Seid Willkommen, Verdammte Dieser Erde
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Hans Thie Seid willkommen, Verdammte dieser Erde No Border, No Nation: Wie ein moralisch motivierter Kurzschluss DIE LINKE zu zerstören droht http://hansthie.de/seid-willkommen-verdammte-dieser-erde/ Offene Grenzen für Menschen in Not und regulierte Einwanderung – das sind die Grundsätze linker Parteien in Europa, wenn es um Flucht und Migration geht. Dieser Konsens enthält – je nach Geschichte und aktueller Lage des jeweiligen Landes – allerlei Variationen. Aber die humanitäre Verpflichtung und die Notwendigkeit, Immigration zu regeln, sind der selbstverständliche Ausgangspunkt. Die britische Labour Party, die in einem spektakulären Turnaround wieder zu einer linken und starken Partei geworden ist, fordert in ihrem Wahlmanifest „faire Regeln und ein vernünftiges Management der Migration“.1 Labour stellt sich der doppelten Herausforderung: Was ist unsere moralische Verpflichtung angesichts des mit Flucht und Migration verbundenen Leids, und was ist 1 Labour wird, so heißt es auf Seite 28 im Labour-Manifest, „Flüchtlinge nicht zu Sündenböcken machen und ihnen nicht die Schuld für ökonomische Verwerfungen geben … Wir werden Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder ihrem Glauben unterscheiden … Labour wird diejenigen beschützen, die hier arbeiten, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit … Labour wird hart gegen skrupellose Arbeitgeber vorgehen … Labour würdigt die ökonomischen und sozialen Leistungen der Immigranten.“ In Regierungsverantwortung werde Labour „ein neues System einführen, das auf unserem ökonomischen Bedarf, ausgewogenen Kontrollen und bereits existierenden Ansprüchen gründet. Das könnte Selbstverpflichtungen von Unternehmen, Arbeitserlaubnisse, Visaregeln oder einen abgestimmten Mix all dieser Maßnahmen einschließen, um im Ergebnis der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu dienen.“ https://labour.org.uk/wp- content/uploads/2017/10/labour-manifesto-2017.pdf 1 politisch durchsetzbar? In der Linkspartei ist das seit einiger Zeit anders. Genossinnen und Genossen, die solche Fragen stellen, werden zur Zielscheibe übler Verbalgeschosse, abgefeuert mit dem Gestus überschäumender Gesinnungsethik. Die Bewegung von Menschen sei auf humane Weise nicht regulierbar. Deshalb könne es nur eine Lösung geben: alle dürfen kommen, alle dürfen bleiben. Schleift sofort alle Grenzen, vergesst die Nation. No Border, No Nation. In dieser Denkweise entspringt das politische Mittel unmittelbar aus dem moralischen Zweck. Jede Abwägung, jede Frage nach den Voraussetzungen und den Folgen vollkommen freier Migration, jede Warnung vor dem Risiko entgrenzter Arbeitsmärkte, jeder Verweis auf andere und wirksamere Möglichkeiten der Bekämpfung von Not und Armut sei eine Abweichung vom Pfad der Humanität. Die No-Border-Fraktion exkommuniziert jeden Einwand. Wer die Bewegung von Menschen in irgendeiner Weise – und sei es auch sanft, großzügig und rechtsstaatlich – steuern will, sei letztlich zum Töten bereit. In dieser Logik gerät jede andere Position in den Verdacht des gewaltbereiten Wohlstandschauvinismus. Wer das Asylrecht stärken will, aber schrankenlose Immigration ablehnt, ist ein elender Nationalist. Wer wie Union, SPD und auch Grüne an Einwanderungsgesetzen bastelt, die nach Kriterien der Nützlichkeit selektieren, müsste folglich dem Faschismus nahe sein. Und für Seehofer und die AfD gäbe es keinen Begriff mehr. Um dieser abstrusen Debattenlage zu entkommen, die wie die erfundene Verirrung einer Sekte klingt, aber leider Realität ist, hat eine Autorengruppe ein THESENPAPIER ZU EINER HUMAN UND SOZIAL REGULIERENDEN LINKEN EINWANDERUNGSPOLITIK2 veröffentlicht. Darin heißt es: „DIE LINKE muss konsequent für eine humanitäre Flüchtlingspolitik eintreten. Der Schutz von Menschen in Not, die vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, kennt keinerlei Einschränkungen.“ Die langfristige Perspektive sei von den Möglichkeiten im Hier und Heute zu unterscheiden: „Das Leitbild der offenen Grenzen in einer friedlichen und solidarischen Welt ist eine Zukunftsvision, die wir anstreben. Gegenwärtig sind die Bedingungen dafür jedoch nicht gegeben. Wir brauchen realistische Zwischen- und Übergangslösungen, die uns diesem Ziel näherbringen.“ Das Thesenpapier enthält folgende Vorschläge: Wiederherstellung des Asylrechts für politisch Verfolgte (insbesondere Überwindung der Dublin-Abkommen und Abschaffung der „sicheren Herkunftsstaaten“) konsequente Anwendung des Nichtzurückweisungsprinzips an den Grenzen von BRD und EU keine Internierung von MigrantInnen in- und außerhalb Europas umfassender subsidiärer Schutz für flüchtende Menschen, deren Leben durch Kriege in Gefahr ist Eröffnung der Möglichkeit, Anträge auf Asyl und subsidiären Schutz direkt in Botschaften von Ursprungs- und Transitländern zu stellen groß angelegte Programme zur Seenotrettung massive Erhöhung der Finanzausstattung der UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR) zur Entlastung von Drittstaaten und um in Fällen existenzieller wirtschaftlicher Not (etwa bei Klima- oder Hungerkatastrophen) Menschenleben zu retten, sind Programme zur kontingentierten Aufnahme von Flüchtlingen verstärkt als Instrument nutzen ein System solidarischer und gerechter Aufnahme und Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU hochwertiger Integrations-, Sprach- und Rechtsbildungsunterricht (letzteres mit Schwerpunkt auf Arbeitsrecht), gute Beschäftigungschancen, bezahlbarer Wohnraum, ein stabiles soziales Umfeld sowie Partizipations- und Organisierungsmöglichkeiten 2 https://www.die-linke.de/disput/debatte/debatte-im-disput-einwanderungsgesetz/news-default-detailseite/news/thesenpapier/ 2 Dieses Thesenpapier3 hat breite Resonanz gefunden.4 Wenigstens in Ansätzen gab es einen rationalen Diskurs jenseits emotionaler Schuldzuweisungen. Einzelne Vorschläge sind befürwortet oder verworfen worden. Die bisherige Diskussion bestätigt, dass die im Thesenpapier enthaltene Anregung sinnvoll ist: „Zur konkreten gesetzlichen und praktischen Gestaltung einer linken Einwanderungspolitik schlagen wir unserer Partei vor, einen umfassenden Dialog mit den relevanten gesellschaftlichen Akteuren, namentlich Gewerkschaften, Sozialverbänden, MigrantInnenvertretungen, zu führen und auf dieser Grundlage eine entsprechende Konzeption zu entwickeln.“ Gleichwohl bleibt die No-Border-Fraktion unbeeindruckt. Dass die Idee grenzenloser Migrationsfreiheit nicht so ganz von dieser Welt ist, gibt sie zu. Im Gegenzug ertönt umso lauter die revolutionäre Fanfare des migrantischen Antikapitalismus. So heißt es in der Reaktion von Ulla Jelpke und anderen5 auf das Thesenpapier: „Ja, es gibt (noch) kein universales Recht auf Migration und Einwanderung, und ja, realpolitisch ist ein solches Recht derzeit weder durchsetzbar noch vorstellbar. Aber: Wer, wenn nicht Die Linke soll diese einzig humane und moralisch vertretbare Position in die vergiftete gesellschaftliche Debatte einbringen?! Es gilt, die aktuellen Migrationsbewegungen als einen Stachel im Leib des Kapitalismus zu begreifen, der auch eine Chance für emanzipatorische Veränderungen eröffnen kann.“ In ähnlicher Weise äußern sich Oliver Barth & Co6: „Eine offensive Perspektive des universellen Bleiberechts ist die einzige politisch sinnvolle Antwort auf die aktuelle Situation … (Anzuerkennen sei), dass die Regulierung von Arbeitsmärkten in einer globalisierten Welt nicht mehr durch ihre nationale Begrenzung zu organisieren ist, sondern nur durch die Universalisierung der sozialen und politischen Rechte für Alle, die Zugang zu diesem Arbeitsmarkt haben können.“ Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich solche No-Border-Positionen, solche irren Ideen, die von Katja Kipping forciert und von Bernd Riexinger toleriert werden, bis zum Wahlkampf 2017 nicht wirklich beachtet habe. Eine typische Kinderkrankheit der LINKEN – das gibt sich wieder, dachte ich. Dabei war mir seit langem klar, dass in einer zusammenwachsenden und zunehmend gefährdeten Welt ein menschenrechtlich und ökologisch begründeter Anspruch universeller Gleichheit zu entstehen beginnt. Kritische Köpfe der jüngeren Generation spüren das. Manche aus Gewissensnot, weil sie Freiheiten genießen, die anderen Erdenbürgern gänzlich vorenthalten sind. Manche aus der reflektierten Einsicht, dass die Gunst, im Norden geboren zu sein, keine Privilegien begründen darf – schon gar nicht auf einem Planeten, der unsere ressourcenverschlingende Lebens- und Produktionsweise nicht mehr verträgt, nach Mäßigung schreit und Nutzungsregeln verlangt. Was aber folgt politisch aus dieser Gewissensnot und diesem normativen Fortschritt? Ist es zwingend, die eigene Bewegungsfreiheit zu universalisieren? Wäre grenzenlose Migrationsfreiheit tatsächlich ein geeignetes Mittel, um Menschenleben zu retten, Armut und Not zu lindern? Welche nicht gewollten Konsequenzen hat die gut gemeinte Absicht? 3 Das Thesenpapier enthält weitere konkrete Vorschläge, um Migration in einem progressiven Sinne zu steuern: Negativliste für Berufe mit einem Überangebot an Arbeitskräften statt Auflistung von Mangelberufen für die Arbeitsmigration, Erleichterungen der Einreise zu Aus- und Weiterbildungszwecken, zeitlich befristete Bindung der Aufenthaltserlaubnis an eine Beschäftigungsgruppe statt an einen bestimmten Arbeitgeber, zirkuläre Migration, bilaterale Sonderabkommen zur Immigration von Geringqualifizierten. 4 https://www.die-linke.de/disput/debatte/debatte-im-disput-einwanderungsgesetz/debattenbeitraege/ 5 https://www.die-linke.de/disput/debatte/debatte-im-disput-einwanderungsgesetz/news-default-detailseite/news/fuer-das-recht-auf- migration/ 6 https://www.die-linke.de/disput/debatte/debatte-im-disput-einwanderungsgesetz/news-default-detailseite/news/auslassung-und-