Der Fall Wagner“ Und „Ecce Homo“

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Der Fall Wagner“ Und „Ecce Homo“ Der Einfluss Wagners auf das Leben und Werk von Nietzsche am Beispiel von „Der Fall Wagner“ und „Ecce Homo“ Neuere deutsche Literaturwissenschaft „Literatur der Décadence“ Sommersemester 2003 Maria Juchem Inhaltsverzeichnis Prolog 1. Eine kurze Biografie als Ursachenforschung 1.1. Kindheit und Jugend – erste Schriften 1.2. Nietzsches Weg zum Wissenschaftler 1.3. Erstes Treffen mit Wagner 1.4. Faszination Tribschen und die Geburt der Tragödie 1.5. Mit Wagner in Bayreuth 2. Der Fall Wagner 2.1. Entstehungsgeschichte 2.2. Décadence als Ursache und Wirkung 2.3. Apollinisch und / oder dionysisch 2.4. Sokrates und der Kampf ums Individuum 3. Ecce Homo Wie wird man was man ist 3.1. Entstehungsgeschichte 3.2. Wahnsinn oder Pragmatismus 3.3. Und so erzähle ich mir mein Leben Schlusswort 1 Der Einfluss Wagners auf das Leben und Werk von Nietzsche am Beispiel von „Der Fall Wagner“ und „Ecce homo“ Prolog Friedrich Nietzsche über Wagner in „Ecce homo“: Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen; und so gewiß Wagner unter Deutschen bloß ein Mißverständniß ist, so gewiß bin ich’s und werde es immer sein (Nietzsche 1988b:66). Das erste Zusammentreffen von Wagner und Nietzsche fand 1868 statt und ihre Kontakte sollten lediglich acht Jahre dauern. Diese Begegnung des 24-jährigen Nietzsche mit dem 55- jährigen Wagner hat jedoch des Leben des deutschen Philosophen sehr stark geprägt und sein Werk nachhaltig beeinflusst. Er spricht von Wagner (und auch von sich selbst) als „décadent“, als ein Vertreter der „Décadence“, jenem Kunststil und Lebensgefühl des späten 19. Jahrhunderts, der die überreife, nervös verfeinerte Geistigkeit und Sinnlichkeit kultivierte, sich vom Naturalismus und allen geltenden bürgerlichen Normen distanzierte, der Künstlichkeit den Vorzug gab und den „Heroismus der Schwäche“ kreierte. Oder meint er damit Décadence als Krankheit? Nietzsche schwärmt 1876 von Wagner in „Richard Wagner in Bayreuth“: „Es ist die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst; wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde“ (Nietzsche 1876:7) Was ist geschehen, dass Nietzsche in „Der Fall Wagner“ schreibt: Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht alles krank, woran er rührt – er hat die Musik krank gemacht (Nietzsche 1888a:97) ? 1. Eine kurze Biografie als erste Ursachenforschung 1.1. Kindheit und Jugend – erste Schriften Erste Ansätze zum Verständnis finden sich in der Kindheit und Jugend von Friedrich Wilhelm Nietzsche. Als erstes Kind und ersehnter „Prinz“ eines königstreuen Pfarrers am 15.10.1844 am Geburtstag des Königs Friedrich Wilhelm IV. in Röcken bei Lützen geboren erlebt er ein Elternhaus, das einen gepflegten Stil und feine Manieren kultiviert. Er ist noch nicht ganz 4 Jahre alt, als die Märzrevolution 1848 ausbricht und das Weltbild seines Vaters zerstört. Dieser wird unmittelbar danach unheilbar geisteskrank und verstirbt mit nur 36 Jahren. Der junge Nietzsche verliert die angebetete Vaterfigur auf eine sehr grausame Art und Weise. Die Familie, die außer ihm nur noch aus gottesfürchtigen Frauen besteht, zieht nach Naumburg. Es ist beschlossen, dass der „kleine Fritz“ auch Pastor werden soll. Er lernt gut und schnell und wird verwöhnt und behütet. Das erste kleine Drama, das er verfasst, heißt „Das Königsamt“ – ganz im Sinne seines Vaters. Mit 14 schreibt er bereits eine Autobiographie „Aus meinem Leben“. Diese erste Rekapitulation seines bisherigen Lebenslaufes ist stark religiös geprägt. Im Vertrauen auf die göttliche Allmacht sucht er bereits nach Sinn und Entwicklung seines bisherigen kurzen Lebens. Schon hier legt er sich auf sein 2 Musikcredo fest: „Ich empfing [...] einen unauslöschlichen Haß gegen alle moderne Musik und alles, was nicht klassisch war“ (Borchmeyer / Salaquarda 1994:1280). Zu diesem Zeitpunkt geschieht der nächste radikale Eingriff in sein Leben: Er erhält eine Freistelle an der Königlichen Landesschule Pforta, eine preußische Kadettenanstalt, die fast ausschließlich den Geist der Antike und Religion lehrte. Er bleibt schwach in Rechtschreibung und Grammatik; Englisch lernt er nur sehr unvollkommen. Nietzsche empfindet das Privileg, diese Schule besuchen zu dürfen, als reinste Qual. „Es sind Jahre, an deren uniformierten Zwang Nietzsche sein Leben lang mit Schaudern denken wird“ (Lehann 2000:3ff.). Es scheint eine logische Folge, dass sich die ersten Anzeichen seiner vielen Krankheiten, die ihn noch heimsuchen werden, einstellen: Kopfschmerzen, Migräneanfälle und Sehstörungen. 1.2. Nietzsches Weg zum Wissenschafter 1864 geht er als Abiturient zum Studium nach Bonn. Sein Leben ist jetzt das reinste Vergnügen; er feiert, singt und trinkt die Nächte durch. Er hat auch erste Kontakte zu Frauen, wobei er sich mit Syphilis ansteckt. Aber seine tiefsten und innigsten Beziehungen sind seine Freundschaften mit Männern. Hier findet er Verständnis, Gleichgesinnte und vor allem Diskussionspartner. Eigenschaften, die ihn später auch an Wagner faszinieren werden. Zu diesem Zeitpunkt vernachlässigt er das Studium sehr. Am 20.10.1865 immatrikuliert sich Nietzsche in Leipzig. Eine glückliche Fügung schafft es, dass sein berühmter Professor aus Bonn, der Philologe Ritschl, gleichzeitig mit ihm nach Leipzig wechselt. Ritschl erkennt das Genie Nietzsches und wird dessen Förderer und väterlicher Mentor. Es gelingt ihm, aus Nietzsche in nur wenigen Semestern einen ernsthaften Wissenschaftler zu machen. 1.3. Erstes Treffen mit Wagner Nach langer Krankheit nach Leipzig zurückgekehrt macht er Bekanntschaft mit Wagners Musik. Nietzsche ist tief berührt und aufgewühlt. Kurze Zeit später lernt er Wagner persönlich kennen. Dessen starke Persönlichkeit, die Kraft, die dieser ausstrahlt, und der Wille zu Macht und Größe müssen ihn für den jungen Nietzsche zu einem Menschen machen, den man verehrt und bewundert. Wagner wiederum ist empfänglich für Menschen, die ihn verehren und anbeten. Ihr gemeinsames Verständnis für die Thesen Schopenhauers schafft eine Verbindung, die beiden gerecht wird. Wie er neigen sie zum Grundsatz, nicht durch Beschäftigung mit Vorangegangenem, sondern nur aus eigener Lebenserfahrung könne man zur Welt- und Selbsterkenntnis gelangen. Wagner spricht eine Einladung zu einem Besuch in seinem Landhaus in Tribschen bei Luzern aus – für Nietzsche ist das die Eintrittkarte zur großen Welt. Und auch ansonsten geht es mit ihm aufwärts. Durch Vermittlung seines Studentenvaters Ritschl erhält Nietzsche ohne Abschluss, ohne Habilitation die Stelle eines Professors für klassische Philologie in Basel. 1.4. Faszination Tribschen und die Geburt der Tragödie Nietzsche bezeichnet die Zeit in Tribschen rückblickend als die glücklichste seines Lebens. Seine Faszination erstreckt sich auch auf Cosima, die Geliebte Wagners. Die Einladung Wagners nach Tribschen klingt wie ein Befehl und nicht wie eine Einladung an einen Besucher, auf den man sich freut: Kommen Sie doch zum Beispiel Sonnabend Nachmittag, bleiben Sie Sonntag und kehren Sie Montag früh zurück; das vermag doch etwa jeder Handwerker, um so viel mehr doch ein Professor [...] Nun lassen Sie sehen, wie Sie sind. Viel wonnige Erfahrungen habe ich 3 noch nicht an deutschen Landsleuten gemacht. Retten Sie meinen nicht ganz unschwankenden Glauben an das, was ich – mit Goethe und einigen anderen – deutsche Freiheit nenne (Borchmeyer/ Salaquarda 1994:13). Von nun an ist er sehr oft Gast in Tribschen und schreibt an seinen Freund Gersdorff: „In ihm [Wagner] herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabener Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle“ (Ross 1999:256). Doch bald ergeben sich erste Belastungsproben. Wagner und Cosima sind Menschen, die Freundschaften ausnutzen und Nietzsche ist ein williges Opfer. Zwar jammerte er über die viele vergeudete Zeit, aber er gibt gerne den Adlatus von Wagner und den Kavalier für Cosima. Sein Professorenamt vernachlässigt er. Nietzsche wird immer mehr weg von der Wissenschaft hin zu Wagners gezogen, jedoch nur um dort einen untergeordneten aber nützlichen Rang einzunehmen. Neujahr 1872 erscheint seine „Geburt der Tragödie“, die das Griechentum neu zu deuten versucht. Apollo und Dionysos, zwei Götter streiten um die Macht der Vernunft oder der Intuition. Nietzsches erste philosophische Schrift ist ein Propagandaschrift für Wagner. Das Vorwort ist eine einzige Huldigung an den großen Meister. Wagners sind begeistert und verteilen das Buch überall. Anders Nietzsches Kollegen. Die glauben an Sokrates und die menschliche Vernunft und nicht an eine Welt zu Spaß und Spiel. Seinem ehemaligen Mentor Ritschl nötigt das Werk nur den Vermerk „geistreiche Schwiemelei“ ab. 1.5. Mit Wagner in Bayreuth Im April 1872 geht Wagner nach Bayreuth. Im Projekt „Wahnfried“ trifft sich eine Elite aus Regenten, Intellektuellen, Financiers und – Nietzsche. Mit seiner „Geburt der Tragödie“ hat er sich in Fachkreisen ins Aus gestellt. Selbst seine Studenten laufen ihm davon. Sein Ruf als Wissenschaftler ist ruiniert. Ein Ausweg wäre es, Hofphilosoph bei Wagner zu werden, was dieser natürlich gerne sähe. Wagner hat zunehmend finanzielle Schwierigkeiten und Kritiker. Bayreuth kränkelt und die Freundschaft zwischen Wagner und Nietzsche auch. Nietzsche beginnt zu zweifeln:
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