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Sendung vom 26.04.2004, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Joachim Kaiser Musik-, Literatur- und Theaterkritiker im Gespräch mit Dr. Ernst Emrich

Emrich: Grüß Gott, verehrte Zuschauer, ich begrüße Sie zum Alpha-Forum. Gast im Studio ist heute Professor Joachim Kaiser. Wer Professor Joachim Kaiser ist, wissen diejenigen, die ihn kennen; diejenigen, die ihn nicht kennen, werden es sofort erfahren. Professor Kaiser, Sie erlauben mir, dieses Gespräch nicht mit einer Frage zu beginnen, sondern mit einem Zitat. Es stammt von einem Kollegen von Ihnen, von Marcel Reich-Ranicki. Er hat vor gut zehn Jahren bereits Folgendes über Sie geschrieben. Er hat Sie bezeichnet als den "einzigen deutschsprachigen Kritiker von Rang und Format, der gleichermaßen unterhaltsam und belehrend, geistreich und urteilssicher über Musik, Literatur und Theater zu schreiben vermag." Er hat vergessen zu sagen, dass Sie auch darüber zu sprechen vermögen. In der Tat ist das etwas Besonderes; oder gab es das früher schon einmal jemanden, der als Kritiker eine solche Bandbreite bediente, nämlich Musik, Literatur und Theater? Kaiser: Na ja, das ist doch ein bisschen ungewöhnlich. Und es ist ja auch ein bisschen unseriös, denke ich manchmal. Schauen Sie, als Sie das soeben vorlasen, dachte ich, "Mein Gott, diese Vielseitigkeit!". Und ich erlebe es auch gelegentlich, dass die Theaterleute sagen: "Was er über Musik schreibt, ist ja ganz interessant!" Während die Musiker sagen: "Seine literarischen Dinge lese ich ganz gerne." Aber eigentlich steckt in dieser Fülle so ein bisschen auch der Vorwurf, er sei offenbar ein musischer Dilettant und kennt sich nicht so genau aus wie jemand, der ein absoluter Spezialist ist. Emrich: ... und der sich nur für diese oder jene Sache zuständig fühlt. Kaiser: Ich habe z. B. als junger Mensch und früher dann sogar noch in der "Süddeutschen Zeitung" auch gelegentlich Filmkritiken geschrieben. Aber auch der Film, das Cineastische, hat sich derart spezialisiert. Wer nicht sämtliche 40 Filme von Howard Hawks gesehen hat, der traut sich doch heute kaum mehr auf diesem Gebiet den Mund aufzumachen - was ich übrigens für eine Verarmung halte. Ich finde nämlich, die Spezialisten haben nicht immer Recht. Aber das ist natürlich eine Art von Selbstverteidigung, wie Sie sich denken können. Emrich: Ich glaube, darauf kommen wir sicherlich noch zu sprechen. Ich selbst hatte auch das Beispiel der Filmkritik sofort parat, denn man weiß, dass es Leute gibt, die sich genau darauf und nur darauf spezialisiert haben. Darüber wissen sie alles und nur darüber schreiben sie auch. Das Erstaunliche ist deswegen diese Bandbreite bei Ihnen. Was die einzelnen von Ihrer Kritik Betroffenen dann abschiebenderweise, salvierenderweise sagen - "Von der Musik mag er was verstehen, vom Theater versteht er weniger!" – das geht dann sozusagen mit denen heim, das betrifft weniger die objektive Aussage. Ich habe eigentlich vor, mit Ihnen ein wenig über Ihren Job, über Ihre Profession, aber auch über Sie als Persönlichkeit zu sprechen. Und die Persönlichkeiten fangen in der Regel damit an, dass sie auf die Welt kommen. Nun müssen wir nicht so weit zurückgehen, aber wir sollten immerhin bis ins Jahr 1948 zurückgehen. Als im Jahr 1948 Joachim Kaiser als Abiturient die "Mondscheinsonate" im Wilhelms-Gymnasium in Hamburg in der Aula gespielt hat, und zwar ganz gespielt hat, hatte er da irgendwelche Berufsvorstellungen? Wenn ja, welche? Kaiser: Keine ganz exakten. Aber ich empfinde es als ein großes Glück – was normalerweise eher ein Unglück ist, so schrecklich alt zu werden, wie ich jetzt bin –, ich empfinde es also als ein großes Glück, dass ich damals im Jahr 1948 schon so weit war, mich mit Kultur, mit der "Mondscheinsonate" usw. beschäftigen zu können. Der Helmut Kohl hat meiner Meinung nach mit nichts mehr Recht gehabt als mit seinem Ausspruch von der "Gnade der späten Geburt". Schauen Sie, ich bin 1928 geboren, habe eine verhältnismäßig musische und einfache Jugend gehabt damals, zuerst in Milken, das ist ein kleines Dörfchen in Ostpreußen. Als ich dann fünf Jahre alt war, ging es nach Tilsit. Und dort lernte ich ganz gut Klavier spielen und dann noch ein bisschen Cello und etwas Klarinette. Man konnte sich in so kleinen Städten, ab von der Zentrale, ab vom Zentrum, weit weg von Berlin, ganz gut vom Politischen freihalten, zumal dann, wenn der Vater Arzt war und daher von irgendjemandem ein Attest bekommen hat, damit man nicht zum Dienst zu gehen brauchte. Natürlich hat sich dann der Staat allmählich doch eingemischt. Man musste plötzlich Pimpf werden, man musste zum Dienst, man musste dieses, man musste jenes machen. Dagegen wehrte ich mich, so gut ich konnte. Nicht, weil ich ein Antinazi oder Antifaschist gewesen wäre: Das ist man mit zwölf Jahren nicht. Sondern weil ich sozusagen meine Ruhe haben und Klavier üben wollte. Das ging eigentlich auch ganz gut. Es gab natürlich auch so gewisse weltanschauliche Dinge, es wurde damals ja auch furchtbar viel über Ideologie und so geredet: Da merkte ich, dass ich nicht nur Klavier spielen kann, sondern dass ich mich schon auch ein bisschen für diese Dinge interessieren muss. Ich las dann vor allem diejenigen Bücher, von denen meine Eltern sagten, sie seien "noch nichts für das Kind". Ich glaube, ich las mit 13 Jahren den "Zauberberg", denn dazu hatte mein Vater gesagt: "Nein, das doch lieber nicht." Ich las auch tatsächlich, und darauf bin ich stolz, den "Faust": Ich habe ihn nicht ganz verstanden mit meinen zwölf Jahren, den "Faust" versteht man womöglich auch mit 82 Jahren noch nicht. Aber wenn man ihn liest, ist das eine schöne Sache, auch in dem Alter. Ich bekam auf diese Weise ein Gefühl dafür, was Unfreiheit ist und was Kultur ist. Und dann kam das Jahr 1945: Das war für mich ein richtiggehendes Befreiungsjahr. Man darf niemandem glauben – das finde zumindest ich, vielleicht täusche ich mich –, dass er 1945 total zusammengebrochen und dass da alles zugrunde gegangen sei usw. Auch diejenigen, die ans Dritte Reich und an Hitler geglaubt hatten, hatten sicherlich schon nach Stalingrad oder nach den Bombardierungen im Jahr 1944 aufgehört, an irgendetwas Positives zu glauben: Sie wussten, es geht schief. Für mich waren die letzten Kriegsjahre nichts anderes als ein dunkler Tunnel und das Gefühl, wie das wohl enden wird. Ich habe viele Schulen besucht in dieser Zeit: Ich war nicht nur in Tilsit, sondern später auch in Elbing usw. Ich war auch auf dem Joachimsthalischen Gymnasium in Templin. Wir flohen nämlich so herum und ich musste mir als 14-, 15-, 16-jähriger Junge immer wieder neu ein Klavier suchen, um üben zu können. Und dann kam ich nach Hamburg. Ich hatte plötzlich, nachdem ich scheußliche Dinge hinter mich bringen musste - es war ja Krieg, es gab Luftangriffe usw. – im Jahr 1945, da war ich also 17 Jahre alt, das Gefühl: "Donnerwetter, was für eine Freiheit!" Ich bin dann mit meinem Freund Werner Burckhardt 1946/47 – das klingt so unglaubhaft, dass ich es mir selbst nicht glauben würde, wenn ich nicht die Programme gesammelt hätte – innerhalb eines Jahres 400 Mal im Theater oder im Konzert gewesen. Das heißt, wir gingen am Freitag, am Sonnabend – im Norden sagt man Sonnabend und nicht Samstag – und Sonntag auch in die Nachmittagsvorstellungen. Das würde man heute alles gar nicht mehr machen können, weil es heute darauf ankommt, dass man in diesem Alter ein möglichst gutes Abitur macht, möglichst mit der Note 1,1 oder besser. Denn ohne 1,1 kann man heutzutage ja noch nicht einmal Förster studieren. Mir war das damals jedenfalls egal. Dass ich das Abitur bestehen würde, war ziemlich zweifellos. Ich hatte eben ein paar gute Fächer, ein paar mittlere und ein paar schlechte. Dieser Vorrat an Dingen, die ich damals gesehen habe, war ungeheuer wichtig. Sie müssen sich vorstellen, dass man damals als junge Seele zum ersten Mal Sartre gesehen hat, zum ersten Mal Gründgens, zum ersten Mal hörte man Furtwängler usw. Weil das alles in die junge Seele fällt, ist es so, dass ich diese Dinge von damals heute noch besser weiß als manches, was ich vor zwei, drei Jahren gesehen und schon beim Sehen vergessen habe. Emrich: Mich erinnert das an etwas, das unser alter Schuldirektor, der auch gleichzeitig unser Deutschlehrer gewesen ist, immer zu uns gesagt hat: "Meine Herren, lesen Sie jetzt in der Oberstufe so viel Sie können. Sie werden nie mehr so viel Zeit dafür haben!" Das ist etwas, das mich ein Leben lang begleitet hat: Ich hatte wirklich nie mehr so viel Zeit zum Lesen. Und ich habe damals nicht genug gelesen. Hatten Sie denn neben dieser intensiven musikalischen Arbeit Zeit zu lesen? Kaiser: Man nimmt sich diese Zeit, man nimmt sie sich einfach! Verstehen Sie, ich erlebe es ja so oft nach meinen Vorträgen, dass jemand zu mir sagt: "Ach Gott, ich würde natürlich auch gerne mehr lesen. Mich interessiert das alles sehr, aber im Augenblick kann ich nicht. Aber später, wenn dann die Kinder aus dem Haus sind und ich pensioniert bin, dann lese ich!" Ich kann darauf nur jedes Mal sagen: "Dann ist es zu spät, dann geht das nicht mehr in Ihre Persönlichkeit ein." Man kann weiß Gott auch mit 70 Jahren zum ersten Mal die "Ilias" lesen. Bloß ist es einfach besser, man liest sie zum ersten Mal mit 17 Jahren. Ich finde, wenn das Fernsehen auch nur denjenigen Nachteil hätte, vielen jungen Menschen das Lesealter wegzuflimmern, dann wäre es schon schlimm genug. Wissen Sie, ich meine diese Zeit, in der man noch in der Pubertät ist und in der man noch den "Fabian" liest oder "Die vollkommene Ehe" oder unanständige Sachen usw., also keineswegs immer nur Seriöses. Wenn dieses nicht ist, wenn man also mit 20 Jahren fast noch nichts gelesen hat, weil man sich hauptsächlich fürs Fernsehen und für Ratespiele und für das Internet interessiert, dann wird man sein Leben lang unbelesen bleiben – und weiß freilich mit 20 Jahren nicht, dass das ein Unglück ist. Bei mir war das jedenfalls anders. Und ich finde, auch der Berufsleser muss lesen: Jemand, der wirklich lesen will, der klaut sich die Lesezeit einfach, der stiehlt sie seinem ehelichen Leben, der bereitet sich nicht richtig auf die Schule vor usw. Aber er hat dann eben doch mal einen Dostojewski zu Ende gelesen, von dem alle anderen nur behaupten, sie hätten ihn zu Ende gelesen. Und darauf kommt es an. Wenn Sie mich aber schon auf dieses Thema bringen: Dass die musikalische Bildung in Deutschland sehr viel verbreiteter ist als die literarische, hat u. a. auch mit Folgendem zu tun. Wenn Sie eine Beethoven-Sonate hören, dann dauert die 30 oder 40 Minuten. Das heißt, die Sonate "Les Adieux" von Beethoven, über die es eine dicke Literatur gibt, kann man an sich in 20 Minuten gehört haben. Ein Theaterstück dauert schon einen ganzen Abend. Na, immerhin, das kann man noch machen. Man kann mal in den "Egmont" gehen oder in die "Fliegen" von Sartre. Ein Roman dauert vier, fünf Wochen. Das heißt, das Literarische nimmt, um es kennen zu lernen, viel mehr Zeit in Anspruch als das Kennenlernen von Musik. Darum gibt es auch in Deutschland eine ganze Masse Menschen, die sich doch so einigermaßen auskennen bei Musik, die wissen, was eine Chopin-Polonaise ist, die vielleicht auch wissen, was ein Brahms-Intermezzo ist. Aber es gibt nur relativ wenige, die nicht mogeln, wenn sie so tun, als hätten sie Hamsun und Gogol und Dostojewski und Tolstoi und Fielding und Goethe usw. tatsächlich gelesen. Wie gesagt, das waren so die Voraussetzungen. Es muss um dieses Jahr 1948 gewesen sein, als mir damals ein Musikkritiker sehr imponierte. Ich dachte mir: "Das ist doch eine schöne Sache, so über Musik und Theater schreiben zu können." Der Umstand, dass ich also meine Jugend in einer Zeit verlebt habe, die sehr bewegt war, hat dazu geführt, dass ich eben nicht wirklich gründlich und exakt das Klavierspielen üben konnte. Aus mir wäre also, falls ich Pianist geworden wäre, vielleicht ein ganz anständiger Begleiter geworden, aber sicherlich kein Solist, zumal ich auch leider Gottes einen zu kurzen Daumen habe. Beim Klavierspielen kommt es nämlich verdammt auf die richtige Hand an. Wenn man nicht eine Klavierhand hat und wenn man es nicht mit 16 Jahren vollkommen beherrscht, dann kann man es lassen: Da bleibt man ewig Dilettant. Mit einem Wort, ich kannte mich ganz gut aus und kaum hatte ich in Hamburg mein Abitur gemacht – und danach hatten Sie mich ja gefragt –, sagte ich mir: "Verdammt noch mal, jetzt möchte ich studieren!" Damals konnte man, wenn man so alt war wie ich, nur dann studieren, wenn man eine entsprechende Prüfung bestanden hatte. Es waren ja sehr viele ältere Kriegsheimkehrer da: Sie waren z. T. Invaliden und hatten einen Arm oder ein Bein oder beides verloren. Oder sie waren schon 35 Jahre alt bei Studienbeginn, weil sie so lange in Krieg und Gefangenschaft gewesen waren. Diese Menschen wurden natürlich mit Recht eher zum Studium zugelassen. Ich fragte also in Hamburg mit meinen 19 Jahren, wo denn für das Fach Musik geprüft werden würde. Man sagte mir, diese Prüfung sei in Göttingen und in Heidelberg. Ich kam aber aus Ostpreußen und fragte daher: "Was ist denn näher bei Hamburg, Göttingen oder Heidelberg?" Man sagte mir dann wahrheitsgemäß, dass Göttingen entschieden näher läge – was ich mittlerweile auch selbst bestätigen kann. Ich fuhr also nach Göttingen und hatte das Glück, dass mich der dortige Professor über Brahms prüfte. Und da kannte ich mich eben sehr aus. Als ich fertig war, sagte er: "Sie können, wenn Sie wollen, gleich anfangen. Und wenn Sie Lust haben, können Sie später einmal bei mir Assistent werden." Das war also ein Erfolgserlebnis, das ich auch gerne erzähle. Ich telegraphierte also meinen Eltern: "Abitur Hamburg bestanden; Universität Göttingen aufgenommen!" – und war sehr stolz. Emrich: Toll. Damit haben Sie aber auch Ihre beiden Interessen beibehalten, denn Sie haben als Studienfächer Musik und Literatur gewählt. Dazu haben Sie dann noch Philosophie und Soziologie studiert. Kaiser: Ja, schon. Aber ich will Ihnen nicht verhehlen, dass mir das Musikstudium in Göttingen, das ich damals anfing, von Jahr zu Jahr weniger Spaß machte. Ich sah - vielleicht irrte ich mich -, dass die Studenten die Musik eigentlich nicht liebten, sondern nur analysierten. Sie wollten gar nicht unbedingt in Konzerte gehen, sondern sie wollten analysieren, wollten sich über die Komponisten Gedanken machen usw. Sie hatten also sozusagen ein akademisches Interesse an der Musik. Das passte mir aber nicht, vielleicht auch deshalb, weil ich selbst für diese akademisch-analytische Betrachtungsweise nicht so schrecklich talentiert bin. Ich wurde jedenfalls von Semester zu Semester unglücklicher und sattelte dann auf Germanistik um und da habe ich dann ja auch später über Grillparzer promoviert. Gut. Ich wurde dann ziemlich bald ein bekannter Literatur- und Theaterkritiker. Ich werde Ihnen gleich sagen, wie das verlief. Nur, als ich damals zur "Süddeutschen Zeitung" geholt wurde, galt ich als jemand, der bei der "SZ" Theaterkritik machen wird. Weil hier in München aber immer so schöne Konzerte z. B. mit Knappertsbusch waren, sagte ich: "Kinder, lasst mich doch gelegentlich auch eine Musikkritik schreiben. Davon verstehe ich auch etwas." Und so lief das dann nebeneinander her. Emrich: Das ist interessant. Das ist etwas, das ich in den Unterlagen über Sie, die ich mir vor diesem Gespräch angesehen habe, nicht gefunden habe: Die Musikkritik stand eigentlich in der zeitlichen Abfolge nur an zweiter Stelle. Kaiser: Ja. Emrich: So laufen diese Dinge eben manchmal. Kaiser: Das war sogar ganz deutlich so. Der Erich Kuby, ich weiß nicht, ob Sie ihn noch kennen, das war damals ein führender Publizist, hatte mich nach München mit einer Begründung geholt, über die man heute sehr wohl auch lächeln könnte: "Da gibt es in Frankfurt beim Hessischen Rundfunk einen interessanten jungen Mann. Der muss hierher nach München kommen. Diese endlosen Kritiken über Theateraufführungen und Musik müssen nämlich aufhören. Der macht euch stattdessen schöne Interviews, der schreibt euch schöne Features usw. Holt doch mal diesen Joachim Kaiser!" Dass ich dann derjenige wurde, der noch ein bisschen längere Kritiken schrieb, das konnte der arme Erich nicht ahnen. Emrich: Sie haben soeben Grillparzer als Gegenstand Ihrer Doktorarbeit erwähnt. Grillparzer hat einen Satz gesagt, den ich Ihnen nicht ersparen kann und den Sie selbst sehr wohl kennen. Er hat sich nämlich auch einmal zu der Frage geäußert, ob man Musik beschreiben könne, ob man über Musik schreiben könne. Das Zitat müsste in etwa lauten... Kaiser: "Erzählte Musik ist wie ein beschriebenes Mittagessen." Emrich: Mit anderen Worten: "Lasst ihr Schreiber die Finger von der Musik!" Und genau das haben Sie ja nicht befolgt. Und damit kämen wir jetzt doch zu Ihrer heutigen Profession und zu all den interessanten Fragen, die einen Laien, die viele Hörer und Zuschauer interessieren werden. Ich möchte zunächst einmal mit einer ganz oberflächlichen Frage beginnen, quasi als Vorbedingung: Haben Sie eigentlich ein hervorragendes Gedächtnis? Denn so etwas weiß man ja über sich selbst. Kaiser: Für das, was mich interessiert, habe ich ein fast unheimliches Gedächtnis. Sie können mich so ziemlich alle Opuszahlen der Komponisten fragen; ich kann auch Zitate usw. auswendig. Meine Frau ist darüber immer ganz unglücklich, denn wenn sie irgendetwas sagt, dann sage ich immer: "Ja, das hat schon mal der und der gesagt!" Sie antwortet mir dann aber immer: "Ich will nicht dauernd Zitate hören, sag doch einfach, was du denkst!" Dafür bin ich wiederum manchmal geradezu schwachsinnig ahnungslos bei Dingen, die mich nicht interessieren. Bestimmte Sachen also, die mir gleichgültig sind, kann ich mir nicht merken. Wenn mir ein Film nicht gefällt, dann kann ich ihn fünf Mal nacheinander sehen, ohne zunächst zu begreifen, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Erst bei irgendeiner besonders dämlichen Stelle fällt mir dann wieder ein: "Ach Gott, diesen Unsinn habe ich doch schon mal gesehen!" Was mir jedoch einleuchtet, kann ich mir gut merken: Wie die Ginette Neveu in einem Violinkonzert von Brahms die Kadenz gespielt hat; oder was der Gründgens dann und dann gemacht hat; oder was der Thomas Mann da und da geschrieben hat, das – toi toi toi – vergesse ich eigentlich nicht. Emrich: Das ist ein ungeheurer Vorzug gegenüber all denjenigen, die nachschlagen müssen, die sich nicht sicher sind, die zitieren, aber nicht wissen, ob es wörtlich stimmt usw. Natürlich werden auch Sie sich in dem einen oder anderen Fall noch einmal versichern, aber ein gutes Gedächtnis ist doch die halbe Miete für die Arbeit. Kaiser: Ja, gut. Das Publikum hält sich ja gerne an kleinen Fehlern auf und das leuchtet mir auch sehr ein. Ich habe mal ein großes Feature geschrieben, das den Titel trug "Wieland Wagners Wagnis". Ich glaube, das muss so 1957 oder 1958 gewesen sein. In diesem Feature schrieb ich, was ich so alles über Bayreuth denke usw. Dort schrieb ich aber an einer Stelle auch von den "sechs Walküren". Dieses Feature hatte eine Länge von ungefähr eineinhalb Stunden. Ansonsten war alles richtig, nur sind es halt acht Walküren. Und da haben dann schon ein paar Leute gesagt: "Der hat doch keine Ahnung! Er spricht von sechs Wallküren anstatt von acht!" Seitdem weiß ich aber auch das. Solche kleinen Fehler passieren also schon mal. Sie passieren mir relativ selten. Viel unangenehmer sind so die Druck- und Hörfehler, die passieren. In dem ersten großen Aufsatz, dem ich sozusagen meine ganze Karriere verdanke, schrieb ich, Adorno sei der Ansicht, dass es gut wäre, geborgen zu sein. In den "Frankfurter Heften" stand dann aber, dass es gut wäre, geboren zu sein. Das gibt auch einen Sinn, aber einen völlig anderen. Wenn ich darauf noch kurz zurückkommen darf, weil das auch den Unterschied zwischen damals und heute so gut bezeichnet. Ich studierte also in Göttingen und hatte dort eine Freundin, die Schauspielerin Brigitte Kommerell. Sie mochte mich und ich mochte sie. Sie wiederum hatte einen uralten Freund, das war der damals vielleicht 45-jährige Redakteur Guggenheimer von den "Frankfurter Heften". Dieser Guggenheimer kam sie eines Tages in Göttingen besuchen. Sie sagte zu ihm: "Du, Guggi, ich habe hier einen jungen Studenten kennen gelernt, der ist ganz toll. Lade uns doch mal zum Essen ein." Ich kann mir vorstellen, dass es für ihn nicht so furchtbar reizvoll gewesen ist, mit einem nicht so wahnsinnig eleganten und so ein bisschen derb gekleideten jungen Mann zusammen essen zu müssen. Aber er hatte gute Manieren und sagte, dass er das natürlich gerne machen würde. Während dieses Essens sagte er auf einmal zu mir: "Ach, wissen Sie, Herr Kaiser, da ist jetzt gerade von diesem Wiesengrund ein neues Buch erschienen, 'Philosophie der Neuen Musik'. Das ist ja vollkommen unverständlich, denn da geht es von vorne bis hinten über Hegel. Eigentlich kann das niemand besprechen." Und da sagte ich, der ich das gelesen hatte – ich glaube, ich war damals so um die 21 Jahre alt –, zu ihm: "Herr Guggenheimer, ich habe dieses Buch gelesen. Ich glaube, das kann man besprechen." Daraufhin meinte er recht skeptisch: "Na, dann machen Sie mal!" Ich habe mich dann sechs Wochen lang wirklich sehr zusammengenommen und meinen Freund ausgequetscht dafür. Dahlhaus wurde später immerhin der berühmteste Musikwissenschaftler Europas. Ich habe also ein Manuskript an die "Frankfurter Hefte" geschickt. Ich bekam es aber umgehend mit den Worten zurückgeschickt, das sei viel zu schwer. Unarrogant wie ich schon damals war, schrieb ich zurück: "Man kann sich über Hegel natürlich auch so äußern, dass es Vierjährige verstehen. Die Frage ist halt nur, ob man dann noch über Hegel schreibt. Aber ich schreibe Ihnen gerne alles zweimal, damit es verständlicher wird." Schließlich erschien dann im Juni 1951 mein Aufsatz "Musik und Katastrophe. Über die Philosophie der Neuen Musik" von Theodor W. Adorno. Da war ich 22, 23 Jahre alt und der Adorno lud mich daraufhin zu sich nach Hause ein. Ich bekam dort von diesem berühmten Likör, den die Gretl Adorno gebraut hatte, zu trinken. Er lud mich auch in sein Seminar ein, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fragte an, ob ich nicht Lust hätte, für sie zu schreiben, der Hessische Rundfunk machte mir ein Angebot und die "Frankfurter Hefte" waren ebenfalls hinter mir her. Das heißt, ein einziger, ganz anständiger Aufsatz genügte damals. Seitdem habe ich in gewisser Weise beruflich keine Mühsal mehr gehabt. Wenn ich jedoch sehe, wie schwer es heutzutage beispielsweise meine Kinder oder andere intelligente junge Leute haben, dann wird der Unterschied zu früher frappant. Heute sind alle so überdrüssig und sagen: "Ach Gott, na ja, mal sehen, was da dran ist." Damals, in den fünfziger Jahren, die heute so verketzert werden, war ein enormes Interesse, war eine enorme öffentliche Neugier gegenüber jungen Talenten vorhanden. Der Krieg lag hinter uns und man wollte, dass aus der Nation auch geistig etwas wird. Das war unglaublich viel leichter und produktiver und lustiger als heute – na gut, es ist eh immer lustiger, 25 anstatt 75 Jahre alt zu sein. Aber das hing eben schon auch mit dieser speziellen Zeit damals zusammen. Das war derart um vieles produktiver und leichter, dass mir die heutigen jungen Leute wirklich Leid tun. Sie haben es doch unendlich viel schwerer als wir damals, weil heute immerzu alle nur sagen, man müsse sparen. Emrich: Aber hängt das nicht auch ein bisschen damit zusammen, dass aufgrund der Dezimierung in der Jugend Deutschlands, die durch den Krieg erfolgt war - denn es kamen eben nicht mehr so viele zum Studium als junge Leute, weil sie davor im Krieg gefallen waren -, die Konkurrenz geringer gewesen ist? Es wurden einfach viel stärker als heute Leute gesucht. Es gab ja nur die Alten, die bereits vor der Nazizeit geschrieben hatten. Aber es mussten ja doch auch neue Gesichter rankommen. Ich denke, das war doch auch mit ein Grund dafür, dass man damals begierig darauf gewesen ist, junge Menschen zu finden, die schreiben können. Kaiser: Ja, man kann das soziologisch vielleicht sogar noch schärfer formulieren, man kann nämlich auch Folgendes sagen. Die Generation direkt über mir, der ich damals 25 Jahre alt, sagen wir mal die 35-Jährigen - das waren z. B. die damaligen Chefredakteure der "Frankfurter Allgemeinen" wie Karl Korn usw. – waren als Intellektuelle in der Nazizeit doch alle irgendwie involviert. Verstehen Sie, es war fast unmöglich, das nicht getan zu haben, so wie es ja auch unter Stalin unmöglich gewesen ist, Künstler zu sein, ohne dass man irgendetwas Stalinistisches gemacht hätte. Ich werfe das auch niemandem vor, denn ich weiß zu genau, um was es da ging. Es war jedenfalls so, dass man jemandem, der in der Nazizeit z. B. in "Das Reich", in dieser Nazizeitschrift, veröffentlicht hatte oder sich damals sonst wie geäußert hatte, später möglicherweise irgendetwas Ärgerliches nachweisen konnte. Siehe jetzt z. B. den Fall "Walter Jens". Das heißt, diese Generation über mir musste sich verteidigen, sie war einfach involviert. Die Großvätergeneration wiederum, also die ganz alten Leute, sind ja für einen jungen Menschen keine Konkurrenz, sondern da weiß man, dass das einfach diese alten Herren sind, die in der Regel gegenüber der Enkelgeneration auch meistens sehr wohlwollend sind. Das heißt, es war so: Wenn man damals im Alter zwischen 25 und 30 Jahren Karriere machte, dann hatte man niemanden über sich. Denn die Generation davor war entweder ausgelöscht oder hatte sich verstrickt, um das mal ein bisschen pauschal zu sagen. Und diejenigen, die man tatsächlich über sich hatte, diese ganz alten Leute, waren nicht nur nicht gegen einen, sondern waren einfach nicht so furchtbar interessant: Das waren die Großväter, die ließ man labern. Schlimm war diese Situation nur für diejenigen, die fünf Jahre jünger waren als man selbst, denn die wussten: "Ich habe jetzt einen Chef, einen Vorgesetzten meinetwegen beim Hessischen Rundfunk vor mir, der 30 Jahre alt ist, während ich 25 Jahre alt bin. Das ist doch entsetzlich." Emrich: So ein junger Chef bleibt bis zum eigenen Lebensende vor einem. Kaiser: Genau, man musste also auf einen Verkehrsunfall oder so hoffen. Aber an sich blieb einem dieser Chef ein Leben lang. Das war schon schwer für die noch Jüngeren. Verstehen Sie, es ist ja unglaublich, was herauskommt, wenn ich da so eine gewisse Jahrgangsmythologie aufstelle: Der Enzensberger, der Habermas, die , der Martin Walser – sie stammen alle aus den Jahrgängen, von denen ich soeben gesprochen habe. Das kann doch kein Zufall sein. Und es kommt noch etwas hinzu. Sie haben gesagt, dass ein großer Teil der deutschen Intelligenz in Russland gefallen ist. Emrich: Während die jüdische Intelligenz im KZ umgekommen ist. Kaiser: Das ist der Punkt. Man muss nämlich sagen, dass die jüdische Intelligenz ermordet worden ist. Man müsste ja fast ein Zyniker sein, wenn man sagen würde, das bleibt wirkungslos. Ich finde - ich kann das nicht begründen, aber das ist mein tiefes Gefühl -, dass man erst jetzt, also seit den neunziger Jahren des 20. und nun zu Beginn des neuen Jahrhunderts merkt, was eigentlich verloren gegangen ist angesichts dieses doch sehr mittelmäßigen Niveaus, das in der Politik und anderswo herrscht. Jetzt merkt man erst, dass damals sozusagen fünf bis zehn Millionen intelligenter Menschen ausgerottet worden sind: durch Schicksal, durch KZ, durch Tod im Krieg usw. Diejenigen, die übrig geblieben waren, hatten es dann nach dem Krieg verhältnismäßig leicht. Aber aufgrund dieser Tatsache ist es so, dass mir Berlin manchmal vorkommt wie Cottbus. Verstehen Sie, ich will hier nicht politisieren, aber das, was sich manchmal in Berlin abspielt, ist doch unglaublich mittelmäßig. Da wird alle zwei Tage eine neue Riester-Rente vorgeschlagen; da wird vorgeschlagen, dass man eine Eliteuniversität haben möchte, und zwei Tage später stellt man dann fest, "Ach Gott, das kostet ja Geld, na, dann lieber doch nicht!". Das ist alles so aberwitzig, dass ich das nur damit erklären kann, dass in Deutschland ein großer Teil der Intelligenz leider Gottes nicht mehr existiert. Emrich: Wir haben damit einen sehr interessanten Ausflug gemacht von der Frage weg, wie das bei Ihnen mit dem Gedächtnis ist. Wir sind dabei zum Nachdenken über die Vergangenheit gekommen, einschließlich der Sünden und der schmerzlichen Ereignisse, die dazu geführt haben. Aber ich bleibe doch bei Ihrer Profession und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, die sich wahrscheinlich jeder stellt, der Ihre Beiträge, Ihre Kritiken schätzt und sie vergleichen kann, weil er gesehen, gelesen oder gehört hat, worüber Sie schreiben. So jemand fragt sich also: "Wie macht der das?" Das darf man fragen, denn jeder darf auch einen Künstler fragen, wie er das gemacht hat. Meine erste Frage war diese Frage nach dem Gedächtnis bzw. nach dem Zettelkasten. Denn bei dem einen ersetzt ja der Zettelkasten das, was der andere - wie Sie - erfreulicherweise sofort im Gedächtnis greifbar hat. Meine nächste wichtige Frage: Wenn Sie schreiben, wenn Sie z. B. eine Kritik über eine Opernpremiere schreiben, an wen denken Sie dabei in erster Linie bei denen, die mutmaßlich zwei Tage später Ihre Kritik lesen werden? Denken Sie dabei an die Darsteller, an die Regisseure, an die Dirigenten auf der einen Seite? Oder denken Sie an das Publikum, das an diesem Abend mit dabei gewesen ist? Oder denken Sie an die Leser, die diese Aufführung nicht gesehen bzw. gehört haben? Kaiser: Selbstverständlich an alle. Schauen Sie, man hat ja vier ganz verschiedene Querschnitte vor sich dabei. Sie haben das ja soeben schon sehr schön umrissen. Da gibt es die Darsteller und den Regisseur: Sie kennen die Aufführung besser als ich. Es gibt das Publikum, das in der Premiere gewesen ist; das kennt diese Aufführung so gut wie ich. Das Publikum, das sich aufgrund meiner Kritik vielleicht dazu entscheiden wird, in diese Aufführung zu gehen, kennt sie noch nicht. Und es gibt auch Leute, die so eine Kritik meinetwegen in Frankfurt oder Hamburg lesen, die gar nicht in diese Aufführung gehen wollen oder können: Sie wollen nur wissen, was in München so los ist. Infolgedessen muss man eine bestimmte Technik entwickeln. Diese Technik muss so sein, dass die Informationen, die man denen gibt, die nicht dabei waren, so in den Gedankengang eingebaut werden, dass sie quasi als Stütze der These erscheinen, die man entwickeln will. Das heißt, die These muss so sein, dass sie alle interessiert. Ich habe z. B. neulich in der Mailänder Scala die Moses-Oper von Rossini gesehen: Ich habe gestaunt, welch große Fähigkeit Rossini hatte, sozusagen auch ergreifende und ernsthafte und beteiligte und schmerzliche Musik zu schreiben. Diese These muss ich dann so entwickeln, dass diejenigen, die diese Opernaufführung selbst gesehen haben – aber wer fährt schon nach Mailand? –, gar nicht merken, dass ich etwas sage, was sie schon wissen, weil das quasi als eine Art Stützung, als ein Argument des Gedankenzusammenhangs erscheint. Die anderen, die diese Aufführung nicht kennen, bekommen dann sozusagen alle diese Informationen mitgeliefert – und außerdem eben noch die These. Das ist die Technik: Die kann man lernen. Viele halten sie nicht für nötig, aber deren Kritiken lesen sich eben auch entsprechend. Das Entscheidendere ist jedoch etwas anderes. Offensichtlich macht es vielen Schreibenden Mühe, Dinge zu verbalisieren, die nicht aus Worten bestehen. Ich selbst wäre z. B. außer Stande, etwas Vernünftiges über ein abstraktes Bild zu äußern. Wenn ich ein Gemälde von Rothko sehe, dann wäre ich verlegen und würde sagen: "Das kommt mir rhythmisch vor und die Farben sind wild." Aber viel mehr könnte ich nicht sagen. Das können übrigens auch sehr viele Kunstkritiker nicht. Es scheint jedenfalls sehr schwer zu sein, musikalische Sachverhalte zu verbalisieren, während es etwas leichter ist, über Bücher oder Theaterstücke zu schreiben. Emrich: Grillparzer lässt grüßen! Kaiser: Ehrlich gesagt, diese Schwierigkeit, Musikalisches zu verbalisieren, hatte ich nie. Da hat mich der liebe Gott wirklich angenehm beschenkt: Diese Schwierigkeit ist mir nicht gegenwärtig. Ich finde, ich kann über Musik so schreiben, wie über ein Gedicht oder über eine Novelle. Dies schätzen zumindest manche meiner Leser und das ist mir natürlich höchst angenehm. Dies ist jedoch im Gegensatz zur Technik, die ich vorhin zu erläutern versuchte, eine Sache, die man wahrscheinlich nicht lernen kann. Die Voraussetzung dazu ist freilich relativ einfach bzw. nur sehr schwer herzustellen, wie alles Einfache: Es müssen einem die Musikwerke nicht nur irgendwelche Opuszahlen sein, sondern man muss sie kennen und lieben und in ihrer Eigenschaft durchschauen, als wären sie lebendige Wesen. Wenn jemand z. B. Folgendes sagt - "Es gibt von Beethoven vier Sonaten in G-Dur. Das ist das Opus 14 Nummer 2, Opus 31 Nummer 1, Opus 49 Nummer 2 und Opus 79!" – dann ist das eine Gedächtnisleistung, um die ich den Betreffenden nicht beneide. Nur dann, wenn man diese vier Sonaten auch wirklich kennt, wenn man weiß, dass die eine so ein bisschen neckisch ist, dass die andere ausgesprochen konzertant ist, während die Dritte eine frühe Sonatine ist, in der er noch viel Mozart zitiert, und dass er die vierte selbst "Sonatine" genannt hat, bei der der Mittelsatz fast wie von Mendelssohn klingt, mit anderen Worten: Wenn einem das alles ein lebendiger Gegenstand ist, dann erst funktioniert das. Man merkt sich ja auch bei einem Menschen nicht: "Der wohnt am Wiesenfeld 22 im dritten Stock!", sondern man merkt sich seine Eigenschaften. Man merkt sich, dass er sehr freundlich ist, dass er ein bisschen zu viel redet, eine Glatze hat und man ihm nicht allzu oft begegnen möchte. Das heißt, wenn man Musikstücke wie lebendige Wesen kennt, dann macht es einem auch nichts aus, sich über sie wie über lebende Wesen zu äußern. Das ist tatsächlich die Voraussetzung für Musikkritik: dass man die Stücke tatsächlich kennt und mag und zu ihnen ein fast erotisches Verhältnis hat. Dieses erotische Verhältnis muss man übrigens auch – das werden Sie mir jetzt sicherlich nicht glauben – zur Sprache haben. Es gibt doch wirklich Leute, die wahnsinnig viel wissen und doch todlangweilig sind. Demgegenüber gibt es andere Menschen, die einen Vortrag halten und denen man sofort zuhört, obwohl sie vielleicht gar nicht so wahnsinnig schlau sind. Das ist ein erotisches Moment, das eben manche haben und mache nicht. Und das gehört eben auch zum Zusammensein mit Kunst. Wem das alles nur Gegenstände sind, wem das alles sozusagen nur Objekte für die Analyse sind, der wird wahrscheinlich niemals furchtbar spannend darüber schreiben können. Emrich: Zwischenruf: Hängt damit auch die Tatsache zusammen, dass der gleiche Dirigent das gleiche Werk mit dem gleichen Orchester an einem Abend in einer perfekteren, in einer erfüllteren Weise darzubieten vermag als an einem anderen Abend, an dem zwar die Noten die gleichen sind, alle Tempi exakt eingehalten werden und eigentlich auch die anderen Bedingungen einwandfrei sind? Ist das dieses Element, einem Stück die Seele entlocken zu können, das lebendig machen zu können, was an ihm lebendig ist? Und genau das ist ja dann vermutlich das, was wiederum der Kritiker spürt, nämlich ob das erfüllt ist oder nicht. Kaiser: Hoffentlich! Na ja, jeder hat mal einen schwachen Abend. Ich gehe auch manchmal ins Theater oder ins Konzert und habe einen unangenehmen Tag hinter mir und bin daher so ein bisschen müde usw. Und wenn dann die Aufführung mittelmäßig ist, dann wird mir dazu vermutlich auch nichts Besonderes einfallen. Aber an sich möchte ich Ihnen doch ein wenig widersprechen. An sich wird sich der gleiche Interpret unter halbwegs gleichen Umständen mit dem gleichen Stück so ungefähr ähnlich verhalten. Er wird einmal einen tollen Abend haben und ein anderes Mal vielleicht ein bisschen langweiliger sein. Ich habe z. B. einmal den Versuch gemacht zu vergleichen, wie der Wilhelm Kempff, dieser wunderbare Pianist, der ja, wenn ich mich nicht täusche, erst mit 90 Jahren gestorben ist, das gleiche Werk 1929, 1959 und 1969 spielte. Die Unterschiede waren beträchtlich. Trotzdem waren alle drei Interpretationen sich immer noch sehr viel ähnlicher als die von irgendeinem anderen Pianisten. Man bleibt also doch sozusagen derselbe. Das geht mir auch so und das würde Ihnen auch so gehen. Wenn Sie im Theater sitzen und eine tolle Aufführung sehen, obwohl sie eigentlich schlechter Laune sind, Kopfweh haben und daher irgendwie abgelenkt sind, aber plötzlich ist etwas los auf der Bühne, dann sind Sie dabei! Wenn natürlich nichts Besonderes los ist, dann sind Sie vielleicht ganz besonders verärgert und sagen sich: "Mein Gott, muss das sein?" Emrich: Haben Sie denn bei den Kritiken, die Sie schreiben, eine Intention, die sich mit verdeckten pädagogischen Absichten umschreiben ließe? Sei es gegenüber den Lesern, sei es gegenüber denjenigen, deren Arbeit Sie bewerten? Kaiser: Das hängt natürlich von der Sache ab. Schauen Sie, wenn ich ein Drama von Samuel Beckett sehe, dann habe ich schon das Gefühl: "Das ist ein heikler Text. Du müsstest dich richtig vorbereiten!" Ich habe mich übrigens auch meistens vorbereitet. Ich nehme das wirklich sehr ernst: Ich bereite mich immer, wenn es geht, ganz gut vor. Ich gehe also nicht völlig unbefangen in so eine Aufführung wie z. B. mein großer Kollege Friedrich Luft früher. Denn er sagte immer: "Ich will ins Theater gehen wie das Publikum auch und wenn ich es nicht verstehe, dann wird es das Publikum auch nicht verstanden haben." Ich finde, so kann man durchaus denken, ich jedoch denke anders. Ich denke, dass man so ein Stück dann schon gelesen haben muss. Und darüber hinaus habe ich durchaus das Gefühl, man muss die Sache dem Publikum erklären. Man muss sagen, das "Endspiel" von Beckett – oder meinetwegen das "Spiel", das ein noch viel tolleres Stück von Beckett ist – hat wahrscheinlich den und den Sinn und steht im Werk von Beckett an der und der Stelle und die Aufführung hat das z. T. herausgebracht und z. T. eben nicht. Das könnte man vielleicht eine didaktische Absicht nennen. Heute bin ich ja leider Gottes viel mehr in der Defensive. Ich sehe nämlich, dass sehr viele Regisseure sowohl in der Oper wie auch im Schauspiel das meiner Ansicht nach nicht stimmige Gefühl haben – aber darüber kann man lange streiten –, dass diese Stücke halt einfach weit weg seien. Sie denken, dass heutzutage kein Mensch die "Arabella" von Strauss oder "Den Ring des Nibelungen" von Wagner so sehen will, wie er gemeint ist. Der "Ring" spielt ja in mythologischer Vorzeit, die "Arabella" spielt um das Jahr 1860 herum. Sie denken also, dass diese Stücke dem Publikum erst nahe gebracht werden müssten – und sie versetzen dann diese Stücke in die Gegenwart und lassen die Schauspieler moderne Dinge anziehen. Die "Arabella" hier in dieser fürchterlichen Münchner Aufführung spielt in einem Bühnenbild, in dem nur lauter Geldscheine liegen und in dem irgendwo ganz schräg ein Bett steht, während das Stück ja eigentlich ganz woanders spielt. Das Stück basiert natürlich auch auf einem ganz anderen Tugendsystem: In der Mitte des 19. Jahrhunderts musste eine junge Dame, wenn sie adlig war und verheiratet werden sollte, ein Kammermädchen haben usw. Das war natürlich in den zwanziger Jahren, in denen diese Münchner Aufführung der "Arabella" spielt, überhaupt nicht mehr der Fall: Da kam kein Aas darauf, dass sie eigentlich fein und altmodisch erzogen sein muss. Aber wie gesagt, heutzutage denkt man eben, es müsste alles aktualisiert werden, weil es sonst nur in einem Elfenbeinturm spielen würde, nur für eine kleine Elite geeignet wäre usw. Infolgedessen werden auch solche Stücke wie der "Ring des Nibelungen" modernisiert, in der Hoffnung, dass sich die Leute freuen, wenn sie sehen, dass der Siegfried ein ganz derber und grober Klotz ist: Der läuft besoffen herum und wird dann von seinen Tölzer Jagdfreunden ermordet. Ich bin dagegen der Ansicht, dass die Stücke verständlicher sind, wenn man sie in ihrem Rahmen belässt, anstatt dass dann Menschen, die man ins 20. Jahrhundert transferiert hat, nun ganz große Affekte vorführen müssen und plötzlich Dinge äußern, die im 20. Jahrhundert kein Mensch äußern würde. Aber ich bin damit ausgesprochen singulär und deshalb versuche ich in meinen Kritiken – allerdings ohne viel Erfolg –, den Menschen zu erklären, was mit diesen Stücken eigentlich gemeint ist und was sie als Publikum nicht mitbekommen, wenn der "Tannhäuser" im 20. Jahrhundert spielt, wo man wirklich andere sittliche Vorstellung hat als damals im christlichen Mittelalter, wohin ihn der Wagner versetzt hatte. Das heißt, hier habe ich meiner Ansicht nach eine gewisse Aufgabe. Ich habe die Aufgabe, den Rang und die Stellung und die Dimension eines solchen großen Kunstwerkes in einer Zeit zu verteidigen, in der aus vielleicht ganz guten Gründen die Macher denken, dass man mit all dem keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorholen kann und man solche Stücke daher verändern muss, aus ihnen einen Event machen muss. Ihnen ist es daher dann auch egal, welches Bühnenbild der Autor damals vorgeschrieben hatte oder dass im Shaekspeare'schen Hamlet Endreime oder Blankverse vorkommen oder Prosa vorkommt. Das ist alles ganz egal: Heute spricht man ein Stück von Shakespeare so, als wäre es ein Konversationsstück. Dies halte ich für einen großen Verlust, nicht nur hinsichtlich irgendwelcher Shakespeare-Einzelheiten, sondern für einen Verlust von erstens Tradition und von zweitens Kultur. Dagegen gehe ich mit meinen schwachen Kräften an. Emrich: Hier kommen Ihnen von meiner Seite eine Menge Sympathien entgegen: vor allen Dingen dann, wenn diese Neuerungen, wenn diese anscheinenden Aktualisierungen ideologisch verbrämt werden, wenn also Theoreme verkündet oder irgendwelche Bekenntnisse transportiert werden sollen. Sie haben sich ja auch einmal zu einer Aufführung der Mozart-Oper "Titus" in Salzburg geäußert: Bei dieser Aufführung musste sich Kaiser Titus, noch ehe die Ouvertüre erklingt, an einem Telefon abmühen. Kaiser: Ja, wo es doch im alten Rom ganz üblich war, permanent zu telefonieren! Gut, ich will das doch noch einmal ein bisschen differenzieren. Dass man dann, wenn die Leute auf der Bühne alle in alten Kostümen herumrennen und diese Aufführung keine allzu gute, sondern eine konventionelle Stadttheateraufführung ist, das Gefühl haben kann, "Mein Gott, muss ich mir das antun?", dafür bringe ich doch ein gewisses Verständnis auf. Es ist heute sehr schwer, eine Werktreue aufrecht zu erhalten. Der Dieter Dorn in München versucht das ja oft. Wenn also jemand eine werktreue Aufführung macht, dann muss sie wirklich ausgezeichnet sein – sie darf nicht nur "ganz gut" sein –, damit man als Zuschauer merkt: "Donnerwetter, was ist da los? Was geschieht da?" Ich ziehe mich dabei auf eine Theorie zurück, die fast verrückt klingt. Ich sage nämlich: Den Geist des "Faust" oder den Geist des "Tristan" usw. kennt kein Mensch, kein Aas. Es kann sein, dass Goethes "Faust" ein wunderbarer Wissenschaftler, ein deutsch-idealistischer Liebhaber ist; es kann aber auch sein, dass das ein ganz unangenehmer egoistischer Physiker ist, an dessen Lebensweg lauter Leichen liegen wie z. B. das Gretchen und manche andere. Das heißt, den Geist des Stückes kennen wir nicht. Was wir haben, ist der Buchstabe. Wenn man aber beim Buchstaben bleibt, wenn man ihn nicht verändert und vielmehr sagt: "Das ist vorgeschrieben!", und wenn man dieses Vorgeschriebene dann mit diesem oder jenem Geist des Stücks zusammenbringt, dann ist das schon in Ordnung. Man kann z. B. als Regisseur durchaus sagen: "Ich finde, dieser 'Faust' ist ein ganz widerlicher, egozentrischer Macho und das arme Gretchen hat ihn nicht verdient!" Man kann aber auch genauso gut umgekehrt sagen: "Das Gretchen hat sich ziemlich flittchenhaft benommen und das möchte ich nun zeigen!" Dagegen hätte ich also durchaus nichts. Ich habe aber etwas dagegen, wenn man wie beispielsweise im Münchner "Othello" die Leute auf der Bühne plötzlich lauter Worte sagen lässt, die einfach nur eine ganz hübsche Fäkaliensprache sind. Über diese Fäkaliensprache erschrickt heutzutage doch ohnehin niemand mehr. Mit dem großen Stil Shakespeares haben sie aber nun gerade überhaupt nichts zu tun. Das heißt, den Geist kann man interpretieren. Es war ja auch in der Zeit, in der alle Regisseure werktreu inszenierten, sehr spannend. Ob das damals der Brecht war oder der Gründgens oder der Hilpert oder der Schweikart: Zu dieser Zeit damals waren ja keineswegs alle Aufführung ein und desselben Stücks gleich. Nein, sie unterschieden sich enorm. Aber sie alle waren ganz selbstverständlich werktreu, was ja heute beinahe schon zu einem Schimpfwort geworden ist. Also wie gesagt, man muss beinahe schon versuchen, den Geist zu ändern. Es gibt da z. B. eine Diskussion zwischen Jürgen Flimm und mir, der mir seitdem auch so böse ist, dass er mir einen ganz grimmigen Brief geschrieben hat. Jürgen Flimm hat nämlich einmal, als er diese meiner Ansicht nach nicht sehr glückliche Bayreuth- Inszenierung vom "Ring des Nibelungen" gemacht hat – die ja auch überall nicht sehr toll besprochen worden ist –, Folgendes gesagt: "Der 'Ring' spielt zu jeder Zeit, also spielt er bei mir in der heutigen Zeit!" Ich habe in einem Artikel im "Spiegel" wie folgt dagegen argumentiert: "Der 'Ring des Nibelungen' von Wagner spielt keineswegs zu jeder Zeit, aber vielleicht für eine jede!" Das heißt, der "Ring" spielt z. B. nicht im Biedermeier und auch nicht im Rokoko, denn das wäre doch etwas seltsam. Nein, der "Ring" spielt in einer mythologischen Vorzeit. Dass man ihn so aufführen kann, dass er auch spätere Zeiten interessiert, ist etwas anderes. Er spielt aber nicht in dieser späteren Zeit! Jürgen Flimm ist mir seitdem entsetzlich böse, weil er meint, so könne man nicht argumentieren usw. Darüber wird man also ewig streiten können – und das Theater ist ja auch zum Streiten da. Aber wenn man dann sogar vom Text weggeht, wenn man also nicht nur von dem weggeht, was der Text vielleicht sagen möchte, sondern wenn man also auch den Buchstaben nicht mehr ernst nimmt, dann ist es aus. Denn wenn man nämlich den Text wirklich ernst nähme – und das ist eine Sache, die mich ein Leben lang beschäftigt hat –, dann kann sich zeigen, dass manche Werke gegen den Willen ihrer Autoren zu einer anderen Aussage kommen, als der Autor das möglicherweise gewollt hat. Nehmen Sie als Beispiel Shakespeares "Kaufmann von Venedig": Da kommt ein böser alter Jude vor. Dies sollte einfach eine gute Rolle werden und ich glaube, der Shakespeare wollte sich über diesen Shylock nur lustig machen. Wenn man aber heute sieht, wie sich der Shylock verteidigt, dann wird einem ganz anders. Wenn er z. B. sagt: "Wenn Ihr uns stecht, bluten wir nicht?", dann hat man plötzlich das Gefühl, "Donnerwetter, als ob Shakespeare etwas von Auschwitz geahnt hätte!". Ein anderes Beispiel ist "Die Maßnahme" von Bertold Brecht. In diesem Stück will Brecht mit ungeheurer Mühe zeigen, dass man revolutionäre Disziplin halten muss und wer sie nicht hält, gegen den muss eine Maßnahme ergriffen werden, weil er seine Leute in Gefahr bringt damit. Wenn man aber dieses Stück heute liest, dann sagt man sich: "Donnerwetter, das ist ja ganz anders! Eigentlich hat dieser freie junge Genosse, gegen den sich diese Maßnahme richtet, spontan Recht und die anderen sind nur irgendwelche Akteure, die einfach nur das machen, was die Partei von ihnen verlangt!" Das heißt, die Tendenz des Stückes hat sich im Laufe der Zeit gegen seinen Autor gerichtet. Dafür gibt es wirklich viele Beispiele. Und nun kann man sich natürlich fragen, was man in so einer Situation machen soll. Der Brecht selbst hat damals die Aufführung dieses Stücks nicht mehr gewollt. Und auch die SED und all die anderen feigen Leute haben dieses Stück letztlich verboten: "Es wird verboten, es wird nicht mehr aufgeführt!" Daher kennt dieses Stück heute niemand mehr. So etwas steckt also alles in einem Theaterstück drinnen. Aber all das kommt doch nur heraus, wenn man sich in die Sache wirklich versenkt und wenn man nicht von vornherein sagt: "Ich stülpe dem jetzt meine ideologische Wahrheit auf und dann schauen wir mal, was sich Lessings 'Nathan der Weise' dabei denkt!" Emrich: Professor Kaiser, Sie sind, wenn ich das mal etwas pathetisch ausdrücken darf, im Bereich der literarischen, dramatischen und musikalischen Hochkultur zu Hause und Sie werden von Leuten gelesen, die dazu eine Beziehung haben. Es wird darüber hinaus einen kleineren Kreis von Menschen geben, die sich aufgrund Ihrer Interpretationen, Ihre Kritiken, Ihre Anmerkungen dafür interessieren lassen – sofern sie noch nicht interessiert sind. Gibt es nach Ihrer Meinung eigentlich eine Krise in unserer Hochkultur? Ist das, was in den Festspielhäusern passiert, etwas für die Hautevolee? Ist das nur ein Alibi? Ist das in Wirklichkeit nicht mehr Realität? Wir haben noch eine gute Minute Zeit: Wenn Sie uns also darüber noch kurz Ihre Meinung sagen könnten. Kaiser: Krise ist gar kein Ausdruck! Natürlich hat es immer schon solche Dinge wie Kulturkrisen gegeben. Es hat immer schon Menschen gegeben, die mit ihrer jeweiligen Jetztzeit nicht einverstanden waren. So etwas gibt es wohl, seitdem Kultur existiert. Geschimpft wurde immer und die goldenen Zeiten lagen immer zurück. Bei uns ist das im Augenblick aber, wie ich fürchte, anders. Sie sehen es ja allenthalben überall: Die Kritiken werden kürzer, das Publikum will eigentlich moderne Events usw. Es ist so, dass die Gefahr besteht, dass diejenigen, die Bachs "Matthäus Passion" ernst nehmen und gerne hören – solche Menschen wird es immer geben –, zu einer Art von Sekte werden. Vielleicht habe ich in meiner Beschreibung der Hochkultur soeben ein klein wenig übertrieben, aber es besteht meiner Meinung nach in der Tat die Gefahr, dass die Hochkultur zu einem Vergnügen einer kleinen Sekte wird, während die anderen Leute sagen: "Mein Gott, der Kaiser! Der will doch, dass man heute noch in Versen spricht! Das ist doch alles völlig altmodisch!" Ich versuche, dagegen anzugehen, aber wenn es so weit käme, dass all das, was mir lieb und wichtig ist - ich erwähne als Beispiel nur diese Frage des Lesealters –, wenn es also so weit käme, dass man sagt, "Mein Gott, na ja, das machen schon noch ein paar Leute und wir verbieten es ihnen auch nicht, aber im Grunde genommen ist anderes wichtiger!", dann hätten wir tatsächlich eine Krise – und dann hätte der Spengler doch Recht gehabt. Emrich: Das war kein hoffnungsvolles Schlusswort, aber es war eines. Ich bedanke mich sehr für Ihren Besuch bei uns. Kaiser: Ich bedanke mich ebenfalls. Emrich: Ich verabschiede mich von Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, vom Alpha-Forum des heutigen Tages. Unser Gast im Studio war Professor Dr. Joachim Kaiser.

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