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Komparative Institutionelle Vorteile Von Wirtschaftskulturen (S

Komparative Institutionelle Vorteile Von Wirtschaftskulturen (S

Werner Abelshauser, David A. Gilgen und Andreas Leutzsch (Hg.)

Kulturen der Weltwirtschaft

Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 24

Göttingen 2012 2

Gliederung

I. Was sind und wie entstehen Kulturen der Weltwirtschaft?

Werner Abelshauser, David Gilgen und Andreas Leutzsch, Kultur, Wirtschaft, Kulturen der Weltwirtschaft (S. 9-28)

Werner Abelshauser, Ricardo neu gedacht: Komparative institutionelle Vorteile von Wirtschaftskulturen (S. 29-58)

II. Kontinuität und Wandel von Wirtschaftskulturen

Raphaële Chappe, Edward Nell und Willi Semmler, On the History of the U.S. Financial Culture (S. 59-84)

Stephan Merl, Gibt es eine spezifisch russische Wirtschaftskultur? Reflexionen über administrative Kommandowirtschaft und ihre Auswirkungen bis heute (S. 85-113)

Gunnar Flume, Das Modell Schweden: Kontinuität und Wandel einer Wirtschaftskultur (S. 114-133)

Susanne Rühle, Ein neuer „traditioneller“ Kapitalismus? Die sozialen und kulturellen Bedingungen des chinesischen Wirtschaftswunders im Vergleich zur europäischen Entwicklung (S. 134-158)

III. Transnationale Wirtschaftskulturen

Christof Dejung, An den Grenzen der Kaufmannskultur? Europäische Handelsfirmen in Asien während der Kolonialzeit (S. 159-181)

Michael Hölscher, Transnationale Wirtschaftskulturen in Europa. Empirische Befunde (S. 182-201)

Klaus Nathaus, Nationale Produktionssysteme im transatlantischen Kulturtransfer. Zur „Amerikanisierung“ populärer Musik in Westdeutschland und Großbritannien im Vergleich, 1950-1980 (S. 202-227)

Monika Dommann, Musik für Märkte. Autorrechte und Aufzeichnungsmedien seit 1800 (S. 228-260)

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IV. Deutungsmuster im Wandel

Margrit Grabas, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perspektive. Plädoyer für eine kulturalistisch erweiterte Konjunktur(geschichts)forschung (S. 261-283)

Roman Köster, Transformationen der Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik im 20. Jahrhundert (S. 284-303)

Autorinnen und Autoren (S. 304)

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Werner Abelshauser

Ricardo neu gedacht Komparative institutionelle Vorteile von Wirtschaftskulturen

Summary: When David Ricardo published his theorem of comparative (labor) cost advantages he triggered a revolution within the theory of world trade which is still state of the art. Almost 200 years later and against the background of postindustrial development, we need a new approach because labor costs are no longer the most decisive factor for competitive advantage on technologically advanced markets. Yet the key to immaterial (post-industrial) production is comparative institutional advantages based on new, widely accepted mindsets (shared mental models) and market behavior – the rules of the game. An economic culture of this kind is important within clearly defined fields of the social system of production, such as the financial system, corporate governance, interest policy, the inter-company-system, the fields of vocational training and education and – last but not least – industrial relations. This article analyses the changing conditions for Ricardos` law today. This includes an outline of the emergence and performance of the economic culture of the major players on the world market (USA, China, Japan and ).

Die Hauptströmung der Wirtschaftswissenschaften tut sich noch immer schwer mit dem Kulturbegriff. Einerseits entzieht er sich dem vorherrschenden quantitativ- mathematischen Kalkül, ist oft nur durch dichte Beschreibung sichtbar zu machen und läßt sich schon gar nicht in ein Akteursmodell rationaler Nutzenmaximierung integrieren. Andererseits sind Menschen kulturbegabte Wesen, die das Bedürfnis haben, neben sozialen und politischen auch wirtschaftliche Leitvorstellungen über die wesentlichen Bedingungen ihrer Existenz zu entwickeln. 1 Als ethische Prinzipien werden sie zu festen Bestandteilen der Lebensführung und beeinflussen so ökonomische Motive, Interessen und Praktiken. Sie greifen auch weit in den Gestaltungsprozess der Wirtschaft ein. 2 „Wirtschaftskultur“ muss aus dieser Perspektive wie eine contradictio in adiecto anmuten, an deren Widersprüchlichkeit die Anwendung des analytischen wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentariums verzweifeln muss. Bestenfalls bleibt „Kultur“ dann eine Residualkategorie, eine Art Wühltisch, auf dem all das zu finden ist, was sich durch allgemeine Theorien des

1 Jörn Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006. 2 Als der Ackerbau noch im Zentrum wirtschaftlichen Interesses stand, fand dieser Zusammenhang seinen Ausdruck im Begriff der „Agrikultur“. 5 menschlichen Handelns nicht erklären läßt. 3 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass „Kulturen der Weltwirtschaft“ eher im publizistischen Feuilleton als in wirtschaftswissenschaftlichen oder –historischen Forschungsarbeiten thematisiert werden. Dabei wäre es höchste Zeit, die kulturellen Bestimmungsgründe globalen wirtschaftlichen Handelns aus der exotischen Randzone heraus zu nehmen und sie wissenschaftlicher – gerade auch ökonomischer – Analyse zugänglich zu machen.4 Vieles spricht dafür, dass unser analytisches Instrumentarium zum Verständnis von Weltmarktprozessen nicht mehr angemessen ist. Es entspricht in seinem Kern noch immer den revolutionären Erkenntnissen, mit denen David Ricardo die Ratio des Außenhandels unter den Bedingungen der sich durchsetzenden industriellen Produktionsweise 1817 neu begründet hat.5 Neben die klassische Arbitrage und den Austausch komplementärer Güter setzte er sein Theorem der komparativen (Arbeits- )Kostenvorteile, das eine Erklärung dafür liefert, dass Außenhandel für ein Land selbst dann von Vorteile ist, wenn es die gleichen Güter in jeder Hinsicht kostengünstiger produzieren kann als ein möglicher Handelspartner. Dazu bedarf es keines dramatischen Kostengefälles. Entscheidend für das Zustandekommen von Handelsströmen ist nämlich nicht das Vorhandensein wechselseitiger absoluter Kostenvorteile, sondern die jeweilige Fähigkeit, den Handel auf solche Güter (und Dienstleistungen) zu konzentrieren, bei deren Herstellung komparative Kostenvorteile wirksam werden. Ricardos Hinweis auf die Wohlstand steigernde Wirkung der Spezialisierung auf Märkte mit den niedrigsten Opportunitätskosten lieferte im frühen 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Begründung der Lehre vom Freihandel. Sie hat sich seitdem zur Ideologie verfestigte und dient auch heute noch als Rechtfertigung für eine liberale Grundverfassung des Weltmarktes.6 Obwohl Ricardo von Anfang an alle „natural or artificial advantages“ im Auge hatte,7 verengte sich das Argument schon für seine Zeitgenossen auf komparative materielle Vorteile, die sich in den Arbeitskosten abbilden lassen. Im materiellen Rahmen der industriellen Produktion waren im internationalen Wettbewerb in der Tat komparative materielle

3 Francis Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen, München 1995, S. 52. 4 Immerhin wächst der Welthandel seit Jahrzehnten fast doppelt so schnell wie das reale Welt- Bruttoinlandsprodukt. 5 David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817, Kap. 7. 6 Nach Schätzungen der EU-Kommission ist der Anstieg des europäischen Lebensstandards zwischen 1955 und 2005 zu einem Fünftel auf die größere Offenheit der Weltwirtschaft zurückzuführen: European Commission, The EU Economy 2005 Review. Rising International Economic Integration. Opportunities and Challenges, Brüssel 2005. 7 Ricardo, Principles, 7.6. 6

Kostenvorteile entscheidend. Alle Variationen, die das Theorem im 20. Jahrhundert erfuhr, haben sich an dieser Regel orientiert.8 Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts ist Ricardos Ansatz erneut kreativ variiert worden, um ihn den Verhältnissen nachindustrieller Weltmärkte anzupassen. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht der Begriff der „komparativen institutionellen Kostenvorteile“.9 Er lenkt den Blick auf eine institutionelle Aufgabenteilung, die durch ihre immaterielle Produktivitätswirkung den globalen Wettbewerb dynamisch gestaltet. Bisher ist das Konzept aber nicht in seiner ganzen Breite entfaltet worden. Überraschenderweise ist dies ein Desiderat geblieben, obwohl der Ansatz nun schon ein Jahrzehnt in der varieties of -Forschung heuristische Anwendung findet. Der folgende Beitrag will seinen Teil dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Dazu gilt es zunächst zu klären, was institutionelle (Kosten-)Vorteile sind und welche Wirkung sie auf Marktbeziehungen haben. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, wie sich der scheinbare Widerspruch, der im Begriff der Wirtschaftskultur liegt, auflösen läßt, um sie überhaupt erst zum Gegenstand wirtschaftlicher Analyse zu machen. Letzteres setzt voraus, eine wissenschaftlich begründete und pragmatisch handhabbare Abgrenzung für divergente Ethiken und kulturelle Handlungsmuster der Weltwirtschaft zu finden, die wirtschaftlichen Kriterien folgt und es ermöglicht, komparative institutionelle Kostenvorteile zu identifizieren. Diese sollten sich dann auch empirisch auf Märkten und Innovationsfeldern nachweisen lassen.

I. Die produktive Kraft von Institutionen Der wirtschaftliche Institutionenbegriff, der dem neuen Ansatz zugrunde liegt, unterscheidet sich nicht fundamental, aber doch signifikant von der Bedeutung, die Institutionen in den Nachbardisziplinen Soziologie oder Politikwissenschaft zukommt. Institutionen gelten als immaterielle Produktionsfaktoren, deren Auswahl und Wirkung rationalen ökonomischen Erklärungsansätzen zugänglich sind. Sie entstehen auf Märkten immer dann, wenn Akteure freiwillig darauf verzichten, ihre

8 Im 20. Jahrhundert wurde Ricardos Theorem mehrfach variiert. Am bekanntesten ist das Heckscher/Ohlin Modell (Faktorproportionentheorie), das auf die unterschiedliche relative Ausstattung von Handelsnationen mit Kapital und Arbeit abhebt: Bertil Ohlin, Interregional and International Trade, Cambridge 1933. 9 Varities of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, hrsg. v. Peter A. Hall u. David Soskice, Oxford 2001, Einleitung. Gleichzeitig findet der Begriff im Themenheft „Neue Institutionenökonomik als Historische Sozialwissenschaft“ von Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) Anwendung (Werner Abelshauser, Umbruch und Persistenz: Das deutsche Produktionsregime in historischer Perspektive, S. 520). 7

Handlungsfreiheit voll auszuschöpfen, weil sie sich davon (Kosten-)Vorteile versprechen. Werden so definierte Handlungsspielräume von einer genügenden Zahl von Akteuren akzeptiert, entstehen gemeinhin anerkannte Denk- und Handlungsweisen, die dann zu informellen „Spielregeln“ gerinnen. Verspricht die Einhaltung informeller Institutionen über individuelle Anreize hinaus auch Vorteile für die Gesamtwirtschaft, können sie den Charakter formaler Institutionen annehmen, wenn die Rechtsordnung Regeln, die sich als effizient erweisen, im Interesse des Gemeinwohls allgemein verbindlich macht. Aber auch ohne rechtliche Sanktionierung sind funktionsfähige Institutionen in der Lage, individuelle und kollektive Wettbewerbsvorteile zu schaffen, weil sie sich unmittelbar auf die Kosten der Marktnutzung (Transaktionskosten) im Allgemeinen und die Fähigkeit zur spontanen Assoziation (Soziabilität) im Besonderen auswirken. Beide Wirkungen, die Senkung der Transaktionskosten und die Förderung der Soziabilität, sind auf soziales Vertrauen als Resultante gemeinsamer wirtschaftlicher (und moralischer) Wertvorstellungen gegründet. Steht der Vertrauenspegel tief, weil Institutionen nicht funktionieren, schwach ausgeprägt sind oder ganz fehlen, verursacht dies zusätzliche Kosten bei der Vorbereitung, beim Abschluss, der Durchsetzung und der Überwachung von Markttransaktionen. Verträge, die unter der Herrschaft einer lex mercatoria zustande kommen und in ein funktionierendes System institutioneller Ordnung eingebettet sind, bedürfen dagegen weniger gründlicher Vorbereitung, keiner formalen Beglaubigung und lassen sich leichter überwachen und durchsetzen. Dies hatte schon auf die Produktionsbeziehungen im industriellen Zeitalter keinen geringen Einfluß, weil bestimmte, nachhaltige Produktionsweisen auf diese eingebaute Marktstabilität angewiesen waren und immer noch sind. Das Vorhandensein spezifischer Institutionen senkt nämlich nicht nur die Transaktionskosten, sondern definiert darüber hinaus die Fähigkeit, wettbewerbsfähig zu produzieren. Soziabilität, die auf sozialem Vertrauen beruht, ist eine zentrale Voraussetzung für organisatorische Innovation. Fehlt sie oder wird sie geschwächt, versiegt die Fähigkeit zur organisatorischen Anpassung an neue Märkte und damit eine der wichtigsten Quellen zur Schaffung von Wohlstand. Die Bandbreite des jeweiligen institutionellen Rahmens wirkt also wie ein Selektionsmechanismus für den Zugang zu bestimmten Märkten. Dies gilt umso mehr im nachindustriellen Zeitalter, dessen wirtschaftliche Ratio durch einen hohen immateriellen Wertschöpfungsanteil gekennzeichnet ist. Unter den neuen Produktionsbedingungen 8 ist der Anteil der Transaktionskosten an den Gesamtkosten signifikant gestiegen, während der Arbeitskostenanteil drastisch sinkt. 10 Inzwischen machen die Transaktionskosten auf vielen Märkten deutlich mehr als die Hälfte aller Kosten aus. 11 Institutionen müssen in nachindustrieller Zeit ihre Effizienz vor allem daran messen lassen, wie sie mit solchen Herausforderungen fertig werden, die zwar nicht völlig neu sind, aber unter nachindustriellen Bedingungen rasch an Bedeutung gewinnen. Dazu gehört neben der Kontrolle der Transaktionskosten auch die Lösung des Principal-Agent-Problems. Es entsteht als Folge asymmetrischer Wissensverteilung in Produktionsbeziehungen, wobei die Herausforderung mit dem Ende der Industriewirtschaft noch wächst. Immaterielle, wissenschaftsbasierte Produktion ist von der Arbeit hoch qualifizierter „Agenten“ abhängig, deren spezifisches Wissen in der Regel nicht leicht zu ersetzen ist. Vor allem aber läßt sich die optimale Leistung eines über spezifisches Wissen verfügenden Arbeitnehmers vom „Prinzipal“ weder exakt vertraglich fassen, noch könnte er entsprechende Arbeitsverträge zu vertretbaren Kosten überwachen und durchsetzen. Anders als unter industriellen Bedingungen ist das Management daher immer weniger in der Lage, die Kontrolle über den Arbeitsplatz zu einigermaßen vertretbaren Kosten uneingeschränkt auszuüben. Auch können Arbeitnehmer, wenn sie Träger spezifischen Wissens sind, dem Unternehmen im Konfliktfall größeren Schaden zufügen als der klassische Industriearbeiter, der lediglich über generalisiertes – und damit leicht ersetzbares – Wissen verfügt. War im industriellen Kontext die Leninsche Maxime „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gültig, so ist unter diesen neuen Bedingungen das Gegenteil richtig und Kontrolle sogar noch der teurere Weg.12 Da die Nutzenfunktionen von Prinzipal und Agent aber grundsätzlich weit auseinander liegen, sind institutionelle Lösungen gefragt, um die Interessen beider Seiten soweit einander anzunähern, dass die produktive Umsetzung spezifischen Wissens in den Arbeitsprozess gewährleistet ist.

10 Nach einer Untersuchung der ‚Kampagne für saubere Kleidung`, eines Netzwerkes aus Kirchen, Gewerkschaften und NGOs macht der Anteil der Herstellungskosten an einem Markenturnschuh 17 Prozent aus, der Arbeitskostenanteil davon nur noch 0,4 Prozentpunkte (!), während sich der Anteil der Markenkosten auf 33 Prozent und die Handelsspanne auf 50 Prozent belaufen. Metallzeitung 6, 2008, S. 15. 11 John J. Wallis u. Douglass C. North, Measuring the Transaction Sector in the American Economy 1870 – 1970, in: Stanley L. Engerman u. Robert E. Gallman (Hg.), Long-Term Factors in American Economic Growth, Chicago 1986, S. 95–161. 12 S. dazu Martin Fiedler, Vertrauen ist gut, Kontrolle teuer. Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: Geschichte und Gesellschaft 27. 2001, S. 576–592. 9

Beherrschte während des langen Industrialisierungsprozesses vor allem die Fähigkeit zum produktiven Umgang mit den materiellen Kosten Tempo und Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung, bestimmt die Fähigkeit zur Lösung der erörterten Probleme in nachindustrieller Zeit immer stärker den Erfolg der immateriellen Produktion. Daraus folgt die Einsicht, daß geeignete Institutionen und Normen als kollektiver Input zwar nicht unmittelbar Werte schaffen, aber doch produktive Kräfte mobilisieren, deren Nutzung auf bestimmten Märkten den Wettbewerb für sich entscheidet. Damit verschiebt sich im Übergang zu nachindustriellen Produktionsverhältnissen auch im Außenhandel das Kriterium für einen beiderseitig profitablen Austausch von komparativen materiellen Vorteilen auf komparative institutionelle Vorteile.

II. Ein dynamisches Modell der Wirtschaftskultur Die Vorstellung, im Prozess der Globalisierung entstünde eine homogene Kultur der Weltwirtschaft, weil sich alle Marktteilnehmer an der best practice des Weltmarktes orientieren müssten, um im Wettbewerb zu bestehen, ist in den Quartieren der Wirtschaftswissenschaften weit verbreitet. Ihr folgen auch die Anhänger der Institutionenökonomik, soweit sie dem rational choice-Ansatz verpflichtet sind. 13 Gleichwohl werden gerade sie nicht leugnen, dass es auch nach mehr als einem Jahrhundert der Globalisierung noch immer divergente Wirtschaftskulturen als unabhängige und selbständige Kreise menschlicher Weltdeutung und Praxisorientierung gibt. Wenn die theoretisch begründete Erwartung der kulturellen Homogenisierung der Weltwirtschaft an der offensichtlichen Vielgestaltigkeit globaler wirtschaftlicher Verhältnisse zunichte wird (von der offensichtlichen Persistenz ineffizienter Institutionen ganz zu schweigen), gilt es, sich dieser Antinomie zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie zu stellen. Es ist deshalb zunächst zu klären, was Wirtschaftkulturen unterscheidbar macht, wie sie entstanden sind und welcher wirtschaftlichen Ratio ihre Entwicklung folgt. Der Hinweis auf komplexe kognitive Schemata, die historisch verwurzelt sind und über Sozialisationsprozesse übertragen werden, ist in diesem Zusammenhang sicher berechtigt, hat aber aus nahe liegenden Gründen bisher nur eine

13 Helmut Leipold, Das Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie bei D. C. North, in: Ingo Pies u. Martin Leschke (Hg.), ökonomische Theorie der Geschichte, Tübingen 2009, S. 255–277, hier S. 264. 10

überschaubare Zahl empirisch gehaltvoller Studien angeregt.14 Näher liegt es, die spezifischen Merkmale divergenter Wirtschaftskulturen aus tatsächlichen, empirisch unterscheidbaren Institutionen abzuleiten. Diese Unterschiede können auf der allgemeinen Ebene ethischer Gewohnheiten liegen, wie etwa der Rechtsordnung, der Familienverfassung oder der Fähigkeit zur Soziabilität. Sie fördern spezifische Formen wirtschaftlicher Organisation, die wiederum tiefe Spuren im sozialen System der Produktion hinterlassen. Sie resultieren häufig aus a-rationalen sozialen Gewohnheiten, die von Generation zu Generation übertragen werden und sich als Tugenden oder Laster, Wohlstand mehrende oder hemmende Bedingungen erweisen können. Bewähren sie sich am Markt, werden sie zu dort von vielen Akteuren geteilten Denkweisen, 15 die sich im jeweiligen sozialen System der Produktion auch in sehr konkreten, rationalen Organisationsentscheidungen niederschlagen. So unterscheidet sich die Art und Weise, wie zentrale Bestandteile des sozialen Systems der Produktion (Arbeitsbeziehungen, Ausbildungssystem, Branchensystem, Corporate Governance, Finanzsystem, Interessenpolitik) organisiert werden, in globaler Perspektive nicht unerheblich. Unter dem Einfluß bewährter gemeinsamer Denkweisen, der Pfadabhängigkeit von effizienten wie ineffizienten Institutionen, aber auch als Reaktion auf direkte Anreize des jeweiligen Führungsmarktes entstehen auf globaler Ebene nicht selten sogar fundamental gegensätzliche Organisationsweisen. Spätestens auf dieser operationalen Ebene wird Wirtschaftskultur auch zum Ergebnis intentionaler wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse und damit wirtschaftswissenschaftlicher – das heißt vor allem auch wirtschaftshistorischer – Analyse zugänglich. Wirtschaftskultur läßt sich dann als eine an Märkten orientierte historisch gewachsene institutionelle Landschaft

14 Arthur Denzau u. Douglass C. North, Shared Mental Models. Ideologies and Institutions, in: Kyklos 47. 1994, S. 3–31. S. dazu die Kritik von Hartmut Berghoff u. Hartmut Vogel, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: dies. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004, S. 9–41, hier S. 20. 15 Der von Douglass C. North verwendete Begriff des shared mental models meint ebenfalls von Akteuren gemeinsam geteilte Denkweisen, deren Entstehung er mit einem kognitiv-institutionellen Ansatz verknüpft: Douglass C. North, Economic Performance through Time, in: American Economic Review 84. 1994, S. 359–368, hier S. 365. Er sieht in der Fähigkeit subjektiver Realitätswahrnehmung und –verarbeitung „die Möglichkeit einer Koppelung der mikroökonomischen Vorgänge mit den makroökonomischen Anreizen, die das Institutionensystem bietet“: Ders., Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 133. Zur Kritik an diesem Ansatz s. Thomas Döhring, Douglass North und das Problem der „Shared Mental Models“. Gehaltvolle kognitive Erweiterung oder halbherzige Modifikation des ökonomischen Ansatzes? in: Pies u. Leschke, Douglass North ökonomische Theorie, S. 145–187. 11 beschreiben, die sich über alle Bereiche des sozialen Systems der Produktion erstreckt und ihren Trägern die Möglichkeit bietet, institutionelle

Abbildung 1: Ein dynamisches Modell der Wirtschaftskultur

Herausforderungen: Wettbewerb, Preiszusammenhang, neue Technologien, wirtschaftlicher Strukturwandel Schocks: Kriege, Wirtschaftskrisen ↓

→ Akteure im sozialen System der Produktion auf Märkten Tradierte →shared mental und in Unternehmen ethische models →reagieren auf Gewohnheiten→→ externe Schocks und wirtschaftliche (Regulierung/ und Herausforderungen Deregulierung) → Lock-in-Effekte→ orientieren Entscheidungen an Kriterien für institutionelle Innovation wie →institutioneller → Transaktionskosten und organisator- → (Embeddedness / Prinzipal-Agent-Problem ischer Wandel Pfadabhängigkeit) →komparative Kostenvorteile (angepasstes bzw. neues Produktions- regime)

↑ ↓

↑______<______↓

© Werner Abelshauser

Wettbewerbsvorteile auf bestimmten Märkten zu nutzen. In der hohen Neigung zur Persistenz, die im dynamischen Vergleich von Kulturkreisen deutlich hervortritt, liegt gleichzeitig eine Gefahr. Verfestigen sich Denkweisen zu starren Weltanschauungen, steigt das Risiko, an ineffizienten Institutionen gegen den Markt festzuhalten. Es ist aber allein das Marktverhältnis, das in der Lage ist, gemeinsam geteilte Denk- und Handlungsweisen in komparative institutionelle Vorteile umzuwandeln. 12

Im Modell (Abb. 1) ist das Handeln von Akteuren zunächst in überkommene Gewohnheiten eingebettet und folgt dem vertrauten Pfad der Entwicklung, der sich bis dahin am relevanten Markt bewährt hat. Da an unterschiedlichen Märkten verschiedenartige Erfolgsbedingungen herrschen, kommt es dabei zur Ausprägung divergenter und gerade deshalb wirklichkeitsgerechter Wirtschaftskulturen. Sie liefern eine plausible Erklärung für institutionelle Entwicklungsunterschiede zwischen den wirtschaftlichen Kulturkreisen. In ihrem Rahmen bewerten Akteure ihr reales Umfeld durch den Filter gemeinsamer mentaler Modelle und interpretieren das Marktgeschehen anhand der im Sozialisationsprozess vermittelten kulturellen Kriterien. Dabei handelt es sich auch, aber nicht in erster Linie um wirtschaftliche Sekundärtugenden, wie Zuverlässigkeit, Fleiß oder Kreativität. Es geht vielmehr um die Fähigkeit, bestimmten Herausforderungen des Marktes mit effizienten Verhaltens- und Denkweisen zu begegnen, die als wirtschaftliche Spielregeln akzeptiert werde. An diesen produktiven Primärtugenden ändert sich solange nichts, als die Akteure nicht durch Wettbewerbsdruck – sei es durch Veränderung der relativen Preise auf relevanten Märkten, Verfügbarkeit neuer Technologien oder wirtschaftlichen Strukturwandel – gezwungen werden, frühere Entscheidungen in Frage zu stellen. Jede denkbare Handlungsalternative muss sich dann daran messen lassen, ob sie in der Lage ist, zentrale Entscheidungskriterien, wie die Minimierung der Transaktionskosten, die Lösung des Principal-Agent-Problems oder die Sicherung anderer komparativer Kostenvorteile zu erfüllen. Kommt es dabei zu institutionellem oder organisatorischem Wandel vollzieht er sich in diskreten Schritten innerhalb des Pfades allgemein geteilter Denkweisen, sofern der exogene Schock nicht groß genug ist, bestehende Lock-In-Effekte zu sprengen. Es ist zwar nicht völlig auszuschließen, dass es auch über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg zu (globalen) Anpassungsprozessen wirtschaftskultureller Mentalmodelle kommt, weil die Erfahrung von best practice und Ähnlichkeiten der Nutzenfunktionen dies innerhalb der Grenzen bestimmter Märkte fördern. Dies wird aber in globaler Perspektive nur selten der Fall sein, weil sich in einer Welt zunehmender institutioneller Erträge und unvollkommener Märkte die Tatsache, dass die Opportunitätskosten alternativer Institutionen nicht bekannt sind, prohibitiv auswirken muss. Im Zweifel werden die Gründungskosten neuer Institutionen als sehr hoch eingeschätzt werden müssen, weil die wachsende Akzeptanz von shared mental models die Effizienz bestehender Spielregeln tendenziell weiter verstärkt. Zu den 13

Hindernissen, die einer Abkehr vom Pfad ebenso entgegenstehen, gehören auch verfestigte Machtbeziehungen und komplementäre Verflechtungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Spielregeln, deren wechselseitige Erwartungs- und Vertrauenseffekte in nicht zu unterschätzende Wettbewerbsvorteile umschlagen können. Es bedarf schon außerordentlicher Herausforderungen und Schocks ehe völlig neue Denk- und Handlungsweisen in die Wirtschaft einziehen. Auf die mit Abstand führenden Welthandelsnationen bezogen liegen solche Einschnitte weit zurück. Sie lassen sich im Zuge der Großen Depression für Deutschland (1873– 1896) und die USA in der Progessive Era (1890–1920) erkennen, in Japan während der Meiji-Periode (1868–1912). Die chinesischen Verhältnisse liegen komplizierter. Ansätze der späten Ch’ìng Periode (1644-1911), die in das „goldene Zeitalter“ des republikanischen Bürgertums (1911-1937) münden, sind zwar im Krieg unterbrochen und in rotchinesischer Zeit unterdrückt worden. Sie konnten aber innerhalb und vor allem außerhalb von China überleben und sich auch weiter entwickeln, so dass sie nach 1978, am Ende jahrzehntelanger autozentristischer Entwicklung und nach der Niederlage der maoistischen „Viererbande“ im Kampf gegen den „Wind von rechts“ (1976), wieder in den Wettbewerb um die Spielregeln in der Wirtschaft eintraten.

III. Eine Skizze wirtschaftlicher Kulturkreise Die Geschichtswissenschaft tut sich nach der kulturellen Erweiterung ihres sozialwissenschaftlichen Paradigmas noch schwerer mit der Theoriebildung als davor. Jeder Versuch, Hypothesen zu bündeln, um unter definierten räumlichen und zeitlichen Anwendungsbedingungen zu empirisch gehaltvollen Aussagen über divergente Kulturen der Weltwirtschaft zu gelangen, wird von vielen Historikern mit Skepsis betrachtet. Sie sehen darin die Gefahr von „holistischen Verkürzungen“ sehr komplexer Zusammenhänge und warnen vor dem leichtfertigen Umgang mit nationalen Stereotypen. 16 Es gilt also, eine Passage zwischen der Skylla der ganzheitlichen Deutung und der Charybdis uferloser Differenzierung zu finden. Es liegt nahe und entspricht der objektiven Verfassung der Weltwirtschaft, bei diesem Versuch an der relativen Position der wichtigsten Handelsnationen auf einem offensichtlich triadisch von nordamerikanischen, europäischen und ostasiatischen

16 Berghoff, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 20. Auch meine Skizze wird diese Kritik auf sich ziehen, doch muss eine theoriegeleitet forschende Historische Sozialwissenschaft diese Herausforderung annehmen. Schließlich liegt der Sinn jeder abgrenzenden Theoriebildung nicht zuletzt darin, einer auf dem Ozean der Fakten treibenden Geschichtswissenschaft als Navigationshilfe zu dienen. 14

Akteuren konfigurierten Weltmarkt anzusetzen. Darüber hinaus hat der Weltmarkt nämlich keine Adresse. Was ihn konstituiert, sind weder nationale Märkte in ihrer Addition und räumlichen Verbindung, noch supranationale Transaktionsräume, sondern bestenfalls gemeinsam geteilte Regeln. Sie stellen eine Vertrauensgrundlage her, die die Kosten der Marktnutzung wirtschaftlich kalkulierbar macht und auf ein attraktives, weil wettbewerbsfähiges Niveau senkt. In dieser lex mercatoria sind Gewohnheitsrechte verankert, die zum Teil schon seit Jahrhunderten die Praxis des Fernhandels bestimmen, wie der Grundsatz der Reziprozität von Privilegien und Beschränkungen der Akteure, die handelsvertragsrechtliche Meistbegünstigung, die nach 1860 vor allem von den europäischen Handelsnationen ausging oder formale und informelle Konventionen, die sich eine post-westfälische Weltstaatengesellschaft seit dem 19. Jahrhundert geschaffen hat. Bis heute sind aber die Herrschafts- und Lenkungsverhältnisse in der Weltwirtschaft (global governance) nur wenig formalisiert. Gewiß bieten weltweit agierende Organisationen der Vereinten Nationen, wie der Internationale Währungsfonds, die Weltbank oder die Welthandelsorganisation (WTO/GATT) seit langem weltmarktorientierte Dienstleistungen an. Es fehlt ihnen jedoch die Herrschafts- und Lenkungsfähigkeit aus eigener Kraft. Die rudimentäre Weltwirtschaftsregierung der G5/7/8, 1975 inmitten der Kleinen Weltwirtschaftskrise als jährliches Kamingespräch der wichtigsten Finanzminister der Triade etabliert, hätte diese Chance gehabt, ist aber offenbar gescheitert. Ob sich der Kreis der G20 – erneut in einer Weltwirtschaftskrise aktiviert – bewähren kann, steht noch dahin. Vor diesem Hintergrund ist es nicht der organisatorische, sondern in erster Linie der institutionelle Rahmen, der den Weltmarkt in seiner kulturellen Vielfalt charakterisiert und bestimmt. Dabei kommt der Vergleich der institutionellen Rahmenbedingungen, also der Denk- und Handlungsweisen, die die Spielregeln der wichtigsten Akteure in ihrem jeweiligen sozialen System der Produktion ausmachen, zu einem überraschenden Ergebnis. Die institutionelle Ausstattung der großen Wettbewerber am Weltmarkt,17 die jeweils die Führerschaft auf wichtigen Teilmärkten der Weltwirtschaft ausüben, zeigt kaum

17 Die Verteilung der Weltmarktanteile (in Prozent) zeigt 2005 ein klares Bild zugunsten der USA (10), Deutschlands (9), Chinas (knapp 9) und Japans (gut 7), während die nächsten Ränge von Großbritannien und Frankreich (weniger als 4) sowie Italien (weniger als 3) eingenommen werden. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank 12. 2006, S. 33. Dieses ranking hat sich seit vielen Jahrzehnten im Wesentlichen als stabil erwiesen. Allein China, das nach einem gescheiterten Anlauf am Ende des 19. Jahrhunderts erst 1978 wieder die Bühne der Weltwirtschaft betrat, erlebt seit 1990 (2 Prozent) einen nachholenden Aufstieg in die Spitze der Welthandelsnationen, bleibt aber ansonsten in fast jeder Hinsicht ein Entwicklungsland. 15

Anzeichen von Homogenität (Tab. 1). Im Gegenteil, sie läßt sich geradezu idealtypisch nach kulturellen Handlungsmustern abgrenzen, die untereinander im Wettbewerb stehen und unterstreicht so die Bedeutung komparativer institutioneller Vorteile am Weltmarkt.

Tabelle 1:

Abbildung 2: Institutionelle Rahmenbedingungen führender Handelsnationen

USA Deutschland Japan China

Soziales System Liberale Korporative Gruppengelenkte Staatsbürokratische der Produktion Marktwirtschaft Marktwirtschaft Marktwirtschaft Marktwirtschaft

Arbeitsbeziehungen dereguliert mitbestimmt syndikalistisch stark fragmentiert, staatshegemonial Ausbildungssystem allgemeinbildend dualistisch betriebsbezogen allgemeinbildend Branchensystem konkurrierend kooperativ Netzwerk stark fragmentiert Corporate hierarchisch kollegial/dualistisch senioral hierarchisch, Governance experimentell Finanzsystem Trennbanken Universalbanken Finanzgruppen Staatsfonds Interessenpolitik pluralistisch Verbände gruppenbezogen staatlich gelenkt Soziale Sicherung Kapitalmarkt Sozialstaat syndikalistisch Grundsicherung

Produktionsweise/ „fordistisches“ diversifizierte flexible flexible Märkte Design Qualitätsproduktion Qualitätsproduktion Massenproduktion

© Werner Abelshauser

Es ist sicher kein Zufall, dass die mit Abstand führenden Handelsnationen schwerpunktmäßig auf ganz unterschiedlichen Teilmärkten reüssieren und dazu auf divergente soziale Systeme der Produktion zurückgreifen. Es liegt auch nahe zu vermuten, dass es gerade diese kulturellen Unterschiede sind, die mit spezifischen Marktbedingungen korrelieren, im Wettbewerb letztlich den Ausschlag geben und diesen Wettbewerbsvorteil auch langfristig sichern. Der institutionelle Rahmen läßt sich dazu nach bestimmten kulturellen Merkmalen zusammenfassen, die für unterschiedliches Verhalten der Akteure auf den jeweiligen Leitmärkten verantwortlich sind (Tab. 2).

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Tabelle 2: Wirtschaftskulturelle Differenzierung

USA Deutschland Japan China Kulturelle Handlungs- muster Familismus ethnisch regionale professionelle patrilineare stark Netzwerke Leitung („Banto“) Hierarchien differenziert („Cluster“) Soziabilität nachlassend hoch hoch schwach Unternehmer- kurzfristig langfristig langfristig kurzfristig ischer Horizont Markt- einzel- Korporationen Große Familien koordination wirtschaftlich und Verbände Finanzgruppen und Staat („Keiretsu“) („Guanxi“) Finanzierung Risikokapital geduldiges geduldiges Staatskapital Kapital Kapital Sparquote sehr niedrig hoch sehr hoch sehr hoch Leitmärkte „Franchising“ nachindustrielle nachindustrielle industrielle Maßschneiderei Serienproduktion Serienproduktion

Kulturelle Standard „Rheinischer Korea Taiwan, Ausstrahlung Kapitalismus“ Singapur Malaysia

© Werner Abelshauser

Hier liegt auch der Ausgangspunkt für Überlegungen, wie unterschiedliche wirtschaftliche Kulturkreise auf dem Weltmarkt abzugrenzen wären. So gehört Deutschland aus der Weltmarktperspektive betrachtet zu einer Wirtschaftsregion, die von Skandinavien bis Norditalien und von der Seine bis an die Oder reicht. Ihre Entstehungsgeschichte geht weit in die Zeit der Hanse und der europäischen Stadtwirtschaft zurück, deren wirtschaftliche Dynamik längs der Handelsachsen von Flandern in den Ostseeraum und von Antwerpen über Frankreich und Oberdeutschland nach Genua und Venedig ähnliche kulturelle Rahmenbedingungen hinterlassen hat. In dieser historischen Perspektive ist der Begriff des „Rheinischen Kapitalismus“, der dem Wirtschaftsraum in den 1990er Jahren aufgeprägt wurde,18 keineswegs zu eng. Die „rheinischen“ Handelsnationen teilen bei aller organisatorischen Verschiedenheit ihrer Volkswirtschaften wesentliche kulturelle

18 Michel Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a. M.1992. Albert sieht in der „rheinischen“ Bundesrepublik den Vorort einer europäischen Wirtschaftsregion, die von ihrem kapitalistischen Vetter im anglo-amerikanischen Wirtschaftsraum herausgefordert wird. 17

Merkmale, die sich in verwandten Denk- und Handlungsweisen ausdrücken. Ihre gemeinsame Fähigkeit zur nachindustriellen Maßschneiderei beruht auf einem hohen Maß an sozialem Vertrauen und spontaner Soziabilität, die insbesondere auf der Ebene der Familienunternehmen regionale Netzwerke fördern.19 Hier liegt einer der Gründe für ihre hohe Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Sie machen auch weit über familistische Traditionen hinaus – unterstützt durch hohe Sparquoten und „geduldiges“ Kapital – jene für die Qualitätsproduktion notwendigen langfristigen unternehmerischen Zeithorizonte möglich, die den Wettbewerb auf diesen Märkten entscheiden. Die Marktkoordination durch Korporationen (Unternehmen und Verbände in der korporativen Marktwirtschaft) kennzeichnet dabei eine Wirtschaft, in der weder das Individuum noch der Staat den Ton angibt. Das japanische ie(-moto)-Prinzip prägt zwar ebenfalls eine gruppenorientierte Wirtschaft, doch unterscheidet sich deren Organisation signifikant von der „rheinischen“. An die Stelle Markt ordnender Branchenstrukturen, regionaler Verbundwirtschaften oder von wirtschaftlichen Interessenverbänden treten dort ursprünglich familistische Unternehmensbündnisse als starke intermediäre wirtschaftliche Organisationen mit der Fähigkeit zur spontanen Assoziation, die sich um eine Bank gruppieren und miteinander eng verflochten sind (Keiretsu). Die Stabilität dieser Geschäftsbeziehungen und die oft lebenslange Zugehörigkeit der Angestellten zum Unternehmen schaffen soziales Vertrauen, das – tief in familistischen Traditionen verwurzelt – mit wirtschaftlichen Kategorien allein nicht erklärbar ist. 20 Es entfaltet aber erhebliche wirtschaftliche Wirkungen, indem es immaterielles Kapital akkumuliert und auf diese Weise sowohl die Transaktionskosten senkt als auch zur Lösung des Principal–Agent–Problems beiträgt. Die familistische Philosophie der japanischen Wirtschaft unterscheidet sich jedoch in einem entscheidenden Punkt von den Prinzipien der Familienwirtschaft anderer Kulturkreise. Während diese zumeist in der familiären Bindung wirtschaftlicher Verhältnisse die Lösung des Principal-Agent-Problems sehen und deshalb auch Abstriche an der professionellen Leitung ihrer Betriebe in Kauf nehmen, haben japanische Familien traditionell Seiteneinsteigern die Führung ihrer Betriebe anvertraut (banto-System) – nicht selten, um sie im Erfolgsfalle zu adoptieren. Die operative Trennung von Kapital und Management hat die Bildung

19 Linda von Delhaes-Günther, Erfolgsfaktoren des westdeutschen Exports in den 1950er und 1960er Jahren, Dortmund 2003. 20 Chie Nakane, Die Struktur der japanischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1985. 18 vertikaler Netzwerke erleichtert, die im Keiretsu rund 30 Unternehmen umfassen und die selbst wiederum Querverbindungen mit anderen Unternehmensgruppen eingehen. Diese Organisationsweise begegnet dem Transaktionskostenproblem gleich an zwei Fronten. Zum einen werden Markttransaktionen in die Hierarchie von Unternehmen eingegliedert und damit die Kosten der Marktnutzung gesenkt. Zum anderen vermeidet die Ausbildung stabiler Netzwerke ein überdimensionales Größenwachstum der im Verbund führenden Unternehmen, das die Transaktionskosten von einem bestimmten Punk an wieder steigen ließe.21 Heute sind große „Handelshäuser“ wie Sumitomo oder Mitsubishi als Keiretsu organisiert. Die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Bereich ist dabei fließend, doch beschränkt sich die Rolle des Staates in der Regel auf die Lenkung von Krediten, den Schutz von Industrien vor ausländischer Konkurrenz und die Förderung von Forschung und Entwicklung. Nach der Periode der Meiji-Restauration, in der die japanische Wirtschaft des 20. Jahrhunderts unter der Ägide der Staates ihre Gestalt gefunden hatte und in den Weltmarkt eintrat, waren es diese zunächst Zaibatsu (Stände des Reichtums oder Finanz-Cliquen) genannten großen privatwirtschaftlichen Organisationen, die den Rahmen für spontane Soziabilität boten. Sie repräsentierten am Ende des Zweiten Weltkrieges mehr als ein Drittel des in der japanischen Wirtschaft vorhandenen Kapitals, wobei die Schwerpunkte des Engagements im Finanzsektor (53 Prozent) und in der Schwerindustrie (49 Prozent) lagen.22 Auch wenn die wirtschaftliche Macht der Zaibatsu am Ende des Zweiten Weltkriegs gebrochen wurde, setzt sich deren Organisationsprinzip in den Keiretsu doch fort. Auch das (süd-)koreanische Muster der Marktkoordination der sichtbaren Hand auf der Ebene der großen Finanzgruppen (Chaebol), wie etwa Samsung oder Hyundai, verdankt seinen offenkundigen Markterfolg nicht zuletzt dem japanischen Modell gruppengelenkter Marktwirtschaft, das während der Kolonialzeit (1905/10- 1945) als wesentliches Element der Modernisierung der koreanischen Wirtschaft diente. Während ansonsten die Ausstrahlung der japanischen Wirtschaftskultur eng begrenzt bleibt, teilt die Wirtschaft der Republik Korea mit ihr nicht nur zahlreiche

21 Dieses Problem hat Ronald H. Coase bereits 1937 erkannt und in einem „Gründungsdokument“ der Neuen Institutionenökonomie, seinem Bahn brechenden Aufsatz „The Nature of the Firm“, analysiert: Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica 16. 1937, H. 4, S. 386–405. 22 Berücksichtigt wurden die vier großen (Mitsui, Mitsubishi, Sumitomo, Yasuda) und sechs weitere Zaibatsu (Ayukawa, Asano, Furukawa, Ôkura, Nakashima, Nomura): Holding Company Liquidation Commission, Nihon Zaibatsu to sono kaitai, Bd.2, Tokio 1951, S. 468f. S. dazu auch Satoshi Nishida, Der Wiederaufbau der japanischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (=VSWG-Beihefte, 193), Stuttgart 2007, S. 148f. 19

Merkmale und Handlungsmuster, sondern auch die Orientierung am Leitmarkt für standardisierte Qualitätsproduktion. Der Versuch einer Synthese wesentlicher Merkmale der chinesischen Wirtschaftskultur droht an der Unübersichtlichkeit einer stark fragmentierten institutionellen Landschaft zu scheitern. Je nachdem, ob alte Industrien, wie die Textil- und die Schwerindustrie, oder die inzwischen weit führenden Finanz- und IT- Sektoren der Wirtschaft betrachtet werden, unterscheiden sich die geltenden Spielregeln signifikant. In der Elektronikindustrie mit ihren 4,26 Millionen Beschäftigten (2007) sind Produktionsanlagen auf höchstem technologischem Niveau in Großbetrieben oder Industrieparks mit jeweils zehntausenden Beschäftigten weit verbreitet, deren soziales System der Produktion sich an den Regeln subkontrahierter Massenproduktion orientiert. 23 Die staatliche Automobilindustrie (2,6 Millionen) bedient sich zunehmend koreanischer und japanischer Methoden der lean production und der Arbeitsflexibilisierung. Dagegen dominiert in der Bekleidungsproduktion (4,83 Millionen) nach wie vor der traditionelle Sweatshop mit Niedriglöhnen und autoritärer Kontrolle. Diese kulturelle Fragmentierung der Branchenstruktur wird noch dadurch verstärkt, dass die jeweiligen Branchenstandorte regional stark disloziert sind. 24 Aber auch gerade innerhalb der dynamischsten Wirtschaftszweige unterscheidet sich die Praxis des Denkens und Handelns in Abhängigkeit zu den jeweiligen Eigentums- und Kooperationsstrukturen stark. Andererseits hat es dieser „hybride“ chinesische Kapitalismus bisher vermieden, die marktwirtschaftliche Transformation als „Schocktherapie“ zu praktizieren. 25 Dies läßt viel Raum für die Übertragung von Denk- und Handlungsweisen, die sich aus der vielfach gebrochenen chinesischen business history und der traditionellen Familienwirtschaft entwickelt haben. Erstere

23 Für einen empirischen, über sein engeres Thema weit hinausgehenden Überblick siehe Boy Lüthje, Arbeitspolitik in der chinesischen IT-Industrie. Neue Perspektiven in der Diskussion um internationale Arbeitsstandards. Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Schwerpunkt Strukturwandel – Innovation und Beschäftigung (November 2008), unter: http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2007-14-1- 1.pdf. Eine allgemeine Analyse liefert: Tobias ten Brink, Strukturmerkmale des chinesischen Kapitalismus (=Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Diskussion Paper, 1. 2010), Köln 2010. 24 So ist die Textil- und Bekleidungsindustrie über den Süden verteilt, während sich die IT-Industrie auf das Perlfluß-Delta, Peking und Shanghai konzentriert. Die Schwerindustrie hat ihren Standort im Nordosten. 25 Barry Naughton, The Chinese Economy. Transitions and Growth, Cambridge, MA 2007, S. 308ff. S. auch Christopher A. McNally (Hg.), China’s Emergent Political Economy. Capitalism in the Dragon´s Lair, London 2007. Einen Einblick in die chinesische Sicht des Reformprozesses bietet eine Sammlung von Aufsätzen des Reformers Li Yining (Economic Reform and Development the Chinese Way, Peking 2010). 20 nahm den Umweg über chinesische Unternehmer in „Greater China“, d.h. in Taiwan, Thailand, Indonesien, Singapur oder – in vielfacher Hinsicht ein Sonderfall - Hong Kong, die den overseas Chinese capitalism in der Diaspora verkörpern. Wissen und Kapital dieser Auslandschinesen haben beim Wiedereintritt der Volksrepublik in den Weltmarkt keine unwesentliche Rolle gespielt.26 Die Regeln der letzteren gelten in den kleinen und mittleren Industriebetrieben sowie in der Landwirtschaft zumeist immer noch. Die überkommenen Besonderheiten des chinesischen Familismus erlauben nur schwache intermediäre gesellschaftliche Organisationen und bieten daher der Fähigkeit zur spontanen wirtschaftlichen Assoziation kaum Raum. 27 Anders als im japanischen banto-System herrschen dort auch streng patrilineare Hierarchien, die die Gefahr der als Buddenbrook-Syndrom bekannten Destabilisierung in der dritten oder vierten Generation der Unternehmensführung in sich bergen. Kleine und familienkontrollierte Unternehmen sind freilich auf arbeitsintensiven, stark segmentierten und raschen Schwankungen unterworfenen Märkten von Vorteil. Dies gilt für den Textil- und Bekleidungsmarkt und andere konsumnahe Bereiche, wo flexibel und rasch entschieden werden muß. In anderen Branchen, zu denen gerade auch viele High-Tech-Sektoren zählen, überwiegen dagegen die Nachteile. Diese finden ein Gegengewicht in ausgeprägten familistischen Netzwerkbeziehungen, die auf dem Prinzip der „guten Beziehungen“ (Guanxi) beruhen und für eine sorgfältig austarierte Vertrauensgrundlage in scharf von einander abgetrennten Teilen des Geschäftslebens sorgen. Diese ursprünglich aus der konfuzianischen Sozialethik hervorgegangene Verhaltensstrategie hat längst die Grenzen autonomer Familienwirtschaft überschritten und verleiht auch der im Umbau begriffenen Staatswirtschaft ein gewisses, manchmal auch problematisches Maß an Stabilität, wobei die Grenzen zur Vetternwirtschaft und zur Korruption fließend sind. Das Guanxi-Prinzip findet sich in übertragener Weise auch in der gegenwärtig weithin praktizierten Strategie wieder, die Verhältnisse in den industriellen Zentren unter dem Begriff der „harmonischen Gesellschaft“ durch Regulierung von Löhnen und Sozialversicherungsleistungen, aber auch der allgemeinen Lebensbedingungen, wie Wohnen und Infrastruktur, im Einvernehmen

26 Sherman Cochran u. David Strand (Hg.), Cities in Motion: Interior, Coast and Diaspora in Transnational China. Berkeley 2007; David Faure, China and Capitalism, A History of Business Enterprise in Modern China, Hong Kong 2006; Gary Hamilton, Commerce and Capitalism in Chinese Societies, London 2006. 27 Dieses Defizit hat in China zu dem paradoxen Phänomen der Government-operated Non- governmental Organizations (GONGO) geführt, die das Fehlen von NGO’s kompensieren sollen. 21 von Arbeitgebern, Gewerkschaften und (lokalen) Regierungen zu stabilisieren. Die Erfolgsaussichten dieser Strategie sind jedoch zweifelhaft, weil sie nicht auf die dazu notwendige „tripartistische“ Infrastruktur zurückgreifen kann. 28 Bisher sind chinesische Arbeitgeber jedenfalls nicht an der Bildung effizienter Verbände interessiert, sondern verlassen sich innerhalb einer staatsbürokratischen Marktwirtschaft ganz auf „gute Beziehungen“ zum Machtapparat und dessen individuelle Vertreter. In gewisser Weise spiegeln sich hier Denk- und Handlungsweisen wieder, die seit dem späten 19. Jahrhundert die Modernisierung der chinesischen Wirtschaft begleitet haben. Öffentliche Kontrolle und kaufmännische Leitung (kuan-tu shang-pan) gingen Hand in Hand im Industrialisierungsprozess und öffneten dem Wirtschaftsbürgertum in seinem „goldenen Zeitalter“ begrenzte Spielräume zu unternehmerischem Handeln.29 Die herrschende Vielfalt des Angebots an konkurrierenden institutionellen Regelungen erscheint indes gut kompatibel mit der extremen Segmentierung und Hierarchisierung der in China am weitesten verbreiteten neo-tayloristischen Produktionsweise, deren Dynamik inzwischen sogar zur Knappheit unqualifizierter Arbeit geführt hat.30 Die so geförderte De-Qualifizierung der Produktionsarbeit – bei wachsender Bedeutung hoch qualifizierter Ingenieurs- und Managementleistung – entspricht weitgehend den Verhältnissen zur Hochzeit der fordistischen Massenproduktion in vielen entwickelten Industrieländern. Dass die USA im 20. Jahrhundert zur Missionszentrale des globalen Fordismus aufstiegen, ist weniger bestimmten kulturellen Voraussetzungen geschuldet als vielmehr handfesten wirtschaftlichen Zwängen und Chancen. In einem Land, in dem qualifizierte Arbeitskräfte notorisch knapp waren, versprach die Innovation einer Produktionsweise, die den hochproduktiven Einsatz unqualifizierter Arbeit erlaubte, eine hohe Rendite. Es galt, den Produktionsprozess so zu gestalten, dass die Qualität des „fordistischen Designs“ der Fabrik – die Präzision automatisierter Produktionsabläufe, der Spezialisierungsgrad der eingesetzten

28 Boy Lüthje, Arbeitsbeziehungen in China in der Wirtschaftskrise. „Tripartismus mit vier Parteien“? in: WSI Mitteilungen 9. 2010, S. 473–479, hier S. 473f. Vor allem die Funktion der Gewerkschaften als Personalmanagement der Unternehmen kann dieser Aufgabe oft nicht gerecht werden, so dass die Belegschaften als vierte Partei „außen vor“ bleiben. 29 Albert Feuerwerker, China`s Early Industrialization. Sheng Hsuna-Huai (1844-1916) and Mandarin Enterprise, Cambridge, Mass. 1958; zum Aufstieg des chinesischen Wirtschaftsbürgertum s. Marie- Claire Bergère, L’Age d’or de la bourgeoisie chinoise, Paris 1986. 30 Stefanie Hürtgen u.a., Von Silicon Valley nach Shenzhen. Globale Produktionsnetze und internationale Arbeitsteilung in der IT-Industrie, Hamburg 2009. Dies gilt z. B. für die typische Arbeit der Handbestückung und –montage bei Handyschalen, in der Endfertigung von PCs, Computerdruckern oder Spielekonsolen. 22

Maschinen, eine wissenschaftlich ausgeklügelte Arbeitsteilung – wenn es einmal entworfen war, die Qualität der Arbeit ersetzen konnte. Dieser Aufwand ließ sich nur durch economies of scale rechtfertigen, deren Wirtschaftlichkeit mit der Größe des Binnenmarktes korrelierte. Der Aufstieg des Fordismus fiel in den USA auch keineswegs in eine Zeit schwach ausgeprägter Soziabilität. Im Gegenteil, frühe Beobachter der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft rühmten gerade stabile und ausgeprägt kommunitaristische Strukturen sowie ein dichtes Netz freiwilliger Assoziationen, wenn sie wie Alexis de Tocqueville (1835) den Besonderheiten der Demokratie in Amerika auf der Spur waren31 oder sich wie Max Weber (1906) mit den Auswirkungen der protestantischen Ethik auf deren Fähigkeit zur spontanen Assoziation auseinandersetzte:32 „In der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifisch amerikanischen Demokratie: dass sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer Verbände war.“ Mit der Durchsetzung der neuen Produktionsweise aus dem Mittleren Westen zum spezifisch amerikanischen Produktionsregime, die im Wettbewerb mit den mittelständischen Herstellern diversifizierter Qualitätsprodukte an der Ostküste in den 1920er Jahren vollzogen war, drehte sich der Wind. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten sich Neigung und Fähigkeit der amerikanischen Gesellschaft zur spontanen Soziabilität ebenso stetig wie signifikant gewandelt: „By almost every measure, Americans’ direct engagement in politics and government has fallen steadily and sharply over the last generation.“33 Als Anfang der 1970er Jahre die Dynamik der fordistischen Produktionsweise im verarbeitenden Gewerbe nachindustrieller Volkswirtschaften wie den USA, Japan oder Deutschland zusammenbrach, war es dieser Umbruch im Denken und Handeln, der der Erschließung neuer Leitmärkte und dem Ausbau neuer Produktionsregime in den USA im Wege stand. Während die deutsche Wirtschaft umso entschiedener den nie ganz verlassenen Pfad der nachindustriellen Maßschneiderei weiter verfolgte und von ihrem nach wie vor großen Überschuss an sozialem Vertrauen profitierte, 34 übertrugen die USA das Jahrhundert-Modell des fordistischen Designs auf den rasch expandierenden tertiären Sektor. Da qualifizierte Arbeit in den USA nach wie vor

31 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika [1835/1840], München 1976, S. 248. 32 Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 19868, S. 207–236, hier S. 215. 33 Robert D. Putnam, Bowling Alone. America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy 6. 1995, S. 65–78, hier S. 68. 34 Werner Abelshauser, The Dynamics of German Industry. Germany’s Path toward the New Economy and the American Challenge, New York 2005, S. 104–106. 23 knapp war und die Fortsetzung des Globalisierungsprozesses economies of scale auch bei Dienstleistungen honorierte, lohnte es sich, den Mangel an Breitenqualifikation durch den Einsatz von Spitzenqualifikation zu kompensieren. Weltweit präsente standardisierte Hotel- und Restaurantketten sind für diesen tertiären Fordismus ebenso typisch wie innovative Formen des Kapitalmarktes, der Wissenschaftsproduktion und der Wirtschaftsberatung. Seine franchising-Variante schließt sogar die Standardisierung der Unternehmerfunktion ein. Die Attraktion dieser Produktionsweise und ihre Tauglichkeit zum Standardkapitalismus-Modell beruhen auf einem hohen Maß an Anspruchslosigkeit, was die Qualifikation der zum Betrieb notwendigen Arbeitskräfte und die institutionellen Voraussetzungen ihrer Etablierung angeht.

IV. Divergenz von Wirtschaftskultur in empirischer Perspektive Auf der Suche nach empirischen Beispielen, an denen sich die Stärken und Schwächen divergenter Wirtschaftskulturen im weltweiten Wettbewerb demonstrieren lassen, bieten sich vor allem zwei Wege an. Der erste, er führt über den technologischen Weltmarkt der Patente, erreicht sein Ziel nur indirekt, hat aber den Vorteil großer analytischer Aussagekraft. Die Fähigkeit zur Innovation und damit einer wichtigen Voraussetzung des wirtschaftlichen Erfolgs und der Wettbewerbsfähigkeit auf den jeweiligen Produktmärkten läßt sich im Vergleich der Strukturmuster der Patenterteilung und ihrer Spezialisierung messen. Die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, für die sie maßgebend ist, korreliert – wenn auch von Branche zu Branche unterschiedlich stark – mit Wettbewerbspositionen auf bestimmten Weltmärkten. Der zweite Weg kommt direkter ins Ziel, setzt aber apriori- Annahmen über die Struktur der Leitmärkte voraus, wie sie in den Tabellen 1 und 2 entwickelt wurden. Der Vergleich der einschlägigen Handelsbilanzen, differenziert nach den jeweiligen Leitmärkten, liefert dann einen ganz unmittelbaren Beleg für die Wettbewerbsfähigkeit wirtschaftskulturell unterscheidbarer Standorte. Der Vergleich des in Patenten kodifizierten Wissens der Triade kann sich auf eine vom Münchner Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) erhobene vergleichende Untersuchung der Patententwicklung der Jahre 1991 bis 24

2002 stützen, die 2005 veröffentlicht wurde. 35 Ihr Schwerpunkt liegt auf den deutschen, amerikanischen und japanischen Anmeldungen beim Europäischen Patentamt (München) und im Rahmen des Patent Cooperation Treaty der World Intellectual Property Organisation (Genf). Die chinesischen Daten sind in dieser Untersuchung nicht erfasst. China hat zwar im vergangenen Jahrzehnt die Zahl seiner international relevanten Patente steigern können, fällt aber in absoluten Zahlen im Vergleich mit anderen Ländern der Triade nicht ernsthaft ins Gewicht. Dagegen erstaunt es nicht, dass etablierten Weltmarktführer auch auf dem Gebiet der Patentanmeldung weit vorn liegen. Von wenigen kleineren europäischen Ländern wie Finnland, Schweden oder den Niederlanden einmal abgesehen, verfügt Japan über die höchste Patentintensität (pro Kopf der Bevölkerung), gefolgt von Deutschland und den USA. Ähnliches gilt für das Wachstum der Patententwicklung. Dort liegen Deutschland und die USA gleich auf, während Japan etwas Abstand hält. In der Einzelbetrachtung decken sich die Profile der Patentstruktur weitgehend mit den technologischen Voraussetzungen der Teilmärkte, die aus der synthetischen Betrachtung institutioneller und ethischer Merkmale in den Tabellen 1 und 2 hervorgehen. So läßt sich vor dem Hintergrund der technologischen Weltmarktdynamik die allgemeine Aussage voll und ganz bestätigen, daß die Stärken des deutschen Wirtschaftsstandorts vor allem auf den Märkten für diversifizierte Qualitätsprodukte liegen, die unter Einsatz hoch entwickelter, aber bereits etablierter Technologien hergestellt werden (Diagramm 1). Die Untersuchung des Fraunhofer ISI zeigt auch, dass der Fokus der Spezialisierung der deutschen Hochtechnologie-Patentbilanz ganz offenbar auf Branchen liegt, deren Technologie bereits zu einer gewissen Reife entwickelt ist, so daß sich das Innovationsziel verstärkt konkreten wirtschaftlichen Anwendungen zuwenden kann. Zu diesen Technologiefeldern gehören Automobile, Maschinenbau, sowie Ausschnitte

35 Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung, Patente in Europa und der Triade. Strukturen und deren Veränderung (=Studien zum deutschen Innovationssystem, 9.2005) Karlsruhe 2004, S. 11. 25

Diagramm 1

Abbildung 4: Spezialisierung Deutschlands im Bereich der Hochtechnologie- Patente

Quelle: ERAPAT, WOPATENT, Fraunhofer ISI; RPA=Relative Patent-Aktivität 0 entspricht dem weltweiten Patentportfolio >0 = überdurchschnittliche Spezialisierung) aus Chemie und Elektrotechnik. Die Verteilungsstruktur deutscher Patente vermittelt insgesamt den Eindruck, daß die Stärken des deutschen Standorts dort beginnen, wo aus Basisinnovationen Verfahrensinnovationen werden. Entsprechend schwach ist die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Branchen der Spitzentechnologie ausgeprägt, wo der Anteil der Forschung und Entwicklung (FuE) am Umsatz über 8,5 Prozent liegt. Deren Erfolg setzt ein entsprechend flexibles und risikoorientiertes Produktionsregime voraus. Dies gilt zum Beispiel für die Informationstechnologie, die Halbleitertechnik, die Optik oder die Biotechnologie. Allerdings hat sich die absolute Zahl der deutschen Patente, die während der neunziger Jahre pro Jahr am Europäischen Patentamt angemeldet wurden, gerade 26 in diesem Spitzen-Bereich verdreifacht. Dagegen haben sich die Zahlen im Bereich hochinnovativer Technologien (FuE-Anteil >3,5 Prozent) ‚nur’ verdoppelt. Es ist also eine Entwicklung zu mehr Spitzentechnologie erkennbar und damit eine Tendenz zum Ausgleich bisheriger relativer Schwächen.

Diagramm 2 Abbildung 5: Vergleich der Spezialisierung der USA und Deutschlands im Bereich der Hochtechnologie-Patente

Innovationsf ähigkeit USA/D

Quelle: ERAPAT, WOPATENT, Fraunhofer ISI; RPA=Relative Patent Aktivität 0 entspricht dem weltweiten Patentportfolio, >0 = überdurchschnittliche Spezialisierung

Der Einfluß des sozialen Systems der Produktion auf die an der „Patentproduktion“ gemessene Innovationsfähigkeit tritt im Vergleich des deutschen Musters der Patenterteilung mit dem amerikanischen besonders deutlich hervor 27

(Diagramm 2). Dort liegen die stärksten Innovationspotentiale in der Informationstechnologie, der Medizintechnik, der Biotechnologie, der Pharmazeutik oder der Nukleartechnik, also in jenen Branchen, deren Innovationskraft in Deutschland relativ schwach ausgeprägt ist. Andererseits ist die Innovationsfähigkeit in den USA dort unterdurchschnittlich stark entwickelt, wo es auf langfristige Unternehmenshorizonte oder auf eine hohe und breit gestreute Qualifikation der Arbeitskraft ankommt. Legt man beide Spezialisierungsmuster aufeinander, so wird auf verblüffende Weise deutlich, daß sich die beiden Produktionsregime gemessen an ihrer Innovationsfähigkeit nahezu vollständig ergänzen. Die Stärken des einen sind die Schwächen des anderen et vice versa. In dieser komplementären Spezialisierung, an der sich bis heute nichts Wesentliches geändert hat, spiegelt sich die hohe Divergenz der wirtschaftskulturellen Rahmenbedingungen (Tab. 1 u. 2). Das japanische Profil (Diagramm 3) ist dadurch charakterisiert, dass extrem positive und extrem negative Spezialisierungswerte erreicht werden, die sich weder mit dem deutschen noch mit dem amerikanischen Muster decken. Dahinter stehen Strategien der japanischen Wirtschaft, die eine eindeutige Differenzierung nach Spitzen- und hochwertiger Technologie nicht zulassen. Die inhaltliche Spezialisierung liegt eindeutig auf dem Gebiet der Elektrotechnik und auf Teilgebieten der Chemie. Im Vergleich zu Deutschland fällt eine teilweise sehr ähnliche Spezialisierung ins Auge. Dies mag zum einen daran liegen, dass beiden Ländern wichtige wirtschaftskulturelle Merkmale und Handlungsmuster gemeinsam eigen sind. Dies gilt nicht nur für die technologische Struktur der Leitmärkte, sondern auch für die Fähigkeit zur spontanen sozialen Assoziation, für Grundsätze der Marktkoordination, für Denk- und Handlungsweisen im Finanzsystem und seinen Spielregeln und den daraus folgenden weiten Horizonten der unternehmerischen Perspektive (Tab. 1 und 2). Zum anderen mögen überkommene ethische Gewohnheiten dazu beigetragen haben, dass Neue Industrien, die im späten 19. Jahrhundert die nachindustrielle Dynamik der deutschen Wirtschaft eröffneten, für Japan in der Meiji-Periode als role model der wirtschaftlichen Modernisierung dienten. Im Vergleich der Profile erweisen sich die USA und Deutschland also komplementär spezialisiert, während der Vergleich zwischen Deutschland und Japan teilweise ähnliche Spezialisierungen zeigt. Langfristig haben sich auch Ländergruppen herausgebildet, deren 28 wirtschaftskulturelle und daher auch technologische Orientierung ähnlich ist.36 Dies gilt für das globale Maschinenbau-Cluster Deutschland, Italien und

Diagramm 3 Abbildung 6: Vergleich der Spezialisierung Japans und Deutschlands im Bereich der Hochtechnologie-Patente

Quelle: ERAPAT, WOPATENT, Fraunhofer ISI; RPA=Relative Patent Aktivität 0 entspricht dem weltweiten Patentportfolio, >0 = überdurchschnittliche Spezialisierung)

Frankreich, für die USA, Kanada und Großbritannien in den Bereichen Pharma und Datenverarbeitung sowie für Japan und Korea als Spezialisten für das kodifizierte Wissen der optischen Industrie und der Konsumelektronik. Auf ähnliche Weise läßt sich an den Salden der Handelsbilanzen ablesen, wie sich die kulturellen Merkmale der führenden Weltmarktparteien in spezifischen

36 Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung, Patente in Europa, S. 43. 29

Stärken und Schwächen ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit niederschlagen. Grundlage einer solchen Untersuchung bietet die United Nations Commodity Trade Statistics Database der United Nations Statistics Division und deren Internationales Warenverzeichnis für den Außenhandel (Standard International Trade Classification SITC). Mit seiner Hilfe lassen sich relevante Märkte abgrenzen, auf denen die Wettbewerbsfähigkeit der führenden Welthandelsnationen im Warenverkehr verglichen werden kann. Für den Weltmarkt für Dienstleistungen, der an Bedeutung zunimmt, bieten sich die Statistics on International Trade in Services der OECD an, die auch die Daten wichtiger Nichtmitglieder, wie etwa China, einschließen. Einen ersten Eindruck vermittelt die Frage nach der Marktführerschaft auf den am meisten umkämpften Warenmärkten. Wenn es um die Wirkung komparativer institutioneller Vorteile geht, empfiehlt es sich, die Agrar- und Rohstoffmärkte auszuklammern, weil sie weniger von kulturellen Determinanten als von der Verteilung natürlicher Ressourcen abhängen. Es bleiben dann jene Märkte für

Diagramm 4: Weltmarktführung auf Warenmärkten (147 Teilmärkte ohne Agrargüter und Rohstoffe) 2007 in Prozent

50

40

30

20 10 0

China Deutschland Japan USA Andere

Quelle: "United Nations Commodity Trade Statistics Database" (UN Comtrade) Kategorien 5-8. URL: http://comtrade.un.org/db/mr/rfCommoditiesList.aspx

30 industrielle und nachindustrielle Güter (mit hohem immateriellem Wertschöpfungsanteil), die zu den Leitmärkten aller hier untersuchten Wirtschaftskulturen zählen. Auf ihnen liegt die deutsche Exportindustrie weit an der Spitze gefolgt von China, den USA und Japan (Diagramm 4). Die deutsche Exportwirtschaft entfaltet ihre Dynamik und Durchsetzungsfähigkeit zu allererst im Fahrzeugbau, im Maschinenbau und in der Chemischen Industrie, während sie auf dem Markt für moderne Büromaschinen und andere Komponenten der elektronischen Datenverarbeitung deutliche Defizite aufweist. Auch wenn die deutsche Exportwirtschaft – anders als die amerikanische oder japanische – kein einziges Weltmarktsegment völlig beherrscht, überrascht doch die Breite und Tiefe ihrer internationalen Stellung. Beispielsweise halten seit 1985 mehr als 300 deutsche Exportbranchen einen Anteil am Weltmarkt, der über dem jeweiligen deutschen Durchschnittsanteil am Weltexport liegt (1985: 10,6 Prozent; 2003: 10,5 Prozent).37 Nur wenige von ihnen vereinigten mehr als 1 Prozent der deutschen Exporte auf sich. Diese Breite weist auf eine Differenzierungsstrategie der deutschen Exportwirtschaft hin, die sich auf relativ stark spezialisierte Branchen mit hoher Produktivität konzentriert (nachindustrielle Maßschneiderei). Sie ist deshalb gegenüber Wettbewerb und konjunkturellen Schwankungen besonders widerstandsfähig. Dies zeigt sich in der Gegenwart daran, dass die deutsche Exportwirtschaft ihren Rang behaupten kann, obwohl sich die Zahl der Wettbewerber auf dem Weltmarkt im vergangenen Jahrzehnt signifikant vermehrt hat. Der Exporterfolg, der seit den frühen fünfziger Jahren ungebrochen anhält, ist eng mit den komparativen institutionellen Kostenvorteilen verknüpft, die die deutsche Wirtschaft auf Märkten für diversifizierte Qualitätsprodukte hat.

37 Michael E. Porter, The Competitive Advantage of Nations, New York 1990, S. 356. 31

Diagramm 5: Weltmarktführung auf den Teilmärkten für IT-Güter (alle 4 Kategorien)

5 4

3 1.-3. Rang 2

1

0

China Japan USA

Deutschland

Quelle: "United Nations Commodity Trade Statistics Database" (UN Comtrade) Kategorien 5-8. URL: http://comtrade.un.org/db/mr/rfCommoditiesList.aspx

Auf einem kleineren Ausschnitt des Weltmarktes, den Teilmärkte für IT-Güter, wie Chips, PCs, Motherboards und andere Computerteile, treten dagegen die Vorteile jener Wirtschaftskulturen deutlich hervor, deren Leitmärkte von standardisierter Massenproduktion und deren Nachfolger bestimmt werden (Diagramm 5). Dies gilt in erster Linie für China, dessen IT-Wirtschaft in allen vier einschlägigen Marktkategorien einen der ersten drei Plätze belegt. Mit jeweils deutlichem Abstand folgen die USA, Deutschland und Japan. Auf den globalen Dienstleistungsmärkten sind es erwartungsgemäß die USA, die ihre komparativen institutionellen Vorteile nutzen können. Überraschend ist eher der relativ hohe deutsche Marktanteil am Handel mit IT- und Kommunikationsdienstleistungen (Diagramme 6 und 7).

32

Diagramm 6: Handel mit IT-Dienstleistungen 2007 in Mrd USD

16 14 12 10 8 Export 6 Import 4 2 0 China Deutschland Japan USA

Quelle: OECD Statistics on International Trade in Services nach der "Extended Balance of Payments Services Classification“ auf der Grundlage des Balance of Payment Manual (5th Revision) des IWF, URL:http://stats.oecd.org/Index.aspx?DatasetCode=TIS

Diagramm 7: Handel mit Kommunikations-Dienstleistungen 2007 in Mrd USD

10

8 6 Export 4 Import 2 0 China Deutschland Japan USA

Quelle: OECD Statistics on International Trade in Services nach der "Extended Balance of Payments Services Classification“ auf der Grundlage des Balance of Payment Manual (5th Revision) des IWF, URL:http://stats.oecd.org/Index.aspx?DatasetCode=TIS

33

Er ist nicht, wie im amerikanischen Fall, das Ergebnis überlegener postfordistischer Organisation, die kulturellen Mustern folgt. In Deutschland profitiert der Handel mit Dienstleistungen viel mehr von der Dominanz anwendungsorientierter Branchen, die zusammen mit ihren Produkten gleichzeitig auch Anleitungen verkaufen, wie diese produktiv einzusetzen sind.38

V. Ricardo neu denken, heißt umdenken. Mit der Ablösung des klassischen Ricardo-Theorems der komparativen materiellen Vorteile durch seine institutionelle Variante sind weit reichende Folgen für die Zukunft der globalen kapitalistischen Wirtschaft verbunden. Die Vorstellung einer homogenen Entwicklung des Weltmarktes im Sinne standardisierter wirtschaftlicher Denk- und Handlungsweisen ist damit nicht kompatibel. Sinnvoller erscheint es, von bestehenden divergenten Kulturen der Weltwirtschaft auszugehen, deren Funktionszusammenhang eine auffällige Analogie zum Kulturrelativismus Herderscher Prägung aufweist. Danach kommt jedem wirtschaftlichen Kulturkreis seine eigene Bedeutung für den Weltmarkt zu, so dass sich die Forderung nach wechselseitiger Anerkennung von kulturellen Unterschieden auf der Grundlage gemeinsam geteilter allgemeinen Normen eines für alle Beteiligen Wohlstand mehrenden Freihandels unter nachindustriellen Bedingungen stellt. Kulturen der Weltwirtschaft lassen sich demnach als historisch gewachsene eigenständige Kreise wirtschaftlicher Praxisorientierung beschreiben, deren Marktverfassungen durch Regeln bestimmt werden, die die Beteiligten freiwillig anerkennen. Auch wenn sie über gemeinsame Regeln im System des Weltmarktes verbunden sind, beruht dessen Funktionsfähigkeit gerade auf der wechselseitigen Anerkennung und dem allseitigen wirtschaftlichen Nutzen derartiger kultureller Differenzen. Daraus ergeben sich auch praktische Folgen für eine im Entstehen begriffene global governance der Weltwirtschaft – etwa die Einsicht, dass der Weg aus der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise über die Stärkung historisch gewachsener Kulturen der Weltwirtschaft führt, die es Europa, aber auch den Schwellenländern erlaubt, ihre eigenen institutionellen Vorteile zu entfalten. Der Ansatz ermöglicht aber auch die Formulierung von Globalisierungsstrategien, die sich von der common wisdom des Standardkapitalismus signifikant abheben. So wird eine

38 Werner Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung von 1952, in: ders. (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 20073, S. 359–637, hier S. 429ff. 34

Globalisierungsstrategie umso erfolgreicher sein, je stärker sie in makroökonomischer Perspektive das eigene soziale System der Produktion als Ressource nutzen kann und auf der mikroökonomischen Ebene die eigene Unternehmenskultur. Ricardo neu denken hat auch für Unternehmen Konsequenzen. Auf der transnationalen Ebene müssen sie sich in der Wahl ihres Geschäftsmodells nach dem Markt richten, den sie erschließen wollen. Schließlich ist allein das Marktverhältnis in der Lage, gemeinsam geteilte Denk- und Handlungsweisen in komparative institutionelle Vorteile umzuwandeln. Expandieren sie weltweit auf dem gleichen Markt, lohnt sich der Export der eigenen Unternehmenskultur. Wollen sie dagegen in neue Märkte eindringen, sind sie zur Anpassung an die dort herrschende Unternehmenskultur gezwungen. Um ihre komparativen institutionellen Vorteile voll nutzen zu können, müssen sie sich ihrer eigenen Wirtschaftskultur immer wieder aufs Neue vergewissern, um sich ihrer Stärken auch bewußt zu werden. Dagegen macht ein Wechsel des Produktionsregimes nur dann Sinn, wenn neue Märkte nach anderen komparativen institutionellen Vorteilen verlangen. Auch die globale Standortwahl muß sich an den komparativen institutionellen Vorteilen des herrschenden Produktionsregimes für den jeweiligen Markt orientieren. Komparative institutionelle Vorteile wirken auf dem Weltmarkt nämlich wie natürliche Monopole, weil immaterielle, historisch gewachsene Vorteile – wenn überhaupt – nicht rasch aufzuholen sind. Dazu zählen beispielsweise die Fähigkeit zur spontanen Soziabilität, historisch gewachsene Zentren regionaler Verbundwirtschaft oder die Tradition produktiver Ordnungspolitik. Deshalb gibt es auch keine Alternative zur Reform eines sozialen Systems der Produktion – solange sich nicht die Anforderungen der Märkte ändern, auf denen es im Wettbewerb steht. Die neue Sicht auf das Ricardo-Theorem führt aber noch zu einer weiteren praktischen Einsicht: Es macht keinen Sinn, eine wettbewerbsschwache Wirtschaftskultur dadurch zu verbessern, dass man die Institutionen erfolgreicher Konkurrenten nachahmt. Es kommt vielmehr darauf an, die eigenen komparativen institutionellen Vorteile zu erkennen, sie durch produktive Ordnungspolitik zu stärken und schließlich Strategien zu entwickeln, die geeignet sind, sie auf geeigneten Märkten umzusetzen. Wie dies gelingen kann, dafür gibt es allerdings historische Muster, die eine nähere Betrachtung lohnen.