter- rungen: Jean-Luc Bellanger: „Feindbe- Wir sind Jean-Luc Bellanger zu großem nationale (RFI). günstigung – Als politischer Häftling im Dank verpflichtet und fühlen uns in Trau- Erinnerungspolitisch engagierte sich Strafgefängnis Wolfenbüttel“, heraus- er verbunden mit seinen Angehörigen. Jean-Luc Bellanger als Mitglied der gegeben von der Stiftung niedersächsi- Fédération Nationale des Déportés et In- sche Gedenkstätten, Göttingen 2018, ternés Résistants et Patriotes (FNDIRP). Schriftenreihe der Gedenkstätte in der Seit 1991 veröffentlichte er regelmäßig JVA Wolfenbüttel, Band 1. Berichte und Rezensionen im Magazin Jean-Luc Bellanger verstarb am 5. Okto- Jean-Luc Bellanger, Dezember 2016, Vitry-sur-Seine. „Patriote Résistant“. ber 2019 im Alter von 94 Jahren. • Olaf Markmann

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel „Erinnern ist Zukunft“ – Eröffnung des neuen Dokumentationszentrums

Martina Staats

94 Mit einem Festakt im Wolfenbütteler verdeutlichten sie die Notwendigkeit, Thomas Pink appellierte: „Wir haben Lessingtheater und anschließendem sich zu erinnern und sich mit der NS-Zeit die NS-Zeit nicht erlebt und können Rundgang durch die neue Dauerausstel- auseinanderzusetzen. nicht sicher sagen, ob wir anders gehan- lung wurde am 17. November das Doku- Dr. Jens-Christian Wagner betonte in delt hätten. Was wir aber tun können, ist mentationszentrum der Gedenkstätte in seinem Grußwort: darauf hinzuarbeiten, dass unser heuti- der JVA Wolfenbüttel feierlich eröffnet. „[I]n unserer neuen Dauerausstellung ges – auf menschlicher Vernunft beruhen- Der Geschäftsführer der Stiftung nie- lernen wir, in welcher Gesellschafts- und des – Rechtssystem auch in Zukunft er- dersächsische Gedenkstätten, Dr. Jens- Rechtsordnung wir nicht leben wollen. halten bleibt.“ Christian Wagner, und die Leiterin der Wir lernen, dass es Recht, das diesen Die Landrätin des Landkreises Wolfen- Gedenkstätte, Martina Staats, freuten Namen verdient, ohne den Rechtsstaat büttel, Christiana Steinbrügge, bekräf- sich, 400 Gäste begrüßen zu dürfen. nicht gibt. Doch der demokratische, libe- tigte die Bedeutung des Strafgefängnis- Über vierzig Familienangehörige von in rale Rechtsstaat wird von vielen in Euro- ses Wolfenbüttel nicht nur in der Stadt, der NS-Zeit Inhaftierten und Hingerich- pa und weltweit immer mehr in Frage sondern in der ganzen Region: teten sowie weitere Zeitzeug_innen aus gestellt. Die Beschäftigung mit der Ge- „Die Arbeit der Gedenkstätte zeigt aber ganz Europa waren gekommen, um an schichte von Justiz und Strafvollzug im auch, dass das Gefängnis in Wolfen- diesem besonderen Tag für die Ge- Nationalsozialismus bietet deshalb deut- büttel keine solitäre Anlage war, sondern schichte der Gedenkstätte teilzunehmen. liche Aktualitätsbezüge – deutlicher als in dass eine Vielzahl von weiteren Haft- Alle Geschäftsführer der Stiftung nieder- anderen Bereichen der NS-Repressions- und Arbeitsstätten dazu gehörte.“ sächsische Gedenkstätten hatten sich und Mordpolitik.“ Nach einem besonders herzlichen über Jahre zusammen mit den Kultus- Als zweiter Redner hob der Bürger- Dank an die frühere Kultusministerin minister_innen Niedersachsens für den meister der Stadt Wolfenbüttel, Thomas Frauke Heiligenstadt für ihre Unterstüt- Ausbau der Gedenkstätte eingesetzt und Pink, die Bedeutung der Gedenkstätte zung hielt eine der Hauptreden der Nie- den Weg von der Antrag- bis zur Fertig- als Teil der Stadt und ihres Tourismus- dersächsische Kultusminister Grant stellung begleitet. konzeptes wie auch als kulturellen Ort her- Hendrik Tonne. Er hatte den Baufort- Moderiert von Martina Staats nutzten vor. Dieses zeigt sich an der jahrelangen schritt sehr interessiert begleitet. Der alle acht Redner_innen mit ihren zukunfts- Zusammenarbeit und Unterstützung, Kultusminister betonte in seiner Rede: weisenden und inspirierenden Grußwor- so war beispielsweise anlässlich der Er- „Es liegt an uns, die Rechtsstaatlich- ten und Reden die Gelegenheit für klare öffnung ein Beitrag über das Dokumen- keit zu verteidigen und Offenheit, Vielfalt Stellungnahmen für demokratische tationszentrum im Blog „echt lessig“ und Demokratie zu leben und täglich Werte, Toleranz und Respekt. Zugleich erschienen. neu auszuhandeln. Das ist eine Mühe, von Prof. Dr. Inge Marszolek im August 2016 hatte PD Dr. Thomas Henne den Vorsitz übernommen. Der Vorsitzende unterstrich in seiner engagierten Rede die Wichtigkeit des weiteren Ausbaus der Gedenkstätte: „Die Mitglieder der Expertenkommis- sion werden die weitere Professionali- sierung und Ausgestaltung der Gedenk- stätte weiter begleiten. Wir waren eine Kommission für die Neugestaltung, und so ist es an der Zeit, ein institutionelles und personelles Format für die nun an- stehende Beratung und Weiterentwick- lung der Gedenkstätte zu finden.“ Das Wichtigste bei der Entwicklung der neuen Dauerausstellung waren die Unterstützung und das Vertrauen der Familienangehörigen. Standing Ovations erhielt der Sohn eines belgischen Wider- standskämpfers, André Charon, für seine persönliche und emotionale Rede: „[Das] Gedächtnis, das Denken, [die] Empathie, das Wort und das Handeln … Das neue Dokumentationszentrum, das wir heute einweihen, vereint diese fünf grundlegenden Werte wie die fünf Finger einer Hand. Es bildet eine Zeitkapsel, ei- nen kostbaren Schrein, der diese Werte schützen und an künftige Generationen weitergeben wird, damit die Finsternis der Vergangenheit nie wiederkehren möge.“ Im Anschluss an den Festakt fuhren die sich lohnt, und der einzige Weg, der heitlich demokratischen Rechtsord- die Gäste mit Shuttlebussen zum Doku- 95 verhindert, dass sich Verbrechen, wie nung – zu verankern.“ mentationszentrum. Nach der festlichen sie im Strafgefängnis Wolfenbüttel und „Wann immer Sie in Gruppen, mit Eröffnung mit dem Banddurchschneiden an zahllosen anderen Orten im national- Ihren Freunden, Angehörigen, Familien konnte die neue Dauerausstellung be- sozialistischen Deutschland begangen oder auch alleine in unsere schöne Stadt sichtigt werden. wurden, wiederholen – und sei es auch kommen: Die Gefängnistore werden für im anderen Gewand.“ Sie immer geöffnet werden.“ Fast dreißig Bereits am Freitag waren in einer Presse- Neben der Landesfinanzierung wurde Jahre nach diesem klaren Statement zur konferenz, an der der Geschäftsführer die andere Hälfte der Kosten des Neu- Eröffnung der Gedenkstätte am 24. April der Stiftung niedersächsische Gedenk- gestaltungsprojekts durch Mittel zur 1990 war es eine besondere Freude, stätten, Dr. Jens-Christian Wagner, der Förderung von Projekten im Rahmen der dem früheren Anstaltsleiter Hannes Sohn des belgischen Widerstands- Gedenkstättenkonzeption des Bundes Wittfoth ganz herzlich zu danken und kämpfers André Charon sowie die Ge- getragen. Die Leiterin der Gruppe K 4 ihm und seinem Nachfolger Dieter Münze- denkstättenleiterin Martina Staats teil- „Geschichte, Erinnerung“ bei der Beauf- brock die ersten Exemplare des Katalogs nahmen, das Dokumentationszentrum tragten der Bundesregierung für Kultur zur neuen Dauerausstellung auf der und die Dauerausstellung vorgestellt und Medien, Maria Bering, unterstrich in Bühne zu überreichen. worden. ihrer fundierten Rede die bundesweite Anstaltsleiter Dieter Münzebrock unter- Bedeutung der Gedenkstätte in der JVA strich in seiner Rede, dass obzwar die

Wolfenbüttel: Interessen von Justizvollzugsanstalt Alle Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische „Orte des Gedenkens und der Bildungs- (Aspekt der Sicherheit) und Gedenkstätte Gedenkstätten vereint: Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta (Mitte) mit dem amtierenden Geschäftsführer arbeit wie die Gedenkstätte Wolfen- (größtmögliche Offenheit) häufig konträr Dr. Jens-Christian Wagner (2.v.l.) und den beiden frühe- ren Geschäftsführern Wilfried Wiedemann (l.) und Prof. büttel leisten einen wichtigen Beitrag seien, mit dem entsprechenden Willen Dr. Habbo Knoch (r.) sowie Martina Staats • Helge dazu, die Rolle eines Rechtssystems als aber eine gute Zusammenarbeit und das Krückeberg tragende Säule einer Diktatur begreif- Betreiben einer Gedenkstätte auch in ei- Maria Bering, Leiterin der Gruppe K4 „Geschichte; Erinnerung“ bei der Bundesbeauftragten für Kultur und bar zu machen – ebenso wie die fatalen nem Hochsicherheitsgefängnis möglich Medien • Olaf Markmann Folgen für ihre Opfer und deren Ange- seien. André Charon, Sohn eines belgischen Widerstands- hörige. Es ist ihr unverzichtbares Ver- Die Arbeit des Neugestaltungsprojekts kämpfers und ehemaligen Gefangenen des Strafgefäng- dienst, dieses Bewusstsein bei den Be- wurde begleitet von der Internationalen nisses Wolfenbüttel • Helge Krückeberg sucherinnen und Besuchern – und Expertenkommission für die Neugestal- Gäste der Eröffnung besichtigen nach dem Festakt im Lessingtheater die neue Dauerausstellung • Helge damit in der Gesellschaft unserer frei- tung der Gedenkstätte. Nach dem Tod Krückeberg

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Die neue Dauerausstellung „Recht. Verbrechen. Folgen. Das Strafgefängnis Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“

Martina Staats1

96 Die Besucher_innen des Dokumen- Aufhebung von Rechten in der NS-Zeit nis Wolfenbüttel im Nationalsozialis- tationszentrums betreten den Neubau das Ende des Rechtsstaates 1933. mus. Sichtbar wird, wie das zentrale durch eine Öffnung in der Gefängnis- Der überwiegende Teil der Ausstellung Gefängnis des Landes Braunschweig in mauer und werden so gleich damit kon- befindet sich im ersten Obergeschoss. die Verfolgungspolitik der Nationalsozia- frontiert, dass sich die Gedenkstätte auf Leitexponate und Kapitelfarben gliedern listen eingebettet war. Die Ausstellung dem Gelände bzw. direkt angrenzend an die Ausstellung und kennzeichnen die visualisiert die Veränderung vom Re- eine Justizvollzugsanstalt befindet. verschiedenen thematischen Abschnitte. formstrafvollzug der Weimarer Zeit zur Das erste Ausstellungskapitel widmet Ein Zeitstrahl und drei animierte Kontext- „Strafe als Abschreckung“ und die justi- sich daher dem Thema „Strafvollzug filme ermöglichen die Orientierung über zielle Verfolgung von aus rassischen und heute“. Eine Filmsequenz informiert mit den Ort des Strafgefängnisses Wolfen- politischen Gründen außerhalb der O-Tönen von Gefangenen der JVA Wol- büttel und das Land Braunschweig „Volksgemeinschaft“ stehenden Men- fenbüttel, die im Rahmen eines Projek- hinaus. schen. Verdeutlicht wird auch, dass sich tes der Künstlerin Yvonne Salzmann ent- Alle Ausstellungstexte sind in deut- die Haftbedingungen ab Kriegsbeginn standen sind, und mit Auszügen aus scher und englischer Sprache verfasst. dramatisch verschlechterten: mit einer einem Interview mit dem Vorsitzenden Gleich am Eingang der Dauerausstel- Ausweitung des Arbeitszwanges an des Bundes der Strafvollzugsbedienste- lung im ersten Obergeschoss können sich über siebzig Außenarbeitsorten, der an- ten. Im Gegensatz zum Nationalsozialis- die Besucher_innen an einer Reprodukti- gespannten Ernährungslage und der mus erfolgen die Rechtsprechung und on des historischen Modells des Straf- starken Überbelegung. Dieses führte zu die Behandlung der Gefangenen heute gefängnisses Wolfenbüttel, Stand 1939, einem hohen Anstieg der Krankheits- nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. orientieren. Sofern keine Gefangenenbe- zahlen und zu mehr als 500 Todesfällen Im Erdgeschoss passieren die Besu- wegungen in der JVA stattfinden, blicken unter den Gefangenen. cher_innen dann den Prolog mit einer die Besucher_innen von dort durch ein Mithilfe von vielen Objekten, Grafiken Medieninstallation: einer Zeitschleuse großes Fenster zu den historischen Orten, und Interviewausschnitten erfahren die von der Gegenwart in die NS-Zeit: Diese u.a. der ehemaligen Hinrichtungsstätte Besucher_innen, was es bedeutete in zeigt mit Hilfe der Gültigkeit von Grund- und den Hafthäusern. Sind die Fenster- Haft zu sein: Wie war es um die Ernäh- rechten in der Bundesrepublik bzw. der scheiben undurchsichtig, ermöglicht eine rung, die Arbeit und die medizinische augmented reality mit Hilfe von IPads und Versorgung bestellt? Ausgewählte Bio- 1 Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen an dem einer Projektion einen digitalen Einblick. grafien verdeutlichen die Gefangenen- Neugestaltungsprojekt Beteiligten für ihre Arbeit dan- ken, insbesondere dem Neugestaltungsteam: Bianca Das wesentliche Kapitel der Daueraus- gesellschaft und die persönlichen Aus- Armbrecht, Lukkas Busche, Anett Dremel, Dr. Thomas stellung widmet sich dem Strafgefäng- Kubetzky, Sarah Kunte, Janna Lölke und Ina Stenger. wirkungen für die Gefangenen. Die Ausstellung zeigt aber auch die fängnis Wolfenbüttel Hingerichteten. fen können sich die Besucher_innen 97 (Verwaltungs-)Handelnden und Tatbetei- Aber auch Urteile anderer Sondergerich- informieren. ligten. So ist an der Außenwand das zu- te und des Volksgerichtshofs in Berlin Ergänzt wird dieser Abschnitt durch ständige Personal des Gefängnisses, wurden in Wolfenbüttel vollstreckt. eine Auswahl von Dokumenten und Gra- u.a. in Funktionsbiografien, dargestellt. Soldaten der Wehrmacht erschossen fiken, die den Ablauf der Hinrichtungen Während in der Weimarer Republik die weitere fünf Verurteilte aus dem Strafge- und die Behandlung der Verurteilten ver- Todesstrafe ausschließlich wegen Hoch- fängnis auf dem Schießstand Braun- deutlichen. So ließen die Staatsanwalt- verrats und Mordes verhängt werden schweig-Buchhorst. schaften die Hinrichtungen häufig in der konnte und eine öffentliche Diskussion Fast die Hälfte der zum Tode Verurteil- lokalen Presse und über Plakatierungen über ihre Abschaffung geführt wurde, ten kam aus dem besetzten europäischen bekannt geben. änderte sich die Situation ab 1933: Bis Ausland. Die meisten Hingerichteten wur- Der zweite, innere Teil dieses Aus- Mai 1945 gab es 36 Gesetzesänderungen den auf lokalen Friedhöfen bestattet. stellungsabschnitts ist ganz den Bio- und Verordnungen, in denen die Todes- Über 200 Leichen wurden zu Forschungs- grafien hingerichteter Personen gewid- strafe vorgesehen war. zwecken an das Anatomische Institut der met. Hier können in einer multimedialen Das folgende Ausstellungskapitel Universität Göttingen gegeben. thematisiert die Hinrichtungsstätte im Auch dieser Ausstellungsteil ist in Strafgefängnis Wolfenbüttel im National-­ zwei Bereiche gegliedert. In einem äuße- sozialismus. ren Wandbereich werden die Rahmen- Ein Hinweisschild am Parkplatz der angrenzenden Volksbank weist Besucher_innen den Weg zum Im Strafgefängnis Wolfenbüttel be- bedingungen für die Hinrichtungen wäh- Dokumentationszentrum • Sarah Kunte fand sich im Nationalsozialismus eine rend der NS-Zeit thematisiert. Im Zen- Eine Karte im Treppenhaus zeigt Hinrichtungsstätten der der zentralen Hinrichtungsstätten in trum stehen die Akteure: die Besucher_ Justiz im Deutschen Reich und den annektierten Gebieten sowie die Haftanstalten auf dem Gebiet der deutschen Norddeutschland. Zwischen Oktober innen erfahren anhand ausgewählter Gefängnisverwaltung. • Grafik: Studio Tabassomi 1937 und März 1945 wurden dort an Kurzbiografien etwas über beteiligte Tablets simulieren eine augmented reality am Modell 526 Frauen und Männern die überwie- Richter und Staatsanwälte an den urtei- des ehemaligen Strafgefängnisses, • Helge Krückeberg gend von NS-Sondergerichten verhäng- lenden Sondergerichten. Außerdem Blick in den Ausstellungsbereich zum Strafvollzug ten Todesurteile mit der Guillotine in werden in Form von Funktionsbiografien im Nationalsozialismus • Helge Krückeberg zwei Fällen auch durch Strangulation weitere an den Hinrichtungen beteiligte Essensausgabe, Zeichnung: Wilfred Jensenius, 1945 (nach der Befreiung) • Gedenkstätte in der JVA vollstreckt. Die Sondergerichte in Braun- Personengruppen vorgestellt: Gefäng- Wolfenbüttel schweig, Hannover und Magdeburg ver- nisbedienstete, Seelsorger, Ärzte. Auch Sterbefälle im Strafgefängnis Wolfenbüttel 1933–1945 urteilten die meisten der dann im Ge- über den Scharfrichter und seine Gehil- • Grafik: Studio Tabassomi

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 98 Präsentation, die eine Reproduktion Befreite politische Gefangene aus Im sich daran anschließenden Ausstel- des Hinrichtungsbuches miteinbezieht, Großbritannien, Belgien und Frankreich lungskapitel Ausstellungskapitel können einzelne Schicksale intensiver nachvoll- unterstützten die Alliierten vor Ort und sich die Besucher_innen über die Konti- zogen werden. Neben einer Auswahl übernahmen Funktionen, um nach Mög- nuitäten und Brüche in Justiz und Straf- personenbezogener Dokumente erhal- lichkeit geordnete Verhältnisse und die vollzug zwischen der NS-Zeit und der ten Besucher_innen biografische Infor- medizinische Versorgung und Verpfle- frühen Bundesrepublik während der mationen zum Schicksal der ausge- gung der befreiten Gefangenen zu 1950er und 1960er Jahre informieren. wählten Person. gewährleisten. Kontinuitäten sind nicht nur an der Das Ausstellungskapitel „Befreiung, Teile des Gefängnispersonals des über die NS-Zeit hinausgehenden Be- Kriegsende, Besatzung“ beginnt mit den Strafgefängnisses Wolfenbüttel muss- schäftigung von Richtern und Staatsan- letzten Wochen vor der Befreiung: Mit ten sich im Juli 1946 vor dem Landge- wälten festzumachen. Auch einige Hilfe von Ausschnitten aus lebensge- richt Braunschweig und 1950 vor einem Strafrechtsparagraphen, die diese Ju- schichtlichen Interviews, Tagebuchein- Kriegsgericht in Brüssel verantworten. risten bis in die 1960er Jahre hinein an- tragungen und Zeichnungen wird die Sechs frühere Bedienstete des Strafge- wandten, entstammten der NS-Zeit. So Rückkehr arbeitsunfähiger Gefangener fängnisses standen damals in Belgien hatten nationalsozialistische gesetzli- aus den Außenarbeitskommandos und wegen Mordes und Gefangenenmiss- che Regelungen gegen „Gewohnheits- die Verlegung von Inhaftierten aus front- handlung vor Gericht. Die umfangreichen verbrecher“ (Paragraph 20a RStGB) nahen Haftstätten dokumentiert. In einer Gerichtsakten enthalten wertvolles Ma- und homosexuelle Männer (Paragraph Vitrine wird der Abtransport von „Nacht- terial und stellten somit eine wichtige 175 RStGB) sogar über die Gründung und Nebel“-Gefangenen und zum Tode Quelle für die Ausstellung dar. der Bundesrepublik Deutschland 1949 Verurteilten in andere Gefängnisse ge- Die Todesstrafe blieb in allen westli- hinaus Gültigkeit. Vor dem Hintergrund zeigt. „‘Draußen fahren Panzer vorbei, chen Besatzungszonen in Kraft. Im Straf- des Kalten Krieges wurde 1951 zudem Amerikaner.‘ Und da geht natürlich ein gefängnis Wolfenbüttel fanden während das politische Strafrecht gegen Kom- Freudenschrei durch die ganze Meute: der Besatzungszeit noch 44 Hinrichtun- munisten eingeführt. In der Folge saßen ‚Wir sind frei, wir sind frei.‘“, erinnert gen durch die Guillotine statt, erneut erneut Menschen wegen politischer sich in einem Interview der politische durchgeführt von Scharfrichter Friedrich Betätigung oder homosexueller Hand- Gefangene Alfred Hausser (1912–2003) Heer (1879–1952). 23 weitere Urteile lungen im Strafgefängnis Wolfenbüttel an den 11. April 1945. An diesem Tag be- vollstreckten britische Erschießungs- in Haft. freiten Truppen der 9. US-Armee das kommandos in der Kaserne an der Lin- Die strafrechtliche Verfolgung und die Strafgefängnis Wolfenbüttel. dener Straße in Wolfenbüttel. Haftbedingungen dieser Gefangenen- gruppen in der frühen Bundesrepublik heute – von der NS-Verfolgung beein- Interviews zur Verfügung standen und 99 waren bisher weitestgehend Forschungs- flusst. Kinder, Enkel und weitere Ange- der Gedenkstätte Objekte als Geschenke desiderate. hörige von im Strafgefängnis Inhaftierten oder Leihgaben für die Dauerausstellung In der Ausstellung wird die Geschichte und Hingerichteten berichten darüber an- überlassen haben. dieser Gefangenengruppen durch Doku- hand von Objekten. Die Interviewaus- mente der Gefängnisverwaltung und schnitte werden durch Biografien ergänzt. des Haftalltages, private Erzählungen, Ein interaktiver Epilog beschließt die Objekte und Fotos veranschaulicht. Dazu Dauerausstellung: Neben aktuellen Be- gehört beispielsweise das lebensge- richten und Ankündigungen unter der schichtliche Interview mit dem ehemali- Überschrift „Und weiter?“ können die gen politischen Gefangenen Willi Gerns. Besucher_innen ausgehend von der Auch über die Brüche zwischen NS-Zeit Frage „Und ich?“ ihre Gedanken, Fragen und früher Bundesrepublik informiert und Eindrücke hinterlassen. „Was ist die Ausstellung anhand lokaler Beispie- Geschichte, wenn wir sie nicht weiterge- le, u.a. mit einer Biografie des damaligen ben?“, so lautet ein Besucher_innen- Braunschweiger Generalstaatsanwalts Kommentar. Fritz Bauer. Die Erarbeitung der Dauerausstellung Medienstation mit einer Reproduktion des Hinrichtungs- Im Kapitel „Raum für Erinnerungen“ erfolgte in enger und guter Zusammen- buchs. Besucher_innen erhalten hier biografische Informationen zu während der NS-Zeit Hingerichteten. wird an der Außenwand die Geschichte arbeit mit dem Gestaltungsbüro büro- • Helge Krückeberg des Umgangs mit dem historischen Ort, berlin sowie den Mediengestaltern Schlüsselbund aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel, der Errichtung der Gedenkstätte sowie schnellebuntebilder. Die Internationale den der ehemalige politische Gefangene André Charon nach der Befreiung an sich nahm. • Helge Krückeberg der gesellschaftlichen und politischen Expertenkommission für die Neugestal- Anerkennung von Justizverurteilten als tung der Gedenkstätte in der JVA Verurteilungsgründe der zwischen Juni 1945 und Juli 1947 in Wolfenbüttel vollstreckten Hinrichtungen NS-Opfer in der Bundesrepublik anhand Wolfenbüttel unter dem Vorsitz von • Grafik: Studio Tabassomi einer Exponatwand mit 21 Objekten – er- PD Dr. Thomas Henne unterstützte Blick in den Ausstellungsbereich „Kontinuitäten und gänzt durch einen Medienschlitten mit und beriet fachlich. Brüche in der frühen Bundesrepublik“ • Helge Krückeberg vertiefenden Materialien – gezeigt. Der Von großer Bedeutung für die Erstel- Im Kapitel „Raum für Erinnerungen“ werden die Ge- Innenbereich ist den Familienangehöri- lung der Dauerausstellung war die Hilfe schichte des Umgangs mit dem historischen Ort und der gen der Justizverurteilten gewidmet. von Familienangehörigen ehemaliger Werdegang der Gedenkstätte vorgestellt. Der Innenbe- reich ist Familienangehörigen und „ihren“ Objekten Auch deren Leben wird – teilweise bis Gefangener, die für lebensgeschichtliche gewidmet. • Helge Krückeberg

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 100 Gedenkstättenförderung Niedersachsen

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Gedenkstättenförderung Niedersachsen Gedenkstättenförderung Niedersachsen

Rolf Keller

Am 23. Oktober tagte das Preisgericht zur Auswahl eines Gestaltungsentwurfs für die KZ-Gedenkstätte Salzgitter- Drütte. Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten war durch Juliane Hummel und Dr. Jens-Christian Wagner vertreten. • AK Stadtgeschichte Salzgitter e. V.

Osnabrück, 5. März: Eine zugemauerte Zellentür im Gestapokeller, die im Zuge bauhistorischer Untersu- chungen freigelegt wurde. • Rolf Keller

Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats der Gedenkstät- ten Augustaschacht Ohrbeck und Gestapokeller Osna- brück am 5. März: Geschäftsführer Dr. Michael Gander im Gespräch mit Prof. Wolfgang Benz im Gestapokeller • Rolf Keller

102 Wesentliche Aufgabe der Abteilung auch im Berichtsjahr in größere Neuge- Bremen und des Denkorts Bunker Valen- „Gedenkstättenförderung Niedersach- staltungsprojekte von Dokumentations- tin teilnahmen. Auf der Tagesordnung sen“ ist die Unterstützung und Vernet- und Gedenkstätten sowie Kommunen stand die Diskussion eines Papiers mit zung der Gedenkstättenarbeit und Erin- eingebunden, z. B. in Hameln/Emmert- der Zusammenstellung historisch be- nerungskultur sowie der Erforschung hal (Dokumentations- und Lernort Bücke- deutsamer baulicher Relikte und sonsti- und Dokumentation der Geschichte des berg), Liebenau (Dokumentationsstelle ger Örtlichkeiten, die für einen zukünfti- Nationalsozialismus in Niedersachsen. Pulverfabrik), Lüneburg (Friedhof Tier- gen Lernort Rüstungslandschaft in Frage Ein wichtiges Instrument ist dabei die garten und Gedenkstätte „Opfer der kommen. Die Vorlage war von Vertretern finanzielle Förderung der Dokumenta- NS-Psychiatrie“), Osnabrück/Ohrbeck (Ge- der Heimatfreunde Neuenkirchen/Baracke tions- und Gedenkstätten in freier Trä- denkstätten Gestapokeller und Augusta- Wilhelmine und des Denkorts Bunker gerschaft sowie von Projekten, die von schacht), Salzgitter (Gedenkstätte KZ Valentin ausgearbeitet worden. Bei ei- Geschichtswerkstätten, Vereinen oder Drütte) oder Wolfsburg (Gedenk- und nem weiteren Treffen am 14. November Initiativen durchgeführt werden. Die Do- Lernort Laagberg). verständigte sich die Runde über den kumentationsstelle zur Geschichte von Außerdem waren sie an der Konzep- weiteren Projektverlauf. Widerstand und Verfolgung 1933 bis tion und Durchführung verschiedenster Ein weiteres Aufgabenfeld betrifft die 1945 auf dem Gebiet des Landes Nieder- Workshops, Ausstellungsprojekte, Out- Weiterentwicklung der Gedenkstätten in sachsen leistet Hilfestellung im Bereich door-Gestaltungen, Veröffentlichungen freier Trägerschaft und die nachhaltige Forschung und Dokumentation. Work- etc. an vielen weiteren Orten in unter- Sicherung ihrer Existenz. In diesem Zu- shops und Tagungen zu verschiedensten schiedlicher Weise beteiligt. Am 16. Mai sammenhang sind Konsultationen mit Aspekten dienen der Fortbildung und fand beispielsweise im Denkort Bunker Politik und Verwaltung erforderlich. Hier- Vernetzung der Akteure. Außerdem bie- Valentin (Bremen-Farge) auf Einladung zu zwei Beispiele: In einem Fall konnte tet die Abteilung Beratung und Service- der Abteilung Gedenkstättenförderung durch den Abschluss einer entsprechen- leistungen in Fragen der historisch-poli- ein zweiter Workshop zum Thema „Er- den Vereinbarung mit dem Landkreis tischen Bildung sowie der Konzeption schließung der Rüstungslandschaft Rotenburg die institutionelle Förderung und Finanzierung von Projekten an. Oft Schwanewede für die historisch-politi- der Gedenkstätte Sandbostel erreicht geschieht dies durch intensive Vor-Ort- sche Bildungsarbeit“ statt, an dem Ver- werden. In einem anderen Fall hat die Beratung und/oder aktive Beteiligung treter_innen der Heimatfreunde Neuen- Stadt Braunschweig die Trägerschaft der in lokalen/regionalen Gremien oder Ar- kirchen e. V., des Geschichtslehrpfads Gedenkstätte Schillstraße dem Arbeits- beitsgruppen. So waren die Mitarbeite- Lagerstraße/U-Boot-Bunker Valentin e. V., kreis „Andere Geschichte e. V.“ übertra- rinnen und Mitarbeiter der Abteilung der Internationalen Friedensschule gen, der schon bisher für die personelle und inhaltliche Betreuung der Einrich- Die „Ehemalige Synagoge Stadthagen“, Die personelle Situation der Abteilung 103 tung gesorgt hatte. Die Stadt hat die kon- zentraler Dokumentations-, Gedenk- und hat sich im Berichtsjahr nicht verändert. tinuierliche Förderung des Vereins und Lernort über die NS-Herrschaft und ihre Seit August 2018 ist die Stelle für die damit der Gedenkstätte beträchtlich er- Opfer im Schaumburger Land, wurde Entwicklung der Bildungsarbeit sowie höht, so dass eine zusätzliche (zunächst 2017 nach umfangreichen Sanierungs- die Unterstützung und Vernetzung der halbe) Personalstelle eingerichtet wer- und Umbaumaßnahmen am Gebäude er- pädagogischen Arbeit von niedersächsi- den konnte. Im Einvernehmen mit der öffnet. Vertreter des Trägervereins stell- schen Gedenkstätten durch die Abtei- Stadt strebt der Arbeitskreis eine inhalt- ten den Verein, ihre Aktivitäten und ihre lung GFN nur noch unterhälftig besetzt. liche und räumliche Weiterentwicklung Bildungsangebote vor. Die Teilnehmer_- Die Einschränkungen, die sich durch die der Einrichtung an. In diesem Zusammen- innen zeigten sich von dem bemerkens- Halbierung der formal zur Verfügung hang führte die Abteilung ein Gespräch wert professionellen Niveau der auf eh- stehenden Zeit und darüber hinaus mit der zuständigen Dezernentin des renamtlicher Basis durchgeführten Arbeit durch zusätzliche schulische Beanspru- Kulturamtes in Braunschweig. sehr beeindruckt. Nachmittags ging die chungen in den eigentlich für die Stif- Seit einigen Jahren organisiert die Ab- Fahrt weiter nach Bückeburg, wo der Ini- tungsarbeit vorbehaltenen Zeitfenstern teilung Gedenkstättenförderung interne tiator zahlreicher Projekte zur Erinnerungs- ergeben, sind inzwischen deutlich ge- Fortbildungen für die Mitarbeiter_innen kultur in Bückeburg, der frühere Lehrer worden. Eine kontinuierliche Betreuung der Stiftung in Form von Exkursionen zu Klaus Maiwald, im Zuge eines Stadtrund- von Gedenkstätten und Initiativen im Gedenk- und Dokumentationsstätten so- gangs über die Geschichts-AG der Herder- Bildungssektor ist nicht mehr zu gewähr- wie historischen Orten in Niedersachsen, schule und die erfolgreiche Teilnahme an leisten; Fortbildungsveranstaltungen im um den Kolleg_innen die Tätigkeitsfelder Schülerwettbewerben, über Stolperstein- Rahmen des „Forums Bildungsarbeit“ der Abteilung näherzubringen sowie die verlegungen und Initiativen zur Installati- konnten nicht angeboten werden. lokale bzw. regionale Geschichte der on von Informationstafeln im öffentlichen Orte und die Arbeit der von der Stiftung Raum berichtete. Deutlich wurde hier, vor geförderten Einrichtungen und Initiati- welchen Schwierigkeiten die Initiativen ven in Niedersachsen vorzustellen. Am vor Ort häufig stehen, zum anderen aber 12. September standen der Besuch des auch, was bei entsprechendem Engage- Mitarbeiter-Fortbildungsfahrt mit Gästen am 12. Sep- tember: Klaus Maiwald informiert über die Opfer des Lernorts „Ehemalige Synagoge in Stadt- ment auf lokaler Ebene erreicht werden Lagers Steinbergen und das Mahnmal auf dem Friedhof hagen“ sowie ein Rundgang zu Orten kann. in Bückeburg. • Juliane Hummel der NS-Zeit in Bückeburg auf dem Der Vereinsvorsitzende Andreas Kraus erläuterte die Räumlichkeiten und die Ausstattung der ehemaligen Programm. Synagoge Stadthagen, 12.9.2020. • Juliane Hummel

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Dokumentationsstelle Widerstand und Verfolgung 1933–1945 auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen

Silke Petry

104 2019 wurden von der Dokumentations- Niedersachsen stehen zunehmend im zum Schwerpunkt NS-Zeit und Folgen stelle 148 schriftliche sowie eine Vielzahl Fokus der Forschung und des bürger- in Nordwestdeutschland. 2019 wurden von telefonischen Anfragen zu verschie- schaftlichen Engagements. Der wissen- 140 Titel neu aufgenommen. Der Be- densten thematischen Aspekten beant- schaftliche Austausch nimmt national stand umfasst insgesamt 6.340 Druck- wortet (z. B. Kriegsgefangenenlager und und international zu. werke, außerdem Zeitschriften sowie Wehrmacht, Konzentrationslager und Intensive Beratung erhielt der Kultur- audiovisuelle Medien und ist online über SS, Civil Internment Camps, Displaced verein Raum2 bei der Konzeption und den Katalog der Arbeitsgemeinschaft Persons, einzelne Verfolgtengruppen, Recherche für eine Ausstellung über die der Gedenkstättenbibliotheken (AGGB) Gestapo, Widerstand, NS-Kultstätten, Muna Neu Tramm, die im Rahmen der recherchierbar. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsverbrecherprozesse, Friedhöfe Kulturellen Landpartie im Wendland im der Gedenkstättenbibliotheken wurde und Gräberfelder, Archivwesen und Mai präsentiert wurde; außerdem stellte 1998 auf Initiative der Gedenk- und Quellenbestände, Recherchemöglichkei- die Dokumentationsstelle Quellenmate- Bildungsstätte Haus der Wannsee- ten, Auswertung und Dokumentation). rial zur Verfügung. Unterstützung wurde Konferenz, Berlin und der Stiftung Topo- Zehn Besucher bzw. Besuchergruppen auch für ein Feature zum Thema „Sowje- graphie des Terrors, Berlin ins Leben ge- haben vor Ort in den Beständen der „Do- tische Kriegsgefangene in Deutschland“ rufen. Mitglieder sind Bibliotheken von kumentationsstelle zur Geschichte von geleistet, das der Deutschlandfunk am Institutionen oder einzelne Personen. Widerstand und Verfolgung 1933–1945 8. Juli in der Reihe „Gesichter Europas“ Die archivalische Sammlung der Do- auf dem Gebiet des Landes Niedersach- sendete. kumentationsstelle umfasst Reproduk- sen“ recherchiert. Fotos und Dokumente Neben der historischen Forschung tionen (Kopien, Mikrofilme, Scans) von aus den Beständen der Dokumentations- und Fragen der Vermittlung besteht schriftlichen Quellen und Fotografien stelle wurden für diverse Ausstellungen auch bei der Klärung von Schicksalen aus Archiven im In- und Ausland sowie und Publikationen zur Verfügung gestellt. weiterhin eine große Nachfrage. Im Be- in geringem Umfang auch originale Un- Einen inhaltlichen Schwerpunkt der richtsjahr wurden fünfzig Anfragen von terlagen wie Nachlässe, Fotografien und Arbeit im Bereich Forschung und Doku- Angehörigen bzw. Nachkommen vor Alben. Im Zuge der Reorganisation der mentation bildete weiterhin der Bereich allem sowjetischer, außerdem slowaki- Sammlungen hat die Dokumentations- Kriegsgefangene/Kriegsgefangenen- scher und französischer Kriegsgefange- stelle mit der systematischen Verzeich- lager; dies beinhaltet auch die Themen ner sowie italienischer Militärinternierter nung und Erfassung der Fotobestände Grabstätten/Friedhöfe und Erinnerungs- bearbeitet. begonnen. Insgesamt handelt es sich kultur. Vor allem die sowjetischen Kriegs- Die Präsenzbibliothek der Dokumenta- um einen Pool von etwa 3.000 Fotogra- gefangenen als größte Opfergruppe in tionsstelle bietet Publikationen vor allem fien (Originalabzüge, fotomechanische Repros und Digitalisate), die in einer pro- 105 fessionellen Archivdatenbank erfasst werden. Bisher wurden 850 Fotos und Zeichnungen aufgenommen. Einen Zu- wachs erhielt die fotografische Samm- lung im Berichtsjahr durch fünfzig Re- produktionen von Fotografien, die ein italienischer und ein französischer Ge- fangener unmittelbar nach der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Wietzen- dorf (Oflag 83) im April 1945 aufgenom- men haben. Diese wurden vom Istituto Storico Toscano Istituto Storico Toscano della Resistenza e dell‘Età contempora- nea in Florenz und der Amicale de l’Oflag Auf dem Weg von Wietzendorf nach Bergen, 22. April 1945. Das Gepäck der französischen und italienischen II B in Neuilly sur Seine zur Verfügung Offiziere wurde nach etwa acht Kilometern von Lastwa- gestellt. gen der britischen Armee aufgenommen und nach Bergen transportiert. Der Großteil der Gefangenen aber musste den gesamten Weg von rund zwanzig Kilome- tern zu Fuß zurücklegen. • Amicale de l‘Oflag IID-IIB-XXIB, Neuilly-sur-Seine

Wietzendorf, ehemaliges Oflag 83, Frühjahr/Sommer 1945. Entgegen ihren Hoffnungen mussten die italieni- schen Offiziere noch viele Wochen im Lager Wietzendorf ausharren, bevor sie in die Heimat zurückkehren konnten. • Istituto Storico Toscano Istituto Storico Toscano della Resistenza e dell‘Età contemporanea, Sammlung Merca- tali, Florenz

Wietzendorf, ehemaliges Oflag 83, Frühjahr/Sommer 1945. Die Anspannung, das Warten auf die Heimkehr setzte den befreiten Italienern stark zu. Die Zustände im Lager Wietzendorf waren nach wie vor katastrophal. Hier bereiten zwei italienische Offiziere unter einfachs- ten Bedingungen eine Mahlzeit im Freien zu. • Istituto Storico Toscano Istituto Storico Toscano della Resistenza e dell‘Età contemporanea, Sammlung Merca- tali, Florenz

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Tagung „Opfer des Nationalsozialismus – Friedhöfe und Grabstätten“

Juliane Hummel

106 Am 29. August fand in Hannover zum großem Umfang lokalisiert werden. Be- nen und Zwangsarbeitern, die in Emden neunten Mal die niedersachsenweite Ta- ratungen zwischen Vertretern der Kom- bestattet sind bzw. in Emden im Arbeits- gung zum Thema „Opfer des National- munen Ellrich und Walkenried, des Land- einsatz waren und andernorts beerdigt sozialismus – Friedhöfe und Grabstätten“ kreises Göttingen, der Kriminalpolizei, sind, z. B. auf dem Friedhof Bremen- statt. Die Resonanz auf die Veranstaltung des niedersächsischen Landesamts für Osterholz. war mit rund siebzig Teilnehmer_innen Denkmalpflege sowie des niedersächsi- Dr. Željko Dragić und Petar Miloradovic wieder sehr gut. schen Innenministeriums und der Stif- vom Vorstand des Vereins „Antikriegs- Zum Auftakt der Veranstaltung referier- tung niedersächsische Gedenkstätten baracke Atter-Osnabrück / Förderverein ten Erik Beck vom Kreismuseum Wewels- führten zu dem Beschluss, die Fundstel- Antikriegskultur und Friedenshandeln“ burg und Dr. Jens-Christian Wagner len würdig und angemessen als Grab- stellten das Projekt „Die Gräber der ser- (Stiftung nds. Gedenkstätten) über ein felder zu gestalten. bisch-jüdischen Offiziere des Kriegsge- Problem, das auch 75 Jahre nach Kriegs- Anschließend berichtete Ronald Sper- fangenenlagers Oflag VI C in Eversheide ende mancherorts noch besteht: Die un- ling von der Gedenkstätte Lager Sand- in der lokalen Erinnerungskultur“ vor. geklärte Frage nach dem Verbleib der bostel über den Friedhof des Kriegsge- Das Anliegen des Vereins ist es, die Ge- Leichen der gestorbenen bzw. ermorde- fangenen- und KZ-Auffanglagers Sand- schichte des Lagers zu erforschen, in ten KZ-Häftlinge. Im Rahmen eines For- bostel. Deutlich wurde hier wieder ein- dem serbische Offiziere, darunter etwa schungsprojekts geht Erik Beck derzeit mal, dass aufgrund von Umbettungen 450 jüdischen Glaubens, untergebracht der Frage nach dem Umgang mit den und Umgestaltungsmaßnahmen in der waren. Nach dem Krieg blieben viele der 1.278 im KZ Niederhagen ums Leben Nachkriegszeit die Rekonstruktion der Befreiten in Osnabrück, da eine Rück- gekommenen Häftlingen nach. In vielen Geschichte der Friedhöfe und der Opfer kehr in das kommunistische Jugoslawi- Fällen ist noch nicht geklärt, wo die Lei- noch lange nicht abgeschlossen ist. Ein- en für sie nicht in Frage kam; weitere chen kremiert wurden und was mit der drücklich wurde der Sanierungsbedarf Überlebende kamen aus anderen Orten Asche geschah. deutlich, der nicht nur in Sandbostel, hinzu. Daher existiert in Osnabrück heu- Jens-Christian Wagner berichtete über sondern an vielen Kriegsgräberstätten te eine große serbisch-orthodoxe Ge- neue Erkenntnisse zum Verbleib der Toten im Lande besteht. meinde. Der Verein möchte in der letzten des KZ Ellrich-Juliushütte. Inzwischen Michael Skoruppa von der Ubbo-Em- erhaltenen Baracke des Lagers die Ge- konnte durch archäologische Untersu- mius-Gesellschaft Emden referierte über schichte dieser Minorität dokumentieren chungen am Hang unterhalb des frühe- „Emder Friedhöfe und die Opfer des Fa- und dort Bildungsarbeit leisten. ren Krematoriums und an einer weiteren schismus“. Er recherchierte insbesonde- Zum Abschluss informierten Simona Stelle menschlicher Leichenbrand in re über die Gräber von Kriegsgefange- Häring und Dr. Gustav Partington von der Gedenkstätte Wolfenbüttel über ei- 107 nen Ideenwettbewerb für Schüler_innen, der die Gestaltung eines Gedenkortes für 217 Opfer der Hinrichtungsstätte im ehemaligen Strafgefängnis Wolfenbüttel zum Thema hatte. Da deren Leichname an das Anatomische Institut Göttingen abgegeben wurden und daher keine Gräber existieren, gab es für die Ange- hörigen bisher keinen Erinnerungsort. 33 Entwürfe wurden eingereicht; eine Jury prämierte schließlich vier heraus- ragende Arbeiten. Der Gedenkort soll 2020 realisiert werden. Das Projekt ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie er- folgreiche Bildungsarbeit an und mit Ge- denkstätten umgesetzt werden kann.

Erik Beck vom Kreismuseum Wewelsburg berichtet über seine Recherchen zum Verbleib von 1.278 im KZ Nieder- hagen zwischen 1939 und 1944 ermordeten Häftlingen. • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Diskussion im Plenum • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Dr. Željko Dragić und Petar Miloradovic (Antikriegsbara- cke Atter-Osnabrück / Förderverein Antikriegskultur und Friedenshandeln) stellen ihre Vereinsarbeit vor. • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Roland Sperling / Gedenkstätte Lager Sandbostel (links) und Dr. Rolf Keller / Stiftung nds. Gedenkstätten – Gedenkstättenförderung Niedersachsen (rechts) in der Diskussion. • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Neu aufgefundene bzw. lokalisierte Aschegräber im ehemaligen KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte

Jens-Christian Wagner

108 Mithilfe neu aufgefundener Fotos aus fangs ohne jegliche sanitäre Einrichtun- Das ehemalige Lager und die dem Sommer 1945 und archäologischer gen, mit den entsprechenden Folgen: deutsch-deutsche Grenze Sondierungen konnten im Frühjahr und Katastrophale hygienische Bedingungen Sommer 2019 zwei Aschegräber mit den führten schnell zur Ausbreitung epide- Nach dem Krieg durchzog die britisch- Überresten von etwa 1.000 Toten auf mischer Krankheiten. Die Häftlinge sowjetische Demarkationslinie und spä- dem Gelände des ehemaligen KZ-Außen- mussten Zwangsarbeit bei Bauvorhaben tere deutsch-deutsche Grenze das Ge- lagers Ellrich-Juliushütte lokalisiert wer- für geplante (aber nie fertiggestellte) lände. Auf DDR-Seite wurden die erhalte- den. Nun sollen die Gräber, wie auch das Untertagefabriken leisten. Aufgrund nen KZ-Gebäude und ehemaligen Gips- gesamte ehemalige Lagergelände, ihrer der harten Arbeitsbedingungen, der fabriken in den 1950er Jahren im Zuge historischen Bedeutung entsprechend hygienischen Situation und chronischen des Grenzabbaus abgetragen. Auf west- neu gestaltet werden. Schlafentzugs (selbst nach SS-Angaben licher Seite entschloss man sich 1963 bei hatten die Häftlinge täglich nur drei bis einem Besuch des Bundesministers für Das KZ Ellrich-Juliushütte vier Stunden Schlaf) ließ die Kraft der Häft- gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, (Deckname „Erich“) linge schnell nach, so dass ab Herbst den nicht mehr bewohnten Ortsteil Juli- 1944 die Todesrate stark anstieg. Allein ushütte abzureißen, um diesen „Schand- In Ellrich-Juliushütte (Ellrich ist eine im März 1945 starben in dem Lager fleck“ zu entfernen und eine „parkähn- Grenzstadt in Thüringen, Juliushütte ein 1.000 Menschen – das war jeder achte liche Landschaft“ zu schaffen, wie die unmittelbar an den Bahnhof von Ellrich Häftling. Insgesamt überlebten 4.000 Lokalzeitung „Harzkurier“ seinerzeit angrenzender ehemaliger Ortsteil, der Häftlinge die Deportation nach Ellrich- schrieb. Diese Aufgabe übernahm 1964 zur niedersächsischen Gemeinde Walken- Juliushütte nicht. der Bundesgrenzschutz, der die noch ried gehört) befand sich von Anfang Mai Zwischen dem 4. und dem 6. April vorhandenen Gebäude sprengte, u.a. 1944 bis Anfang April 1945 ein Außen- 1945 räumte die SS angesichts der her- auch das noch weitgehend erhaltene lager des KZ Mittelbau-Dora. Mit durch- anrückenden amerikanischen Truppen ehemalige KZ-Krematorium. Anschlie- schnittlich 8.000 Häftlingen war es nach das Lager und schickte die Häftlinge auf ßend wurde das Gelände bewaldet und Buchenwald, Dora, Neuengamme und Todesmärsche, u.a. in das KZ Bergen- zum Naturschutzgebiet erklärt. Bergen-Belsen das größte KZ in Mittel- Belsen. Als amerikanische Truppen am Erst nach der deutschen Wiederver- und Nordwestdeutschland. 11. April in Ellrich einrückten, war das einigung wurde das Gelände des ehema- Die Häftlinge waren am Ellricher Bahn- Lager leer. ligen Konzentrationslagers wieder zu- hof in halb verfallenen Gebäuden ehe- gänglich. In den 1990er Jahren wurde maliger Gipsfabriken untergebracht – an- von der Stadt Ellrich und dem Verein „Jugend für Dora“ ein kleiner Rundweg tauchte Fotos, die ein amerikanischer von über 1.000 Toten befanden, was angelegt, 2010 wurde er (finanziert vom Soldat im Juni 1945 von dem ehemali- jedoch offenbar auf keinerlei Interesse französischen Überlebenden-Verband gen KZ und von der Verbrennungsstelle stieß. „Dora, Ellrich et Kommandos“ und reali- gemacht hatte. Darauf sind deutlich ver- Nach 1990 wurde der Ort zwar ansatz- siert durch die KZ-Gedenkstätte Mittel- kohlte Knochen zu erkennen. Diese Stelle weise erschlossen, führt aber bis heute bau-Dora) mit Infotafeln versehen. Die wurde nun durch den Kreisarchäologen im deutschen öffentlichen Bewusstsein Grablagen im ehemaligen Lagergelände, Dr. Stefan Flindt aus Göttingen mittels ein Schattendasein. Ganz anders in die sich auf niedersächsischer Seite be- oberflächlicher Bodenuntersuchung ein- Frankreich: Dort gilt Ellrich als eines der finden, wurden 2010, weil sie nicht genau deutig lokalisiert – es liegen dort noch wichtigsten Lager der Deportation von lokalisiert werden konnten, nicht gekenn- immer Leichenbrand und Knochen direkt Résistance-Kämpfern; am 1961 von Prä- zeichnet. unter der Grasnarbe. sident de Gaulle errichteten Mahnmal für die Opfer der Deportation neben der Die „Entsorgung“ der Leichen und die Kennzeichnung der Grablagen und Kathedrale Notre Dame etwa werden am Lokalisierung der Sammelgräber Ausbau des Gedenkortes Eingang die wichtigsten Lager aufgezählt: „Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchen- Bis Februar 1945 wurden die Leichen Angestoßen durch die Lokalisierung wald, Dora-Ellrich“. aus dem Lager mit Lkw in das Krematori- der beiden Grablagen hat sich unter Fe- Nun, 75 Jahre nach Kriegsende, be- um des Hauptlagers Dora gebracht und derführung der zuständigen Gemeinde steht berechtigte Hoffnung, dass dieses dort verbrannt. Anfang März 1945 ging in Walkenried und beraten durch die Stadt von der deutschen Öffentlichkeit mehr 109 Ellrich-Juliushütte ein eigenes Kremato- Ellrich, die Stiftung niedersächsische oder weniger vergessene Lager seiner rium in Betrieb. Angesichts der hohen Gedenkstätten, die Stiftung Gedenk- historischen Bedeutung entsprechend Todeszahlen reichte die Kapazität des stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, erschlossen wird – und dass die Toten mit nur einem Ofen ausgestatteten Kre- den Landkreis Göttingen, das Nieder- endlich ein würdig gestaltetes Grab matoriums bald jedoch nicht mehr aus, sächsische Ministerium für Inneres und bekommen. so dass wie in anderen Lagern (z.B. in Sport und das Niedersächsische Landes- Dora und in Bergen-Belsen) Leichen zu- amt für Denkmalpflege sowie in Koope- sätzlich auch auf Scheiterhaufen ver- ration mit den Niedersächsischen Landes- brannt wurden. Insgesamt wurden so forsten und dem Grünen Band Thürin- etwa 1.040 Leichen verbrannt. Von 830 gen (als Grundeigentümer des ehemali- Toten sind die Namen bekannt (die Todes- gen Lagergeländes) eine Arbeitsgruppe und Verbrennungslisten blieben erhalten). konstituiert, um Lösungen für eine wür- Überwiegend handelt es sich um sowje- dige Gestaltung der Gräber zu finden tische und polnische Häftlinge, außerdem und zugleich die Zugänglichkeit und um Franzosen, Belgier und Niederländer. Kennzeichnung des ehemaligen KZ-Ge- Fast alle waren als politische Häftlinge ländes zu verbessern. ins KZ eingewiesen worden. Zusätzlich finden sich auf den Totenlisten einige Bewertung Dutzend ungarische und polnische Juden Asche und Knochenreste auf der Fläche, auf der im Frühjahr 1945 Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt sowie einige Sinti und Roma. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurden, Juni 1945. • KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora Der Leichenbrand aus dem Krematori- wurden die baulichen Relikte des ehe- um wurde an einem Hang hinter dem maligen KZ mutwillig von Ost- wie West- Das ehemalige Krematorium im Lager Ellrich-Julius- hütte, Juni 1945. Der Leichenbrand wurde hinter dem Gebäude abgekippt, aber nicht als Grab deutschen zerstört. Auf beiden Seiten Krematorium den Hang hinuntergekippt. • KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora gekennzeichnet. Der Standort des Schei- legten sich Schuldzuweisungen gegen- terhaufens für die zusätzlichen Verbren- über dem jeweils anderen deutschen Rückwand des ehemaligen Unterkunftsblocks 4, 2012. • Jens-Christian Wagner nungen, das zweite nun lokalisierte Staat als Deckgeschichten über eine Vorderseite von Unterkunftsblock 4, nach 1945. Sammelgrab, konnte erst jetzt ermittelt Auseinandersetzung mit der NS-Vergan- • KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora werden. Grundlage waren neu in der genheit. Alle Beteiligten wussten, dass 1989 aufgestellter Gedenkstein am ehemaligen KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora aufge- sich auf dem Gelände die Sammelgräber Krematorium, 2013. • Jens-Christian Wagner

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Qualifizierung und Vernetzung der Bildungsarbeit in niedersächsischen Gedenkstätten

Christian Wolpers

110 Umgang mit rechten, rechtspopulisti- Fortbildung für niedersächsische Neuauflage „Vier Kieselsteine“ schen und rechtsextremen Gruppen Lehrer_innen in Zusammenarbeit mit und/oder Äußerungen bei Bildungs­ dem Kultusministerium, dem Nieder- Nach der Neuauflage der Materialbox veranstaltungen in Gedenkstätten sächsisches Landesinstitut für schuli- „Vier Kieselsteine“, die anhand der Lebens- sche Qualitätsentwicklung (NLQ) und geschichte der Familie Blumenthal aus Zu dieser Thematik fand am 19. Septem- der Gedenkstätte Yad Vashem Hoya einen Zugang zum biografischen ber in Hannover ein von der Abteilung Lernen zur Shoah für Kinder ab neun Bildung und Begegnung der Gedenk- Im April fand eine weitere Fortbildung Jahren bietet, fand am 25. November in stätte Bergen-Belsen, der Interessenge- für niedersächsische Lehrer_innen in der der Gedenkstätte Bergen-Belsen eine meinschaft der niedersächsischen Ge- Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Lehrer_innenfortbildung statt, bei der denkstätten und Initiativen sowie der statt. Dazu führte die Abteilung GFN feder- die Materialien und die Arbeit mit dem Abteilung Gedenkstättenförderung Nie- führend mit der Gedenkstätte Bergen- Textbuch vorgestellt wurden. Die Teil- dersachsen organisiertes, landesweites Belsen und in Kooperation mit dem NLQ nehmenden aus den Schulformen Ober- Treffen statt. Die ca. 35 Teilnehmenden im Februar ein Vorbereitungsseminar in schule und Förderschule setzten sich aus mehreren niedersächsischen Gedenk- Hannover durch, das die Teilnehmenden hinsichtlich eines möglichen Unterricht- stätten tauschten ihre Erfahrungen aus, u.a. mit einem Besuch der Gedenkstätte seinsatzes intensiv mit den durch den formulierten Bedarfe, diskutierten Kon- Ahlem auf einen Perspektivvergleich Erzähltext, die historischen Erklärungen sequenzen für die weitere Arbeit und ver- der Erinnerungskulturen in Israel und und die beiliegenden Materialien eröff- einbarten die Bildung eines Netzwerkes Deutschland vorbereitete. neten Möglichkeiten eines unterricht- und einer Meldestelle für einschlägige Beim Nachbereitungsseminar in der lichen Einsatzes auseinander. Vorfälle mit rechtspopulistischem bzw. Gedenkstätte Bergen-Belsen erarbeite- -extremem Hintergrund. ten die Teilnehmenden unter Berücksich- Als Unterstützung für die Gedenkstät- tigung der Erfahrungen, die sie bezüg- ten wird die Stiftung niedersächsische lich der Vermittlungsarbeit in einer Gedenkstätten Mittel zur Durchführung israelischen und niedersächsischen Ge- von Informationsveranstaltungen und denkstätte gemacht hatten, vielfältige Argumentationstrainings gegen rechte Ansätze zur Umsetzung erinnerungs- Äußerungen in Bildungsveranstaltungen kultureller Arbeit mit niedersächsischen und im Gedenkstättenkontext allgemein Schüler_innen. zur Verfügung stellen. Beratung von Gedenkstätten und 111 Geschichtsinitiativen im Kontext der Bildungsarbeit

Im abgelaufenen Jahr fanden „Vor-Ort- Beratungen“ in der Gedenkstätte Schill- straße in Braunschweig zum Projekt „Kunstvermittlung in der Bildungsarbeit der Gedenkstätte Schillstraße“, beim Ar- beitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum und beim Verein Lagerbaracke Alexis- dorf-Neugnadenfeld e.V. im Landkreis Grafschaft Bentheim statt.

Besuch von Christian Wolpers und Dr. Rolf Keller in Rehburg am 5. Juni: Teilansicht der Ausstellung zur Geschichte der Juden in Rehbug-Loccum in den Räumen des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum. • Rolf Keller

Besuch in Neugnadenfeld am 24. Juni: Christian Wolpers und Christhard Pasternak, Vorsitzender des Vereins „Lagerbaracke Alexisdorf – Neugnadenfeld“, vor einem der zwölf Informationsmodule des Geschichtspfades in Neugnadenfeld. Dieser erläutert die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers Alexisdorf und der Herrnhuter Brüdergemeinde, die sich dort nach dem Krieg ansiedel- te. • Rolf Keller

Materialbox „Vier Kieselsteine“ – Die Geschichte der Familie Blumenthal • Christoph Ermisch

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Förderung der Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur durch finanzielle Zuwendungen

Arnold Jürgens

112 Der Stiftung niedersächsische Ge- gende Teil der Mittel in Sanierungs- arbeit in Niedersachsen“ (WFK). Die denkstätten stehen verschiedene Mög- und Neugestaltungsmaßnahmen der Empfehlungen der WFK sind die Grund- lichkeiten der finanziellen Förderung der Gedenkstätten Bergen-Belsen und lage für die Förderentscheidungen der Gedenkstättenarbeit und Erinnerungs- Wolfenbüttel geflossen. Seit Herbst Stiftung niedersächsische Gedenkstät- kultur zur Verfügung: 2017 wird außerdem das von der BKM ten. Der WFK gehören Professor_innen kofinanzierte Neugestaltungsprojekt für Geschichtswissenschaften und -di- • Projektförderung sowie institutionelle der Gedenkstätten Gestapokeller Osna- daktik von Universitäten in Niedersach- Förderung und Schwerpunktförderung brück und Augustaschacht Ohrbeck sen sowie Fachleute aus den Bereichen von Gedenkstätten gefördert. Am 1.Juli 2019 hat das Pro- Gedenkstättenarbeit, jüdische Geschich- 2019 standen hierfür 460.000 € zur jekt zur Neugestaltung der Gedenk- te und Archivwesen an. Verfügung. Insgesamt wurden Zuwen- stätte Salzgitter-Drütte begonnen. dungen für 22 Vorhaben an 15 Träger Institutionelle Förderung, Schwerpunkt- vergeben. Der Großteil der Mittel wur- • Förderung von Gedenkstättenfahrten förderung, Projektförderung de für die institutionelle Förderung der und pädagogischen Projekten Gedenkstätten Salzgitter-Drütte und Das Land Niedersachsen hat den Etat Entsprechend dem Förderkonzept der Moringen sowie für die Finanzierung zur Förderung von Gedenkstättenfahr- Stiftung erhalten die Gedenkstätten in der Leitungsstellen in den Gedenk- ten im Haushaltsjahr 2018 auf 200.000 € Salzgitter-Drütte und Moringen eine ins- stätten Esterwegen (DIZ Emslandlager), erhöht. Mit Zustimmung des Stiftungs- titutionelle Förderung. Die gewährten Sandbostel, Augustaschacht Ohrbeck, rates wurden die Mittel je hälftig für Mittel dienen in erster Linie der Finanzie- Liebenau und Lüneburg aufgewendet. die Förderung von Gedenkstättenfahr- rung von Personalstellen im Bereich Lei- ten sowie die Verbesserung der Be- tung und Verwaltung. Neben der Stif- • Förderung von Neugestaltungsprojek- treuungsangebote in den Gedenkstät- tung niedersächsische Gedenkstätten ten und Sanierungsmaßnahmen ten durch zusätzliche Honorarkräfte tragen vor allem die Stadt Salzgitter und Jährlich stehen 1 Mio. € für größere In- und die Weiterentwicklung pädagogi- der Landkreis Northeim die Kosten für vestitionen in den Gedenkstätten be- scher Formate verwendet. den Unterhalt der jeweiligen Gedenk- reit. Diese stehen nicht allein für die stätte. Die Bereitschaft zur dauerhaften Gedenkstätten in freier Trägerschaft, Die Vergabe der Fördermittel erfolgt Unterstützung der Gedenkstätten wird sondern auch für die von der Stiftung unter Beteiligung der „Wissenschaft- in entsprechenden Kooperationsverein- getragenen Einrichtungen zur Verfü- lichen Fachkommission zur Förderung barungen zwischen der Stiftung, den gung. Im Berichtsjahr ist der überwie- und Fortentwicklung der Gedenkstätten- Kommunen und den Trägervereinen festgehalten. Ab Januar 2020 erhält auch breite Basis bürgerschaftlichen Engage- gehörige angegriffen und belästigt ha- 113 die Gedenkstätte Sandbostel eine insti- ments und die Beteiligung weiterer Geld- ben. Die Gestapo verhaftete tutionelle Förderung. Der Landkreis geber aus der Region an der Gesamt- daraufhin eine größere Gruppe dieser Rotenburg (Wümme), die Stiftung Lager finanzierung der Einrichtung. Entwick- Jugendlichen und brachte deren Verhal- Sandbostel und die Stiftung niedersäch- lungen und Konzepte der schwerpunkt- ten mit den zu diesem Zeitpunkt in sische Gedenkstätten haben am 23. Au- geförderten und im Aufbau befindlichen Deutschland auftretenden oppositionel- gust 2019 eine Vereinbarung über die Gedenkstätten werden regelmäßig in len bündischen Jugendgruppen („Edel- gemeinsame Förderung der Gedenkstät- der WFK vorgestellt, diskutiert und die weißpiraten“) in Verbindung. Trotz mehr- te Sandbostel unterzeichnet. Damit er- Einrichtungen entsprechend beraten. wöchiger Inhaftierung und Verhöre halten nunmehr drei Gedenkstätten in Weitere Zuwendungen erfolgen über durch die Gestapo konnte den Jugend- Niedersachsen eine institutionelle För- das Instrument der Projektförderung. lichen die Bildung einer oppositionellen derung, die eine wichtige Voraussetzung Die Stiftung niedersächsische Gedenk- Jugendgruppe nicht nachgewiesen wer- für die Gewährleistung der Kontinuität stätten gewährt Gedenkstätten, Verei- den. Das Gerichtsverfahren endete mit und Qualität der Arbeit in den Einrich- nen, Geschichtswerkstätten und Initiati- einem Freispruch. Das von Radio Ton- tungen ist. ven finanzielle Zuschüsse für Projekte kuhle geplante Vorhaben eignet sich in Die Gedenkstätte Esterwegen (DIZ zur NS-Geschichte und Erinnerungskul- didaktischer Hinsicht sehr gut, heutigen Emslandlager) erhält eine Schwerpunkt- tur in Niedersachsen. Im Vorfeld bietet Jugendlichen exemplarisch zu zeigen, wie förderung, insbesondere durch die (an- die Stiftung den Antragstellern außer- teilige) Finanzierung der Leitungsstelle. dem umfassende Beratung und Infor- Außerdem werden die Projektleitungs- mation in konzeptionellen, inhaltlichen, stellen der im Aufbau begriffenen Doku- organisatorischen und formalen Fragen mentations- und Gedenkstätten in an. Zuschüsse wurden 2019 unter ande- Eröffnung der Ausstellung „... und sie waren Nachbarn. Osnabrück/Ohrbeck (Augustaschacht), rem für folgende Projekte gewährt: Die jüdischen Familien Bendix und Rosenbaum in Bad Gandersheim“ im Museum „Portal zur Geschichte“, Bad Liebenau und Lüneburg gefördert. Vor- Das von Radio Tonkuhle e.V. (Hildes- Gandersheim, 9. Dezember 2019. • Julia Fuhrmann aussetzungen für die Aufnahme in die heim) erarbeitete Hörspiel „Die Schlan- Tafel zur Einführung in eine Ausstellung mit 20 Biografi- Schwerpunktförderung sind die histori- genbande. Gestapoterror gegen Alfelder en von Verfolgten des Nationalsozialismus in Schaum- burg • Förderverein ehemalige Synagoge Stadthagen e.V. sche Bedeutung und Exemplarität des Jugendliche 1944“ basiert auf histori- CD-Cover „Die Schlangenbande“ Ortes, die wissenschaftliche wie päda- schen Ereignissen in Alfeld und Hildes- • Covergestaltung: Steffen Neubauer gogische Qualität der Arbeit der Doku- heim. Jugendliche aus dem politischen Patrick Bach bei Aufnahmen seiner Rolle „Willi Sievers“ mentations- und Gedenkstätte, eine Umfeld von KPD und SPD sollen HJ-An- in „Die Schlangenbande“ • Silas Degen

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Zuwendungen zur Förderung der Gedenkstättenarbeit in Niedersachsen 2019

Veranstaltungen € 9.400 Institutionelle Förderung Gedenkstätten € 122.200 Moringen und Salzgitter-Drütte Ausstellungen, Dokumentations- und Rechercheprojekte € 87.750

Summe € 454.900

Personalkostenzuschüsse Gedenkstätten Esterwegen (DIZ Emslandlager), Sandbostel, Augustaschacht (Ohrbeck), Lüneburg und € 235.550 Liebenau

114 das diktatorische NS-Regime auf unan- „Rüstungslandschaft Farge/Schwane- Wanderausstellung mit Informationen gepasstes bzw. von den damaligen Nor- wede“ wird als Standortübungsplatz zur Geschichte der Juden in Schaum- men abweichendes Verhalten reagierte. von der Bundeswehr genutzt. Im Hin- burg und exemplarischen Biographien Die „Heimatfreunde Neuenkirchen e.V.“ blick auf den bevorstehenden Abzug der ehemaliger Verfolgter aus dem Land- (Schwanewede) betreuen den Dokumen- Bundeswehr (ca. 2022/23) wird ange- kreis Schaumburg-Lippe diente der Er- tations- und Lernort „Baracke Wilhelmi- strebt, die für Dokumentation und vor weiterung der Informations- und Bildungs- ne“. Zwischen 1935 bis 1945 war die allem die Bildungsarbeit relevanten bau- möglichkeiten in der Region. Region an der Unterweser Schauplatz lichen Relikte und Örtlichkeiten im Ge- größerer Rüstungsprojekte des national- lände zu sichern und dafür zu sorgen, Förderung von Gedenkstättenfahrten sozialistischen Deutschland. Hier sollten dass sie auch künftig zugänglich sind. und pädagogischen Projekten riesige Mengen an Treibstoff für den Krieg Basierend auf den Ergebnissen eines gelagert und eine neuartige U-Boot-Waf- Workshops hat der Verein eine erste Be- Im Berichtsjahr wurden 306 Fahrten fe gebaut werden. Für die Arbeiten an standsaufnahme und vorläufige Bewer- zu Gedenkstätten in Niedersachsen be- den Tanklagern und dem U-Boot-Bunker tung der historisch bedeutsamen Orte zuschusst, an denen rund 17.800 Schüle- „Valentin“ wurden viele Tausend Men- vorgenommen. rinnen und Schüler teilnahmen. schen benötigt. Die meisten von ihnen Der 2008 gegründete Verein „Ehemalige Nicht zuletzt durch die Erhöhung der wurden unter Zwang aus verschiedenen Synagoge Stadthagen e.V.“ hat sich zum Mittel für die Förderung von Gedenk- Teilen Europas in die Region verbracht. Ziel gesetzt, die Auseinandersetzung mit stättenfahrten für Schulklassen und au- Für sie wurden in der Umgebung der den NS-Verbrechen im heutigen Land- ßerschulische Jugendgruppen hat die Baustellen Lager errichtet, sie selbst bei kreis Schaumburg und die Erinnerung Zahl der Anträge aus den Schulen und schlechter Ernährung und täglichem Ter- an die Opfer des Nationalsozialismus zu damit die Nachfrage nach Betreuungs- ror zur Arbeit gezwungen. Die meisten befördern. Für diese Zwecke wurde die angeboten der Gedenkstätten stark zu- Bauwerke der Kriegsprojekte sind heute ehemalige Synagoge Stadthagen zu ei- genommen. Aus diesem Grund wurde wieder aus dem Landschaftsbild ver- nem Gedenk- und Lernort für den Land- erneut ein Teil der Mittel für die Finanzie- schwunden, andere nicht zugänglich kreis Schaumburg ausgebaut. Neben rung von Honorarkräften in den nieder- oder nur mit guten Ortskenntnissen auf- dem Betrieb des Gedenk- und Lernortes sächsischen Gedenkstätten verwendet. zufinden. Als sichtbare Relikte aus dieser in Stadthagen organisiert der Förderver- Diese Form der Unterstützung zur Ver- Zeit sind der am Weserufer erbaute Bun- ein regelmäßig Veranstaltungen zur Ge- besserung der Betreuungsangebote ist ker „Valentin“ und die „Baracke Wilhel- schichte des Nationalsozialismus im ge- von den Gedenkstätten sehr begrüßt mine“ geblieben. Der größte Teil der samten Landkreis. Die Erarbeitung einer worden. Die Gedenkstätten haben zu- sätzliche Honorarkräfte angeworben und preis des Förderprogramms „Demokra- Gedenkstätte Lager Sandbostel empfoh- 115 in Fortbildungen auf die pädagogische tisch Handeln“ erhalten. Dieser Erfolg len. Entsprechend dem Förderkonzept Arbeit mit unterschiedlichen Besucher- und die intensivierten Kontakte nach Ita- soll die Förderung eines wissenschaft- gruppen vorbereitet. Die Zahl der Be- lien waren die Motivation, nun auch die lichen Volontariats ab September 2020 treuungen in den Gedenkstätten konnte zur Zwangsarbeit eingesetzten italieni- fortgesetzt werden. durch die freien Mitarbeiterinnen und schen Zivilisten (Frauen und Männer) in Mitarbeiter deutlich gesteigert werden. der Region Schwanewede in den Blick zu Gleichzeitig können mit Hilfe der zu- nehmen. In Kooperation mit dem Denk- sätzlichen Mittel neue Bildungskonzepte Ort Bunker Valentin, dem Nationalen entwickelt werden, z. B. adressatenorien- Verband ehemaliger italienischer Häft- tierte Formate. So hat der „Gedenkkreis linge nationalsozialistischer Lager (ANEI) Wehnen“ exemplarische Patientenge- erarbeiteten die italienischen und deut- schichten und Täterbiographien für die schen Schülerinnen und Schüler nach pädagogische Vermittlungsarbeit mit den zunächst dafür notwendigen Recher- Besuchergruppen in der Gedenkstätte chen eine Dokumentation zum Schicksal „Alte Pathologie“ erarbeitet. dieser Personengruppe in Form einer Ein von den „Heimatfreunden Neuen- Ausstellung und eines Films. kirchen“ initiiertes Bildungsprojekt mit Schülerinnen und Schülern der Wald- Förderung eines wissenschaftlichen schule Schwanewede und italienischen Volontariats Schülerinnen und Schülern aus der Tos- kana knüpfte an das Vorläuferprojekt Das Konzept zur „Förderung der Ge- „In Ricordo“ an, in dem sich die Jugend- denkstättenarbeit in Niedersachsen lichen mit dem Schicksal von italienischen durch finanzielle Zuwendungen“ sieht Militärinternierten beschäftigt hatten, die Einrichtung wissenschaftlicher Mit- die beim Bau des U-Boot-Bunkers arbeiterstellen in den niedersächsischen „Valentin“ eingesetzt waren. Sie hatten Gedenkstätten auf Basis eines Volontari- u. a. eine Roll-up-Ausstellung und einen ats vor. Die WFK hatte für den Zeitraum Kurzfilm mit beispielhaften Biographien vom September 2018 bis August 2020 produziert und dafür den Demokratie- die Einrichtung eines Volontariats in der

Gedenkstättenförderung Niedersachsen 116 Geförderte Gedenkstätten

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Geförderte Gedenkstätten Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht

Dr. Michael Gander, Geschäftsführer der Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht

Die Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht werden im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht Eine Text-Bild-Ton-Collage zu der „Geschichte eines Zur Hüggelschlucht 4 Deutschen“ von Sebastian Haffner zeigten am 6. Juni in der Gedenkstätte Augustaschacht acht Abiturient_innen D – 49205 Hasbergen des Osnabrücker Gymnasiums „In der Wüste“ in Zusam- Tel.: +49 (0) 5405 – 895 92 70 menarbeit mit dem Regisseur Burkhard Imeyer, der Bild- bearbeiterin Marlis Imeyer und dem Geschichtslehrer Fax: +49 (0) 5405 – 895 92 71 Thomas Allewelt. Den Schüler_innen William Homburg, Paul Bilefeld, Jule Brünenkamp, Philipp Hagemann, [email protected] Swenja Pohlmann, Laurin Schiffer, Insa Beisel und Maja www.gedenkstaetten-augustaschacht- Gausmann dankte Dr. Klaus Lang, der stellvertretende Vorsitzende des Gedenkstätten Gestapokeller und osnabrueck.de Augustaschacht e.V. • Michael Gander

118 Die Erarbeitung der neuen Daueraus- tur und Medien und die Stiftung nieder- „Geschichte eines Deutschen“ von Se- stellung der Gedenkstätten Gestapokeller sächsische Gedenkstätten erhöhten zum bastian Haffner. Im August organisierten und Augustaschacht stand in diesem Ende des Jahres die Förderung für die die Gedenkstätten in Zusammenarbeit Jahr im Vordergrund. Die Grabungen in Gedenkstätten, um Brandschutzmaß- mit „Service Civil International“ und Sommer und Herbst, ein Kooperations- nahmen, zusätzliche Filme und barriere- „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ projekt mit der Universität Osnabrück freie Wege für die Ausstellung zu ermög- zwei internationale Sommerlager in der sowie ein Bildungsprojekt mit mehreren lichen. Gedenkstätte Augustaschacht. Die Ge- Schulen aus der Umgebung der Gedenk- Die Gedenkveranstaltung für die Opfer denkstätten beteiligten sich in Zusam- stätte Augustaschacht trugen zu diesem des Nationalsozialismus in der Gedenk- menarbeit mit der Stiftung niedersächsi- wichtigen Vorhaben bei. stätte Augustaschacht wurde am 27. Ja- sche Gedenkstätten an der Vorbereitung In der ersten Jahreshälfte wurden die nuar von Schüler_innen der Realschule eines Treffens zum „Umgang mit rechten letzten Entscheidungen zur Gestaltung Bad Iburg mit dem Ziel gestaltet, Ergeb- und rechtsextremen Gruppen in Gedenk- der Ausstellung getroffen. Die Auswahl nisse ihrer geschichtlichen Spurensuche stätten“ am 19. September in Hannover. und Erstellung der Ausstellungsinhalte, und ihre Gedanken über Gegenwart und Vom 2. bis zum 6. Oktober setzte ein Work- insbesondere der Texte, dauerte hinge- Zukunft angesichts von nationalistisch camp der CAJ Osnabrück die von den gen das ganze Jahr über an. Einen beson- und rassistisch motiviertem Hass und Sommerlagern begonnenen Grabungen deren Beitrag zu den Inhalten der Aus- Gewalt vorzustellen. Der Toten des Ar- fort. Die Gedenkstätten waren Mitorgani- stellung und zur zukünftigen Bildungsar- beitserziehungslagers Ohrbeck wurde satorinnen eines transnationalen Work- beit leistete die im Juni begonnene ver- am 7. April im Rahmen einer Gedenkfeier shops zu „Conflicting Memories of the tiefte Kooperation der Gedenkstätten gedacht. Romeo Franz, Abgeordneter des War and Occupation“ vom 20.–25. Okto- mit dem Forschungsprojekt zur über- Europäischen Parlamentes, besuchte am ber in Kiew. In Zusammenarbeit mit der lieferten Kartei der Gestapo Osnabrück 22. Mai die Gedenkstätten Gestapokeller Volkshochschule Osnabrück und dem von Prof. Dr. Christoph Rass, Universität und Augustaschacht. Der Jugendclub Museumquartier Osnabrück veranstalte- Osnabrück. Diese Zusammenarbeit wird Mania des Theater Osnabrück führte vom ten die Gedenkstätten fünf Vorträge, zwei vom Landschaftsverband Osnabrücker 26. Mai bis zum 2. Juni das Stück „Woy- Lesungen, eine Filmvorführung und zehn Land e. V., der Stiftung Stahlwerk Georgs- zeck“ nach Georg Büchner in der Gedenk- Zeitzeug_innengespräche mit Erna de marienhütte und privaten Unterstützern stätte Augustaschacht auf. Abiturient_in- Vries und Mortko Jazowitskij. Eine weite- gefördert sowie vom Niedersächsisches nen des Osnabrücker Gymnasiums „In re Lesung fand in Zusammenarbeit mit Landesarchiv – Standort Osnabrück un- der Wüste“ zeigten am 6. Juni am selben der Osnabrücker Buchhandlung „Zur terstützt. Die Bundesbeauftrage für Kul- Ort ihre „Text-Bild-Ton-Collage“ zu der Heyde“ statt. Die Angebote der Gedenkstätten nah- Gedenkstätten sind in der Osnabrücker Im Herbst ist in Berlin und Osnabrück 119 men 6.300 Menschen wahr. Erneut för- Trägergemeinschaft „9. November“, im ein transnationaler Workshop in Zusam- derte die Stiftung niedersächsische Ge- „Initiativkreis Stolpersteine“, in der Inte- menarbeit mit dem Dokumentationszen- denkstätten die bei den Bildungsange- ressengemeinschaft niedersächsischer trum NS-Zwangsarbeit und dem Critical boten eingesetzten Honorarkräfte. Die Gedenkstätten und Initiativen zur Erinne- Global Studies Institute der Sogang Uni- Arbeit der Gedenkstätten Gestapokeller rung an die NS-Verbrechen und im Bei- versity in Seoul geplant. und Augustaschacht wurde bei Vorträ- rat des niederländischen „Nationalen gen am 21. Februar vor dem Verein für Untertauchermuseums“ in Aalten aktiv. Geschichte und Landeskunde von Osna- Am 21. März, sowie am 24. und 25. Okto- brück, am 5. November in Georgsmarien- ber beteiligten sich die Gedenkstätten hütte und am 10. November auf dem an zwei bundesweiten Treffen zur Ver- Herbstfest von „Service Civil Internatio- netzung von Gedenkstätten, die sich mit nal“ in Bielefeld vorgestellt. Am 17. Sep- der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus Die Umsetzung der neuen Dauerausstellung der Ge- tember beteiligten sich die Gedenkstät- beschäftigen. Sie nahmen an niederlän- denkstätten Gestapokeller und Augustaschacht (GGA) berät ein wissenschaftlicher Beirat. An der Beiratssit- ten an einer Podiumsdiskussion im dischen Gedenkfeiern in Aalten, beim zung am 5. März in der Gedenkstätte Augustaschacht nahmen teil: Dr. Michael Gander (GGA), Georg Hörn- Theater Osnabrück zu „Nazi-Parodien in Nationalmonument Kamp Amersfoort schemeyer (GGA), Dr. Rolf Keller, Prof. Dr. Peter Romijn, Film und Theater.“ Am 5. November und für Hannie Schaft in Haarlem teil. Peter Kreipe (GGA), Prof. Dr. Wolfgang Benz, Brigitte Lenz-Gust (GGA), Dr. des. Janine Doerry (GGA), Prof. Dr. folgte eine Mitwirkung bei einer Podiums- Die Fertigstellung und Eröffnung der Dietmar von Reeken, Tanja Vaitulevich (GGA), Dr. Thomas Lutz, Dr. Matthias Gafke (GGA), Dr. Christine Glauning diskussion in der Universität Osnabrück, neuen Dauerausstellung in den Gedenk- und Thomas Jander (v.l.n.r.). Weitere Beiräte sind die anlässlich des Attentats auf die stätten Gestapokeller und Augusta- Dr. Jens-Christian Wagner, Prof. Dr. Carsten Dams und Prof. Dr. Christoph Rass. • Aleksandr Derksen Synagoge in Halle an der Saale eine Be- schacht ist in 2020 die Hauptaufgabe der Der Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, standsaufnahme antisemitischer Gewalt Gedenkstättenarbeit. Ein internationales Romeo Franz (2.v.r.), beim Besuch der Gedenkstätte zum Thema hatte. Eine Schülerin absol- und ein regionales Jugendworkcamp er- Gestapokeller am 22. Mai in Begleitung der Bundestags- abgeordneten Filiz Polat (1.v.r) und des Sprechers des vierte ein Praktikum in den Gedenkstät- fassen die Funde der bisherigen archäo- Niedersächsischen Verbandes Deutscher Sinti e.V. Mario Franz (1.v.l.) mit den Vorständen des Gedenkstätten ten. Mit dem europäischen Freiwilligen- logischen Freilegungen auf dem Ge- Gestapokeller und Augustaschacht e.V.: Georg Hörn- dienst und der „Aktion Sühnezeichen denkstättengelände. Erstmals soll in schemeyer, Peter Kreipe und Jutta Keil (2.-4.v.l.) sowie dem Gedenkstättengeschäftsführer Dr. Michael Gander. Friedensdienste“ arbeiteten in den Ge- Kooperation mit der „Aktion Sühnezei- • Jonas Graeber denkstätten nacheinander Aleksandr chen Friedensdienste“ und dem Verein Im Mittelpunkt der Gedenkfeier für die Toten des Arbeits- Derksen aus Russland und Anna Kho- „3 Stufen“ ein internationales Sommer- erziehungslagers Ohrbeck am 7. April in der Gedenkstät- te Augustaschacht stand eine Lesung der Schriftstellerin vanksa aus der Ukraine. Die beiden lager in Vishki in Lettland stattfinden. Natascha Wodin. • Aleksandr Derksen

Geförderte Gedenkstätten Vierzig junge Menschen aus sechs Ländern bereiteten mit Grabungen barrierefreie Wege vor

Der Hasbergener Bürgermeister Holger Elixmann (5. v.r.) dankte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des internationalen Sommerlagers von Aktion Sühnezeichen Friedens- dienste für ihr Engagement in der Gedenkstätte Augustaschacht und der Gemeinde der Christuskirche Hasbergen für die Gastfreundschaft mit der sie die jungen Freiwilligen im Gemeindezentrum untergebracht haben. Pastorin Maria Beisel und Diakonin Elvira Schoof (1. und 2. v.l.) nahmen mit den Jugendlichen an dem alle beeindruckenden Zeitzeugengespräch mit dem Holocaustüberlebenden Mortko Jazovitskij (6. v.l.) teil. • Aleksandr Derksen

120 In der Gedenkstätte Augustaschacht Freiwilligen die Anlage einer neuen bar- Schulz + Drieschner GbR mit großer engagierten sich im Sommer und Herbst rierefreien Zuwegung zu den Teilen der Sorgfalt begonnen wurde. Die internatio- die Teilnehmer_innen von drei Work- neuen Dauerausstellung auf dem ehe- nale Gruppe von „Aktion Sühnezeichen camps. Den Anfang machten im August maligen Lagergelände vor. Vor dem An- Friedensdienste“ entwickelte zudem zwanzig junge Menschen aus Russland, legen neuer Wege sollte der darunterlie- Vorschläge für ein neues Grabungspro- der Ukraine, Belarus, Lettland, Spanien gende Boden nach Spuren des Arbeits- jekt der Gedenkstätten Gestapokeller und Deutschland, die in einem deutsch- erziehungslagers Ohrbeck untersucht und Augustaschacht mit dem Osnabrü- russisch-ukrainischen Workcamp des werden. Dank dieser Vorarbeiten konnte cker Verein „Drei-Stufen“ im lettischen „Service Civil International“ und einem im Dezember mit dem Wegebau begon- Ort Vishki, wo im Sommer 2020 eine ers- internationalen Sommerlager der „Aktion nen werden. Ab April 2020 werden Ge- te Untersuchung des erhaltenen Fußbo- Sühnezeichen Friedensdienste“ jeweils denkstättenbesucher_innen barrierefrei dens der zerstörten Synagoge des Ortes zwei Wochen in der Gedenkstätte Augusta- die Ausstellungsteile am ehemaligen stattfinden soll. schacht freiwillig arbeiteten. Im Oktober Lagertor und an den Fundamenten der Die internationalen Gruppen und die nahmen zwanzig Jugendliche und junge früheren Lagerlatrinen erreichen, sowie Grabungen wurden von der Stadt Georgs- Erwachsene an einem archäologischen den Verlauf des ehemaligen Lagerweges marienhütte und der Stiftung Deutsches Workcamp der „Christlichen Arbeiter- sehen können. Holocaust-Museum gefördert, sowie jugend Osnabrück“ teil. Die Workcampteilnehmer_innen schütz- vom Deutschen Roten Kreuz Holzhausen Alle Freiwilligengruppen wurden von ten zudem die in den letzten Jahren von und der Christuskirche in Hasbergen Sara Snowadsky und Judith Franzen von Freiwilligengruppen freigelegten Funda- unterstützt. Das Workcamp der Christ- der Stadt- und Kreisarchäologie Osna- mente des Nachbarhauses mit Sand lichen Arbeiterjugend Osnabrück wurde brück bei den Grabungen auf dem ehe- gegen weitere Schäden durch die Witte- vom Bildungsinstitut der arbeitenden maligen Lagergelände des Arbeitserzie- rung. Diese anstrengende Aufgabe Jugend e.V. gefördert. hungslagers Ohrbeck angeleitet. Sie musste in Handarbeit bewältigt werden, legten sorgsam weite Teile des ehemali- da ein Maschineneinsatz die alten Funda- gen Weges der Gefangenen in dem Ar- mente beschädigt hätte. Eine weitaus beitserziehungslager frei und konnten filigranere Arbeit war die Bearbeitung und Die Teilnehmer_innen des Workcamps der Christliche Hinterlassenschaften aus der Kriegszeit, Dokumentation der bei den Freilegungen Arbeiterjugend Osnabrück legten im Oktober einen Teil des Lagerweges zu den Latrinen frei. Der Verlauf der wie einen britischen Uniformknopf, ber- in den vergangenen Jahren gemachten historischen Kantensteine ist auf dem Foto gut zu erken- gen. Mit diesen Freilegungen bereiteten Funde, die unter fachkundiger Leitung nen. Der barrierefreie Weg für Gedenkstättenbesucher_ innen verläuft ab April 2020 links neben der Freilegung. die internationalen und Osnabrücker von Bauhistorikerinnen der Firma • Michael Gander Resonanzraum

Auf der Dialog-Veranstaltung „Wie erinnern wir in Zukunft?“ am 21. Januar 2019 im Niedersächsischen Landtag in Hannover trafen die Teilnehmer_innen des Schulprojek- tes zusammen mit weiteren in den Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht engagierten Jugendlichen am Ende der Veranstaltung Landtagspräsidentin Dr. Gabrie- le Andretta (3. V.l.): Florin Maletz, Elias Witzke (Schulprojekt), Lyann Rücker (Schulpro- jekt), Jenrik Bauschule (Schulprojekt), Alea Hoge, Cassandra Heidrich (Schulprojekt) und Eileen Schröder. • Michael Gander

Teilnehmer_innen des Schulprojektes befragten am 27. November in der Realschule Georgsmarienhütte in kleinen Gruppen mehrere freiwillige Gedenkstättenmitarbeite- rinnen, die Öffnungszeiten der Gedenkstätte Augustaschacht betreuen, nach ihren Erfahrungen. Hannelore Blischke (2.v.l.) und Marlies Lücking (2.v.r.) beantworteten gerne die Fragen der Schüler_innen Leon Scheidemann, Pia Gärke und Domenick Morgret. • Maren Stindt-Hoge

Seit 2018 begleitet eine Projektgruppe zu Inhalten und Gestaltung der neuen Perspektiven auf die Geschichte des Na- 121 mit Schüler_innen und Lehrer_innen aus Dauerausstellung durch. Als Ergebnis tionalsozialismus und seiner Folgen, so- Georgsmarienhütte und Hasbergen die der Konzeptdiskussion regten die Schü- wie vergleichende gegenwartsbezogene Entwicklung der neuen Dauerausstel- ler_innen und Lehrer_innen an, die Dauer- Ansätze gezeigt werden können. lung in den Gedenkstätten Gestapokeller ausstellung in der Gedenkstätte Augusta- Die Projektgruppe der Hasberger Schu- und Augustaschacht. Die Teilnehmenden schacht um ein zusätzliches Bildungs- le „Am Roten Berg“, des Gymnasiums kommen aus Haupt-, Real- und Ober- modul zu ergänzen. Diese Anregung ver- Oesede, der Sophie-Scholl-Schule und schulen sowie einem Gymnasium. anlasste das Ausstellungsteam nach der Realschule Georgsmarienhütte erar- In verschiedenen Workshops lernten weiteren Beratungen mit den Gestal- beitet seit dem Herbst aus ihren Projekt- die Schüler_innen mit Unterstützung ter_innen zu einer entsprechenden Er- ergebnissen die ersten Inhalte für das ihrer Lehrer_innen gemeinsam die Ge- gänzung des Ausstellungskonzeptes. von ihnen angeregte Bildungsmodul. Für schichte des ehemaligen Arbeitserzie- Das Bildungsmodul ist im Ausstellungs- sie ist der Ort der Gedenkstätte Augusta- hungslagers Ohrbeck kennen und berei- raum zur Erinnerungskultur zum AEL schacht, der Augustaschacht, ein Resonanz- teten sich auf ihre eigenen Recherchen Ohrbeck geplant, und entspricht in Form raum, der Fragen aufwirft, wie sie in vor. Ab Januar begannen sie mit der und Farbe der Gestaltung der neuen ihrem Ausstellungstext betonen: „Erin- Suche nach Erinnerungen, Erzählungen Dauerausstellung, um die gleiche Auf- nern an die Vergangenheit – Perspektiven und Zeitzeugnissen, die mit der Geschich- merksamkeit der Besuchenden erhalten für die Zukunft: Wie gehen wir mit die- te des Augustaschachtes, Ausländern in zu können. Es enthält Platz für einen sem Ort, der historischen Verantwor- der Region und Einheimischen im Süd- Haupttext, eine Vitrine für Exponate und tung und der Erinnerung um?“ Mit der kreis während des Krieges verbunden einen Monitor mit PC für digitale und Eröffnung der neuen Dauerausstellung sind. In den folgenden Monaten führten multimediale Inhalte. Das Bildungsmo- am 1. April 2020 geben sie ihre Projekt- sie Interviews mit Zeitzeug_innen, be- dul soll von schulischen Projektgruppen ergebnisse öffentlich weiter. fragten Passant_innen im öffentlichen für die Vorstellung von Ergebnissen ihrer Raum nach deren Wissen über die Ge- Projektarbeit zu Themen, die mit der Ge- denkstätte Augustaschacht und setzten denkstätte Augustaschacht verbunden sich mit den Kurator_innen der neuen sind, genutzt werden können. Auf diese Dauerausstellung der Gedenkstätten Weise soll mit temporären Inhalten, die auseinander. nach Möglichkeit jährlich wechseln sol- Im Juni führte die Projektgruppe mit len, thematisch eine Brücke in die Gegen- dem Ausstellungsteam einen Workshop wart geschlagen werden, indem aktuelle

Geförderte Gedenkstätten Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte

Maike Weth, Leiterin der Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte

Die Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte wird im Rahmen der Schwer- punktförderung der Stiftung niedersäch- sische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenk und Dokumentationsstätte KZ Drütte Wehrstraße 29 D – 38226 Salzgitter Tel.: +49 (0) 5341 – 4 45 81 Fax: +49 (0) 5341 – 17 92 13 [email protected] www.gedenkstaette-salzgitter.de

122 „Ich saß den ganzen Tag auf dem Kopf für die Öffentlichkeit zugänglich, die Auf- Serbser, hatte 2019 einen kreativen eines Menschen, ein Mann. Sein Kopf sicht übernahmen Ehrenamtliche. Die Schwerpunkt. Im Rahmen eines Tages- war schmutzig, sein Haar fettig und ver- Führungen und Seminare sind von den seminars bot die 19-Jährige eine Ge- knotet. Und es stank. Überall stank es angestellten Historikerinnen, den zwei denkstättenführung und einen Vortrag bestialisch. Mein blau-weißer Stoff über- abgeordneten Lehrkräften sowie zusätz- zu Kunst im Nationalsozialismus an und nahm diesen Geruch, diesen Schmutz. lichen Honorarkräften, die dank der För- gab den Teilnehmer_innen anschließend In meinen Nähten krabbelte es überall. derung durch die Stiftung niedersächsi- die Möglichkeit, das Gehörte künstlerisch Winzige Tiere, die sich in den Haaren sche Gedenkstätten eingesetzt werden umzusetzen. des Mannes einnisteten und sie ver- können, durchgeführt worden. Auch diese Veranstaltung war Teil des seuchten. […]“ (Auszug aus dem Gedicht Das jährlich stattfindende Seminar mit vielfältigen Jahresprogramms rund um „Die Mütze“ von Alina R.) Auszubildenden der Salzgitter Flachstahl die Gedenkstätte KZ Drütte. Anlässlich Im Januar 2019 begleiteten die Mitar- GmbH war auch 2019 ein Schwerpunkt des Gedenktages für die Opfer des Natio- beiter_innen der Gedenk- und Dokumen- in der Bildungsarbeit. Unter dem Titel nalsozialismus brachte das Diwan Thea- tationsstätte KZ Drütte den 9. Jahrgang „Lebensrhythmus – Überlebensrhyth- ter (Osnabrück) Lessings „Nathan der des Kranichgymnasiums Salzgitter bei mus“ setzten sich die Teilnehmer_innen Weise“ auf die Bühne. Auf großes Inter- einer Projektwoche rund um die Ge- mit Geräuschen im KZ Drütte ausein- esse stieß der Vortrag von Dr. Bernhard schichte der Stadt. Eine Gruppe setzte ander. Strebel, der seine aktuellen Forschungs- sich mit Objekten aus den Konzentrations- „Inzwischen mussten wir mit einer ergebnisse zum KZ Watenstedt/Leinde lagern auseinander und verarbeitete ihre langen Eisenstange einen Stempel mit vorstellte. Auch eine Führung auf dem Gedanken durch kreatives Schreiben. Ent- einem Hammerschlag auf die Granate Gelände des ehemaligen KZ Salzgitter- standen sind Gedichte wie „Die Mütze“ schlagen, woraus das Fertigungsdatum Bad war gut besucht. Beide Veranstal- von Alina R. und der Fertigungsort hervorgingen.“ tungen erinnerten an die Einrichtung der Dieses Projekt bildete den Auftakt der (H. Brüning, Häftling im KZ Drütte) zwei Außenlager vor 75 Jahren. Bildungsarbeit in 2019. Neben vier wei- In ihrer Rede zur Gedenkstunde am Während im Herbst 1944 in Salzgitter teren mehrtägigen Seminaren mit Schü- 11. April griffen sie die Erinnerungen das Frauenlager Salzgitter-Bad einge- ler_innen, Auszubildenden und Gewerk- ehemaliger Häftlinge auf und setzten sie richtet wurde, trieben die Deutschen An- schafter_innen, wurden 2019 etwa 100 anschließend in einer Klangcollage mit fang Oktober in den niederländischen Führungen und Studientage in der Ge- Percussion-Instrumenten abstrakt um. Provinzen Limburg und Noordbrabant denkstätte durchgeführt. An weiteren Auch das eigenständige Projekt der im Rahmen der sogenannten Kirchen- zwölf Samstagen war die Gedenkstätte Freiwilligen in der Gedenkstätte, Cora razzien arbeitsfähige Männer zusammen, um sie nach Deutschland zu bringen. Unterstützt wurden die Mitarbeiter_in- 123 Zwei von ihnen waren die Brüder Arnold nen der Gedenkstätte dabei auch von und Willem Verbaarschot aus Sevenum, Praktikant_innen. 2019 hat die Gedenk- die zur Zwangsarbeit bei den Reichs- stätte KZ Drütte vier Praktika vergeben werken „Hermann Göring“ eingesetzt und eine Bachelorarbeit betreut. wurden. Im April 2019 besuchte Maarten Über die Arbeiten und Planungen wur- Verbaarschot (Sohn von Arnold) Salzgit- de auch 2019 regelmäßig in den eigenen ter, um die Haftorte seiner Angehörigen Veröffentlichungen (Website, Drucker- zu sehen. Seine Eindrücke hielt Herr Ver- zeugnisse) sowie in der Presse und auf baarschot fotografisch fest und erarbei- Portalen verschiedener Kooperations- tete so eine Ausstellung, die 2020 in der partner berichtet. So konnte ein breites Gedenkstätte KZ Drütte gezeigt wird. Publikum angesprochen werden. Eine weitere Besuchergruppe reiste Neben diesen vielfältigen Aufgaben aus Polen nach Salzgitter, um erstmals war das Jahr 2019 insbesondere durch das Grab von Marianne Marchewka zu die Arbeiten zur Erweiterung und Neu- besuchen. Die junge Mutter konnte auf gestaltung der Gedenkstätte KZ Drütte Grund ihrer TBC-Erkrankung nach Kriegs- geprägt. Im ersten Halbjahr wurden die ende nicht mit ihrer Familie in die Heimat konzeptionellen Vorüberlegungen ab- zurückkehren. Sie starb kurz darauf in geschlossen, die im zweiten Halbjahr Salzgitter und wurde auf dem Friedhof Grundlage für das Auswahlverfahren Teilnehmerin am Workshop „Kunst gegen das Vergessen“. • Teri Arias Jammertal beigesetzt. Erst 2016 fand ihre eines Gestaltungsbüros waren. Poltern, klagen, schlurfen… Die Auszubildenden präsen- Familie im Internet die Antwort auf die tierten ihre Klangcollage unter anderem vor dem ehema- Frage nach dem Verbleib von Marianne ligen Unterkunftsraum. • Jörg Dreyer Marchewka. Definition, Funktion, Typen und Effekte – im Seminar zur Vorbereitung der Gedenkstunde setzten sich die Teilneh- Auch eine Vielzahl von schriftlichen mer_innen mit Geräuschen auseinander. • Maike Weth Anfragen erreichte die Gedenkstätte 2019. Am 27. Oktober 1944 erreichte der zweite Häftlingstrans- Für die Beantwortung wurden Recher- port das KZ Salzgitter-Bad. 75 Jahre später wurde am chen im Gedenkstättenarchiv durchge- Gedenkort daran erinnert. • Maike Weth führt sowie Unterlagen der regionalen Ar- Maarten Verbaarschot (links) erzählte bei seinem Besuch in Salzgitter Fritz Wittfoot die Geschichte seines Vaters chive und der Arolsen Archives gesichtet. und Onkels. • Teri Arias

Geförderte Gedenkstätten „KZ-Häftlinge in der Rüstungspro- duktion“ – Neugestaltung der Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte

Maike Weth

124 Am 11. April 1994 eröffnete der ehe- Projektförderung übernehmen. Somit denkstättenmitarbeiter_innen und greift malige Häftling Stane Tušar die Gedenk- stand dem Projektbeginn am 1. Juli das erste Gestaltungskonzept von 1993 und Dokumentationsstätte KZ Drütte auf nichts mehr im Wege. in Form und Material wieder auf. Bis dem Werksgelände der heutigen Salz- Für die wissenschaftliche Mitarbeit Ende 2019 fanden mehrere Treffen mit gitter AG. Ein etwa 200 qm großer Raum, (50%) im Projekt wurde Julia Braun einge- den Gestaltern statt, um die Planungen ein Teil des früheren Blocks IV, wurde für stellt. Die Historikerin ist seit mehreren weiter auszuarbeiten. Im Innenbereich eine Dauerausstellung zur Verfügung ge- Jahren im Gedenkstättenbereich tätig. müssen einige Anpassungen - beispiels- stellt. 25 Jahre später werden nun die Nach einer Einarbeitung erfolgten zu- weise hinsichtlich der zu präsentieren- bisherigen Flächen um den übrigen Teil nächst Archivrecherchen zu den geplan- den Objekte - vorgenommen werden, des ehemaligen Blocks IV sowie um das ten Ausstellungsmodulen Krankenrevier zusätzlich soll der Außenbereich eine damalige Krankenrevier und den Leichen- und Leichenraum sowie zu dem Außen- stärkere Betonung erfahren, um die raum (ca. 1000 Quadratmeter) erweitert. lager bei Salzgitter-Gebhardshagen. Sichtbarkeit und Wahrnehmung der In diesem Bereich soll unter dem Titel Die Projektassistenz (50%) übernahm Gedenkstätte zu erhöhen. „KZ-Häftlinge in der Rüstungsprodukti- Dr. Teri Arias Ortiz, die bereits seit 2018 Für einen Einblick in die laufenden Ar- on“ eine neue Dauerausstellung entste- als Assistenz der Gedenkstättenleitung beiten wurde unter www.neugestaltung. hen. In den Jahren 2016 bis 2018 erfolg- arbeitet. Ihr obliegt unter anderem die gedenkstaette-salzgitter.de ein Projekt- ten bereits die dafür notwendigen Vor- Koordination zwischen den verschiede- Blog eingerichtet. Dort wird nicht nur arbeiten. nen Projektbeteiligten. Dazu zählen ne- über die aktuellen Entwicklungen berich- Im ersten Halbjahr 2019 wurden, ge- ben der Gedenkstätte KZ Drütte und tet, sondern auch der eine oder andere meinsam mit dem wissenschaftlichen den Vertreter_innen der Salzgitter AG Blick auf die Anfänge der Gedenkstätte Beirat zur Neugestaltung, die konzeptio- seit Ende 2019 auch das Architekturbüro KZ Drütte geworfen. nellen Vorüberlegungen abgeschlossen. Kleineberg und das Team des Gestal- In der Ausarbeitung sind unter anderem tungsbüros Hinz & Kunst (beide Braun- Gestaltungsmodell zur ersten Dauerausstellung von den die Leitlinien für eine neue Dauerausstel- schweig). Letztere konnten im Auswahl- Büros Kleineberg und Hinz & Kunst, 1993. • Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V. lung und Rahmenbedingungen für die verfahren zur Neugestaltung der Dauer- Gestaltung festgehalten worden. Die ausstellung überzeugen und wurden von Der ehemalige Häftling Stane Tušar eröffnete am 11. April 1994 die Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte Ideen und Ziele des Neugestaltungs- der Jury für eine Zusammenarbeit • Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V.

teams konnten überzeugen, sodass ne- empfohlen. Im Rahmen eines Einführungskolloquiums im Auswahl- ben der Stiftung niedersächsische Ge- Ihr Entwurf orientiert sich an den kon- verfahren zur Neugestaltung wurden den teilnehmen- den Büros die Gedenkstätte und die bisherigen Planun- denkstätten drei weitere Stiftungen eine zeptionellen Vorüberlegungen der Ge- gen vorgestellt. • Julia Braun „Zeugen der Zeitzeugen“ Ein Interviewprojekt zur Geschichte der Erinnerungskultur

Maike Weth

Das letzte Projekt von Elke Zacharias, nehmensvorstand auseinander. Mitglieder toph Großmann an den Besuch von 125 Leiterin der Gedenkstätte KZ Drütte bis des Arbeitskreises Stadtgeschichte e.V. Pierre Restoueix im ehemaligen Arbeits- März 2018, befasste sich mit Begegnun- engagierten sich währenddessen im kommando „Aktion 88“: „[…] da stand gen von ehemaligen KZ-Häftlingen und ganzen Stadtgebiet: Mit Vorträgen und er in der Tür und hat in die Halle reinge- Mitgliedern des Gedenkstättenträgerver- Rundfahrten informierten sie über die guckt und ich stand ihm so gegenüber eins. Auszubildende befragten in diesem NS-Geschichte Salzgitters. und diese Augen, die drückten alles aus, Rahmen die „Zeugen der Zeitzeugen“ In den Interviews schilderten die Be- was in dem Moment anscheinend durch zu ihren Treffen mit den Überlebenden: fragten nicht nur ihre ersten Erfolge, wie seinen Kopf durchging, nämlich diese Er- Was hat sie motiviert? Was hat sie be- eine Gedenktafel am historischen Ort, innerung an damals, wo er die Granaten rührt? Was hat sie überrascht? sondern auch die großen Widerstände, bauen musste, die möglicherweise auch Diese Projektidee wurde 2019 in Erin- die Gedanken ans Aufgeben und die bis gegen sein eigenes Volk eingesetzt wur- nerung an Elke Zacharias noch einmal heute offenen Fragen. den. Und dieser Blick, […] der ist eben aufgegriffen und thematisch erweitert. Wesentlicher Motor in der Auseinan- plastisch bei mir im Kopf geblieben.“ Sechs Personen aus dem näheren Um- dersetzung waren sicherlich die unter- Die Begegnungen mit Überlebenden feld der Gedenkstätte wurden in Video- schiedlichen Begegnungen mit Zeitzeu- waren und sind ein wesentlicher Teil der interviews zu ihren Erinnerungen an den gen. Sie waren geprägt von Sprach- Gedenkstättenarbeit, doch werden die zehn Jahre dauernden „Kampf“ um die hürden: „[…] und ich dachte so, naja, direkten Kontakte bald nicht mehr mög- Gedenkstätte KZ Drütte befragt. Damit Deutsch ist ja wahrscheinlich auch nicht lich sein. Diese Interviews mit den „Zeu- eng verknüpft waren Begegnungen mit seine Lieblingssprache“ (Chr. Großmann); gen der Zeitzeugen“ eröffnen eine neue Überlebenden, die selbst in die Ausein- von Unsicherheit: „ […] mal gucken was Möglichkeit, an solchen Begegnungen andersetzungen mit Politik und damali- kommt, oder wie du dich, wie man weiterhin teilzuhaben. ger Unternehmensleitung eingebunden sich fühlt. Das weiß man gar nicht […]“ waren. Die einzelnen Teilnehmer_innen (E. Wolnik) und Betroffenheit: „Er Aus 8,5 Stunden Videomaterial sind Film-Clips zu 17 haben aus ihrer jeweiligen Position her- [Jacques Klajman] stand neben mir und verschiedenen Themen entstanden. • Screenshot aus dem Bearbeitungsprogramm aus zum Teil sehr unterschiedliche Er- sagte zu mir: ‚Ich kann jetzt keinen Deut- fahrungen gemacht. Der damalige Be- schen sehen‘. Das hat mich damals sehr, Das Projekt wurde von Jana Göhe durchgeführt. Die Bearbeitung des Filmmaterials wurde ehrenamtlich von triebsrat der Salzgitter AG mit seinem sehr getroffen […].“ (A. Materne). Ediz Nisanci übernommen. • Teri Arias

Vorsitzenden Walter Gruber hatte den In den Erinnerungen an die Begegnun- 1985 wurde diese Gedenktafel an einer Wand des ehe- historischen Ort fast täglich vor Augen gen sind aber auch sehr besondere Augen- maligen KZ Drütte vom Betriebsrat angebracht. Sie war lange der einzige sichtbare Hinweis auf die Geschichte und setzte sich intensiv mit dem Unter- blicke verankert. So erinnert sich Chris- des Ortes. • Elke Zacharias

Geförderte Gedenkstätten Gedenkstätte Esterwegen

Dr. Andrea Kaltofen, Geschäftsführerin der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Die Gedenkstätte Esterwegen wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk­ stätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenkstätte Esterwegen Hinterm Busch 1 D – 26897 Esterwegen Tel.: +49 (0) 5955 – 98 89 50 [email protected] www.gedenkstaette-esterwegen.de www.facebook.com/GedenkstaetteEsterwegen

126 Aus Anlass des Tages des Gedenkens des Konzentrationslagers Esterwegen In einem gemeinsamen Projekt der an die Opfer des Nationalsozialismus von 1934 bis 1936, eine Sonderausstel- Stiftung Gedenkstätte Esterwegen und zeigte die Gedenkstätte Esterwegen am lung der Universitätsbibliothek Olden- der Universität Osnabrück untersuchten Sonntag, dem 27. Januar den Dokumen- burg. Mit der Ausstellungseröffnung am Studierende der Universität Osnabrück tarfilm „Erna de Vries. Ich wollte noch 28. April wurde gleichzeitig aller Opfer mit nichtinvasiven Prospektionsmetho- einmal die Sonne sehen“. Der Film des des 2. Weltkriegs und der nationalsozia- den im September den Friedhof sowie Vereins „Zeitlupe“ basiert auf einem In- listischen Gewaltherrschaft gedacht, die das Gelände des früheren Strafgefange- terview mit der Holocaust-Überlebenden im Emsland am 26. April 1945 mit der Ein- nenlagers Aschendorfermoor, um die Erna de Vries aus dem Jahr 2006. Im setzung eines ersten Nachkriegslandrates genaue Lage der Erschießungsgräben Anschluss beantwortete die 95-jährige zu Ende war. Im Laufe des April 1945 wa- und Massengräber des sogenannten Auschwitz-Überlebende noch einige Fra- ren die 15 Lager im Emsland und der „Herold-Massakers“ zu erkunden. Im gen aus dem mehr als 600 Gäste umfas- Grafschaft Bentheim befreit bzw. geräumt April 1945 waren mehr als 150 Gefange- senden Plenum. Seit 1998 erzählt Erna worden, und auch das Leid der Gefange- ne nach einem Befehl des Hochstaplers de Vries jungen Menschen ihre Lebens- nen hatte ein Ende gefunden. Willi Herold, auch „der Henker vom Ems- geschichte und hält die Erinnerung an Die Gedenkstätte Esterwegen gehört land“ genannt, im Rahmen eines End- ihre Mutter, die in Auschwitz umkam, zu den zwölf Gründungsmitgliedern der phaseverbrechens ermordet worden. wach. Für ihren Einsatz gegen das Ver- neuen Arbeitsgemeinschaft „Frühe Kon- Im November kürte der Niedersächsi- gessen ehrte die Gemeinde Lathen sie zentrationslager“. Ziel der AG ist neben sche Heimatbund (NHB) die 1938 bzw. 2004 mit der Ehrenbürgerwürde und be- einem Bundesländerübergreifenden 1941/42 gepflanzte Baumallee an der ehe- nannte 2016 den Platz vor dem Rathaus Wissenstransfer die gegenseitige Unter- maligen Lagerstraße in der Gedenkstätte nach ihr. Im Jahr 2012 erhielt sie vom stützung bei wissenschaftlichen For- zur „Allee des Monats“ als stille Zeitzeu- Landkreis Emsland die Emslandmedaille schungsvorhaben sowie ein Austausch gin des dunkelsten Kapitels auch der nie- und 2014 das Bundesverdienstkreuz der über die historisch-politische Bildungs- dersächsischen Geschichte. Die Historie Bundesrepublik Deutschland. arbeit. Konkret vorbereitet werden be- der Pflanzung, aber auch die Besonder- „‘Ich füge mich nicht, ich demonstrie- reits eine öffentliche Tagung sowie eine heit durch die Vielzahl an Baumarten er- re…‘ – Leben und Wirken von Carl von gemeinsame Ausstellung für das Themen- hebe diese zu einer der wertvollsten Alle- Ossietzky“ – unter diesem Titel eröffnete jahr 2023, in dem sich die Machtüber- en und zugleich zu einem besonderen die Gedenkstätte Esterwegen anlässlich gabe an die Nationalsozialisten und mit Mahnmal an die Opfer der nationalsozia- des 81. Todestages von Carl von Ossietz- ihr die Errichtung der ersten Konzentrati- listischen Gewaltherrschaft in Nieder- ky, Friedensnobelpreisträger und Häftling onslager zum 90. Mal jährt. sachsen, hieß es seitens des NHB. Die Stiftung Gedenkstätte Esterwegen sche, geschichtswissenschaftliche, di- 127 kann sich im Rahmen des Bundesförder- daktische und kulturwissenschaftliche programms „Jugend erinnert“ über eine Ansätze, um neue Annäherungen an ge- Fördersumme von 390.000 Euro für das waltüberformte Orte und neue Formen gemeinsam mit der Universität Osna- der Vermittlung in der Erinnerungskultur brück (Interdisziplinäre Arbeitsgruppe zu entwickeln. „Konfliktlandschaftsforschung“) und der Im Herbst 2017 erschien der Ausstel- Historisch-Ökologischen Bildungsstelle lungsbegleitband „Hölle im Moor. Die Papenburg eingereichte Projekt „Boden | Emslandlager 1933–1945“ im Wallstein Spuren“ freuen. Durch das Bundesförder- Verlag in Göttingen. Wegen der großen programm, das bis 2022 mit 17 Millionen Nachfrage konnte noch im gleichen Jahr Euro ausgestattet wird, sollen Gedenk- eine zweite (durchgesehene) Auflage auf stätten und Dokumentationszentren den Markt gebracht werden. 2019 gab neue Bildungsformate erarbeiten und die Stiftung Gedenkstätte Esterwegen neue Kooperationen eingehen können. die dritte, nochmals durchgesehene Auf- Das Projekt „Boden | Spuren“ der Ge- lage heraus. Der Begleitband gibt einem denkstätte Esterwegen richtet sich an breiten Publikum einen Überblick über junge Erwachsene, die sich in Sommer- die Geschichte der Emslandlager und akademien der Lagergeschichte im Ems- verortet sie im Kontext der Geschichte land nähern sollen. Mit modernsten na- des „Dritten Reiches“. Die Publikation turwissenschaftlichen Methoden können zeigt zahlreiche bislang unbekannte his- Eröffnung der Ausstellung „‘Ich füge mich nicht, ich demonstriere…‘ – Leben und Wirken von Carl von sie an ausgewählten Orten zerstörungs- torische Dokumente und Fotografien. Ossietzky“, Esterwegen, 28.04.2019 (v.l.n.r.: Dr. Andrea frei im Boden verborgene Spuren der Im Mittelpunkt stehen dabei die harte Kaltofen, Heiner Reinert, Alexandra Otten, Hermann Vinke, Hermann Bröring) • Stiftung Gedenkstätte Lager und der zugehörigen Friedhöfe Zwangsarbeit, das Leben und Leiden Esterwegen lokalisieren und ihre Erkenntnisse und sowie der Tod der Häftlinge. Der Band Prospektion auf dem Gelände des ehemaligen Strafge- Ergebnisse anschließend beispielsweise informiert aber auch über Täter, Profi- fangenenlagers Aschendorfermoor (Studierende der Universität Osnabrück), 05.09.2019 • Stiftung Gedenk- durch 3D-Modelle für die Öffentlichkeit teure und das zivile Umfeld der Lager. stätte Esterwegen visualisieren und darstellen. Das Projekt Prospektion auf dem Gelände des ehemaligen Straf- erstreckt sich über drei Jahre und ver- gefangenenlagers Aschendorfermoor (Studierende der Universität Osnabrück) • Stiftung Gedenkstätte bindet geoarchäologische, archäologi- Esterwegen

Geförderte Gedenkstätten Karl Salling-Møller aus Dänemark in Esterwegen

Maren Weers

128 In kleinem Kreis fand am 17. Oktober - Aufgrund der harten Arbeit, schlechten Møller und seine Familie und Freunde im wie seit vielen Jahren - der Besuch des Kleidung, mangelhaften Ernährung und nächsten Jahr wieder in Esterwegen be- Dänen Karl Salling-Møller, ehemaliger des harten Winters erkrankte er an einer grüßen zu dürfen! Häftling des Außenlagers Versen des KZ Rippenfellentzündung und Tuberkulose. Neuengamme, statt. Die Mitarbeiter_in- Mitte März 1945 ordnete die SS die Rück- nen der Gedenkstätte Esterwegen haben kehr der Häftlinge nach Neuengamme sich sehr gefreut, dass der mittlerweile an. Nach Verhandlungen des schwedi- 94-Jährige auch in diesem Jahr die Ge- schen Vizepräsidenten des Roten Kreu- denkstätte besucht hat. Er kam in Beglei- zes Graf Folke Bernadotte mit SS-Reichs- tung seiner Tochter Kari und eines Enkels führer Heinrich Himmler wurden die des bereits verstorbenen Mitinhaftierten skandinavischen Häftlinge am 20. April Henning Jensen. 1945 mit weißen Bussen dort abgeholt Bei Kaffee und Kuchen konnte er noch und ins neutrale Schweden evakuiert einmal seine Geschichte Revue passieren („Aktion Bernadotte“). Am 17. Mai 1945 lassen. Als 18-jähriger dänischer Wider- kehrte Karl Salling-Møller nach Däne- standskämpfer wurde er im Mai 1944 in mark zurück und lebt seither in Ålborg. seiner Heimatstadt Nibe im Rasiersalon Auf dem Foto sieht man ihn vor der seines Vaters verhaftet. Seine Unter- Vitrine mit seinen Stiefeln und seiner grund-Gruppe war denunziert worden, Mütze, die er damals in einem Rote- eine britische Waffenlieferung erhalten Kreuz-Paket erhalten und für die Dauer- zu haben. Über diverse Gefängnisse in ausstellung der Gedenkstätte zur Verfü- Dänemark brachte man ihn schließlich gung gestellt hat. Er sagte, dieses Rote- ins KZ Neuengamme bei Hamburg. Da Kreuz-Paket habe sein Leben gerettet im dieses zu der Zeit völlig überfüllt war, harten Winter 1944/45. Seine Tochter er- wurden Außenlager des KZ Neuengam- zählte, dass er seine Häftlingsnummer me eingerichtet, u. a. in Meppen-Versen. „54573“ immer noch auswendig auf Dort war Salling-Møller mit ca. 200 wei- Deutsch aufsagen könne. teren Dänen von 1944 bis 1945 inhaftiert. Das Team der Gedenkstätte Esterwe- Aufgabe der Häftlinge war es, Panzer- gen bedankt sich für diesen sehr bewe- Karl Salling-Møller, Esterwegen, 17.10.2019 • Stiftung gräben und Unterstände auszuheben. genden Besuch und hofft, Karl Salling- Gedenkstätte Esterwegen Sonderausstellung “Luxemburg im Zweiten Weltkrieg: Zwangsrekrutierung – Streik – Umsiedlung“

Sebastian Weitkamp

In Zusammenarbeit mit dem Comité sie sich der Zwangsrekrutierung wider- 129 Pour La Mémoire De La Deuxième Guerre setzten, wurden sie von deutschen Mili- Mondiale (Luxembourg) zeigte die Gedenk- tärgerichten zu Gefängnisstrafen oder stätte Esterwegen vom 22. September zum Tode verurteilt. 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Aus- Für die Gedenkstätte Esterwegen stellung über das dunkle Kapitel der deut- wurde die luxemburgische Ausstellung schen Besatzung Luxemburgs. eigens um neue Inhalte über die Zwangs- Am 10. Mai 1940 marschierte die Wehr- rekrutierten in den „Emslandlagern“ macht in das neutrale Großherzogtum erweitert. Luxemburg ein, und Adolf Hitler ließ Die stellvertretende Landrätin Margret durch seinen Gauleiter Gustav Simon Berentzen und der Chef du Service de la eine deutsche Zivilverwaltung aufbauen. Mémoire de la Seconde Guerre mondiale Die NS-Führung behandelte das besetz- Jean-Claude Müller aus Luxemburg be- te Land faktisch wie einen Teil des Deut- grüßten die Gäste und betonten in ihren schen Reiches, obwohl es nicht offiziell Eröffnungsreden die enge Verbunden- annektiert wurde. Die Anordnung der heit zwischen Luxemburg und Deutsch- Zwangsrekrutierung luxemburgischer land in einem vereinten Europa. Sie un- Männer für die Wehrmacht 1942 stieß terstrichen zudem die langjährige, aktive dann auf deutlichen Widerstand im gan- Erinnerungsarbeit zwischen luxemburgi- zen Land. In der Folge kam es zu einem schen Opferverbänden und dem Aktions- Generalstreik – eine einzigartige Reakti- komitee für ein DIZ Emslandlager e.V. so- on auf das völkerrechtswidrige Vorge- wie der Stiftung Gedenkstätte Ester- hen des nationalsozialistischen Deutsch- wegen. land. Der Streik wurde erbarmungslos niedergeschlagen. Am Ende standen Todesurteile, Gefängnisstrafen und Um- siedlungen in das Deutsche Reich. Viele Eröffnung der Ausstellung „Luxemburg im Zweiten der gegen ihren Willen in die Wehrmacht Weltkrieg: Zwangsrekrutierung – Streik – Umsiedlung“, gezwungenen Luxemburger gerieten in Esterwegen, 22.09.2019 (v.l.n.r.: Dr. Andrea Kaltofen, Dr. Sebastian Weitkamp, Margret Berentzen, Jean-Claude die Mühlen der Wehrmachtsjustiz. Weil Müller) • Stiftung Gedenkstätte Esterwegen

Geförderte Gedenkstätten Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Martin Guse, Leiter der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Die Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau wird im Rahmen der Schwer- punktförderung der Stiftung niedersäch- sische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Königsberger Straße 15 D – 31618 Liebenau Tel.: +49 (0) 5023 – 1575 [email protected] www.martinguse.de/pulverfabrik Jugend-AG im Internet: www.japl.de

130 Im Jahr 2019 beging die Dokumenta- durch Führungen, ganztägige Projekte Mit den Nachkommen ehemaliger tionsstelle Pulverfabrik Liebenau ihr 20- und mehrtägige Workshops sowie der Zwangsarbeiter_innen von der Insel Ter- jähriges Bestehen als zivilgesellschaft- Einrichtung eines Lehrpfades im Werks- schelling (Niederlande) begab sich auch lich wirkender Verein. Im Mittelpunkt der gelände. Der Vertrag regelt zudem die der 99-jährige ehemalige Zwangsarbeiter Jubiläumsveranstaltungen standen die haftungsrechtlichen Fragen sowie die Piet Kaspers vom 4. bis 7. September 2019 „Internationalen Begegnungstage“ vom Gefährdungs- und Sicherheitsaspekte auf Spurensuche in Liebenau, wobei ein 6. bis 14. August 2019. für alle Besucher_innen der Anlage, die regionales Fernsehteam seine Erinne- Auch im Jahr 2019 stieg das Interesse aufgrund der Altlasten und des baulichen rungen aufnahm. an den Bildungs- und Vermittlungsange- Zustandes der 400 ehemaligen Produkti- Die vereinsinterne Jugend-AG führte im boten mit circa 2.500 Teilnehmer_innen onsgebäude zu berücksichtigen sind. Januar einen ganztägigen Planungswork- deutlich. Neben den 59 inhaltlich-histori- Für die künftigen Ausstellungen der shop durch und entsandte am 21. Januar schen Werksführungen, den Vorträgen Dokumentationsstelle sicherten Vereins- drei Mitglieder zur Jugendtagung des und Ausstellungen nahmen fünf Schul- mitglieder vom 24. bis 26. Juli 2019 wich- Niedersächsischen Landtages, die unter klassen oder Kurse von Oberschulen und tige Relikte (Türen, Schilder von Produk- dem Motto: „Wie erinnern wir in Zukunft? Gymnasien der Region an ein- oder mehr- tionsgebäuden, Beschläge, Lampen) aus Mitmachen statt leerer Rituale“ statt- tägigen Workshops teil. unterschiedlichen Zeitebenen der Werks- fand. Neben ihren Pflege- und Instand- Die Steigerung der Anzahl der Werks- nutzung. setzungseinsätzen auf den hiesigen führungen erfolgte bereits seit 2018 Erfreulicherweise konnte die Doku- Kriegsgräberstätten und Gedenkorten durch einvernehmliche Absprachen mit mentationsstelle auch im Jahr 2019 zwei sowie dem besonderen Einsatz im Pro- der „Eickhofer Heide GmbH & Co KG“ ehemalige Zwangsarbeiter der Pulver- jekt „Schicksalsklärung“ (Namenstafeln als neuer Eigentümerin der ehemaligen fabrik in Liebenau empfangen. Vom 5. bis für Todesopfer) wirkte sie arbeitsinten- Pulverfabrik (seit 1.Februar 2018). Die 8. Mai 2019 war der 93-jährige Karl Payuk siv bei den Jubiläumsveranstaltungen fruchtbare Zusammenarbeit mündete aus der Ukraine zu Gast. Der CVJM Lan- und Jugendaustauschprogrammen mit. am 28. Oktober 2019 in die Unterzeich- desbergen präsentierte die Ausstellung Zwei Mitglieder beteiligten sich am nung des neuen Vertrages für das Be- der Dokumentationsstelle zu seinem internationalen Jugendkunstprojekt tretungsrecht der Werksanlage. Neben Lebensweg und lud zum sehr gut be- „IMAGinE“, das im April 2019 in Liebenau dem ständigen Betretungsrecht für Mit- suchten Gespräch mit dem Zeitzeugen begonnen und im Oktober mit einem arbeiter_innen der Dokumentationsstelle ein. Zum gleichen Zweck besuchte Karl Aufenthalt in Minsk (Belarus) fortgesetzt beinhaltet er die Möglichkeiten einer er- Payuk am 7. Mai 2019 eine Schul-Arbeits- wurde. Nach mehrmonatiger Vorberei- heblich verbesserten Vermittlungsarbeit gruppe der Oberschule Uchte. tung konnte am 16. November 2019 die mit der AG erarbeitete Ausstellung am 11. Dezember 2019 als Mitveranstal- 131 „PULVERFABRIK LIEBENAU # Foto- ter den Vortrag „Völkische Landnahme – projekt mit Jugendlichen aus Belarus, zu rechtsextremen Akteuren im ländli- Deutschland, Polen und Ukraine 2014“ chen Raum“ mit der Journalistin Andrea in der „Auekunst Liebenau“ eröffnet Röpke an. werden. Mit den Umgestaltungsmaßnahmen Neben der bereits im Jahr 2015 ver- zur Gedenk- und Bildungsstätte im 1992 traglich fixierten Zusammenarbeit mit errichteten Trakt der Schule Liebenau dem Mehrgenerationenhaus Stolzenau kann in der zweiten Jahreshälfte 2020 und dem Verein „Alte Synagoge Peters- begonnen werden, wenn die letzten hagen“ intensivierte die Dokumentations- Schüler_innen der Hauptschule Liebe- stelle die Kooperation mit weiteren Ge- nau ihre Abschlusszeugnisse erhalten denkorten und -initiativen in der Region haben. Für die Umnutzung der Gedenk- Nienburg, Minden und Porta Westfalica, stätte am Ort des ehemaligen „Arbeits- vor allem aber mit dem „Arbeitskreis erziehungslagers Liebenau“ fand im 5. Januar: Gruppenfoto der Jugend-AG beim „Friedens- Stolpersteine Rehburg“ und dem „Ar- Herbst 2019 ein entsprechender Ideen- platz“ anlässlich ihres Planungsworkshops. • Dokumen- beitskreis Gedenken Marklohe“, um für wettbewerb mit vier beteiligten Gestal- tationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. das Jahr 2020 gemeinsame Recherche- tungsbüros statt. 5. Mai: Gruppenführung, hier im Produktionsgebäude 4205 der ehemaligen Pulverfabrik. • Dokumentations- und Vortragsprojekte zu ehemaligen stelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Zwangsarbeiter_innen vorzubereiten. 6. Juni: Gedenkzeremonie auf der Kriegsgräberstätte Historisch relativierenden, rechtspopu- Deblinghausen-Hesterberg anlässlich des Workshops mit Schüler_innen des Albert-Schweizer-Gymnasiums listischen oder -extremen Äußerungen Nienburg/W. und der „Arrowhead Park High School“, sowie Anfeindungen gegenüber der Ge- Las Cruces (New Mexico, USA) • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. denkstättenarbeit musste in den Veran- 6. September: Bei seinem Besuch in Liebenau informier- staltungen und im Arbeitsalltag der Do- te sich der 99jährige ehemalige Zwangsarbeiter Piet kumentationsstelle im Jahr 2019 stärker Kaspers auch in der Zwangsarbeiterkartei der Dokumen- tationsstelle. • Dokumentationsstelle Pulverfabrik als bisher begegnet werden. Als präven- Liebenau e.V. tive Maßnahmen nahm die Dokumenta- 7. November: Mitarbeiter_innen der Straßenmeisterei tionsstelle abstimmende Gespräche mit Marklohe-Lemke stellten sich nach der Führung einem Gruppenfoto und versprachen ein Wiederkommen. der örtlichen Polizei auf und organisierte • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Geförderte Gedenkstätten Projekt 20 Jahre Dokumentationsstelle

132 Vom 6. bis 14. August 2019 beging die unterschiedlichen Zeiten an die Familien- Am 11. August 2019 trafen sich 180 Dokumentationsstelle ihr 20-jähriges Ju- angehörigen weitergetragen worden Gäste aus Politik, Wirtschaft und Zivil- biläum im Rahmen von internationalen waren. Sie diskutierten über die bis in gesellschaft zur offiziellen Feierstunde Begegnungstagen mit Gästen aus Bela- das spätere Familienleben hineinwirken- anlässlich des Jubiläums in der Aula der rus, Frankreich, Italien, den Niederlanden, den Folgen der Zwangsarbeit: über Ess- Liebenauer Schule, darunter Nieder- Polen und der Ukraine. Die Nachkommen gewohnheiten, den besonderen Wert sachsens Kultusminister Grant Hendrik der ehemaligen Zwangsarbeiter_innen der von Lebensmitteln, das Misstrauen ge- Tonne, Bundes- und Landtagsabgeordne- Pulverfabrik Katerina Derewjanko, Evgenia genüber „manchen Menschen“ und te der Region, Nienburgs Landrat Detlev Tkatschenko und Cornelis Brouwer, Ivan auch über mitunter aggressive Schübe Kohlmeier sowie Dr. Jens-Christian Dudar, Jouke Wind, Berend Smit, Stefan bei Vater oder Großvater, die sie auf das Wagner von der Stiftung niedersächsi- Tarapacki und Silvio Marconcini folgten Erlebte zurückführten. sche Gedenkstätten. der Einladung ebenso, wie die Vertreter_ Bei der Gedenkfeier am 10. August innen von osteuropäischen Partnerorga- 2019 konnte mit den Gästen auf der Kriegs- nisationen. Fast alle hatten die Dokumen- gräberstätte Deblinghausen-Hesterberg tationsstelle in den zwanzig Jahren zu- ein wesentlicher Schritt im Projekt vor schon einmal oder mehrfach be- „Schicksalsklärung“ vollzogen werden. sucht, freuten sich auf ein Wiedersehen Mit der ausführenden Fachfirma war es mit anderen Betroffenen und interes- zuvor gelungen, die stählernen Erinne- sierten sich für neue Erkenntnisse und rungstafeln für die 653 bisher nament- den aktuellen Sachstand zum Gedenk- lich ermittelten Todesopfer der NS-Zwangs- stättenbau. Im Werksgelände, bei den arbeit in der Pulverfabrik fristgerecht Produktionsgebäuden und an den Lager- fertigzustellen und an drei vorbereiteten standorten folgten sie den Spuren ihrer Betoninstallationen anzubringen. Für 8. August: Gemeinsame Erkundungen im „Trockenring“ Verwandten und ließen sich (neue) In- alle Mitwirkenden der Gedenkstunde der ehemaligen Pulverfabrik. • Kokshaikin/Dokumenta- halte, Fotos und Dokumente zeigen und war es ein ganz besonderer Moment, als tionsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. erläutern. Die Gäste berichteten über die Familie von Stefan Tarapacki den 10. August: Maryia Streblow von der Jugend-AG über- setzte bei der Gedenkfeier: Hier die Grußworte von ihre mittlerweile verstorbenen Väter Namen des im Alter von 33 Jahren im Stefan Tarapackis Tochter Jeanine Marciniak und Enkelsohn Toni. • Dokumentationsstelle Pulverfabrik oder Mütter – mitunter Großeltern, und „Arbeitserziehungslager“ Liebenau um- Liebenau e.V. deren Erlebnisse, die von den Zeitzeug_ gekommenen Vaters und Großvaters 10. August: Eine Blume für den unbekannten Urgroß- innen meist sehr spärlich und zu ganz dort suchte und fand. vater… . • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Projekt IMAGinE – Internationales Jugend-Kunstprojekt 2019/20

In Zusammenarbeit mit den Partner- kes, die unterschiedlichen Schicksale, gung“ in Minsk ihrem Hobby nachgehen – 133 organisationen aus der Ukraine und Bela- die Berichte und Fotografien ehemaliger entstanden neue Skizzen und Kunst- rus sowie der Kunstschule Mittelweser Zwangsarbeiter_innen hätten sie ganz werke. Im Jahr 2020 werden sich zwei (Stolzenau) entstanden bereits im Jahr besonders motiviert, teilten die Künst- Projektphasen in Schostka (Ukraine) und 2018 die Ideen für ein neues Angebot in ler_innen mit. Ebenso seien sie über- Liebenau anschließen. der internationalen Jugendbildungsar- rascht gewesen, dass die Betreuer_in- Zudem skizzierten und skizzieren die beit der Dokumentationsstelle. So fanden nen keine engen Vorgaben erteilt hätten, jungen Künstler_innen ihre Ideen für sich 15 Kunstschüler_innen aus Gomel sondern ausdrücklich zur Umsetzung ei- mindestens ein individuelles Kunstwerk, (Belarus), Schostka (Ukraine) und dem gener Gedanken und Empfindungen in das sie bis August 2020 in ihrer jeweili- Landkreis Nienburg/Weser vom 8. bis der künstlerischen Auseinandersetzung gen Heimat fertigstellen wollen. Die 14. April 2019 zu einem Pilotprojekt zu- animiert hätten. persönlichen Zeichnungen, Objekte oder sammen, in dem sie sich inhaltlich-ler- Im Abschlussstatement sprachen sie Skulpturen sollen in eine Ausstellung nend und künstlerisch-gestaltend mit sich vehement für eine Fortführung des münden, die sowohl in den Gedenk- und der Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Kunstprojektes aus. Bildungsstätten in Liebenau und Schostka der Pulverfabrik Liebenau auseinander- Nach erfolgreicher Einwerbung von auf Dauer öffentlich präsentiert werden setzten. Die Länderteams offenbarten Fördermitteln in der Region und durch soll. sehr schnell eine besondere Ideenvielfalt den Zuwendungsbescheid der Stiftung und Kreativität, wobei individuelle Skizzen Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und Ideen wie selbstverständlich in die (EVZ) in Berlin konnte dem Wunsch ent- Teamarbeit einflossen. sprochen werden. Vom 10. bis 17. Okto- Bei der Abschlusspräsentation stellten ber 2019 trafen sich die Gruppen in Minsk sie ihre Team-Gemälde in der Größe von (Belarus) wieder, diesmal mit insgesamt jeweils 2,00 x 0,90 Metern vor. In sehr 21 jungen Teilnehmer_innen. Den Besu- kurzer Zeit waren drei Kunstwerke ent- chen der Gedenkstätten Chatyn und 10. April: Erste Skizzen entstanden auf dem Werksgelände • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. standen, die Erstaunen und starken Beifall Dalwa schlossen sich Gesprächsrunden bei Förderern und Gästen hervorriefen. mit belarussischen Frauen und Männern 11. April: Die individuellen Skizzen der Künstler_innen wurden gemeinsam diskutiert und in das Teamgemälde Die Begegnung mit den ausländischen an, die als Kinder der NS-Verfolgung aus- integriert. • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Gruppen, das integrative Grundkonzept gesetzt waren. Gemeinsam mit den Zeit- des Projektes, die neuen Informationen zeug_innen – die in der Kunst-AG der 13. April: Abschlusspräsentation der Künstler_innen für Förderer, Vereinsmitglieder und Gäste. • Dokumentations- zur NS-Geschichte, die Relikte des Wer- Internationalen Vereinigung „Verständi- stelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Geförderte Gedenkstätten „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg

Dr. Carola Rudnick wissenschaftliche und pädagogische Leiterin der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg

Die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüne- burg wird im Rahmen der Schwerpunkt- förderung der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

„Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg e.V., Am Wienebütteler Weg 1, D-21339 Lüne- burg, Tel.: +49 (0) 4131 60-20970, [email protected], www.pk-lueneburg.de/gedenkstaette

134 Die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüne- sage zur Sonderausstellung „Frauen als Am 12. Februar wurde im Beisein von burg befindet sich auf dem Gelände der Opfer der T4“, die mit einer Spenden-Le- Angehörigen und zweier Pflegeschüle- Psychiatrischen Klinik Lüneburg. Sie er- sung verbunden wurde. Bei dieser Spenden- rinnen der Krankenpflegeschule Lüne- forscht und vermittelt am historischen Lesung lasen über vierzig Leser_innen burg für Anna Meyer vor ihrem Wohn- Ort die Beteiligung der Anstalt an der fünf Stunden am Stück ausgewählte und haus in Scheeßel ein Stolperstein verlegt. „Aktion T4“, die Ermordung von Kindern dramaturgisch aufeinander abgestimmte Anna Meyer war Patientin der Lünebur- und Jugendlichen mit Behinderungen Dokumente zur „Aktion T4“ in der Region ger Heil- und Pflegeanstalt und wurde und die Ermordung von Patient_innen aus- Lüneburg vor. Die Musiker Hans-Malte am 9. April 1941 im Rahmen der „Aktion ländischer Herkunft. Der Ort steht exem- Witte (Saxophon), Frank Füllgrabe (Gi- T4“ in die Zwischenanstalt Herborn und plarisch für die „Kinder-Euthanasie“: tarre) und Dr. Sebastian Stierl (Cello) von dort am 12. Mai 1941 in die Tötungs- Von den 5.000 Kindern und Jugendlichen, rundeten die Lesung mit musikalischen anstalt Hadamar verlegt. Ihre Biografie die diesem Mordprogramm zum Opfer Pausen ab. Viele der über neunzig Zuhö- war von den Pflegeschülerinnen im Rah- fielen, wurden mindestens 300 bis 350 in rer_innen blieben von Anfang bis Ende. men eines Seminars erforscht worden. der „Kinderfachabteilung“ Lüneburg er- Ihre Spenden kamen der 164-seitigen Dr. Rudnick hielt einen Vortrag über „Die mordet. Weiterhin wurde die Lünebur- Publikation zur Sonderausstellung zu- ‚Aktion T4‘ und ihre Realisierung in der ger Anstalt als eine von elf „Ausländer- gute, die mit dem Titel „Still, stumpf, be- Provinz Hannover”, der unter gleichna- sammelstellen“ genutzt, in denen unter schäftigt mit Kartoffelschälen, verlegt“ migem Titel im Herbst 2019 in Heft 99 anderem Zwangsarbeiter konzentriert im Sommer 2019 erschien und zur Ge- der Rotenburger Schriften erschien. und ebenfalls ermordet wurden. Seit 2015 denkfeier am 25. August vorgestellt Am 22. November wurden sieben befindet sich die „Euthanasie“-Gedenk- wurde. weitere Stolpersteine für Lüneburger stätte Lüneburg im Neugestaltungspro- Am 27. Januar wurde gemeinsam mit „Euthanasie“-Opfer im Stadtgebiet Lüne- zess. Hierzu gehören, neben der Errich- Angehörigen von Opfern der „Kinder- burg verlegt. Hierfür waren Angehörige tung eines Bildungszentrums und der Euthanasie“ durch Dr. Carola Rudnick, aus ganz Europa und Deutschland ange- Einrichtung einer neuen Dauerausstel- wissenschaftliche und pädagogische reist. Auch die zu diesen Stolpersteinen lung, die kontinuierliche Erforschung der Leiterin der „Euthanasie“-Gedenkstätte gehörigen Biografien waren von Pflege- verschiedenen Verbrechen, die mit der Lüneburg, in Bad Pyrmont die Sonderaus- schülerinnen und Pflegeschülern in Zuge Lüneburger Psychiatrie in Verbindung stellung „Den Opfern ein Gesicht, den Na- eines Seminars erforscht worden, ein stehen, und diesbezügliche Veröffent- men wieder geben“ eröffnet. Die Sonder- Stolperstein wurde auch deshalb von lichungen bzw. Veranstaltungen. ausstellung wurde bis zum 15. Februar ihnen gespendet. Die Verlegung endete Auftakt bildete am 26. Januar die Finis- im Rathaus gezeigt. mit einem Angehörigen-Treffen in der Gedenkstätte und war eines von zwei Ko- Reemtsma-Stiftung, Bingo Umweltstif- Am 7. Mai wurde die Sonderausstel- 135 operationsprojekten, die in 2019 mit der tung, Klosterkammer Hannover, Spar- lung „Frauen als Opfer der T4“ im Rat- Geschichtswerkstatt Lüneburg umge- kassen-Stiftung Niedersachsen und Lüne- haus Uelzen eröffnet. Für die Betreuung setzt wurden. Am 22. März begann die burg, VGH-Stiftung) wird das Gebäude der Ausstellung wurden von Sabine Errichtung eines Bildungszentrums mit seit Frühjahr 2019 mit einem Gesamtvo- Knapp und Dr. Rudnick acht Schüler_in- einem symbolischen „Spatenstich“ als lumen von rund 750.000 Euro gerettet nen des Uelzener Lessing Gymnasiums Bauauftakt. Dies ist die erste Teilmaß- und denkmalgerecht saniert. Durch den zu Schüler_innen-Guides ausgebildet. nahme, die im Rahmen der Neugestal- Arbeitskreis Lüneburger Altstadt konn- Diese Ausbildung war ein „Testballon“ tung der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lü- ten an einer Giebelwand zusätzlich mo- für zwölf Schüler_innen des Lüneburger neburg umgesetzt wird. Auf rund 200 m² derne Ziegel durch Klostersteine ersetzt Gymnasiums Wilhelm-Raabe-Schule, die entstehen Arbeits-, Sammlungs- und werden. dann in Kooperation mit der Geschichts- Seminarräume für die Bildungsarbeit Höhepunkte der Baumaßnahme waren werkstatt Lüneburg ab August darin aus- der Gedenkstätte. Hierfür wurde der Ge- das unerwartete Finden von sogenann- gebildet wurden, zukünftig Rundgänge denkstätte ein unter Denkmalschutz ste- ten Tau-Steinen aus dem Turm der Lüne- zum Thema „Lüneburg im Nationalsozia- hendes ehemaliges Gärtnerhaus auf dem burger Kirche St. Nicolai, der Anfang des lismus“ anbieten zu können. Gelände der Psychiatrische Klinik Lüne- 19. Jahrhunderts baufällig und daher ab- burg zur Verfügung gestellt. Es war 1832 gerissen worden war, die Anhebung des als Wohnhaus der Pächter der ersten könig- kompletten Dachstuhls um 15 cm sowie Die „Euthanasie“-Gedenkstätte befindet sich auf dem lich-hannoverschen Baumschule erbaut die achtstündige Erhitzung des gesam- Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg. • ArEGL und bis in die 1960er Jahre bewohnt ten Gebäudes auf über 80 Grad, um mit (Archiv der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg) worden. Weitere zwanzig Jahre lang dieser Wärmebehandlung einen buntge- Der Jazz-Musiker Hans-Malte Witte spielte am 26.1.2019 in den Pausen der Spenden-Lesung für das Buch „Still, diente es als Schutzhütte für Mitarbeiter_ scheckten Nagekäfer zu bekämpfen, der stumpf, beschäftigt mit Kartoffelschälen, verlegt“ innen der psychiatrieeigenen Gärtnerei tragende Konstruktionsteile befallen hat- nachdenklich stimmende Stücke auf dem Saxophon. • ArEGL und verfiel in den vergangenen vierzig te. Am 8. September besuchten mehr als Am 22.11.2019 wurden im Stadtgebiet Lüneburg in Jahren allmählich. Mit Eigenmitteln der 150 Interessierte die Baustelle anlässlich Kooperation mit der Geschichtswerkstatt Lüneburg Psychiatrischen Klinik Lüneburg, Landes- des bundesweiten Tages des offenen Denk- sieben Stolpersteine für Lüneburger „Euthanasie“-Opfer verlegt, davon zwei Steine für Heinrich Biester und denkmalmitteln, einem Zuschuss des Land- mals. Hierbei konnten sie im Rahmen von Dieter Lorenz direkt vor der „Euthanasie“-Gedenkstätte. kreises Lüneburg und Fördergeldern Baustellenführungen erleben, wie dieses • ArEGL von verschiedenen Stiftungen (Deutsche Baudenkmal mithilfe von Handwerks- Bei der Verlegung von Stolpersteinen in Lüneburg kamen am 22.11.2019 Angehörige aus ganz Deutschland Stiftung Denkmalschutz, Hermann kunst gerettet wird. und Europa zusammen. • ArEGL

Geförderte Gedenkstätten 136 Zwischen März und Mai entwickelte ein spieler_innen des Gymnasiums Herder- einem ein- oder mehrtägigen Programm Wahlpflichtkurs des Gymnasiums Herder- schule die Möglichkeit, ein Gespräch mit teil. Drei dieser Veranstaltungen waren schule in Lüneburg mit Unterstützung der Friedrich Buhlrich zu führen. Friedrich deutsch-polnische Jugend-Begegnun- „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg das Buhlrich ist Bruder von insgesamt drei gen und zwei waren Fortbildungen für Theaterstück „Planwirtschaftlich verlegt“, Kindern, die in der „Kinder-Euthanasie“ Lehrkräfte bzw. Multiplikatoren. Die eine Szenencollage zum Gedenken an die ermordet wurden. Zwei seiner Geschwis- fünf- bis sechsstündigen Workshops und Opfer der „Euthanasie“. Am 25. August ter wurden 1944 und 1945 in Lüneburg ein- oder mehrtägigen Seminare konnten wurde das Theaterstück als zentraler Pro- ermordet. durch die Abordnung von Elke Severon grammpunkt der Gedenkfeier im Gesell- Am 5. Dezember endeten die öffent- (Lehrkraft an der Oberschule Scharne- schaftshaus der Psychiatrischen Klinik lichen Veranstaltungen mit einer Krimi- beck) und durch ein neunköpfiges Team Lüneburg aufgeführt und erzielte im No- Lesung. Ulrich Gaertner las aus seinem pädagogischer Mitarbeiter_innen reali- vember den 5. Platz des Bundeswettbe- neuesten Buch „Mordärzte“. Im An- siert werden, die im Mai und November werbs „Andersartig gedenken“. schluss diskutierten der Autor und Dr. zum aktuellen Forschungsstand intern Bei der Gedenkfeier wurden die rund Rudnick über Entstehen, Chancen und fortgebildet wurden. Über 580 Besu- einhundert Gäste erstmals von Dr. Marc Grenzen des historischen Krimis, der cher_innen wurden im Rahmen von Burlon begrüßt, der im Frühjahr 2019 historische Bezüge zu den Lüneburger Führungen durch ehrenamtliche Ver- den Posten als Ärztlicher Direktor der „Euthanasie“-Verbrechen herstellt. einsmitglieder betreut. Der Vorsitzende Psychiatrischen Klinik Lüneburg ange- Ende Dezember musste die „Euthana- des Vereins, Dr. Sebastian Stierl, vertrat treten hat. Im Zuge der Erstellung seiner sie“-Gedenkstätte Lüneburg leider von die Gedenkstätte im Frühjahr und im Doktorarbeit über „Kinder-Euthanasie in Anja Steinmeier Abschied nehmen. Zwei Herbst bei den Tagungen des „Arbeits- Hamburg“ war Dr. Burlon im Jahr 2006 Jahre unterstützte Frau Steinmeier die kreises Euthanasie“. Durch Dr. Stierls im Universitätsklinikum Hamburg-Eppen- Gedenkstätte bei der Projekt- und Vereins- Engagement im 2019 eingerichteten „Ar- dorf auf Gehirn-Präparate gestoßen, die verwaltung sowie bei der Veranstaltungs- beitskreis Erinnerungskultur“ der Hanse- durch Dr. Rudnick Lüneburger Opfern organisation. Sie musste diese nebenbe- stadt Lüneburg brachte sich die „Eutha- zugeordnet und daraufhin in Lüneburg rufliche Aufgabe aus gesundheitlichen nasie“-Gedenkstätte u. a. in die Neu- bestattet werden konnten. Gründen aufgeben. gestaltung der städtischen Erinnerungs- Vor dem offiziellen Programm der Ge- Die Veranstaltungen der „Euthanasie“- kultur ein. Sieben Mal kamen die ehren- denkfeier, das in diesem Jahr den the- Gedenkstätte Lüneburg wurden von über amtlichen Mitglieder des Trägervereins matischen Akzent auf die „Zukunft der 3.200 Menschen besucht. Über 1.200 Be- der Gedenkstätte im Jahr 2019 zu Sitzun- Erinnerung“ legte, hatten die Schau- sucher_innen nahmen in 2019 zudem an gen zusammen, um den Gedenkstätten- Am 7. Mai 2019 wurde die Sonderausstellung „Frauen als Opfer der T4“ im Rathaus Uelzen eröffnet. • ArEGL

Plakat zum Theaterstück „Planwirtschaftlich verlegt“, eine Szenencollage zum Gedenken der Opfer der „Eutha- nasie. Gestalterinnen: Ute Mattheus/Dr. Carola Rudnick • ArEGL

betrieb und die Veranstaltungen zu im Rahmen einer Nebentätigkeit durch 2019 herausragend gefördert durch 137 planen. den Archivar Danny Kolbe erfasst. Zu- die Psychiatrische Klinik Lüneburg, die Von Dr. Rudnick wurden Vorträge in dem konnten alle Kinder- und jugend- Gesundheitsholding Lüneburg sowie die Bad Pyrmont, Berlin, Dresden, Hamburg, lichen Patient_innen ab 1941 im Zusam- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Herford, Leck, Ludwigslust, Lüneburg, menhang mit dem seit September 2019 ten. Generell konnte die Arbeit nur be- Scheeßel und Uelzen gehalten. Vier Stu- laufenden neuen Forschungsschwerpunkt wältigt werden mit dem ehrenamtlichen dierende aus Hannover, Lüneburg, Mag- „Kinder-Euthanasie“ durch Dr. Rudnick Engagement der Mitglieder der Fach- deburg und Berlin wurden bei der Erstel- in einer Patientendatenbank erfasst kommission, des Vorstandes, der Ver- lung universitärer Arbeiten unterstützt. werden. einsmitglieder bzw. der AG Gedenk- Es fanden Beratungen einzelner Gemein- Schließlich wurde zwischen Mai und stätte sowie mit kooperierenden Ein- den und Geschichtsinitiativen zu lokal August mit Unterstützung der dafür ein- richtungen. identifizierbaren Kinder-Schicksalen gesetzten, beratenden Fachkommission statt und es erschienen wissenschaft- unter dem Vorsitz von Dr. Astrid Ley (Ge- liche Aufsätze. denkstätte Sachsenhausen) ein Antrag Für die Buchpublikation „Still, stumpf, auf Landes- und Bundesmittel für die Er- beschäftigt mit Kartoffelschälen, ver- richtung eines Dokumentationszentrums legt“, für die Stolpersteinverlegungen mit einer neuen Dauerausstellung im sowie aber vor allem auch für Angehöri- ehemaligen Badehaus am Wasserturm ge, die sich mit einer Anfrage zur Schick- auf den Weg gebracht. Es handelt sich salsklärung an die „Euthanasie“-Gedenk- hierbei um die zweite Teilmaßnahme der Mit einem symbolischen „Spatenstich“ begann am 22.3.2019 die Errichtung eines Bildungszentrums für stätte gewandt haben, wurden durch Neugestaltung der „Euthanasie“-Gedenk- die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg. • ArEGL

Dr. Rudnick im Jahr 2019 über 35 Schick- stätte, die ab Januar 2021 umgesetzt Die Schüler_innen Celine Glaser, Julietta Al Gadery und sale von Opfern der „Euthanasie“ ge- werden soll. Die anteilige Förderung des Valentin Jonas des Lüneburger Gymnasiums Wilhelm- Raabe-Schule wurden mit neun weiteren Mitschüler_in- klärt, zu zwölf Personen konnten für die Landes Niedersachsen wurde im Juni nen in Kooperation mit der Geschichtswerkstatt Lüne- burg ab August 2019 zu Schüler_innen-Guides Sammlung und für die Bildungsarbeit durch die wissenschaftliche Fachkom- ausgebildet. • ArEGL Biografie-Mappen erstellt werden. mission der Stiftung niedersächsische Friedrich Buhlrich im Gespräch mit den Schauspieler_in- Eine große Hilfe bei Schicksalsklärun- Gedenkstätten prinzipiell befürwortet. nen des Gymnasiums Herderschule am 25.8.2019. • ArEGL gen und Forschungsfragen sind die Auf- Nicht nur dieser Landes- und Bundes- Dr. Marc Burlon begrüßt bei der Gedenkfeier 2019 die nahmebücher der Heil- und Pflegeanstalt. mittelantrag, sondern auch die Arbeit ehemaligen Direktoren der Lüneburger Psychiatrie Dr. Sebastian Siterl und Dr. Jürgen Lotze persönlich. Sie wurden seit Januar 2019 sukzessive der Gedenkstätte insgesamt wurde in • ArEGL

Geförderte Gedenkstätten KZ-Gedenkstätte Moringen

Dr. Dietmar Sedlaczek, Leiter der KZ-Gedenkstätte Moringen

Die KZ-Gedenkstätte Moringen wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk­ stätten in besonderer Weise gefördert.

KZ-Gedenkstätte Moringen Lange Straße 58 D – 37186 Moringen Postanschrift: Postfach 1131, D – 37182 Moringen Tel.: +49 (0) 5554 – 2520 / 8807 / 2504 [email protected] www.gedenkstaette-moringen.de www.warumerinnern.wordpress.com https://twitter.com/MoMemorial www.instagram.com/moringenmemorial www.facebook.com/moringenmemorial www.erinnernsuedniedersachsen.de

138 Am Ende des Jahres 2019 kam es zu Fokus rechtsextremer Parteien und Gedenkstätte Auschwitz. einem rechtsextremen Vorfall an der KZ- Gruppierungen befinden. Es erscheint Neben Führungen und Projekttagen Gedenkstätte Moringen: Mitglieder der daher dringend geboten, sich stärker mit wächst die Bedeutung der teils dezentra- Kameradschaft Einbeck meldeten sich dieser Bedrohung auseinanderzusetzen. len Vortrags- und Theaterangebote. 29 unter einem Privatnamen zu einer Füh- Der Schwerpunkt der Aktivitäten der Ge- öffentliche Veranstaltungen fanden 2019 rung an. Sie diskreditierten mit verschie- denkstätte lag auch 2019 auf der Bildungs- in der Gedenkstätte sowie an anderen denen Aussagen oder Fragen die Opfer arbeit. Insgesamt haben 118 Gruppen Orten in der Region statt. Auch in diesem und stellten die Darstellung der Gedenk- (2018: 95) Führungen und unterschiedli- Jahr beteiligte sich die Gedenkstätte Mo- stätte in Frage, indem sie historische Do- che thematische Angebote der Gedenk- ringen mit speziellen Angeboten am in- kumente als manipuliert verunglimpften. stätte genutzt. 16 Schulen und Gruppen ternationalen Museumstag und am Tag Nachdem aufgrund dieser Provokatio- aus Südniedersachsen wie auch aus an- des offenen Denkmals. Nach der positi- nen die Führung durch einen Mitarbeiter deren Regionen und anderen Bundeslän- ven Resonanz im vorherigen Jahr haben der Gedenkstätte abgebrochen worden dern nahmen an zum Teil mehrtägigen Lagergemeinschaft und Gedenkstätte war, posierten sie für ein Foto mit antise- Projekten teil. Mit neun Aufführungen des auch 2019 wieder ein Treffen der Genera- mitischer Aussage vor der Gedenkstätte, Klassenzimmerstücks „Die Besserung“ tionen veranstaltet. Der Einladung folg- das sie anschließend mit einer Art Ex- erreichten wir 740 Besucher_innen. Da- ten Angehörige von Häftlingen der drei kursionsbericht ins Netz stellten. Dieser neben bot die Gedenkstätte 13 öffentliche Moringer Konzentrationslager sowie ein Post erfuhr höchste Aufmerksamkeit, Führungen an. In Kooperation mit der ehemaliger Häftling des Jugend-KZ aus genauso wie die Stellungnahme der Ge- Geschwister-Scholl-Schule in Göttingen Österreich in Begleitung von vier Mitglie- denkstätte zu diesem Vorfall. Das Foto und dem XXX Liceum Ogólnokształcące dern seiner Familie. Bestandteil des Tref- wurde schließlich in zahlreichen Varian- im. księdza Jana Twardowskiego in Lublin fens war eine Reihe von Veranstaltungen, ten karikiert, woraufhin der Post mit al- (Polen) fand ein Jugendaustausch statt. die auch für eine interessierte Öffentlich- len Kommentaren gelöscht wurde. We- Nachdem im vorhergehenden Jahr die keit zugänglich waren. nige Tage später meldeten dieselben polnischen Schüler_innen nach Deutsch- An der Gedenkstätte war wieder ein Akteure in Moringen eine Kundgebung land gereist waren, fuhren im Jahr 2019 mehrmonatiges studienbegleitendes an. Ein Bündnis aus der Zivilgesellschaft die deutschen Schüler_innen zum Ge- Praktikum angesiedelt. rief zu einer Gegenkundgebung auf, an genbesuch nach Polen. In Kooperation Einen spektakulären Fund machte die der 400 Menschen teilnahmen. Dieser mit der KGS Moringen veranstaltete Gedenkstätte bereits 2018 im Magistrats- Vorfall ist ein weiteres Beispiel dafür, die Gedenkstätte darüber hinaus auch archiv der Stadt Moringen, wo in einem dass sich Gedenkstätten zunehmend im 2019 wieder eine Studienreise in die KZ- bislang unzugänglichen Raum ein Teil der Korrespondenz der Stadt Moringen mit (Kultusministerium und Sozialministeri- 2019 erhielt die KZ-Gedenkstätte Moringen zahlreiche 139 dem Konzentrationslager und dem DP- um) hoffen wir auf eine nachhaltige Klä- Besuche von Angehörigen ehemaliger Häftlinge aus Israel, Großbritannien und Argentinien. Am 13. Mai Camp entdeckt wurde. Diesen Bestand rung der offenen Fragen und Zuständig- besuchten die Geschwister Victoria (2.v.r.) und Santiago Alonso Novo (rechts im Bild) aus Buenos Aires die haben wir auch 2019 weiter erschlossen. keiten, damit 2020 alle Voraussetzungen Gedenkstätte. Sie waren nach Deutschland gereist, um So konnten inzwischen 400 Namen und geschaffen werden können, um zeitnah zu ihrer Großtante Bella Löbenstein zu recherchieren, die 1935 Häftling im Frauen KZ-Moringen gewesen war. personenbezogene Daten von DPs des einen Antrag bei der Beauftragten der • Thomas Beck

Moringer Camps (1945–51) ermittelt Bundesregierung für Kultur und Medien Ernst Blajs, ehemaliger Häftling des Jugend-KZ aus werden. (BKM) einreichen zu können. Österreich, und Julian Lautenschleger bei der Kranznie- derlegung: Am 25. und 26. Oktober trafen sich in der Auch das Jahr 2019 war wieder von Der Leiter der Gedenkstätte ist Mitglied KZ-Gedenkstätte Moringen im Rahmen des zweiten Treffens der Generationen ehemalige Häftlinge, ihre Vorarbeiten für den Ausbau der Gedenk- im Sprecherrat der Interessengemein- Angehörigen und Nachfahren mit Schüler*innen und stätte am historischen Ort geprägt. Un- schaft niedersächsischer Gedenkstätten interessierten Menschen aus der Region. • Dietmar Sedlaczek geklärte Zuständigkeiten und offene ge- und Initiativen zur Erinnerung an die NS- Am 28. November stellte der Verbund Zeitgeschichte im nehmigungsrechtliche Fragen bezüglich Verbrechen. In dieser Funktion nimmt er Zentrum (dazu gehören das Museum Friedland, die der baulichen Maßnahmen verursachten auch einen Sitz im Beirat der Stiftung KZ-Gedenkstätten Mittelbau-Dora und Moringen sowie des Grenzlandmuseum Eichsfeld) am Rande eines eine zeitliche Verzögerung in der Planung niedersächsische Gedenkstätten wahr. gemeinsamen Podiumsgesprächs zur Erinnerungskultur seinen neuen Flyer vor: Paul Schneegans (v.l.n.r.) und des Vorhabens. So konnte 2019 eine aus Darüber hinaus sind Leitung und Assis- Mira Keune (beide Grenzlandmuseum Eichsfeld), Tina Mitteln der SnG in Auftrag gegebene tenz der Gedenkstätte Mitglied des Loka- Fibiger (Kulturjournalistin), Angela Steinhardt (Museum Friedland), Dr. Dietmar Sedlaczek (KZ-Gedenkstätte Kosten- und Machbarkeitsanalyse nicht len Aktionsplans (LAP) des Bundespro- Moringen), Wolfgang Nolte (ehem. Bürgermeister Duderstadt) und Dr. Regine Heubaum (KZ-Gedenkstätte in allen Bereichen umgesetzt werden. gramms „Demokratie leben! – Aktiv Mittelbau-Dora). • Claudia Nachtwey Aus den bisherigen Ergebnissen dieser gegen Rechtsextremismus, Gewalt und 2019 setzte eine Gruppe Studierende im Fach Medien- Studie wird jedoch bereits deutlich, dass Menschenfeindlichkeit“ im Landkreis und Bildungsmanagment der PH Weingarten die bereits 2018 begonnenen Arbeiten am Prototyp einer interakti- mit der geplanten Erweiterung der Ge- Northeim. ven Web-App für die KZ-Gedenkstätte Moringen fort. Im denkstätte im Dachgeschoss der ehema- Mittelpunkt stand dabei die Verbesserung der Handhab- barkeit der App. Exploratives, selbstgesteuertes und ligen Kommandantur des Lagers bauli- soziales Lernen steht dabei im Mittelpunkt. Ziel der App ist es, den Dachboden der ehemaligen Kommandantur, che Ertüchtigungen bzw. die Einrichtung durch das Entdecken und Entschlüsseln unterschiedli- zusätzlicher technischer Ausstattungen cher historischer Spuren für Besuchergruppen erfahrbar zu machen. Bei einem Arbeitstreffen am 8. und 9. notwendig werden, die das gesamte Ge- Oktober in Weingarten präsentierte die Projektgruppe die Überarbeitung und führte einen Usability Test mit bäude betreffen. Im Gespräch mit dem Mitarbeitern der Gedenkstätte durch. Abschließend fand Staatlichen Baumanagement Südnieder- Am 4. Dezember 2019 nahmen 400 Menschen an einer ein Gespräch zur zukünftigen Zusammenarbeit mit dem Protestkundgebung in Moringen gegen eine Kundge- Prorektor für Forschung der PH Weingarten, Herrn Prof. sachsen und den beteiligten Ministerien bung rechtsextremer Gruppen teil. • Hans-Peter Niesen Dr.-Ing. Wolfgang Müller, statt. • Simon Schaudt

Geförderte Gedenkstätten Jugendliche pflegen das Gräberfeld für die Opfer des Jugend-KZ Moringen

Miriam Hockmann, Dietmar Sedlaczek

140 Im Rahmen der 72-Stunden-Aktion ha- dem Moringer Friedhof. Sie setzten sich KZ ermordeten Jugendlichen weder auf ben dreißig Jugendliche einer katholi- mit den Lebensgeschichten der hier be- den Grabsteinen noch in unserer Erinne- schen Firmgruppe aus dem Dekanat grabenen Jugendlichen auseinander. rung“, kommentierte eine der Jugend- Nörten-Osterode gemeinsam mit evan- Dabei erfuhren sie von der Verfolgungs- lichen die Arbeit. gelischen Jugendlichen aus Moringen geschichte der jugendlichen KZ-Häftlinge, das Gräberfeld des Jugend-KZ gepflegt. lernten einzelne Biografien und die Grün- Darüber hinaus haben sie sich auch um de für die Verfolgung kennen und hörten die Gräber verstorbener Patienten des auch von dem aus Zwangsarbeit und Moringer Maßregelvollzugs (MRVZN) Strafen bestehenden Häftlingsalltag, zu gekümmert. Zeitgleich engagierten sich dem auch das Sterben und der Tod im 160.000 junge Menschen in Deutschland Lager gehörten. in weiteren über 3.400 Projekten in der Nach der Auseinandersetzung mit der 72-Stunden-Aktion des BDKJ (Bund der Geschichte begannen die Aktionsteil- Deutschen Katholischen Jugend). nehmenden mit der praktischen Arbeit. Die Aktion in Moringen startete mit ei- Es wurde Unkraut gejätet, Holzkreuze ner Führung zur Geschichte des Jugend- wurden abgeschliffen und Grabsteine KZ. Ein historischer Ortsrundgang führte geputzt, um die kaum noch lesbaren In- entlang des ehemaligen Lagergeländes schriften instand zu setzen. Am nächs- und endete im ehemaligen Kommandan- ten Tag wurden die Jugendlichen bei ih- tur-Gebäude des Lagers. Die Jugendli- rer Arbeit von Bischof Dr. Heiner Wilmer chen wurden begleitet vom Bundestags- unterstützt. Insgesamt wurden im Rah- abgeordneten Dr. Roy Kühne (CDU), der men des Projektes 55 Grabsteine gesäu- Moringer Bürgermeisterin Heike Müller- bert und nachgemalt und mehrere Dut- Die Jugendlichen der 72 Stunden Aktion stellen sich vor. Otte sowie Vertretern der katholischen zend Holzkreuze gepflegt. Mit dabei sind die betreuenden Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte, die Gemeindepastoren sowie die Morin- und evangelischen Kirche. Auch die Die Erinnerung wachzuhalten, das war ger Bürgermeisterin Heike Müller-Otte (3. v.l.) und Dr. Seelsorger des MRVZN waren dabei. das Anliegen des Projekts. Sylvia Timpe Roy Kühne, MdB (3. v.r.). • Miriam Hockmann Nach einem gemeinsamen Mittagessen, von der örtlichen Kolpingsfamilie kündig- Bischof Dr. Heiner Wilmer besuchte das Moringer Projekt und beteiligte sich aktiv an den Arbeiten. das Patienten des MRVZN für die Grup- te an, die Pflegearbeiten auch nach der • Miriam Hockmann pe gekocht hatten, gingen die Jugendli- 72-Stunden-Aktion fortsetzen zu wollen. Die Jugendlichen setzen die kaum noch lesbaren In- chen zum Gräberfeld des Jugend-KZ auf «So verblassen die Namen der im Jugend- schriften der Grabsteine instand. • Miriam Hockmann „Schwestern, vergesst uns nicht“. Wanderausstellung zum Frauen-KZ Moringen mit Kohlezeichnungen von Hedwig Regnart

Dietmar Sedlaczek

Viele ihrer Erfahrungen hat die Fürther – wie für Männer – gefährlich werden. tinnen der frühen Stunde, so die Abge- 141 Widerstandskämpferin Hedwig Regnart Viele dieser Frauen erfuhren für ihre mu- ordnete des Bayerischen Landtags in ausdrucksstarken Kohlezeichnungen tigen Taten Verfolgung und Haft, auch Viktoria Hösl und Minna Faßhauer aus dargestellt. Als Autodidaktin zeichnete im Frauen-KZ Moringen (1933–38). Wäh- Braunschweig, die erste deutsche sie Bilder von der Not der Bevölkerung rend die Männer für ihre Taten später Ministerin. nach den beiden Weltkriegen. Immer geehrt wurden, spielt der Widerstand Die Ausstellung, die von einem Team wieder thematisieren ihre Zeichnungen von Frauen im öffentlichen Bewusstsein der KZ-Gedenkstätte Moringen kuratiert Verfolgung und Widerstand im National- bis heute kaum eine Rolle. Daher begrü- wurde, ist als Wanderausstellung konzi- sozialismus. Viele Bilder zeigen Menschen ßen wir die Entscheidung des Deutschen piert und kann von der Gedenkstätte aus- in der Isolation der Einzelhaft, die Hedwig Bundestages (19/11092) vom 28.6.2019, geliehen werden. Die Ausstellung wurde Regnart selbst mehrmals für Monate er- Frauen im Widerstand gegen den Natio- aus Mitteln des Bundesprogramms dulden musste. Sie war u.a. 1936–37 Häft- nalsozialismus zu würdigen. Ziel des An- „Demokratie leben“ vom Lokalpoliti- ling im Frauen-KZ Moringen gewesen. trags ist u.a. eine Stärkung der pädago- schen Aktionsplan des Landkreis Nort- Hedwig Regnart hatte ihre Zeichnungen gischen Vermittlungsarbeit hierzu in den heim gefördert. nie für eine Ausstellung vorgesehen. Sie NS-Gedenkstätten, insbesondere an den zeichnete, um das Erlebte zu verarbei- Orten der einstigen Frauen-Konzentra- ten. Für uns heute sind diese Bilder eine tionslager Moringen, Lichtenburg und historische Quelle: Dokumente über den Ravensbrück. politischen Widerstand, ausgeführt von Die Ausstellung „Schwestern, ver- Frauen, deren Beitrag im Kampf gegen gesst uns nicht. Kohlezeichnungen von den Nationalsozialismus lange Zeit we- Hedwig Regnart. Widerstandskämpferin nig Beachtung und Anerkennung erfuhr. und Häftling im Frauen-KZ Moringen Sie versteckten Regimegegner oder (1936–37)“ wurde am 8. März 2019, dem schmuggelten sie ins Ausland, verviel- internationalen Frauentag, im Foyer des fältigten und verteilten illegale Flug- Kreishauses in Northeim eröffnet. Der blätter, leiteten Waffen und Nachrichten Gedenktag erinnerte 2019 an 100 Jahre „Hinter Gittern“. Kohlezeichnung von Hedwig Regnart. ausländischer Sender weiter. Verfolgten Wahlrecht für Frauen in Deutschland. Zu Ausstellungseröffnung im Foyer der Landkreisverwal- tung in Northeim am 8. März 2019. Dr. Dietmar Sedlaczek gewährten sie Unterschlupf, beschafften jenen Frauen, die in Moringen inhaftiert führt durch die Ausstellung. • Arne Droldner ihnen Lebensmittel und Kleidung. Ein gewesen waren, gehörten neben Hed- Miriam Hockmann führt eine weitere Gruppe durch die solches Verhalten konnte für Frauen wig Regnart zahlreiche weitere Aktivis- Ausstellung. • Miriam Hockmann

Geförderte Gedenkstätten Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel

Andreas Ehresmann, Geschäftsführer Stiftung Lager Sandbostel Leiter Gedenkstätte Lager Sandbostel

Die Gedenkstätte Lager Sandbostel wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenkstätte Lager Sandbostel/ Stiftung Lager Sandbostel Greftstraße 3 D – 27446 Sandbostel Tel.: +49 (0) 4764 – 22 54 810 [email protected]­ www.stiftung-lager-sandbostel.de

142 Dank der großzügigen Förderung unter gangene Jahr gar nicht genug zu danken. Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlingen – anderem der Stiftung niedersächsische Ohne diese hoch engagierte Arbeit, sei in die Gedenkstätte gekommen. Gedenkstätten, des Landkreises Roten- es bei der Unterstützung der pädagogi- Eindrucksvoll war die gut besuchte burg (Wümme) und des Fonds „Friedens- schen Arbeit, in der Bibliothek oder beim Gedenkfeier anlässlich des 74. Jahres- wege“ der Ev.-luth. Landeskirche Hanno- Aufräumen und Pflegen des Gedenkstät- tags der Befreiung der Kriegsgefange- vers konnte der 2018 deutlich gestiegene tengeländes, würde so manches in der nen und KZ-Häftlinge im Stalag X B am Personalstand und die qualitativ hoch- Gedenkstätte nicht laufen. Die Gedenk- 29. April. Aus der Kreispolitik hat der wertige gedenkstättenpädagogische stätte Lager Sandbostel wäre nicht die Landrat Hermann Luttmann und von der und wissenschaftliche Arbeit in der Ge- Gedenkstätte, die sie heute ist und die niedersächsischen Landeskirche der denkstätte Lager Sandbostel auch 2019 sie auch für viele Besucher_innen aus- Landessuperintendent Hans-Christian aufrechterhalten werden. macht. Brandy gesprochen. Sehr gefreut hat Richtungsweisend für unsere zukünfti- Erfreulich war im vergangenen Jahr, uns, dass mit Domenico Bolognese der ge Arbeit war dann allerdings die am dass vom Auswärtigen Amt einem För- Sohn des italienischen Militärinternier- 23. August zwischen der Stiftung nieder- derantrag der Gedenkstätte Lager Sand- ten Michele Bolognese eine Ansprach sächsische Gedenkstätten, dem Land- bostel stattgegeben wurde, der im gehalten hat. Er berichtete davon, dass kreis Rotenburg (Wümme) und der Stif- Rahmen des ausgeschriebenen Förder- sein Vater nie über seine Erlebnisse in tung Lager Sandbostel zunächst für fünf programms „Jugend Erinnert“ gestellt der Kriegsgefangenschaft gesprochen Jahre vereinbarte Institutionelle Förde- wurde. hat, aber Zeit seines Lebens davon ge- rung der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Die Besuchszahlen sind im vergange- prägt war. Trotz, oder vielleicht auch Dadurch entfällt die bisher jährliche Neu- nen Jahr unverändert auf hohem Niveau wegen seiner Erlebnisse in deutscher beantragung der grundlegenden Förder- (mit leichter Tendenz nach oben) bei Gefangenschaft habe er seinen Kindern mittel für Personal und Unterhalt und etwa 12.000 Besucher_innen geblieben. stets Versöhnung vorgelebt und Ihnen wir haben nun eine mittelfristige Planungs- Aufgeteilt sind diese wie auch in den deutlich gemacht, so Domenico Bolo- sicherheit. Sondermittel werden aller- letzten Jahren in die drei große Grup- gnese, das in einem Krieg die Beteiligten dings auch weiterhin projektbezogen pen: Schulklassen, Konfirmandengrup- oftmals potenzielle Opfer und Henker zu- beantragt. pen und Einzelbesucher. Auch im ver- gleich seien. Inwieweit sie sich schuldig Trotz des genannten hauptamtlichen gangenen Jahr sind etwa 600-700 aus- machten, zitierte er seinen Vater, sei Personalstands ist den vielen ehrenamt- ländische Besucherinnen und Besucher ihre persönliche Entscheidung. lichen Unterstützerinnen und Unterstüt- – oftmals Kinder, zunehmend aber auch Aus dem konsularischen Korps spra- zern der Gedenkstätte auch für das ver- Enkel und sogar Urenkel von ehemaligen chen der polnische Vize-Generalkonsul Besucher_innen kamen zu der Auffüh- rung des bewegenden und mahnenden Theaterstücks von Wolfgang Borchert. Am Vorabend des 78. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion konnten wir den renommierten Schau- spieler Werner Wölbern dafür gewinnen, aus Texten ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener zu lesen. Umrahmt von der Musik des Gitarristen Christian Sutter zeichneten die von unserer Volon- tärin Ines Dirolf zusammengestellten Texte ein dichtes Bild der Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen vom Zeitpunkt ihrer Gefangennahme, der Kriegsgefangenschaft und der Befrei- ung, aber auch der Rückkehr in die Hei- mat und die Situation bis in die Gegen- wart hinein. Ein weiteres spannendes und für uns neues Format war die mit 100 Besucher_ innen sehr gut besuchte Veranstaltung „Zeitzeugen erzählen“, bei der Johann Blick in den Bernard Le Godais Saal mit der Sonderaus- stellung zur NS-Wehrmachtsjustiz. • Andreas Ehresmann Pape (Jg. 1930) und Johann Dücker (Jg.

Der Schauspieler Werner Wölbern bei einer Lesung aus 1935) über ihre Erinnerungen an das Erinnerungsberichten von ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlager berichteten. Kriegsgefangenen. • Andreas Ehresmann Johann Pape wurde als Jugendlicher zu Theaterstück „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert. Aufräumarbeiten im kurz zuvor befreiten Stalag X B dienstverpflichtet und Johann Informationsflyer für den Workshoptag „Nach Vorne Denken”. Dücker musste im Alter von neun Jahren zusehen, wie kurz vor Kriegsende zwei auf einem Todesmarsch geflohene KZ- Häftlinge erschossen wurden. Um die beiden Menschen zu ehren und an sie zu Adam Borkowski, der russische General- pädagogen Michael Freitag-Parey, zahl- erinnern hat er 2006 einen Gedenkstein 143 konsul Andrej Sharashkin und der italie- reichen teils sehr gut besuchten wissen- aufstellen lassen. Bis heute das einzige nische Generalkonsul Giorgio Taborri Gruß- schaftlichen Vorträgen und Filmveran- Erinnerungszeichen für diesen Todes- worte. Die Diplomaten appellierten an staltungen gab es auch viele heraus- marsch. die Teilnehmer_innen der Gedenkveran- ragende Einzelveranstaltungen, die staltung die Erinnerung an die Opfer des eigentlich alle wert wären genannt zu Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. werden. Beispielhaft seien nur erwähnt: Am 22. Juni richteten wir am 78. Jahres- Ein wunderbarer Workshoptag am tags des Überfalls auf die Sowjetunion 15. Juni mit dem Titel „Nach Vorne Den- eine weitere Gedenkveranstaltung aus. ken“, der von unserer damaligen FSJlerin Zum 80. Jahrestag des deutschen Über- Marie-Claire Müller, mit Unterstützung falls auf Polen – und damit dem Beginn mehrerer Kolleg_innen, als ihr FSJ-Pro- des Zweiten Weltkriegs - wurde von der jekt entwickelt wurde. Die Fragestellun- Stiftung Lager Sandbostel am 1. Septem- gen waren: „Welche Themen müssen in ber 2019 erstmals eine Gedenkveranstal- der Friedens- und Gedenkstättenarbeit tung ausgerichtet, um der als Folge des angeboten werden? Historisch-politi- Krieges von Besatzung, Gefangenschaft sche Bildungsarbeit, Menschenrechts- und Verfolgung betroffenen Menschen erziehung, Antirassismusarbeit, Fragen zu gedenken. Anders als sonst üblich, der Vermittlung des Geschehenen, Fra- fand der erste Teil der gut besuchten Ver- gen nach dem „Wie“ von Gedenken und anstaltung auf der Kriegsgräberstätte Erinnern. Aber welche Ansätze und Me- Parnewinkel in Selsingen statt. Auf die- thoden eignen sich? Was ist der richtige sem ehemaligen Lagerfriedhof bestatte- Umgang mit diesen Themen? Und wie te die Wehrmacht bis 1941 die Toten des wird diese wichtige Arbeit in Zukunft Stalag X B, darunter die ersten polni- aussehen?“ schen Kriegsgefangenen. Sehr eindrucksvoll war das in der ehe- Neben den „festen“ Terminen, wie öf- maligen Lagerküche aufgeführte Theater- fentlichen Rundgängen – die von ehren- stück „Draußen vor der Tür“ der hervor- amtlich aktiven Guides angeboten wer- ragenden Theater- und Musik-AG des den – Denkgottesdienste unseres Friedens- St.-Viti-Gymnasiums Zeven. Rund 200

Geförderte Gedenkstätten „Wie unterirdisch vor allem die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen war...“ Schulprojekt zu sowjetischen Kriegsgefangenen im Stalag X B

Ines Dirolf

144 Im Juni besuchte die Klasse 10a der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene berichte Litvins und das Gespräch mit Oste-Hamme-Schule Gnarrenburg die 2015 durch die Stiftung EVZ. Mit Auszü- Gerd A. Meyer, dessen Vater Anatolij Gedenkstätte Lager Sandbostel, um sich gen aus der Filmdokumentation „Schat- Pokrowskij kurz vor Kriegsende im Stalag in einem mehrtägigen Projekt mit der ten des Krieges“ als historisches Bild- X B verstarb, blieben den Schüler_innen Geschichte der sowjetischen Kriegsge- material endete der erste Projekttag. Ein sehr eindrücklich in Erinnerung. fangenen zu beschäftigen. Im Mittel- Schüler fasste den Tag für sich zusammen Auf Grundlage der Erinnerungsberichte punkt stand die inhaltliche und fotogra- mit der Erkenntnis „wie unterirdisch die bekamen die Schüler_innen am dritten fische Auseinandersetzung mit den Behandlung der Kriegsgefangenen, vor Projekttag die Möglichkeit Objekte, Orte Erinnerungsberichten des ehemaligen allem der sowjetischen war“. und Quellen zu fotografieren, die in ihren sowjetischen Kriegsgefangenen Sergej Am zweiten Tag widmete sich die Augen die Geschichte von Sergej Litvin Litvin. Klasse dem Umgang mit historischen widerspiegeln. Besonders diese Form Da die Schüler_innen die Gedenkstätte Quellen. Anhand von Personalkarten, der Auseinandersetzung mit Geschichte Lager Sandbostel bereits im Vorfeld ken- Schmuckkästchen, Fotografien, Doku- auch außerhalb des historischen Stand- nenlernen konnten, begannen die Projekt- menten und Erkennungsmarken erfuh- orts des Kriegsgefangenenlagers, erwei- tage auf dem ehemaligen Lagerfriedhof ren die Schüler_innen, welche Auskünfte terte das Verständnis von Geschichte. in Sandbostel. Am Beispiel des ehemali- diese Quellen über die Geschichte von Eine Schülerin hielt zusammenfassend gen Lagerfriedhofs konnten die Schüler_ sowjetischen Kriegsgefangenen geben fest: „Ich hab gemerkt, dass ich in Zu- innen nachvollziehen, wie ungleich die können und welche nicht. Mit diesem kunft überall etwas in Bezug auf Ge- Wehrmacht die verschiedenen Kriegsge- Wissen näherten sich die Schüler_innen schichte lernen kann.“ Eine Auswahl der fangenengruppen behandelte. Dazu lässt dem Quellenbestand des ehemaligen Fotos wird in der Online-Ausstellung zu sich an den optischen Umstrukturierun- sowjetischen Kriegsgefangenen Sergej sowjetischen Kriegsgefangenen der gen des ehemaligen Lagerfriedhofs nach Litvin. Litvin kam im Herbst 1941 als ei- Gedenk- und Bildungsstätte Haus der 1945 die Entwicklung der Erinnerungs- ner der ersten sowjetischen Kriegsge- Wannseekonferenz zu sehen sein. kultur seit Kriegsende ablesen. In der fangenen im Stalag X B an und überleb-

Gedenkstätte verschaffte sich die Klasse te die Jahre im Lager bis zu seinem Schülerinnen der OHS setzen sich mit der Biografie 10a mit einem Zeitstrahl einen Überblick Arbeitseinsatz in landwirtschaftlichen eines sowjetischen Kriegsgefangenen auseinander, • Marliese Eckhoff über die Geschichte der sowjetischen Arbeitskommandos vor allem dadurch, Schülerinnen der OHS erarbeiten sich Grundlagen der Kriegsgefangenen – von der Gründung dass ihn die Lagerkommandantur auf- Quellenkritik • Marliese Eckhoff der Sowjetunion 1917 bis zur ersten grund seiner Deutschkenntnisse als Die Klasse 10a der Oste-Hamme-Schule Gnarrenburg symbolischen Anerkennungszahlung an Schreiber einsetzte. Die Erinnerungs- nach drei spannenden Projekttagen • Marliese Eckhoff „Die Menschheit sollte Widerstand gegen jene leisten, die Krieg führen wollen.“ Bewegendes Gedenken zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen

Jan Dohrmann

Am 1. September 2019 fanden sich nischen Bevölkerung zum Sieg der Alli- dem Hochkreuz auf dem polnischen 145 etwa vierzig Menschen auf der „Kriegs- ierten über das Deutsche Reich. Obwohl Grabfeld und der Möglichkeit des indivi- gräberstätte Parnewinkel“ in Selsingen Polen eine schnelle militärische Nieder- duellen Gedenkens fortgesetzt. Zum Ab- ein, um dem deutschen Überfall auf lage habe einstecken müssen, hätten schluss hielt Vizekonsul Borkowski eine Polen vor achtzig Jahren zu gedenken. Polinnen und Polen an verschiedenen Ansprache auf Polnisch an seine zahlrei- Nach der Begrüßung durch den Vor- Fronten weitergekämpft und den größten chen Landsleute. Viele von ihnen kamen standsvorsitzenden der Stiftung Lager Untergrundstaat im besetzten Europa von der polnischen Kirchengemeinde Sandbostel, Günther Justen-Stahl, nahm aufgebaut. aus Bremen und waren zum ersten Mal Ines Dirolf eine geschichtliche Einord- Claas Both, FSJler der Gedenkstätte in Sandbostel und Parnewinkel. nung der Ereignisse um den 1. Septem- Lager Sandbostel, und die Schülerin ber 1939 vor. Die an der Gedenkstätte Shorouk Abd Al Rahman trugen ein Lager Sandbostel als wissenschaftliche selbstverfasstes Gedicht im Stil eines Volontärin tätige Historikerin betonte die Poetry Slams vor und beendeten ihren oft vergessenen Verbrechen der frühen Beitrag mit einem Appell an den Frie- Phase des Zweiten Weltkrieges, an de- den. „Die Menschheit sollte Widerstand nen neben der SS auch die Wehrmacht gegen jene leisten, die Krieg führen wol- beteiligt war. „Polnische Kriegsgefange- len“, zitierten sie den ehemaligen polni- ne waren ein alltägliches Bild in der schen Kriegsgefangenen Wiktor Listo- deutschen Gesellschaft“, stellte Dirolf padzki. Nachdem Pastor Karol Jaruzel fest und sie zeigte auch die Spuren auf, von der Polnischen Katholischen Mission die der Krieg in der Region hinterlassen in Bremen ein Gebet gesprochen hatte, hat. Nur eine Spur von vielen ist der erfolgte eine Kranzniederlegung durch heute als „Kriegsgräberstätte“ bezeich- die Vertreter des Generalkonsulats der nete Friedhof Parnewinkel, auf dem die Republik Polen in Hamburg, sowie des

Wehrmacht die ersten verstorbenen Gedenkstättenvereins Sandbostel e.V. Trauerkranz des Generalkonsulats der Republik Polen in Kriegsgefangenen aus dem Stalag X B und der Stiftung Lager Sandbostel. Hamburg und von Gästen niedergelegte Blumen auf der „Kriegsgräberstätte Sandbostel“ • Jan Dohrmann Sandbostel – unter ihnen mindestens Auf der „Kriegsgräberstätte Sandbos- Vizekonsul Adam Borkowski bei seiner Rede auf der 13 Polen – bestattete. tel“, dem 1941 eingerichteten Lagerfried- „Kriegsgräberstätte Parnewinkel“ • Jan Dohrmann Der polnische Vizekonsul Adam hof des Stalag X B, wurde die Veranstal- Shorouk Abd Al Rahman und Claas Both beim Vortragen Borkowski betonte den Beitrag der pol- tung mit einer Blumenniederlegung vor des Jugendbeitrags • Jan Dohrmann

Geförderte Gedenkstätten Impressum

146 Herausgeber Konzept und Redaktion: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Jens Binner, Kerstin Gade, Jens-Christian Wagner Im Güldenen Winkel 8 D – 29223 Celle Mitarbeit: Tel.: +49 (0) 5141 – 933 55-11 Jens Binner, Tessa Bouwman, Anett Dremel, Andreas Ehres- Fax: +49 (0) 5141 – 933 55-33 mann, Marc Ellinghaus, Leyla Ferman, Michael Gander, Bernd www.stiftung-ng.de Grafe-Ulke, Diana Gring, Martin Guse, Simona Häring, Robert [email protected] Heldt, Bernd Horstmann, Juliane Hummel, Arnold Jürgens, Andrea Kaltofen, Rolf Keller, Sarah Kunte, Janna Lölke, Hans- Celle 2020 Ulrich Ludewig, Brigita Malenica, Tobias Neuburger, Teri Arias Ortiz, Gustav Partington, Silke Petry, Thomas Rahe, Corinna Fotos Cover: vgl. Seite 21,42,44,67 und 85 Rathjen, David Reinicke, Carola Rudnick, Jannik Sachweh, Nicola Schlichting, Dietmar Sedlaczek, Marion Seibel, Katja Seybold, Martina Staats, Klaus Tätzler, Daniel Tonn, Sarah Ullrich, Katrin Unger, Jens-Christian Wagner, Maike Weth, Christian Wolpers

Graphische Gestaltung: ermisch | Büro für Gestaltung

Druck: Bruns Druckwelt, Hannover

Gefördert über die Stiftung niedersächsische Bildrechte: Gedenkstätten aus Mitteln des Landes Nieder- Soweit nicht anders angegeben, liegen die Bildrechte sachsen und aufgrund eines Beschlusses des bei der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Deutschen Bundestages durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Dokumentations- und Gedenkstätten in Niedersachsen und Bremen

3 4 6 Lüneburg 1 2 7 8 Oldenburg Bremen 5

9

12 Wolfsburg 17 10 Hannover Osnabrück 11 18 Braunschweig 14 15 16

13

10

1 „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg 11 Lernort Ehemalige Synagoge Stadthagen 21339 Lüneburg 31655 Stadthagen

2 Gedenkstätte „Alte Pathologie“ Wehnen 12 Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau für die Opfer der NS-„Euthanasie“ 31618 Liebenau10 KZ-Gedenkstätte Moringen 26160 Bad Zwischenahn-Ofen 37086 Moringen

3 GröschlerHaus - Zentrum für Jüdische 13 Erinnerungsstätte Lenner Lager Geschichte und Zeitgeschichte der Region 37627 Lenne Friesland/Wilhelmshaven 26441 Jever 14 Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße 38102 Braunschweig 4 Gedenkstätte KZ Engerhafe 26624 Engerhafe 15 Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte 5 Gedenkstätte Esterwegen 38239 Salzgitter 26897 Esterwegen 16 Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 6 Gedenkstätte Lager Sandbostel 38300 Wolfenbüttel 27446 Sandbostel 17 Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeiter 7 Denkort Bunker Valentin auf dem Gelände des Volkswagenwerkes 28777 Farge-Rekum 38436 Wolfsburg

8 Dokumentations- und Lernort 18 Gedenkstätten Gestapokeller Baracke Wilhelmine und Augustaschacht 28790 Schwanewede-Neuenkirchen 49076 Osnabrück

9 Gedenkstätte Bergen-Belsen 29303 Lohheide

10 Gedenkstätte Ahlem 30453 Hannover Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Jahresbericht 2019