Info Daf · Heft 4 · August 2000
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Herausgegeben vom Deutschen Akademischen Austauschdienst in Zusammenarbeit mit dem Fachverband Deutsch als Fremdsprache Nr. 4 27. Jahrgang August 2000 Inhalt Artikel Siegfried Gehrmann Lerntheoretische Defizite der Zweitsprachenerwerbsforschung am Beispiel der Phonetik 337 Susanne Günthner Grammatik der gesprochenen Sprache – eine Herausforderung für Deutsch als Fremdsprache? 352 Didaktik DaF / Tamás Kispál Aus der Praxis Sprichwörter in einem phraseologischen Wörterbuch 367 Heidi Rösch Migrationsliteratur im DaF-Unterricht 376 Margarete Ott Textanalyse als individualisierendes Verfahren zur Optimierung schriftsprachlicher Kompetenzen in der Fremdsprache 393 Gabriele Thelen-von Damnitz Internetgestützter DaF-Unterricht ganz anders 407 Jörg Braunert Grammatik in berufssprachlichen Lehrwerken oder: Kann der DaF-Anfänger berufssprachlich einsteigen? 414 Malte Jaspersen Radio-Magazin ›Nipponia Nippon‹. Entwicklung kommunikati- ver Fähigkeiten im Deutschunterricht. Ein Beispiel 428 Peter Hohenhaus Zur Verwendung humoristischen Materials im DaF-Unterricht 433 (Fortsetzung umseitig) 336 Berichte Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht in neuem Gewand – und mit gesenktem Preis! 449 20. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenun- terrichts: Resolution zur Fremdsprachenausbildung an Universi- täten 449 Germanistik im anglophonen Westafrika. Bericht vom 4. Kon- greß der NATOG (Nigerian Association of Teachers of German) (Michael Aulbach, Dakar) 450 Internationale Lexikographiekonferenz vom 30. März bis 1. April 2000 an der Universität Helsinki (Finnland) 454 Über die Autoren 460 Abstracts 462 337 Lerntheoretische Defizite der Zweitsprachen- erwerbsforschung am Beispiel der Phonetik Siegfried Gehrmann 0. Einführung 3. den spekulativen Charakter der in der Seit den 70er Jahren wird in der phoneti- Aussprachelehre häufig eingesetzten schen Lehr-Lernforschung immer wieder Methoden, die nach Kelz »aufgrund das »Dilemma der Aussprachelehre« persönlicher Beobachtung und Erfah- (Barry 1975), ihre »Rückständigkeit […] – rung einzelner Sprachlehrer und nur in verglichen mit der pädagogischen Pro- Teilbereichen aufgrund einer Analyse blematisierung anderer Lernziele inner- des Lernprozesses entstanden [sind]« halb des fremdsprachlichen Unterrichts« (Kelz 1976: 106; vgl. hierzu auch Barry (Thurow 1977: 12) beklagt. Paradigma- 1975 und Gehrmann 1999). tisch hierfür steht die grundlegende Ar- Im folgenden wird den Ursachen dieses beit von Kelz (1976: 2) über Phonetische lernprozeßbezogenen Dilemmas der Aus- Probleme im Fremdsprachenunterricht, der spracheschulung nachgegangen. Hierbei den damaligen Forschungsstand zum wird deutlich, daß sowohl die Marginali- aussprachlichen Lernen in dem lapidaren sierung der Phonetik im Fremdsprachen- Satz zusammenfaßt, daß »das größte De- unterricht und -studium als auch das Me- fizit in dem Teilbereich des Zweitspra- thodendefizit in der Aussprachelehre chenerwerbs zu beklagen [ist], der die Folge einer theoretisch unzureichenden Aneignung einer korrekten Aussprache Konzeptualisierung des phonetischen Er- zum Ziel hat« (Kelz 1976: 2). werbsgeschehens ist, die aus der Perspek- An dieser Einschätzung der Forschungs- tive der jüngeren Geschichte der Disziplin und Lehrsituation im Bereich der Aus- betrachtet auf zwei wesentlichen theoreti- sprachelehre hat sich bis heute kaum schen Vorentscheidungen über den Cha- etwas geändert. rakter phonetischen Lernens beruht. Dies Autoren, die Defizite in der Erforschung ist zum einen die Orientierung der Aus- aussprachlicher Lehr-Lernprozesse be- spracheschulung an der Phonologie und klagen, beziehen sich vor allem auf drei hier insbesondere an der Kontrastiven Er- Teilgebiete: werbsanalyse, zum anderen die Auffas- 1. die Marginalisierung der Phonetik im sung von neurobiologischen und/oder Fremdsprachenunterricht und im entwicklungspsychologischen Grenzen Fremdsprachenstudium (z. B. Breitung oder Erschwernissen der Ausspracheer- 1994: 11; Kohler 1995: 16f.); lernung im Alter. 2. die ungenügende Erforschung und un- Beide Ansätze haben die Aussprache- terrichtliche Darstellung von richtiger lehre maßgeblich beeinflußt, indem sie Prosodie, richtiger Gesamtlautung (Ar- ein vom Lerner und vom konkreten arti- tikulationsbasis) und richtiger Erzeu- kulatorisch-motorischen Lernprozeßver- gung und Setzung der sprachcharakte- lauf weitgehend abstrahierendes Ver- ristischen und paralinguistischen Si- ständnis aussprachlichen Lernens in der gnale (z. B. Ungeheuer 1970; Kelz 1976); Phonetik etablierten, in deren Folge eine Info DaF 27, 4 (2000), 337–351 338 Lernprozeßanalyse des phonetischen Er- lernerzentrierten, motorisch-kognitiven werbsgeschehens einschließlich einer dif- Grundlegung des zweitsprachlichen ferenzierten lerntheoretischen und -psy- Ausspracheerwerbs (Kap. 3). Die Dimen- chologischen Begründung der in der sion eines solchen Ansatzes für die Ana- Aussprachelehre eingesetzten Methoden lyse aussprachlicher Lernvorgänge wird nicht mehr notwendig erschien. abschließend dargelegt und aus der Ge- Es wird die These vertreten, daß ohne eine schichte der Phonetik entwickelt (Kap. 4). Revision beider Konzepte und ohne eine Neuorientierung der Ausspracheschulung 1. Phonologische Erwerbshypothesen am Innenaspekt phonetischen Lernens, und -ziele im Ausspracheunterricht d. h. an dem, wie der Lerner phonetische Als besonders konsequenzreich für die Reize in der Zielsprache intern verarbeitet, Ausspracheschulung hat sich die mit der speichert und in der artikulatorischen Aus- kontrastiven Analyse verbundene Erwar- führung kognitiv kontrolliert, das metho- tung erwiesen, durch einen linguistischen dische Defizit in der Aussprachelehre nicht Sprachvergleich der in Frage kommenden überwunden werden kann. Von einer sol- Sprachen Strukturdivergenzen und -iden- chen Neuorientierung ist die phonetische titäten zwischen Ziel- und Ausgangsspra- Zweitsprachenerwerbsforschung derzeit che feststellen und auf diese Weise interfe- noch weit entfernt, da zu jedem der oben renzfreie und interferenzanfällige zweit- angeführten Aspekte noch grundlegende sprachliche Aussprachebereiche vorhersa- Arbeiten über den sensomotorischen pho- gen zu können (vgl. exemplarisch die Auf- netischen Informationsumsatz im Lerner stellung von Schwierigkeitshierarchien fehlen bzw. dieser von den bisherigen Ana- und Fehlertypologien bei Moulton 1962, lyseverfahren in der Phonetik nicht oder Stockwell/Bowen 1965 und Kufner 1971). unzureichend erfaßt wird. Nach der starken Version der Kontrastiven Die nachfolgende Betrachtung skizziert Analyse entstehen Lernschwierigkeiten zunächst die theoretische und unter- immer dann, wenn der Grad der Ähnlich- richtsmethodische Tragweite systemlin- keit zwischen den phonologischen Daten guistischer Ansätze in der Aussprache- beider Sprachen abnimmt und strukturun- schulung (Kap. 1) sowie die Bedeutung terschiedliche Elemente überwiegen: der Altersvariable für den Aussprache- unterricht (Kap. 2). Aus der Kritik so- »We assume that the student who comes in wohl des phonologischen Erwerbsmo- contact with a foreign language will find dells als auch der »Altershypothese« in some features of it quite easy and others extremely difficult. Those elements that are der Phonetik wird das lernprozeßbezo- similar to his native language will be simple gene Dilemma der Ausspracheschulung for him and those that are different will be herausgearbeitet als das Fehlen einer difficult« (Clado 1957: 2)1. 1 Die Kontrastivhypothese wurde erstmals von Fries (1945) und Lado (1957) in den Fremdsprachenunterricht eingeführt. Zur psychologischen Literatur des »transfer of training« vgl. Lado (1972). Vereinfacht besagt die hier verwendete Transfer-Theorie, daß frühes Lernen bzw. früher Gelerntes auf späteres Lernen bzw. später Gelerntes einen Einfluß ausübt. Dieser ist positiv oder lernerleichternd (»positive transfer«), wenn die neue Lernaufgabe der alten extrem ähnlich ist; der Einfluß ist negativ oder lernerschwe- rend, wenn die Ähnlichkeit der neuen Lernaufgabe mit der alten abnimmt (»negative transfer«). Bei absoluter Unähnlichkeit ergibt sich »zero transfer«. Was unter Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit genau zu verstehen ist, wird von Lado nicht weiter ausgeführt. 339 Nicht weniger nachhaltig beeinflußte die mehr gewichtig genug erscheint, der Phonem-Orientierung als Lernziel den Phonetik mehr als einen marginalen Platz Ausspracheunterricht. Da der Lerner im im Fremdsprachenunterricht und -stu- Kontext »phonemischer Richtigkeit« die dium einzuräumen. fremde Aussprache bereits kennt und beherrscht, 2. Das Alter als kritischer Erwerbsfaktor »wenn er sie so hört und spricht, daß er für vollständigen Ausspracheerwerb dabei sämtliche phonemischen Einheiten dieser Sprache verwendet, d. h. daß er alle 2.1 Das neurobiologische Erklärungs- phonemischen Kontraste als spezifisch pho- nemische Einheiten erfaßt und sprechend modell benutzt« (Lado 1971: 57), Nach der auf Lenneberg (1972) zurückge- konnte unter diesem Lernziel – entspre- henden These einer »kritischen Periode« chend der Marginalisierung der Ausspra- für den Spracherwerb besteht ein enger cheschulung im Fremdsprachenunter- Zusammenhang zwischen cerebraler Or- richt – der Lernstoff erheblich reduziert ganisation, Hirnreifung und der Mög- werden. Entsprechend lautet die Emp- lichkeit, die Erst- und Zweitsprache mü- fehlung, die für die laufende Kommuni- helos und vollständig zu erwerben. Diese kation schwerwiegenden phonologi- Fähigkeit nimmt mit der Pubertät konti- schen von den weniger bedeutsamen nuierlich ab. Akzente in der Fremdspra- phonetischen