1 Zwei Überraschungsgäste und deren Pläne

Für den Vormittag hatten sich zwei Herren angemeldet. Es gehe um Kunst, ge- nauer, um moderne Kunst und um deren Vermittlung. Das hatten sie ihr gesagt, nicht mehr. Aus Frankfurt kamen beide Herren zu ihr in das wenig zerstörte, ländliche Hofheim, westlich der Mainmetropole. Die Herren standen in Verbindung zu den Amerikanern. Ein streng abgeschirmter Sperrbezirk war das Hauptquartier der Besatzungsmacht zu dieser Zeit, untergebracht im ehemaligen Verwaltungsge- bäude der IG Farben, das nahezu unversehrt das Bombardement der Stadt über- standen hatte. Von dort hatten sie wohl angerufen, denn die Telefonleitungen in der Stadt waren anderthalb Jahre nach Kriegsende noch nicht alle wieder herge- stellt. Die Städte lagen in Trümmern, so auch Frankfurt. Zerstört war der historische Stadtkern, nur noch die Hälfte des ehemaligen Wohn- und Geschäftraums vor- handen, aufragende Brandmauern, Fenster, die sich aus dem Nichts öffneten, Tü- ren, hinter denen sich nichts mehr verbarg, durch die man von der Straße ins Freie trat, in der Luft hängende, halbe Zimmer, plötzlich einstürzende Fassaden verschütten die schon frei geräumten Straßen erneut und Trümmerberge, Trüm- merberge überall. Das war das Zentrum Frankfurts 1946. Wie Hohn erschienen die Firmenschilder an den Fassadenresten. Was die Re- klameschilder aus gesprungenem Emaille anpriesen, gab es nirgends mehr zu kaufen, kaum war die Minimalversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, zwischen den Trümmern Kleingärten, die Bewirtschaftung und Bestellung jeder verfügbaren Freifläche war Bürgerpflicht. Felddiebstahl war dennoch an der Ta- gesordnung, Kartoffelkrieg herrschte, Hamsterfahrten in die ländliche Umge- bung mit dem Fahrrad, wer noch eines besaß, mit den ersten Zügen, die wieder fuhren, auch zu Fuß, getragen von der Hoffnung etwas zu ergattern.a Aus diesem Frankfurt kamen die beiden Herren, wollten mit ihr über Kunst sprechen. Über Kunst, in diesen Zeiten. Für Hanna Bekker vom Rath war das nichts Ungewöhnliches. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass nun fremde Menschen, unangemeldet zumeist, vor ihrer Türe standen. Alles war irgendwie durcheinander geraten, nichts mehr so wie vor dem Krieg. Nach den Monaten der Erstarrung, aus- schließlich beherrscht durch das Denken ans reine Überleben, war wieder Bewe-

9 gung spürbar, beginnende Überwindung der Depression, Aufbruch, ein zartes nach vorne Blicken. Vor wenigen Wochen erst hatte eine junge Frau sie mit ihrem Besuch über- rascht. Hanna hatte sofort die Amerikanerin in ihr erkannt – Sprache und Klei- dung hatten sie verraten. Gespannt hatte sie die außergewöhnliche Besucherin ins Haus gebeten. Sie arbeite beim Collecting Point in Wiesbaden, so hatte Virginia Fontaine sich vorgestellt. Schnell war die junge, sympathische Frau zur Sache gekommen: „Ich brauche ihre Hilfe, Frau Bekker vom Rath. Sie wurden mir als eine exquisite Kennerin der deutschen Gegenwartskunst benannt und beschrieben.“ Überrascht und geschmeichelt zugleich hatte Hanna ihre Besucherin abwar- tend angesehen. Ihr Mann, der Maler Paul Fontaine, sei mit den US Armed Forces nach Deutschland gekommen, erklärte diese weiter. Nach Kriegsende hätte er sich ent- schlossen zu bleiben. So sei sie ihm mit ihrer drei Jahre alten Tochter in das vom Krieg zerstörte Land gefolgt und bemühe sich nun um Kontakte zu Kunst und Künstlern. Auch die beiden Herren heute waren der Kunst wegen gekommen, aus dem zerstörten, hungernden Frankfurt. In eine heile Welt kamen sie auch in Hofheim nicht. Not und Knappheit herrschten auch hier in der ländlichen Umgebung des Taunus, kein Haus ohne Einquartierung und Flüchtlinge, aber Obstbäume stan- den in den Gärten, Beete versprachen Ernte, Hühner, ein Schwein manchmal und Kaninchen vor allem fanden sich hier und da. Kartoffelverhältnisse belebten den Austausch. Mancher hatte ein paar Eiern oder einer Hand voll Mehl wegen mit einer Bäuerin oder Magd in den ländlichen Vororten angebandelt. Das Dach über Hanna Bekkers großem Haus war unbeschädigt, statt Trüm- merbergen lagen Wiesen vor der Tür und das unbeschädigte Haus der Nachbarn gegenüber, überbelegt zwar auch dieses, aber heil. Künstler waren die beiden Herren nicht, doch an Kultur und Kunst interes- siert, Ingenieur der eine, aus einer Kaufmannsfamilie der andere. Kontakt zu den Amerikanern hatten beide. Zusammen mit einem ehemaligen Kunstverleger hat- ten sie im Lotus Club, dem Offiziersclub der Amerikaner, kleine Ausstellungen organisiert, vornehmlich Kunstgewerbe verkauft und auch Kunstdrucke. Einige wenige Originalgraphiken waren darunter gewesen. Einen Kunstverein, ein Kunstinstitut wollten sie ins Leben rufen, in Frankfurt! Ein Ort der Begegnung und des Austauschs für Kunst und Kultur sollte entste- hen. Einen Neuanfang wollten sie wagen nach den dunklen Jahren einer staatlich vorgeschriebenen Kunst; zurückholen ins Licht der Öffentlichkeit die nur im

10 Verborgenen noch existierende Moderne, sie darin neu verankern, der wieder gewonnenen Freiheit des Denkens und Schaffens einen Raum bieten. Das war ihr Ziel. Sicher, in Berlin wuchs schon aus den Trümmern, noch ehe die Frauen sie ganz weggeschafft hatten, neues kulturelles Leben. Unterricht gab es wieder an der Hochschule für Bildende Kunst. Der Maler Karl Schmidt-Rottluff, mit dem Hanna eine langjährige Freundschaft verband, hatte ihr davon berichtet. Aus der sowjetischen besetzten Zone hatte er vor wenigen Monaten nur mit Mühe die Ausreiseerlaubnis nach West-Berlin erhalten. Seine Besuche im Taunus hatte er aber noch nicht wieder aufnehmen können. Sich frei zwischen den Zonen zu be- wegen, zu reisen, daran war nicht zu denken, dazu fehlte es an allem. Ihn, von dem man 1937 mehr als 600 Werke aus deutschen Museen entfernt und dem man Berufsverbot erteilt hatte, da er nicht zur Förderung deutscher Kultur beitrage, Karl Schmidt-Rottluff hatte man nun eine Professur anvertraut. Mehr von der Lust wieder frei schaffen zu können als durch leibliche Nahrung am Leben gehalten, hatte sich bereits eine kleine Schülerschaft um ihn geschart. In der ehemaligen Reichshauptstadt lebte der private Kunsthandel bereits wie- der auf, vereinzelt zwar noch, aber es gab schon erste Verkäufe. Die Flucht in die Sachwerte hatte auch den Handel mit Kunst befördert. Freiheits- und schaffens- durstig waren auch die Maler und Bildhauer zurückgekehrt: Max Pechstein und Carl Hofer zum Beispiel, auch jüngere, wie Ernst Schumacher oder Karl Har- tung. Verfemung und jahrelanges Arbeiten im Verborgenen hatten Spuren hin- terlassen, in den Menschen wie in ihrer Kunst. Geblieben aber war die Hoffnung, die sie jetzt antrieb. Die Wiederbelebung des einst etablierten Kunstvereins Ber- lin war ebenso geplant wie erste große Einzelausstellungen. Zwar war der Taunus nicht Berlin, auch Frankfurt nicht die ehemalige Reichshauptstadt, aber derselbe Hunger nach Kultur, zensurfrei, derselbe Nach- holbedarf hier wie dort. Wie war das noch? ... „nicht nur vom Brot allein“.... Daran dachte Hanna, als sie den beiden Herren, die ihre weittragenden Pläne vortrugen, nun gegenüber stand. Der eine, de le Roi hatte er sich vorgestellt, war in etwa so alt wie sie selbst, also um die 53 Jahre. Er war nur wenig größer, hatte helle wache Augen. Der weit zurückliegende Haaransatz ließ das schmale, hagere Gesicht noch härter erscheinen, nicht streng jedoch, eher geprägt, gezeichnet vielleicht, gehärtet durch die Zeit. Das waren sie alle. Korrekt wie Frisur und Auftreten war auch der Anzug, nicht neu natürlich und auch nicht gut sitzend, zu groß geraten, zu groß gehungert schlabberte er leicht um den Körper.

11 Das Gesicht des zweiten Herrn, Dr. Günther Haase, war ebenso schmal. Er war jünger, von Statur nur ein wenig kleiner, sein Auftreten jedoch nicht weniger ernst und ebenso korrekt. Hanna kannte Herrn de le Roi flüchtig, den anderen nicht, konnte sich an kei- ne Begegnung mit ihm erinnern. Die Herren aber schienen Hanna zu kennen, mehr Hannas Familie als sie selbst. Das störte Hanna ein wenig. Es entsprach nicht ihrem Selbstverständnis. Ihr Haus war ein Spiegel ihrer unkonventionellen Eigenständigkeit. Wie ei- gens für diese Begegnung arrangiert schien ihr Wohnzimmer, das Rote Zimmer. Nichts hätte die Kunstwerke besser zur Geltung bringen können, als der tiefe, warme, rote Farbton der Wände. Die im Bauhausstil gestaltete, helle Decke kon- zentrierte den Blick des Betrachters auf die Exponate an den Wänden. Exponate? Wie Ausstellungsstücke hingen ihre Bilder nicht. Das Rote Zimmer war keine Galerie. Die Gemälde gehörten zu dieser Umgebung, waren mit dem Haus ver- wachsen, ebenso die auf eigens dafür gefertigten Stelen stehenden Statuen. Ihre Anordnung war über Jahre gewachsen, verwachsen mit der Außergewöhnlichkeit eines Hauses, das man in dieser Umgebung so nicht erwarten würde. Die vor kaum zwei Jahren nur im Verborgenen noch blühende Kunst des Expressionis- mus hatte hier stellvertretend eine Heimstatt gefunden. Nicht in ihrer Gesamtheit natürlich, aber doch in einer in diesem Landhaus unerwarteten Dichte, die die kenntnisreichen beiden Besucher ins Staunen versetzte. Dass sich die Hausbewohnerin für diese Kunst eingesetzt hatte, war in infor- mierten Kreisen bekannt. Schon bevor die NS Zeit über Deutschland hereinge- brochen war, hatte sie hier, in ihrem „Blauen Haus“ in Hofheim, kleine Kunst- ausstellungen initiiert, Kunstinteressierte aus ihrem großbürgerlichen Bekann- tenkreis dazu eingeladen und auf diese Weise versucht, der modernen Kunst, ins- besondere der des Expressionismus, Aufmerksamkeit zu verschaffen, auch Käu- fer und Sammler zu gewinnen. Hier verband sich Hannas spontanes, soziales Engagement mit dem Interesse an Kunst. Hanna durchschaute schnell, dass dieses ihr eigene Verhalten in ursächlichem Zusammenhang mit dem heutigen Besuch stehen müsse, die Besucher wohl mo- tiviert hatte, hierher zu kommen. Durch die Andersartigkeit, das Unübliche des Anstrichs, erschien den beiden Herren das Rote Zimmer beinahe museal und bei genauer Betrachtung auch wie- der nicht. Wohnraum war es und offensichtlich auch Schlafraum, zeitweise wenigstens. Ambivalent in seiner Bestimmung gewann der Raum eine seltsame Doppelbö- digkeit, die den Gegebenheiten der Zeit Rechnung trug ohne ursprüngliche Be- stimmungen ganz zu verleugnen.

12 Der Raum bestärkte die beiden Herren in ihrem Vorhaben und machte sie zu- gleich sprachlos, jedenfalls für einen Moment der Betrachtung und Gefangen- nahme. Gleichzeitig aber bot das Ambiente Gesprächsstoff und Anknüpfungs- punkte, offenbarte es Gemeinsamkeiten, parallele Interessen. An Hängung und Platzierung der Kunstwerke waren Entstehung und Wachs- tum des Ensembles ablesbar. Zwei meditativ abstrahierte Kopfdarstellungen von Alexej Jawlensky zogen die Besucher in ihren Bann. Ohne den Blickkontakt zum Betrachter zu suchen, richtete sich ihr Sehen nach innen. Eine ruhige beruhigende Ausstrahlung ging von ihnen aus. Gestört wurde diese Ruhe jedoch durch das Bild eines nächtlichen Mittel- meerhafens von Karl Schmidt-Rottluff, zwischen den beiden Köpfen hängend. In der Vogelperspektive gemalte, geheimnisvoll gelbgrüne Segelboote in grünlich blauem Hafenbecken, eine in sich geschlossene Komposition, am fernen Ufer durch die blitzende Lichterkette nächtlicher Beleuchtung abgeschlossen. Eine Systematik des Sammelns war nicht erkennbar. Skulpturen von Ernst Barlach und Alexander Archipenco waren ebenso zu sehen wie das Brustbild ei- ner jungen Frau mit geneigtem Kopf von Wilhelm Lehmbruck, an dem noch im- mer die Spuren einer Bemalung mit Lippenstift, die die Amerikaner bei der Be- setzung des Hauses an Brustwarzen und Lippen angebracht hatten, zu erkennen waren, so tief war die fetthaltige Substanz in den Steinguss eingezogen. Erst Jah- re des Austrocknens sollten sie schließlich beseitigen. Dieselbe Verdichtung der Körperlichkeit kennzeichnete das von Erich Heckel gemalte Bild, an der Wand daneben. Aus Karl Schmidt-Rottluffs „Dorfecke“ schlugen lodernd die Farben dem Besucher entgegen. Beunruhigend, beinahe ge- fährlich schien diese ungewohnte Farbwirkung jedem Betrachter der frühen Nachkriegszeit. Modern und mutig war, was hier an den Wänden hing, ausnahmslos so ge- nannte „entartete“ Kunst noch vor kaum zwei Jahren, Arbeiten mit Malverbot belegter Künstler. Aus Museen verbannt hatten die Nazis ihre Werke öffentlich an den Pranger gestellt, verbrannt oder unter Wert verschachert, versteigert, verschleudert. Und das wenige Gebliebene, vom Künstler heimlich Gerettete, mitunter die Anfänge eines verheißungsvollen Kunstschaffens, war schließlich von Bomben getroffen worden in der einst kunstsinnigen Hauptstadt. Im Verborgenen gerettet fand sich nun einiges hier, im Schatten nicht nur der vor dem Fenster stehenden, riesigen Buche, bewacht vom Eisenguss eines chine- sischen Tempelwächters aus der Sung Zeit, einer Teufelsfigur, die sich mit trot- ziger Willenskraft wuchtig dem Betrachter entgegenstellte und in Gesellschaft der früh von gemalten „Frau mit Fächer“. Mit tiefgrünen

13 Mandelaugen blickte diese zwischen üppig dunkler Lockenpracht aus dem Bild auf den unter ihr stehenden, mit einem Kelim von der Hand ’ ab- gedeckten, immer für Gäste bereitgehaltenen Diwan. Darauf erkannte das kundi- ge Auge zwei handgewebte Kissen, Arbeiten von Kerkovius’ Schülerinnen noch aus Stuttgarter Zeiten. Dies waren nur einige der Hinweise auf die „Kerkovi“, wie die Schülerin und spätere Mitarbeiterin Adolf Hölzels, die Hanna Bekker vom Raths Lehrerin ge- wesen war, im Haus liebevoll genannt wurde. Auch die kurze Zeit der Beschlagnahmung des Hauses durch die Amerikaner in den ersten Wochen nach dem Krieg hatte die Sammlung und ebenso deren Anordnung, von der Lippenstiftaktion einmal abgesehen, so gut wie unbeschä- digt gelassen. Demonstrativ war bei der Freigabe durch die Besatzer auf einem kleinen Tisch im Salon auch das Silbergerät des Hauses versammelt. Hanna hatte die Geste verstanden: Sieh, wir haben uns an nichts vergriffen, sollte es wohl bedeuten. Das hatte auch die Kunstwerke betroffen. Es war weniger der Besitzerstolz als das Bestreben, die Kunst für sich selbst sprechen zu lassen, das Hanna dazu veranlasste, auch ihre heutigen Besucher zu einem Rundgang durch ihr Haus einzuladen. In selbstverständlich freundlicher Art gewährte sie den beiden Herren Einblick, ließ sie teilhaben an der eigenen Begeisterung für das Gesammelte. Mit derselben Unbekümmertheit störte sie aber auch die zahlreichen Bewoh- ner des Hauses, wenn sie ihren Besuchern ein bestimmtes Kunstwerk zeigen wollte. Wie selbstverständlich betrat sie alle Räume. Dies als Rücksichtslosigkeit anzusehen wäre ihr ebenso wenig in den Sinn gekommen, wie sie umgekehrt da- von überzeugt war, dass die Kunst, auch die privat gesammelte, der interessier- ten Allgemeinheit zugänglich sein müsse. Uneitel, nicht ohne Stolz, selbstbewusst, sich ihres Tuns und Wirkens sicher, ohne den leisesten Hauch von Koketterie, keinen Zweifel lassend an Standhaf- tigkeit, Selbsteinschätzung und der Richtigkeit ihres Handelns, war sie doch überaus freigiebig, großzügig in der Art, in der sie den willkommenen Besucher zum temporären Teilhaber ihrer Sammlung machte, ihn partizipieren ließ, an ge- danklicher, schöpferischer Freiheit und geistiger Unabhängigkeit und Größe, in Betrachtung, Vertiefung und Nachvollzug eines Kunstwerks gewonnen. Schon der jungen Frau war einst ein Kunstwerk wichtiger gewesen als eine Perlenkette: Das Geburtstagsgeschenk ihres Vaters gab Hanna ins Pfandhaus und erfüllte sich so ihren Wunsch, ein Bild des Malers Karl Schmidt-Rottluff in Be- sitz nehmen zu können. Das dadurch in einem großbürgerlichen Elternhaus ausgelöste Entsetzen kann man sich ohne Phantasie vorstellen. Unmöglich zu entscheiden, was nun viel größer war, die Empörung über den Besuch der Tochter in einem Pfandhaus und

14 die damit der Familie zugefügte Schande oder die Brüskierung durch die Verset- zung des Geschenkes, nicht irgendeines Geschenks zudem, sondern vom Vater gegeben, symbolhaft, auch zum Zeichen des Aufgenommenseins in den Kreis der Erwachsenen. Versetzt, dieses Geschenk? Noch dazu für moderne Kunst! Überraschend war dies nicht. Schon mit dem ersten Kunstkauf hatte die als schwierig und halsstarrig geltende Tochter ihre diesbezügliche Entschlossenheit unter Beweis gestellt und im Elternhaus für größte Entrüstung gesorgt. Ohne Rücksprache und natürlich ohne eigenes Geld hatte sie einen mittelalterlichen, katalanischen Christustorso, fast lebensgroß, in einem Antiquitätengeschäft am Frankfurter Römerberg reservieren lassen, den Namen des Vaters dabei nutzend. Hatte sie genau kalkuliert, dass sie diesen dadurch zwang, für das von der Toch- ter gegebene Wort einzustehen oder hatte sie einfach gar nicht darüber nachge- dacht? Das war heute nicht mehr zu entscheiden. Spontan war sie vom tiefen Leidensausdruck des Christusbildes erfasst gewe- sen, tief berührt hatte er sie gefangen. Durch Beschädigung und Fehlen der Arme noch stärker auf Haltung und Gesichtszüge konzentriert, in ihnen verdichtet und auf die beherrschende Vertikale reduziert, hatte sie ihm nicht ausweichen kön- nen, sich an ihm fest gesogen. Der Impuls, den Torso besitzen zu müssen, auch um ihn zu beschützen vielleicht, zu erhalten, hatte sie Konvention und Zurück- haltung aufgeben lassen. Ausdrucksmächtig war er ihr als die Summe dessen er- schienen, was Leid und Erdulden vermögen. Dreiundzwanzig Jahre war sie damals alt gewesen und es war Krieg. Das war 1916. Ihre Art und Weise, sich mit Kunst auseinander zu setzten, sie in Besitz zu nehmen, nicht materiell, hatte sich seither nicht geändert. Der Torso hatte sie be- gleitet, in allen Wohnungen seinen Sonderplatz behauptet, zuletzt auch hier, im Blauen Haus. Bis heute hatte er nichts von seiner Ausdruckskraft verloren. Ihr einstmals spontanes Urteil hatte nach wie vor Bestand, was ebenso für die Arbeit des Bildhauers wie für Hannas früh entwickeltes Kunstverständnis sprach. Genussvoll, nicht ohne Stolz, mit viel Sinn für Humor und Selbstironie, aber inzwischen doch auch nicht ohne Verständnis für die Haltung der Eltern, in je- dem Fall aber mit verschmitztem Lächeln, liebte sie es später diese und andere Geschichten zu erzählen. Die Enge des Elternhauses, das sie keinen Schritt ohne die allgegenwärtige Gouvernante hatte tun lassen, war von ihr, die weder angepasst noch bevormun- det sein wollte, als Zwang empfunden worden. Hartnäckig war sie früh eigene Wege gegangen, hatte mit trotziger Zielstrebigkeit versucht, sich aus gesell- schaftlichen Zwängen zu befreien, gegen die für sie bereits im Voraus geplanten Wege zu rebellieren und sie bewusst zu verlassen.

15 In der nun schwer beschädigten Paulskirche hatte sie 1918 eine Rede über die Emanzipation der Frau gehalten, auf einer Veranstaltung der SPD. Auch das war durchaus nicht im Sinne ihrer Eltern gewesen. In der Rolle des enfant terrible hatte sie sich gut gefallen, damals. Kulturelles Gut und geistige Unabhängigkeit waren ihr schon früh wichtiger gewesen als gesellschaftliche Regeln oder schmü- ckende Äußerlichkeiten. Hanna trug wenig Schmuck, manchmal eine Perlenkette, inzwischen gab es eine neue, eine Brosche vielleicht, sehr ausgesucht und sparsam, eher einer ge- sellschaftlichen Üblichkeit gehorchend, denn mit Lust. Die Freude an diesen Dingen war ihr nicht gegeben. Ihr Hauptinteresse galt nicht dem Äußeren. Ge- pflegt war sie, natürlich war sie gepflegt, korrekt frisiert, das glatte, schon früh leicht graue Haar streng zurückgekämmt, am Hinterkopf zu einem Knoten aufge- steckt. Vereinzelte, verspielte Strähnchen ins Gesicht fallen zu lassen entsprach weder ihrer Erziehung noch ihrem Charakter. Daher verlieh ihr die Frisur eine strenge, eher energische, denn weibliche Ausstrahlung. Ihr gerade geschnittenes, einfaches Kleid mit schlichtem Revers wurde in der Taille von einem Gürtel zu- sammen gehalten, auch hier den Mangel der letzten Jahre offenbarend. Selbstsi- cherheit und ihre schlanke große Gestalt gaben ihrem Auftreten den nötigen Nachdruck. Die schon als Kind verinnerlichte Gepflegtheit ihrer großbürgerli- chen Erziehung erschöpfte sich in einer als notwendig empfundenen Korrektheit, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ebenso wie auch der selbstverständliche, natürliche Gebrauch der gesellschaftlichen Regeln eines gastlichen Hauses waren sie ihr Gerüst und schützende Barriere zugleich. Die Freizügigkeit, mit der sie Einblick gewährte, beschränkte sich auf ihre Sammlung, nur darauf, daran ließ sie keinerlei Zweifel aufkommen, auch jetzt nicht. Die Jahre der Entbehrung hatten die Nase noch mehr zugespitzt, das Kinn weiter hervortreten lassen. Keine weich fließende Haarsträhne milderte diese strengen Züge. Ihre Schönheit basierte auf ihrer Ausstrahlung, ihr Charme war eher von jener spröden Art, die mehr Beherrschtheit, denn Liebreiz verriet; äu- ßerst gewinnend war jedoch ihr Lächeln. Sie war es gewohnt, selbst zu bestimmen, für die Durchsetzung ihrer Ent- scheidungen zu kämpfen, auch mit einem charmant einnehmenden Lächeln, wo es half. Den kindlich aufbegehrenden Trotz hatte sie sich bewahrt, ihn zum Schutz- schild ausgebaut, hinter den man sich zurückziehen konnte. Strenge und Diszi- plin vortäuschend ließ er sich zu einem Paravent entfalten. Unerwartet spontan konnte Emotionalität dahinter hervorbrechen, überraschend dann oft auch für sie selbst. Im Moment der Begegnung mit ihr Gleichgesinnten setzten jedoch das milde, freundliche Lächeln ihrer ungeschminkten Gesichtszüge und die im Gespräch

16 temperamentvoll blitzenden Augen einen spannungsreich ausgleichenden Ge- genpol. In solchen Situationen konnte ein ihr Gegenüber entwaffnender Charme aus ihr hervorbrechen, ebenso unerwartet wie unvermittelt. So auch jetzt, da Hanna mit den Herren einen weiteren Raum betrat und auf eine kleine Graphik von Karl Schmidt-Rottluff aufmerksam machte, eines ihrer Lieblingsstücke. Gewohnt im Mittelpunkt zu stehen, sprach sie wenig über sich selbst. Die Künstler und deren Kunst boten ausreichend Gesprächsstoff. Stets war dabei der persönliche Bezug Voraussetzung, Basis für ihren Zugang zu den Arbeiten, für Verständnis und den Entschluss, sich zu engagieren. Dem Menschen, der aus und durch sein Werk sprach, galt ihr primäres Interesse. Kaum ein Kunstwerk in ihrer Sammlung, dessen Schöpfer sie nicht wenigstens einmal persönlich begeg- net war. Von ihren Kontakten zu den verfemten Künstlern hatten die heutigen Besu- cher gehört, mehr nicht, hatten insgesamt wenig Genaues gewusst. Darin trafen sie sich mit der jungen Virginia Fontaine. Besorgt und wissend hatte man es in der zurückliegenden Zeit vermieden, solche Kontakte zu thematisieren, wenig- sten diejenigen, die es gut mit Hanna gemeint hatten. Dass sie schon vor dem Krieg mit der Gründung einer „Vereinigung der Freunde der Kunst Alexej von Jawlenskys“ aufgefallen war, erzählte man sich, Arbeiten dieses Künstlers in ihrem Haus wiesen auf diese Verbindung hin.1 Die Idee, eine finanzielle Unterstützung für den Künstler durch die Vergabe von Optionsscheinen auf seine Bilder aufzubauen, war nicht neu gewesen. Han- na hatte sie nicht erst erfinden müssen. Aber aktiv und spontan hatte sie sie da- mals aufgegriffen und mit Leben gefüllt, hartnäckig, energisch, wie es ihre Art war. Ihre wöchentlichen Besuche bei dem zuletzt verfemten russischen Künstler hatte sie bis zu dessen Tod im März 1941 beibehalten. Unbemerkt konnte dies nicht geblieben sein, so hatte Hanna selbst es zur Zeit des Nationalsozialismus manchmal leise gefürchtet. Doch solche Gedanken hatte sie ebenso schnell auch wieder verdrängt. Darin war sie Meisterin. Doch nun in Gegenwart des Besuches wurde diese Frage wieder präsent, ließ sie nicht mehr los: Was wissen diese beiden Herren von mir? Dass sie auch spä- ter, im privaten Kreis Kunst präsentiert hatte, um Künstler zu unterstützen, schienen sie jedenfalls auch zu wissen. Nicht Händlerin hatte sie sein wollen, wenn sie auch manchmal mit eben die- ser Zielsetzung agiert hatte, zum Wohl der Künstler agierend musste, sondern Vermittlerin. Mittlerin wollte sie sein, zwischen dem Neuen und einem das Neue sammelnden Publikum, zwischen den Künstlern und den Kunstinteressierten. Da sie auch selbst zu malen gelernt hatte, hatte sie einen anderen Zugang zu Kunst und Künstler, konnte sich in ihre Lage hineinfühlen.

17 Nicht wie man Musizieren lernt, Klavierspielen oder ein bisschen Zeichnen als Tochter aus gutem Hause, war sie ausgebildet. Nein, damit hatte sie sich nicht zufrieden gegeben. Eine „richtige“ künstlerische Ausbildung hatte sie an- gestrebt, schließlich gab es in diesem Beruf bereits erfolgreiche Frauen. Doch war auch ihr der Zugang zu den Akademien verwehrt geblieben. In Hofheim als Privatschülerin von Ottilie W. Roederstein, in Frankfurt an der Städelschule und später, nach langem Kampf gegen den Widerstand der Eltern, in Begleitung ihrer Gouvernante in als Privatschülerin von Adolf Hölzel und Ida Kerkovius, hatte sie studiert. Die Eltern hatten darin eine Interimsbeschäftigung der Tochter bis zur Eheschließung gesehen, einen Tick eher als eine ernst zu nehmende Berufung. Darüber aber hatte sie wenig gesprochen, früher vor dem Krieg und auch jetzt wussten das nur wenige. Die Malerei war ihr ganz persönliches Refugium ge- blieben. Ottilie W. Roederstein2, die angesehene, freischaffende Künstlerin, die als Portraitmalerin auch in Hause vom Rath bekannt und mit Hannas Großmutter mütterlicherseits befreundet gewesen war, hatte Hanna damals ihre Hilfe ange- boten. Sie hatte Brücken geschlagen zwischen dem trotzig willensstarken Begeh- ren der Tochter und den streng konservativen Eltern. Sie hatte Hanna geholfen, den Weg zu bahnen, erste Schritte aus dem eng gezogenen Kreis zu wagen, hatte ihr ersten Malunterricht gegeben, anfangs noch im Haus der Eltern bis Hanna es hatte durchsetzen können mit dem Fahrrad zu ihr fahren zu dürfen, in ihr Atelier nach Hofheim. Die „Roederstein“ hatte ihr später auch den Weg nach Stuttgart geöffnet, zu Adolf Hölzel und Ida Kerkovius. Von der schlimmen Zeit der verfemten Kunst hatte die „Roederstein“ nur den Anfang erlebt. 1937 war sie in Hofheim gestor- ben, auf dem Waldfriedhof hatte man ihr ein Ehrengrab bereitet. Die couragierte und völlig unabhängige Art der Lebensführung, jenseits der Konventionen und doch ohne sie zu negieren, in der Ottilie W. Roederstein ihr Leben nicht nur als Künstlerin in die Hand genommen und darin Bestand und Anerkennung gefun- den hatte, waren für Hanna Vorbild und Ansporn geworden, hatten auch sie zur Malerei finden lassen. Wie lange war das eigene künstlerische Tun nun schon hinter der Vermitt- lung, dem Mäzenatentum und dem Sammeln zurückgetreten, dachte Hanna. Nur einige Ausstellungen ihrer Arbeiten hatte es vor dem Krieg gegeben, im Kunst- salon Ludwig Schames am Frankfurter Börsenplatz zum Beispiel. Wie stolz war sie damals darauf gewesen, gerade dort ausstellen zu können. Denn Arbeiten Emil Noldes und Ernst Ludwig Kirchners waren damals, in den 20er Jahren, in der Galerie Ludwig Schames zu sehen, noch von dem ‚alten‘ Schames initiiert,

18 den Hanna auch deshalb so sehr bewunderte. Er war der erste, der diese Künstler in der Stadt gezeigt hatte. Sein Neffe, Manfred Schames, hatte die führende Position der Galerie inner- halb des Frankfurter Kunsthandels nach dem Tod des Onkels nur verwalten, nicht aber mehr ausbauen können. Sehr zeitig hatte er die Absichten der Nazis für sich als Jude richtig eingeschätzt und hatte 1933 die Galerie aufgelöst und war nach Jerusalem ausgewandert. So war er dem NS-Regime, das in den Folgejahren zahlreiche Kunsthändler, darunter viele Juden, ihrer Arbeitsmöglichkeit zwangsweise beraubte, zuvor ge- kommen. Den Künstlern fehlten diese Galeristen. Die Vermittler und Vertreter ihrer Ar- beiten waren ihnen genommen. Dieser Verlust war es gewesen, der Hanna dazu veranlasst hatte, wenigstens bei einigen die Funktion der Kunstvermittlerin zu übernehmen. Parallel zur Vermittlung einzelner Kunstwerke an private Sammler war auch ihre eigene Sammlung gewachsen, durch Schenkungen der Künstler, aber auch durch eigene Ankäufe. Als ganz selbstverständlich hatte Hanna dies genommen und gerne die Kunstwerke ihren Besuchern gezeigt, ob sie daran interessiert waren oder nicht. Weder Angst noch Verbote, unsinnige zudem, hatten das verhindern können. Vorausschauende Vorsicht widersprach ebenso Hannas spontanem Temperament wie Angst zu haben. Einzig die Sorge um die Künstlerfreunde ließ sie manches verschweigen. In Hofheim war das nicht so schwer gewesen. Nein, Hofheim war nicht der Ort, an dem Besucher die Sammlung einer Mäzenin vermutet oder gesucht hät- ten. Hofheim war nicht die Gegend gewesen, in die sich Frankfurter zur Som- merfrische zurückgezogen hatten, diese Zeit der Muse gar zum Kunstkauf nut- zend. Man war nach Bad Homburg gereist, auch Kronberg im Taunus war noch möglich, aber Hofheim? Weder Spielbank noch Fürstenbahnhof hatten sich hier als Bühne für gesellschaftliche Auftritte geboten, keine Mineralquellen, die Heilungssuchende angelockt hätten. Das Flair eines ehedem kaiserlichen Bade- ortes, leicht dekadent und dennoch anziehend, hatte gefehlt. Nicht mondän, eher ländlich einfach, schlicht, aber nicht karg, mit alten Fachwerkhäusern im Zentrum und einzelnen Sommerhäusern am nahen Wald- rand, ruhig, nicht still, so war Hofheim. Deshalb war Hanna Bekker, wie sie sich zeitweise den Mädchennamen negierend, nannte, gerne hierher gezogen. Dieses Hofheim entsprach, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden war, in unbe- stimmbarer Weise ihrem Denken.

19 Zu Beginn der 20er Jahren hatte Hanna zusammen mit ihrem Mann, dem Mu- sikkritiker und Intendanten Paul Bekker3 das Haus in der Kapellenstraße von ei- ner Hofheimer Familie erworben. Für die Vorbesitzer war es ein Sommerhaus gewesen, nicht ständiger Wohnsitz, in der Nähe des Waldes am Hang gelegen. Später hatte Hanna die Fassaden blau streichen und die Fensterlaibung gelb absetzen lassen. Ida Kerkovius war es gewesen, die daher die von allen über- nommene Bezeichnung das „Blaue Haus“ geprägt hatte. Ein kritisches sich Amüsieren lag darin, vielleicht, in jedem Fall aber die Be- tonung des Andersartigen, des nicht angepasst Seins. Es passte zu Hanna und ein bisschen mag es sie an das „Russenhaus“ in Murnau erinnert haben, von dem ihr der Maler Alexej von Jawlensky erzählt hatte. Diesen Namen hatten die Bewoh- ner von Murnau dem Haus gegeben, in dem die Malerin Gabriele Münter zu- sammen mit Wassily Kandinsky, einem Maler russischer Abstammung, von 1909 bis 1914 gelebt hatte. Auch die Malerin Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky, beide ebenfalls in Russland geboren, hatten zeitweise dort gelebt. Protagonisten einer modernen expressionistischen Malerei waren alle vier, Mitbegründer der Künstlergruppe Der Blaue Reiter. Eine Parallelität zu ih- nen konnte Hanna nur recht sein. 1928 hatte sie dann ein Atelierbau an das „Blaue Haus“ angefügt. Nach Jahren des Umherreisens und ihrer Scheidung war es ihr ständiger Wohnsitz geworden. Sie war endlich angekommen. Umgebaut für ihre Zwecke, immer wieder erwei- tert und verändert, war das Haus zu dem gewachsen, was es nun war. Eine un- übersichtliche Folge verschieden großer Räume mit wechselnden Zweckbestim- mungen, den zeitlichen und familiären Gegebenheiten sich anpassend, den spontanen Einquartierungs-Initiativen der Hausherrin sich fügend. Wenn diese immer wieder anderen Künstlern vorübergehend Atelier und Wohnung bot, schien es mitunter aus den Fugen zu platzten. Vom Krieg verschont, ein Refugium des Rückzugs, der Kunstentstehung, -vermittlung und -bewahrung, Gefäß für eine Kunstsammlung, private Wohn- statt, Atelier und Bühne, Zuflucht für Gestrandete, Durchreisende, Freunde, ganz gleich ob Künstler oder nicht.

20 Abbildung 1: Hanna Bekker vom Rath im roten Zimmer des blauen Hauses in Hofheim neben ihrem Abbildungchinesischen 1: Tempelwächter,Hanna Bekker vom 2. Hälfte Rath im40er roten Jahre, Zimmer Foto desMarta blauen Hoepffner Hauses in Hofheim neben ihrem chinesischen Tempelwächter, 2. Hälfte 40er Jahre, Foto Marta Hoepffner Später erst sollte Hanna erfahren, dass es ihr „ausgezeichneter Ruf als Sammle- rin“Später gewesen erst sollte war, Hanna ihre Bekanntheiterfahren, dass als es unerschrockene ihr „ausgezeichneter Förderin, Ruf ihreals Sammle- Verbin- dungenrin“ gewesen zu Künstlern, war, ihre nicht Bekanntheit nur den verfemten, als unerschrockene aber gerade Förderin, auch zu ihnen, ihre Verbin- der ihr dendungen Besuch zu Künstlern, der Herren nicht de nur le Roiden undverfemten, Dr. Haase aber eingetragengerade auch hatte.zu ihnen, Da der Hanna ihr Bekkerden Besuch ihren derWohnsitz Herren nicht de le geändert Roi und hatte, Dr. Haasewar sie eingetragen schnell zu hatte.finden Da gewesen. Hanna DieBekker in derihren Wiederbelebung Wohnsitz nicht begriffenegeändert hatte, Bürokratie war sie hat schnellte ihnen zu geholfen,finden gewesen. sie zu finden,Die in der denn Wiederbelebung einen Entnazifizierungsbogen begriffene Bürokratie musste hat jederte ihnen ausfüllen, geholfen, auch Hanna sie zu Bekker.finden, denn Ohne einen ihn gab Entnazifizierungsbogen es keine Lebensmittelbezugsche musste jeder ine. ausfüllen, Die aber auch brauchte Hanna Bekker.auch Hanna, Ohne wenn ihn sie gab auch es keinenie zum Lebensmittelbezugsche Leben reichten. ine. Die aber brauchte auchWährend Hanna, diewenn beiden sie auch Besucher nie zum ihr Leben nun vonreichten. dieser kurzen Suche berichteten, warWährend man wieder die ins beiden Rote Besucher Zimmer zurückgekehrt. ihr nun von dieser kurzen Suche berichteten, war„Das man Interessewieder ins der Rote Amerikaner Zimmer zurückgekehrt. an Kunst und Kultur ist groß, da sie in einer diesbezüglichen„Das Interesse Einflussnahme der Amerikaner einen an Kunst Teil ihresund Kultur Reed ukations-Programmsist groß, da sie in einer se- hen“,diesbezüglichen erklärte Dr. Einflussnahmede le Roi gerade. einen Teil ihres Reedukations-Programms se- hen“, erklärte Dr. de le Roi gerade.

21 21 „Man kann daher mit ihrer Unterstützung rechnen, politische Unbedenklich- keit vorausgesetzt, natürlich.“ „Um es kurz zu machen, wir wollen eine kleine Kunsthandlung in Frankfurt gründen und hoffen, Sie dafür als Kunstsachverständige zu gewinnen“, erklärte nun endlich Dr. Haase den Grund ihres Kommens und fuhr fort: „Die Firma Kunst-Keller, die wir zusammen mit Herrn Keller als Teilhaber gegründet hatten, musste aufgelöst werden, da die Amerikaner nur jeweils eine Lizenz vergeben, Herr Keller aber seine ehemalige Firma, einen Kunstverlag, wieder eröffnen wollte. Durch diese Umfirmierung sind unsere Möglichkeiten der Lizenzerlan- gung erschöpft.“ Daher also wehte der Wind, das also war es, was sie wollten. Hanna musste schmunzeln. „Gemeinsam können wir etwas Neues aufbauen, mit Ihrer Unterstützung, Ih- ren Verbindungen zu den Künstlern und den Sammlern“, hörte Hanna Dr. Haase für die Sache werben. Die freudig in ihr aufsteigende Nervosität überdeckend, zündete Hanna sich eine Zigarette an. Den Rauch ausblasend entzog sie sich zunächst einer Antwort, gewann Zeit. Sie möge sich, bat daher nun auch Dr. de le Roi, als Teilhaberin und Lizenz- geberin an ihrem Projekt beteiligen. „Das ist ja fast so, als machten Sie mir einen Antrag.“ Hanna konnte ein zwei- felndes Lachen kaum unterdrücken. Dr. Haase und Dr. de le Roi hatten offenbar schon ganz konkrete Pläne. „Ausgerechnet in der Stadt Frankfurt, die vor der Zeit des Nationalsozialismus ein Zentrum für Kunst und Kultur gewesen ist, fehlt nun ein Kunstinstitut.“ Dr. de le Roi, das musste Hanna zugeben, wusste wovon der sprach. „Sicher haben auch Sie die Zeitung gelesen“, fuhr er fort und zog die Ausgabe aus der Tasche. „Stadt ohne Bilder“ stand in dicken Lettern über dem Artikel, der vor wenigen Wochen in der Frankfurter Neue Presse erscheinen war. „In Frankfurt gibt es Theaterpremieren, fast wie einst im Mai, es gibt elf oder zwölf Kinos, in Frankfurt gibt es Konzerte mit Musik, die zwölf Jahre lang ver- boten war, es gibt Vorträge, knallvoll besetzt, es gibt die schönsten Anfänge von echten Diskussionen, es gibt ... Es gibt keine Kunstausstellung. In Wiesbaden ist man stolz auf die Leihgaben des Frankfurter Städels, aber Frankfurt schläft“, zi- tierte Dr. de le Roi den Redakteur des Blattes.4 „Sein Appell ist wohl nicht ins Leere gelaufen“, bemerkte lächelnd Hanna. In der ganzen Welt hatte der Frankfurter Kunstmarkt einen Namen gehabt, vor 1933. Aufgeschlossen hatte man neuen Strömungen gegenüber gestanden. Im Städel Museum hatte man schon Gemälde von Auguste Renoir, Pablo Picasso

22 oder bewundern können, als diesen Künstler noch keine breite Anerkennung zukam. Verjagt, verfolgt, geflohen, ermordet oder gestorben waren die bekannten Kunsthändler, die Hanna so gerne in Frankfurt aufgesucht hatte: Rosenbaum, J. S. Goldschmidt, Z.M. Hackenbroch oder Ludwig Schames. Nur von Manfred Schames, dem Neffen Ludwigs, wusste sie bisher, dass er überlebt hatte und wo er geblieben war. In Wiesbaden war die Situation nicht anderes. „An einen Handel mit Kunst haben wir zunächst nicht gedacht“, erklärte un- terdessen Dr. de le Roi. „Wir dachten eher, eine Art Kunstinstitut zu gründen.“ Einen Beitrag leisten wolle man, sich für Kunst und Kultur in Frankfurt ein- setzen, kulturelles Leben wieder anstoßen in einer von Trümmern gezeichneten Stadt, ausgehungert, auch geistig und kulturell. Der Betrachtung wieder zugäng- lich machen, ins Blickfeld der Öffentlichkeit zurückführen, was dieser für Jahre entzogen war. „Erste, vorläufige Lizenzen haben die Amerikaner bereits vergeben. Natürlich sind sie an strenge Vorbedingungen und Auflagen geknüpft. Aber immerhin ist es möglich, sie zu erlangen. Wo nach Theater, Konzert und Vortrag gehungert wird, da muss und wird auch die Kunst einen fruchtbaren Boden finden, meinen Sie nicht auch?“ Hanna fand das überzeugend, fragte sich jedoch, warum die Herren damit zu ihr kamen. Sollten sie etwa die notwendige Lizenz nicht selbst erwerben kön- nen? Gleichzeitig hörte sie sich sagen: „Auch die Künstler brauchen eine solche Institution, damit sie ihre Arbeiten der Öffentlichkeit präsentieren können. Ihre Kunst lebt vom Austausch mit einem Publikum.“ Die sich ihr aufdrängenden Fragen behielt Hanna erst einmal für sich. In den letzten Jahren war sie darin zu einiger Übung gelangt. Still hatte sie sich verhalten, abwartend. Das war ihr nicht leicht gefallen. Die Bewältigung der Dinge des Alltags hatte ihr jedoch dabei geholfen, sie abge- lenkt. Nach der Besetzung des „Blauen Hauses“ war sie um die Beschaffung des Allernötigsten bemüht gewesen und auch darum, wenigstens einige Bilder aus ihrem von Amerikanern besetzten Haus heraus zu bekommen, was heimlich eher den Kindern als ihr selbst gelungen war. Sogar kochen hatte sie derweil ein we- nig gelernt. Spärlich nur waren erste Nachrichten von den Künstlerfreunden durchgesi- ckert, aus Berlin hatte sie erste Lebenszeichen, von Karl Schmidt-Rottluff, Ida

23 Kerkovius wusste sie in Stuttgart. Emy Roeder, die Freundin aus Berliner Zeiten, weilte noch in Florenz, unerreichbar weit entfernt in dieser Zeit. Auch Briefe wurden nur schleppend befördert. Der Besetzung ihres Hauses durch die Amerikaner verdankte sie das Vorhan- densein eines Telefonanschlusses, der freilich nur mit großen Einschränkungen funktionierte. Jede Kontaktaufnahme war erschwert in diesen Zeiten. Immerhin aber war in Hofheim so etwas wie der Keim einer kleinen Künst- lerkolonie gelegt worden. Darauf konnte man vielleicht aufbauen. Wieder eingefunden hatte sich in Hofheim Ernst Wilhelm Nay, den Hanna Bekker als ganz jungen Maler in Berlin kennen gelernt hatte und der einige Male ihr Gast gewesen war. Auch Marta Hoepffner hatte sich, nachdem ihr Fotoatelier in Frankfurt durch Bomben zerstört worden war, mit ihrer Schwester in Hofheim niedergelassen. Dem „Blauen Haus“ direkt gegenüber, in einer Gründerzeitvilla wollte sie einen Neuanfang wagen und kam nun manchmal zu Hanna herüber. Man tauschte sich aus, Marta machte Fotos. An Reisen zu anderen Künstlern aber war kaum zu denken, nicht nur aufgrund der zerstörten Verkehrswege. Obwohl seit September zwischen der amerikani- schen und britischen Besatzungszone das Überschreiten der Grenzen erlaubt war, blieb das Reisen meist auf die jeweilige Zone beschränkt. Es mangelte an Koor- dination der Verkehrsmittel, der Vorschriften, an Reisebewilligungen, kurz: an allem. Einzelne Züge fuhren zwar, Illusionen weckend, Normalität vortäuschend, waren indes völlig überfüllt, die ganze Nation ein Trittbrettfahrer. Das wollte Hanna sich nicht zumuten, nicht wenn es nicht unbedingt sein musste. Ihres Autos beraubt war Hanna in ihrer Bewegungsfreiheit schmerzlich einge- schränkt. Mit einem Ersatz konnte sie vorerst nicht rechnen. Die ihr auferlegte Ruhe und Zurückgezogenheit waren so eher Zwangspause denn eigene Entschei- dung. Das Zurückgeworfensein auf den kleinen, unmittelbaren Umkreis war zur Überlebensform geworden. Ein wenig neidvoll hatte sie daher vor wenigen Wochen das Auto von Vergi- nia Fontaine beäugt, mit dem die Amerikanerin aus Frankfurt zu ihr herausge- kommen war. Traurig hatte sie sich dadurch an ihren eigenen 1943 in Berlin zu- rück gelassenen Tatra erinnert gefühlt. Wo er wohl geblieben war? Die beiden letzten Kriegswinter hatte sie nicht mehr in Berlin verbringen kön- nen, das Hin- und Herreisen war unmöglich geworden. So war es ihr auch nicht länger möglich gewesen, ihre kleine Atelier-Wohnung als Treffpunkt für die Künstlerfreunde, für Kunstinteressierte, für Gespräche und Austausch zu erhal- ten. Die Atelierwohnung, das war damals ihr kleines Kunstinstitut, ja, so hätte man es bezeichnen können.

24 Was man wohl von ihren kleinen Berliner Ausstellungen in Frankfurt wusste, im Hauptquartier? Was wussten die Amerikaner von ihren Vermittlungen und Verbindungen? Was konnten sie wissen? Und was wiederum wussten die beiden Herren? Von wem wussten sie es? Wichtiger noch: welche Folgerungen zogen sie daraus? Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten, sie zur Vorsicht mahnten. Sicher, ihre Familie, vom Rath, war in Frankfurt nicht unbekannt. Sie gehörte zu jenem Kreis, der unter der Beobachtung der Amerikaner gestanden hatte, schon vor dem Ende des Krieges, zwiespältig durchaus. Hannas Großvater, Carl Friedrich Wilhelm Meister5 war einer der Mitbegründer der Farbwerke Höchst AG gewesen, der Vater, Dr. Walter vom Rath, hatte nach der Fusion der Che- miewerke dem Vorstand der IG Farben angehört. 1941 war er gestorben. Aktien- anteile an dem Unternehmen hatten Hanna nach der Scheidung ein unabhängiges Leben gesichert. Seit dem Zusammenbruch waren diese eingefroren, stand die Führung der IG Farben in Nürnberg vor Gericht. Das Verwaltungsgebäude des Chemiekonzerns war nun das Hauptquartier der Besatzungsmacht, mit Stachel- draht umzogen, Sperrgebiet das ganze. Hanna hatte mit dem Konzern jedoch wenig zu tun gehabt. Ihre Gebiete waren Kunst und Kultur. Ohne sich große Gedanken über mögliche Folgen zu machen, hatte sie die verfolgte, verbotene Kunst während der Zeit des Nationalsozialis- mus unterstützt. Sollte sich für die Amerikaner nun darin ein geleisteter Wider- stand dokumentieren? Persönliche Zuneigung und das Verantwortungsgefühl gegenüber den ihr durch Ausbildung und gemeinsame Jahre verbundenen Menschen waren es ge- wesen, die sie hatten handeln lassen, wie sie gehandelt hatte. Die Möglichkeit, helfen zu können und das Wissen, helfen zu müssen in schwerer Zeit, hatten sie angetrieben, umgetrieben auch. Ihre Unabhängigkeit hatte sich darin dokumentiert, wohltuend und bestätigend für sie selbst, aber eben nicht nur für sie selbst. Es entsprach ihrer Überzeugung, mehr nicht. Ihre Unbekümmertheit, eine Mi- schung aus Naivität und Selbstüberschätzung vielleicht, auch Unerschrockenheit hatte eine realistische Bewertung der Gefahren verhindert, ihr das zuversichtliche spontane Handeln bis in die Kriegsjahre hinein ermöglicht. War es das, was die beiden Herren wussten? War es das, warum sie kamen? Das erneute Anstecken einer Zigarette gab ihr Zeit zum Nachdenken ange- sichts der sie bedrängenden Fragen. Ein Feuer hatten die in Aussicht gestellten Möglichkeiten sofort in ihr ent- facht. Neues zu wagen und anderes hinter sich zu lassen, zu zeigen, was noch vor kurzem verboten war, Arbeiten verfemter Künstler, ihrer Freunde, neue, moder-

25 ne Kunst ebenso, einen Ort des Austauschs und der kulturellen Begegnung zu schaffen, in Freiheit nun, nicht im Verborgenen. Der Kunst die Freiheit zurück zu geben, die man ihr genommen hatte, jene Freiheit nämlich, die ihr nur wenig später das Grundgesetz verbriefen sollte. Über der Freiheit der Kunst auch zur eigenen inneren Freiheit zurückzufinden, vielleicht. Das eigene Dasein mit Engagement für eine lohnende Sache zu füllen und ihm dadurch neues Leben zu verleihen, zu vergessen, verdrängen wenigstens auch manches, was schwer auf ihrer Seele lastete. Auslöschen nicht, aber sich nicht mehr davon beherrschen lassen, dem Leben wieder eine neue Richtung ge- ben, frei und selbstbestimmt ohne die Erinnerung an Vergangenes zu verleugnen. Das Gewesene vielmehr als Gewinn nutzbar machen zu können aus der Über- windung heraus. Dies alles schien ihr möglich mit diesem Angebot. Dr. de le Roi und Dr. Haase hatten ihr Interesse schnell bemerkt. Hanna Bek- ker war nicht die Frau, die sich verstellte. Weder wollte sie es, noch hätte sie es wirklich gekonnt. Und während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen, hörte sie wie durch einen Filter hindurch die beiden Herren weitere Argumente und Planungen vortragen. Einen Raum in der Kaiserstraße habe man bereits ins Auge gefasst, erwähnten sie beiläufig, lockend, dem Vorhaben damit ein Gesicht gebend. „So weit also haben Sie schon geplant, vorausgearbeitet!“ Hanna war über- rascht. Wie konnten die Herren sich ihrer Zustimmung so sicher gewesen sein, fragte sie sich. Es konnte beileibe nicht leicht sein, einen Raum für die Zwecke der Kunst zu bekommen in einer Stadt, in der viele Menschen kein Dach über dem Kopf hat- ten, in Kellerlöchern hausten. Die Herren mussten gute Verbindungen haben und: sie meinten es ernst mit ihrem Vorhaben, soviel war sicher. „Das Dach ist zwar beschädigt, auch die Fenster“, sagte nun einschränkend Dr. Haase. Gerade so, als habe er Hannas Gedanken erraten. Die Beschaffung von Dachlatten sei zudem vom Eigentümer als Bedingung für die Vermietung der beiden Räume genannt worden, fügte er noch hinzu. „Das Haus ist eben beschädigt, aber brauchbar. Mit einem Notdach wird es wohl gehen, für den Anfang“, ergänzte der andere. Der Standort sei äußerst geeignet für eine zukünftige Galerie, die Lage güns- tig im alten und wohl auch zukünftigen Zentrum der Stadt, dem traditionellen Kunst- und Kulturviertel nahe gelegen; die Straße sei von Trümmern fast ge- räumt.

26 Ein Trümmerhaus war es, wie sich später herausstellten sollte, nur etwas we- niger zerstört als andere, das zeichnete es aus. Es waren ehemals die Räume des Fechtklubs Hermannia gewesen, immerhin waren es hohe Räume. Ein Notdach gab es bereits. Das war es, was zählte in diesen Tagen. Die Räume lagen im zweiten Stock, das Treppenhaus war beschädigt. Eher etwas für Schwindelfreie hing es zwischen den Stockwerken, selbst eine noch so notdürftige Überdachung fehlte in diesem Bereich. Davon jedoch schwiegen ihre Besucher einstweilen, kamen vielmehr erneut auf die notwendige Lizenz zurück. Diese allerdings müsse man noch beantragen, erklärten sie Hanna nun, in Wiesbaden beim Wirtschaftsamt der kürzlich neu gebildeten Regierung des Verwaltungsgebietes Großhessen. Zuvor müsse auch noch die Zustimmung der amerikanischen Besatzungs- macht bei der zuständigen Stelle in Wiesbaden eingeholt werden. Persönlich müsse der Antragsteller dort vorsprechen. Ferner sei eine politi- sche Unbedenklichkeitserklärung vorzulegen und auch eine Lagerbestandsliste werde gewöhnlich gefordert. „Ein Lager gibt es ja vorerst nicht“, resümierte Dr. Haase, „bei einer Ge- schäfts-Neugründung wird man darauf wohl verzichten.“ Ein bisschen fühlte Hanna sich überrumpelt, leicht grollend sah sie dennoch eine Auszeichnung in diesem Angebot, fühlte sich geehrt und gefordert zugleich. Gleich festlegen, wollte sie sich in dieser Melanche der Eindrücke nicht. Man werde sehen, sie wolle sich kümmern, hörte Hanna sich selbst bemerken und wusste im selben Moment, da sie die betroffenen, fast enttäuschten Gesich- ter sah, dass diese Idee sie nicht mehr loslassen würde. Sie konnte diese Möglichkeit nicht ausschlagen, wollte die Chance, neu und nun offiziell beginnen zu können, nutzen. Wer sollte, wer konnte sie daran hindern, sich auf das Angebot einzulassen? Ihre Kinder? Ihre Kinder hatten Hanna auch als diese noch kleiner waren nicht daran ge- hindert, ihre Wege zu gehen, eigenständige, freie Ziele zu verfolgen. Jetzt waren die beiden Töchter groß, beinahe wenigstens, Barbara 25 und Ma- ximiliane 19 Jahre. Der Sohn, Kilian, aber war 20jährig gefallen in jenem elen- den Krieg, in Russland 1943. Sie hatten ihn nicht zurückhalten können, hatte ihn nicht wieder gesehen, nachdem er mit jugendlichem Enthusiasmus davon gezo- gen war. Aber daran durfte und wollte sie jetzt nicht denken. Die Gedanken an Kilian verbot sie sich. Auch der Vater der Kinder, ihr geschiedener Mann, war tot. Sicher hätte auch er sie nicht von einem solchen Vorhaben abgehalten.

27 Wer sonst sollte sie also zurückhalten können? Eher würden sich Befürworter des Vorhabens finden, im Kreis ihrer Künstler- freunde ganz sicher. Diese Herausforderung war ungeheuer reizvoll, wie eigens für sie gemacht. Warum sich ihr nicht stellen? Begeisterung hatte schon zu Beginn des Gesprä- ches von ihr Besitz ergriffen, warum also noch zögern, die gespannt abwartenden Herren vertrösten? Spontan, wie es ihre Art war, sagte sie zu, sich wenigstens schon einmal um die Lizenz zu kümmern.

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