Komparative Institutionelle Vorteile Von Wirtschaftskulturen (S
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Werner Abelshauser, David A. Gilgen und Andreas Leutzsch (Hg.) Kulturen der Weltwirtschaft Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 24 Göttingen 2012 2 Gliederung I. Was sind und wie entstehen Kulturen der Weltwirtschaft? Werner Abelshauser, David Gilgen und Andreas Leutzsch, Kultur, Wirtschaft, Kulturen der Weltwirtschaft (S. 9-28) Werner Abelshauser, Ricardo neu gedacht: Komparative institutionelle Vorteile von Wirtschaftskulturen (S. 29-58) II. Kontinuität und Wandel von Wirtschaftskulturen Raphaële Chappe, Edward Nell und Willi Semmler, On the History of the U.S. Financial Culture (S. 59-84) Stephan Merl, Gibt es eine spezifisch russische Wirtschaftskultur? Reflexionen über administrative Kommandowirtschaft und ihre Auswirkungen bis heute (S. 85-113) Gunnar Flume, Das Modell Schweden: Kontinuität und Wandel einer Wirtschaftskultur (S. 114-133) Susanne Rühle, Ein neuer „traditioneller“ Kapitalismus? Die sozialen und kulturellen Bedingungen des chinesischen Wirtschaftswunders im Vergleich zur europäischen Entwicklung (S. 134-158) III. Transnationale Wirtschaftskulturen Christof Dejung, An den Grenzen der Kaufmannskultur? Europäische Handelsfirmen in Asien während der Kolonialzeit (S. 159-181) Michael Hölscher, Transnationale Wirtschaftskulturen in Europa. Empirische Befunde (S. 182-201) Klaus Nathaus, Nationale Produktionssysteme im transatlantischen Kulturtransfer. Zur „Amerikanisierung“ populärer Musik in Westdeutschland und Großbritannien im Vergleich, 1950-1980 (S. 202-227) Monika Dommann, Musik für Märkte. Autorrechte und Aufzeichnungsmedien seit 1800 (S. 228-260) 3 IV. Deutungsmuster im Wandel Margrit Grabas, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perspektive. Plädoyer für eine kulturalistisch erweiterte Konjunktur(geschichts)forschung (S. 261-283) Roman Köster, Transformationen der Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik im 20. Jahrhundert (S. 284-303) Autorinnen und Autoren (S. 304) 4 Werner Abelshauser Ricardo neu gedacht Komparative institutionelle Vorteile von Wirtschaftskulturen Summary: When David Ricardo published his theorem of comparative (labor) cost advantages he triggered a revolution within the theory of world trade which is still state of the art. Almost 200 years later and against the background of postindustrial development, we need a new approach because labor costs are no longer the most decisive factor for competitive advantage on technologically advanced markets. Yet the key to immaterial (post-industrial) production is comparative institutional advantages based on new, widely accepted mindsets (shared mental models) and market behavior – the rules of the game. An economic culture of this kind is important within clearly defined fields of the social system of production, such as the financial system, corporate governance, interest policy, the inter-company-system, the fields of vocational training and education and – last but not least – industrial relations. This article analyses the changing conditions for Ricardos` law today. This includes an outline of the emergence and performance of the economic culture of the major players on the world market (USA, China, Japan and Germany). Die Hauptströmung der Wirtschaftswissenschaften tut sich noch immer schwer mit dem Kulturbegriff. Einerseits entzieht er sich dem vorherrschenden quantitativ- mathematischen Kalkül, ist oft nur durch dichte Beschreibung sichtbar zu machen und läßt sich schon gar nicht in ein Akteursmodell rationaler Nutzenmaximierung integrieren. Andererseits sind Menschen kulturbegabte Wesen, die das Bedürfnis haben, neben sozialen und politischen auch wirtschaftliche Leitvorstellungen über die wesentlichen Bedingungen ihrer Existenz zu entwickeln. 1 Als ethische Prinzipien werden sie zu festen Bestandteilen der Lebensführung und beeinflussen so ökonomische Motive, Interessen und Praktiken. Sie greifen auch weit in den Gestaltungsprozess der Wirtschaft ein. 2 „Wirtschaftskultur“ muss aus dieser Perspektive wie eine contradictio in adiecto anmuten, an deren Widersprüchlichkeit die Anwendung des analytischen wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentariums verzweifeln muss. Bestenfalls bleibt „Kultur“ dann eine Residualkategorie, eine Art Wühltisch, auf dem all das zu finden ist, was sich durch allgemeine Theorien des 1 Jörn Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006. 2 Als der Ackerbau noch im Zentrum wirtschaftlichen Interesses stand, fand dieser Zusammenhang seinen Ausdruck im Begriff der „Agrikultur“. 5 menschlichen Handelns nicht erklären läßt. 3 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass „Kulturen der Weltwirtschaft“ eher im publizistischen Feuilleton als in wirtschaftswissenschaftlichen oder –historischen Forschungsarbeiten thematisiert werden. Dabei wäre es höchste Zeit, die kulturellen Bestimmungsgründe globalen wirtschaftlichen Handelns aus der exotischen Randzone heraus zu nehmen und sie wissenschaftlicher – gerade auch ökonomischer – Analyse zugänglich zu machen.4 Vieles spricht dafür, dass unser analytisches Instrumentarium zum Verständnis von Weltmarktprozessen nicht mehr angemessen ist. Es entspricht in seinem Kern noch immer den revolutionären Erkenntnissen, mit denen David Ricardo die Ratio des Außenhandels unter den Bedingungen der sich durchsetzenden industriellen Produktionsweise 1817 neu begründet hat.5 Neben die klassische Arbitrage und den Austausch komplementärer Güter setzte er sein Theorem der komparativen (Arbeits- )Kostenvorteile, das eine Erklärung dafür liefert, dass Außenhandel für ein Land selbst dann von Vorteile ist, wenn es die gleichen Güter in jeder Hinsicht kostengünstiger produzieren kann als ein möglicher Handelspartner. Dazu bedarf es keines dramatischen Kostengefälles. Entscheidend für das Zustandekommen von Handelsströmen ist nämlich nicht das Vorhandensein wechselseitiger absoluter Kostenvorteile, sondern die jeweilige Fähigkeit, den Handel auf solche Güter (und Dienstleistungen) zu konzentrieren, bei deren Herstellung komparative Kostenvorteile wirksam werden. Ricardos Hinweis auf die Wohlstand steigernde Wirkung der Spezialisierung auf Märkte mit den niedrigsten Opportunitätskosten lieferte im frühen 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Begründung der Lehre vom Freihandel. Sie hat sich seitdem zur Ideologie verfestigte und dient auch heute noch als Rechtfertigung für eine liberale Grundverfassung des Weltmarktes.6 Obwohl Ricardo von Anfang an alle „natural or artificial advantages“ im Auge hatte,7 verengte sich das Argument schon für seine Zeitgenossen auf komparative materielle Vorteile, die sich in den Arbeitskosten abbilden lassen. Im materiellen Rahmen der industriellen Produktion waren im internationalen Wettbewerb in der Tat komparative materielle 3 Francis Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen, München 1995, S. 52. 4 Immerhin wächst der Welthandel seit Jahrzehnten fast doppelt so schnell wie das reale Welt- Bruttoinlandsprodukt. 5 David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817, Kap. 7. 6 Nach Schätzungen der EU-Kommission ist der Anstieg des europäischen Lebensstandards zwischen 1955 und 2005 zu einem Fünftel auf die größere Offenheit der Weltwirtschaft zurückzuführen: European Commission, The EU Economy 2005 Review. Rising International Economic Integration. Opportunities and Challenges, Brüssel 2005. 7 Ricardo, Principles, 7.6. 6 Kostenvorteile entscheidend. Alle Variationen, die das Theorem im 20. Jahrhundert erfuhr, haben sich an dieser Regel orientiert.8 Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts ist Ricardos Ansatz erneut kreativ variiert worden, um ihn den Verhältnissen nachindustrieller Weltmärkte anzupassen. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht der Begriff der „komparativen institutionellen Kostenvorteile“.9 Er lenkt den Blick auf eine institutionelle Aufgabenteilung, die durch ihre immaterielle Produktivitätswirkung den globalen Wettbewerb dynamisch gestaltet. Bisher ist das Konzept aber nicht in seiner ganzen Breite entfaltet worden. Überraschenderweise ist dies ein Desiderat geblieben, obwohl der Ansatz nun schon ein Jahrzehnt in der varieties of capitalism-Forschung heuristische Anwendung findet. Der folgende Beitrag will seinen Teil dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Dazu gilt es zunächst zu klären, was institutionelle (Kosten-)Vorteile sind und welche Wirkung sie auf Marktbeziehungen haben. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, wie sich der scheinbare Widerspruch, der im Begriff der Wirtschaftskultur liegt, auflösen läßt, um sie überhaupt erst zum Gegenstand wirtschaftlicher Analyse zu machen. Letzteres setzt voraus, eine wissenschaftlich begründete und pragmatisch handhabbare Abgrenzung für divergente Ethiken und kulturelle Handlungsmuster der Weltwirtschaft zu finden, die wirtschaftlichen Kriterien folgt und es ermöglicht, komparative institutionelle Kostenvorteile zu identifizieren. Diese sollten sich dann auch empirisch auf Märkten und Innovationsfeldern nachweisen lassen. I. Die produktive Kraft von Institutionen Der wirtschaftliche Institutionenbegriff, der dem neuen Ansatz zugrunde liegt, unterscheidet sich nicht fundamental, aber doch signifikant von der Bedeutung, die Institutionen in den Nachbardisziplinen Soziologie oder Politikwissenschaft zukommt. Institutionen gelten als immaterielle Produktionsfaktoren, deren Auswahl und Wirkung rationalen ökonomischen Erklärungsansätzen zugänglich sind. Sie entstehen auf Märkten immer dann, wenn Akteure freiwillig darauf verzichten, ihre 8 Im 20. Jahrhundert wurde Ricardos Theorem mehrfach variiert.