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SWR2 Musikstunde

Musikalischer Aufbruch Europäische Avantgarde um 1400 (2)

Von Joachim Steinheuer

Sendung: Dienstag, 17.06.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikalischer Aufbruch - Europäische Avantgarde um 1400 (2)

…mit Joachim Steinheuer. Das Thema dieser Woche: Musikalischer Aufbruch – Europäische Avantgarde um 1400. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht heute das weltliche Repertoire an den Fürstenhöfen in Frankreich und Italien im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert.

In der geistlichen Musik sind schon seit dem 11. Jahrhundert Formen mehrstimmigen Musizierens nachweisbar , die sich in der Folgezeit auf vielfältige Weise weiterentwickelten. die weltliche Liedkunst der , Trouvères und Minnesänger dagegen war an den europäischen Fürstenhöfen jahrhundertelang einstimmig geblieben. Erst bei dem sogenannten letzten Trouvère am Ende des 13. Jahrhunderts oder bei Jehan de L’Éscurel im frühen 14. Jahrhundert finden sich in Frankreich erstmals einzelne relativ einfache mehrstimmige Liedsätze in der Volkssprache. Umso erstaunlicher ist der Aufschwung, den die mehrstimmige weltliche Liedkunst zunächst in Frankreich und wenig später dann auch in Italien in der Zeit der nehmen sollte. In Frankreich ist diese Entwicklung untrennbar mit dem Namen des Dichters und Komponisten verknüpft. Er stand 17 Jahre in Diensten des böhmischen Königs Johann von Luxemburg, bevor er 1340 nach dessen vollständiger Erblindung ein Kanonikat an der Kathedrale von Reims antrat, das er bis zu seinem Tod 1377 innehaben sollte. Machaut schuf in allen wichtigen Gattungen seiner Zeit zahlreiche Dichtungen und Kompositionen. als erster Komponist überhaupt ließ er sie mehrfach in umfangreichen Manuskripten zusammenstellen und kopieren, so dass sein Gesamtwerk bis heute erhalten ist. Seinen bedeutendsten Beitrag zur weltlichen Vokalmusik bilden seine überwiegend mehrstimmigen Vertonungen von eigenen Rondeaux, Balladen und , die als sogenannte , als feststehende literarisch-musikalische Formmodelle eine langanhaltende Wirkung in ganz Europa entfalten sollten. Hören sie sein vierstimmiges Rose, lys, printemps, verdure, in dem die Schönheit der angesungenen Dame über die von Rose und Lilie gestellt wird.

Musik 1: Guillaume de Machaut, Rose, lys, printemps verdure CD Mercy ou mort, Ferrara Ensemble, tr. 19, 5’00 Min.

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Das Ferrara Ensemble sang das Rondeau Rose, lys, printemps, verdure von Guillaume de Machaut. Von den Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen in Frankreich wurden die von Machaut etablierten Gattungen ohne grundlegende formale Veränderungen weitergeführt, und auch seine Kompositionen bildeten weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt, das machen Abschriften einzelner Stücke in mehreren jüngeren Manuskripten deutlich. So findet sich eine Reihe von Kompositionen Machauts auch noch im sogenannten Codex Chantilly. Dieseumfangreiche in den Jahren um 1400 zusammengestellte Handschrift mit dem avanciertesten zeitgenössischen Repertoire wird heute im Musée Condé in Chantilly nördlich von Paris aufbewahrt. Die Sammlung enthält auch die folgende Klage über den Tod Machauts, deren beide gleichzeitig zu singenden Gedichte von Eustache Deschamps stammen, dem wichtigsten Dichter der nachfolgenden Generation. In seiner vierstimmigen Vertonung der Doppelballade Armes, Amours / O flour hat Franciscus Andrieu die Worte „O mort, Machaut“ im Refrain aller drei Strophen aus dem polyphonen Fluss durch langsame Paralleldeklamation in allen vier Stimmen wirkungsvoll hervorgehoben.

Musik 2: Franciscus Andrieu, Armes, Amours / O flour CD Ars Magis Subtilior, Project Ars Nova, tr. 15, 6’29 Min.

Die Klage Armes, Amours / O flour über den Tod von Guillaume de Machaut von Franciscus Andrieu mit dem Ensemble Project Ars Nova. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, in welchem Kontext und von wem die Kompositionen im Codex Chantilly zusammengestellt wurden; am wahrscheinlichsten ist eine Entstehung in Südfrankreich oder Norditalien. Die Sammlung enthält neben einigen lateinischen Motetten am Ende mehrheitlich französische Rondeaux, Balladen und Virelais. Viele der Kompositionen im Codex Chantilly sind gekennzeichnet durch eine außerordentlich komplizierte Notation, die gegenüber der Menuralnotation der Ars Nova bei Machaut vielfältige neue Sonderformen verwendet. Die dadurch gezielt herbeigeführte rhythmische Komplexität und nicht selten auch subtile melodische und harmonische Verfeinerung wird heute als bezeichnet. Zu den besonders schwierig notierten Stücken im Codex Chantilly gehört Johannes Cuveliers dreistimmige Se Galaas et le puissant Artus. In ihr werden Passagen in unterschiedlichen proportionalen Rhythmen gleichzeitig oder nacheinander kombiniert. Der Text der Ballade verweist auf Gaston III., zwischen 1343 und 1391 Herzog von Foix am Rande der Pyrenäen. Durch die Ereignisse des 4 hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich war Gaston gleichzeitig dem französischen und dem englischen König lehenspflichtig, und durch geschicktes Lavieren zwischen den beiden Parteien war es ihm gelungen, seine Ländereien erheblich auszuweiten und zu einem der bedeutendsten Fürsten in Frankreich aufzusteigen. Er war zugleich ein wichtiger Förderer der Künste, so gehört sein mit kostbaren Miniaturen versehenes Jagdbuch zu den bedeutendsten Handschriften des späten Mittelalters. Selbstbewusst gab er sich in direkter Anspielung auf den Musengott Apoll den Beinamen „Phebus“ und wählte als Devise „Phebus avant“. Diese Devise wird bei Cuvelier im abschließenden Refrain jeder Strophe zitiert.

Musik 3: Johannes Cuvelier, Se Galaas et le puissant Artus, CD Codex Chantilly, Ensemble , Marcel Peres, tr. 1, 6’19 Min.

Johannes Cuveliers Ballade Se Galaas et le puissant Artus mit dem Ensemble Organum unter der Leitung von Marcel Peres. Der im Refrain besungene Gaston de Foix war auch beteiligt an einer aufwendigen Fürstenhochzeit, bei der 1389 die von ihm protegierte Jeanne de Boulogne mit dem Herzog von Berry vermählt wurde, einem jüngeren Bruder des französischen Königs. Auch der Duc de Berry war ein großer Förderer der Künste, wie nicht zuletzt die für ihn entstandene Handschrift der Très riches heures du Duc de Berry mit den bis heute berühmten Monatsdarstellungen belegt. Möglicherweise stand zumindest zeitweilig der Komponist in seinen Diensten, von dem insgesamt drei Stücke im Codex Chantilly mit der erwähnten Hochzeit in Zusammenhang gebracht werden können. Die sicherlich ungewöhnlichste Komposition von Solage ist jedoch ein Rondeau, das mit den Worten „Fumeux fume par fumée / fumeuse speculacion“ beginnt, auf Deutsch „Der Raucher raucht durch den Rauch / ein rauchiges Spekulieren“. Der Text gehört in den Umkreis der sogenannten Fumeurs, einem Zirkel von Intellektuellen im Umkreis der Pariser Universität, der wohl auch Verbindungen zum französischen Königshof besaß. Die Komposition ist für drei tiefe Stimmen gesetzt und zeichnet sich durch eine ungewöhnlich reiche Verwendung von Alterationszeichen aus – also chromatische Veränderungen der Töne. Dadurch werden harmonische Fortschreitungen herbeigeführt, die im zeitgenössischen Kontext höchst ungewöhnlich sind. Vielleicht sollen sie jene Spekulationen klanglich sinnfällig machen, von denen im Gedicht die Rede ist.

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Musik 4: Solage, Fumeux fume par fumée, CD Ars Magis Subtilior, Project Ars Nova, tr. 7, 4’31 Min.

Das Ensemble Project Ars Nova mit dem Rondeau Fumeux fume par fumée von Solage. Neben Bezügen zu einer Reihe von wichtigen französischen Fürstenhöfen in Frankreich im späten 14. Jahrhundert lassen sich einige der Komponisten und damit auch viele Stücke im Codex Chantilly mit dem Hof der Gegenpäpste in Avignon in Verbindung bringen. Unter Papst Clemens VII. und seinem Nachfolger Benedikt XIII. wurde der päpstliche Hof in Avignon über die Pflege geistlicher Musik hinaus auch zu einem wichtigen Zentrum für die weltliche Musik. Von den in der Handschrift genannten Komponisten wirkten Mattheus de Sancte Johanne, Johannes Haucourt, Johannes Simonis genannt Hasprois, Egidius, Galiot und Jacob de Senleches zeitweilig in der päpstlichen Kapelle in Avignon. Im Coex Chantilly enthalten ist auch eine Komposition von Philipoctus da Caserta, die dieser italienische Musiktheoretiker und Komponist zu Ehren von Papst Clemens VII. verfasst hat. Vermutlich ist das Stück kurz nach dessen Wahl zum Gegenpapst noch in Italien entstanden, denn Philipoctus ist selbst nicht in Avignon nachweisbar. Im Text der Ballade Par les bons Gédéon et Sanson wird Clemens VII. mit den alttestamentarischen Helden Gideon und Samson verglichen, dem allein es gelingen könnte, das Schisma zu beenden: So heißt es in der zweiten Strophe: „Wut, Zwietracht und Parteilichkeit, / ungeordnete Leidenschaft verbunden mit Stolz / sind die Ursache für das Schisma, durch welches / Demut, Einheit, Nächstenliebe und Glaube darniederliegen. / Die Welt geht zugrunde, wenn Gott sie nicht auf den Weg der Wahrheit bringt durch den höchsten Papst, welcher Clemens heißt.“ Die Handschrift weist genaue Anweisungen auf, wie die komplizierten Proportionen zwischen verschiedenen Notenformen zu verstehen sind. Ohne diese Angaben wären die ständig wechselnden Rhythmen wohl auch für die in dieser Notation geübten Musiker der Zeit kaum verständlich gewesen.

Musik 5: Philipoctus da Caserta, Par les bons Gédéon et Sanson CD Fleurs de vertus, Ferrara Ensemble, Crawford Young, tr. 8, 7’00 Min.

Das Ferrara Ensemble unter der Leitung von Crawford Young mit der französischen Ballade Par les bons Gédéon et Sanson des aus dem südlichen Italien stammenden Philipoctus de Caserta. In Italien bildete sich parallel zu den mehrstimmigen weltlichen 6

Liedern in Frankreich ein ganz eigenständiges Repertoire von Madrigali, Ballate und Caccie mit einer ebenfalls selbständigen Form italienischer Notation heraus. Orte, an denen diese neue Liedkunst gepflegt wurde, waren besonders die Fürstenhöfe der Visconti in Mailand, der Scaligeri in Verona und der Carrara in Padua sowie die Stadt Florenz, wo zahlreiche Dichter, Künstler und Musiker ihre Wirkungsstätte hatten. In Florenz wurde im frühen 15. Jahrhundert eine heute als Codex Squarcialupi bezeichnete Handschrift zusammengestellt, in der Stücke der wichtigsten Musiker der Stadt aufgezeichnet wurden. Zudem wurde für jeden der Komponisten ein Porträt in Form einer Miniatur vorangestellt. Neben vielen anderen Komponisten wie , , Andreas de Florentia und Giovanni da Cascia gehört der blinde Dichter, Organist und Komponist zu den am stärksten vertretenen Komponisten der Handschrift, der Codex Squarcialupi enthält insgesamt 145 seiner weltlichen Lieder. Landinis dreistimmige Ballata Che cosa è quest’Amor basiert trotz längerer Melismen an den Versenden auf einem parallel deklamierten Satz in den drei Stimmen, unter denen die Oberstimme deutlich als Melodieträger hervortritt.

Musik 6: Francesco Landini, Che cosa è quest’Amor CD D’amor ragionando, Mala Punica, Pedro Memelsdorf, tr. 1, 4’47 Min.

Francesco Landinis Che cosa è quest’Amor mit dem Ensemble Mala Punica unter der Leitung von Pedro Memelsdorf. Im späten 14. Jahrhundert kam es in Italien immer mehr zu einer Rezeption der zeitgenössischen französischen Liedkunst, vor allem an den norditalienischen Höfen. Wie Filipoctus da Caserta verfasste auch der in Mailand wirkende Kompositionen in französischer Sprache und auch bei dem lange Jahre in Padua wirkenden stehen französische Virelais, Rondeaus und Kanons neben italienischen Ballate und Madrigalen. Sein Una panthera in compagnia de Marte wird mit der kurzen Herrschaft der Visconti in Padua in Verbindung gebracht und auf das Jahr 1399 datiert. Es besingt vermutlich ein Treffen in Pavia zwischen dem Mailänder Herzog Giangaleazzo Visconti mit Lazzaro Guinigi aus Lucca. Die dreistimmige Komposition verlangt vor allem in der Oberstimme eine außergewöhnliche gesangliche Virtuosität und integriert Passagen in italienisch geprägter Paralleldeklamation mit den ständig wechselnden komplizierten Rhythmen der französischen Ars subtilior zu einer sehr modern anmutenden Klangsprache.

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Musik 7: Johannes de Ciconia, Una panthera (madrigale) CD Ciconia, Project Ars Nova, tr. 16, 4’51 Min.

Das war die SWR2 Musikstunde zum Thema Musikalischer Aufbruch – Europäische Avantgarde um 1400, Teil 2. Im Mittelpunkt stand heute das weltliche Repertoire der Ars subtilior an den Fürstenhöfen in Frankreich und Italien. Zuletzt hörten Sie das Madrigal Una panthera in compagnia de Marte von Johannes Ciconia mit dem Ensemble Project Ars Nova. Morgen geht es dann um die Rezeption dieser weltlichen Ars-subtilior Kunst in der zeitgenössischen Instrumentalmusik und bei dem Dichtersänger Oswald von Wolkenstein. Am Mikrophon war Joachim Steinheuer.