Wirkungsforschung: Auf Der Suche Nach Den Ursachen 571 | Media Perspektiven 11/2016
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
569 | Media Perspektiven 11/2016 Medienentwicklung und Nutzungswandel Kurz und knapp als Herausforderung • Die dynamische Medienentwicklung stellt auch die Wirkungs- forschung vor neue Herausforderungen. Wirkungsforschung: • Veränderungen bei Angebotsformen und -strategien berühren unter anderem die Glaubwürdigkeit der Medien. Auf der Suche nach • Traditionelle Wirkungsfragen, z.B. nach der Themensetzung den Ursachen durch Medien, müssen im Kontext sozialer Netzwerke neu gestellt werden. Von Michael Jäckel* • Die Verbreitung des Internets und mobiler Technologien bringt eine Multiplizierung der Inhalte, aber auch die Gefahr einer „digitalen Ungleichheit“ mit sich. „Homeless Media“: „Im Grunde genommen folgen wir alle dem Buzz- • Permanente (Medien-)Kommunikation erschwert die Bestimmung Inhalte ohne festen Feed-Modell. Das heißt: Die Nachricht oder unsere von Wirkungen. Ursprungsort Inhalte müssen dahin, wo die Menschen sind.“ (1) Der Journalist und Blogger Richard Gutjahr hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Homeless Am Ende des vergangenen Jahrhunderts empfahl Wie reagiert die Media“ verwendet. Gemeint ist, dass immer häufi- Niklas Luhmann „die reale Realität der Massen- Wirkungsforschung ger Inhalte nicht mehr an einen (materiellen) Ort, medien als die in ihnen ablaufenden, sie durchlau- auf diesen Wandel? eine feste Plattform gebunden sind, sondern nur fenden Kommunikationen anzusehen.“ (4) Das einen guten Verbreitungsmodus benötigen. Der könnte man, mit oder ohne Bezug auf „Masse“, Unterschied zu den „klassischen“ Medien ist evi- auch im Jahr 2016 wiederholen. Aber wie man dent: Die „Tagesschau“ kommt aus Hamburg, das diesen Prozess und die Folgen dieses Durchlaufens „heute-journal“ aus Mainz, die „Süddeutsche Zei- erfasst, ist die eigentliche Herausforderung, die die tung“ aus München, die „New York Times“ aus Forschung umtreibt. Welchen Stellenwert haben New York. Bislang assoziierten wir mit einem Me- die großen Themen der Medienwirkungsforschung dienbeitrag auch eine Quelle, einen Sender, eine angesichts dieser Entwicklungen? Welche Beob- Organisation, einen Ort. BuzzFeed dagegen steht achtungsinstrumente sind in der Lage, die wach- für ein Medienportal, das Artikel unterschiedlicher sende Vielfalt der Distributions- und Nutzungsfor- Provenienz listet und einen Nachrichtenticker unter- men abzubilden? Der folgende Beitrag versucht, hält, der von Beginn an auf den „Share“-Modus einige der gegenwärtigen Herausforderungen für der sozialen Medien ausgelegt ist. Hierbei löst sich die Medienwirkungsforschung zu beschreiben. nicht nur der Ort des Senders, sondern auch der Dabei wird anhand ausgewählter jüngerer For- Ort des Rezipienten auf („wo die Menschen sind“). schungsarbeiten aufgezeigt werden, wie aus der Gleichwohl wissen auch die „alten“ Sender, dass Befassung mit dem Phänomen der neuen, digitalen sich ihr Publikum nicht mehr nur im häuslichen Medienumwelt ältere Ansätze und Modelle der Umfeld aufhält. Medienwirkungsforschung fortgeschrieben werden und dabei auch neue Fragestellungen entstehen. (5) Symptom eines Dieses einleitende Beispiel beschreibt ein Element einschneidenden des Strukturwandels des Mediensystems, der in Ein kurzer Blick zurück Strukturwandels dieser Dynamik noch vor wenigen Jahren nicht Zunächst ist jedoch ein kurzer Blick zurück, in die der Medien vorstellbar war – etwa 1995, als das Buch „Dyna- noch relativ junge Geschichte der Massenkommu- mik der Kommunikationsgesellschaft“ von Richard nikation, nötig. Über den Beginn des Zeitalters der Münch erschien. (2) In seinem Buch „Everything is Massenmedien und der Massenkommunikation obvious. Once you know the answer“ präsentierte herrscht keine Einigkeit, aber jede Literaturrecher- Duncan J. Watts 2011 ein aufschlussreiches Ge- che wird bestätigen, dass das Thema mit dem dankenexperiment (3): Hätte man die heutigen Ende des 19. Jahrhunderts an Fahrt aufnimmt. Die Facebook-Nutzer rückwirkend im Jahr 2004 noch Vorläufer des Kinos konnten mit Lichtspielen er- einmal fragen können, ob sie sich den Austausch staunliche Effekte erzielen: „Die Größe des Publi- von persönlichen Profilen und das Teilen von Infor- kums solcher Veranstaltungen variierte zwischen mationen über ganz alltägliche Dinge vorstellen Klassenstärke in Schulen und über tausend Zu- könnten, dann wäre ihre Antwort seinerzeit wohl schauerinnen und Zuschauern in großen Veran- deutlich und eindeutig negativ ausgefallen. Aber staltungsräumen oder Kirchen.“ (6) Das Magische das allmähliche und dann exponentielle Wachstum dieser Innovationen vermischte sich mit der Be- dieser vielen kleinen Netzwerke schuf ein Phäno- sorgnis über die möglichen Wirkungen auf das men, das so nicht vorhersehbar war. Zugleich steht Publikum. es für eine neue Normalität, der weitere, noch nicht bekannte, folgen werden. * Universität Trier. Michael Jäckel Media Perspektiven 11/2016 | 570 Gestern wie heute sind es die spektakulären Er- angemerkt, dass es doch keine klaren Grenzen für eignisse, die einen Wandel markieren. Als David Homogenität/Heterogenität gibt. Kurzum: Das Pro- Sarnoff am 14. April 1912 den Funkspruch der in blem wurde pragmatisch als solches belassen. Seenot geratenen Titanic mit einer Marconi-Station auf dem Dach eines New Yorker Kaufhauses emp- Bedürfnisse, Interessen, Wünsche des Publikums „Uses and fing und die Signale an Dritte weiterleitete, entwi- wurden lange Zeit auf einem Nebenschauplatz Gratifications“: ckelte sich daraus die Idee des Radios weiter. Als diskutiert. Masse war negativ konnotiert, differen- Was machen die Leonardo di Caprio den Oscar für seine Hauptrolle ziertere Blicke auf die Struktur des Publikums Menschen mit den in „The Revenant“ erhielt, wurden im Februar 2016 mussten sich mühsam Aufmerksamkeit verschaf- Medien? 440 000 Tweets pro Minute gemessen. (7) Der Re- fen, ein Denken in Kategorien von Nutzen und Be- kord setzte einen Maßstab, der vergleichbar mit lohnung erfuhr den Vorwurf des Reduktionismus. dem Blick auf Einschaltquoten des Fernsehens Als sich durch neue Verbreitungswege und neue oder Auflagen von Tageszeitungen ist. Als Stern- Anbieter die Frage, wie mit dieser Vielfalt umge- stunde des „Mediums“ Twitter galten die Nach- gangen wird, aufdrängte, hatte jener Ansatz, der richten über die Airbus-Notlandung im Hudson River für einen konsequenten Umgang mit der Frage am 16. Januar 2009. Twitter startete in diesem Fall „Was machen die Menschen mit den Medien?“ die Nachrichtendiffusion, nicht die klassischen plädierte, seinen Höhepunkt auf der wissenschaft- Medien. lichen Agenda bereits überschritten. Zu den erstaunlich sten Entwicklungen der Medienwir- Medien als „soziales Die Sorge, die den Wirkungsfragen mehr oder we- kungsforschung gehört, dass trotz des Optionen- Nervensystem“ niger stark mitgegeben wurde, drehte sich um das wachstums für das Publikum eine Tradition, die rechte Maß. Die Pioniere der Soziologie haben, diese Mikroperspektive in ihr Zentrum stellte, na- wenn sie sich der Bedeutung der Medien zuwand- hezu verstummt ist. Seit dem Sammelband, den ten, einhellig den verbindenden Effekt als solchen Karl Erik Rosengren und andere 1995 herausgege- hervorgehoben: die Durchdringung der Gesellschaft. ben haben („Media Gratifications Research“), hat In einer frühen Analyse bilden die Medien das „Uses and Gratifications“ deutlich an wissen- Rückgrat der sozialen Kommunikation, sie werden schaftlicher Präsenz verloren. (11) Dabei ist die als „soziales Nervensystem“ zusammengefasst. (8) Frage, welche Rolle dem Publikum denn nun zu- kommt, wie aktiv es ist und woran man diese Akti- Identitätsprobleme Für John Dewey liegt die Bedeutung der Kommu- vität festmachen kann, nicht obsolet geworden. der modernen nikation darin, dass sie Individuen hilft, sich in (12) Industriegesellschaft einer Welt voller Impulse zurechtzufinden, und den Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten werden in Prog- Zusammenhalt von Gesellschaft ermöglicht. Die nosen über die Zukunft des Lesens, Sehens und Industrialisierung und das schnelle Wachstum der Hörens Erwartungen aus Nutzerperspektive integ- Wirtschaft sind seiner Ansicht nach die Auslöser riert. Impliziert waren somit stets auch Erwartun- für ein Auseinanderdriften sozialer Systeme. In gen über den Wandel des Nutzerverhaltens. Ein dem von ihm sogenannten „Machine Age“ ist eine Satz wie „Wir senden, was die Leute sehen wollen Öffentlichkeit entstanden, die irritiert und unfähig sollen“ (13) wirkt im Kontext der heutigen Medien- ist, sich selbst Identität zu verleihen. (9) Der Zu- strukturen wie eine unerträgliche Bevormundung sammenhalt der Menschen könne nur ermöglicht des Publikumsgeschmacks. werden, wenn den ehemals kleinen dörflichen Ge- Erreichbarkeit aber blieb definitiv ein Kriterium meinschaften, die im Zeitalter der Maschinen zer- von langer Dauer. Denn zeitgleich oder zeitversetzt fielen, eine „Great Society“ folgt, die auch gegen- spielt angesichts der vielen Möglichkeiten, bei- seitiges Mitfühlen ermöglicht. Für Dewey spielen spielsweise aktuelle Nachrichten zu sehen, keine bei der Herstellung dieses Mitgefühls die Kommu- Rolle. Unter der Überschrift „Das letzte Massen- nikationstechnologien, wie z. B. Telefon oder Radio, medium“ wurde die beiläufige Wahrnehmung von eine wichtige Rolle. Plakaten in der Öffentlichkeit genannt, um an- schließend die hohe Flexibilität in der Zielgruppen- Keine eindeutige Aus der „Nervenzellen“-Debatte ist die Diskussion ansprache zu loben. Dort, wo beispielsweise Par- Definition des um die Qualität des Phänomens „Massenkommu- tygänger sich sportlich auf den Abend vorbereiten, Publikums