Neurologie Und Neurologen in Der NS-Zeit: Hirnforschung Und „Euthanasie“
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Leitthema Nervenarzt M. Martin2 ·A.Karenberg1 ·H.Fangerau2 DOI 10.1007/s00115-016-0143-8 1 Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln, Köln, Deutschland © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 2 Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Hirnforschung und „Euthanasie“ Die deutschen Hirnforschungsinstitute Karenberg in diesem Sonderheft von Der schung betrieben, es sei nur schwierig, wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahr- Nervenarzt) der neuen, nationalsozialis- so Satzinger, zu klären, was wann darun- hunderts zu den weltweit führenden Ein- tisch geprägten Forschungsprogramma- ter verstanden wurde und wie der unter richtungen ihrer Art gezählt. Dies betraf tik geschuldet war und somit in letzter Vogtscher Regie begonnene Forschungs- insbesondere das Kaiser-Wilhelm-Insti- Konsequenz auch die Einbindung etwa ansatz nach 1933 fortgeführt wurde [38, tut (KWI) für Hirnforschung in Berlin- des Berliner KWI für Hirnforschung in S. 146], ausführlich: [37]; . Abb. 2). Buch. Von dem Forscherehepaar Oskar die „Begleitforschung“ zur „Euthanasie“ Vogts Mitarbeiter Bernhard Patzig und Cécile Vogt seit den 1920er Jahren dieser Logik entsprach. Es soll zum einen (1890–1958) erhielt im Zuge des Neu- aufgebaut, wurde das KWI im Februar dargestellt werden, wie sich „auch über baus des KWI für Hirnforschung in 1930 eröffnet und galt als größtes und die Epochenzäsur 1933 hinweg“ lang- Berlin-Buch in der dortigen Klinik acht modernstes Hirnforschungsinstitut der fristige „Kontinuitätslinien bis in die BettenfürseineForschungenzugewiesen Welt (. Abb. 1). Die Vogts beschäftig- Ära Oskar Vogt zurückverfolgen lassen“, und wurde zum Leiter der Abteilung für ten sich über Jahrzehnte mit Fragen der zum anderen, wie mit dem Wechsel an menschliche Erb- und Konstitutionsfor- Hirnarchitektonik, insbesondere mit der der Institutsspitze des KWI für Hirnfor- schung am KWI. Nach 1929 knüpfte er Zuordnung von Hirnfunktionen zu be- schung ab 1937 personelle, institutionelle an die bereits 1911 von den Vogts beab- stimmten Rindenfeldern. und konzeptionelle Veränderungen voll- sichtigte, „bislang unmögliche klinische Der Machtwechsel 1933 hatte auch zogen wurden, „deren Bedeutung im und erbbiologisch-genealogische Un- in der Hirnforschung einen erheblichen Hinblick auf den Krankenmord“ bis tersuchung von Menschen mit ,striären Einfluss auf die Forschungslandschaft. zum Beginn des 21. Jahrhunderts „un- Erkrankungen‘ an“. Er erstellte hierzu Im Kontext des „Gesetzes zur Verhütung terschätzt worden“ ist [40,S.7]. ausgedehnte „Sippentafeln“ und publi- erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) zierte seine Methode zur Feststellung rückten Fragen der Erblichkeit der sich Oskar Vogt, das KWI für von erblichen Krankheiten im Jahr 1933 im Hirn manifestierenden Krankheits- Hirnforschung und der [38, S. 178]. Insgesamt findet sich jedoch formen in den Fokus des wissenschaftli- Nationalsozialismus auch in Patzigs Arbeiten der „nahtlose chen Interesses. In diesem Forschungs- Übergang zwischen klinisch genauen feld erwarteten Wissenschaftlerinnen Rassenhygiene, Höherzüchtung und die Diagnosen neurologischer Krankhei- und Wissenschaftler jetzt erhebliche fi- Wiedergenesung Deutschlands unter der ten und abwertender Klassifizierung nanzielle Förderungen. „Nicht anders FührungwissenschaftlicherEliten–„die- menschlichen Verhaltens, die für die na- als heute“, so kommentierte Jürgen Peif- se ideologische Gemengelage“ war nach tionalsozialistische Sterilisationspraxis fer im Jahr 2000, „versuchten Forscher, der Einschätzung des Wissenschaftshis- typisch wurde“ [38, S. 180]. sich an Trends anzuschließen, um für torikers Michael Hagner „eine der ver- Auch Oskar Vogt versuchte, seine bio- ihre Forschungsprojekte Drittmittel zu breitetsten und fatalsten Rezepturen“,der logische Weltsicht, „die am markantesten erhalten“ [28, S. 153]. Im Folgenden sich Wissenschaftlerin derWeimarerRe- in der Elite- und Verbrechergehirnfor- soll der Frage nachgegangen werden, publikverschriebenhatten[20,S.100].In schung zum Ausdruck kam, als eine wis- in welcher Form die „Neuorientierung“ der Hirnforschung von Oskar und Cécile senschaftliche Grundlage des National- der Hirnforschung (ähnlich der Epi- Vogt etwa, das hat Helga Satzinger dezi- sozialismus zu verkaufen“ [20, S. 130 f.]. lepsieforschung, vgl. dazu den Beitrag diert nachgewiesen, spielte „der Begriff Dabei scheute er auch nicht immer davor „Neurologie und Neurologen in der der Rasse“ bereits vor 1933 eine wichtige zurück, so Hagner, sich „bei den Natio- NS-Zeit: Das Beispiel der Epilepsie- Rolle. Unter den Vogts wurde am KWI nalsozialisten anzubiedern“. Dies tat er forschung“ von Martin, Fangerau und für Hirnforschung eindeutig Rassenfor- wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund Der Nervenarzt Leitthema Abb. 1 8 Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch (1931; Abb. 2 8 Oskar und Cécile Vogt an ihrer Hirnschneidemaschine (1905; Bild- Bildquelle: [7]) quelle: [7]) doch“,nach Ansicht Hagners, „gar nichts bunden“ [54, S. 546] (. Abb. 6). Weber prinzipiell anderes vertreten mußte als kommt in seiner historischen Über- schon 1930: die Hirnforschung stehe im sicht zu dem Schluss, dass während der Dienst der Volksgemeinschaft“, indem Amtszeit von Spatz die „Zytoarchitekto- sie versuche, erwünschte Persönlichkei- nik weitgehend eingestellt“ wurde und ten und Begabungen zu fördern und die „stattdessen (...) neuropathologische Fortpflanzung„schädlicher“Personenzu und eugenische Fragestellungen eine zu- hemmen [20, S. 130]. All das half indes nehmend größere Bedeutung“ erlangten letztlich wenig (. Infobox 1: Oskar Vogt). [57, S. 1108]. Dieser inhaltliche Wandel spiegelte Die Forschung verlagerte sich auch auf mehreren anderen Ebenen » wider: Institutionell zeigte sich die Zäsur sich vom gesunden zum kranken an der Etablierung einer engen Koope- Gehirn ration des KWI mit den psychiatrischen Kliniken im Großraum Berlin, speziell in Im Jahr 1937 wurden die Vogts entlassen der Funktionserweiterung der Prosektur und neuer Direktor des KWI wurde Hu- der Anstalt Görden bei Brandenburg als go Spatz (1888–1969), bis dahin Leiter Außenstelle des KWI. Personell wurde des neuropathologischen Labors an der die Zusammensetzung des Institutsku- Psychiatrischen und Nervenklinik Mün- ratoriums verändert, zu dem z. B. seit chen (. Abb. 3). Spatz verfolgte ebenso 1938 mit dem Berliner Ordinarius für neuropathologische Interessen, verlager- Psychiatrie Max de Crinis (1889–1945) Abb. 3 8 Hugo Spatz. (Bildquelle: [9]) te indes den Forschungsschwerpunkt des einer der Verantwortlichen für die zwei KWI.StärkeralsdieVogtsvorihm(die Jahre später anlaufende sog. „T4-Akti- derBefürchtung,erkönnedasBucher Struktur und Funktion des gesunden on“ gehörte. Außerdem stellte Spatz den Institut verlieren, nachdem er sich 1933 Gehirns im Fokus hatten) beschäftigte mit ihm schon lange bekannten Julius nach Denunziationen schon erheblichen er sich mit dem kranken Gehirn, wobei Hallervorden (1882–1965) als Leiter der Angriffen ausgesetzt gesehen hatte, er sei die Pathogenese einzelner Krankheits- Zentralprosektur der psychiatrischen Sozialist und hätte Kommunisten beher- formen in den Vordergrund rückte und AnstalteninBerlin-Brandenburgsowie bergt[40,S.8f.].Erveranstalteteregelmä- damit auch die Frage der Vererbung der histopathologischen Abteilung des ßig Führungen im KWI für Absolventen noch pointierter gestellt wurde [40]. KWI ein (. Abb. 4; . Infobox 2:Julius der Reichsführerschule Bernau, das Ras- Spatz hatte seinen Amtsantritt im Sin- Hallervorden).Schmuhlbezeichnetdiese senpolitische Amt, für SA-Führerschaf- ne einer inhaltlichen und strukturellen Entwicklung am KWI für Hirnforschung tenundfürMitgliedervonNSDAP-Orts- Neuausrichtung im Forschungsprofil des als eine forschungspolitische „Öffnung gruppen. Vogts Strategie war es, seine Instituts zu nutzen verstanden. Damit zur Psychiatrie“ und eine „Verflechtung „Forschungen wenigstens partiell mit der „war endgültig eine Öffnung des Insti- von Hirnforschung und Anstaltspychia- nationalsozialistischen Gesundheitspoli- tutes gegenüber nationalsozialistischer trie“, die bereits Anfang der 1930er Jahre tik kompatibel zu machen, wobei er je- Erbgesundheits- und Rassenpolitik ver- Der Nervenarzt Zusammenfassung · Abstract begonnen hatte, jetzt aber „energisch Nervenarzt DOI 10.1007/s00115-016-0143-8 vorangetrieben“ wurde [40, S. 54]. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 Julius Hallervorden und M.Martin·A.Karenberg·H.Fangerau die „Begleitforschung“ zur Neurologie und Neurologen in der NS-Zeit: Hirnforschung und „Euthanasie“ „Euthanasie“ Von großer Bedeutung wurde diese Zusammenfassung Verflechtung, als mit Kriegsbeginn die Der Zusammenhang zwischen dem frühkindlichen Hirnatrophie, zerebrale flächendeckend geplante und zentral systematischen Krankenmord – von der Kinderlähmung und Epilepsie. Dabei spielte NS-Ideologie als „Euthanasie“ verbrämt nach aktuellem Forschungsstand ein kolle- organisierte Ermordung von psychisch – und der deutschen Hirnforschung ist giales Netzwerk eine wichtige Rolle. Ferner kranken Kindern und Erwachsenen im in den letzten 25 Jahren ausführlich und entstanden am KWI neben den zivilen auch Rahmen der sog. „Euthanasie“ begann differenziert untersucht worden. Umstritten militärische Forschungsstellen, die ebenfalls (. Infobox 3: „Euthanasie-Aktionen“). bleibt allerdings, inwiefern sich dieser neurologisches Wissen, z. B. zu Hirn- und Unter der institutionellen „Tarnbezeich- verbrecherische