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testcard Beiträge zu einer avancierten Gegenwartskultur, die zwar strukturell der Hochkultur zuzurechnen wäre, aber nicht im Gewand traditioneller Hochkultur daherkommt, sondern genealogisch an die Tradition der angloamerikanischen Popkultur seit Mitte der 1960er-Jahre beziehungsweise an die historischen Avantgarde- und Neoavantgarde-Bewegungen anknüpft, und die sich gleichzeitig weigert, sich der neokonservativen oder neofaschistischen Reaktion zu ergeben. #14: Discover America Ventil Verlag + tc14 A 08.04.2005 9:23 Uhr Seite 2

inhalt

Editorial Thomas Venker Roger Behrens 4 AEM. American Electronic Bossa Nova. Fünf Versuche Music – Sounds ohne local einer Annäherung Nachruf auf Tine Plesch scene(s) 79 6 42 Robert Engelbrecht Jens Thomas Matthias Schönebäumer Das Brummen eines Alle gegen einen. Ursachen We Almost Lost Detroit. Kontinents. Drones und und Folgen des Antiamerika- Pop-Standort Detroit: Minimalismus nismus Schwarze Musikkultur 90 8 zwischen Verfall und Aufschwung Hans Plesch Oliver Uschmann 50 Christian Wolff und Frederic Die Guten und die Bösen. Rzewski. Zwei amerikanische Beobachtungen zum Yvonne Kunz Komponisten amerikanischen Aufstand America brought to you 96 gegen George W. Bush by IKEA. Williamsburg 2004 16 58 Yvonne Kunz USA à la Carte. Grand Buffet: Martin Büsser Christian Schmidt Independent im Wildlife Park Befreite Klänge. Die neue Von Amerika lernen heißt des weißen Mittelstands- Lust an Experiment und siegen lernen! Die US-Zine- amerika Kollektiv – von Black Dice Kultur 102 bis Load Records 64 24 Silke Hackenesch Jens Petz Kastner The Wrong Nigga to Fuck Wit! Christoph Jacke ¡Vivan las Americas! Die HipHop-Kultur als Quiet is the New Loud. Neozapatismus und Popkultur zeitgenössische Form des Neue stille Songschreiber 72 Black Freedom Struggle? in den USA 108 34 + tc14 A 08.04.2005 9:23 Uhr Seite 3

Simon Strick Holger Roemers Manfred Heinfeldner Rap und Tod. Vom Gangsta Rap It’s a Whole New World Im Rhythmus des Beat. zu den amerikanischen Out There. 54, Almost Famous Das andere Amerika schrei(b)t Rap-Megastars der 1990er und Rock Star: Hollywoodfilme 198 114 über das Pop-Milieu 148 Peter Bräunlein Ina Beyer Kritischer Cowboy. Smells Like Queer Spirit Andreas Rauscher Kinky Friedman zwischen 118 Doing the Right Thing. Subversion und Klamauk Die Filme von Spike Lee 204 Tim Stüttgen 154 Made in USA. Gender Studies Bernhard Herbordt und ihre Wirkung auf die Thomas Ballhausen Komar & Melamid. Mythos, Popkultur Das Vietnamtrauma im American Dreams und die 126 Horrorfilm. Jacob’s Ladder 164 Affirmative Ästhetik 208 Katja Scheer Marcus Stiglegger White Fantasy of Overcoming Heimatfilme … Discovering Rezensionen Ton Racism. Die Riot Grrrl- Oliver Stones Amerika 212 Bewegung zwischen Anspruch 171 und der Bildung eines weißen Rezensionen Papier Subjekts »Grrrl« Susann Witt-Stahl 252 136 USA, Israel, die Linke und die Kulturindustrie. Im Gespräch Rezensionen Film Martin Büsser mit Moshe Zuckermann 293 Beschädigte Provinz. Die Filme 180 des Impressum/Abo 140 Franziska Meifert 302 USA-Lektüren. Eine aktuelle Bücherschau 186 + tc14 A 08.04.2005 9:23 Uhr Seite 4

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Editorial Discover America, benannt nach weil es hier nun nicht nur gilt, dem gleichnamigen Titel einer Hitler (den »bösen Verführer« LP von Van Dyke Parks aus dem der Deutschen), sondern mit ihm Jahre 1972, lädt ein, ein Land neu auch gleich die »amerikanischen zu entdecken. Viele Linke erliegen Besatzer« zu entsorgen. Doch hierzulande dem sie mit der während sich die deutsche Kultur Rechten wundersam einenden derzeit in einer Art Racheakt Kurzschluss, dass US-amerika- gegen alles »Amerikanische« und nische Kultur und Mentalität ja als amerikanisch Empfundene längst bekannt seien und sich auflehnt, bemerken deren Wort- auf McDonald’s, Hollywood und führer zugleich gar nicht, wie sehr Michael Jackson – kurz: auf so sie selbst noch einen Großteil genannten Kulturimperialismus – ihrer nun »gegen Amerika« ein- reduzieren ließen. Der in Deutsch- gesetzten Ausdrucksmittel alleine land neu erstarkte Antiameri- den USA zu verdanken haben – kanismus, dem nicht nur linke allen voran all jene Pop-Natio- Antiimp-Blätter und rechte nalen, die sich für eine Deutsch- NPD-Organe, sondern auch die Quote im Radio ausgesprochen bürgerlichen Medien zum Groß- haben und ohne den Rock’n’Roll teil erlegen sind, macht sich nicht doch gar nichts wären. Ihre Na- nur der dummen Gleichsetzung men lassen sich auf der Home- eines zugegebenermaßen gefähr- page des »Vereins deutsche lichen Präsidenten mit »den Sprache« nachlesen (www.alle- USA« oder »den Amerikanern« in-eigener-sache.de), die sich schuldig, sondern spielt auch der bereits ästhetisch als offen ideo- seit drei bis vier Jahren massiv logisch positioniert – mit dem vorangetriebenen Renationalisie- Bild der Germania, das Schwert rung Deutschlands in die Hände. in der einen Hand in den Himmel Es gibt offenkundige Parallelen, gereckt, in der anderen eine wenn nicht Wechselbeziehungen E-Gitarre. Indie- und Rap-Durch- zwischen Antiamerikanismus schnitt wie 2RAUMWOHNUNG, und einer sich stolz pazifistisch Maximilian Hecker, Mieze (MIA), gerierenden Positionierung als SPORTFREUNDE STILLER, FURY von amerikanischen Machthabern IN THE SLAUGHTERHOUSE, verschmähtes »Old Europe« Moses Pelham, Smudo und Xavier einerseits und einer reaktionären Naidoo betteln auf dieser Seite bis revanchistischen Geschichts- ebenso bedenkenlos um die schreibung andererseits, die uns bereits im Bundestag verhandelte »die Deutschen« als ein geläuter- Quote wie all jene Abgehalfter- tes wie auch einst von Hitler und ten, die Angst haben müssen, Weltkrieg »unterjochtes Volk« ihr Geld ohne Quote bald mit verkaufen will – die Rede ist unter Auftritten auf HL-Markt-Park- anderem von Jörg Friedrichs platzfesten verdienen zu müssen, Büchern über ein »Bombenopfer- darunter Ina Deter, Wolf Maahn, land«, von Guido Knopps ZDF Achim Reichel, Peter Schilling, History und von Filmen wie Das Stefan Waggershausen, Pe Werner Wunder von Bern. und Frank Zander. Die Initiative George W. Bush kam, scheint erklärt derweil unverhohlen, dass es, für die Deutschen zur rechten ihre Quotenforderung keineswegs Zeit, konnte als Anlass genom- deutschtümelnd sei: »Dieses men werden, den neuen natio- ewiggestrige Argument ist nalen Taumel in vermeintlicher dümmlich. Die jetzige Quasiquote Unschuld zu zelebrieren – ein ist amerikatümelnd.« Das alte Taumel, der deshalb ebenso pazi- Argument: ›Wer gegen uns ist, fistisch wie poppig daherkommt, ist für Amerika.‹ + tc14 A 08.04.2005 9:23 Uhr Seite 5

Editorial | 5

In der Hoffnung, dass sowohl hierzu markante Worte: »Die Bands wiederum, etwa BLACK die Quoten-Debatte wie auch die ganze Download-Debatte sollte DICE und ANIMAL COLLECTIVE Namen der eine Quote unterstüt- die Plattenindustrie endlich aus New York, haben die Kollek- zenden Musiker bald vergessen dazu bringen, etwas kreativer zu tivimprovisation des Free Jazz sein werden, bekennen wir ohne werden. Ein Teil der Kreativität auf ihre musikalisch nicht mehr Scham, eine amerikatümelnde könnte darin bestehen, den Kids determinierte Mischung aus Folk, testcard-Ausgabe zusammen- keine CDs mehr für 20 Dollar Elektronik und Post-Punk über- gestellt zu haben. Dass diese eine anzudrehen, die aus einem Hau- tragen, arbeiten also an einer mu- Kritik am jetzigen Präsidenten, fen beschissener, morgen schon sikalischen Enthierarchisierung, an christlichen Fundamentalisten vergessener Musik bestehen, dar- die bei ANIMAL COLLECTIVE und sexistischen Rednecks nicht geboten in miserablem Artwork noch dadurch betont wird, dass ausschließt, sondern im Gegenteil und hässlicher Plastikhülle.« sich alle Musiker nach Tierarten bedingt, wenn es um die Frage Das Do-it-yourself-Prinzip benannt haben und ihre Identi- geht, an welcher Stelle wir von der Independent-Labels ist selbst täten meist hinter Tiermasken Amerika lernen können, versteht noch kein Ausdruck politischen verbergen. sich von selbst. Dagegens, sondern verkörpert le- Wenn beleidigte Deutsche Ein Großteil der hier versam- diglich den alten amerikanischen sich für die Radio-Quote stark melten Artikel handelt von Künst- Wahlspruch, dass jeder ganz machen und von »angloamerika- lern, Musikern und Filmemachern, alleine für seinen Erfolg auf dem nischer Dominanz« sprechen, die gemeinhin dem »anderen Markt verantwortlich ist. Inzwi- erwähnen sie all diese in den USA Amerika« zugerechnet werden. schen haben viele junge Musiker entstandenen Netzwerke und Dieser Begriff ist allerdings selbst Do it yourself jedoch als Politi- deren vielfältige Ausdrucksweisen problematisch, impliziert er kum für sich wiederentdeckt mit keinem Wort. Sie erwähnen doch, es gäbe immer schon ein und knüpfen damit an vergleich- sie entweder nicht, weil diese »average America« – das Amerika bare Netzwerke wie das in den ungemein anregende Musik so eines George W. Bush –, von dem 1980ern entstandene Dischord gar nicht in ihr Bild vom »auslän- dieses »andere«, dem wir Euro- Records an. In erster Linie handelt dischen Schund« (Heinz Rudolf päer uns näher fühlen, das wir es sich bei den neuen Netzwerken Kunze) passen mag, weil sie so- gerne auch als europäisch verein- um Mainstream-Verweigerung, wieso in keinem Radio vor oder nahmen, abweicht. Wer so über also um eine popinterne Abgren- nach der Quote gespielt würde andere urteilt, muss sich gefallen zung, die oft jedoch auch poli- oder weil sie diese Musik einfach lassen, dass viele Menschen im tische Konsequenzen nach sich nicht kennen, aufgrund einer Ausland den durchschnittlichen zieht: bei einigen Künstlerinnen längst pauschal ablehnenden Deutschen noch immer als Nazi und Künstlern dadurch, dass Haltung gegenüber den USA ansehen und so wenig differen- ihre Musik und ihr Auftreten gar nicht wahrnehmen wollen. zieren wie wir angesichts unseres konventionelle Geschlechterrollen Wie dem auch sei: Nahezu alle neuen liebsten Feindbildes. Der in Frage stellen (von den Riot spannende, dem Mainstream an den Anfang dieser Ausgabe Grrrls über Queercore bis zu den entgegenlaufende Musik findet gestellte Artikel Alle gegen einen neuen »weichen« Songwritern), derzeit vor allem in den USA von Jens Thomas soll deshalb das bei anderen dadurch, dass sie (und Kanada) statt und wird auch problematische Verhältnis klären ihre Musik in einen größeren weiterhin dort (sowie in vielen helfen, in dem sich Deutschland gegenkulturellen Zusammenhang hier nicht erwähnten Ländern, und viele deutsche Linke gegen- stellen (etwa die Künstler des die gerne als Pop-Peripherie aus- über den USA befinden. Constellation-Labels aus Mont- geklammert werden) stattfinden, real, darunter GODSPEED YBE solange Musiker in Deutschland Viele Artikel dieser testcard-Aus- und THE SILVER MOUNT ZION, nichts anderes im Sinn haben, gabe behandeln das neu erstarkte die aus der lokalen Hausbesetzer- als ihre Sprache und Identität wie Do-it-yourself-Selbstverständnis Szene hervorgegangen sind), oder einen Vorgarten zu pflegen. in den USA, das auf die viel be- dadurch, dass ein radikal demo- schworene Krise der Musikindus- kratisches, gegen das Star-System Die Redaktion trie nicht mit Gejammer, sondern gerichtetes Netzwerk aufgebaut mit offensiver Selbstorganisation wird (so in der New Yorker reagiert. James Murphy, Mitbe- Antifolk-Szene und deren Open gründer des New Yorker Indepen- Mic Sessions, die bewusst auch dent-Labels DFA Records, fand Laien ein Forum bieten). Andere + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 140

Martin Büsser

beschädigte provinz

Die Filme des Harmony Korine

CHRIST WAS A BUNNIE BOY Der nach Erscheinen in den USA von vielen als Skandal empfundene Film gibt bereits hier eine tief Ein Junge, nur mit rosa Häschenohren, schmutzigen religiöse Note zu erkennen, die mit dem andauernd weißen Turnschuhen und Boxershorts bekleidet, Satans Anwesenheit beschwörenden Black-Metal- betritt tänzelnd eine Autobahnbrücke. Die Szene Soundtrack des Films korrespondiert: er- wirkt ebenso niedlich wie trostlos, begleitet von zählt von einer gottlosen Welt, einem Flecken Erde, einem alten Folksong mit dem Refrain »I love aus dem sich Gott zurückgezogen hat, so oft das my little rooster and my rooster loves me«. Der Wort Jesus in dieser Südstaaten-Gegend auch fal- »Bunnyboy« (gespielt von Jacob Sewell, 14 Jahre) len mag. Er erzählt davon nicht wertend, sondern hängt sich an das die Brücke umzäunende Gitter, beschreibend, wirft existenziell den Blick auf sämt- kickt mit seinen Füßen herumliegenden Müll zur liche Wunden. Die von einigen Kritikern als Freak- Seite. Es ist verregnet, der Junge begibt sich in die show kritisierte Auswahl an (zum Teil körperlich Hocke, schnattert vor Kälte. Kurz darauf raucht er oder geistig behinderten) Laienschauspielern zeigt eine Zigarette, eine Nahaufnahme zeigt nikotin- tragische Figuren, deformiert wie Samuel Becketts gelbe Finger, schmutzige Fingernägel und die über Gestalt des Namenlosen im gleichnamigen Roman, drei Finger verlaufende Tätowierung der Buchsta- deren Makel sie jedoch allesamt auch liebenswert ben M-A-C.Wir befinden uns im Städtchen Xenia, machen. In Gummo gibt es nirgendwo einen hass- Ohio, das laut Vorspann von einem Wirbelsturm erfüllten, sondern eher einen mitleidigen Blick auf beinahe völlig zerstört worden wäre. Doch die Spu- das deformierte Amerika. Dies dürfte für den ei- ren der Zerstörung, die diesem Jungen in Gesicht gentlichen Skandal gesorgt haben. und Körper eingeschrieben sind, liegen weiter zu- rück. Während er durch das Gitter spuckt, wird eine BEYOND GOOD AND EVIL Zahnlücke sichtbar. Gesunde und intakte Körper gibt es in der Welt, die Harmony Korines Film Gum- »And what’s done in Gummo is that you’re seeing mo (1997) zeigt, nicht mehr. Selbst noch die teil- these images and I’m not necessarily justifying nahmeloseste, niedlichste Figur des Films ist be- them. The reason you’re seeing these things is be- schädigt. Kniend ans Gitter gekauert streckt sie die cause these are all images I wanted to see, these Arme aus, umklammert das Gitter und trägt damit are people I wanted to see, these are all obsessions, die Pose des ans Kreuz genagelten Christus zur maybe personal obsessions – which I think is la- Schau. cking in cinema today, and even in cinema past. + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 141

Die Filme des Harmony Korine | 141

I like to create a cinema of passion and obsession. I mean, justify Julia Roberts, justify Mel Gibson’s tight ass … I don’t give a fuck.« Harmony Korine

Harmony Korine war gerade einmal 18 Jahre alt, als er Larry Clark beim Fotografieren im Park begeg- nete, sich mit ihm anfreundete und schließlich das Drehbuch zu Clarks Filmdebüt Kids (1995) bei- steuerte – geschrieben innerhalb von nur drei Wo- chen –, dem seinerzeit viel diskutierten Film über eine Clique von sexbesessenen und sich munter durch den Tag kiffenden Jugendlichen in New York. Protagonist Telly (Leo Fitzpatrick) schwört auf Sex mit Jungfrauen. Als Jenny (Chloe Sevigny), die ebenfalls von Telly entjungfert wurde, sich dem Rat ihrer Freundin beugt und einen AIDS-Text machen lässt, muss sie erfahren, dass sie HIV positiv ist. Da sie bislang mit niemandem außer Telly Sex gehabt hat, begibt sie sich auf die Suche nach ihm, will ihn warnen. Telly dagegen zieht in diesem nur während eines einzigen Tages spielenden Film weiterhin sei- ne fatalen Kreise – bis am Ende alle Protagonisten des Films mit AIDS infiziert sind. Aufgrund der zahlreichen Laienschauspieler und der zum Teil spontanen Dialoge wurde Clarks Film von der Kritik als pseudodokumentarisch, daher auch teilweise als voyeuristisch eingestuft. Die drasti- sche, bewusst übertriebene Handlung geht aller- dings auf Harmony Korine zurück, dessen Anliegen es nie gewesen ist, ein realistisches Abbild der Ge- sellschaft zu zeichnen. Korine war mit dem Ergebnis von Kids, einem Film, den man auch als pädagogi- sche Warnung vor ungeschütztem Sex sehen kann, daher nicht ganz zufrieden: »Ich hätte einen ganz anderen Film als Larry gedreht«, erklärte er im Ge- spräch mit Sean O’Hagan (Guardian, 19. 3.1999): »Meine Version wäre weniger wertend, sondern objektiver ausgefallen.« Wie seine eigene Vorstel- lung von einem Film aussah, stellte Korine schon zwei Jahre später mit Gummo unter Beweis. Die eigentliche Handlung von Gummo ist eher dünn, setzt sich mosaikartig aus verschiedenen kleinen Nebensträngen ohne klare Erzählstruktur zusammen. Hauptfiguren sind die beiden Jungs Tummler (Nick Sutton, 17 Jahre) und Solomon (Jacob Reynolds, 13 Jahre), die mit ihren Bonanza- rädern und Luftgewehren durch die Kleinstadt Xenia heizen und Jagd auf Katzen machen, die sie anschließend über einen Zwischenhändler an ein + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 142

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chinesisches Restaurant verkaufen. Beide haben ein Der Bunnyboy läuft über ein Feld auf die Kamera Elternteil verloren. Solomon lebt alleine mit seiner zu, wieder trotz Nieselwetter fast völlig nackt, und Mutter in einem völlig vermüllten Haus, wo sich hält mahnend die tote Katze vors Objektiv. Sie trägt die dreckige Wäsche bergeweise im Flur stapelt. ein rotes Herz um ihren Hals. Das Böse, wissen wir Tummler dagegen wohnt bei seinem versoffenen, nun, hat in Xenia, Ohio, gesiegt. Da hilft es auch aber gutmütigen Vater. In einem Dialog zwischen nichts mehr, dass die Nachbarin in den letzten ge- Vater und Sohn erfahren wir, dass die verstorbene zeigten Bildern kurz vorm Einschlafen »Jesus loves Mutter ähnlich gewesen sein muss: herzensgut, me« singt, denn spätestens der Abspann macht aber versoffen. Eine der komischsten Szenen des auch dies wieder zunichte. Dröhnend laut ertönt Films zeigt Tummler, seinen Vater und dessen BURZUM, die berüchtigte Neonazi-Black-Metal- Freunde (genau jenen »White Trash«, den Richard Band aus Norwegen. Prince mit seinen Biker-Fotos verewigt hat – wes- halb Prince auch zu den prominenten Fans von Gummo ist in sich stimmig, obwohl er keine her- Gummo zählt) beim Abhängen in der Küche. Als ein kömmliche Handlung aufweist, wohl aber eine bulliger Kumpel mit Heavy-Metal-Frisur beim Arm- durchgängig homogene Atmosphäre. Korine hält drücken gegen den zwergwüchsigen »Little Man« sich an den berühmten Satz des von ihm geschätz- verliert, rastet er aus und zerlegt unter dem Ap- ten Jean-Luc Godard, dass ein Film einen Anfang, plaus der Anwesenden einen Küchenstuhl in sämt- einen Mittelteil und einen Schluss haben müsse, liche Einzelteile. Die brutalste Passage des Films ist nicht aber unbedingt in dieser Reihenfolge. Im In- zugleich die absurdeste, eine Splatter-Hommage terview, das 1997 mit Korine führte, ohne jeden Tropfen Blut: Gewalt entlädt sich in bemerkte Herzog: »In dem Film gibt es keine Story, Form von Slapstick. keine Entwicklung der Charaktere. In Hollywood hätte jeder sofort gefragt: ›Wo bleibt denn hier die »Looks like a housecat«, warnt Solomon seinen Entwicklung? Wer sind die Guten und wer sind Freund Tummler am Anfang des Films, als der auf die Bösen?‹«. Korine merkte daraufhin an: »Ich bin eine durch einen Vorgarten streunende Katze froh, dass mein Produzent und mein Agent mich schießen will. »It’s a lesbian cat«, erwidert Tumm- von diesen Leuten ferngehalten haben. Sie wuss- ler, hält jedoch inne und schießt nicht. Die Katze ten, dass ich mit dieser anderen Welt überhaupt gehört den blonden Schwestern Dot und Helen, keinen Kontakt aufnehmen wollte.« gespielt von Cloe Sevigny (Kids, Boys Don’t Cry) und Korine liebt das europäische Autorenkino, die Filme Carisa Glucksman, die das zweite Paar des Films des irischen Regisseurs Alan Clarke (Made in Britain, bilden. Während die Jungs ihr Geld dafür ausgeben, Scum, One of Thatcher’s Children) und nicht zuletzt Kleber zu schnüffeln oder den Nachbarn aufzusu- Werner Herzog, dessen Auch Zwerge haben klein chen, der ein Eigenheim-Bordell mit seiner geistig angefangen (1969) er zu seinen absoluten Lieblings- zurückgebliebenen Tochter betreibt, werden diese filmen zählt – und dafür lieben ihn auch die Euro- beiden von eher mädchenhaften Sorgen geplagt: päer; Werner Herzog namentlich, der in Korines Wie stelle ich es an, besonders pralle Brüste zu zweitem Film Julien Donkey’s Boy (1999), Ameri- bekommen? Wie angle ich mir den Jungen aus der kas einzigem »Dogma«-Film, schließlich sogar eine Nachbarschaft, der angeblich auf magersüchtige Rolle als Schauspieler übernommen hat. Es war Mädchen stehen soll? vor allem eine Einstellung in Gummo, die Herzog Beide Paare kommen im Film nie zusammen, sind begeistert hat: Gegen Ende des Films sitzt der klei- lediglich durch die Hauskatze der Mädchen mitein- ne Solomon, von der Physiognomie her einer der ander verbunden. Foot Foot (benannt nach einem bizarrsten Darsteller der Filmgeschichte, in einer Song der SHAGGS), die zu Beginn noch verschont völlig verdreckten Badewanne. Seine Mutter reicht wurde, wird diesen Film nicht überleben. Gegen ihm ein Tablett mit Spaghetti und Erdbeermilch, Ende schießen Tummler und Solomon völlig durch- wäscht ihm die Haare, während er isst. Im Hinter- näßt in strömendem Regen auf ein dürres, längst grund, kaum vom Rost zu unterscheiden, ist kurz tot im Gras liegendes Häufchen Elend ein, das kurz ein Stück Schinkenspeck zu sehen, mit Tesafilm darauf noch einmal vor die Kamera gezerrt wird: an die Wand geklebt. »Als ich den Schinken sah«, + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 143

Die Filme des Harmony Korine | 143

Gummo

kommentierte Herzog, »hat es mich vom Stuhl it to look any bit fashionable. Like Trainspotting to gerissen.« Doch Korine hat sich mit Gummo noch me looked like a fashion shoot. I wanted it to look mehr prominente Fans erspielt, darunter Johnny authentic«. Depp, der Gummo »one of the most truthful pieces Authentizität spielt eine wichtige Rolle in Gummo, of filmmaking in a long time« nannte und Bernar- jedoch nur in der Hinsicht, dass mit ihr immer do Bertolucci, der gar von einer »revolution in the wieder gebrochen wird. Passagen aus aneinander- language of cinema« sprach. Alleine Larry Clark gab gereihten Polaroid-Fotos und Super-8-Sequenzen sich ein wenig reserviert: »He’s a middle-class suggerieren, dass es sich hierbei um dokumenta- Jewish kid. He had nothing to do with those kids«, rische Aufnahmen von echten Bewohnern der kritisierte er Korines Ausflug in die Niederungen Stadt handelt, während die Filmsequenzen von der amerikanischen Provinz. Kameramann Jean Yves Escoffier, der auch Die Liebenden von Pont-Neuf (Léos Carax, 1991) drehte, Korines Anti-Hollywood-Haltung mag an den Trotz extrem stilisiert wirken und stellenweise mit aufs gewisser europäischer Filmemacher erinnern und Groteske abzielenden Blickwinkeln arbeiten. Die ihnen daher schmeicheln, dennoch ist Gummo ein vermeintliche Authentizität der Super-8-Aufnah- sehr amerikanischer Film, sowohl was die Bild- men erlaubt es Harmony Korine, einige der dras- ästhetik, die Dialoge wie auch das Sujet angeht. tischsten Dialoge als »vorgefunden« auszugeben, Er öffnet Abgründe, die Vorstadt-Filme wie Ame- also unklar zu lassen, ob sie aus dem Drehbuch rican Beauty (Sam Mendes, 1999) und The Virgin stammen oder zufällig gesprochen wurden. Wäh- Suicides (Sofia Coppola, 1999) sich nicht einmal rend solcher Sequenzen sagt zum Beispiel ein anzudeuten trauten, zieht seinen Verfremdungs- Jugendlicher verächtlich: »niggers … I just don’t effekt aber zugleich gerade aus dieser anspielungs- like them«, woraufhin eine Frau in Erinnerung an reichen Anlehnung an jene Tradition der Vorstadt- ihre Zeit im Gefängnis antwortet: »unless you got Filme und -Serien. Die Kleidung der Protagonisten some good nigger buddies.« Die ganze Banalität in Gummo ist ebenfalls sehr amerikanisch, eine Mi- des Rassismus ist in einem Film selten spröder aus- schung aus Heavy-Metal-Look und Trainingsanzug- gedrückt worden. Ästhetik, von Chloe Sevigny für den Film ausge- Korine ist mit Gummo gelungen, das zu vermeiden, wählt: »I went for a sort of late-80s, heavy metal, was er selbst an Kids kritisierte: In Gummo wird middle-American look«, erzählt sie. »I didn’t want nicht gewertet, es wird lediglich gezeigt. Selbst + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 144

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noch vermeintliche Verstöße gegen Political Cor- nicht »den« Nazi oder »den« Proll, sondern viel- rectness unterliegen ganz der Lesart des Betrach- schichtige Charaktere, deren Gebrochenheit selbst ters, können ebenso gut auch als Hommage an das noch den Dumpfesten unter ihnen Würde verleiht Minoritäre gedeutet werden. Da ist zum Beispiel und sie zudem tief in die amerikanische Geschich- der »Little Man«, ein mehrfach Marginalisierter – te einbettet: Solomon und Tummler sind nur un- kleinwüchsig, Afroamerikaner, Homosexueller, der schwer als eine zeitgenössische Variante von Tom zu allem auch noch ein Israel-T-Shirt trägt. Korine Sawyer und Huckelberry Finn auszumachen. Dass führt ihn nicht wirklich vor, sondern eher alle ande- viele Europäer Gummo derweil deshalb mögen, ren, die es mit ihm aufnehmen wollen, etwa den weil er ihnen so europäisch vorkommt, hat aller- bulligen Typen, der gegen ihn beim Armdrücken dings noch zu keinem vergleichsweise intensiven, verliert – und an einer anderen Stelle sogar sich spielerischen und formal radikalen europäischen selber. Korine ist in einer Episode als besoffener Film dieser Art geführt. Teenager auf einem Sofa neben dem »Little Man« zu sehen. Korine lallt, jammert, heult, schüttet sich Bier über den Kopf, erzählt von einer schwe- SEXOTOPIA ren Kindheit. Als der Kleinwüchsige ihm eröffnet, dass er schwul ist, will Korine ihn verführen, blitzt Auf den ersten Blick wirft Harmony Korines Dreh- jedoch ab. Der »Little Man« bleibt stets der Sou- buch für Larry Clarks (2002), der 2004 in veräne, hat als einziger, scheint es, sein Leben im den deutschen Kinos lief, einen ähnlich ernüchtern- Griff. den, aber auch teilnahmsvollen Blick auf die Jugend Die Kategorien Gut und Böse wollen in Gummo in der amerikanischen Provinz. Doch das Skript, das nicht mehr greifen. Dies ist sein wohl größter Af- bis zu Kids-Zeiten zurück reicht, hält gegen Ende front gegen den US-amerikanischen Mainstream. ein eigenartiges utopisches Moment bereit. Wie beispielsweise soll man den Konkurrenten Zu Beginn der Films rollt Ken Park auf einen Skater- von Tummler und Solomon bewerten, einen zarten park, Oi!-Punk schallt aus seinem Walkman, setzt Jungen, der gerne in Frauenkleidern rumläuft (ein sich auf eine Rampe, holt eine Kamera und eine Tribut an Gummo, der dem Film seinen Namen Pistole aus der Tasche. Effektvoll in das Feedback gab: Gummo Marx war jener unter den Marx Bro- nach dem letzten Gitarrenakkord hinein schießt er thers, der schon früh aussteigen musste, weil er sich in den Kopf, die Kamera filmt derweil. Dieser darauf bestand, nur in Frauenkleidern aufzutre- Selbstmord wird zum Anlass, über Rückblenden ten) und Katzen auf besonders fiese Weise tötet, die Geschichte von vier Teenagern in der kaliforni- indem er mit Glasscherben gespickten Thunfisch- schen Kleinstadt Visalia zu erzählen. Ken Park selbst salat ausstreut? Er tut dies doch nur, wie wir eben- kommt darin bis zum Ende nicht mehr vor, doch falls erfahren, um die Pflege seiner ans Atem- die familiäre Enge, die Trostlosigkeit der Provinz, die gerät gefesselten Großmutter zu zahlen, bei der er hinter all diesen schmucken Bungalows für eine lebt. beklemmende Grundstimmung sorgt, gibt durch- weg eine Ahnung, warum er sich umgebracht Ambivalent oder einfach nur offen angelegte Cha- haben könnte. Visalia ähnelt dem Xenia, Ohio, in raktere sind selten, nicht nur im Hollywood-Film, Gummo – mit dem Unterschied jedoch, dass Xenia den Korine besonders scharf und leidenschaftlich vermüllt war und alle Bewohner sich mit dem kritisiert, etwa Oliver Stone, über den er im Inter- Verfall abgefunden haben, während in Visalia die view mit Mike Kelley sagt: »(He) is making films Fassade der schmucken Einfamilienhäuser streng that are completely empty and all about style.« gewahrt wird. Mike Kelley selbst bringt auf den Punkt, was Gum- Larry Clark wollte mit Ken Park einen Familienfilm mo vom beliebt gewordenen »White-Trash«-Sujet drehen – ein Film für die ganze Familie ist daraus in Film und Kunst der Gegenwart unterscheidet: jedoch nicht geworden. Während in Kids Eltern und White Trash wird meist dumpf, durchschaubar und Erwachsene so gut wie überhaupt nicht vorkom- damit aus intellektuell überheblicher Warte herab men, konfrontiert Ken Park die Jugendlichen und klassifiziert dargestellt. In Gummo gibt es dagegen ihre Sehnsüchte mit der fast durchweg kaputten + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 145

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Welt ihrer Eltern. Ken Park ist damit ein Film über pinkelt freihändig, im Stehen. Genüsslich langsam Machtverhältnisse geworden – ein Foucault’sches wandert die Kamera auf und ab, zeigt, wie oben Panoptikum der Enge. Da lebt zum Beispiel die Flüssigkeit in und unten Flüssigkeit aus dem Körper junge Peaches mit ihrem verwitweten Vater zu- fließt. Solche entkrampfenden Momente tun dem sammen, der seit dem Tod seiner Frau einem Bibel- Film gut, denn nur wenige Minuten später wird die wahn verfallen ist. Als er seine Tochter beim Sex er- Kamera mit ebensolcher Ruhe zeigen, wie der geile wischt, schlägt er deren Freund fast tot und zwingt Blick des aufgedunsenen Mannes über den Körper seine Tochter, das Brautkleid der Mutter zu tragen, des schlafenden Sohnes wandert. Von Witz kann als könne sie durch dieses Ritual die Keuschheit dann keine Rede mehr sein. wiedererlangen. Der junge Claude dagegen wird Gänzlich humoristisch, aber frei von Schenkelklop- ständig von seinem besoffenen Vater ermahnt, fern, sind auch die Episoden des jungen Tate gestal- nicht wie ein Punk rumzulaufen, das Skaten auf- tet, der sowohl mit seiner verheirateten Nachbarin zugeben und ein »richtiger Mann« zu werden – wie auch mit deren Tochter ein Verhältnis hat. Sex homophobe Äußerungen eines verkappten Schwu- ist hier zum verschwörerischen Geflecht gewor- len, der eines Nachts nach einer Sauftour versucht, den. Als die ganze Familie mitsamt dem begehrten seinen Sohn zu vergewaltigen. Gast beim Mittagessen sitzt und der nichtsahnen- Familie und Religion werden in dem Regie-Doppel de Vater Anspielungen über die männliche Potenz von Clark und Ed Lachmann als Keimzellen der macht, trifft der Witz abermals mitten ins Herz Disziplinierung dargestellt, deren Versprechen nach der Gesellschaft: Verhöhnt wird dabei weniger der Geborgenheit in Klaustrophobie mündet. Doch Betrogene als das Männerbild, dem alle am Tisch Ken Park macht es sich nicht so einfach, die Eltern aufsitzen, Tate inbegriffen. Der nämlich hatte nach durchweg gegen an sich gute Kids auszuspielen, dem Sex mit der Gattin nichts Wichtigeres im Kopf sondern zeigt alle Facetten der Ver- und Zerstört- als die Frage: »Welcher ist größer? Seiner oder heit, etwa im Fall des frustrierten Tate, der bei sei- meiner?« nen liebenswerten Großeltern lebt, deren Zunei- gung allerdings als so drückend empfindet, dass er Seit den 1960er-Jahren arbeitet sich Larry Clark sie im Schlaf ermordet. als Fotograf an vorwiegend einem Thema ab: dem Bei aller Drastik besitzt Ken Park jedoch auch etwas, zensurfreien Blick auf eine von Drogen und Sex be- was Larry Clarks Filmen bisher abging – Humor. stimmte Adoleszenz, die nicht selten im frühen Tod Bevor sich beispielsweise Claudes Vater über seinen endet. Kritiker haben ihm Voyeurismus vorgewor- Sohn hermacht, sieht man ihn noch im Bade- fen, andere ihn für jenen Heroin-Chic verantwort- zimmer eine letzte Dose Bier herunterstürzen. Er lich gemacht, der in den Neunzigern schließlich

Ken Park + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 146

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Elephant

Einzug in die Modewerbung erhielt. Doch Clark, der keimt plötzlich ein utopisches Moment auf, jene visuelle Urvater einer speziell US-amerikanischen Behaglichkeit, die sie in ihren Elternhäusern nie Slacker-Ästhetik, die unter anderem auf die Prosa kennen gelernt haben. Von AIDS, dem in Kids alles von Dennis Cooper abfärbte, lässt sich nicht auf bestimmenden Thema, ist keine Rede mehr. Das den bloßen Schock reduzieren. Seine Fotozyklen mag man Clark als unverantwortlich vorwerfen (u.a. Tulsa und Teenage Lust) lassen sehr viel Anteil- können, nicht aber den filmgeschichtlich betrach- nahme, ja Zärtlichkeit erkennen und arbeiten die tet fürs neue Jahrhundert revolutionären Blick auf ganze Ambivalenz jugendlicher Grenzüberschrei- Sex als lustvolle Angelegenheit. Wenn die drei am tung heraus: Die Intensität seiner Bilder erklärt sich Ende nackt auf einem Sofa liegen und Namenraten gerade dadurch, dass der Betrachter zugleich mit spielen – erraten werden soll Ken Park –, ist der Schönheit wie auch mit Selbstzerstörung konfron- Moment totaler Harmonie erreicht. Für wenige Mi- tiert wird. nuten löst die Kamera da Herbert Marcuses These Genau diese Stimmung zeichnet Ken Park wie bis- ein, dass Sexualität ein dem kapitalistischen Funk- lang keinen anderen Clark-Film aus. Da sich Clark tionieren gegenüber subversives Element darstellt, dafür entschieden hatte, auf eine Jugendfreigabe das deshalb vom Staat gefürchtet und in der Ehe zu pfeifen, kann die Kamera zeigen, was ansonsten kanalisiert wird. fast nie im Kino zu sehen ist, darunter das best- Gummo ist von der amerikanischen Zensurbehörde gehütetste Filmgeheimnis jenseits der Pornos: der eine Jugendfreigabe verwehrt worden, weil der Film erigierte männliche Penis. Doch sämtliche XXX-Ra- zwar keine einzige jugendgefährdende Szene ent- ted-Szenen sind eingebettet in die den ganzen Film hielte, in seiner Gesamtheit jedoch ein absolut auszeichnende, ruhige Kameraführung und wirken nihilistisches Menschenbild zeichne. Ken Park lässt schon dadurch kein bisschen pornographisch, dass sich dagegen schwer als nihilistisch missverstehen. alles in ein weiches, mit warmen Grüntönen spie- Er ist lediglich direkt. lendes Licht getaucht ist. Obwohl Ken Park also Clarks bislang explizitester Film ist, ist er zugleich auch sein poetischster. Entgegen der Grobheit, mit SUBURBAN PARADISE der Jugendliche in Kids noch Sex thematisierten und praktizierten, mündet Ken Park ebenso unzeit- Seit den 1990er-Jahren häufen sich US-amerika- gemäß wie überfällig in ein gegen die Kleinfamilie nische Filme, vor allem Independent-Produktionen, gerichtetes Plädoyer auf die freie Liebe. Auf der die das beschädigte Leben in den Klein- und Vor- Flucht vor ihren Eltern kommen Peaches, Tate und städten thematisieren, jenes vermeintliche Idyll, Claude in einem Bett zusammen. Im Sex zu Dritt das der weißen Mittelschicht vorbehalten ist. Lan- + tc14 A 08.04.2005 9:24 Uhr Seite 147

Die Filme des Harmony Korine | 147

ge Zeit waren es die Innenstädte der amerikani- von ihnen wird im Gegenteil als sensibler (und schen Metropolen, die als gefährliche soziale Brenn- zudem auch noch, wie sich herausstellt, homosexu- punkte bewertet und so auch im Film dargestellt eller) Musiker und Künstler dargestellt. Im Abseits wurden. In dem Maße, in dem sich dieses Innen- der gängigen Großstadt-»Ghettos«, wo Gewalt im- stadt-Image zu wandeln begann, fokussierte auch mer ursächlich an Drogen, Armut oder zerrütteten der filmische Blick die Gefahr an jenen Orten, wo Familienverhältnissen festgemacht wird, suchten sie bislang am wenigsten vermutet wurde. Filme Harmony Kornie, Larry Clark und auf wie Serial Mom (John Waters, 1994), Welcome je eigene Weise nach den Zerstörtheiten im Her- to the Dollhouse (Todd Solondz, 1995), American zen Amerikas, das seinerseits zum Ghetto gewor- Beauty (Sam Mendes, 1999), Boys Don’t Cry (Kim- den ist. In dem Maße, in dem die weiße Mittel- berly Peirce, 1999), The Virgin Suicides (Sofia Cop- schicht alles ausgegrenzt hat, was ihr vermeint- pola, 1999), Storytelling (Todd Solondz, 2002), liches Idyll stören oder als solches in Frage stellen Far from Heaven (Todd Haynes, 2002), und Elephant könnte, staute sich die Aggression an jenen Orten, (Gus Van Sant, 2003) haben Themen wie Rassis- die ursprünglich als Refugium oder sogar Schutz- mus, unterdrückte Homosexualität beziehungs- wall gedacht waren. weise Homophobie, Kriminalität, Drogen und Ge- Die Tatsache, dass gleich zwei Filme aus jüngerer walt in die Vor- und Provinzstädte verlagert, in die Zeit, Virgin Suicides und Ken Park, eine Ursache von gepflegte Umgebung von Alleen und Rasenspren- Gewalt in übersteigerter Religiosität und ebenso gern. Ein Film wie Smoke (Wayne Wang, 1995) da- übersteigertem Familiensinn ausmachen, zeugt gegen romantisierte den Schmelztiegel, machte zwar noch nicht von einem Paradigmenwechsel im aus Manhattan einen Ort des sozialen Zusammen- amerikanischen Film, sehr wohl aber davon, dass halts, in dem Menschen unterschiedlicher Hautfar- das Kino inzwischen verstärkt an jenen Werten be einander verbrüdern und in dem noch der kleine kratzt, die George W. Bush aller Wahrscheinlichkeit Laden nebenan existiert, wo alle einander treffen nach zu einer zweiten Amtszeit verholfen haben. und miteinander plaudern können. Wo die Bedrohung der inneren Sicherheit an Immi- granten, abtreibenden Frauen und der so genann- Es waren zum Teil reale Ereignisse wie das High- ten Homo-Ehe festgemacht wird, tut es Not, auch school-Massaker von Columbine oder der Boys mal den »Average American« als verkappten Ho- Don’t Cry zugrunde liegende, in Texas verübte Mord mosexuellen oder Amokläufer darzustellen und so an einer Transsexuellen, die Anlass dazu gegeben darauf hinzuweisen, dass jedem strengen Regel- hatten, nach dem Gewaltpotenzial und Verdräng- system Grenzen der Sublimierung eingeschrieben ten im Kern der amerikanischen Mittelschicht sind. zu suchen. Gus Van Sant reagierte darauf mit sei- nem höchst poetischen, ästhetisch brillanten High- Die hier erwähnten Filme sind sicher keine explizit school-Massaker-Film Elephant, der nicht psycho- politischen Filme, wenngleich mehr oder minder logisiert, sondern Gewalt als Banalität inmitten ei- subversiv. Und es sind Filme, die gerade in Deutsch- ner beinahe sattsam geordneten Welt ausbrechen land während der derzeit aufgeheizten antiame- lässt. Dass sein suggestiver, langsam gedrehter Film, rikanischen Stimmung falsch, nämlich mit Häme durchdrungen von einer seit Antonionis Blow Up rezipiert werden können. Dabei behandeln sie (1966) kaum mehr so zelebrierten Bilderbesoffen- kein ausschließlich amerikanisches Symptom. Auch heit, mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert, hierzulande würde der Blick in die Abgründe deut- korrespondiert mit Gummo – nicht von ungefähr scher Vor- und Kleinstadtidylle zu ähnlichen Re- sind Van Sant (Drugstore Cowboy, My Own Private sultaten führen. Das aber ist mit Ausnahme des Idaho) und Harmony Korine miteinander befreun- Dokumentarfilms (etwa Die Blume der Hausfrau, det. Das Irritierende an einem Film wie Elephant Dominik Wesseley, 1998) bislang noch nicht ver- besteht darin, dass die Ursache für die Gewalt nicht sucht worden, es sei denn in der für den jüngeren mehr geklärt wird: Die beiden jugendlichen Killer deutschen Film so typischen schrillen Stereotypi- werden nicht als Monster vorgeführt, sind nicht sierung, der alle Zwischentöne niederwalzenden Teil irgendeiner asozialen Nazi-Gang, sondern einer Komödie.