Die Yašrut Ya Die Vergangenheit Ist Im Orient Noch Weniger Tot Als B
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LIBANESISCHE MISZELLEN * VON JOSEF VAN ESS Tübingen 6 : Die Yašrut�ya Die Vergangenheit ist im Orient noch weniger tot als bei uns. Eine untergegangene Welt, so mochte man glauben, war beschrieben in einem Buch, das vor nunmehr knapp 20 Jahren in Beirut erschien : Rihla ila l-I;aqq, "Reise zur Wahrheit, zu Gott", verfaBt von einer gewissen Fatima al-Yasrutiya al-Hasaniya.l Sie schildert darin das Leben des 'Ali al-Yasruti, der in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts in 'Akka eine eigene tariqa des ŠagiHya-Ordens grfndete. Mystik und erst recht Ordensleben sind fiir einen modernen Araber kaum zeitgemaf3. Aber die Verfasserin des Buches ist Tochter dieses saih's; sie hat 'Akkd erst nach der israelischen Besetzung i.J. 1948 verlassen, und sie lebt heute iiber 80-jdhrig in Beirut. Mehr als das : der Orden ist alles andere als tot; wie ich durch eingehende Befragungen, vor allem der Autorin selber, feststellen konnte, hat er im Libanon eine zahlreiche, keineswegs uberalterte Anhdngerschaft, und auch in Syrien, in Damaskus und Aleppo, ja selbst weit daruber hinaus, in Ostafrika, sto(3t man, sobald man nur einmal fragt, auf seine Spuren. Ribla ild l-haqq ist ein engagiertes Buch. Die Verfasserin glaubt an die Werte der islamischen Mystik; Wunder geben ihr keine Rdtsel auf. Dies allerdings nur, wenn sie von einer charismatischen Pers6nlichkeit ausgehen, wie es ihr Vater gewesen ist. Ihn hat sie uber alle MaBen * Von dieser Aufsatzserie sind bisher erschienen : nr. 1 in WI 11/1967-68/223ff.; nr. 2-4 in WI 12/1969/97 ff.; nr. 5 in WI 14/1973/203ff. 1 Beirut (1954). Der Titel ist von Ibn 'Arab! hergenommen (vgl. Rihla, S. 8). Die einzigen Hinweise auf das Buch in der orientalistischen Fachliteratur finden sich, soweit ich sehe, bei J. S. Trimingham, The 5M/<Orders in Islam (Oxford 1971), S. 126, Anm. 2, und bei A. M. M. Mackeen in JAOS 91/1971/477. Downloaded from Brill.com10/09/2021 07:30:38PM via free access 2 verehrt; darum hat sie seine Biographie geschrieben. Aber sie entsinnt sich seiner nur, als er schon in hohem Alter stand; sie bringt also weniger eigene Erinnerung als die Wiedergabe aufbluhender hagio- graphischer Tradition. Was sie von seinem Leben weiB, ist das, was er in seinen letzten Jahren von sich erzahlte bzw. was andere von ihm bewahrten; der Ruhm der spdten Jahre verkldrt auch manches Fruhere ins Legendarische. Jedoch vermittelt das Buch daneben sehr viele wertvolle Einblicke in den Alltag eines mystischen Ordens; als Dokument dieser Art verdient es gewiB unsere Aufmerksamkeit. Einige Jahre nach der Ver6ffentlichung dieses Werkes hat die Ver- fasserin ihre Ausfuhrungen weiter erganzt : 1382/1963 erschien Nafabft al-haqq, eine Sammlung von Aussprfchen ihres Vaters, und 1385/1966 Mawiihib al-haqq, eine Zusammenstellung aller Wunderberichte. Bei dem letzten der beiden Werke fallt auf, wie vorsichtig die Autorin in ihrer Ribla mit der Preisgabe solcher Nachrichten noch war; sie weiB wohl, daB sie nur Gldubige damit fberzeugt. Hier dagegen ist selbst die Einleitung auf diesen Ton gestimmt : sie habe, so bekennt sie, seit der Rihla trotz aller besseren Einsicht sich nicht mehr den Schriften Ibn 'Arabi's zugewandt, weil er doch gar zu viele Feinde habe; drei Jahre schriftstellerischer Unfruchtbarkeit seien die Folge gewesen. Dann aber habe eine Bekannte, Anhangerin des Ordens wie sie, ihren Vater, den šaib, im Traume gesehen und ihn nach dem Grund dieser Dfrre gefragt; \° er habe ihr den Zusammenhang klargemacht (Mawiihib 21). Das erste der beiden Werke lal3t uns der geschichtlichen Wirklichkeit ndher- kommen ; vieles, was durch die Wundergeschichten zu stark idealisiert wird, wird durch die pers6nlichen Aussagen - die naturlich selber auch wieder Uberlieferung und personlich gefarbtes Referat sind - zurechtgeriickt. Diese drei Quellen sollen hier ausgewertet und analysiert werden. Um den Charakter einer "Miszelle" nicht ganz zu sprengen, war Beschrdn- kung geboten. Es geht darum in erster Linie um die Rekonstruktion eines Milieus und seines zeitgeschichtlichen Hintergrunds, nicht so sehr um die Einzelheiten der mystischen Lehre. Zu Letzterem geben die Quellen nicht so viel her, und um Originelles von Uberkommenem zu scheiden, hdtte die gesamte historische Tradition der Sadiliya aufge- arbeitet werden mussen. Ich mul3 hier auf die Arbeiten von Asin- Palacios (Šiicjilies y alumbrados, in : Al-Andalus 9/1944-16/1951), A. M. Mackeen, The Early History of Sufism in the Maghrib prior to Downloaded from Brill.com10/09/2021 07:30:38PM via free access 3 al-Shddhili bzw. The Rise of Al-Shiidhili (d. 656/1258) in JAOS 91 / 1971 /398 ff. und 477 ff. (nach der Londoner Dissertation Studies in the Origins and Development of al-Shddhiliyyah, 1961) und P. Nwyia (Ibn 'Ata' Allah et la naissance de la confrérie šiicjilite; Beirut 1972) verweisen. Ich zitiere mit folgenden Siglen : R = Ri,hla ild I-haqq M = Mawdhib al-baqq N Nafabdt al-haqq I. Die Biographie Nuraddin 'All b. Muhammad b. Nuraddin Ahmad al-Magribi al- Yasruti as-Sadili at-Tarsihi 2 starb am 16. Ramadan 1316/28. Januar 1899 3 in Akkon (Paldstina). Er stand in hohem Alter; seine Tochter kann sich seiner nur noch als Greis erinnern (R 299). Dennoch scheint das Geburtsdatum 1208/1794, das sie verschiedentlich angibt (R 55, M 27), bedeutend zu hoch gegriffen. Obgleich selber spatgeboren, hatte sie doch noch zwei j dngere Geschwister; ihre j 5ngere Schwester Maryam hat ihren Vater nicht mehr richtig gekannt (R 313, 318). Dieser spate Kindersegen ist kaum mit einem derart biblischen Alter zu vereinbaren. Auch die Angabe 1211/1796, die sich bei Zirikli findet, wirkt darum nicht vertrauenerweckend. Berechnungen aufgrund anderer biographi- scher Notizen legen vielmehr ein Geburtsdatum um 1230/1815 nahe (s.u. S. 10, Anm. 29). DaI3 die Autorin so sehr auf dem Jahr 1208 insistiert, hat seine besonderen Grunde : die Zahl steht im Kontext einer Weissagung, mit der man das Selbstverstdndnis des šaib's bestdtigte. Ein - anonym bleibender - Heiliger habe seiner Mutter vor ihrer Schwangerschaft verheif3en, Gott werde ihr einen klugen Sohn schenken, 2 Vgl. die Namensform bei 'Abdarrazzdq al-Baimr, ffilyat al-basar fi ta'rih al- qarn at-talit `asar (ed. Muhammad Bahgat al-Baitdr, Damaskus 1380/1961-1383/1963), S. 1065, wo aber irrtumlich 'Ali b. Ahmad statt 'All b. Muhammad steht und der laqab gar nicht genannt wird; Korrektur und Erganzung ergeben sich aus R 55 und 58 sowie aus den Angaben eines seiner Anhanger in der Kairiner Zeitschrift al- Hidaya al-Isidmiya 3/1350/503, apu. (vgl. dazu u. S. 69). Der Fehler ist iibernommen bei Zirikli, A`lam V 66. Die Nisben wechseln; Fatima hat at-Tunisi al-Magribi statt at-Tar§ibi (R 55). Erstere beziehen sich auf 'All Nuraddin's Herkunft; letztere erinnert an den Ort, wo er sich nach seinem Zug in den Osten zuerst niederlief3.Zu Yašrutï s.u. S. 5, Anm. 8. 3 Vgl. das Chronogramm R 321. Downloaded from Brill.com10/09/2021 07:30:38PM via free access 4 dessen Geburtsdatum in einem Koranvers versteckt sei. Man habe dann nach der Geburt Uberlegungen angestellt und die Prophezeiung tatsdch- lich in Sure 28/23 bestatigt gefunden : "und unser Vater ist ein alter 4 Greis (groBer §a1ll)" (R 57, M 27). Es war nicht die einzige VerheiBung. Die Mutter hatte drei ihrer Kinder im Sauglingsalter verloren; vier weitere waren in einer Woche an der Cholera gestorben (R 56). Sie wird fiir Tr6stung empfanglich gewesen sein und, als sie dann noch einmal einen Sohn gebar, hierin ein besonderes Zeichen g6ttlicher Providenz gesehen haben. Sidi Muhammad Gallul, in Banzart (Bizerta) als Heiliger angesehen,5 hatte ihr eines Tages, als sie vom Grab ihrer Kinder zuruckkam, eine Hand- voll Kiesel gegeben mit dem Bemerken, sie ihrem zukfnftigen Sohn, wenn er einmal mundig sei, mit seinen Segenswunschen zu fberreichen. Eine besondere Bewandtnis hatte es mit ihnen anscheinend nicht; aber der saih pflegte spater immer noch mit Verwunderung festzustellen, daB seine Mutter sie tatsachlich aufbewahrt hatte : fiir sie verband sich mit ihnen offenbar die baraka des Gottesmannes.6 Auch den Namen des Kindes soil er festgelegt haben (R 57 f.), nicht ohne sich allerdings den Erwartungen der Familie anzupassen; auch der GroBvater hatte ja schon Nuraddin geheil3en. Die Familie lebte damals in der genannten tunesischen Hafenstadt. Die Mutter, aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie stammend, war iiberdurchschnittlich gebildet; sie konnte lesen und schreiben und betrieb religiose Studien. Der Vater war Staatsbeamter und eine Zeitlang Heereskommandant der Provinz Tunis. Beide Eltern führten ihre Genealogie auf den Propheten zuruck; die Mutter war die einzige Tochter eines in Tunis ansassigen Husainiden aus Marrakes, der Vater Sarif der hasanidischen Linie (R 55 f.).7 Seine Familie war nicht einge- wandert ; die Yasrut waren, wie ich in Beirut im Gesprach mit der 4 wa-abunä šaihunkabir : 6 + 1 + 2 + 6 + 50 -I- 1 + 300 + 10 -k 600 + 20 + 2 + 10 + 200 = 1208. Man gewinnt den Eindruck daB erst 'Ali Nuraddin's Kinder und Anhanger diesen Satz auf ihn bezogen, als er in hoherem Alter stand. 5 Ist er identisch mit Abu 'Abdallah Muhammad b. Mahmud b. Bakkar al-6alfill (1195/1781-1265/1849),der bei A.hmad b. Abi d-Diyaf, Ithaf ahl az-zamdn VIII 71 f. genannt wird? Wohl nicht : dieser war ein Staatsbeamter, nicht etwa ein Heiliger. Der Name Galuli ist in Tunesien damals recht hdufig. 6 Zur Verbreitung des baraka-Glaubens im Magrib und seinen verschiedenen Aspekten vgl. eingehend E. Westermarck, Ritual and Belief in Morocco (London 1926) I 148 ff. 7 Zur Rolle der Sarifen im religiosen Leben des Magrib vgl. Westermarck I 36 ff. Downloaded from Brill.com10/09/2021 07:30:38PM via free access 5 Autorin erfuhr, in Tunesien zuhause.8 Der Junge wuchs in einer von volkstumlicher Mystik gepragten Atmosphare auf; jedoch ist alles, was wir uber ihn erfahren, nur Eigeninterpretation des spateren angesehenen Ordenssaih's, der die Ereignisse in seiner Erinnerung auswahlt und in ihrer vorausweisenden Bedeutung seinen Anhdngern, unter ihnen seiner Tochter, weitererzdhlt.