Wer hat bisher wirklich gewußt (außer denen, wissens», sie einzudringen versucht - beide die es vielleicht noch gesehen haben), was triebgestörte Hirnwesen. Meyerhold meinte, als er die «Biomechanik» Ebenso unvergeßlich für mich und der inten- als neue körperliche Theatersprache forderte sivste körperliche Ausdruck der inneren Situa- Körpersprache und praktizierte? Das Aufregende an der Auf- tion: die Szene zwischen Isabella und Claudio, führung Peter Zadeks (sie hat mit seinen frü- in der er Todesangst empfindet und sie ihn heren Arbeiten wenig zu tun, sie zeigt ihn wie- sterben heißt, weil sie es nicht vermag, ihre wird derum auf dem Wege und zugleich bei Resul- «Ehre» für ihn zu opfern. Die beiden hocken taten angelangt) ist die Erfindung, die Entwick- auf dem Boden, er schmiegt sich an sie, fast in lung, die Fixierung, die Realisierung einer Kör- sie, wenn er seine Angst herausstößt, sie, zu- entdecl

24 kursiv gedruckten Szenenanweisungen zu ent- nenen Buch von Chargesheimer und Walser Peter Zadek über seine Arbeitsweise nehmen. Die aber stellen, einem beigefügten «Theater, Theater») im Hinblick aufs Theater Auf dem Plakat steht «Maß für Maß». Damit ver- Zettel zufolge, keine «notwendigen Bestand- überlegt und gefordert haben - bei aller Ver- bindet sich für den Zuschauer eine gewisse Erwar- teile der Bearbeitung» dar, sondern nur solche schiedenheit und auch Gegensätzlichkeit läuft tung. Die wird in dieser Inszenierung nicht erfüllt der «Bremer Szene». Und im Kursivdruck er- es hinaus auf etwas, was in dieser Aufführung werden. scheint außerdem auch ein noch weit radikalerer realisiert ist: knappe zwei Stunden begibt sich Ich habe angefangen, eine einigermaßen realistische Inszenierung von dem Stück zu machen. Dabei Eingriff: nach dem Gespräch zwischen Isabella durch Form nur mühsam gesicherte mensch- habe ich nach vierzehn Tagen Arbeit festgestellt, und Claudio in der Todeszelle (Bild 18), nach- liche Realität auf einer Bühne vor Publikum - daß die Vorgänge auf der Bühne den Vorgängen dem der Herzog Mariana als ehemalige Ver- keine Abstraktion, keine Stilisierung, sondern meiner Fantasie nicht entsprechen. Daroufhin habe lobte Angelos vorstellte (Bild 19), nachdem er Konkretes, nicht Spiel, sondern Identifikation ich mich entschlossen, neu anzufangen und rück- sichtslos nur das zu inszenieren, was von der (Bild eine merkwürdige Ansprache hielt, die und Steigerung der Identifikation - aber auch 20) Fantasie bestimmt wird, das, was beim Lesen endet «Und die Größe ist in einen Kampf gegen keine Verfestigung, keine Botschaft, schneller von «Maß für Maß» in der Fantasie geschieht. falsche Meinungen gezwungen, der ihr jede Abbruch der Steigerungen, Unterlaufen der ei- Größe in Taten versperrt» - nach alledem wird genen Expression um der Ehrlichkeit willen, Dieser Inszenierung liegt also kein «Stil» zugrunde, der «dicke Herzog» hinter der Szene «vom Volk schließlich sogar jene Zerstörung des ästheti- keine Theorie, keine bewußte ästhetische Haltung. Statt dessen eine subjektive intuitive Arbeit, von ermordet» - so eine Ansage-, und die Kupplerin schen Kanons am Ende. Bild zu Bild entwickelt mit dem einzigen Bestreben, Frau Meier erscheint in der Kutte des Herzogs, Wenn diese Aufführung von irgendwoher An- genau das auf die Bühne zu stellen, was mir bei krächzend, sie beherrscht, sie arrangiert, sie de- regungen empfangen hat, dann vom Living der sehr langen und detaillierten Vorarbeit an dem moliert den Schluß - das forcierte, dilettantisch Stück eingefallen war. Theatre. Auch dort gibt es körperlichen Aus- Erst die Begegnung mit dem Stück, mit dem Bear- wirkende, enervierende Getue des männlichen druck ohne Anleihe bei Ballett, Ausdruckstanz beiter, Martin Sperr - dann die Begegnung mit den Darstellers in der Kutte - er tritt mit Füßen um oder Pantomime, dort gibt es Exaltationen der Schauspielern und ihrer Fantasie. Die Fantasie sich, die Stimme ist unangenehm angespannt, Gliedmaßen als Entsprechung des seelischen einer Gruppe und ihre Spannungen. überspannt-was soll es am Ende dieser sonst auf Der Ansatzpunkt Shakespeares - wir haben immer Zustandes. wieder Lösungen probiert und weggetan, bis sie, Wahrhaftigkeit bedachten Aufführung? Ich weiß Aber das Living Theatre versucht, dem Fana- wie es uns erschien, das Zentrale der Szene oder nicht, ob hier - nach soviel Gelungenem - das tismus fanatisch zu begegnen. Gewalt gegen der jeweiligen Situation getroffen hatten. Mißlingen die Oberhand gewinnt, oder ob - Gewalt zu setzen, mit Exaltation zu missio- auf eine nichts als redliche Weise - der Umgang Geändert. Ausprobiert. Wieder geändert. nieren. Nach einer Zeit hat sich eine echte Verbindung mit dem widerborstigen Stück mit einem deut- Davon ist kaum etwas in dieser Aufführung. hergestellt zwischen allen, die an der Inszenierung lichen Scheitern schließen sollte. Sperr hat Sie hat wundervolle Momente der Ruhe, der arbeiteten. Am wichtigsten: aus lauter einzelnen offenbar diese absurde, greulich-komische Aus- Schauspielern wurde eine echte Gruppe. Die Konzentration, der bewußten Entspannung, die Fantasie und Lebendigkeit dieser Schauspieler als tauschung des Herzogs gegen die Kupplerin Voraussetzung der Spannung ist (aber diese Gruppe hat hauptsächlich die Inszenierung bestimmt. nicht vorgesehen, obwohl in ihr eine grimmig- Momente sind nicht trancehaft, yoga-istisch wie ironische Zuspitzung der Sperrschen Bear- beim Living Theatre). Die Kreisform, die als Die Form oder Stilisierung wurde nicht von außen beitungs-Tendenz liegt: der Ausbund der Bi- Grundmuster des Arrangements benutzt wird, aufgesetzt, sondern entstand, entwickelte sich in den gotterie wird durch die ausbündige Huren- Proben. Zum Beispiel wurden Teile von szenischen hat keine weltanschauliche Akzentuierung, sie Abläufen, die früh in der Arbeit als falsch empfun- mutter ersetzt, die Extreme der verkehrten Welt ist eine Arbeitsform, die günstigste, aus ihr den wurden, später benutzt, abgeändert. Ganze werden miteinander vertauscht, die Verkehrung läßt sich der dauernde Bewußtseins- und Emo- Bilder wurden In der Arbeit verändert, umgestellt, wird unterstrichen. Außerdem: die Mittel, die tionskontakt unter den fünfzehn Darstellern, gekürzt, Sätze vertauscht, um dem aus der Arbeit entstehenden Rhythmus gerecht zu werden. vom Darsteller der Frau Meier in der Kutte des die meistens alle auf der Bühne sind, am leich- Herzogs bei seinem hexenhaften Rasetanz an- testen herstellen; aus dem Kreis wachsen die Ich glaube nicht, daß es die Aufgabe von Regis- gewendet werden - ästhetisch irritierend, dilet- Einzelszenen, vor allem Duos, am selbstver- seuren und Schauspielern sein sollte, die be- tantisch, wie gesagt - sie kommen, weniger ständlichsten heraus. Der Kreis erlaubt es, die- stehenden Konventionen des Theaters so gut zu lernen, daß sie sie glatt und leicht verdaulich langwierig und dilettantisch angewendet, von jenigen, die an einer Einzelszene nicht beteiligt darstellen können. Jeder Mensch, der am Theater Anfang an in der Aufführung vor. Angelo sind, am selbstverständlichsten als Zuschauer beteiligt ist, sollte vor ollem, glaube ich, das, was er spricht durchgehend «unnatürlich» krächzend, zu haben. Gegen Ende der Aufführung zerfällt an Fantasie besitzt, der Theaterarbelt zur Verfügung die Stimme so verklemmend wie seine Sinnlich- stellen. Mit jedem sich daraus ergebenden Risiko. die Kreisform und will sich auch nicht wieder Insbesondere sollten wir mit der Untersplelung, keit verklemmt ist. In der bigotten Exaltation herstellen. Das Ensemble klumpt sich zusam- dem «ästhetischen Realismus» und der so leicht verzerrt sich auch die Stimme der Isabella. Der men oder geht in Einzelne auseinander. Der herstellbaren Unterkühlung und Verfremdung als ästhetische Kanon dieser Aufführung - ihre Hexenauftritt am Schluß zersprengt es endgül- Methode aufhören. Wir sind am Verdorren. Das Publikum kommt nicht auf seine Kosten. Es gibt, Bewegungen, Gesten, Stimmfärbungen - ist ein tig. Das «Scheitern» findet auch in der Form glaube ich, gerade jetzt ein großes Verlangen von anderer als der übliche. Aber da ist ein Kanon: statt. Menschen nach großen Leidenschaften. er entstand, als Bearbeiter, Regisseur und Schauspieler den unmittelbarsten, für alle un- Spaß, Terror, Peinlichkeit, Erotik, Blödsinn, Vitalität Mißverständnisse verstelltesten Ausdruck der Situationen und nicht mit Bombastlk verwechseln. Die Bühne ist frei, wenn wir die Freiheit ausnutzen wollen oder können. Emotionen in den Szenen von Shakespeares Es soll nicht verschwiegen werden, daß keines- Kleinkleinpsychologie wo sie hingehört, ins Kino Stück suchten - aber so wie letzten Endes die wegs alle Zuschauer in der (frei verkauften) oder TV. Und nur als ein Mittel unter vielen auf die Bühne. Wir sollten das deutlich aussprechen, Aufführung an diesem Stück «scheitert» (nur Premiere die Aufführung billigten. Es gab Zwi- Bruchstücke gibt, und die auch noch umfunktio- was wir im Leben verschwelgen, und im Theater schenrufe, ironischen Applaus, Buhrufe am meistens auch. Aus Feigheit oder Eitelkeit oder nur niert), so zerstört auch der überlange Hexen- Ende. Der lange Beifall wurde durch sie ange- aus Geschicklichkeit. auftritt am Schluß durch Übertreibung den heizt. Die Körpersprache dieser Aufführung Bei Shakespeare gehören große Naivität und ästhetischen Kanon, den die Aufführung sich wurde offensichtlich nur von einem Teil der raffinierte Differenziertheit zusammen. Keine Theo- selbst geschaffen hat. rien, Morallektionen, ästhetische Prinzipien, keine Zuschauer «verstanden». Oder haben wiederum modischen Aktualisierungen, die den Mangel an alle Reservationen nichts genutzt, die Vorrede Fantasie durch äußere modische Zitate ersetzen. »Konkretes» Theater? Zadeks (die wir nebenstehend drucken), die zweimalige Ankündigung im Programmheft: Nicht so ängstlich - im Alltag sind wir zaghaft genug. So gehört dieser Abend zu Tendenzen, die heute «Maß für Maß von in der (Aus dem Programmheft) überall zu beobachten sind. An der Autonomie Übersetzung und Bearbeitung von Martin Sperr der Kunst wird gezweifelt, die Abkapselung unter Mitarbeit von Peter Zadek und Burk- der Kunst, als formal Gesichertes, vom Leben, hard Mauer als Ausgangspunkt einer Inszenie- von der Wirklichkeit wird negiert. Was zuerst rung des aktuellen Stückgehalts auf freier Büh- in der bildenden Kunst geschah (als etwa Tin- ne von Peter Zadek. Bühne: Wilfried Minks»? guely sich selbst zerstörende Maschinen aus- Was wollten die, die buhten, sehen? Weshalb stellte), was Claus Bremer (Theater heute sahen sie nicht, was hier geschah: den sowohl 13/66), Günter Herburger (Theater heute durch unverstellte, direkte Sprache als durch 2/67), Martin Walser (in dem eben erschie- eine adäquate, nicht naturalistische, aber un-

25 mittelbare Gestik, Körperlichkeit zu Stande ge- brachten realen Vollzug von Konstellationen des Shakespeareschen Stückes? Die Verklem- mung des Angelo, die Todesfurcht Claudios, die große, leidenschafüiche Widersprüchlichkeit Isabellas habe ich noch nie so unverfälscht, un- mittelbar gesehen - wobei es nicht um die Dar- stellung der Figuren ging, sondern um die ihrer Emotionen.

Wahrhaftigkeit

Theater fängt immer neu an. Hier ist von ei- nem, der gezeigt hat, daß er ein Meister in Bild 1, Alle Schauspieler im Kreis, der Herzog: «Dos Volk nimmt sich jede Freiheit, seit 19 Jahren». überkommenen Formen sein kann, daß er «Stil» kann - strikten, sachkundigen Realismus ebenso wie gagfreudige, überschwappende Komödien- lust - neu angefangen worden. Die Unruhe, die Peter Zadek manchmal wie eine Laus im Pelz zu sitzen schien, so daß seine Aufführungen grimassierten, überbordeten, sie hat sich hier als ein elementarer Drang nach Wahrhaftigkeit gezeigt. Und es ist nicht beim Drang geblieben, es ist zu Resultaten gekommen. Die Inszenierung der «Räuber» (siehe Theater heute 4/1966) ist damals in dieser Zeitschrift von Ernst Wendt sehr positiv gesehen worden. Ich war anderer Meinung. Ich fand sie partien- weise langweilig, nur in Momenten gelungen. Bild 12, Lucio führt den Herzog an der Nase herum, Lucio: «Ein bissei krampfhaft In dem Punkt, Bruder». Von der neuen Aufführung her erscheint sie als Vorstufe: jene gelungenen Momente waren solche der Körpersprache. Franzens Bewegungs- kanon etwa, sein rasender, inquisitorischer Um- gang mit Amalia, die er wie eine Puppe um sich drehte. Der kostümliche Aufputz - Comics, Wildwest - erstickt solche Momente, die kalte, referierende Wiedergabe des Textes ermüdete. Jetzt gibt es keine mehrfachen Brechungen zwi- schen Stück und Aufführung. Szenen des Stük- kes selbst werden direkt realisiert, dabei bricht das Stück. Müssen wir Shakespeare retten? Zadeks «Held Bild 15, der Herzog zu Julia: «Bereust du die Sünde, die du trägst, mein Kind?» Henry» war eine kabarettistische Revue, deren Niveau teilweise unterhalb des Shakespeare- schen fünften Heinrich lag, während manche Szenen (Gespräch Heinrichs mit den Soldaten vor der Schlacht) Shakespeare verwirklichten. Dieser Abend ist nicht gegen Shakespeare und auch nicht Shakespeare zynisch ausbeutend in- szeniert. Er nimmt «Maß für Maß» beim Wort. Er gibt nicht vor, mit dem Stück zu Rande zu kommen. Sein Grundzug ist: Wahrhaftigkeit.

Bild 19, Vorstellung der Mariana: «Kurz: er ließ mich in meinem Schmerz allein». «Maß für Maß» von William Shakespeare in der Übersetzung und Bearbeitung von Martin Sperr unter Mitarbeit von Peter Zadek und Burkhard Mauer als Ausgangspunkt einer In- szenierung des aktuellen Stückgehaltes auf freier Bühne von Peter Zadek, Bühne: Wilfried Minks, Regieassistenten: Joachim Preen, Charles Lang, Burkhard Mauer. Personen: Abhacker - Angelo - Charlie - Claudio - Ellbogen - Escalus - Herzog - Isabella - Julia - Lucio - Mariana - Frau Meier - Pompi - Schaum, Darsteller: Georg Martin Bode - Edith Clever - Jean Coover • Bruno Ganz - Joachim Henschke - Klaus Hent- schel - Hans Dieter Jendreyko - - Rolf Meyer - Konstantin Paloff - Joachim Re- gelien - Werner Rehm - Ernst Rottluff - Wolf- Bild 25 - Schlußbild: Der Herzog, von Frau Meier gespielt, sieht auf Angelos Schultern, den die Kutte mit verbirgt - der Herrscher «deckt» den Verbrecher - Fotos Artur Laskus gang Schneider - Sieghold Schröder.

26 In der Todeszelle (Bild 18) Claudio: Was für einen Trost hast duf Isahella: Warum? So, wie jeder Trost ist, gut, wirklich, sehr gut. Lord Angelo - er macht mit dem Himmel Geschäfte und braucht dort einen ständigen Botschafler, verstehst du ? Er hat dich dafür ausgesucht, mach bitte deine Vorbereitungen schnell, die Reise fängt schon morgen an, juchhe. Isabella (Edith Clever) und Claudio (Joachim Regelien) - Foto Roswitha Hecke

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