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Lukas Christensen / Monika Fink (Hgg.)

MUSICOLOGICA IUVENIS Online-Jahresschrift für Junge Musikwissenschaft in Österreich

»Den Jüngeren über die Schulter geschaut« Nr. 1 / 2010 Inhaltsverzeichnis Vorwort zur ersten Ausgabe 1

Lukas Christensen und Monika Fink Vorwort zur ersten Ausgabe

Das Internet – mittlerweile allgegenwärtig und aus dem alltäglichen Leben nicht mehr wegzudenken – hat auch Einzug in die Arbeitsfelder der Wissenschaften gefunden. Bücher, Zeitschriften und Verzeichnisse jeglicher Art werden in digitalisierter Form neu aufgearbeitet und in nachhaltigen Systemen konserviert. Die vorliegende elektronische Jahresschrift macht sich die Vorzüge des weltweiten digitalen Netzwerkes zum Nutzen und soll angehenden Musikwissenschaftlern1 ermögli- chen, ihre Studienergebnisse einem breiteren Publikumskreis zu präsentieren. Angeregt wurde dieses Vorhaben vor allem durch das Publikations-Netzwerk textfeld2, durch die Online-Publikation Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft3, sowie durch das Projekt historia.scribere4 der Institute für Alte Geschichte und Altorientalistik, Geschichte und Ethnologie sowie Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Der Titel der ersten Ausgabe, »Den Jüngeren über die Schulter geschaut«, stammt vom gleichnamigen Beitrag Ernst Kreneks, welcher im ersten Band des von 1955 bis 1962 herausgegebenen Aperiodikums die Reihe publiziert wurde.5 Krenek schilderte darin den Umgang von Komponisten der damaligen jüngeren Generation mit der vorseriellen Musik. Auf ähnliche Weise soll in Musicologica iuvenis der Umgang mit unterschiedli- chen Forschungsfragen, mit welchen sich junge Musikwissenschaftler befassen, beleuchtet werden. »Über die Schulter schauen« steht im Sinne dieser Jahresschrift auch nicht für die Kontrolle von Arbeitsprozessen der Studierenden, sondern vielmehr für den Versuch, einen Einblick zu verschaffen, wie die heutige Junge Musikwissenschaft arbeitet und wie sich diese Ausführungen an den unterschiedlichen musikwissenschaftlichen Instituten in Österreich gestalten. Jedes musikwissenschaftliche Institut in Österreich besitzt die Möglichkeit, Seminar- und Bachelorarbeiten für die Aufnahme in Musicologica iuvenis auszuwählen. Dabei werden ausschließlich Arbeiten von hoher Qualität für die Publikation akkreditiert. In Bezug auf die Themenwahl gibt es keine Beschränkung. Folgende Arbeiten wurden für diese Ausgabe ausgewählt:

1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechtsneutrale Differenzierung verzichtet. Ent- sprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter. 2Verein textfeld – wissenschaftliche Kommunikation, textfeld.ac.at, URL: http://www.textfeld.ac.at. 3Anette Förger u. a. (Hgg.), Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft, URL: http://www.fzmw.de. 4Gunda Barth-Scalmani/Irene Madreiter/Eva Pfanzelter-Sausgruber (Hgg.), historia.scribere, URL: http://historia.scribere.at. 5Ernst Krenek, »Den Jüngeren über die Schulter geschaut«, in: Herbert Eimert (Hrsg.), Elektronische Musik (=die Reihe. Information über serielle Musik, Bd. 1), Wien 1955, S. 31–33. Vorwort zur ersten Ausgabe 2

• Jonas Traudes, Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unter- haltungsform? Lehrveranstaltung: »Aspekte der Oper im 17. und 18. Jahrhundert« (WS 2008/2009) Lehrveranstaltungsleiter: Univ.-Prof. Dr. Michael Walter, Graz

• Andreas Holzmann, World Music im Jazz – Jazz in der World Music Lehrveranstaltung: »World Music – Kunst oder Kitsch« (WS 2008/2009) Lehrveranstaltungsleiter: PD. Dr. Raymond Ammann, Innsbruck

• Raphaela Stadler, Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte Lehrveranstaltung: »Olivier Messiaen« (SS 2009) Lehrveranstaltungsleiterin: A. Univ.-Prof. Dr. Monika Fink, Innsbruck

• Antonia Zangger, Die Verzierungen des Schubertsängers Bachelorarbeit (2009) Betreuerin: Univ.-Prof. Dr. Simone Heilgendorff, Klagenfurt

Eine Besonderheit stellt Antonia Zanggers Arbeit Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl dar: Es handelt sich hierbei um die erste musikwissenschaftliche Bachelorarbeit aus Österreich. Sie entstammt dem noch jungen, im Jahr 2007 gegründeten Bachelor- und Masterstudiengang »Angewandte Musikwissenschaft« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Für die kommenden Ausgaben ist geplant, Arbeiten sämtlicher musikwissenschaftlicher Institute aus Österreich sowie Beiträge aus dem jährlich stattfindenden »Symposium der Jungen Musikwissenschaft« der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft in die Publikation aufzunehmen.

Die Herausgeber Lukas Christensen und Monika Fink Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 3

Jonas Traudes Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert Eine populäre Unterhaltungsform?

1 Einleitung

Das Fundament der öffentlichen Oper ist ihr Publikum, und es ist dieses spezifische Publikum, das die vielfältigen Bedingungen an die Gattung in ihrem historischen Kon- text stellt. An diesen Bedingungen zeigt sich die Oper nicht lediglich als künstlerisches Werk, sondern darüber hinaus als soziales, politisches und wirtschaftliches Ereignis. Da die »Publikumsfrage« für die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts aufgrund der Quellen- lage für einen Großteil des Publikums »speculative«1 ist, wird in dieser Arbeit gewisser- maßen ein methodischer Umkehrschluss vorgenommen. In diesem liegt die Bemühung, jene Bedingungen von verschiedenen Seiten zu beleuchten, um Rückschlüsse über die Publikumszusammensetzung zu ziehen: von einer kritischen Bewertung der paradigma- tischen und in ähnlicher Weise häufig auch in anderen Publikationen anzutreffenden, sozio-ästhetischen Argumentation Ellen Rosands, die davon ausgeht, in der Ästhetik der venezianischen Oper im 17. Jahrhundert eine gewisse »Volkstümlichkeit« zu erkennen, über die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Realität als Voraussetzung des Opernbe- triebes, bis zu dessen Abhängigkeitsverhältnissen und sozialen Beschränkungen. Im Blickpunkt des Interesses liegt die Entwicklung der Gattung zwischen 1637 und 1678, also der Zeitraum ab dem Beginn des öffentlichen Opernbetriebes in Venedig mit dem Teatro S. Cassiano bis zur Eröffnung des letzten Operntheaters S. Giovanni Grisostomo, das eng verbunden war mit den Reformbestrebungen der venezianischen Oper ab den 1680er Jahren.2 Es handelt sich dabei um einen Zeitraum, in dem ästhetische Maßstäbe und Konventionen zunächst etabliert und dann relativ konstant beibehalten wurden.3 Letztlich soll Aufschluss darüber gewonnen werden, ob es mit der neuartigen Einrichtung der öffentlichen Oper in Venedig, auch im Vergleich zur höfischen Oper, zu einer Publi- kumszusammensetzung im Sinne der weit verbreiteten Ansicht einer vermeintlich popu- lären Unterhaltungsform kommen konnte. Hierbei soll ein Beitrag zur kontextbezogenen Untersuchung der Oper dieses Zeitraumes geleistet werden, die, wie bereits angedeutet, ein komplexes kulturelles Phänomen über das »pure« Kunstwerk hinaus darstellt, das 1Beth L. Glixon/Jonathan E. Glixon, Inventing the Business of Opera. The Impresario and His World in Seventeenth-Century Venice, New York 2006, S. 304. 2Vgl. Ellen Rosand, Opera in Seventeenth-Century Venice. The Creation of a Genre, Berkeley u. a. 1991, S. 396–398. 3Vgl. ebda., S. 3 und 402–404. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 4 nach rein ästhetischen Maßstäben und den damit verbundenen Methoden der Musik- und Textanalyse kaum vollständig ergründet werden kann.

2 Ästhetik und sozioästhetische Argumentation

2.1 Ästhetische Veränderungen

In der theoretischen Auseinandersetzung der Librettisten mit der Gattung in Venedig ist eine Wertverschiebung festzustellen, die der Oper, mit zunehmendem Selbstbewusstsein als eigenständige Kunstform,4 mehr und mehr Unterhaltungswert zugestand. Dies war mit einiger intellektueller Anstrengung verbunden, da nach wie vor die Regeln antiker Theoretiker, wie die des Aristoteles oder des römischen Dichters Horaz, gewisse Autorität für die Dramentheorie besaßen und damit auch Anspruch auf das dramma per musica erhoben. Somit fanden sich in Libretti und anderen Schriften bis in die 1640er Jahre, mit- unter sehr gezwungen bemühte Rechtfertigungsversuche der Librettisten. Dies geschah einerseits im Verweisen auf andere Opern, andererseits durch das Berufen auf einen an- geblich vorherrschenden modernen Geschmack,5 den es zu befriedigen gelte. Librettis- ten wie Giacomo Castoreo versuchten zunächst die Verantwortung von sich zu weisen: »If I have not maintained either decorum in the characters or verisimilitude in the inci- dents, do not find fault with me, since I am following the misguided custom, introduced by many and practiced by all.«6 Entschuldigte sich der Librettist hier noch als »Sklave« des schlechten Geschmacks, bekannten sich andere offener zum primären Unterhaltungszweck der Oper, wie folgendes Zitat Vincenzo Nolfis belegt, das eher typisch für die Auffassung nach der Jahrhundertmitte sein dürfte: »Of the two aims of poetry that Horace taught, only pleasure remains. In this age men have no need to learn the way of the world from writings of others.«7 Das theoretische Bekenntnis zur Unterhaltungsfunktion korrelierte dabei mit ästhetischen Merkmalen, die in ihrer Form neu für die Gattung der Oper waren und im Folgenden zusammengefasst werden sollen. Die venezianische Oper war von für das Publikum überwältigenden, illusionistischen Effekten der Bühnentechnik und des Bühnenbildes geprägt, deren Entwicklung und hoher Stellenwert in der Person Giacomo Torelli begründet lagen.8 Ein weiteres Merkmal

4Ebda., S. 66. 5Vgl. ebda., S. 56–58. 6Giacomo Castoreo im Vorwort seines Librettos von Pericle effeminato (1653), zitiert nach ebda., S. 59. 7Vincenzo Nolfi im »scenario« (Ankündigungs- und Werbeschrift) zu Il Bellerofonte (1642), zitiert nach ebda., S. 57. 8Vgl. ebda., S. 96 und 106. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 5 war die zunehmend freie Vermischung komischer bzw. komödiantischer und tragischer Elemente. Dies zeigt sich beispielweise in der Einführung eines lieto fine in tragischen Vorlagen, die Giulio Strozzi bereits 1621 für seine Tragödie L’Erotilla mit dem gegenwär- tigen Geschmack rechtfertigte, der die Aussicht auf größere emotionale Hingebung für das Bühnengeschehen einfordere.9 Unter ähnlichen Vorwänden wurden durch die Librettisten komische Nebenfiguren eingeführt oder Charaktere komisch umgedeutet.10 Es spiegelte sich in der venezianischen Oper auch eine tiefgreifendere Beschäftigung11 und offenere Darstellung menschlicher Konflikte, Gefühle und sexueller Begierden wider.12 Gegen den Einwand der Plausibilität wurden zunehmend geschlossene musikalische Formen konven- tionalisiert. Darin lag insbesondere durch die Da-Capo-Arie ein geradezu »hedonistic con- tract between audience and singers«13. Die Sujetwahl der Librettisten erstreckte sich über Mythologie, meist nach Ovid, mytho- logische Epen mit historischer Dimension nach Vergil oder Homer,14 eher zeitgenössische Epen von Ariosto oder Tasso und erstmals historische Stoffe. Die Handlungsrichtung wur- de dabei zunehmend von menschlichen Charakteren anstelle des Eingreifens übernatür- licher Kräfte bestimmt.15 Durch das Auftreten der typischen Diener- und Ammenrollen tauchten Charaktere unterschiedlicher sozialer Schichten auf der Bühne auf. Das Publikum wurde in Venedig zum direkten Adressaten.16 Es finden sich in Libretti Anspielungen auf den Opernbetrieb und den Inhalt anderer Opern. Alltäglichkeiten und Moden wurden ironisiert, bis hin zu Parodien auf aktuelle Themen, die in intellektuel- len Kreisen diskutiert wurden.17 Vor allem aber war die Oper von einem patriotischen

9Vgl. ebda., S. 61. 10Zum Beispiel die durch Giacomo Badoara vorgenommene Umdeutung der mythologischen Figur des Iros in Il ritorno d’Ulisse in patria (1641). Vgl. ebda., S. 63. 11In der Accademia degli Incogniti, die maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Oper in Venedig hatte (vgl. Kapitel 3.3 »Kulturelle Spezifika«), war Sexualität ein Thema der intellektuellen Auseinan- dersetzung. Vgl. Edward Muir, »Why Venice? Venetian Society and the Success of Early Opera«, in: The Journal of Interdisciplinary History, Vol. 36 (2006), No. 3, S. 341 und 345. 12Vgl. Rosand 1991, S. 8. Ein Beispiel wäre die Oper Adone (1640) von Paolo Vendramin und Francesco Manelli, die Rosand als offensichtlich »hedonistic and amoral« bezeichnet. Ebda. S. 57–58. Auffallend offene Darstellung von Sexualität findet sich beispielweise auch in La Calisto (1651) von Giovanni Faustini und Francesco Cavalli. 13Ebda., S. 7. 14Rosand argumentiert, dass die Historizität der Epen als linear kausale Ereignisketten höheren Anspruch an Plausibilität auf der Bühne erhoben. Ebda., S. 60. 15Dieser Umstand wird insbesondere von Giulio Strozzi für sein Libretto der Oper La finta pazza (1641) betont. Vgl. ebda., S. 94. Dass selbst in Opern mit historischen Sujets das für die Handlung entschei- dende Eingreifen der Götter praktiziert wurde, beweist Amor in der L’incoronazione di Poppea (1642) von Giovanni Francesco Busenello und Claudio Monteverdi. 16Dies zeigt Rosand beispielhaft an der Oper La finta pazza auf, bei der Charaktere teilweise einen das Bühnengeschehen beobachtenden Standpunkt einnehmen. Oder das Publikum wird, sprachlich gekenn- zeichnet, direkt angesprochen. Vgl. ebda., S. 113 und 116. 17Beispielhaft an der Oper La finta pazza. Vgl. ebda., S. 115–116. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 6

Grundton gefärbt. Über die für das venezianische Publikum (das sich als wahrer Erbe der Trojaner verstand) »genealogical implications«18 der Mythologie um den Trojanischen Krieg hinaus, die in vielen Opernlibretti thematisiert wurde, huldigte man der Republik auch explizit. Im Prolog von Il Bellerofonte (1642, Libretto von Vincenzo Nolfi) erfuhr die Stadt beispielsweise Lobpreisung durch die allegorischen Figuren Innocenza und Ast- rea. Die klare Referenz fand sich hier im Bühnenbild, wo im Hintergrund das Stadtbild Venedigs zu erkennen war:

City wise, rich, and noble over any the world admires, Sparta, Athens, and Stagira are but a modest shadow of your greatness. Henceforth the ages to come will see Heaven, swollen with light, rush to your shores as a river to pay you tribute.19

Ein Bezug zu Venedig kann auch in der Konvention der Verkleidung und Verwechslung gesehen werden, die auf den Karneval deutete.20 Der Bekanntheitsgrad einiger Sängerin- nen und Sänger, insbesondere der Starcharakter von Darstellerinnen der prima donna und dessen erstmalige Personifizierung durch Anna Renzi setzte die Oper zusätzlich in Beziehung zur Lebenswirklichkeit des Publikums.21

2.2 Sozioästhetische Argumentation

Die der venezianischen Oper zugrunde liegenden hedonistischen, realistischen und pu- blikumsbezogenen Merkmale, unter der Voraussetzung einer Verschiebung vom primär moralischen hin zu einem Unterhaltungszweck, werden vielfach mit einer vermeintlichen Veränderung der sozialen Zusammensetzung des Publikums in Verbindung gebracht. Ellen Rosand behauptet: »[...] opera has survived because it is essentially a popular art, be- cause it has managed [...] to entertain audiences from a broad range of society.«22 Die Oper liefere demnach einen ästhetischen Unterhaltungswert populärer Art, der ein breites soziales Feld anspreche und angesprochen habe. Über die Oper La finta pazza (1641), die Rosand als »model of the new Venetian genre«23 einschätzt, urteilt sie:

Because it exploited theatrical experience in the broadest possible way, La finta pazza could appeal to a wide and complex public, patrician and common, Venetian and

18Ebda., S. 113. 19Zitiert nach ebda., S. 135. 20Vgl. ebda., S. 120–121. 21Das Phänomen um Anna Renzi geht so weit, dass ihr zu Ehren 1644 die Schrift Le glorie della signora Anna Renzi romana veröffentlicht wird. 22Rosand 1991, S. 9. 23Ebda., S. 112. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 7

foreign. [...] By its bold and basic music-theatricality, it provided a mirror in which a broad spectrum of society, not only Venetians, could see itself reflected.24

Zusätzlich informiert uns die Autorin hier über den notwendigen direkten und publi- kumsbezogenen, identifikatorischen Aspekt der Oper, der in Zusammenhang mit einem entsprechend breiten Publikum stehen soll. Allerdings lässt sich der »Geschmack« ver- schiedener sozialer Schichten für das 17. Jahrhundert nur schwerlich rekonstruieren und jeder Versuch ist grundsätzlich eher spekulativ. Das einzige, aber nur scheinbar treffen- de Argument für eine Identifikation breiter Bevölkerungsschichten mit dem Bühnenge- schehen könnte das Auftreten von Charakteren aus verschiedenen Gesellschaftsschichten darstellen. Dabei wird allerdings übersehen, dass es sich bei den Charakteren niedriger Schichten,25 typischerweise komische Ammen- oder Dienerrollen, stets um solche han- delte, die sich im unmittelbaren Umfeld hoher sozialer Schichten bewegten. Exkludiert ist, zumindest auf der Bühne, wer nicht zur direkten Umwelt des Adels oder des rei- chen Bürgertums gehörte, und selbst die Ammen- und Dienerrollen hatten wohl oft nur den Zweck, dass man sich aufgrund überspannter Charakterzeichnung auf deren Kosten amüsieren konnte. Ein umfassendes und realistisches Bild der popolani, als notwendige Voraussetzung für die Identifikation dieses gesellschaftlichen Standes mit dem Bühnen- geschehen, wird nicht gezeigt.26 Tatsächlich bleiben daher keine schlüssigen Argumente für Rosands These, vielmehr wird das breit gestreute Publikum für darauf aufbauende Ausführungen bereits vorausgesetzt. Woher diese Voraussetzung stammen könnte, wird daran deutlich, dass die Autorin die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts als »art of opera itself«27 beschreibt. Tatsächlich finden sich viele Konventionen der Oper im 19. Jahrhundert bereits im barocken Venedig wieder. Offensichtlich setzt Rosand allerdings an dieser Stelle die nachvollziehbare ästhetische Identität mit einer Identität der Publi- kumszusammensetzung gleich, das moderne bürgerliche Publikum wird fälschlicherweise auf das Publikum des 17. Jahrhunderts projiziert.

24Ebda., S. 124. 25Wenn diese überhaupt einer realen sozialen Schicht zuzuordnen sind, was bei mythologischen Sujets entsprechend schwierig ist. 26Es tauchen beispielsweise keine Soldaten, Händler, Handwerker, Arbeiter o.ä. auf, die mit Sicherheit das Stadtbild entscheidend prägten. 27Rosand 1991, S. 8. An anderer Stelle: »The history of its [the operas] origins in Venice is the story of the beginning of the art as we still know it.«. Ebda., S. 9. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 8

3 Gesellschaftliche Voraussetzungen

3.1 Soziale Realität

Welche Konsequenzen die sozioästhetische Behauptung einer sozial breiten Streuung des Opernpublikums impliziert, offenbart sich bei der Rekonstruktion der sozialen Realität des Frühbarock. Die aus dem Mittelalter fortgeführte Ständegesellschaft brachte eine extreme soziale Ungleichheit, mit in der Regel unüberwindbaren Standesgrenzen mit sich. Die so- ziale Schere zeigte sich im materiellen Besitz, insbesondere aber auch in der Bildung. Der Alphabetisierungsgrad der europäischen Bevölkerung begrenzte sich auf die kleine Min- derheit des Adels, des Klerus und des städtischen Bürgerstandes, eine soziale Schicht, die des Berufes und Status wegen auf verschriftlichtes Wissen angewiesen war.28 In Venedig bildete sich diese Schicht zu gleichen Teilen aus Adel, der aus bestimmten Patrizierfami- lien mit männlichem Erbrecht bestand, und cittadini, einem Stand von wohlhabendem Bürgertum, die im staatlichen Dienst als Richter, Notare oder Beamte arbeiteten und in der Regel zusätzlich über gute private Einkünfte verfügten. Vier Fünftel der Bevölkerung bildeten das gemeine Volk (popolani), vom Händler bis zum Bettler.29

3.2 Venedig in Handel, Wirtschaft und Außenpolitik

Der Entstehungszeitraum der öffentlichen Oper fiel zeitlich mit der finalen Phase des Nie- dergangs der außenpolitischen Vormachtstellung Venedigs im Mittelmeerraum und, damit eng verbunden, seiner Bedeutung als Handelszentrum zusammen. Der Verlust der Insel Zypern an das Osmanische Reich 1573 war Zeichen des bröckelnden Status als Kolonial- und Weltmacht. Besiegelt wurde das Schicksal der Republik spätestens 1669 mit dem En- de der über zwei Jahrzehnte dauernden Belagerung von Candia und dem Verlust der Insel Kreta. Auch innerhalb Italiens engagierte sich die Republik erfolglos militärisch, zeitnah z. B. 1628 im gemeinsamen Kampf mit den Franzosen um Mantua, gegen den zunehmen- den habsburgerischen Einfluss in Italien. Mit der schwindenden Kontrolle der Seewege nach Osten verschoben sich die Handelsmonopole nach England und Holland, auch die Produktionen der venezianischen Manufakturen waren rückläufig.30 Die soziale Situation wurde durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges in Europa, und 1630 zusätzlich durch eine sechzehnmonatige Pestkatastrophe verschärft, die über ein

28Vgl. Richard van Dülmen, Religion, Magie, Aufklärung. 16.–18. Jahrhundert (=Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 3), München 1999, S. 153. 29Zu den sozialen Ständen Venedigs im 17. Jahrhundert vgl. Glixon/Glixon 2006, S. 338–339. 30Vgl. Muir 2006, S. 352–353. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 9

Drittel der Bevölkerung das Leben kostete. Der Republik blieb kaum anderes möglich, als sich als Haupteinnahmequelle auf den Karnevalstourismus zu konzentrieren.31

3.3 Kulturelle Spezifika

Nach der Verbannung des Jesuitenordens aus der Republik 1606 entstand in Venedig eine Phase außergewöhnlicher Meinungsfreiheit und die Republik wurde zum Anziehungspunkt für kritische, freigeistige Intellektuelle aus ganz Italien.32 Überdies hatte man mit der Ver- treibung der Jesuiten auch der »most vociferous anti-theater lobby«33 den Einfluss entzo- gen. Das Sammelbecken der Intellektuellen war in erster Linie das »cosmopolitan Italian network«34 der Accademia degli Incogniti, die sich mit aufklärerischer Offenheit, nicht selten geradezu blasphemisch, mit religiösen, ethischen, moralischen und sexuellen Fragen beschäftigten, sowie scharfe Kritik an Gegenreformation, Papst und Jesuiten übten.35 Der Einfluss der Incogniti auf die venezianische Oper, insbesondere durch die enormen Erfolge des Teatro Novissimo, dessen treibende Kraft die Akademie war,36 scheint zentral für die weitere Entwicklung der Gattung gewesen zu sein. Ellen Rosand kommt diesbezüglich zu folgendem Schluss: »[...] the Incogniti [...] had a fundamental influence on the definition of opera as a genre; their impact on its social, practical, and economic structure [...] was equally profound.«37

4 Abhängigkeiten des Opernbetriebes

4.1 Repräsentation in der öffentlichen Oper

Das Finanzierungssystem der venezianischen Oper unterschied sich grundsätzlich von dem der höfischen Oper. Im Mittelpunkt stand hier der Impresario, der für die Organisation und Finanzierung einer Produktion verantwortlich war. Die Theaterbesitzer, in der Re-

31Vgl. Antje Rößler, »Kommerzialisierungsprozesse in der Venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts«, in: Christian Kaden/Volker Kalisch (Hgg.), Professionalismus in der Musik. Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22. bis 25. August 1996 (=Musik-Kultur, Bd. 5), Essen 1999, S. 163. 32Muir 2006, S. 331–332. 33Ebda., S. 337. 34Ebda., S. 339. 35Vgl. ebda., S. 341–343. 36Einzelne Vertreter der Akademie waren auch in anderen Opernproduktionen tätig, deren intellektueller Einfluss ging also nicht nur vom Novissimo aus. Vgl. ebda., S. 346. 37Rosand 1991, S. 89. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 10 gel Patrizierfamilien, waren an der Oper meist nur rein finanziell interessiert.38 Adlige Förderer oder Teilhaber blieben für das Publikum oftmals anonym,39 Widmungen an adlige Persönlichkeiten in Libretti und anderen Veröffentlichungen waren oft ohne direkte (finanzielle, politische oder gar geographische) Beziehung zur Opernproduktion.40 Dem- nach kann nicht von einem Repräsentationszweck die Rede sein, der mit der höfischen Situation vergleichbar wäre. Der Impresario als Verantwortlicher der Produktion traf in der Regel alle Entscheidungen selbstständig41 und war primär vom zahlenden Publikum abhängig. Die öffentliche Oper bewirkte damit eine eher indirekte Repräsentation für die das Theater besitzende Patrizierfamilie im Speziellen und für die Republik Venedig im Generellen.

4.2 Finanzielle Abhängigkeit des Opernbetriebes

Am Beispiel der Finanzierung der Opernsaison 1657/1658 am Teatro S. Aponal, das vom Impresario Marco Faustini gemietet wurde, zeigt sich die ungefähre Kosten- und Ein- nahmenverteilung einer Opernproduktion.42 Hierbei handelte es sich um eine relativ er- folgreiche Saison, sodass 50 Prozent der Kosten über den Verkauf von Tickets und die Vermietung von Stühlen für das Parkett gedeckt werden konnten. Von diesen Einnahmen stammten etwa zwei Drittel vom Logenpublikum.43 Etwa 30 Prozent der Kosten wurden von adligen Geldgebern gedeckt, demnach hatte Faustini selbst 20 Prozent der Kosten zu begleichen. Der Impresario konnte allerdings mit den Einnahmen von etwa 2500 Dukaten durch die Logenmiete rechnen, so blieb ihm am Ende noch ein Gewinn von 300 Duka- ten. An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Opernbetrieb finanziell vor allem vom Logenpublikum, also einem primär patrizischen Publikum, sowie adligen Geldgebern, ob im Sinne einer Teilhabe oder Förderung sei dahingestellt, abhängig war. Dass in erster Linie die Anforderungen dieses Standes an die Oper bezüglich Inhalt und Ästhetik, aber auch als soziales Ereignis,44 erfüllt werden mussten, ist naheliegend. Zumindest die Logen wurden vor dem Saisonstart in Unkenntnis des Programmes gemietet, hier bestand also eine eher langfristige Abhängigkeit.45

38Glixon/Glixon 2006, S. 318. Hier erwähnen die Autoren auch die berühmte Ausnahme der Grimani- Familie. 39Vgl. ebda., S. 321–322. 40Ebda., S. 317. 41Rosand 1991, S. 80. Vgl. auch Glixon/Glixon 2006, S. 317. 42Vgl. für die folgenden Daten Glixon/Glixon 2006, S. 320–321. 43In den Logen befanden sich zum Großteil Adlige der Patrizierfamilien und verschiedene ausländische Gäste, darunter Botschafter. Vgl. ebda., S. 295. 44Dass der Opernbesuch eine kulturelle sowie soziale Aktivität war, zeigt ebda., S. 313–314. 45Vgl. ebda., S. 319. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 11

5 Soziale Beschränkungen

5.1 Ticketpreise

Der Preis für ein bolletino, die Eintrittskarte für eine Opernvorstellung, hielt sich seit Anfang der öffentlichen Oper bis 1674 auf dem konstanten Preisniveau von vier Lire in allen Theatern.46 Zusätzlich konnte ein Stuhl für das Parkett gemietet werden.47 Ohne Informationen über die Bedeutung der Oper für weite Teile der Bevölkerung ist schwerlich zu rekonstruieren, wieviel man bereit war, finanziell dafür aufzuwenden. Möglicherweise handelte es sich bei dem Opernbesuch um eine soziale Verpflichtung, oder eine Art Sta- tussymbol. Bianconi und Walker haben in einem Vergleich allerdings gezeigt, dass ein Opernbesuch für die große Mehrzahl der popolani kaum erschwinglich sein konnte, da die Kosten für einen Opernbesuch dem Tageslohn eines Arbeiters (des Opernbetriebes) gleichkamen oder diesen sogar übertrafen.48

5.2 Bildung

Die Handlungen der venezianischen Opern des 17. Jahrhunderts sind in der Regel komplex und voller subtiler Anspielungen.49 Es wurde daher die genaue Kenntnis der Sujetvorlage aus griechischer Mythologie, Epen oder Historie vorausgesetzt, ohne die bestimmte Hand- lungselemente nicht nachvollziehbar wären. Die Komplexität könnte ein Grund gewesen sein, dass sich der Librettodruck vor die Opernaufführung, »da rappresentarsi«, verlagerte und sich damit die Praxis etablierte, während der Vorstellung das Libretto mitzulesen. Über das Libretto hinaus wurde erstmals mit La finta pazza eine umfassende »systematic public relations campaign«50 betrieben, die die Veröffentlichung einer zusätzlich ankün- digenden Werbeschrift (»scenario«) und des umfangreichen Buches Cannocchiale per le finta pazza, sowie einer zweiten Auflage des Librettos nach Saisonende umfasste.51 Die Zielgruppe dieser kostspieligen Propaganda musste zumindest über Lesekenntnisse sowie über ein Maß an Bildung verfügen, zu dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Zugang hatte.

46Die Reduzierung der Ticketpreise ab 1674 wird im Kapitel 5.3 »Der Pöbel als Argument für den Verfall der Oper« diskutiert. 47Vgl. Glixon/Glixon 2006, S. 306–307. 48Lorenzo Bianconi/Thomas Walker, »Production, Consumption and Political Function of Seventeenth- Century Opera«, in: Early Music History, Vol. 4 (1984), S. 227. 49Zum Beispiel Anspielungen auf das Kastratentum durch mehrdeutige Metaphern. Vgl. dazu Rosand 1991, S. 118. Vgl. dazu auch Kapitel 2.1 »Ästhetische Veränderungen«. 50Rosand 1991, S. 110. 51Vgl. ebda., S. 91–98. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 12

5.3 Der Pöbel als Argument für den Verfall der Oper

Am Teatro S. Moisè kam es 1674 durch den Impresario Francesco Santurini zu einer Verringerung der Ticketpreise des bisher konstanten Preisniveaus von vier Lire auf ein Viertel Dukat (weniger als zwei Lire). Innerhalb der nächsten sechs Jahre schlossen sich alle anderen Theater dem geringeren Eintrittspreis an, mit Ausnahme des 1678 eröffneten Theaters S. Giovanni Grisostomo der Familie Grimani, die am alten Preis von vier Lire festhielt.52 Der Librettist Cristoforo Ivanovich nahm auf die Preiskonkurrenz in seinen Memorie teatrali di Venezia 1681 mit einem Beklagen über den Verfall der Oper Bezug:

Profits at the door, the basis of the business investment, instead of growing are dimi- nishing, evidently endandering the continuation of this noble entertainment. The low price eliminates the possibility of maintaining the customary splendor, allows entry to the ignorant and riotous multitudes [il Volgo ignorante, e tumultuario], and cau- ses those virtuous works performed no less for delight than for profit to lose their decorum.53

Als Librettist unter dem Schutz der Grimani-Familie war Ivanovich sicherlich kein nüch- terner, objektiver Chronist. Sein erstes Argument der niedrigeren Profite ist nicht korrekt dargestellt,54 wie dem Librettisten durch seinen guten Einblick in den Opernbetrieb be- wusst gewesen sein dürfte. Eine signifikante Veränderung der sozialen Zusammensetzung des Publikums,55 die von Ivanovich beschrieben wurde, ist bei einer lediglichen Halbie- rung des Ticketpreises unwahrscheinlich,56 insbesondere vor dem gesellschaftlichen Hinter- grund einer extremen sozialen Schere. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass man mit dieser in gewisser Hinsicht konsumpsychologischen Maßnahme das bereits etablierte potentielle Publikum zu mehreren Opernaufführungen an einem Abend und zum mehrfachen Be- such einer Oper bewegen wollte.57 Mit der Kritik an den niedrigen Preisen hielt Ivanovich hier implizit, an anderen Stellen auch explizit,58 den hohen Standard und noblen Ruf des Grimani-Theaters S. Giovanni Grisostomo hoch, wo man demnach mit den pöbeln-

52Vgl. Glixon/Glixon 2006, S. 306. 53Zitiert nach Rosand 1991, S. 391–392. 54Immerhin war für Santurini die neue Preispolitik so profitabel, dass er 1677 das Teatro S. Angelo bauen lassen konnte. Vgl. ebda., S. 391. 55Die Auffassung der »sozialen Öffnung« mit den geringeren Ticketpreisen wird zum Beispiel vertreten von Rößler 1999, S. 167. 56Bianconi und Walker folgend (vgl. Kapitel 5.1 »Ticketpreise«, S. 10), würde ein einzelnes Ticket dann etwa mindestens einem halben Tageslohn entsprechen – immer noch kaum erschwinglich. 57Der mehrfache Besuch einer Oper war gewissermaßen der »key to the success of a season« für den Impresario. Vgl. Glixon/Glixon 2006, S. 312. Von diesen Autoren wird auch die übliche Praxis des »theater hopping« erwähnt. Vgl. ebda. S. 313. 58Rosand 1991, S. 395–398. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 13 den Massen nicht in Berührung käme. Dass das zur Besorgnis aufrufende Argument, der niedrigere Preis erlaube dem Pöbel den Zutritt, überhaupt greifen konnte, offenbart, dass die Opernhäuser eng mit einer bestimmten sozialen Begrenzung, die die gewünschte Stan- desgemäßheit und Prunkhaftigkeit garantieren sollte, verbunden waren. Demnach standen sie keineswegs selbstverständlich jedem offen und wurden von allen Bevölkerungsschichten besucht.

6 Ergebnis

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Situation Venedigs, die im 17. Jahrhundert durch die Pest, die kostenintensiven, erfolglosen militärischen Aktionen und durch den stagnierenden Handel bestimmt wurde, fehlte die Basis, um eine teure und elaborierte Unterhaltungsform wie die Oper einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen. Auch deutet sich an Eintrittspreisen, vorausgesetzter Bildung und der Ar- gumentation Ivanovichs in seinen Memorie teatrali eine soziale Beschränkung auf hohe Schichten an. Finanziell war die Oper in erster Linie vom Logenpublikum, also einem weit- gehend adligen Publikum abhängig und musste damit primär dessen ästhetische, soziale und politische Anforderungen an die Oper langfristig garantieren. Eine sozioästhetische Argumentation, die von einer starken Identität der Oper des 19. Jahrhunderts mit der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts ausgeht, ist nicht zielführend, da die sozialen Voraussetzungen im 19. Jahrhundert grundsätzlich verschieden waren: Im 17. Jahrhun- dert ist keine gesellschaftliche Mitte des gebildeten Bürgertums vorhanden gewesen, die die Oper hätte tragen können.59 Es müssen demnach alternative Erklärungen für die ästhetischen Veränderungen der Gat- tung in Venedig gesucht werden. Venedig befand sich im Zeitraum der Entstehung der öffentlichen Oper als multikulturelles Zentrum, insbesondere durch die Verbannung der Je- suiten, in einem außergewöhnlich offenen kulturellen Klima. Venedig wurde zum Zentrum für »freigeistige« Intellektuelle, die entscheidend bei der Gestaltung der Gattung betei- ligt waren. Dafür war zunächst die von der höfischen Oper unterscheidbare Situation des Impresarios wichtig, der aufgrund einer nur indirekten Repräsentation und langfristigen Abhängigkeit relative Freiheiten besaß. Die wirtschaftliche Konzentration der Republik auf den Karnevalstourismus als Ausgleich für den Verlust des Status als Handelsmacht wird möglicherweise zu mehr Duldung offen amoralischer, anstößiger und hedonistischer Unterhaltung durch konservativere Teile der Führungsschicht geführt haben. Bestärkt

59Unabhängig davon, ob das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts als sozial »breit gestreut« be- zeichnet werden kann. Die venezianische Oper im 17. Jahrhundert. Eine populäre Unterhaltungsform? 14 wird diese Annahme dadurch, dass im Inhalt der Oper meist ein stark patriotischer Ton gewahrt wurde und dass für die Aufführung keine Patrizierfamilie, im Gegensatz zum Schirmherren einer höfischen Oper, direkt verantwortlich gemacht werden konnte. Aufgrund der genannten Argumente ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich die sozia- le Zusammensetzung des Opernpublikums mit den öffentlichen Opernhäusern, im Ver- gleich zur höfischen Oper, signifikant veränderte. Von einer populären, volkstümlichen oder volkshaften Unterhaltungsform kann nicht die Rede sein. Vielmehr musste die ve- nezianische Oper des 17. Jahrhunderts den Bedingungen einer stark begrenzten, elitären Öffentlichkeit entsprechen.

7 Bibliographie

• Bianconi, Lorenzo/Walker, Thomas: »Production, Consumption and Political Function of Seventeenth-Century Opera«, in: Early Music History, Vol. 4 (1984), S. 209–296.

• Dülmen, Richard van: Religion, Magie, Aufklärung. 16.–18. Jahrhundert (=Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 3), München 1999.

• Glixon, Beth L./Glixon, Jonathan E.: Inventing the Business of Opera. The Impresario and His World in Seventeenth-Century Venice, New York 2006.

• Muir, Edward: »Why Venice? Venetian Society and the Success of Early Opera«, in: The Journal of Interdisciplinary History, Vol. 36 (2006), No. 3, S. 331–353.

• Rößler, Antje: »Kommerzialisierungsprozesse in der Venezianischen Oper des 17. Jahr- hunderts«, in: Christian Kaden/Volker Kalisch (Hgg.), Professionalismus in der Musik. Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22. bis 25. August 1996 (=Musik-Kultur, Bd. 5), Essen 1999, S. 163–170.

• Rosand, Ellen: Opera in Seventeenth-Century Venice. The Creation of a Genre, Berkeley u. a. 1991. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 15

Andreas Holzmann World Music im Jazz – Jazz in der World Music

1 Einleitung

Der Jazz hat in seiner mittlerweile über hundertjährigen Geschichte sehr viele verschiedene Gattungen hervorgebracht. Man kann heute nicht mehr von »Jazz« sprechen, ohne einen seiner zahlreichen Stile zu benennen. Vom »New Orleans Jazz« bis heute hat sich sehr viel verändert. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich eine Vielzahl von verschiedenen Entwicklungen feststellen. Seit etwa 1950 ließen sich die Jazzmusiker stets von neuen musikalischen Quellen inspirieren. Sei es aufgrund ihrer Erfahrungen mit anderen Musiker, Musikrichtungen, Instrumenten, Geistesströmungen, aber auch nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen mit anderen Kulturen. Der Jazz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war für neue Einflüsse besonders empfänglich. Das mag daran lie- gen, dass er auf eine recht kurze Geschichte zurückblickt und dass seit seiner Entstehung verschiedenste Einflüsse auf ihn einwirkten. Aber auch daran, dass er in seinem Wesen das Neue uneingeschränkt akzeptiert. Jeder Jazzmusiker bringt seine eigene Art der Im- provisation und sein eigenes Musikverständnis mit. Da es durch die Medien ab den 1950er Jahren möglich war, »fremde« Musik zu hören und mehr darüber zu erfahren, konnten viele Jazzmusiker erstmals ohne großen Aufwand die Musik fremder Kulturen kennen lernen. Die technischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts trugen einen großen Teil zu der musika- lischen Erschließung fremder Kulturen bei. Jazz in seiner ureigensten Form hatte keine »Tradition« die erst aufgebrochen werden musste. Das war ein großer Vorteil, da so vorbehaltlos nur das übernommen wurde, was als musikalisch gehaltvoll erschien. Die Geschichte der Kunstmusik im 19. und zum Teil auch im 18. Jahrhundert zeigt, dass eine Einarbeitung von fremden Kulturen immer wie- der eine Rolle spielte. Im 18. Jahrhundert war die Beschäftigung mit fremden Kulturen aber kaum auf die Musik bezogen, erst im 19. Jahrhundert war der Zugang auch auf musikalischer Ebene gegeben. Einerseits stillten die Komponisten das Verlangen ihrer Hörer nach Neuem und Unbekann- tem, andererseits erreichten sie für sich selbst durch die Verwendung von fremdem Mate- rial eine Legitimation, um aus dem vorhandenen, oft strengen Regelwerk auszubrechen. Diese Motivation ist bei Komponisten wie Bizet, Ravel und ganz besonders bei Debussy zu sehen, der, ausgehend vom javanischen Gamelanorchester, in seinen Kompositionen World Music im Jazz – Jazz in der World Music 16 zu neuen Harmonien und Kompositionstechniken fand und zugleich eine Rechtfertigung für seine neue Art der Komposition hatte. Natürlich waren das nur einige der Faktoren, warum er diese Art der Musik einfließen ließ. Man kann davon ausgehen, dass er auch selbst ein besonderes Interesse daran hatte, sich mit fremder Musik auseinanderzusetzen. Der Faktor der Suche nach Rechtfertigung war für die Jazzmusiker zu vernachlässigen. Hier war es eher eine Herausforderung, überhaupt einen »Jazzstil« musikalisch zu definieren. Und war dieser erst einmal als Stil identifizierbar, wurde er auch schon wieder weiter- entwickelt bzw. verändert, um zu neuen, bis dahin ungehörten Ergebnissen zu kommen. Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts versuchten, die Bedürfnisse ihrer Zuhörer zu stillen. Dieser »kommerzielle« Gedanke ist auch sehr wichtig in der Beschäftigung mit World Music. Sie war besonders ab den 1980er Jahren immer wieder mehr oder weniger stark in der Popularmusik vertreten. Der Jazz (und hierbei vor allem der Swing und die Musik der Big Bands), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA durch- aus auch noch im Hinblick auf seine Popularität als kommerziell bezeichnet werden kann, glitt später immer mehr in eine andere Szene ab. Jazz war als Massenmusik nicht mehr wirksam und die Jazzmusiker begnügten sich damit, für eine kleinere Gruppe von Hörer, die dafür umso interessierter war, zu musizieren.

2 World Music im Jazz – Geschichtlicher Abriss

Die Wechselwirkung des Jazz mit anderen Musikrichtungen ist ein essenzieller Bestandteil in seiner Entwicklung. Ist aber nicht Jazz bereits in seiner urtümlichsten Form bereits eine Musik, die sehr stark von vielen verschiedenen Kulturen beeinflusst ist? Zwar werden im Jazz seit seinen Anfängen europäische Instrumente, Formen, Melodik und Harmonik verwendet, ein essenzieller Faktor in der Entwicklung ist aber der Einfluss verschiedener afrikanischer Kulturen.

2.1 Die Anfänge

Bei der Betrachtung der grausamen Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika (bzw. zuvor noch in den europäischen Kolonien in Nordamerika), und hierbei jener langen, leidensvollen Geschichte der afrikanischen Sklaven zeigt sich, dass ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert Sklaven in großer Zahl aus Afrika nach Amerika gebracht wurden. Die Zahl stieg besonders ab dem Ende des 18. Jahrhunderts sehr stark an und World Music im Jazz – Jazz in der World Music 17 bis zur Verabschiedung der Emancipation Proclamation1 im Jahre 1863 lebten ca. vier Millionen Sklaven in den USA. Man kann davon ausgehen, dass fast alle Afroamerika- ner in dieser Zeit noch direkt oder indirekt mit der Kultur ihrer afrikanischen Heimat in Kontakt standen. Der Jazz als Musik, die zunächst hauptsächlich von Afroamerikanern praktiziert wurde, hatte dadurch neben den europäischen unweigerlich afrikanische Ein- flüsse aufzuweisen. Weiters ist zu beachten, dass viele der ursprünglich aus Westafrika gekommenen Sklaven auf den Inseln der Karibik als Sklaven arbeiten mussten, bevor sie nach Nordamerika kamen. Sie hatten dadurch unweigerlich Kontakt zu den dortigen Kul- turen, bevor sie weiter in die Südstaaten der USA gebracht wurden. Die Inseln der Karibik waren ihrerseits aus vielen verschiedenen kulturellen Einflüssen zusammengesetzt, was zu einem regen Austausch der Kulturen geführt hat. Dieser Umstand ist für die Entwicklung des Jazz nicht zu vernachlässigen. Die zuvor erwähnte Benennung »afrikanisch« ist problematisch, da damit viele verschiede- ne Kulturkreise zusammengefasst werden. Die Sklaven, die hauptsächlich aus Westafrika nach Nordamerika verschleppt wurden, kamen aus verschiedenen Ländern bzw. Kultur- kreisen. Ihre jeweilige Musik nahmen sie nach Nordamerika mit, dort vermischten sich ihre verschiedenen Stilrichtungen und diese kulminierten in einem musikalischen »melting pot«, dem Blues, dann dem Jazz, wo die verschiedenen Stile immer mehr untereinander und sehr stark auch mit europäischer Musik vermischt wurden. James Lincoln Collier schreibt in The Making of Jazz:

[...] This social element comes into jazz through its African heritage. But despite its African elements, however fashionable it may be to say so, Jazz is not an African music. Too much of it descends from European music to justify that claim. Its in- strumentation, basic principles of harmony, and formal structures are derived from Europe rather than Africa.2

2.2 Anfang des 20. Jahrhunderts

Wie bereits früher erwähnt, entwickelten sich am Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche verschiedene Richtungen des Jazz, die innerhalb weniger Jahre weiterentwickelt wurden. Die Einflüsse für die jeweilige Veränderung des Stils kamen zunächst hauptsächlich aus den verschiedenen Jazzmetropolen in den USA, zunächst vor allem aus New Orleans (»New Orleans Jazz«).

1Entscheidender Beschluss für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten. 2James Lincoln Collier, The Making of Jazz. A comprehensive History, New York 1978, S. 6. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 18

2.3 Latin Jazz

Erste lateinamerikanische Einflüsse erfuhr der Jazz in den 1930er Jahren durch den Mu- siker Mario Bauzá. Dieser Einfluss war einer der ersten aus einem anderen Kulturkreis. Mario Bauzá gilt als »Urvater des Latin Jazz« und war an der Entwicklung des so ge- nannten Cubop beteiligt, einer am Bebop orientierten Richtung des Latin Jazz. Diese neue Richtung des Latin Jazz konnte sich bis in das 21. Jahrhundert durchsetzen. Wich- tige Vertreter dieser Gattung waren bzw. sind Mongo Santamaria, Tito Puente, Dizzy Gillespie, Stan Getz und Chick Corea. Martin Pfleiderer schreibt in Zwischen Exotismus und Weltmusik:

In den 60er Jahren waren viele Jazzmusiker – unter anderem Stan Getz, Dave Bru- beck, Herbie Mann, Paul Winter, Cannonball Adderley – gerade mit ihren Jazz Bossa- oder Jazz Samba-Aufnahmen kommerziell erfolgreich. Viele dieser Musiker unternah- men in den 60er Jahren Südamerikatourneen.3

Beispiel: Cubismo – Cacique’s Mambo Da der Bereich des Latin Jazz eine sehr wichtige Rolle in der weltweiten Jazzproduktion spielt, soll nun ein Beispiel herausgegriffen und daran versucht werden, einige Elemente herauszustreichen, die den Latin-Einfluss auszeichnen. Das vorliegende Beispiel stammt von der CD Motivo Cubano4 der Formation Cubismo. Interessant ist, dass diese Gruppe aus Kroatien stammt, also keine original lateinamerikanische Band ist. Nur einige Gast- musiker sind lateinamerikanischer (kubanischer) Abstammung. Das zu behandelnde Stück hat den Titel Cacique’s Mambo. Die verwendeten Instrumen- te sind verschiedene Percussion-Instrumente wie Timbales, Congas, Bongos und Guiro. Weiters E-Bass, Trompete, Posaune, E-Gitarre und Klavier. Das Stück beginnt mit einer Percussion-Einleitung. Nach acht Takten kommen erste Einwürfe von Bläsern und Bass. Nach weiteren sieben Takten und einem Break fängt die Form an. Und hier sticht auch gleich ein wichtiger (und besonderer) Aspekt des Stückes ins Auge (bzw. ins Ohr): Das Stück ist in typischer Blues-Form aufgebaut. Das bedeutet, jeder Chorus dauert zwölf Takte und ist folgendermaßen aufgebaut: vier Takte Tonika (F7), zwei Takte Subdomi- nante (B7), zwei Takte Tonika (F7), jeweils ein Takt Dominante und Subdominante (C7 und B7) und wieder zwei Takte Tonika (F7), bzw. beim Thema auch ein Takt Dmin7 und eine Überleitung (F – Ab – B – C). Zuerst spielen die Bläser das (relativ einfach gehaltene)

3Martin Pfleiderer, Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre (=Schriften zur Popularmusikforschung, Bd. 4), Karben 1998, S. 39. 4Cubismo, Motivo Cubano, CD, Aquarius Records: Zagreb 2000. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 19

Thema zweimal, wobei beim zweiten Chorus die letzten vier Takte für ein Percussion-Solo benützt werden. Danach spielt die Trompete zwei Chorusse Solo. Beim zweiten Durchgang kommt die Posaune mit einem ostinaten Oktav-Riff dazu. Das Klavier spielt durchgehend ein gleich bleibendes Montuno-Riff. Als nächstes kommt das Gitarren-Solo, das wiederum zwei Chorusse, also 24 Takte dauert. Hier spielt der Pianist nur mehr einzelne Akkorde, meist auf dem ersten Schlag im Takt. Die Posaune spielt, nun in Verbindung mit der Trompete, beim zweiten Chorus das bereits zuvor gehörte Oktaven-Riff. Es folgt eine Bridge, in der die Bluesform beibehalten wird, wenngleich auch einige Akkorde hinzu- gefügt werden. Nach diesem Teil kommt der B-Teil, bei dem die Blues-Form nicht mehr verwendet wird. Erstmals kommen hier Sänger zum Einsatz. Die Akkordprogression ist hier abwechselnd F7 und Eb7. Dieser Teil dauert 24 Takte lang. Nach einem Break kommt wieder das Thema in der Blues-Form. Und im Anschluss verschiedene Modulationen, so- wie eine Schlussfigur, bei der sich wieder F7 und Eb7 abwechseln. Den Schluss bildet ein G/F-Akkord, wobei zuvor noch einmal die Conga in den Vordergrund tritt. Cacique’s Mambo kann als typischer Vertreter des Genres Latin Jazz angesehen werden. Da die Akkordprogressionen ähnlich bzw. gleich wie bei einem klassischen Blues sind, kann das Augenmerk in besonderer Weise auf die unterschiedliche Ausgestaltung dieser harmonischen Struktur in einem anderen musikalischen Kontext gelegt werden. Das auf- fälligste Merkmal dieses Stückes, und zugleich auch eines der bedeutendsten Merkmale des Latin Jazz ist sicherlich die besondere Stellung der Rhythmusgruppe. Auf das Schlagzeug in seiner typischen Form wird ganz verzichtet. Stattdessen gibt es mehrere Percussion- Instrumente, die seine Aufgabe übernehmen. Diese Instrumente haben ihre Wurzeln in der lateinamerikanischen Musik und sind aus der Aufführungspraxis dieser Musik nicht wegzudenken. Die Trompete ist sehr wohl auch im »typischen« Blues zu finden, ihr kommt dort aber eher eine solistische, weniger eine begleitende Funktion zu. Hier im kubanischen Stück findet sie sehr häufig Verwendung im Verbund mit anderen Blasinstrumenten (hier mit der Posaune) und spielt sehr viele Einwürfe. Sie hat eine relativ wichtige harmonische und rhythmische Funktion. Auch das Klavier ist ein wichtiger rhythmischer Faktor. Die Montuno-Figuren tragen wesentlich zu dieser besonders Rhythmus-orientierten Musik bei. Der E-Bass hat ebenso eine unterschiedliche Rolle als im Swing. Würde er im typischen Blues wahrscheinlich tendenziell mehr eine Walking-Bass-Linie verfolgen, spielt er hier weniger durchgehend. Durch seine synkopierte Spielweise trägt er ebenso zur Etablierung des Rhythmus bei. Die Gitarre tritt in ihrer Begleitfunktion eher in den Hintergrund, verfolgt aber auch eine sich wiederholende rhythmische Funktion. Allgemein kann man also dem lateinamerikanischen Einfluss eine besondere Orientierung am Rhythmus konstatieren. Während die meisten Melodie- und Akkordinstrumente glei- World Music im Jazz – Jazz in der World Music 20 chermaßen im typischen Jazz zu finden sind, sind die Rhythmusinstrumente andere. Die spezifische Spielweise der Instrumente ist unterschiedlich zu jener im Jazz ohne latein- amerikanischen Einfluss. Es wird besonderer Wert auf rhythmische Patterns gelegt.

2.4 Arabischer Einfluss

Die nächste Strömung mit außereuropäischem Einfluss, wobei man sagen muss, dass die verschiedenen Gattungen des Jazz zeitlich auch überlappend auftraten und nicht vonein- ander abgelöst wurden, sonder sich vielmehr einander ergänzt und erweitert haben, war jene mit nordafrikanischem Einfluss. Arabische Harmonie- und Rhythmusschemen wur- den von zahlreichen Jazzmusikern in ihre Werke eingebaut. Ein wichtiges Werk, das bereits in den 1940er Jahren, also in der Frühzeit, oder eigent- lich noch vor dieser »Arabisierungswelle« entstand, ist das Stück Night in Tunisia des Trompeters Dizzy Gillespie. Er vermischt darin arabisches Kolorit mit Swing bzw. Bebop. Das Ergebnis ist ein Jazzstandard, der bis heute aus keiner Jamsession wegzudenken ist und seinen besonderen Charme aus den sich abwechselnden Rhythmen – westlich und arabisch – zieht. Gillespie ist auch der Urheber des Standards Manteca, einem Stück, das sehr stark von der vorher erwähnten Gattung des Latin Jazz beeinflusst ist. Das zeigt, dass natürlich mehrere Stilrichtungen nebeneinander existierten und sogar von denselben Musikern komponiert wurden. Einige Jahre später, ab ca. 1960, reisten Musiker aus den USA und aus Europa nach Nordafrika, und dabei hauptsächlich in die Maghreb-Staaten. Ihr Ziel war es, die Musik dieser Länder zu entdecken, indem sie den direkten Kontakt zu den dort ansässigen Musi- kern suchten. Ein Projekt, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist jenes, das später im Rahmen der Reihe Jazz meets the World von Joachim-Ernst Berendt unter dem Titel Noon in Tunisia veröffentlicht werden sollte, und zwar mit dem Schweizer Pia- nisten George Gruntz und weiteren Musikern aus Europa, die in Tunesien gemeinsam mit Beduinen musizierten. Ein weiterer Jazzmusiker, der den Kontakt mit nordafrikanischen Musikern suchte, war Ornette Coleman, der in das Dorf Joujouka in Marokko reiste und mit den dortigen Sufimusikern musizierte. In dieses Dorf war auch schon der Leadgitarrist der Rolling Stones, Brian Jones, gekommen, um die Musik der dortigen Musiker aufzu- nehmen. Das Resultat war unter dem Titel Brian Jones Presents the Pipes of Pan at Joujouka 1971 als Album veröffentlicht worden. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 21

2.5 Free Jazz

In seinem Buch Free Jazz schreibt Ekkehard Jost:

Waren vorangegangene stilistische Umbrüche im Jazz jeweils vor allem durch eine Erweiterung der technischen Mittel ausgelöst worden oder aber durch eine zunehmen- de Komplexität in der Gestaltung des backgrounds [des allgemeinen Bezugsrahmens der Jazzimprovisationen], so vollzog sich in den Jahren um 1960 dessen allmähliche Auflösung. Die bis dahin gleichsam geradlinig verlaufende Evolution des Jazz erhielt einen Sprung.5

Er spricht hier vor allem von der harmonischen Struktur der Musik. Später schreibt Jost:

[Es ist] ebenso unwahrscheinlich, dass indische Raga-Modelle als Vorbild [für die Ein- führung der modalen Spielweise zu Ende der 1950er Jahre] dienten, denn von dem Trend zur Orientierung an exotischen Musikgattungen, der sich wenige Jahre spä- ter zu einer Mode auswachsen sollte, war in den endfünfziger Jahren noch nichts zu ahnen.6

Zwei Erkenntnisse können aus diesen Auszügen gewonnen werden: Erstens, der (Free) Jazz der späten 1950er Jahre war noch nicht von einem orientalischen Einfluss geprägt und die modalen Improvisationen entwickelten sich unabhängig von den verschiedenen Melodie- und Harmoniesystemen anderer Kulturen. Jost bezieht sich hier explizit auf den Free Jazz. Dass es sehr wohl schon zu dieser Zeit und sogar noch davor Stücke gab, die eine »Orientierung an exotischen Musikgattungen« aufzuweisen hatten, wurde vorher bereits erwähnt. Zweitens kann man erkennen, dass die (Free-)Jazzmusiker in dieser Zeit auf der Suche nach Neuem waren und sie dieses in der Auflösung der »traditionellen« Formen der vor- herigen Jazzstile suchten. Da ist es wenig verwunderlich, wenn sie auf der Suche nach Neuem auch andere Musikkulturen als Inspirationsquelle verwendeten. Zur Verwendung exotischer Einflüsse im Jazz er 1960er und 1970er Jahre schreibt Martin Pfleiderer:

Der Integration fremder Instrumentalsounds sowie exotischer Melodien und Skalen wurde durch die Jazzidiomatik keine Grenzen gesetzt. Allerdings blieb es hier oft bei äußerlichen Additionen, die den Jazz eher exotisch kolorierten, als ihn in den zentra- len Bereichen der musikalischen Gestaltung zu transformieren.7

5Ekkehard Jost, Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 19. 6Ebda., S. 21. 7Pfleiderer 1998, S. 249. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 22

2.6 Indien – Ravi Shankar

Eine weitere Entwicklung in den 1960er und 1970er Jahren war, wiederum überlappend mit den vorher genannten Orientierungen, ein Interesse für asiatische Musik, insbeson- dere für die Musik Indiens. Diese Entwicklung hielt auch in besonderer Weise Einzug in die Popularmusik. Der Musiker, der maßgeblich an der Verbindung indischer klassischer Musik und Jazz bzw. Popularmusik beteiligt war, ist der Sitar-Spieler Pandit Ravi Shan- kar, kurz Ravi Shankar genannt. Er hatte großen Einfluss auf viele westliche Musiker und arbeitete mit einer Vielzahl von Musikern aus verschiedenen Musikrichtungen und Ländern zusammen. Unter ihnen sind der Tabla-Spieler Ustad Allah Rakha, der Jazz- Klarinettist Tony Scott, der Saxophonist Bud Shank, der Violinist und Dirigent Yehudi Menuhin und George Harrison von den Beatles. Er ist auf einigen Aufnahmen der Beatles vertreten, z. B. bei dem Lied Norwegian Wood auf dem Album Rubber Soul (1965). George Harrison nahm bei ihm Sitar-Unterricht. Nicht zuletzt dadurch wurde dieses Instrument auch im Westen sehr bekannt. Die Vermischung der indischen Kultur und Musik mit der Hippie-Kultur war für Shankar jedoch nicht akzeptabel und nach seinem Konzert beim Woodstock-Festival 1969 distanzierte er sich von dieser Szene. Er trat aber weiterhin mit berühmten Musikern auf, wie etwa beim Benefizkonzert Concert for Bangladesh im Jahre 1971, unter anderem mit George Harrison, Bob Dylan und Eric Clapton. Erstaunlich ist, dass Shankar ein Vertreter der klassischen indischen Musik ist, in den USA und in Europa aber vornehmlich mit Vertretern des Jazz und der Popmusik zusammenge- arbeitet hat (abgesehen von Yehudi Menuhin). Die indische klassische Musik besteht zu einem Gutteil aus Improvisationen, wenngleich diese keineswegs so frei sind, wie sie etwa im Jazz gehandhabt werden. Dadurch fanden aber zunächst besonders die Jazzmusiker einen Zugang zu dieser Musik. Shankar konnte sich natürlich auch hervorragend an die jeweilige Musik, bei der er mitwirkte, anpassen. Eine seiner ersten Kollaborationen war etwa jene mit Bud Shank auf dem Album Improvisations (1961), wobei es sich hier ledig- lich um westliche Filmmusik handelt und Shankar die Melodie auf der Sitar spielt. Ein anderer Jazzmusiker, der indische Musik in seinen Jazzstil einfließen ließ, war der Klarinettist und Saxophonist Tony Scott. Er arbeitete zusammen mit dem Tabla- und Sitarspieler Collin Walcott, einem Schüler Shankars, an einem indisch-orientierten Jazz- stil, ebenso beschäftigte er sich aber mit der klassischen Musik Thailands, Japans und anderer asiatischer Länder. Beispielsweise musizierte er zusammen mit dem japanischen Shakuhatchi-Virtuosen H¯ozanYamamoto. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 23

2.7 Einflüsse weiterer Kulturen und Länder

Bis in das 21. Jahrhundert sind die Einflüsse von Kulturen der ganzen Welt in den Jazz zu finden. Neuere Tendenzen sind die Einbeziehung der Musik Chinas, des Balkans, ver- schiedener afrikanischer Kulturen und auch verschiedener Minderheiten wie die Musik der Sinti und Roma oder der Samen. Genauso zählt man aber die Einflüsse lokaler traditio- neller Musikkulturen, wie etwa das Einbauen von alpenländischer Volksmusik in den Jazz zu den World Music-Einflüssen.

2.8 Die 1980er bis heute

Mit der Benennung »World Music« für jene Arten der Musik, die sich zuvor nur schwierig kategorisieren ließen, wurden viele Stilrichtungen, die eher in den Bereich des Jazz mit World Music-Einflüssen fallen würden, miteingebunden. Gerade in den 1980er und 1990er Jahren erfuhr die World Music im Allgemeinen und dadurch auch der Jazz mit World Music-Einflüssen einen großen Aufschwung. Pfleiderer schreibt dazu:

In den 80er Jahren setzte sich dieser Rezeptionsprozess [asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz in den 60er und 70er Jahren] ohne grundlegende Veränderungen im musikalischen Bereich fort. Alles Neuartige und Spektakuläre, das den weltmusika- lischen Tendenzen in den 60er und 70er Jahren innegewohnt hatte, wich nun aller- dings einem eher nüchternen Umgang mit der fremden Musik, die inzwischen vielen Musikern und Hörern im Westen bekannt und verfügbar, wenn nicht sogar vertraut geworden war – durch die Vertrautheit und Verfügbarkeit hatte das Fremdländische vielfach seinen exotischen Reiz verloren.8

Ein Musiker, der seit den frühen 1990er Jahren bis in das 21. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Jazz unter dem Einfluss verschiedener Kulturen hatte, war Joe Zawinul. Er entwickelte einen eigenen Stil, indem er verschiedene Richtungen des Jazz und verschiedene Elemente anderer Musikkulturen zu einer neuen Musik verband. Zuvor hatte sich Zawinul schon als großartiger Jazz-Keyboarder und Pianist im »traditionellen« Jazz (bzw. im Fusion Jazz) einen Namen gemacht. Seine Formation Weather Report war weltweit bekannt und beliebt. Auch in vielen Ländern Afrikas gelangte diese Band zu Be- rühmtheit. In Weather Report verband er unter anderem mit dem Saxophonisten Wayne Shorter und später mit dem Bassisten Jaco Pastorius Elemente des Jazz mit Rock- und Funkelementen, und das auf eine innovative Art und Weise. Mit der Gründung des Zawi-

8Pfleiderer 1998, S. 250. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 24 nul Syndicates wandte er sich ab 1987 besonders außereuropäischen Einflüssen zu. Durch seine Berühmtheit konnte er hervorragende Musiker für seine Band gewinnen. Bei den letzten Konzerten (vor Zawinuls Tod 2007) waren beim Syndicate unter anderem dabei: Linley Marthe (Bass), Nathaniel Townsley III (Schlagzeug), Sabine Kabongo (Gesang), Alegre Corrêa (Gitarre), Abdelaziz Sahmaoui (Percussion, Gesang) und Amit Chatterjee (Gitarre, Gesang).

Beispiel: Zawinul Syndicate – Y’elena Anhand eines Beispiels soll nun versucht werden nachzuvollziehen, wie Zawinul in seinem Syndicate verschiedene »World-Elemente« einfließen lässt. Die Doppel-CD Nights9 ist sicherlich eines der besten Beispiele für die Musik, die Joe Zawinul in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens perfektioniert hat. Es handelt sich dabei um eine Live-Aufnahme zweier Konzerte in dem von Zawinul in Wien gegrün- deten Club Birdland. Der erste Titel auf der ersten CD, Y’elena, ist ein Stück des malischen Sängers Salif Keita, erschienen auf der CD Amen, die Zawinul bereits 1991 produziert hat. In der vorliegenden Aufnahme singt Sabine Kabongo. Den Beginn bildet eine 16-taktige Einleitung, in der die Rhythmusgruppe eine Groove spielt, die bereits das harmonische Muster des gesamten Stücks festlegt: Gmaj7 und Cmaj7 sind die beiden Akkorde, die sich taktweise abwechseln. Am Beginn des Gesangsteils steigt Zawinul, der zuvor in der Einleitung mit dem Synthe- sizer eine Melodie spielt, auf eine sich wiederholende Begleitfigur um. Es folgen 32 Takte, in denen die Sängerin das Thema und noch weitere Teile singt. Eine eindeutige Strophen- bzw. Refrainform ist aber nicht auszumachen. Danach spielt Zawinul wieder die gleiche Melodie wie in der Einleitung, also eine Bridge. Hier dauert sie aber nur sechs Takte. Der nächste Teil (B-Teil) unterscheidet sich sehr stark von dem, was bisher im Stück zu hören war: Die Form wird mehr oder weniger aufgelöst. Das Schlagzeug spielt einen anderen Rhythmus, und zwar mit dem Schlag der Bass-Drum auf dem Off-Beat. Diese Art des Rhythmus (meistens etwas langsamer) findet man ansonsten hauptsächlich beim Reggae. Es kommt noch ein zweiter Sänger dazu. Im Gegensatz zu der klaren Struktur der vorangegangenen Teile dauert dieser Teil 13 Takte lang. Auffällig sind die von Schlagzeug und Synthesizer gespielten Einwürfe, die in den Pausen der Sänger gespielt werden. Direkt danach kommt wieder der Gesangsteil mit 18 Takten. Im Anschluss folgt ein Im- provisationsteil von Zawinul am Synthesizer, der 32 Takte lang dauert. Am Ende sei- ner Improvisation kommen die Bridge (sechs Takte) und danach wieder der Gesangsteil (16 Takte). Wiederum folgt die Bridge, die in den B-Teil überleitet (hier nur acht Takte), 9Joe Zawinul and the Zawinul Syndicate, Vienna Nights – Live at Joe Zawinul’s Birdland, CD, BHM/BirdJam: Köln 2005. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 25 der zugleich den Schluss bildet. Y’elena ist eigentlich ein Stück, das man am ehesten dem Bereich »afrikanischer Pop« zu- ordnen würde. Tatsächlich ist der Jazzeinfluss Zawinuls nur sehr wenig zu bemerken. Was dem Jazz noch am nächsten kommt ist die Komplexität der gespielten Rhythmen. Das findet man in Popmusik (wie bei der Originalversion von Keita) nur in abgeschwächter Form. Auch die Flexibilität bei der Abfolge der Teile zeichnet den Jazz aus. Weiters gibt es einen ausgedehnten Improvisationsteil, den man in dieser Form bei typischer Popmusik nicht findet.

3 Die Rolle des Jazz in außereuropäischen und außeramerikanischen Kulturen bzw. bei Minderheiten

Bisher wurde der Einfluss verschiedener Musikkulturen auf den Jazz erläutert. Nun soll darüber nachgedacht werden, welche Rolle der Jazz in den Musikkulturen anderer Länder der Erde außerhalb (Zentral-)Europas und Nordamerikas spielte und spielt. Wie an frühe- rer Stelle schon einmal angesprochen wurde, hatte der Jazz einen unmittelbaren Einfluss auf die World Music, also die Popularmusik mit »World-Elementen«. Es handelt sich also hier um zweierlei Dinge: Zum einen die Verwendung des Jazz von Musikern der verschiedenen Länder, vor allem Südamerikas, Asiens und Afrikas. Der Ein- fluss des Jazz auf Musik, die unseren Erfordernissen der World Music gerecht wird, soll anhand eines Beispiels analysiert werden. Weiters soll anhand eines Interviews mit Gös- ta Müller, einem praktischen Musiker und Musikpädagogen, der mehrere Jahre lang in Thailand und Burma tätig war, ein Einblick gegeben werden, wie die Situation des Jazz in diesen Ländern ist und welche Einflüsse dort auf den Jazz wirken, bzw. ob sich die dortigen Einflüsse von jenen in Europa und den USA unterscheiden. Zum anderen handelt es sich um den Einfluss des Jazz auf die Entwicklung dessen, was man heute unter der Rubrik »World Music« im CD-Handel findet. Dazu sei aber noch angemerkt, dass »World Music« oder »Weltmusik« meist eine nur sehr ungenaue termi- nologische Angabe ist. Schließlich wird eine Vielzahl von verschiedenen Musikrichtungen unter diesem Titel zusammengefasst. David Byrne schreibt in seinem Artikel »I Hate World Music« dazu:

What’s in that bin [mit dem Titel »World Music«] ranges from the most blatantly commercial music produced by a country, like Hindi film music (the singer Asha Bho- sle being the best well known example), to the ultra-sophisticated, super-cosmopolitan art-pop of Brazil (Caetano Veloso, Tom Zé, Carlinhos Brown); from the somewhat World Music im Jazz – Jazz in der World Music 26

bizarre and surreal concept of a former Bulgarian state-run folkloric choir being ar- ranged by classically trained, Soviet-era composers (Le Mystére des Voix Bulgares) to Norteño songs from Texas and northern Mexico glorifying the exploits of drug dealers (Los Tigres del Norte). Albums by Selena, Ricky Martin and Los Del Rio (the Macare- na kings), artists who sell millions of records in the United States alone, are racked next to field recordings of Thai hill tribes. Equating apples and oranges indeed.10

Byrne spricht hier ein Problem an, mit dem man unweigerlich zu kämpfen hat, wenn man sich mit World Music auseinandersetzt. Dieses Problem mit der Terminologie und dem »Gleichsetzen von Äpfeln und Orangen« soll aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Vielmehr soll für die Ermöglichung einer sinnvollen Behandlung des Themas eine breitere Definition akzeptiert werden: »World Music« soll sowohl Musik bezeichnen, die von Musikern außereuropäischer Kulturen (inklusive außerhalb Nordamerikas und hierbei wiederum exklusive der Musik von Minderheiten innerhalb des europäischen und nord- amerikanischen Raumes) produziert wird und mehr oder weniger von der europäischen Musiktradition beeinflusst ist, für unsere Zwecke wiederum unter besonderer Berücksich- tigung des Jazz. Der Begriff soll aber auch für jene Musik verwendet werden, die innerhalb Europas und Nordamerikas von westlichen Musikern produziert wird, diese aber bewusst Elemente nicht-westlicher Musik einbauen. Darunter fällt also im weiteren Sinne jene Ent- wicklung der Einflüsse des Jazz, die vorher ausgeführt wurde. Die Tatsache, dass man sich für die Schaffung einer Definition, die nur unvollkommen sein kann, die jeweiligen Eigenschaften des zu behandelnden Gegenstands (World Music) selbst heraussucht, zeigt, wie schwer mit diesem Begriff umzugehen ist. Dazu kommt noch eine Implikation, die von Kritikern immer wieder angeprangert wird, und zwar jene des dadurch propagierten Eurozentrismus. Immer wieder wird bei der Beschäftigung mit der World Music die Musik der außereuropäischen Kulturen (zumindest in der verbalen Be- handlung) gering geschätzt. Begriffe wie »ethnische Musik« zeigen eine sehr starke westlich orientierte Färbung. Wie bereits angekündigt soll ein Beispiel den Einfluss des Jazz auf Musikschaffende außerhalb der europäischen bzw. amerikanischen Musik dokumentieren.

3.1 Beispiel: Mari Boine

Im Folgenden soll ein Stück der samischen Musikerin Mari Boine (auch unter dem Na- men Mari Boine Persen bekannt) genauer betrachtet werden. Für sie ist es ein besonderes Anliegen, ihre Kultur, die bis in die 1950er Jahre von den norwegischen Behörden ver- 10David Byrne, »Crossing Music’s Borders: ›I Hate World Music‹« (1999), URL: http://www.jasonjhall.com/widrworld/wwpages/byrne.html [24.8.09]. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 27 nachlässigt und unterdrückt wurde, anderen Menschen zu vermitteln. Erst ab den 1960er Jahren wurde die Akzeptanz der norwegischen Regierung gegenüber der samischen Min- derheit größer. Der politische Inhalt spielt bei vielen ihrer Stücke eine wichtige Rolle. Die Rechte an ihrem Album Gula Gula wurden Anfang der 1990er Jahre von Peter Ga- briels Plattenlabel Real World gekauft und die CD wurde in veränderter Form und mit veränderter Besetzung neu herausgegeben. Dadurch erlangte Boine internationale Be- kanntheit. Ein wichtiger Faktor bei der Musik Boines ist sicherlich der Joik. Da die samische Kultur bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unterdrückt wurde, gibt es nur mehr Wenige, die das Liedgut praktizieren. Erst ab den 1960er Jahren wurde die samische Sprache wieder unterrichtet und allmählich die Kultur und somit auch das Liedgut wieder praktiziert. Der Joik ist ein Gesangsstil der Samen.

Es fällt schwer, eine hieb- und stichfeste Definition für den Joik zu liefern – manch- mal scheint er sich exakter durch das zu definieren, was er nicht ist, als durch das, was er ist. Es handelt sich dabei nicht um ein auf Reimen oder einer formalen Struktur basierendes Lied. Die Melodie kann abschweifen, wenngleich sich Phrasen wiederho- len. Ein Sänger improvisiert einen Joik, der zu dem paßt, was auch immer er oder sie gerade tut oder denkt, oder widmet ihn einer Person, einem Tier oder einem Ort.11

Boine sagt zum Einfluss des Joiks in ihrer Musik:

Ich weiß nicht, wie viel [von meiner Musik] Joiku [sic] ist – aber das ist immer gegen- wärtig. Ich mache mir darüber eigentlich so gut wie keine Gedanken. Aber ich kann die Einflüsse aus dem Joik hören, und es sind Einflüsse christlicher Kirchenlieder vorhanden – diese Mischung mag ich.12

Wenn man die Besetzung auf dem Album Gula Gula betrachtet, dann sieht man eine Vielzahl von Instrumenten, die aus verschiedenen Regionen der Erde kommen. Es sind beispielsweise Instrumente wie das Charango, die Darbuka, die Donzo N’Goni und ver- schiedene Trommeln, darunter auch solche aus der samischen Tradition. Nicht zuletzt aber kommt den typischen westlichen Instrumenten wie E-Bass, Klarinette, Klavier und E-Gitarre eine wichtige Rolle zu. Diese Instrumente bringen essenzielle Elemente des Jazz in das Klangbild Boines.

11Andrew Cronshaw, »Die Wildnis Sámenland«, in: Simon Broughton u. a. (Hgg.), Weltmusik – Rough Guide, Stuttgart u. a. 2000, S. 59. 12Zitiert nach ebda., S. 60. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 28

Von dem Album Gula Gula13 soll hier speziell der Titel Oppskrift for herrefolk behandelt werden, bei dem ein deutlicher Jazz-Einfluss zu bemerken ist. Dieses Stück ist das einzige auf dem Album, das auf Norwegisch gesungen wird. Es richtet sich an die Norweger, die als »Herrenrasse« bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um eine Anklage an die Rücksichtslosigkeit der norwegischen Autorität. Der Titel bedeutet auf Deutsch »Rezept für eine Herrenrasse«. Der Text des Stückes lautet wie folgt:14

Male Grenzen in die Landkarte Lass niemanden deine Autorität in Frage stellen Und nenne sie den Staat So unterdrückt man eine Minderheit Sei König, Minister Beschützer und Vater Lass Sprache und Kultur Schicke Beamte und Geschäftsmänner Im Museum verschwinden Priester und Soldaten Als Forschungsobjekte Zu den Menschen denen das Und Touristenattraktion Land gehört das du dir nimmst Halte lebhafte Reden Zu jedem festlichen Anlass Benutze Bibel und Alkohol Lass zersetzen und sterben Und Bajonett Was eine Nation war Brich Versprechen und Abmachungen Sei ein Diplomat Lass niemanden deine Autorität in Frage stellen Verwende Gesetzestexte So unterdrückt man eine Minderheit Gegen alte Vorrechte Säe Vorurteile Diskriminierung Und Hass

Vorherrschend ist zunächst die sich wiederholende Bassfigur durch den fretless E-Bass. Das Rhythmusinstrument ist sehr sparsam eingesetzt. Es handelt sich dabei um ein Me- tallinstrument, vielleicht um eine Glocke, die geschlagen und gestrichen wird. Weiters hört man als Begleitinstrument das Charango und teilweise die E-Gitarre, die sehr dezent im Hintergrund agiert. Die Harmonik ist eindeutig westlich. Man kann sehr klar die Akkorde voneinander unterscheiden. Das Stück ist in G-Dur, wobei ca. ab der Hälfte eine Mo- dulation nach A-Dur festzustellen ist. Es ist im 4/4-Takt gehalten. Grundsätzlich lässt sich eine 4- bzw. 8-Taktigkeit feststellen, obwohl dieses Prinzip immer wieder, besonders beim Refrain, aufgebrochen wird. Der Refrain besteht aus sechs Takten, und zwar mit den Akkorden D, C, G, D (jeweils Dur-Dreiklänge), Em, Em. Beim zweiten Refrain, der

13Mari Boine, Gula Gula, CD, Virgin: München 1990. 14Übersetzung aus dem Englischen von Judith Sofranko durch Andreas Holzmann. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 29 wiederholt wird, münden die Akkorde in vier Takte A. Dann kommt ein Instrumentalteil auf A ohne Dur- oder Mollbestimmung, bei dem die E-Gitarre mit Verzerrer verschiedene Einwürfe spielt. Ebenso kommt eine Flöte hinzu. Der E-Bass spielt hierbei nur sehr wenig. Gelegentlich spielt er eine Sekunde, also ein H als Einwurf. Dann werden wieder, zunächst instrumental, die Akkorde des Refrains gespielt, allerdings bereits in modulierter Form. Im Anschluss wiederholt die Sängerin mehrmals einige Textzeilen. Am Schluss wird noch zweimal der Refrain gesungen und mit zwei markanten Schlägen in F# geendigt. Deutlich zu erkennen ist die westliche Harmonik an den Akkordfolgen, die dem typischen Muster 1. Stufe – 4. Stufe – 5. Stufe, bzw. hier im Refrain 5 – 4 – 1 folgen. Allgemein kann man sagen, dass Oppskrift for herrefolk auf der CD Gula Gula sich insofern von den anderen Stücken unterscheidet, als es eine Strophen- und Refrain-Form aufweist. Die anderen Stücke sind viel freier angelegt. Was den Einfluss des Jazz betrifft, ist es aber sicherlich eines der besten Beispiele auf der CD, zum einen aufgrund der Instrumentation, bei der der E-Bass eine tragende Rolle spielt, zum anderen aufgrund der Harmonik, die weitgehend einem Akkordschema folgt, das auch häufig im Jazz anzutreffen ist.

4 Interview mit Gösta Müller15

Nun soll anhand eines Interviews mit einem praktischen Musiker ein Einblick auf die Rolle des Jazz in außereuropäischen Kulturen (Thailand, Myanmar) gewonnen werden. Weiters war Gösta Müller Mitglied der Innsbrucker World Music-Formation Comin’ and Goin’; es wird im Zuge des Interviews auch auf diese Band Bezug genommen.

Andreas Holzmann: Sie waren drei Jahre lang in Bangkok an einer der dortigen Univer- sitäten [Mahidol-Universität] am College of Music tätig. In welchem Zeitraum waren Sie dort und was war dort Ihre Tätigkeit?

Gösta Müller: Ich war dort von 2001 bis 2004 tätig. Meine Hauptaufgabe am College of Music war es, das Studentenorchester zusammenzustellen und für die verschiedenen Auf- tritte vorzubereiten, einige Auftritte selbst zu dirigieren, aber auch für die verschiedenen Gastdirigenten vorzubereiten. Ich habe meistens im Kontrabassregister mitgewirkt.

15Geboren am 1.12.1956 in Innsbruck. Matura am Bundesrealgymnasium Reutte. Erster Klavierunter- richt an der Musikschule Reutte und privater Violoncellounterricht. Ab 1975 Studium der Rechtswis- senschaften, zugleich Ausbildung am Tiroler Landeskonservatorium mit Klavier und Violoncello. Nach der Lehrbefähigungsprüfung Ausbildung am Kontrabass. Korrepetitor am Konservatorium Innsbruck. 1985–1988: Tätigkeit am oberösterreichischen Landesmusikschulwerk. Danach Klavierlehrstelle am Kon- servatorium Innsbruck. Zugleich Ausbildung im Fach Jazzbass am Franz-Schubert-Konservatorium in Wien. Absolvierung des Jazz-Lehrgangs am Tiroler Landeskonservatorium. 1996 Abschluss in Orches- terdirigieren am Landeskonservatorium Innsbruck. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 30

AH: Haben Sie auch Einzelunterricht gegeben?

GM: Ja, ich habe Klavier und für ein Semester vertretungsweise Kontrabass unterrich- tet. Mein Stundenplan war aber hauptsächlich mit Klavierunterricht gefüllt. Meistens als Einzelunterricht.

AH: Handelte es sich bei Ihrer musikalischen Betätigung am College of Music meistens um »klassische Musik«?

GM: Im Orchester schon. Nach zweieinhalb Jahren hat sich das geändert, ich habe dann vom Orchester zur Bigband gewechselt. Ich habe dann zusammen mit einem amerikani- schen Kollegen die Leitung einer Bigband übernommen.

AH: Auch das innerhalb der Universität?

GM: Ja. Auch der Klavierunterricht war teilweise klassisch, teilweise Jazz. Mein Klavier- unterricht hat hauptsächlich am Entertainment Department stattgefunden. Das ist ein Auffanglager für alle, die die Aufnahmsprüfung für den Jazzlehrgang oder für die Ausbil- dungsklasse ins klassische Konzertfach nicht oder noch nicht geschafft haben, damit diese aber trotzdem schon Unterricht haben. »Entertainment« deswegen, weil der Grundge- danke war, dass Unterhaltungsmusiker auf hohem und qualifiziertem Niveau ausgebildet werden. Man kann dort auf dem Entertainment Department ein Bakkalaureat ablegen und muss zu diesem Zweck sowohl klassische, als auch Jazz- und Popstücke vorspielen.

AH: Das heißt der Jazz ist auf universitärer Ebene schon etabliert. Wie lange gibt es diese Universität schon?

GM: Das College of Music ist noch sehr jung. Es wurde erst vor sechs Jahren gegründet, hat sich aber enorm schnell entwickelt. Es hat angefangen mit einem College, das in Untermiete in einem anderen Haus untergebracht war. Das hat sich alles in kürzester Zeit entwickelt.

AH: Gibt es dort hauptsächlich ausländische Lehrer, oder auch thailändische Lehrer?

GM: Sowohl als auch. Wobei am Department für Western Music, wo also europäische und amerikanische Musik unterrichtet wird, hauptsächlich westliche Lehrer angestellt sind. Nur vereinzelt Thais.

AH: Wo haben diese Thais ihre Ausbildung genossen?

GM: Großteils in Amerika. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 31

AH: In Thailand hätten sie keine Möglichkeit gehabt?

GM: Da ist das im Moment noch in den Kinderschuhen.

AH: Wie sind Sie außerhalb der Universität in Kontakt mit der Jazzszene getreten und wie schaut diese in Bangkok aus?

GM: Die Jazzszene in Bangkok war in den 90er Jahren schon relativ gut entwickelt. Mit dem Wirtschaftscrash Ende der 90er Jahre in Asien hat sich das dann ziemlich aufgehört. Viele Hoteliers, die zunächst versucht haben, die Zeit mit billigen einheimischen Thai- Popmusikern zu überbrücken, haben gesehen, dass die Gäste genauso kommen. Damit hat das aufgehört und erst wieder in den letzten fünf bis sechs Jahren angefangen, Fuß zu fassen. Man muss aber sagen, dass die Jazzszene dort relativ klein ist, verglichen mit unseren Verhältnissen.

AH: Gibt es Orte, wo vermehrt Jazz gespielt wird?

GM: Ja. Das ist vor allem in Hotels. Zum Beispiel gibt es im Oriental Hotel die Bamboo Bar, wo jeden Tag eine ständige Jazzband spielt, die sich turnusmäßig abwechselt.

AH: Diese Band besteht aus thailändischen Musikern?

GM: Nein, diese Band besteht aus russischen Musikern. Es ist ein russisches Quartett, Saxophon, Schlagzeug, Bass und Klavier. Sie spielen aber westlichen Jazz. Sie haben einen klassischen Hintergrund. Der Pianist war in Russland ausgebildeter klassischer Konzert- pianist, der Kontrabassist war Konzertgeiger, hat nach dem Kollaps der Sowjetunion aber keine Arbeit gefunden. Sie haben sich auf Jazz umgestellt und spielen jetzt das ganze Real-Book auf Zuruf und in jeder Tonart.

AH: Thailändische Musiker spielen da nicht mit?

GM: Doch. Dadurch dass die Band jeden Tag in der Woche von 17 bis 1 Uhr spielt, wechseln sich die Musiker ab. Es gibt einen thailändischen Pianisten, einen Schlagzeuger und einen Kontrabassisten, die immer wieder spielen.

AH: Lassen sich in der Jazzszene in Bangkok andere Einflüsse bemerken, als man bei uns in Europa vorfindet?

GM: Nein. Das kann man eigentlich nicht sagen. Gelegentlich kommt ein Isaan-Einfluss, das ist aber mehr als Gag gemeint. [Isaan: Der Nordosten Thailands, wo es eine eigene Volksmusik gibt, die sich in ganz Thailand sehr großer Beliebtheit erfreut.] World Music im Jazz – Jazz in der World Music 32

AH: Welche Instrumente werden bei der Isaan-Musik verwendet?

GM: Es werden großteils traditionelle Instrumente verwendet. Diese werden aber auch sehr oft mit PA-Anlagen verstärkt. Instrumente sind z. B. die Pin, die traditionelle Volkslaute, es gibt auch einen E-Bass, der im selben Design ist. Das Melodieinstrument, die Vox [gesprochen Uot], ist eine runde Panflöte. Ein weiteres Instrument ist die Khaen, eine Mundorgel. Diese Musik ist meist pentatonisch, die Khaen ist meistens in einer äolischen Moll-Tonleiter gestimmt.

AH: Wie kann man sich diese Musik vorstellen?

GM: Es gibt zwei hauptsächliche Stilrichtungen: Luk Thum, das kann man als Blues des Isaan bezeichnen. Es ist eine langsame, getragene, meist gesungene Form der Volksmusik, die meist sentimentale Themen behandelt. Und dann gibt es Mooram [auch Mor Lam, Maw Lam]. Das ist die eigentliche Tanzmusik, die sehr schnell ist, und eine Bassfigur hat, die entfernt an die Samba erinnert.

AH: In welchem Rahmen treten die Ensembles mit dieser Musik auf?

GM: In Bangkok treten sie meistens bei Festivals oder Großveranstaltungen auf. Im Isaan treten sie bei Dorffesten auf und es ist dort eher an der Tagesordnung.

AH: Kann man einen Einfluss des Jazz oder auf den Jazz bemerken?

GM: Nein, nicht wirklich. Die dortigen Musiken und die westliche Musik leben mehr oder weniger nebeneinander. Sie haben keinen Einfluss aufeinander, weil sie miteinander nicht kompatibel sind. Sie fußen auf völlig unterschiedlichen Prinzipien. Die westliche Musik ist stark harmonieorientiert. Man arbeitet mit übereinander geschichteten Klängen. Die asia- tische Musik kennt dieses Prinzip überhaupt nicht. Sie ist rein linear. Ich hatte teilweise Schwierigkeiten, Musikern, die klassische thailändische Musik spielen, klarzumachen, was ein Intervall oder ein Akkord ist. Diese Denkweise ist ihnen völlig fremd. Umgekehrt ist es für uns auch unvorstellbar, dass es Orchester gibt, in denen im Prinzip alle dasselbe spielen, also wo es keine harmonische Aufteilung in Bassfunktion, Begleitfunktion und Melodiefunktion gibt.

AH: Sie haben mehrere Aufenthalte in Burma [Yangun, Mandalay] absolviert. In welcher Weise haben Sie sich dort musikalisch betätigt?

GM: Eigentlich auf sehr ungewöhnliche Art und Weise. Ich bin durch meine Frau Gudrun darauf gekommen. Sie war einmal dort und hat in Yangun ein Music Center vorgefunden, World Music im Jazz – Jazz in der World Music 33 das dort absolute Pionierarbeit war. In einer großen Garage sind vier Klaviere herum- gestanden, in abgetrennten Kabinetten haben andere Musiker geübt. Ich bin eher durch einen Abstecher darauf gekommen. Gudrun hat mir empfohlen, ich solle mir das anschauen und ich bin dann dort hängen geblieben. Ich habe zunächst ein Streichquartett musikalisch betreut und bin dann dadurch auf ein Kammerorchester gestoßen, das aus Jugendlichen zwischen 13 und 21 Jahren besteht, die in einem Vorort von Yangun wohnen und sich jeden Tag zwei Stunden lang treffen und Kammermusik üben. Sie haben natürlich keine Lehrer und eigentlich niemanden, der sich bei der Musik auskennt. Zunächst haben sie hauptsächlich Barockmusik gespielt. Sie waren schlau genug, nicht gleich die schwersten Stücke zu spielen, sondern ein bewältigbares Repertoire auszuwählen. Es war unheimlich viel Potenzial da, weil sie sehr viel geprobt und geübt haben. So eine Einstellung findet man hier bei uns in Österreich nicht. Diese Jugendlichen dort brauchen nur jemanden, der ihnen sagt, wie es geht.

AH: Hat der Jazz dort eine Rolle gespielt?

GM: Nein, überhaupt nicht. Im Gitameit Center gibt es einen Pianisten, einen Schlagzeu- ger und einen Kontrabassisten. Sie haben den Wunsch geäußert, an diesem Music Center ein Jazzprogramm zu starten, was wir vor eineinhalb Jahren gemacht haben. Das war also Pionierarbeit. Dieses Music Center ist der erste mir bekannte Ort in Burma, wo regelmäßig Jazz gemacht wird.

AH: Es gibt also kaum Möglichkeiten für die musikalische Betätigung für Jazzmusiker?

GM: Nein. So gut wie keine.

AH: Gibt es auch keine Nachfrage wie es etwa in Thailand in Hotels der Fall ist?

GM: Nachfrage gäbe es schon, man muss aber auch sagen, dass viel von dieser Musik in Burma gänzlich unbekannt ist. Im Gegensatz zu Thailand ist Burma komplett abgeschot- tet. Aufgrund des Regimes, das jeden ausländischen Einfluss fürchtet, ist das nicht anders möglich. Nicht umsonst ist die Militärjunta aus der Hauptstadt Yangun in den Dschun- gel geflüchtet und hat dort ihre eigene virtuelle Scheinwelt aufgebaut, um fern vom Volk und der Realität zu sein. Das hat natürlich einen Einfluss auf das Erziehungswesen und die Medien. Wir haben vor eineinhalb Jahren erstmals einen Ostergottesdienst in einer katholischen Kirche in Yangun gestaltet. Das war das erste Mal für viele in der dortigen katholischen Gemeinde, dass sie überhaupt eine Messe mit Orchester und Chor gehört haben. Das hat es dort noch nie gegeben. Das ist für uns unvorstellbar. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 34

AH: Sie waren mehrere Jahre lang als Bassist in der Gruppe Comin’ and Goin’. Diese Gruppe verwendet Instrumente verschiedener Kontinente. Welche Einflüsse waren dabei wichtig und welche Musiker waren in der Band vertreten?

GM: Die Idee kam in erster Linie von dem Percussionisten Bernhard Noriller, der zuvor in der Gruppe Tintenfisch als Gitarrist mitgewirkt hat. Weiters von Klaus Falschlunger, der sich als Sitarspieler auf internationalem Niveau bewegt. Und auch von Alex Mayer am Didgeridoo. Man kann sagen, das ist der »harte Kern«. Später ist der Saxophonist Thomas Zwerger dazugekommen, der jetzt in Berlin lebt. Nachdem er nach Berlin gegangen war, haben sie sich überlegt, ob sie sich überhaupt erweitern sollen und sie haben eine Session im Blue Chip veranstaltet, wo sie mehrere Musiker eingeladen haben. Da war ich auch dabei. Wir haben dann zunächst zu viert gespielt. Dann ist aber der Wunsch nach einem Saxophon laut geworden, und dann ist Andreas Hackl zu uns gestoßen. Später hat sich die Band von einer fixen Formation eher zu einer Projektband entwickelt.

AH: Wie sind die Stücke entstanden? Wer hat neue Einflüsse eingebracht?

GM: Am Anfang ist der Großteil der Stücke kollektiv entstanden, durch kollektive Im- provisation. Später, als eine wöchentliche Probe nicht mehr immer möglich war, hat dann immer einer eine Nummer niedergeschrieben. Einflüsse von anderen Musikrichtungen hat es natürlich gegeben, weil man Instrumente, die aus einem gewissen Umkreis kommen auch stilistisch bei ihren Wurzeln lassen muss, wenn man sie nicht vollends vergewalti- gen will. Es werden zum Teil indische Ragas verwendet, zum Teil koreanische Rhythmen. Über diese Rhythmen bzw. Ragas entstehen natürlich neue Dinge. Diese Sachen werden auch harmonisiert, dadurch dass auch mit E-Gitarre und Keyboard gearbeitet wird. Es entsteht dadurch eine Art Ethno Jazz. Grundschemata der »Heimatstile« der exotischen Instrumente sind nach wie vor da, werden aber weiterentwickelt. Grundvoraussetzung ist die ernsthafte Auseinandersetzung mit der jeweiligen anderen Musik. Das hat bei Comin’ and Goin’ stattgefunden. Klaus Falschlunger konnte sehr viel über indische Ragas ein- bringen, Bernhard Noriller konnte viel über die Handhabung traditioneller koreanischer Rhythmen einbringen. Umgekehrt haben sich die Musiker der Band auch mit westlicher Notation auseinandergesetzt.

AH: Danke für das Interview.

GM: Gerne. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 35

5 Schlusswort

Die Beschäftigung mit »World Music im Jazz – Jazz in der World Music« wirft zahlreiche Fragen auf. Aufgrund der ungenauen Eingrenzung der World Music ist es schwierig, eine systematische Analyse dieser Sachlage zu entwickeln. Was man daraus schließen kann, ist die Tatsache, dass die Einflüsse dieser beiden Musikrichtungen (wenn man sie überhaupt als zwei getrennte Musikrichtungen betrachten kann) aufeinander äußerst vielfältig sind. Es gibt kaum Einschränkungen, welche Aspekte einer fremden Musikkultur, welche In- strumente, welche Kulturen im Allgemeinen im Jazz verwendet werden. Ebenso gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten, wie Elemente des Jazz in verschiedenen Ländern und Kulturen der Erde auf die Musik einfließen. Dieser rege Austausch in beide Richtungen zeigt, wie die Musikproduktion in verschie- denster Weise durch ein weltweites Denken beeinflusst wird. Man muss diese Entwicklun- gen also in direktem Zusammenhang mit den technischen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts sehen. Die globale Wirtschaft, das Internet, für jeden erschwingliche Flug- reisen und überstaatliche politische Partnerschaften machen den Austausch zwischen den Kulturen sehr leicht. Natürlich ist das nicht immer zum Vorteil aller Beteiligten. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht sind es meist gerade die Ärmsten der Armen, die besonders stark unter den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen leiden. Und auch beim kultu- rellen Austausch kommen die Wehrlosen nur allzu oft unter die Räder. Häufig basiert das Interesse westlicher Kulturschaffender an außereuropäischen Kulturen nicht auf der Bewunderung des Fremden, sondern auf Profitgier und Ausbeuterei. Bis heute lassen sich in der Musikindustrie Fälle beobachten, bei denen westliche Musiker das musikalische Material nicht-westlicher Musiker verwendet und damit viel Geld verdient haben, den ei- gentlichen Urhebern der Musik aber nichts von dem Gewinn zukommen ließen. Derartige Ungerechtigkeiten sind die Schattenseiten des globalen Austausches und leider gibt es im- mer wieder schwarze Schafe, die aufgrund ihrer Herkunft ihre Lage ausnutzen und andere für den persönlichen Profit schädigen. Genauso gibt es aber Musiker, die Musiker ande- rer Kulturen mit Respekt begegnen und tatsächlich an einem befruchtenden Austausch interessiert sind. Solch kultureller Austausch hat die Musikproduktion des 20. Jahrhun- derts grundlegend verändert und man kann davon ausgehen, dass im 21. Jahrhunderts der globale kulturelle Austausch auch weiterhin eine entscheidende Rolle in sehr vielen Musikrichtungen spielen wird. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 36

6 Bibliographie

Schrifttum

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• Pfleiderer, Martin: Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre (=Schriften zur Popularmusik- forschung, Bd. 4), Karben 1998.

• Sanjek, Russell/Sanjek, David: American popular music business in the 20th Century, New York u. a. 1991.

• Taylor, Timothy D.: Global Pop. World Music, World Markets, New York u. a. 1997. World Music im Jazz – Jazz in der World Music 37

Musikalien

• Boine, Mari: Gula Gula, CD, Virgin: München 1990.

• Cubismo: Motivo Cubano, CD, Aquarius Records: Zagreb 2000.

• Zawinul, Joe and the Zawinul Syndicate: Vienna Nights – Live at Joe Zawinul’s Bird- land, CD, BHM/BirdJam: Köln 2005. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 38

Raphaela Stadler Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte

1 Einleitung

In der vorliegenden Seminararbeit soll Messiaens Messe de la Pentecôte beschrieben und analysiert werden. Ziel der Arbeit ist es, einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und Hintergründe zu geben, auf die einzelnen Aspekte der Komposition näher einzugehen und schließlich die einzelnen Teile des Werkes im Detail zu analysieren. Nach einem kurzen Überblick über Messiaens Zugang zur Orgel und zu seiner Arbeit als Organist an der Kirche La Trinité in Paris werden seine Reisen näher erläutert, um zu zeigen, welchen Einfluss sie auf das beschriebene Werk hatten. Vor allem sein Studium der Vögel soll besonders hervorgehoben werden. Um den Bezug zur Kirche und zu Pfingsten herzustellen, soll im Anschluss auf Messiaens Religiosität näher eingegangen werden und das Pfingstfest im Allgemeinen kurz angesprochen werden. Die Analyse der fünf Teile der Messe (Entrée, Offertoire, Consécration, Communion und Sortie) konzentriert sich schließlich auf den allgemeinen Aufbau jedes Stückes, den Bezug zum jeweils verwendeten Zitat, den Höreindruck und die rhythmischen Besonderheiten, die Modi und andere Merkmale. Es soll außerdem besonders hervorgehoben werden, dass Messiaens teilweise sehr komplexe Strukturen und Rhythmen beim Hören nicht unange- nehm auffallen. In einem abschließenden Kapitel soll schließlich noch auf die Frage eingegangen werden, inwiefern Messiaens Messe de la Pentecôte und seine anderen Orgelwerke tatsächlich in den Messen gespielt werden und ob man seiner Meisterleistung gerecht werden kann, wenn nur einzelne Teile beispielsweise im Konzertsaal zum Besten gegeben werden.

2 Messiaen und die Orgel

Messiaen wuchs eigentlich nicht mit der Orgel auf. Er erhielt zunächst Klavierunterricht, später auch Harmonielehre und Kompositionsunterricht. Das Klavier wurde zu seinem Instrument. Als die Familie 1919 von Nantes nach Paris übersiedelte, begann Messiaens Ausbildung am Konservatorium. Zu dieser Zeit kam er auch erstmals mit der Orgel und der französischen Orgeltradition in Berührung. Er erhielt unter anderem bei Marcel Dupré Unterricht und konnte sich bald zu den Preisträgern der Orgelklasse am Pariser Konser- vatorium zählen, wie vor ihm beispielsweise auch César Franck (1841), Camille Saint- Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 39

Saens (1851), Vincent d’Indy (1875), Charles Tournemire (1891), Louis Vierne (1894) und zahlreiche andere. Messiaen erhielt aber auch in anderen Fächern Preise, 1929 sogar den großen Preis des Konservatoriums. Er zählt somit zu den erfolgreichsten Studenten des Pariser Konservatoriums.1 Im Februar 1930 spielte Messiaen zum ersten Mal in einem Orgelkonzert an der Kirche La Trinité in Paris. Ein paar Monate später wurde er, im jungen Alter von nur 22 Jahren, an selbiger Kirche zum Titularorganisten ernannt, eine Stelle, die er 60 Jahre lang inne- hatte. Als Begründung nannte man seine französische Tradition und Ausbildung, sowie seine Religiosität und Improvisationsfähigkeiten und seinen angenehmen Charakter. Er spielte vor allem bei Totenmessen und Hochzeiten, sowie natürlich auch bei diversen Mes- sen an den Sonntagen. Dabei spielte er je nach Messe entweder Gregorianischen Choral oder klassische Musik, oder aber auch teilweise seine eigenen Werke. Bei den Vespern im- provisierte er hauptsächlich. Messiaen liebte die an La Trinité vorhandene Orgel. Er soll gesagt haben: »J’aime mon orgue! Il est pour moi un frère, un fils, et je serais désespéré de m’en séparer.«2 Für Messiaen gab es kaum eine bessere Orgel als diese. Die Orgel ist ein ganz typisches Cavaillé-Coll-Instrument. Es wurden im Laufe der Zeit zwar noch ein paar bauliche Änderungen und Renovierungsarbeiten vorgenommen, aber im Großen und Ganzen blieb das Instrument so wie es war. Auch die Akustik in der Kirche schätzte Messiaen sehr.3 Die Orgeltradition zur Zeit Messiaens war in Frankreich eine ganz andere als in Deutsch- land. Man wollte hier nicht den barocken Orgelklang wiederherstellen, sondern vielmehr Virtuosität und Koloristik in den Vordergrund stellen, was schließlich auch zum Einzug der Orgel in die Konzertsäle führte. Virtuosität war ohne Zweifel auch in Messiaens vielen Improvisationen hörbar. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass er schließlich in der Messe de la Pentecôte versuchte, alle seine früheren Improvisationen zusammenzufassen und zu einem großen Gesamtwerk zu vereinen.4

1Burkhard Meischein, »Tradition und Meditation. Messiaens Wege zur Orgel«, in: Michael Heine- mann (Hrsg.), Zur Orgelmusik Olivier Messiaens – Teil 1, St. Augustin 2008, S. 15–17. 2Paroisse de la Trinité, »Eglise de la Trinité«, URL: http://www.latriniteparis.com [24.2.09]. 3Peter Burkholder/Donald Jay Grout/Claude V. Palisca, A History of Western Music, New York u. a. 2006, S. 909–910 und Meischein 2008, S. 17. 4Theo Hirsbrunner, Olivier Messiaen. Leben und Werk, Laaber 1988, S. 31–32 und Johannes von Erd- mann, »Messiaens Kompositionstechnik am Beispiel der Pfingstmesse Messe de la Pentecôte«, in: Referat Kirchenmusik im Bistum Limburg (Hrsg.), Kirchenmusik im Bistum Limburg, Ausgabe 1/2008, S. 14, URL: http://www.kirchenmusik.bistumlimburg.de [12.4.09]. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 40

3 Messiaens Reisen

Messiaens Reisen in fremde Länder und Kulturen sollen hier kurz näher betrachtet wer- den, da sie einen großen Einfluss auf seine Kompositionen hatten, insbesondere in Bezug auf die Verwendung verschiedener Rhythmen und Vogelgesänge, wie man sie auch in der Messe de la Pentecôte findet. Messiaen reiste einige Male in weit entfernte Länder, vorzugsweise Asiens. Asien stand für ihn deshalb im Vordergrund, weil er in diesem Kontinent den Ausgangspunkt der al- ten Hochkulturen sah, die Europa beeinflusst haben. Er studierte während seiner Reisen in erster Linie die Menschen, deren Musik und die Landschaften. Er konzentrierte sich also völlig auf künstlerische, religiöse, magische und mythische Aspekte, weniger auf die Technologie und Politik in diesen Ländern. Dabei versuchte er auch immer, die jeweilige Religion und die Mythen selbst zu leben. Japan zählte zu seinen Lieblingsdestinationen. Dort haben ihn die Menschen, die Kultur und die Landschaft ganz besonders fasziniert und sie haben in weiterer Folge auch seinen Kompositionsstil geprägt, im Sinne von der Verwendung besonderer Akkorde oder der Schichtung verschiedener Elemente.5 Interessanterweise hat Messiaen Indien nie besucht, obwohl gerade indische Rhythmen in viele seiner Werke Einzug gefunden haben, so auch in die Messe de la Pentecôte. Man könnte meinen, dass er doch eigentlich von der farbigen Vielfalt, der Kultur und Religi- on dieses Landes besonders fasziniert gewesen sein müsste. Die komplexe indische Musik schien ihn aber lediglich theoretisch interessiert zu haben.6 Während der zahlreichen Reisen, die Messiaen unternahm, traten auch immer häufiger exotische Vögel in sein Blickfeld. Vögel hatten ihn bereits seit seiner Jugend interessiert. Er hatte immer wieder Vogelrufe notiert und nach und nach ihre Gesänge genauer iden- tifiziert. Es faszinierten ihn vor allem die unterschiedlichen Laute je nach Tages- und Jahreszeit, sowie das dazugehörige Verhalten der einzelnen Vögel. Die Vogelrufe jedoch ganz genau zu notieren, erwies sich als schwierig, so hob Messiaen immer wieder hervor, dass manches Gezwitscher so schnell und komplex sei, dass es unmöglich ist, dieses auf einem Instrument wiederzugeben. Dennoch gelten seine nachgeahmten Vogellaute als die besten. Messiaen verwendete bei seinen Forschungen kein Aufnahmegerät, er notierte nur das, was er vor Ort hörte. Auf manchen Reisen holte er sich auch Hilfe von Fachleuten und Ornithologen. Aber er studierte eben nicht nur einheimische, sondern auch, besonders auf seinen Reisen nach Asien oder Nordamerika, andere exotischere Vögel. Zu seinen bedeu- tendsten Werken, in denen er vorwiegend diese Vogellaute verwendete, zählen hier: Reveil

5Hirsbrunner 1988, S. 77–79. 6Robert Sherlaw Johnson, Messiaen, London 1975, S. 116–118 und Hirsbrunner 1988, S. 79. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 41 des Oiseaux (1953), Oiseaux exotiques (1956) und Catalogue d’Oiseaux (1958). Aber eben auch in anderen Werken kommen Vogelrufe vor; sie werden beispielsweise, wie etwa in der Messe de la Pentecôte, anderen Rhythmen gegenübergestellt oder treten als besondere Zwischenrufe hervor.7

4 Messiaens Religiosität

Es stellt sich in weiterer Folge die Frage, ob die komplexe Musik Messiaens den Ansprüchen der Kirche gerecht werden konnte, ob sie für das Sakrale angemessen und geeignet war oder nicht. In unserer Religion geht es schließlich darum, dass die Kunst der sakralen Funktion dient und sie darum so gestaltet ist, dass sie Priester und Gläubige dazu bringt, sich vollkommen in ihre Frömmigkeit fallen lassen zu können. Dies zielt weiters darauf ab, den Menschen in das Gesamtkunstwerk miteinzubeziehen und nicht die Musik, die Liturgie und den Menschen als drei Einzelteile zu betrachten, die in keinerlei Zusammenhang zueinander stehen. Interessanterweise sträubte man sich in Deutschland seit Liszt gegen die Vorstellung der Moderne in der Kirche, während in Frankreich die Orgel einen ganz anderen Stellenwert hatte und somit der künstlerische Weg der Orgelmusik ein leichterer war.8 Meischein begründet weiters:

Auch der moderne Mensch kann die ihn umgebende Wirklichkeit, z. B. auch den Ge- sang der Vögel, als eine religiöse erfahren. Religiöse Kunst kennt insofern keine Ein- schränkungen, als sie nur eine Bedingung hat: dass sie dem Glauben und dem Sakralen nicht widersprechen darf.9

Der Zusammenhang zwischen Musik und Liturgie oder biblischer Botschaft spielt auch bei Messiaen eine sehr große Rolle. Seine Werke – und somit auch seine Orgelstücke – tragen alle einen spezifischen Titel oder andere Überschriften und Zitate, die den Inhalt näher erläutern sollen. Messiaen behandelt dabei immer ein bestimmtes Thema, wie etwa die Geburt Jesu, die Auferstehung oder eben das Pfingstereignis. Aus der Bibel oder anderen religiösen Texten suchte Messiaen dann Aussagen und Zitate, die mit diesem jeweiligen Thema zu tun haben, und setzte sie schließlich in Musik um. Das tat er in Noten, Rhyth- men, Klängen und nicht zuletzt in Klangfarben. Die einzelnen Titel und Überschriften sind deshalb auch für die Interpretation eines Werkes sehr wichtig. Allerdings liefern sie

7Johnson 1975, S. 116–123, Hirsbrunner 1988, S. 63–69 und Burkholder/Grout/Palisca 2006, S. 911. 8Hirsbrunner 1988, S. 33 und Meischein 2008, S. 17–18 und 22. 9Meischein 2008, S. 20. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 42 dem Hörer zwar einen Anhaltspunkt, aber der eigentliche Zusammenhang, in dem die Bibelstellen zu interpretieren sind, lässt sich oft nur schwer oder indirekt ermitteln und bedürfte einer sehr genauen Betrachtung des Werkes, sowie des gesamten Hintergrundes, auf den das Werk gestützt ist.10 Messiaens religiöse Werke sind also hauptsächlich für bestimmte Ereignisse geschrieben und nicht für die Liturgie im Speziellen oder die gottesdienstliche Handlung. So gesehen handelt es sich eher um programmmusikalische Werke oder Messen. Messiaen unterschied stets ganz bewusst zwischen geistlicher und liturgischer Musik. Das heißt, liturgische Mu- sik ist immer auch automatisch geistliche Musik, aber nicht umgekehrt. Liturgische Musik hängt stark von einer bestimmten liturgischen Handlung ab und bezieht sich auf deren Atmosphäre, geistliche Musik hingegen kann davon losgelöst sein und nur eine ganz all- gemeine Atmosphäre beschreiben.11 Ob eine Verwendung dieser Art von Musik in der Messe dennoch gängig und vor allem gerechtfertigt ist, soll im abschließenden Kapitel dieser Arbeit noch kritisch betrachtet werden. Zweifelsfrei sind Messiaens religiöse und geistliche Werke auch durch seine jahrelange Tä- tigkeit als Organist an La Trinité geprägt. Im Zuge dieser Arbeit bekam er nicht nur einen äußerst guten Einblick in die einzelnen Messteile und biblischen Geschichten, sondern konnte seine eigene Religiosität auch finden und schließlich in seinen Werken umsetzen, welche er wiederum direkt an derselben Kirche selbst zum Preis geben konnte. Nicht um- sonst soll es einige Menschen gegeben haben, die eigens zu den Messen kamen, bei denen Messiaen an der Orgel saß, obwohl sie andernfalls vielleicht sogar überhaupt der Kirche ferngeblieben wären.12

5 Pfingsten/Pentecôte

Pfingsten gilt in der katholischen Kirche als das Fest des Heiligen Geistes. Das Wort Pfingsten leitet sich vom griechischen Wort »pentekosté« ab, was soviel wie der Fünf- zigste bedeutet. Das heißt, Pfingsten findet immer exakt 50 Tage nach Ostern statt und beendet die Osterzeit.13 Zum näheren Verständnis, und um den Zusammenhang mit der

10Burkholder/Grout/Palisca 2006, S. 911 und Michael Heinemann, »Der Komponist als Theologe. Zu Messiaens Musiktheologie«, in: Michael Heinemann (Hrsg.), Zur Orgelmusik Olivier Messiaens – Teil 1, St. Augustin 2008, S. 24–29. 11Burkholder/Grout/Palisca 2006, S. 911 und Carsten Igelbrink, »Die Orgelmusik Messiaens in der Liturgie«, in: Referat Kirchenmusik im Bistum Limburg (Hrsg.), Kirchenmusik im Bistum Limburg, Ausgabe 1/2008, S. 21–26, URL: http://www.kirchenmusik.bistumlimburg.de [12.4.09]. 12Igelbrink 2008, S. 22 und Meischein 2008, S. 17. 13Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr – Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 1987, S. 136–141. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 43 betrachteten Messe herzustellen, soll das Zitat aus der Apostelgeschichte (Apg 2, 1–13) auch hier eingefügt werden:

(1)Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. (2)Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. (3)Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. (4)Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. (5)In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. (6)Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. (7)Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? (8)Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: (9)Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, (10)von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, (11)Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden. (12)Alle gerieten außer sich und waren ratlos. Die einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? (13)Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken.

Mit dem Pfingstereignis bzw. mit dem Heiligen Geist werden in der Regel vier verschiedene Symbole assoziiert, die auch bei Messiaens Messe de la Pentecôte eine wichtige Rolle spielen: der Wind gilt als das erste Symbol des Heiligen Geistes. Manchmal werden auch Atem, Hauch und das Brausen mit ihm assoziiert. Die Feuerzungen stehen für das Wirken des Heiligen Geistes. Das Wasser bedeutet ebenso wie das Feuer, dass etwas Großartiges entsteht. Oftmals gilt es als das lebensspendende Element. Die Taube schließlich gilt erst seit dem 6. Jahrhundert als Sinnbild des Heiligen Geistes. Wahrscheinlich wurde sie als Pfingstsymbol eingeführt, weil sie konkreter zu fassen ist als die anderen drei Elemente und somit eine anschaulichere Darstellung ermöglicht.14 Messiaen setzt interessanterweise sowohl den Wind als auch die Feuerzungen und das Wasser musikalisch um, nicht aber spezifisch die Taube.

14Bieritz 1987, S. 136–141. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 44

6 Analyse

Im folgenden Abschnitt soll nun die Messe de la Pentecôte näher analysiert werden. Um einen besseren Überblick zu bewahren, wurden in jedem Teil die Takte durchnummeriert, obwohl eine solche Gliederung sicher nicht im Sinne Messiaens wäre. Die einzelnen kom- positorischen Mittel wurden außerdem in der Partitur im Anhang anhand verschiedener Farben dargestellt. Für jeden Teil soll zunächst mittels der Überschrift oder des jeweiligen Zitates ein inhaltlicher Zusammenhang hergestellt und die Intention des Komponisten be- schrieben werden. Weiters sollen der allgemeine Aufbau des Stückes und der Höreindruck behandelt und schließlich Besonderheiten hervorgehoben werden. Messiaens Pfingstmesse ist, wie bereits erwähnt, nicht an die Liturgie gebunden, sondern eher Musik, die die stillen Teile einer Messe begleitet, also ein Programmmusikwerk für das Pfingstfest. Sie entstand 1949–1950, also erst zehn Jahre nach den drei anderen Orgel- zyklen L’Ascension (1933), La Nativité du Seigneur (1935) und Les Corps glorieux (1939); sie enthält praktisch alle typischen Parameter des Kompositionsstils von Messiaen.15

6.1 Entrée (Les langues de feu)

Der erste Teil heißt Entrée: Les langues de feu (Die Feuerzungen) und bezieht sich somit direkt auf das Pfingstereignis selbst. Messiaen fügt hier außerdem aus der Apostelgeschich- te hinzu: »Des langues de feu se posèrent sur chacun d’eux.«

Allgemeiner Aufbau Messiaen verwendet in diesem Stück griechische Rhythmen, die er kontrapunktisch ge- genüberstellt, um die Feuerzungen zu beschreiben. Jeglicher metrische Grundschlag geht dabei allerdings verloren, es ist vielmehr ein freimetrischer, nicht genau fassbarer Rhyth- mus.16

Höreindruck Der erste Höreindruck vermittelt bereits sehr deutlich die verschwommenen Rhythmen, die Messiaen auf so kunstvolle Weise miteinander kombiniert. Immer wieder treten aus diesen unregelmäßigen Strukturen allerdings die auf- und absteigenden Sechzehntelbewegungen deutlich hervor. Außerdem auffallend sind die ersten beiden Akkorde, die dem Hörer sehr gut im Gedächtnis bleiben, weil sie im ganzen Stück immer wieder vorkommen.

15Erdmann 2008, S. 11–14 und Heinemann 2008, S. 29. 16Olivier Messiaen, Messe de la Pentecôte pour Orgue, Partitur, Leduc: Paris 1951, S. 1–3, Johnson 1975, S. 110 und Erdmann 2008, S. 14. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 45

Besonderheiten In diesem ersten Teil der Pfingstmesse geht es also vorwiegend um das Übertragen be- stimmter Versmaße in musikalische Rhythmen. Messiaen kombiniert hier vor allem die Grundversfüße Jambus (kurz-lang), Trochäus (lang-kurz), Pyrrhichios (kurz-kurz) und Spondeus (lang-lang) miteinander oder stellt sie einander gegenüber. So findet man bei- spielsweise gleich in Takt 1 einen kurz-lang-lang-kurz-Rhythmus. Im weiteren Verlauf des Stückes ist die Zuordnung jedoch dann nicht mehr so klar. Messiaen fügt teilweise Werte hinzu, teilweise zieht er sie ab, sodass genau genommen irrationale Werte entstehen, die mit dem eigentlichen Versfuß nicht mehr viel zu tun haben. Weiters auffallend sind die regelmäßigen Sechzehntelläufe, die Messiaen immer wieder dazwischen schiebt. In Takt 17 beispielsweise findet man eine aufsteigende Sechzehntel- bewegung, ebenso in Takt 19. In Takt 20 hingegen ist sie absteigend geführt, während in den Takten 25 und 26 schließlich eher kreisende Bewegungen zu finden sind, die das ge- samte chromatische Tonmaterial umfassen. Besonders hervorstechend ist allerdings Takt 24, in dem Messiaen lediglich im Pedal eine Sechzehntelbewegung im Staccato führt, die gekennzeichnet ist durch vier mal drei Töne auf der gleichen Stufe. Der erste Takt umfasst Akkorde im zweiten Modus in der dritten Transposition, welcher dann auch immer wiederkehrt (etwa in Takt 8 oder 12–13), allerdings mit anderen No- ten dazwischen. Die letzten Takte (33–35) stehen erneut in diesem zweiten Modus, dritte Transposition, bevor das Ganze schließlich auf einem g endet, zu dem im Pedal nach und nach noch die Töne as, g, e und b dazukommen, was insgesamt auf Modus 3 in der ersten Transposition schließen lässt. Die Register umfassen hier in diesem ersten Stück im Récit Bourdon 16 und Cymbale, im Positif Quintaton 16 und 3ce, im Bereich Grand-Orgue Montre 8 und 5te, sowie im Pedal Clairon 4. Auch die Dynamik ist hier nicht besonders auffällig, das gesamte Stück ist im mf und f gehalten. Das Hauptaugenmerk liegt hier also definitiv auf dem Rhythmus.

6.2 Offertoire (Les choses visibles et invisibles)

Im zweiten Teil der Messe (Offertoire: Les choses visibles et invisibles) geht es um die sichtbaren und unsichtbaren Dinge, ein Zitat, das dem Niceanischen Glaubensbekenntnis entnommen wurde. Messiaen bezieht sich hier also einerseits auf alles Greifbare und Klare, sowie auch auf all das, was wir nicht enträtseln und erklären können. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 46

Allgemeiner Aufbau Dieser Teil ist der längste der Messe. Er gliedert sich in sieben Abschnitte, in denen vor al- lem Hindu-Rhythmen verarbeitet werden, wie Messiaen selbst dem Stück als Erläuterung voranstellt, und die in einer Art Rondo-Form immer wieder aufeinander folgen. Antoine Goléa begründet dies wie folgt:

Ihr Gebrauch ist gerechtfertigt »durch die fundamentale Vorstellung der Hindu- Philosophie über die Einheit der sichtbaren und unsichtbaren Welt, über die unaufhör- liche Bewegung, deren Schauplatz die sichtbaren und unsichtbaren Teile dieser Welt sind, über ihre fortwährenden Überlagerungen, durch die ihre Dauer und Gestalt sich unaufhörlich verändern.«17

Dieser Satz enthält außerdem Dinge aus der Natur, wie etwa Wassertropfen, genauso wie mathematische Hinweise, die das Endliche und Unendliche zeigen sollen, und nicht zuletzt apokalyptische Visionen und Ungeheuer.18

Höreindruck Das Offertoire lässt sich selbst beim Anhören eindeutig in die sieben Teile gliedern. Sie heben sich klar voneinander ab und sind somit leicht erkennbar. Die komplexen rhythmi- schen Strukturen, die Messiaen teilweise verwendet, sind allerdings für den Hörer nicht herauszuhören. Hier ist eine genauere Befassung mit der Partitur notwendig. Das apoka- lyptische Ungeheuer, sowie auch die Vögel und Wassertropfen hingegen heben sich deutlich von dem Gesamtklang ab.

Besonderheiten In Anlehnung an Vogt19 und Forster20 sollen hier vor allem die verwendeten Rhythmen im Detail erläutert werden. Zusätzlich werden einige Modi und andere Besonderheiten hervorgehoben. Der erste der sieben Teile des Offertoires (Takt 1–10) weist drei Hindu-Rhythmen auf, die Messiaen, wie er selbst erläuternd voranstellt, als rhythmische Gestalten verwendet (»transformée en personnages rhythmiques«21). Die Grundformen dieser drei Rhythmen sind folgende:

17Zitiert bei Erdmann 2008, S. 14. 18Messiaen 1951, S. 3–13, Johnson 1975, S. 110–111 und Erdmann 2008, S. 14–15. 19Hans Vogt, Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 239–243. 20Max Forster, Technik modaler Komposition bei Olivier Messiaen, Neuhausen-Stuttgart 1976, S. 75–76. 21Messiaen 1951, S. 3. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 47

• Rhythmus Tritiya:

• Rhythmus Caturthaka:

• Rhythmus Nihcanakalilâ:

Nun verändert Messiaen diese Grundformen auf folgende Art und Weise: Rhythmus 1 bleibt gleich, Rhythmus 2 vergrößert sich (Augmentation) und Rhythmus 3 verkleinert sich (Diminution). Das heißt, es entsteht folgendes Muster:

• Rhythmus 1: keine Veränderung

• Rhythmus 2: ; ; ; usw.

• Rhythmus 3: ; ; ; usw.

Dieser Abschnitt ist fast durchgehend im zweiten Modus und in seinen verschiedenen Transpositionsmöglichkeiten gehalten. Der zweite Teil dieses Satzes (Takt 11–20), bezeichnet mit Modéré, zeigt ein einstimmiges Thema, das als wellenförmig beschrieben werden könnte. Es ist sehr melodisch und weist keine rhythmischen Besonderheiten auf. Auch bezüglich Modus lässt sich hier nicht ein- deutig ein einziger feststellen, Messiaen vermischt einige Modi miteinander. Rhythmische Besonderheiten gibt es erneut im dritten Abschnitt des Stücks (Takt 21– 47). Die Takte 21–24 bilden hier sozusagen das Vorspiel oder die Einleitung. Takt 21 steht vorwiegend im Modus 3, erste Transposition. Die folgenden Takte stehen dann im Modus 7. Ab Takt 25 findet man dann in der rechten Hand Modus 3, in der linken Hand Modus 4 und im Pedal Modus 2, mit jeweils einigen ihrer Transpositionsmöglichkeiten. Bezüglich Rhythmus gilt auch hier wieder das Sechzehntel als Maßeinheit. Es ergeben sich daraus fünf »chromatische Dauern«22:

1 2 3 4 5

Die folgenden Takte sind dann in Gruppen zu je zwei Takten gegliedert, die sich teilweise ein wenig überlappen. Pro Zweitaktgruppe werden die oben genannten Dauernreihen in rechter Hand, linker Hand und Pedal unterschiedlich kombiniert (die ersten beiden Dau- ern bleiben dabei immer gleich, die anderen drei stehen in verschiedenen Kombinationen zueinander), sodass folgendes Schema entsteht:

22Vogt 1972, S. 242. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 48

Takte 25–26 26–28 28–30 30–33 33–34 35–36 Rechte H. 12345 12354 12453 12435 13245 Linke H. 54123 54132 54213 54231 53412 Pedal 35124 35142 35214 35241 4¬ 4¬ 34512

Takte 36–38 38–40 40–42 42–44 44–46 46–47 Rechte H. 13254 13425 13452 13542 13524 Linke H. 53421 53124 53142 53241 53214 Pedal 34521 34125 34152 34251 34215 4¬ 4¬

Dazwischen kommt zweimal (Take 33–34 und 46–47) das apokalyptische Ungeheuer, ge- kennzeichnet durch das tiefe Basson 16-Register. Obige Tabelle ist von Vogt23 übernom- men, anhand der Partitur sollte dieses apokalyptische Ungeheuer aber eigentlich in der linken Hand gespielt werden. Im Anhang ist dieser Rhythmus ebenfalls durch die jeweili- gen Zahlen gekennzeichnet, beziehungsweise an den Stellen, wo es über die Takte hinaus Überlappungen gibt, stehen kleine Häkchen (¬). Der vierte Teil des Offertoires (Takt 48–56) zeigt in der rechten Hand erneut die wel- lenförmige Melodie aus dem zweiten Teil. Sie wird hier aber teilweise durch hinzugefügte Werte oder Pausen variiert, sodass ein etwas anderer Rhythmus entsteht. Hinzu kommt noch eine Begleitung in der linken Hand, die ebenfalls die bereits bekannte Melodie aus dem zweiten Teil verändern soll. Im fünften Teil (Takt 57–101) spielt Messiaen noch einmal mit den »personnages rhyth- miques«. Linke Hand und Pedal weisen dabei die gleichen Dauernreihen auf wie im dritten Teil (ergänzt durch die noch fehlenden), während die rechte Hand diesmal durchgehend in Sechzehntelakkorden geführt wird. Diese steht eindeutig im dritten Modus in der ersten Transposition. Auch hier wird das apokalyptische Ungeheuer in den Takten 69–70 sowie 99–100 eingefügt. Im sechsten Teil (Takt 102–114) treten nun erstmals die Wassertropfen im Staccato, eben- so wie die Vogelrufe auf, welche im vierten Satz der Messe erneut eine Bedeutung haben werden. Auffallend ist hier, dass die rechte Hand die Wassertropfen beziehungsweise die eingeschobenen Vogelrufe spielt, während die linke Hand Akkorde dazufügt und im Pedal eine Legato-Bewegung gespielt wird. In Teil 7 (Takte 115–123) bringt Messiaen die aus Teil 1 bekannten Hindu-Rhythmen noch einmal, auch hier wieder transformiert durch »personnages rhythmiques«. Die sieben Teile als Gesamtheit gesehen ergeben also folgende Gemeinsamkeiten: Teile 1

23Vogt 1972, S. 242. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 49 und 7 behandeln die Hindu-Rhythmen, Teile 2 und 4 weisen einander ähnliche Melodien auf, Teile 3 und 5 sind gekennzeichnet durch die »personnages rhythmiques« und Dauern- reihen und Teil 6 steht alleine da und bringt die Wassertropfen und Vogelstimmen. Die Symbolik der Zahl sieben im Sinne von Vollkommenheit und Vollständigkeit könnte auch in verschiedenster Art und Weise interpretiert werden, die Sekundärquellen geben hierzu allerdings keinen Aufschluss darüber, ob dies tatsächlich Messiaens Intention war. Im Anhang des Offertoires, dem achten Teil (Takte 124–132), vermischt Messiaen erneut einige der vorangegangen Elemente: Takt 124 greift die Melodie aus dem zweiten Teil auf, Takt 125–126 sowie Takt 129 lassen das apokalyptische Ungeheuer erneut auftauchen. Takt 127–128 und 130 wiederholen die Vogelrufe aus dem sechsten Teil. Der Schlussak- kord schließlich steht im vierten Modus in der ersten Transposition. Er wird im pianissimo gespielt, solange bis er völlig verklingt.

6.3 Consécration (Le don de Sagesse)

Für die Wandlung wählt Messiaen den Titel »Gabe der Weisheit« bzw. fügt er den Satz »L’Esprit-Saint vous rapellera ce que je vous ai dit« (»Der heilige Geist wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe«) aus dem Evangelium nach Johannes (XIV, 26) hinzu.

Allgemeiner Aufbau Es ist festzustellen, dass in diesem Stück drei Hauptmelodien im Wechsel zueinander ste- hen. Zum einen findet man eine Melodie, die an das gregorianische Halleluja der Pfingst- messe angelehnt ist. Diese tritt insgesamt fünfmal auf. Zum anderen gibt es aber auch noch zwei verschiedene Pedalmelodien, jeweils in sehr hellen Registern. Die eine ist im Hindu-Rhythmus simhavikrama gehalten, was so viel wie Löwenkraft bedeutet. Die an- dere weist den Hindu-Rhythmus micra varna (Farbmischung) auf. Insgesamt wechseln die drei Rhythmen so ab, dass jeweils Farbflächen und litaneiartige Melodien aufeinander folgen.24

Höreindruck Die Consécration wirkt beim Hören relativ klar strukturiert und aufgebaut. Die drei ver- schiedenen Rhythmen, die Messiaen verwendet, sind eindeutig herauszuhören und heben sich voneinander ab. Für Nichtkenner geht allerdings nicht klar hervor, dass es sich um Hindu-Rhythmen handelt. Die kurzen Pausen zwischen den drei Teilen machen sie aber klar erkennbar. 24Messiaen 1951, S. 14–16 und Erdmann 2008, S. 15. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 50

Besonderheiten Der erste Teil (Takte 1–2) zeigt den Hindu-Rhythmus simhavikrama. Dieser ist gekenn- zeichnet durch 15 Einheiten, die folgendermaßen aufgeteilt sind:

Rechte und linke Hand sowie das Pedal spielen denselben Rhythmus. Die Tempobezeich- nung hier ist Modéré. Der zweite Teil ist betitelt mit neumes plain-chantesques. Er basiert auf einem Gregoria- nischen Choral und besteht aus drei Takten (3–5). Takte 3 und 4 sind hierbei gleich und weisen einen ganz bestimmten Rhythmus auf. Wie im gregorianischen Halleluja formen die drei Takte gemeinsam eine gewisse Linie. Gespielt wird dieser Teil nur im Positif der Orgel, in den Registern Clarinette, Nazard und Quintaton 16. Er ist ein bisschen schwung- voller zu spielen (Un peu plus allant). Der dritte Teil (Takt 6) schließlich basiert wieder auf einem Hindu-Rhythmus, nämlich micra varna. Dieser Rhythmus hat folgendes Schema:

Auch bei Messiaens Version findet man genau diese Aufteilung und Struktur. Das Tempo ist hier wieder Modéré. Im weiteren Verlauf des Stückes wechseln nun diese drei Grundmelodien und -rhythmen ab: nach einem kurzen Zwischenspiel in Takt 7, das Elemente von Teil 2 aufweist, wie- derholt sich Teil 1 in genau derselben Form wie am Anfang (Takte 8–9). Anschließend kommt Teil 2 wieder, wobei aber der zweite Abschnitt dieses Teils variiert wird (Takte 10–13). Teil 3 wird nachfolgend in derselben Struktur wiederholt wie zu Beginn, also wie- der im micra varna-Rhythmus mit den hinzugefügten Werten (Takt 14). Es folgt erneut ein Zwischenspiel, bei dem man Ähnlichkeiten mit dem zweiten Rhythmus erkennen kann (Takte 15–16). Am Schluss wechselt Messiaen die Reihenfolge der drei Rhythmen ab: er wiederholt zunächst den ersten Teil nochmals (Takte 17–18), gefolgt vom dritten Teil (Takt 19) und schließlich vom zweiten Teil, wieder in leicht abgewandelter Form (Takt 20). Er beendet das Stück mit den beiden Schlussakkorden des dritten Teils.

6.4 Communion (Les oiseaux et les sources)

Zur Kommunion behandelt Messiaen das Thema der Vögel. Als Untertitel spricht er von den »Vögeln und Quellen« und bezieht sich weiters auf den Gesang der Jünglinge im Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 51

Feuerofen, so wie es im Buch des Propheten Daniel (III, 77 und 80) zu finden ist: »Sources d’eau, bénissez le Seigneur; oiseaux du ciel, bénissez le Seigneur« (»Ihr Wasserquellen, preiset den Herrn; ihr Vögel des Himmels, preiset den Herrn«).

Allgemeiner Aufbau Dieses Stück ist stark geprägt von Vogelgesängen und Wassertropfen, die immer wieder aus der Gesamtmelodie hervortreten und die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich zie- hen. Wie bereits erwähnt war Messiaen begeistert von Vogelrufen und notierte einige von ihnen. So findet man in diesem Stück genau bezeichnete Laute, wie beispielsweise den Ruf der Amsel oder der Nachtigall. Das führt natürlich dazu, dass auf einem Instrument wie der Orgel äußerst extreme Registrierungen verwendet werden müssen. Durch die ver- schiedenen Kombinationen von einzelnen Vogelrufen und Vogellauten (rechte Hand) mit Wassertropfen (linke Hand) bezieht Messiaen praktisch die gesamte Natur mit ein.25

Höreindruck Beim Anhören der Communion fallen vor allem die Vogelrufe und Wassertropfen auf. Sie heben sich klar vom Gesamtklang ab und stechen hervor. Auch dass es sich dabei um verschiedene Vogellaute handelt, wird alleine beim Anhören klar, ohne zuvor die Noten gesehen zu haben. Außerdem auffallend sind die extremen Register, die Messiaen in diesem Stück verwendet. Vor allem die hohen Register werden bis aufs Letzte genützt.

Besonderheiten Was zunächst auffällt, ist, dass Messiaen bei den Vogelrufen teilweise genaue Angaben macht, wie beispielsweise Amsel oder Nachtigall, während an anderen Stellen nur sehr all- gemein »oiseau«/»oiseaux« steht. Die Verfasserin dieser Arbeit vermutet, dass Messiaen allgemeines Vogelgezwitscher den speziellen Rufen einzelner Vögel gegenüberstellen wollte. Nach einer kurzen Einleitung (Takte 1–3), in der bereits einige Vogelrufe vorkommen, für die Messiaen im Récit das Oboenregister verwendet, schiebt er einen sehr langsamen Teil im Legato ein (Takte 4–8), der auch einige »valeurs ajoutés« aufweist und schließlich mit einem zweifachen Kuckucksruf (Takte 7 und 8) endet. Dieser ist zwar nicht ausdrücklich so gekennzeichnet – wie etwa die anderen Vögel – aber er ist unverkennbar. Auffallend ist hier, dass der Kuckucksruf zunächst in zwei Achtelnoten gespielt wird, dann langsamer in einer punktierten Achtel und einer Viertel. Nach diesem langsamen Teil kommt der Zwischenruf der Nachtigal (»rossignol«) in Takt 9. Messiaen hebt hier hervor, dass dieser im Flöten/Piccolo-Register zu spielen ist. Nach drei Achteln auf h folgt ein Sprung vom a zum d”.

25Messiaen 1951, S. 17–21 und Erdmann 2008, S. 15–16. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 52

Es folgen eine Reihe von Staccato-Sechzehntel und -Zweiunddreißigstel (Takte 10–13) mit einem erneuten Zwischenruf (Takt 11), der an die Nachtigall zuvor erinnert, allerdings in leicht abgewandelter Form. Auch dieser steht wieder im Flötenregister, Messiaen fügt aber noch das Zimbel-Register hinzu. Im nächsten, etwas längeren Teil (Takte 14–27) werden einzelne Vogelrufe den Wassertrop- fen in der linken Hand (»gouttes d’eau«) gegenübergestellt. Die linke Hand spielt relativ regelmäßige Staccato-Bewegungen in Sechzehnteln, manchmal auch in Triolen, beispiels- weise in Takt 16 oder 18. Der Hauptmodus ist hier Modus 2 in der dritten Transposition, allerdings nicht durchgehend, es werden immer wieder auch andere Noten eingefügt. Gleich zu Beginn gibt es einen Zwischenruf mehrerer Vögel, die Messiaen aber nicht näher be- schreibt. Es scheint ein ständiges Zwitschern zu folgen, das oftmals in anderen Rhythmen gespielt wird als die Wassertropfen. In Takt 20 kommt der Amselruf, auch wieder ge- kennzeichnet durch die Verwendung der hohen Flötenregister. Die folgenden Takte weisen erneut verschiedene Sechzehntelbewegungen im Staccato auf, die manchmal mit den Was- sertropfen gemeinsam, manchmal aber auch bewusst in anderem Rhythmus oder anderer Betonung gespielt werden, was auf das unregelmäßige Gezwitscher der Vögel gegenüber den regelmäßigen Wassertropfen hinweist. Anschließend schiebt Messiaen wieder den langsamen Legato-Teil ein (Takte 28–32), der bereits am Anfang auftauchte, beendet diesen auch hier wieder mit dem zweifachen Kuckucksruf (Takte 31–32) und dem nun leicht abgewandelten zweifachen Ruf der Nach- tigall (Takt 33) im Flöten/Piccolo-Register, der hier aber lediglich wieder die allgemeine Bezeichnung »oiseau« trägt. Es folgt dann ein relativ schneller Teil (bezeichnet mit Vif ), der die Takte 34–45 umfasst. Er ist gekennzeichnet durch fast schon regelmäßige Achtelgruppen, wobei die zweite Ach- tel oft etwas abgehackt klingt. Weiters findet man einige dynamische Wechsel von piano zu forte. In den Takten 38–41 gibt es Akkordfolgen, bei denen jeweils ein Ton auf das chromatische Total fehlt: in den ersten beiden Akkorden fehlt das g, dann das f, dann e und schließlich fehlt in den letzten beiden Akkorden das d. Diese Abfolge wiederholt sich ein paar Mal. Der zweifache Ruf des Vogels (ähnlich der Nachtigall) wird in Takt 46 abermals einge- schoben. Nach einer langen Pause (Takt 47) folgen die letzten drei Takte (48–50) in sehr langsamem Tempo. Zu einem Akkord in der linken Hand spielt schließlich die rechte Hand insgesamt 13 aufsteigende Sechzehntelnoten, bis sie den extrem hohen Schlussklang er- reicht. Die aufsteigende Sechzehntelbewegung umfasst zweimal in derselben Reihenfolge den zweiten Modus in der dritten Transposition (zunächst im Flötenregister, dann im Piccoloregister), der dann im Schlussklang in die erste Transposition desselben Modus Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 53 mündet. Dieser steht im piano-pianissimo, die abschließende Pedalbewegung ist kaum noch wahrnehmbar. Der Bezug zum verwendeten Zitat ist hier eindeutig sowohl hörbar als auch in den Noten nachvollziehbar. Vor allem die einzelnen Vogelrufe sind sehr genau ausnotiert und mit den jeweils passenden Registern der Orgel bezeichnet.

6.5 Sortie (Le vent de l’Esprit)

Die Ausgangsmusik schließlich trägt den Titel Sturmwind des Geistes und bezieht sich erneut auf das eigentliche Pfingstereignis in der Apostelgeschichte (II, 2): »Un souffle impétueux remplit toute la maison« (»Ein gewaltiges Brausen erfüllte das ganze Haus«).

Allgemeiner Aufbau Diesen letzten Teil der Messe de la Pentecôte könnte man grob in drei Abschnitte glie- dern: zunächst wird durch schnelle Läufe der heftige Wind und das Brausen des Sturmes dargestellt. Den Mittelteil beschrieb Messiaen selbst als den Gesang einer Lerche, der als Symbol der Freude des Heiligen Geistes gesehen werden kann. Dann schließlich im letzten Abschnitt bricht nochmals der Sturm aus, in dem teilweise Melodien aus dem Offertoire aufgegriffen und verarbeitet werden. Das Stück endet in einem vierfachen forte mit einem mächtigen Schlussakkord, der sich über einige Oktaven erstreckt.26

Höreindruck Der erste Höreindruck bei diesem letzten Stück vermittelt sehr schnelle Läufe und einen riesigen Klangteppich, manchmal fast schon ein heilloses Durcheinander. Der Zuhörer kann sofort das »gewaltige Brausen« und den Wind identifizieren, die Messiaen in seinem Zitat aus der Apostelgeschichte anspricht. Passend zum Auszug aus der Kirche gibt es hier also ein fulminantes Ende.

Besonderheiten Der erste Teil dieses Stücks (Takte 1–17) ist bezeichnet als »le vent«, also der Wind. Er ist mindestens im fortissimo gehalten, teilweise sogar im forte-fortissimo, und durch sehr schnelle (vif oder très vif ) Läufe gekennzeichnet, vor allem in der rechten Hand. Die ersten beiden Takte enthalten Läufe, die alle chromatischen Töne enthalten außer das f. Takt 6 zeigt nacheinander aufsteigend alle Noten des dritten Modus, die dann (Takt 7) in einem Akkord ebenfalls im dritten Modus (erste Transposition) enden. Takt 11 ist gekennzeich- net durch drei absteigende Zweiunddreißigstel im siebten Modus (erste Transposition),

26Messiaen 1951, S. 22–27 und Erdmann 2008, S. 16 Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 54 die in Takt 12 dann in einen Akkord im dritten Modus (erste Transposition) münden. Interessanterweise ergeben diese Noten insgesamt, also die sechs Zweiunddreißigstel plus der Akkord im darauf folgenden Takt, ein chromatisches Total, bei dem wiederum das f fehlt. In Takt 13 findet man außerdem eine Überlagerung verschiedener Rhythmen. Hier sind in der rechten Hand 18 Sechzehntel, während in der linken nur zwölf gespielt werden, bzw. wenn man diese jeweils in Gruppen zusammenfasst, so stehen 3er- und 2er-Gruppen einander gegenüber. Takt 17 beinhaltet schließlich einen Zweiunddreißigstel-Lauf mit vie- len chromatischen Stufen, wobei hier aber das e fehlt. Den zweiten Teil (Takte 18–40) bezeichnet Messiaen als Lerchenchor (»choeur des alou- ettes«). Er ist gekennzeichnet durch Vogelrufe in der rechten Hand, wieder in relativ hohen Registern, vor allem im Positif durch Flöte, Cornet und Piccolo. Die linke Hand ist akkordisch geführt und das Pedal hat eine relativ einfache Melodie, die aber dennoch stark hervortritt. Die Akkorde in der linken Hand weisen hierbei eine Diminution auf, sie verringern sich jeweils um einen Sechzehntelwert. In der Pedalstimme passiert genau das Gegenteil: eine Erhöhung um jeweils einen Sechzehntelwert führt zu einer Augmenta- tion des Rhythmus. Außerdem auffallend sind die immer wiederkehrenden umkehrbaren Rhythmen, wie beispielsweise in Takt 20 oder 27, die sich mit nicht-umkehrbaren Rhyth- men abwechseln. Das Ende dieses Abschnitts zeigt monotone Sechzehntel in der rechten Hand auf dem des”, die mit einem rallentando schließen und fließend in den kurzen lang- samen Zwischenteil übergehen (Takt 41). Von Takt 42 bis zum fulminanten Ende des Stücks (Takt 53) zeigt Messiaen erneut das gewaltige Brausen, wieder überschrieben mit vif und très vif, also gekennzeichnet durch sehr schnelle Läufe, diesmal sowohl in der rechten als auch in der linken Hand. Er kehrt hier zu den Grundregistern und Zungenregistern zurück. Ab Takt 50 kommt es noch zu einer Steigerung, die frei gespielt werden kann (librement) und extrem schnelle Sprün- ge (Zweiunddreißigstel) zwischen rechter und linker Hand beinhaltet, sodass man dem Notentext kaum noch folgen kann. Der kurze absteigende Lauf in den vorletzten beiden Takten (51–52) leitet im siebten Modus (erste Transposition, ähnlich wie in Takt 11-12) den Schlussakkord ein, der im vierfachen forte preisgegeben wird und einige Oktaven um- fasst. Er enthält alle Töne des dritten Modus. Der Gesamteindruck in diesem Stück ist also vom Brausen des Windes geprägt. Dieses ist auch in den Noten klar erkennbar. Es scheint als wollte Messiaen hier zum Auszug aus der Kirche ein besonders virtuoses Stück bringen. Betrachtet man nun also das Gesamtwerk, so lässt sich feststellen, dass Messiaen alle Elemente bis aufs letzte ausgekostet hat. Sei es Rhythmus, Dynamik, Klangfarben oder außermusikalische Zwischenrufe, er hat sie effektvoll kombiniert, schafft es aber dennoch, Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 55 dass das Werk nicht total durchstrukturiert klingt. Es ist kaum zu glauben, dass sämtliche Teile aus dem beschriebenen Werk aus Improvisationen des Komponisten selbst entstan- den sind.

7 Verwendung der Messe de la Pentecôte in der Kirche

Wie bereits erwähnt unterscheidet Messiaen stark zwischen geistlicher und liturgischer Musik. Für ihn ist die geistliche Musik in jedem Fall wichtiger, weil sie nicht nur in der Kirche wirkt, sondern überall zu finden ist, in der Natur genauso wie im gesamten Uni- versum. So ist auch die Messe da la Pentecôte ein Beispiel für seine geistlichen Werke, da sie eben nicht an die Liturgie gebunden ist, sondern lediglich ein großes christliches Fest zum Thema hat.27 Außerdem ausschlaggebend für die Komposition solcher Werke war die kirchliche Tra- dition zu dieser Zeit. Es gab in Frankreich damals sehr häufig die so genannte »Stille Messe« (die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962–1965 eigentlich nicht mehr in Gebrauch ist), eine Gottesdienstform, bei der das Volk nicht singt. Das gab dem Orga- nisten natürlich die Möglichkeit – vor allem bei den Propriumsteilen – zu improvisieren, oder auch größere Orgelwerke vorzutragen. Auch Messiaen tat dies während seiner Zeit an La Trinité. In diesem Sinne eignen sich also seine geistlichen Werke ohne liturgischen Bezug hervorragend für derartige Darbietungen.28 Seine Kompositionen sind allerdings äußerst komplex und für den Laien wohl nur schwer nachvollziehbar. Der Bezug zu den Bibeltexten spielt ebenso eine große Rolle; kennt der Zuhörer diesen nicht, ist auch jegliches Verständnis des Musikstückes praktisch ausge- schlossen und Messiaens Kommunikationsmittel scheitern. Kurz gesagt, Messiaens Musik verlangt also die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer und dies ist in der katholischen Messe wohl nur schwer zu erreichen.29 Schiebt man diese Bedenken nun kurz zur Seite, so findet man doch ein paar wenige Stücke, mit denen man einen Kompromiss zwischen künstlerischer Gesamtheit und not- wendigen Einschränkungen eingehen kann. Die Messe de la Pentecôte ist so ein Beispiel. Bei ihr können auch nur Einzelteile den Hörer überzeugen. Die einzelnen Stücke sind durch ihre Überschriften zwar dem Ablauf der Messfeier eindeutig zugeordnet, dennoch eignet sich die Aufführung einzelner Teile daraus auch für das Stundengebet beispielsweise, oder auch für den Konzertsaal. Hierbei kann sogar ein kurzer Einblick in Messiaens Komposi-

27Erdmann 2008, S. 11 und Igelbrink 2008, S. 21. 28Hirsbrunner 1988, S. 32 und Igelbrink 2008, S. 21–23. 29Heinemann 2008, S. 24–25 und Igelbrink 2008, S. 23–24. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 56 tionsmittel gegeben werden, um dem Hörer etwa die Vögelrufe näher zu bringen, damit er sie vielleicht sogar erkennen und nachvollziehen kann.30 Igelbrink merkt diesbezüglich außerdem noch an: »Je mehr Messiaen solche Klänge erzeugt, umso mehr wird die Kirche zur Welt.«31

8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Es wurde gezeigt, dass Messiaens Messe de la Pentecôte zu seinen Meisterwerken zählt. Die Messe weist viele seiner Kompositionsmittel auf, Messiaen fügt sie aber in einer Weise zusammen, dass sie für den Zuhörer keineswegs sofort erkennbar sind. Vielmehr verbindet er sie so miteinander, dass sie sich sinnvoll ergänzen oder einander gegenüberstehen. Vor allem die Vogelrufe sind ein Beispiel dafür, dass er einzelne Rhythmen oder Melodien aus dem allgemeinen Klangteppich herausstechen lässt und sie so zu etwas Besonderem macht, das die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich lenkt. Kaum zu glauben, dass Messiaen einzelne Teile aus dieser Messe ursprünglich improvi- siert hatte. Es zeigt sich, dass er ein Meister der Orgel war, obwohl eigentlich das Klavier als sein Hauptinstrument gilt. Durch seinen Arbeitsplatz als Organist an der Kirche La Trinité wurde er aber auch auf der Orgel zu einem Virtuosen. Ebenfalls durch seine Stelle als Organist bildete sich auch Messiaens Religiosität heraus. Eine Verbindung zwischen Kirche und Welt war ihm wichtig, was sich auch an den Themen und Interpretationen sei- ner Orgelzyklen zeigt. Dass dabei oftmals – wie auch in der Messe de la Pentecôte – nicht der eigentliche Ablauf der Liturgie im Vordergrund stand, sondern vielmehr das zentrale Thema des jeweiligen Feiertages, wurde hinreichend gezeigt. Nicht zuletzt sind die Zitate aus der Bibel oder aus anderen religiösen Quellen, die den einzelnen Stücken voranstehen, sehr bewusst ausgewählt. Gleichzeitig integriert Messiaen aber auch die Natur in sein Werk, was Messiaens Denkweise und den Gesamtzusammenhang zwischen Gott und der Welt verdeutlichen soll. Messiaens Orgelwerke heute in die Messen zu integrieren, erweist sich oft allerdings als schwierig, da sie sehr lange und komplex sind. Wenn dann nur einzelne Teile eines Wer- kes herausgegriffen werden, bleibt die Frage offen, inwieweit man dem Komponisten und seinem Schaffen gerecht werden kann.

30Igelbrink 2008, S. 25–26. 31Ebda., S. 26. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 57

9 Bibliographie

Schrifttum

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• Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972.

Musikalien

• Messiaen, Olivier: Messe de la Pentecôte pour Orgue, Partitur, Leduc: Paris 1951. Olivier Messiaen: Messe de la Pentecôte 58

Anm. der Herausgeber: Aus rechtlichen und monetären Gründen kann der Anhang mit den darin enthaltenen Notenbeispielen an dieser Stelle nicht abgebildet werden. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 59

Antonia Zangger Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl

A PRÄLIMINARIEN

1 Einleitung

Das Thema dieser Arbeit bezieht sich auf den Sänger Johann Michael Vogl und die Verzie- rungen in den Schubert-Liedern, welche ihm zu recht oder unrecht zugeschrieben werden. Um diese von Vogl geübte Praxis des Veränderns genauer zu beleuchten, ist es notwendig, sich mit seiner Zeit und ihren musikalischen Bedingungen vertraut zu machen. Im Anschluss an die Darstellung des Forschungsstandes möchte ich auf die Person Vogls, seinen Werdegang und seine Berührungen mit der Verzierungskunst eingehen. Da es sich bei der Beurteilung der Veränderungen, die Vogl an den Schubertschen Liedern vorgenommen hat, um Stilfragen handelt, ist es wichtig zu sehen, wo, bei wem und in welchen Bereichen der Sänger seine musikalische Ausbildung erhalten hat. Oft werden Vogl, in Äußerungen von Kritikern, seine sängerischen Fähigkeiten abgesprochen, sodass man annehmen könnte, es mit einem mittelmäßigen Sänger zu tun zu haben. Um dies zu relativieren, möchte ich einen Blick auf die musikalische Laufbahn des Künstlers, sein Können und seine Kenntnisse in vielen Bereichen der Musik und auch der Geisteswissen- schaften werfen. Die Beziehung zwischen Schubert und Vogl soll Gegenstand eines weiteren Kapitels sein. Ich möchte versuchen zu zeigen, welchen Respekt die beiden Musiker für einander hatten und welche Kritik sie aneinander übten. Die musikalische Zusammenarbeit dauerte meh- rere Jahre, aus dieser Zeit und auch nach Schuberts Tod sind Bemerkungen in Briefen sowie Berichte von Freunden erhalten, aus denen man auf das Verhältnis zwischen Kom- ponist und Interpret schließen kann. Der größte Teil der Arbeit wird sich den Verzierungen in den Schubert-Liedern widmen. Um die Hörgewohnheiten der zeitgenössischen Rezipienten zu verstehen, muss man mit den Konventionen der Gesangskunst zu Schuberts und Vogls Lebzeiten vertraut sein. Für das Kunstlied als eigenständige Gattung gelten selbstverständlich andere Regeln als für die Oper derselben Epoche. Dennoch lässt sich aus der Betrachtung einiger zur glei- chen Zeit entstandener, verzierter Arien von Rossini und Beethoven die damals übliche Praxis der Ornamentik erkennen. Schubert selbst hat in den Bearbeitungen seiner Lieder Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 60

Veränderungen vorgenommen, die durchaus in die Kategorie der Verzierungen fallen. Die- se möchte ich versuchen herauszuarbeiten. Die genauere Betrachtung einzelner mit Vogls Veränderungen überlieferter Lieder soll nun darstellen, in welchem Maß verziert wurde, welche Verzierungen im Speziellen verwendet und an welchen Stellen sie angebracht wurden. Auch möchte ich die Diabelli-Ausgabe der Schönen Müllerin aus dem Jahr 1830 streifen und auf ihren Status als Fälschung oder zumindest Verfälschung eingehen. Die Beurteilung des Voglschen Vortrags und der Verzierungen in Berichten, Tagebuchein- tragungen und Zeitungskritiken der Zeitgenossen stellen das abschließende Kapitel meiner Arbeit dar.

2 Forschungsdiskussion

Die Diskussion um die Ausführung der Schubert-Lieder und hier vor allem in Bezug auf den Sänger Johann Michael Vogl und dessen Verzierungen ist sehr kontrovers. Mit der Herausgabe der Lieder in der Neuen Schubertausgabe ab dem Jahr 1970 wurden die Ver- änderungen Vogls erstmals einem breiten Publikum zugänglich. Der Aufbau der Ausgabe der Lieder mit allen Fassungen und den Veränderungen durch die Internationale Schubert- Gesellschaft und ihren Editionsleiter Walther Dürr stieß auf Kritik von Seiten der For- schung. In seinem Artikel »Schubert and Johann Michael Vogl: A Reappraisal«1 geht Dürr auf die Verzierungen und die Zusammenarbeit von Schubert und Vogl ein. Er vertritt die Ansicht, dass Vogl die Lieder mit Verzierungen aufgeführt hat, und die Kompositionen solche interpretatorischen Freiheiten zulassen. Allerdings spricht Dürr gegen eine schrift- liche Fixierung der Verzierungen. Auch die in der Neuen Schubertausgabe abgedruckten Verzierungen Vogls sieht er nur als Beispiele der Ornamentik und möchte sie nicht kritik- los nachgesungen sehen. Eine Aufnahme der a-Moll Klaviersonate (D 537) mit beigefügten Verzierungen von Ro- bert Levin hat im Jahr 1997 neuerlich zu einer Diskussion über die historisierende Auf- führungspraxis und ihre Anwendbarkeit auf Schubert geführt.2 Starke Ablehnung erfuhr die Interpretation in der CD-Kritik von Susan Kagan und in einem Artikel von David Montgomery3, da beide für eine notentextgetreue Ausführung eintreten. Im Zuge dieser

1Walther Dürr, »Schubert and Johann Michael Vogl: A Reappraisal«, in: 19th-Century Music, Jg. 3 (1979), Nr. 2, S. 126–140. 2Vgl. Robert D. Levin, »Performance Prerogatives in Schubert«, in: Early Music, Vol. 25 (1997), No. 4, S. 723–727. 3Vgl. David Montgomery, »Modern Schubert Interpretation in the Light of the Pedagogical Sources of His Day«, in: Early Music, Vol. 25 (1997), No. 1, S. 101–118. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 61

Diskussion wurde auch auf die Verzierungen in den Liedern eingegangen. Während sich Malcolm Bilson in seinem Artikel4 für die Freiheiten in der Interpretation der Instru- mentalmusik einsetzt, beschäftigt sich Eric Van Tassel5 mit den von Vogl angebrachten Veränderungen. Anders als Montgomery, der Schuberts Akzeptanz der Verzierungen nur auf die Bedeutung Vogls für die Verbreitung seiner Lieder zurückführt, tritt Van Tassel eher für die Position Dürrs ein und fordert sogar noch, einen Schritt weiter zu gehen und die Lieder so zu singen, wie Vogl sie sang. In einem im Jahr 1998 abgedruckten Brief Dürrs6 an Robert Levin bestätigt dieser seine Position aus den 70er Jahren, weist aber auf die Problematik von CD-Aufnahmen mit Veränderungen hin. Zuletzt hat David Montgomery in seinem Buch ’s music in performance7 erneut auf die Müßigkeit der Diskussion um die Verzierungen hingewiesen und sogar ihre Aufführung durch Vogl bezweifelt.

3 Biographisches

Um den Zugang Johann Michael Vogls zu den Schubertschen Liedern zu verstehen, muss man sich neben der Herkunft vor allem mit der Ausbildung des Sängers beschäftigen, die nicht nur eine musikalische, sondern auch eine humanistische war. Die Betrachtung der musikalischen Tradition, in der Vogl aufwuchs und die Erfahrungen, die er während seiner Jahre als Opernsänger machte, erhellen, in welcher Weise sich seine Interpretation der Lieder von jener anderer Schubertsänger unterschied. Wichtig ist es auch zu sehen, dass sich die Art und Weise, in der Vogl die Lieder vortrug, gegen Ende seines Lebens verändert hat.

3.1 Kindheit, Jugend und Ausbildung

Johann Michael Vogl wurde am 10. August 1768 als Sohn eines Greißlers in Ennsdorf bei Steyr geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern wurde er von der Familie seines Onkels erzogen. Schon in Steyr wurde die Begabung Vogls für den Gesang erkannt, so erhielt er etwa ab dem fünften Lebensjahr eine theoretische und praktische musikalische Ausbildung.

4Malcolm Bilson, »The future of Schubert interpretation: what is really needed?«, in: Early Music, Vol. 25 (1997), No. 4, S. 715–722. 5Eric Van Tassel, »›Something Utterly New‹: Listening to Schubert Lieder«, in: Early Music, Vol. 25 (1997), No. 4, S. 703–714. 6David Montgomery/Robert Levin/Walther Dürr, »Exchanging Schubert for Schillings«, in: Early Music, Vol. 26 (1998), No. 3, S. 534–535. 7David Montgomery, Franz Schubert’s music in performance: compositional ideals, notational intent, historical realities, pedagogical foundations (=Monographs in , Bd. 11), Hillsdale 2003. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 62

Im Alter von sieben8 Jahren bekam er als bezahlter Sopranist in der Stadtpfarrkirche von Steyr eine Anstellung.9 Obwohl er seine Heimat schon früh verließ um zur Schule zu gehen, kehrte er doch immer wieder auch in späteren Jahren nach Steyr zurück, wie folgender Artikel aus der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 18. Juli 1821 bestätigt:

Doch freut sich Steyr, die Wiege des gefeierten Sängers Michael Vogl zu sein, der in der Vorstadt Ennsdorf in einem kleinen Hause geboren, als Kind auch den ersten Musik-Unterricht in Steyr empfing und jetzt noch in seiner Meisterschaft nicht unter- läßt, die liebe Heimat, und in ihr seine Freunde und Verehrer öfters wiederzusehen.10

Schon in Steyr hatte Vogl neben Musiktheorie- und Klavierunterricht auch eine fundierte Schulbildung erhalten und konnte daher im Jahr 1781 in die Lateinschule des Benedikti- nerstifts Kremsmünster eintreten, wo er sich als guter Schüler hervortat.11 In Kremsmünster erhielt Vogl seine weitere musikalische Ausbildung von Maximilian Pis- singer und eventuell auch noch von Georg Pasterwitz. Neben der Beschäftigung mit dem Kontrapunkt konnte er auch erste Erfahrungen auf der Bühne sammeln. Vogl wirkte bei der Aufführung von Schau- und Singspielen des Stiftes mit, an deren Verfassung auch sein Freund Franz Xaver Süßmayer beteiligt war.12 Die klassische Ausbildung, welche Vogl in der Lateinschule erhalten hatte, sollte ihn sein ganzes Leben begleiten, die Auseinandersetzung mit Texten war ihm vertraut. So schrieb im März 1825 in sein Tagebuch: »Besuch bei dem Sänger Vogl. Merkwürdiger alter Junggeselle. Liest den Epiktet und ist ein Schatz angenehmer Gecke- rei«13. Im Jahr 1785 gingen Vogl und Süßmayer gemeinsam nach Wien, wo Vogl Rechtswissen- schaften studierte und auch abschloss.14 In Wien erhielt Vogl weiteren Gesangsunterricht beim Kastraten Girolamo Crescentini.15 Dieser unterrichtete den italienischen Gesangsstil und gilt auch als Verfasser mehrerer Gesangstraktate, darunter Übungen für die Singstim- me ohne Worte mit einer Vorerinnerung, 1840 in Leipzig erschienen. Im Vorwort dieser

8Andreas Liess, Johann Michael Vogl. Hofoperist und Schubertsänger, Graz 1954, S. 30. In der älteren Quelle wird das Alter noch mit 9 Jahren angegeben. 9Vgl. Till Gerrit Waidelich, »Johann Michael Vogl«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. völlig neu bearbeitete Auflage, Personenteil Bd. 15, Kassel 2007, Sp. 173. 10Zitiert nach , Franz Schubert: Die Dokumente seines Lebens. Erste Hälfte, München 1914, S. 110. 11Liess 1954, S. 30–31. 12Ebda., S. 31. 13Deutsch 1914, S. 248. 14Liess 1954, S. 32. 15Karl J. Kutsch/Leo Riemens, Grosses Sängerlexikon, Bd. 5, München 1997, S. 3629. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 63

Anweisung betont Crescentini die ihm wichtigen Punkte für den Unterricht, welche wohl auch für Vogls Ausbildung gegolten haben dürften. So hießen die Ausbildungszwecke für seine Schüler:

[...] 1) ihrer Stimme für den Vortrag jeder Gattung der Musik die nöthige Fertigkeit und Biegsamkeit zu geben, 2) sie mit mancherlei Wendungen und Verzierungen, die noch wenig gebrauchet sind, auszustatten, und 3) ihre Lungen in einem sparsamen Gebrauch des Athems zu üben, damit sie durch geschickte Eintheilung der Phrasen ihrem Gesange die nöthige Klarheit geben können.16

In den weiteren Ausführungen schreibt Crescentini: »Colorit ist die Uebereinstimmung der Stimme mit dem Geist und Charakter des Stücks [...]«, sowie: »der Gesang soll die Rede nachahmen«. Über die Verzierungen meint er, dass auch wenn sie dem Hauptzweck des Wortausdrucks fremd sind, ein Sänger sie können müsse »[...] theils um nicht eintönig zu werden, theils um den eigenen Charakter seines Stücks oder der Worte desselben besser herausheben zu können. Ein Triller, ein Läufer, eine Passage am rechten Ort können den Accent und das Colorit und mit ihm den Ausdruck ungemein verstärken.«17 Wie bei vielen anderen Gesangs- und Instrumentaltraktaten dieser Zeit wird der »gute Geschmack« als Gradmesser für die Verzierungen angegeben. Ebenfalls sind bei Crescentini Hinweise auf dynamische Abstufungen und die Messa di Voce zu finden.18 Trotz seiner Weiterbildung im musikalischen Bereich strebte Vogl eine Anstellung beim Wiener Magistrat an. Als er diese letztendlich doch nicht erhielt, folgte er 1794 dem Ruf Süßmayers ans Kärntnertor Theater.19

3.2 Kärntnertor Theater

Anders als viele Sänger, war Vogl nicht an unterschiedlichen Theatern engagiert, sondern hatte während seiner gesamten Karriere als Opernsänger eine durchgehende Anstellung. Am 1. Mai 1794 trat Vogl in das Kärntnertor Theater ein, an dem er für fast 28 Jahre tätig sein sollte.20 Ursprünglich war er für die deutsche Oper engagiert worden, doch wur- de er wegen Schwierigkeiten dieses Ensembles bald in das Personal der italienischen Oper übernommen und bis 1814 als deutscher sowie italienischer Sänger geführt.21

16Girolamo Crescentini, Übungen für die Singstimme ohne Worte mit einer Vorerinnerung, Neue Auflage des Recueil d’Exercices (Paris 1810), Leipzig 1840, Vorerinnerung, S. 1. 17Ebda., S. 2–3. 18Vgl. ebda. 19Liess 1954, S. 32. 20Ebda., S. 32–33. 21Ebda., S. 33. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 64

Zu den wichtigsten Rollen Vogls gehörten der Orest von Gluck (Iphigénie en Tauride), Ido- meneo, Almaviva und Guglielmo von Mozart, der Micheli in Cherubinis Les deux Journées, Jacob in Méhuls Joseph, Padre in Paers Sargino, sowie Telasco in Spontinis Fernand Cor- tez. Einige Komponisten wie Gluck, Schubert, Beethoven und Weigl schrieben auch eigens Rollen für ihn.22 Alles in allem sang er laut der Aufstellung Liess’ über 120 unterschied- liche Partien am Kärntnertor Theater.23 Neben seiner Arbeit als Sänger war Vogl auch als Lehrer tätig. Seine wohl bekannteste Schülerin war Anna Milder, die mit ihm gemeinsam am Kärntnertor Theater auftrat, spä- ter in Berlin engagiert war und ihm, wie man aus Briefen erfährt, auch in dieser Zeit noch herzlich verbunden war.24 Durch Vogls Hilfe wurde Schubert im Kärntnertor Theater eingeführt und erhielt den Auftrag ein einaktiges Singspiel zu komponieren, Die Zwillingsbrüder. Doch trotz Vogls Unterstützung dauerte es über ein Jahr, bis das Singspiel zur Aufführung kam und es wurde bereits nach sechs Vorstellungen wieder abgesetzt. Vogl selbst gab die beiden Zwil- lingsbrüder.25 Wenn man die Presseberichte betrachtet, kann man erkennen, dass Johann Michael Vogl ein hochgelobter Sänger war, der nur selten, eher gegen Ende seiner Karriere, negati- ve Kritiken erhielt. Häufig wird er wegen seiner darstellerischen Fähigkeiten gelobt, so beispielsweise in einer Besprechung von Mozarts Le Nozze di Figaro in der Wiener Allge- meinen musikalischen Zeitung von 1818:

Besondere Auszeichnung verdient Hr. Vogel [sic] (Graf Almaviva); denn bei ihm stand Gesang und Spiel in vollkommenem Einklang. Meisterhaft war sein Vortrag im Fina- le, wo sein Zorn und seine Zärtlichkeit in immerwährendem Wechsel sich steigern.26

Kritiken wie diese zeigen, dass die Umsetzung einer Rolle für Vogl von großer Wichtigkeit war, eine Eigenschaft, die er auch in die Interpretation der Lieder einbrachte, welche er bereits parallel zu seiner Opernkarriere sang. Als der damalige Pächter, Domenico Babaja, das Kärntnertor Theater seinem Nachfolger übergab, wurde Vogl in den Ruhestand versetzt. Die Pensionierung wurde auf 1. Dezember 1821 rückdatiert. Im Alter von 54 Jahren war Vogl somit von seinen Verpflichtungen entbunden und hatte nun Zeit, sich voll und ganz den Liedern zu widmen.27

22Waidelich 2007, Sp. 174. 23Liess 1954, S. 195ff. 24Deutsch 1914, S. 247. 25Maurice J. E. Brown, »Schubert’s Early Association with the Kärntnertor-Theater«, in: The Musical Times, Vol. 100 (1959), No. 1395, S. 261–262. 26Zitiert nach Liess 1954, S. 172. 27Liess 1954, S. 34–35. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 65

3.3 Liedsänger

Im Jahr 1817 traf Johann Michael Vogl mit Franz Schubert zusammen und wurde in der Folge der wichtigste Wegbereiter für Schuberts Erfolg als Liederkomponist. 1821 führte er den Erlkönig öffentlich in der Wiener Oper auf. In den Jahren 1819, 1823 und 1825 verbrachte Schubert mit Vogl den Sommer in dessen Heimat in Oberösterreich, wobei mehrere Konzerte gegeben wurden. Auch bei den privaten Schubertiaden, sowie im einzi- gen öffentlichen Konzert das Schubert veranstaltete, trug er dessen Lieder vor.28 Nach Schuberts Tod im Jahr 1828 sang Vogl bei zwei Gedenkkonzerten, die von Anna Fröhlich veranstaltet wurden.29 Einer seiner letzten Auftritte war 1833, als er bei einer Soirée der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde Schuberts Wanderer sang.30 Kurz vor seinem Tod wurde von Vogl die als geschlossener Zyklus aufgeführt.31 Aus Berichten von Zeitgenossen kann man aber entnehmen, dass die stimmliche Qualität des Sängers mit dem Alter abnahm und Vogl mitunter zur Manieriertheit neigte. Dürr meint, dass Vogls Gesang in den späteren Jahren durch eine Art übertriebene Darbietung mit Falsett und Schreien und nicht durch melodische Veränderungen gekennzeichnet war, was Schubert wohl untragbar gefunden hätte.32 Leopold von Sonnleithner, ein Freund Schuberts, schreibt einige Jahre nach Vogls Ableben: »Noch wenige Jahre vor seinem Tod kokettierte er mit seinem Gesange; – für jene, die ihn nicht aus seiner guten Zeit kannten, war er zuletzt schon rein lächerlich.«33 Seine genaue Beschäftigung mit den Liedern und die Beobachtungen, die er bei anderen Sängern machte, veranlassten Vogl zu der Meinung, dass gerade bei Schuberts Liedern eine klare Gesangsanweisung in schriftlicher Form benötigt würde. Leider ist die von Vogl geschriebene Singschule nicht erhalten.34

3.4 Späte Jahre

Nach der letzten gemeinsamen Reise mit Schubert ging Johann Michael Vogl für einen Winter nach Italien. Kurz nach seiner Rückkehr nach Wien heiratete er Kunigunde Rosa,

28Ebda., S. 35. 29Ebda. 30Kutsch/Riemens 1997, S. 3624. 31Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Laaber 1996, S. 46. 32Dürr 1979, S. 127. 33Otto Erich Deutsch, Schubert: Die Erinnerungen seiner Freunde, Leipzig 1957, unveränderter Nach- druck Wiesbaden 1983, S. 136. Der Originaltext aus dem Jahr 1858 ist als Notizen zur Biographie des Franz Schubert im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erhalten. 34Liess 1954, S. 129. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 66 wie wir aus einem ihrer Briefe erfahren.35 Vogl war lange Zeit ein Junggeselle gewesen, die Eheschließung erfolgte vergleichsweise spät, mit fast 58 Jahren. Dies veranlasste mehrere Mitglieder des Freundeskreises zu teilweise überraschten Äußerungen, wie etwa in seinem Brief an Eduard von Bauernfeld vom 10. Juli 1826: »[...] Vogl hat geheurathet!!!«36 oder Sophie Müller in ihrem Tagebuch am 26. Juni 1826: »Vogl, Sänger, heiratet [Kunigunde] Rosa.«37 Seine Frau, die Tochter des ehemaligen Belvedère-Direktors, gebar ihm eine Tochter, so- dass Vogl im hohen Alter noch Vater wurde.38 Um die Gesundheit des Sängers war es nicht gut bestellt, durch sein Gichtleiden zog sich der Sänger immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück, er sang aber weiterhin Schubert-Lieder und beschäftigte sich mit Philosophie.39 Am 20. November 1840 starb Vogl nach wie vor hoch angesehen – 72jährig – in Wien an Entkräftung und wurde auf dem Matzleinsdorfer Friedhof begraben.40

4 Schubert und Vogl

David Montgomery nennt in seinem Buch Franz Schubert’s Music in Performance 106 Sänger, die zu Schuberts Lebzeiten dessen Lieder aufgeführt haben. Dabei handelt es sich um Sänger und Sängerinnen aller Stimmlagen, sowohl aus dem Kreis der Amateure, als auch der professionellen Interpreten.41 In dieser Vielfalt von Sängern waren nicht alle von gleicher Bedeutung für die musikalische und karrieretechnische Entwicklung des Kom- ponisten. Vogl, der als Hofopernsänger durchaus bekannt und einflussreich war, gehört zu den bedeutendsten Förderern Schuberts und war über lange Zeit hinweg sein Weg- gefährte. In diesem Abschnitt möchte ich nicht nur auf die musikalische Zusammenarbeit der beiden Musiker eingehen, sondern vor allem den Blick auf das persönliche Verhältnis richten. Um zu sehen, welchen Respekt Vogl und Schubert für einander hatten, muss auch der Umgang abseits des Musizierens betrachtet werden, sowie ein wenig auf den Freundeskreis und die Schubertiaden eingegangen werden.

35Deutsch 1983, S. 250–251. 36Deutsch 1914, S. 335. 37Ebda., S. 332. 38Liess 1954, S. 37. 39Ebda., S. 38. 40Ebda., S. 38–39. 41Montgomery 2003, S. 17–18. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 67

4.1 Umfeld

Die Europäische Welt war zu Schuberts Lebzeiten von Umbrüchen geprägt: die Revo- lution in Frankreich, Napoleon und die darauffolgende Neuordnung der Grenzen beim Wiener Kongress von 1814/1815. Die Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 galt lange als ruhige, nach innen gekehrte, sich lediglich auf die Kultur konzentrierende Zeit. Doch müssen auch die aufflammenden Unruhen und politi- schen Schwierigkeiten, welche unter der scheinbar harmlosen Oberfläche verborgen waren, betrachtet werden. Österreich hatte zur damaligen Zeit mit den Problemen des Vielvöl- kerstaates und den aufkeimenden nationalistischen Bewegungen der einzelnen Kronländer zu kämpfen.42 Die in kurzer Zeit aufkommende Industrialisierung und die revolutionären Tendenzen, die sich in ganz Europa entwickelten, stellten weitere Herausforderungen an das politische und soziale System dar.43 Durch die Unterdrückung der Metternich-Zeit wurde die Veranstaltung von Konzerten und Vergnügungen in den privaten Raum abgedrängt. Schubertiaden und andere inoffizielle Zusammenkünfte entstanden. Während des Wiener Kongresses und auch früher im Ba- rock, wurden Salons meist mit hauptsächlich politischer Intention veranstaltet, wobei man sich zusätzlich mit Musik oder Literatur beschäftigte. Die bürgerlichen Zusammenkünfte, die sich hauptsächlich mit der Musikausübung befassten, existierten zwar, waren aber in der Minderzahl. Die Schubertiaden entwickelten sich aus einer Form des Musikalischen Salons heraus. Obwohl man keine Indizien über politische Diskussionen in Schubertschen Kreisen finden kann, ist es doch wahrscheinlich, dass sich die künstlerische und geistige Elite, aus der sich die Runde zusammensetzte, mit der aktuellen Situation beschäftigte. ist der Auffassung, dass die dort zwar gern gehörte Musik Schuberts auch hier nicht unbedingt im Mittelpunkt gestanden haben dürfte, sondern eher den Deckman- tel für Zusammenkünfte darstellte.44 Ob nun als wirkliche Musikveranstaltungen oder als getarnte politische Treffen, in jedem Fall stellen die Schubertiaden und musikalischen Sa- lons einen wichtigen Teil des Musiklebens des Biedermeier dar. Der Freundeskreis rund um Schubert setzte sich hauptsächlich aus Männern zusammen, die sich im künstlerischen Bereich betätigten. So kann man Schriftsteller wie und Eduard von Bauernfeld, Maler wie Moritz von Schwind und Leopold Kupel- wieser, aber auch Sänger wie Johann Michael Vogl oder Baron Karl von Schönstein unter den Freunden finden. Neben Leseabenden fanden auch die Schubertiaden statt, wobei die

42Adam Wandruszka, »Die politische und kulturelle Situation Österreichs zur Schubertzeit«, in: Otto Brusatti (Hrsg.), Bericht Schubert-Kongreß Wien 1978, Graz 1979, S. 19. 43Ebda., S. 21. 44Ernst Hilmer, Franz Schubert in seiner Zeit, Graz 1985, S. 23ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 68

Teilnehmer sich gegenseitig zur Beschäftigung mit der Kunst angespornt haben dürften.45 Von werden in seinem Artikel »Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini« einige Hinweise in Briefen auf mögliche homosexuelle Beziehungen im Schubertkreis betrachtet.46 Diese auch für die Vogl-Schubert-Beziehung interessanten Be- hauptungen wurden allerdings von anderen Autoren, wie etwa Rita Steblin47 entkräftet, sodass man von keinem eindeutigen Beweis in die eine oder andere Richtung sprechen kann. Langjährige heterosexuelle Verbindungen und Heiraten von Freunden Schuberts, wie etwa die Hochzeit Vogls, zeugen eher vom Gegenteil.

4.2 Anfangszeit

Schon während seiner Zeit im Stadtkonvikt hatte Schubert öfter mit Josef von Spaun Auf- führungen im Kärntnertor Theater besucht und dort Darbietungen von Johann Michael Vogl gehört. Nach einer Vorstellung von Glucks Iphigenie auf Tauris war Schubert von Anna Milder und Johann Michael Vogl begeistert. Spaun schreibt 1858 in seinen Aufzeich- nungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert: »Er [Schubert] bedauerte, Vogl nicht zu kennen, um ihm für seine Leistung als Orestes zu Füßen zu fallen.«48 Diese frühe Be- geisterung für den Gesang des Hofopernsängers hielt sich auch über längere Zeit hinweg. Im Jahr 1817 hatte Schubert noch keinen Sänger für seine Lieder und musste sie stets selbst vortragen. Die Verehrung für Johann Michael Vogl war noch immer vorhanden und so wurde von Franz von Schober ein Treffen zwischen Vogl und Schubert organisiert, ein schwieriges Unterfangen, da man nur schwer an den Sänger herankam. Nachdem Vogl die Zusammenkunft zuerst abgelehnt hatte und Schubert dies ohne überrascht zu sein hinnahm, konnte er schließlich doch zu einer gemeinsamen Probe überredet werden.49 Vermutlich kam es im Sommer 1817 zum ersten Zusammentreffen der beiden Musiker.50 Dieses war von der Unsicherheit seitens des Komponisten geprägt, der laut Spaun »[...] einen etwas linkischen Kratzfuß machte und über die Ehre der Bekanntschaft in der Ver- legenheit einige unzusammenhängende Worte stammelte« darüber »rümpfte Vogl etwas geringschätzig die Nase«51. Hier kann noch sehr schön die untergeordnete Position Schu- berts in Bezug auf den schon arrivierten Hofopernsänger gesehen werden, der eindeutig

45Walther Dürr/Andreas Krause (Hgg.), Schubert Handbuch, Kassel u. a. 2007, S. 22ff. 46Vgl. Maynard Solomon, »Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini«, in: 19th-Century Music, Vol. 12 (1989), No. 3, S. 193–206. 47Vgl. , »The Peacock’s Tale: Schubert’s Sexuality Reconsidered«, in: 19th-Century Music, Vol. 17 (1993), No. 1, S. 5–33. 48Deutsch 1983, S. 150–151. 49Ebda., S. 153–154. 50Dürr/Krause 2007, S. 41. 51Deutsch 1983, S. 154. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 69 den Ablauf der Probe und die Entscheidung über weitere Treffen in der Hand hatte. Doch wich Vogls Voreingenommenheit schnell und er trat von sich aus wieder an den Schubertkreis heran, musizierte bald regelmäßig gemeinsam mit Schubert und unterstütz- te ihn.52 Das Verhältnis der beiden Musiker dürfte sich bald in ein freundschaftliches gewandelt haben, vielleicht kann man auch fast von einer Art Vater-Sohn-Beziehung spre- chen. So schreibt im Nekrolog für Franz Schubert 1829, dass zu dessen »Freiheit und Behaglichkeit des Daseins [...] vieles ein Mann beitrug, welcher sein zweiter Vater zu nennen; er hat nicht nur materiell für Schubert gesorgt, sondern ihn auch geis- tig und künstlerisch in Wahrheit gefördert [...]«53. Auch Josef von Spaun berichtet 1829 rückblickend über das gute Verhältnis zwischen Vogl und Schubert:

Vogl erfüllte mit wohlmeinendem Rate dem jungen Freunde den reichen Schatz seiner Erfahrungen, sorgte väterlich für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, wozu damals sein Erwerb durch Kompositionen nicht ausreichte, und bahnte ihm durch den herr- lichen Vortrag seiner Lieder den Weg zum Ruhme, den er so glänzend erreichte.54

In der Folge sang Vogl viele Erstaufführungen der Schubertschen Lieder und die Rolle der Zwillingsbrüder im gleichnamigen Singspiel Schuberts. Um die Aufführung dieses Bühnen- werkes bemühte sich Vogl redlich, doch selbst mit seinem großen Einfluss fiel es scheinbar nicht leicht Die Zwillingsbrüder am Kärntnertor Theater unterzubringen, was Schubert in einem Brief an Anselm Hüttenbrenner vom 19. Mai 1819 so kommentierte: »Trotz eines Vogels ist es schwer, wider Canaillen von Weigl, Treitschke etc. zu manövriren. – Drum gibt man statt meiner Operette andere Ludern, wo einem die Haare zu Berge stehen.«55 Auch als sich Schubert im Sommer 1818 in den Diensten der Familie Esterházy in Zelez aufhielt, scheint er brieflichen Kontakt mit Vogl gepflegt zu haben.56 Als Schubert er- fahren hatte, dass sich Vogl in Oberösterreich befand, schrieb er in einem Brief an seine Freunde: »Ich wollte, ich wäre bey ihm. Dann würde ich gewiß meine Zeit gut zu Faden schlagen.«57

52Ebda., S. 154–155. 53Ebda., S. 19. 54Ebda., S. 29. 55Deutsch 1914, S. 61. 56Ebda., S. 47. 57Ebda., S. 51. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 70

4.3 Gemeinsame Reisen und spätere Jahre

In den Jahren 1819, 1823 und 1825 nahm Vogl Schubert in seine Heimat Steyr mit. Ge- meinsam gaben sie Konzerte unter anderem in Bad Gastein, Gmunden, Steyr, Linz und Salzburg.58 Auf der ersten Reise schrieb Schubert eine Kantate zu Ehren Johann Michael Vogls (D 666). Der Text stammt von Albert Stadler, der ein Lobgedicht zu Vogls Geburts- tag am 10. August 1819 verfasst hatte. Aufgeführt wurde dieses Stück in Steyr unter der tatkräftigen Mitwirkung des Komponisten.59 Die Ehrenkantate könnte natürlich dazu ge- dacht gewesen sein, Johann Michael Vogl zu schmeicheln, doch ist es unwahrscheinlich, dass Schubert in Bezug auf Vogl mit kalter Berechnung agierte. Das musikalische Zu- sammenspiel der beiden wurde häufig durch den Erfolg bestätigt, sodass Schubert einer Huldigung der im Gedicht erwähnten sängerischen Leistungen gewiss zustimmte.60 Bei ihrem zweiten Aufenthalt in Oberösterreich traten Vogl und Schubert das erste Mal bei der Familie Hartmann in Linz auf. Sie trugen nicht nur Lieder im privaten Rahmen vor, sondern verbrachten auch gesellige Abende in Wirtshäusern.61 Das offensichtlich gute Verhältnis zwischen Schubert und Vogl beschreibt ersterer in einem Brief an Franz von Schober vom 14. August 1823: »Mit Vogl komme ich recht gut aus. Wir waren miteinan- der in Linz, wo er recht viel und recht schön sang.«62 Von der dritten Reise im Jahr 1825 schickte Schubert einen Brief an seinen Bruder Fer- dinand, in dem er den Erfolg der Konzerte und das gute Zusammenspiel mit seinem Musikpartner erwähnte: »Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neu- es, Unerhörtes.«63 Dass die Aussage über das gemeinsame Musizieren ehrlich gemeint ist und nicht einem berechnenden Zweck diente, kann in diesem Fall angenommen werden, handelt es sich doch um ein privates Schreiben. Trotz der positiven Worte und der offensichtlichen Gleichberechtigung beim Musizieren, kann in den Äußerungen Schuberts in seinen Briefen nicht übersehen werden, dass die Reiseplanung allein in der Hand von Johann Michael Vogl lag. So schrieb Schubert im September 1825, scheinbar überrascht, an Johann Steiger von Arnstein: »Es ist mir sehr leid, daß ich Euch nicht zu Clodi begleiten kann. Da wir heute an den Atter-See fahren,

58Liess 1954, S. 35–36. 59Dürr/Krause 2007, S. 293. 60Der Text der Kantate findet sich im Anhang. 61Deutsch 1914, S. 166. 62Ebda., S. 167. 63Ebda., S. 281–282. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 71 u. diese Fahrt nicht verschoben werden kann, indem Vogl beschlossen hat, Morgen!! von Gmunden abzureisen.«64 Auch in Wien wurde gemeinsam weiter musiziert und nach allen Schwierigkeiten kam es im Juni 1820 schließlich doch zur Aufführung von Die Zwillingsbrüder am Kärntnertor Theater. Schubert allerdings war offiziell nicht anwesend und ließ sich von Vogl bei der Dankesrede vertreten. In der Kritik der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 17. Juni 1820 über die mäßig erfolgreiche Premiere, erscheint Schubert fast wie ein Produkt Vogls. Es wird vermeldet, dass »Herr Vogl, dessen Sorgfalt und Pflege wir größtenteils den jungen Tonsetzer verdanken, erschien, meldete, daß Herr Schubert nicht zugegen sei, und dankte in dessen Namen.«65 Ein weiteres Opernprojekt auf einen Text von Franz von Schober sollte dem Singspiel nachfolgen. Doch trat Vogl, für den eine Rolle konzipiert war, diesmal nicht als Fürsprecher beim Theater auf, da er sich mit Schober nicht verstand.66 Ende 1822 hatte Schubert das Projekt aufgegeben und schrieb an Josef von Spaun:

Mit der Oper ist es in Wien nichts, ich habe sie zurück begehrt und erhalten, auch ist Vogl wirklich vom Theater weg. [...] Mit Vogl habe ich, da er nun vom Theater weg ist, und ich also in dieser Hinsicht nicht mehr genirt bin, wieder angebunden. Ich glaube sogar mit ihm oder nach ihm diesen Sommer wieder hinauf zu kommen;67

Die Ablehnung der Oper durch Vogl scheint das Verhältnis zwischen ihm und Schubert getrübt zu haben. Erst nach der Pensionierung des Sängers war die Situation wieder entschärft und es kam im Sommer 1823 tatsächlich zur oben erwähnten Reise nach Ober- österreich. Abseits der Opernbühne waren Schubert und Vogl durchwegs erfolgreich. Im Jahr 1821 erschienen die drei Lieder op. 6, Memnon (D 541), Antigone und Oedip (D 542) und Am Grabe Anselmos (D 504) auf Texte von Johann Mayrhofer. Sie sind Vogl gewidmet, was auch in den Presseankündigungen und -berichten68 erwähnt wird und somit durch den Bekanntheitsgrad Vogls den Verkauf gesteigert haben dürfte. Vogl sang Schuberts Lieder selten bei größeren Veranstaltungen, dafür in vielen privaten Aufführungen. Zwei wichtige Konzerte für Schubert waren 1821 die erste öffentliche Auf- führung des Erlkönig bei einer Akademie im Kärntnertor Theater, die großen Anklang

64Ebda., S. 286. 65Ebda., S. 72. 66Dürr/Krause 2007, S. 328–329. 67Deutsch 1914, S. 148–149. 68Ebda., S. 122. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 72 fand und 1828 ein von Schubert selbst organisiertes Konzert.69 Der Vortrag des Erlkönig wurde durchwegs gut von der Presse aufgenommen, so vermeldete etwa der Sammler vom 27. März 1821:

Hr. Vogl sang den Erlkönig, eine Komposition des Herrn Schubert, welche durch den früheren Vortrag des Hrn. Vogl schon vielen Kredit, besonders aber viel Beifall in Pri- vatzirkeln sich erworben hatte. Hr. Vogl weiß sehr gut mit solchem deklamatorischen Gesange umzugehen und erntete viel Beifall.70

Bei diesem Konzert wurde Vogl von Anselm Hüttenbrenner, dem langjährigen Freund Schuberts begleitet, da dieser selbst nicht vor dem großen Publikum auftreten wollte. Allerdings wohnte der Komponist den Proben bei und fügte auf Wunsch Vogls Takte in die Klavierbegleitung ein.71 Diese Betreuung scheint in einem weiteren Konzert, bei dem ein anderer Begleiter tätig war, gefehlt zu haben. So schreibt die Wiener Zeitung für Kunst, Literatur, Theater und Mode vom 16. Oktober 1821:

Das beliebte Gedicht von Goethe: Erlkönig, mit der geschätzten Musik des Hrn. Franz Schubert, gesungen von Hrn. Vogl, machte diesmal nicht die erwartete Wirkung, so sehr die Kunst des Sängers durchzugreifen strebte, weil der Begleiter auf dem Forte- piano, Hr. K. Schunke, den Gesang durch das Akkompagnement nicht zu unterstützen wußte.72

Dies lässt wieder darauf schließen, dass das Zusammenspiel zwischen Schubert und Vogl, beziehungsweise Schuberts Fähigkeit, den Klavierpart entsprechend den Bedürfnissen des jeweiligen Sängers einzurichten, einen Großteil des Erfolges ausmachte. Im Jahr 1825 haben Schubert und Vogl scheinbar gemeinsam die Schauspielerin Sophie Müller unterrichtet und bei ihr Lieder vorgetragen. Diese Unterrichtstätigkeit scheint sich im Frühjahr, also bis zur Abreise Vogls nach Oberösterreich, ereignet zu haben.73 Vogl dürfte sich im Schubertschen Kreis vor allem auch nach seiner Heirat mit Kunigunde Rosa sehr wohl gefühlt haben und nahm neben den offensichtlich häufigen Schubertiaden (»Es ist alle Wochen bei Enderes Schubertiad, das heißt der Vogl singt.«74) auch an an- deren gesellschaftlichen Unternehmungen teil. Teilweise scheint auch seine Frau zu den Treffen mitgekommen zu sein, so schrieb Franz von Hartmann am 12. Jänner 1827 in sein

69Peter Clive, Schubert and his world – a biographical dictionary, Oxford 1997, S. 248. 70Deutsch 1914, S. 95. 71Deutsch 1983, S. 214. 72Deutsch 1914, S. 114. 73Ebda., S. 249. 74Ebda., S. 241. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 73

Tagebuch, wer alles an einer bei Spaun teilgenommen hatte: »[...] endlich Vogl und seine Frau [...]. Ein gar schönes [Lied], ›Die Abendröte‹ von Lappe wurde von Vogl 2mal gesungen, der gerade besonders gut aufgelegt war.«75 Während sich die Beziehung zwischen Schubert und Vogl früher hauptsächlich auf ih- re musikalische Zusammenarbeit und die Förderungen seitens Vogls beschränkte, ergab sich durch die gemeinsamen Reisen ein persönlicherer Kontakt. Nach Vogls Aufenthalt in Italien im Winter 1825/1826 und seiner Heirat im Juli 1826 ist es nicht mehr zu gemein- samen Reisen von Komponist und Sänger gekommen. Dafür scheint Vogl mehr in den Freundeskreis involviert und ein fixer Bestandteil der Schubertiaden gewesen zu sein.

75Ebda., S. 369. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 74

B VERZIERUNGEN BEI SCHUBERT

1 Konventionen der Zeit

Um die zur Schubertzeit gültigen Regeln der Ornamentik zu verstehen, sollte man sich die Entwicklung der Verzierungskunst und ihre durchlaufende Tradition seit dem Mittelalter vor Augen führen.

1.1 Historischer Abriss

Die Verzierungskunst lässt sich bis auf die melismatischen Auszierungen der Choräle des Mittelalters zurückführen.76 Diminuierungen hat es wohl immer schon gegeben, im 16. Jahrhundert bildet sich aber erstmals ein System heraus. Man findet zahlreiche soge- nannte Diminutionsschulen im deutschen, italienischen, englischen und spanischen Raum, die versuchten, Regeln für die improvisierten Auszierungen zu geben. Schon damals konn- te man zwischen Verzierungen eines Tones (später wesentliche Manieren genannt) und Verbindungen zwischen mehreren Tönen (willkürliche Manieren genannt) unterscheiden. In der Renaissance war es geradezu unvorstellbar, ein Stück ohne Veränderungen darzu- bringen.77 Mit der »Seconda Prattica«, der Monodie des Frühbarock, wurde die Forderung nach Textverständlichkeit und Ausdruck laut. Das Wort stand im Mittelpunkt der Aufmerk- samkeit, auf weitausufernde Verzierungen sollte man verzichten. Nun werden vermehrt einzelne Worte verziert. So findet man bei Caccini etwa Gruppo, Trillo oder die Esclama- tione, um den Ausdruck, den Affekt, zu unterstützen.78 Im Rahmen der systematischen Darlegung der Affektenlehre des Barock werden rhetori- sche Figuren gewissen Affekten zugeordnet, um im Zuhörer die entsprechenden Gefühls- regungen zu erzeugen.79 In der Musik des Hochbarock entwickeln sich die Nationalstile. Der italienische Stil zeichnet sich bei seinen Verzierungen durch mehr Freiheit aus, vieles bleibt dem Einfallsreichtum der Sänger überlassen, so bieten zum Beispiel die Da Capo Arien oder die Kadenzen zahlreiche Gelegenheiten für Auszierungen.80

76Vgl. Hans Joachim Moser, »Gesangskunst«, in: Friedrich Blume (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, Kassel 1955, Taschenbuchausgabe Kassel 1989, Sp. 1892. 77Hartmut Krones/Robert Schollum, Vokale und allgemeine Aufführungspraxis, Wien 1983, S. 147. 78Moser 1989, Sp. 1897–1898. 79Krones/Schollum 1983, S. 34–35. 80Vgl. ebda., S. 162ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 75

Der deutsche Raum wird im Bereich des Gesanges stark von den Italienern beeinflusst.81 Am Wiener Hof sind im 17. und 18. Jahrhundert überwiegend italienische Musiker beschäf- tigt und die italienische Oper ist die vorherrschende Gattung der weltlichen Vokalmusik. Die Verzierungskunst wurde von den führenden Sängern der Zeit teils sehr übertrieben, so dass man das zu Grunde liegende Stück kaum mehr erkennen konnte, was auch Benedetto Marcello in seinem satirischen Werk Il Teatro alla moda 1722 kritisch bemerkt.

Die moderne Sängerin verwende ihre ganze Energie darauf, ihre Arien allabendlich zu variieren. Es macht dabei nichts, wenn die jeweiligen Verzierungen dann nicht mehr zum Basso continuo und den konzertierenden bzw. colla parte spielenden Violinen passen oder wenn sie sich dabei selbst total versingt.82

Diese Schule der Passagenvirtuosität, wie sie beispielsweise von Antonio Bernacchi gelehrt wurde, fand nicht nur positiven Anklang. So werden eher konservative Werke wie etwa die Opinioni de’ Cantori vom italienischen Sänger Pier Francesco Tosi geschrieben, die auch in deutscher Übersetzung Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen und deren Lehren sich in anderen Traktaten wiederfinden. Die Verzierungskunst wird im ganzen 18. Jahr- hundert weiterhin gepflegt, wobei neben wesentlichen vorwiegend willkürliche Manieren zum Einsatz kommen und Kadenzen ausgeführt werden.83 Doch auch im 19. Jahrhundert wurde weiterhin verziert, so ist zum Beispiel der Stil der Ornamentik der Geschwister Pasta überliefert, obwohl die Verzierungen immer mehr von den Komponisten festgeschrieben wurden.84 Adolf Beyschlag konstatiert Ungenauigkeiten in der Schreibweise von Verzierungen, etwa dass das Zeichen für den Doppelschlag ohne Bedeutungsunterschied in beide Richtungen gemacht wird, oder für einen Triller verwendet wird, während man das Trillerzeichen für den Mordent nimmt.85 Eine Errungenschaft dieser Zeit ist allerdings das Symbol für den kurzen Vorschlag.86 Die Fortsetzung der Ornamentierungs-Praxis im 19. Jahrhundert gilt vor allem für die italienische Oper, doch Karin und Eugen Ott sehen diese auch für die Gattung des Kla- vierlieds gegeben und meinen im Handbuch der Verzierungskunst in der Musik es handle sich um »einen weit verbreiteten Irrtum [...], dass man die Musik des 19. Jahrhunderts,

81Adolf Geering, »Gesangspädagogik«, in: Friedrich Blume (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegen- wart, Bd. 4, Kassel 1955, Taschenbuchausgabe Kassel 1989, Sp. 1920. 82Sabine Radermacher (Übers.), Das neumodische Theater (Benedetto Marcello: Il teatro alla moda), Heidelberg 2001, S. 37. 83Geering 1989, Sp. 1923–1924. 84Moser 1989, Sp. 1905. 85Adolf Beyschlag, Die Ornamentik der Musik, Leipzig 1908, Reprint Wiesbaden 1970, S. 205. 86Ebda., S. 208. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 76 und da vor allem eine so unverdächtig erscheinende Gattung wie das Klavierlied, genau nach dem gedruckten Notentext, gleichsam naiv, absingen oder abspielen müsse.«87 Der Schriftsteller und Musikpublizist Friedrich Rochlitz (1768–1842) trug vor allem als Redakteur der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1798–1814 wesentlich zur Prägung des Musikverständnisses der bürgerlichen Schicht bei.88 Dürr argumentiert nach Rochlitz (Beytrag zur Lehre von den Verzierungen, 1814), dass das lyrische Lied keine, oder nur wenige Ornamente haben darf. Er geht aber weiter und behauptet, dass Strophenlieder Veränderungen benötigen, wenn auch keine richtigen Verzierungen, so muss man doch die einzelnen Strophen unterscheiden.89 Wie man aus einer am 19. März 1828 erschienenen Kritik über Schuberts Drei italieni- sche Gesänge, op. 83 aus der Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung sehen kann, be- schwert sich der Kritiker H. Marschner über die Überdeterminierung der deutschen Kom- ponisten und bestätigt die Gestaltungsfreiheit, welche den italienischen Sängern bleibt.

Das Mangelhafte des deklamatorischen Ausdrucks zu verbessern und auszufüllen, bleibt daher [bei italienischen Tonsetzern] fast immer dem Sänger überlassen. Die deutschen Komponisten haben zu ihren Sängern nicht so viel Zutrauen und verlieren sich deshalb oft zu sehr in dem ängstlichen Bestreben, jedem Worte seine besondere Deutung zu geben und diesen Ausdruck durch oft faustdicke Ausmalung im Akkom- pagnement noch mehr zu heben, so daß dadurch wieder sehr häufig die Haupt. und Grundfarbe des Ganzen verwischt wird.90

Doch wie bei Eric Van Tassel angemerkt, ändern sich Konventionen über die Zeit hinweg und was heute liberal ist, kann bald als konservativ gelten. So wurden von Gustav Schilling 1843 zu den willkürlichen Verzierungen nicht nur Doppelschläge, Mordente und kleine Passagien, sondern auch accelerando, ritardando, crescendo, decrescendo, mezza voce und portamento, legato und staccato gezählt.91 So würden wir das heute nicht mehr sehen, doch für Schilling scheint alles, was ein Sänger selbst beitragen konnte, zu den willkürlichen Veränderungen zu gehören. Heute sieht man den einen Teil davon als Ausdruck an, den anderen aber verdammt man als (Ver-)Fälschung.

87Karin Ott/Eugen Ott, Das Lied – Die Kastraten (=Handbuch der Verzierungskunst in der Musik, Bd. 5), München 1999, S. 127. 88Lothar Schmidt, »Friedrich Rochlitz«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Ge- genwart, 2. völlig neu überarbeitete Auflage, Personenteil Bd. 14, Kassel 2005, Sp. 236ff. 89Dürr 1979, S. 130. 90Deutsch 1914, S. 474. 91Van Tassel 1997, S. 709. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 77

1.2 Pädagogische Werke

Im Anhang folgt eine Auflistung der pädagogischen Gesangsquellen, wie sie bei David Montgomery verzeichnet sind. Montgomery berücksichtigt nur Quellen, die in Wien zur Zeit Schuberts erschienen sind, oder höchstwahrscheinlich über Kataloge verfügbar wa- ren.92 Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass dies die einzigen in Wien kursierenden Traktate waren, da wohl mit Sängern, Pädagogen und anderen Leuten Noten, Gesangs- schulen und ähnliches in die Stadt gelangt sein dürften. Dennoch zeigt allein Montgomerys Auflistung bereits in welcher Dichte damals publiziert wurde, speziell in der Zeit nach der Gründung der Konservatorien in Paris. Zu bedenken ist weiters, dass die Sänger, welche zu Schuberts Lebzeiten mit ihm konzer- tierten, ihre Ausbildung teilweise noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhalten hatten. Sie entstammen daher einer viel älteren Tradition von Gesangsschulen, die man wahrscheinlich für den deutschen Sprachraum noch mit den Traktaten Mancinis, Hillers oder sogar Tosi/Agricolas belegen kann. Im Jahre 1723 bringt der italienische Kastrat und Gesangslehrer Pier Francesco Tosi sei- ne Opinioni de’ cantori antichi e moderni, o sieno Osservazioni sopra il canto figurato heraus, da er einen Verfall der Gesangskunst und ein Überhandnehmen der Verzierungen konstatiert. Diese Gesangsschule wird im Jahr 1757 unter dem Titel Anleitung zur Sing- kunst von Johann Friedrich Agricola in Leipzig herausgegeben. Agricola, ein Vertreter der ersten Berliner Liederschule, übersetzte den Text ins Deutsche und fügte ihm No- tenbeispiele und Erklärungen hinzu. Mehrere Hauptstücke des Werkes sind der richtigen Verwendung von Verzierungen gewidmet.93 Im Einzelnen behandelt Tosi folgende Verzierungen, die von Agricola wesentlich genauer ausgeführt wiedergegeben wurden: Das zweite Hauptstück beschäftigt sich mit den Vor- schlägen, Nachschlägen, Anschlägen (ein Vorschlag von unten) und Schleifern. Das dritte Hauptstück ist den Trillern gewidmet, wobei auch Mordent und Doppelschlag mit abge- handelt werden. Nach diesen wesentlichen Manieren finden sich Passagien und willkürliche Veränderungen des Gesanges im vierten und sechsten Hauptstück. Auf Tosi, beziehungsweise auf die Übersetzung von Agricola greifen spätere Autoren von Gesangstraktaten häufig zurück. So auch Johann Adam Hiller in seinen in Leipzig erschie- nenen Werken Anweisung zum musikalisch-richtigen Gesange (1774) und Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange (1780) sowie Giambattista Mancini, der Gesangslehrer des

92Montgomery 2003, S. 277ff. 93Pier Francesco Tosi/Friedrich Agricola, Anleitung zur Singkunst, Berlin 1757; Faksimile-Neudruck mit Nachwort und Kommentar von Kurt Wichmann Leipzig 1966; Revidierter Nachdruck Wiesbaden 1994, Nachwort S. 1ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 78

Wiener Hofes in seinen Riflessioni pratiche nel canto figurato aus dem Jahr 1774. Auch die Methode des Pariser Conservatoires lässt sich, so schreibt Adolf Geering 1955, indirekt auf Tosis Traktat zurückführen.94 Neben den gesangsspezifischen Traktaten können auch Klavierschulen und andere instru- mentale Lehrwerke der Zeit herangezogen werden, um die gängige Verzierungskunst nach- zuvollziehen. Während viele Gesangstraktate auf Tosi/Agricola zurückgehen, kann bei den Instrumentalschulen eine Fortsetzung von Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753 und 1762) und Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen (1752) erkannt werden. Eine zur Zeit Schuberts durchaus noch gültige Schule ist Daniel Gottlob Türks Klavierschule, oder An- weisung zum Klavierspielen für Lehrer und Lernende (1789 und 1800). Die in Wien erschienene Ausführliche theoretisch-praktische Anweisung zum Pianoforte- spiel von Johann Nepomuk Hummel (1828) sollte nicht außer Acht gelassen werden, da sie angeblich die erste Anweisung für den von der Hauptnote zu beginnenden Triller ent- hält. Auch Triller mit Nachschlag, Triller ohne Nachschlag, Schneller und Doppelschlag werden erwähnt.95 Genauer ausgeführt, jedoch mit einem Hinweis auf Hummel, findet sich die geänderte Trillerausführung in Ludwig Spohrs Violinschule aus dem Jahr 1832, sowie unabhängig davon in Pierre Baillots L’Art du Violon (Paris 1834).96 Für freie Improvisationen kann man im Instrumentalbereich in der Schubertzeit nicht mehr viele Anweisungen finden. Doch wurde um das Jahr 1827 von Carl Czerny die An- weisung zum Fantasieren herausgegeben. David Montgomery meint allerdings, dass es sich bei den vorgeschlagenen, genau auszuführenden Improvisationen nicht um eine wirkliche Ausführungsanweisung handelt, sondern eher um die Retrospektive einer vergangenen Praxis.97

1.3 Die Opernpraxis der Schubertzeit

In Wien gab es an der Hofoper neben der deutschen auch die italienische Operntruppe, welche die Werke italienischer Komponisten aufführte. Zu den am Kärntnertor Theater gespielten Komponisten gehörten unter anderem Adalbert Gyrowetz, Joseph Weigl, Paul Wranitzky, Ludwig von Beethoven mit deutschsprachigen Stücken, sowie Christoph Willi- bald Gluck, , , Ferdinand Paër, Luigi Cherubini

94Geering 1989, Sp. 1924. 95Beyschlag 1970, S. 249. 96Dieter Gutknecht, »Verzierungen«, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegen- wart, 2. völlig neu überarbeitete Auflage, Sachteil Bd. 9, Kassel 1998, Sp. 1447. 97Montgomery 2003, S. 189ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 79 und vor allem Giacomo Rossini mit italienischen Opern.98 Diese bei Weitem nicht voll- ständige Aufzählung lässt dennoch das breite Spektrum der aufgeführten Stücke erahnen. Wie bereits oben erwähnt, war Johann Michael Vogl in beiden Ensembles am Kärntner- tor Theater beschäftigt und somit auch mit den Konventionen der italienischen Oper und ihren Verzierungen vertraut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass italienische Opernsänger der Schubertzeit die Bravour- arien mit freien Passagien verziert haben. Für die deutsche Oper ist dies allerdings nicht überliefert.99 Doch kann man aus einigen Beispielen erkennen, dass auch Komponisten von deutschen Opern, wenn sie weitere Versionen einer Arie geschrieben haben, selbst verzierungsartige Ausschmückungen einfügten und an anderen Stellen wieder etwas ver- einfachten. Im Handbuch der Verzierungskunst der Musik werden Beispiele von Beethoven angeführt, in denen unterschiedliche Versionen von Koloraturgestaltungen betrachtet werden. So kann man in Beethovens Fassung der Leonoren Arie »Komm Hoffnung, lass den letz- ten Stern« aus Fidelio (1814), andere Verzierungen sehen, als in der Version der Leonore von 1805:100

Nb. 1: , »Komm Hoffnung, lass den letzten Stern« aus: Leonore (1805) bzw. Fidelio (1814)

Hier kann man deutlich die unterschiedlichen für Beethoven existierenden Möglichkeiten für den Beginn der Koloratur erkennen, es handelt sich also quasi um eine Auszierung, die vom Komponisten selbst angebracht wurde. Dies sollte aber nicht als Anlass zum freien Verzieren von Beethovenschen Arien genommen werden. Es zeigt zwar, dass Beethoven selbst mehrere Ausführungen einer Stelle für möglich hielt, doch sind die Koloraturen bereits reichlich ausgestaltet und verlangen daher nicht nach weiteren Ausschmückungen. Allerdings kann man gerade in den Arien Rossinis ebenfalls zahlreiche vom Komponisten

98Vgl. Alexander Witeschnik, Wiener Opernkunst von den Anfängen bis zu Karajan, Wien 1959, S. 100ff. 99Montgomery 2003, S. 193. 100Modifiziert übernommen aus Karin Ott/Eugen Ott, Die Vokalmusik im 19. Jahrhundert (=Handbuch der Verzierungskunst in der Musik, Bd. 4), München 1999, S. 8. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 80 geschriebene Verzierungen finden. Dennoch sind Versionen seiner Zeitgenossen überliefert, die zusätzliche Ausschmückungen enthalten. Im Handbuch der Verzierungskunst der Musik finden sich neben Verzierungen von M. Garcia fils nach dem Traité complet von García auch Veränderungen von F. De Lucias, die auf einem Tonträger erschienen sind:101

Nb. 2: Gioachino Rossini, »Ecco ridente in cielo« aus: Il barbiere di Siviglia mit Verzierungen M. Garcia fils

Wie oben zu sehen war, ist in den Werken Rossinis sehr schön die Verzierungskunst der Zeit zu erkennen. In diesem Beispiel wurden von den Ausführenden nur noch geringe Änderungen angebracht, in ruhigen Sätzen mit weniger vorgegebenen Melismen ist das Auszieren aber eher möglich. Die Gattungen der italienischen Oper und des deutsches Kunstliedes dürfen in der Aus- führung natürlich nicht gleichgesetzt werden. Doch war den Sängern und Zuhörern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts das Verzieren von Arien, entweder durch den Komponisten selbst oder aber durch die Sänger, aus den Opern vertraut. Die Übertragung der Auszierungen auf die Lieder mag daher für viele nicht so befremdlich geklungen haben, wie es für unsere heutigen Ohren anmutet, die einen notentextgetreuen Vortrag gewohnt sind. 101Modifiziert übernommen aus ebda., S. 145. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 81

2 Beispiele bei Schubert

Die Lieder Schuberts sind in unterschiedlichen Dokumenten – von autorisierten Drucken bis hin zu Autographen und Abschriften – bis in die Gegenwart überliefert. In der Neu- en Schubert-Ausgabe findet man von Schubert verfasste Versionen von Liedern, ebenso wie von Vogl ausgezierte Fassungen. Während einige Wissenschaftler, wie David Montgo- mery, das Anbringen von Verzierungen in Schuberts Liedern zur Gänze ablehnen, findet man schon in den Fassungen, die vom Komponisten selbst stammen, verzierungsähnliche Veränderungen. Diese sind den notierten Auszierungen Vogls nicht unähnlich. Eine sehr problematische Quelle, die 1830 von Diabelli herausgegebene Edition der schönen Mülle- rin, deren Verzierungsvorschläge – angeblich von Vogl – oft nicht ganz glücklich gewählt sind, wird häufig als Beweis dafür angeführt, dass es mit der Ornamentik nicht weit her war. Allerdings ist die Autorschaft dieser Ausgabe nicht zur Gänze geklärt.

2.1 Im Originaltext vorkommende Verzierungen

Schubert verwendet in der Singstimme sowohl auskomponierte Verzierungen, als auch durch Stichnoten oder Zeichen angedeutete. So findet man etwa Vorschläge und Vorhalte, sowie Doppelschläge und kleine Ziernoten. In der Klavierbegleitung können auch noch Triller und Mordente gefunden werden.

Vorschläge, Vorhalte, Appoggiature Das Problem der Vorschläge Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Unein- heitlichkeit der Schreibweise und der Anwendbarkeit. Selbst die Bezeichnung Appoggia- tura wurde im 19. Jahrhundert missverständlich gebraucht. War sie ursprünglich auf den improvisierten Vorhalt angewandt worden, bezeichnete sie seit der Klavierschule Türks auch den kurzen, notierten Vorschlag.102 Bis heute sind sich die Wissenschaftler nicht einig, wie die Vorschläge zu interpretieren sind. Dürr ist der Meinung, dass sich bei Schubert keine Anweisungen darüber finden, welche Vorschläge kurz, und welche lang auszuführen sind, da beide Arten auf dieselbe Weise vom Komponisten notiert werden. Die Ausführung scheint dem Sänger überlassen zu sein, Dürr schlägt allerdings vor, wann immer es möglich ist, den langen Vorschlag zu verwenden.103 Auch David Montgomery ist der Meinung, dass die langen Vorschläge häufig vorkommen. Die Ausführung soll aber, anders als bei Dürr und in der Neuen Schubert-Ausgabe vorge-

102Krones/Schollum 1983, S. 177ff. 103Dürr/Krause 2007, S. 104ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 82 schlagen, nicht syllabisch, sondern auf die modernere Art melismatisch, oder wie es bei ihm heißt »half-replacing«, gemacht werden.104 Beim kurzen Vorschlag geht Montgomery von einer Unterscheidung in »accented« und »unaccented«, also vor oder auf der Zeit, aus,105 während Dürr darauf besteht, dass sowohl kurze als auch lange Vorschläge immer auf dem Schlag zu machen seien.106 Adolf Beyschlag allerdings meint, dass unterschiedliche Notationen des Vorschlages in ver- schiedenen Autographen der Lieder trotzdem immer zum selben Klangergebnis, nämlich zu einer oberen Nebennote und einer »stummen Hauptnote« führen, da Schubert ande- re Rhythmen genau notiert.107 Die langen Vorschläge kommen seiner Meinung nach in Schuberts Zeit nur noch selten vor.108

Schleifer und Ziernoten Häufig findet man im Notentext kleine Stichnoten angebracht. Dabei handelt es sich um aus mehreren Noten bestehende Ziernoten, manchmal auch in der besonderen Form der Schleifer, die unbetont gespielt oder gesungen werden.109 Bei Tosi/Agricola sind die Schleifer und Ziernoten in Form von An- und Nachschlägen im Kapitel der Vorschläge eingeordnet. Hauptsächlich werden diese Ornamente zur besseren Verbindung des Gesanges angebracht. Während der aus zwei Noten bestehende Schleifer betont ausfällt, wird jener mit drei Noten unbetont ausgeführt.110

Triller Beim ordentlichen Triller scheint es um die Zeit Schuberts eine Veränderung gegeben zu haben. Während man im Barock bis Mitte des 18. Jahrhunderts immer mit der oberen Nebennote begann, wurde nun auch der Triller von der Hauptnote gemacht. Walther Dürr meint, dass Schubert davon ausging, dass die Musiker die alte Spielweise von der oberen Nebennote noch ausführten, er bezeichnete die obere Stütznote nur dort, wo sie chromatisch verändert war.111 Montgomery widerspricht ihm und geht davon aus, dass der Triller von der Hauptnote zu Schuberts Zeiten längst gängige Praxis war, da man schon 17 Jahre vor Erscheinen von Hummels Klavierschule Hinweise auf den Triller von der Hauptnote findet. Er plädiert daher dafür, die genaue Notation Schuberts auch auf

104Montgomery 2003, S. 176ff. 105Ebda., S. 183. 106Dürr/Krause 2007, S. 105–106. 107Beyschlag 1970, S. 246–247. 108Ebda., S. 240–241. 109Montgomery 2003, S. 187. 110Tosi/Agricola 1994, S. 87ff. 111Dürr/Krause 2007, S. 106. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 83 diese Weise auszuführen und nur dann die obere Nebennote zu spielen, wenn sie wirklich geschrieben ist.112 Neben den ordentlichen Trillern findet man auch noch Mordente und Pralltriller. Schu- bert schreibt für die Gesangstimme allerdings keine trillerartigen Verzierungen mehr vor. Während Triller in den Gesangstraktaten von Tosi/Agricola und Hiller noch genau be- handelt werden, scheinen sie in Schuberts Lieder keinen Eingang mehr gefunden zu haben, lediglich in den Auszierungen Vogls kann man noch auf sie treffen.

Doppelschläge Doppelschläge werden in der Schubertzeit noch wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts aus- geführt, chromatische Veränderungen werden angezeigt.113 Laut Agricola, der den Dop- pelschlag zu den Verzierungen in Tosis Buch hinzugefügt hat, ist dieser mit dem Triller verwandt. Er wird entweder als einfacher Doppelschlag zur Verzierung einer Note oder als Prallender Doppelschlag zur Verbindung zweier Noten im Sekundabstand verwendet.114

2.2 Fassungen von Schuberts Liedern

Franz Schubert hat von einigen Liedern mehrere Fassungen angefertigt, teils als Neuver- tonungen des Textes, teils als Bearbeitungen der Begleitung oder der Singstimme. Es mag viele Gründe gegeben haben, warum Schubert mehrere Fassungen seiner Lieder geschrieben hat. Es ist behauptet worden, dass Vogl direkten Einfluss auf die Kompo- sitionen Schuberts genommen hat, doch Spaun verneint dies in seiner Familienchronik und meint: »Höchstens hat er [Schubert] Vogl in Rücksicht auf dessen Stimmlage kleine Konzessionen gemacht, allein auch das nur selten und ungern«115. Ab und zu, wie zum Beispiel beim Erlkönig mag es auch um die technische Durchführ- barkeit der Klavierbegleitung gegangen sein. Dürr zitiert in der Neuen Schubert-Ausgabe nach Friedlaender (1887), Schubert hätte »auf die Frage, warum er nicht die vorgeschrie- benen Triolen nähme, geantwortet [...]: ›die mögen andere spielen, für mich sind sie zu schwer!‹«116. In manchen Fällen mag es sich einfach um das Wiederaufgreifen älterer Kompositionen und ihre Vorbereitung für die Drucklegung gehandelt haben. Dabei scheint Schubert die Lieder seinen neuen Vorstellungen angepasst zu haben.

112Montgomery 2003, S. 174–175. 113Ebda., S. 188. 114Tosi/Agricola 1994, S. 114ff. 115Deutsch 1983, S. 420. 116Walther Dürr (Hrsg.), Lieder 1 (=Neue Schubert-Ausgabe, Serie IV), Kassel 1970, S. XX. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 84

Dürr bemerkt, dass Schubert in weiteren Fassungen seiner Lieder öfter Verzierungen hin- zufügte oder wegließ, wobei diese Veränderungen nicht von Vogl stammten, sondern von Schubert selbst. Doch scheint Schubert durchaus ähnliche Veränderungen, wie sie in Vogls Singbüchern vorkommen, verwendet zu haben.117

2.3 Verzierungen von Vogl

In einem Brief, den Franz Schubert am 30. November 1823 an Franz von Schober schickte beschreibt er Vogls Beschäftigung mit seinen Liedern auf folgende Weise:

Vogl ist hier, u. hat einmahl bey Bruchmann u. einmahl bey Witzeck gesungen. Er beschäftigt sich fast ausschließend mit meinen Liedern. Schreibt sich selber die Sing- stimmen heraus u. lebt so zu sagen, davon. Er ist daher gegen mich äußerst manierlich u. folgsam.118

Diese intensive Auseinandersetzung mit den Liedern ist genau in den Singbüchern Vogls dokumentiert. Diese zeigen auf welche Art und Weise Johann Michael Vogl Schuberts Lieder gesungen hat. In ihnen sind sowohl lyrische als auch dramatische Lieder enthalten. Vogl ging immer nach dem gleichen Muster vor: zuerst transponierte er die Stücke in seine Lage, dann verzierte er sie. Die Abschriften dieser Singbücher sind in der Sammlung Witteczek-Spaun erhalten geblieben.119 In der heutigen wissenschaftlichen Diskussion lässt sich eine Spaltung erkennen, zwischen jenen Wissenschaftlern, die für das Anwenden der Ornamentik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Werk Schuberts allgemein und auf die Lieder im Speziellen plädieren, und jenen, die sich dagegen aussprechen. David Montgomery geht zwar davon aus, dass Lieder bis ins 18. Jahrhundert verziert wurden und es auch werden mussten, meint aber, dass der neue Kompositionsstil die Ver- antwortung zu den Komponisten wandern ließ.120 Obwohl er durchaus ein Fortleben der Improvisationskunst Anfang des 19. Jahrhunderts durch Auftritte des jungen und Czernys Anweisung zum Fantasieren feststellt, tut er diese Erscheinungen doch als Überbleibsel einer vergangenen Zeit ab.121 Während Montgomery die freie Verzierung von Schuberts Musik kategorisch ablehnt, geht Walther Dürr vom anderen Extrem aus und behauptet, dass Schubert Vogl bei den impro-

117Dürr 1979, S. 136–137. 118Deutsch 1914, S. 174. 119Dürr 1979, S. 130. 120Montgomery 2003, S. 194. 121Ebda., S. 189ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 85 visierten Verzierungen beeinflusste und es dem Sänger nur freistand, diese zu akzeptieren oder sie abzulehnen.122 Es stellt sich nun die Frage, welche Ornamente Vogl in den Liedern angebracht hat, in welcher Dichte die Verzierungen vorkommen und wie sehr sie die zugrunde liegende mu- sikalische Struktur der einzelnen Stücke beeinflussen. Es bieten sich nun unterschiedliche Möglichkeiten an, Kategorien für die Verzierungen zu erstellen, man kann vom Zweck ei- ner Veränderung, von einer Einteilung in wesentliche und willkürliche Manieren ausgehen oder auch die veränderten Komponenten des Musikstückes ansehen. Bei Dürr wird folgende zweckorientierte Kategorisierung der Ornamente in Anlehnung an Christoph Bernhards Von der Singe-Kunst oder Manier vorgenommen: Ornamente der Kategorie »cantar alla romana« oder »cantar sodo« betonen eine einzelne Note; in der Kategorie »cantar alla lombarda« oder »cantar passaggiato« werden die Melodielinien ausgeziert; die Kategorie »cantar alla napolitana« oder »cantar d’affetto« hingegen be- zeichnet Ausdeutung der Worte.123 Meine eigene Einteilung der Verzierungen in vier Gruppen basiert auf meiner Untersu- chung, welche musikalische Komponente verändert wurde. Folgende Kategorien habe ich für die Analyse der Ornamente festgelegt:124

• rhythmische Veränderungen (RV)

• melodische Veränderungen (MV)

• melodische Beifügungen (MB)

• Beifügungen wesentlicher Manieren (WM)

Rhythmische Veränderungen kommen häufig vor und werden vor allem durch das Einfü- gen von Pausen und die Verkürzung der folgenden Note erreicht. Eine weitere Möglichkeit ist das Verlängern der ersten Note und die Verkürzung der folgenden. Manchmal kommt es auch insgesamt zu einer Verlangsamung einzelner Worte, sodass eine Taktverschiebung entsteht. Rhythmische Änderungen müssen nicht immer nur ästhetischen Ursprungs sein, sondern können manchmal auch eingefügt worden sein, da der Sänger längere Pausen be- nötigte. Anselm Hüttenbrenner schreibt über eine Probe des Erlkönigs, bei der Schubert zugegen war: »Bei der diesfälligen Probe schaltete Schubert auf Vogls Verlangen hie und da einige Takte in der Klavierbegleitung ein, damit der Sänger mehr Gelegenheit habe, sich zu erholen.«125

122Dürr 1979, S. 128. 123Ebda., S. 134. 124Die Kategorien werden in den untenstehenden Tabellen stets mit ihrem Kürzel benannt. 125Deutsch 1983, S. 214. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 86

Einfache melodische Veränderungen entstehen durch das Abändern einzelner Töne oder kurzer Tonfolgen. Manchmal handelt es sich dabei um Vorwegnahme von Tönen, manch- mal um ausgeschriebene Vorhalte. Es gibt auch Veränderungen, bei denen in die Oktave gesprungen wird, um eine bessere Lage zu erreichen, oder es wird ein anderer Akkordton verwendet. Die melodischen Beifügungen sind mehrere kurze Noten, die meist zur Auszierung eines Tones oder zur Verbindung zweier Noten verwendet werden. Hier könnte man am ehesten von Passagien sprechen, obwohl viele der Beifügungen eher den Doppelschlägen ähneln, welche in die Kategorie der wesentlichen Manieren fallen. Als wesentliche Manieren findet man neben den Doppelschlägen auch Triller und Vor- schläge. Zur Dichte der Veränderungen ist zu sagen, dass diese von Lied zu Lied variiert. In Strophenliedern werden weniger Verzierungen angebracht als in dramatischen Gesän- gen wie Antigone und Oedip. Die verzierte Version von An Emma könnte eigentlich als neue Fassung des Liedes bezeichnet werden, da sich die Veränderungen nicht mehr nur auf die Melodielinie beschränken, sondern auch die Klavierbegleitung betroffen ist. In der Neuen Schubert-Ausgabe sind die Veränderungen als zusätzliche Version der Lieder enthalten. Ich möchte mir genauer das szenische Lied Antigone und Oedip (D 542), das durchkomponierte An Emma, und die Strophenlieder Jägers Abendlied und Der Fischer (D 225) ansehen.

2.3.1 Antigone und Oedip, op 6/2 (D542)

Das Lied gehört dem Vogl gewidmeten Opus 6 an, ist im März 1817 entstanden und 1821 erschienen. Der Text stammt von Johann Mayrhofer und ist szenisch gedacht, da er die beiden Protagonisten, Antigone und Oedip, abwechselnd sprechen lässt und auch rezita- tivische Teile einbringt. Die Fassung des Liedes in der Neuen Schubert-Ausgabe bezieht sich auf die bei Cappi und Diabelli erschienene Originalausgabe durch die erste autographe Niederschrift von 1817 und eine Abschrift von Josef Hüttenbrenner ergänzt. Die veränderte Version von Johann Michael Vogl stammt aus einer Abschrift in der Sammlung Witteczek-Spaun und verwen- det die Originalausgabe als Grundlage.126 Die Originaltonart ist C-Dur/a-Moll und das Lied wurde von Vogl auch in dieser Tonart belassen. In Vogls Version von Antigone und Oedip finden sich besonders viele Auszie- rungen einzelner Worte, welche durch melodische Beifügungen erreicht werden. Ebenso zur Verstärkung des Wortausdrucks werden wesentliche Manieren hinzugefügt. So gibt es

126Vgl. Dürr 1970, S. 17–18. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 87 zahlreiche Vorschläge, fünf Doppelschläge und sogar einen Triller. Mehrfach wurden auch melodische und rhythmische Veränderungen vorgenommen, wobei an einer Stelle (Takt 27) sogar zwei Versionen bei Vogl zu finden sind. Die Auftakte werden von Vogl gerne kürzer notiert. Die eingefügten Pausen und Fermaten ergeben eine bessere Trennung der Phrasen sowie eine freiere rhythmische Gestaltung. An einigen Stellen, speziell aber in Takt 6 ist die Frage der Durchführbarkeit der Fermate gegeben, da der Klavierpart eine durchgehende Sechzehntelbewegung aufweist.

Takt Anmerkungen 2 Auszierung des Wortes »hohen« von g’ nach c” in Sechzehnteln (RV/MB), anderer Akkordton: g’ statt e’ und veränderter Rhythmus (MV/RV) 3 Vereinfachung durch Weglassen der Antizipation (RV/MV) 4 Diminution der Melodielinie auf dem Wort »entströmt« (RV/MB) 5 Umspielung des c” (RV/MB), Einfügen einer Pause um das Wort »Hauch« stärker auszudrücken (RV) 6 Veränderung des Rhythmus und Verkürzung des Wortes »Trostes« um ein Achtel. Einfügung einer Pause mit Fermate. Verlängerung des Wortes »in« von einer auf zwei Sechzehntel mit Vorschlag. Ausgeschriebener Vorschlag auf »Vaters«. Eingefügte Pause, durch rhythmische Verkleinerung der Folgenoten ausgeglichen (MV/RV/WM) 7 Beigefügte Auszierung (Doppelschlag) des Wortes »Seele«, aus fünf Noten bestehend. (MB) Verkürzung der Fermatennote von einer punktierten Viertel auf eine Viertel. (RV). Antizipation. (RV/MV) 8 Auszierung auf »Genüget« (Doppelschlag) (MB); Einfügen einer Pause und danach Beschleunigung des Rhythmus (RV). Doppelschlag auf »Zorn« (WM) 9 Verkürzung der Pause auf ein Sechzehntel, dafür wird ein d” auf »dies« beigefügt (RV/MB); auskomponierte Vorhalte auf »junge« und »Leben« (MV) 10 Beschleunigung des Rhythmus auf »nehmt«, Beifügung zweier Verzierungsnoten, me- lodische Veränderung des folgenden Sechzehntels von e” auf d” , Beifügung eines Vor- schlags auf »hin« (RV/MB/MV/WM); Melodische Veränderung auf »euer« (MV) 11 Beifügung eines Vorschlags auf »-strahl« und Verkürzung des Wortes auf eine Viertel mit Beifügung einer Achtelpause (WM/RV); Verkleinerung der Achtel auf »ver-« auf zwei Sechzehntel mit Antizipation (RV/MB); Verkürzung der punktierten Achtel auf ein Achtel und Beifügung eines Sechzehntels als Antizipation zum nächsten Takt (RV/MB) 12 Beifügung von Verzierungsnoten, ein ausgeschriebener Doppelschlag auf »betrübte« (MB) 13 Beifügung eines Doppelschlages (WM) Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 88

16 Beifügung von Ziernoten, ein ausgeschriebener Doppelschlag mit melodischer Verän- derung (MB/MV), Beifügung eines Doppelschlages (WM) 17 Beifügung zweier Vorschläge und eines Trillers (WM) 18 Beifügung eines Doppelschlages auf »stille« (WM) und Verkleinerung der folgenden Notenwerte mit melodischen Beifügungen (RV/MB) 19 Beifügung eines Doppelschlages und melodische sowie rhythmische Veränderung auf »laue« (WM/RV/MB); Verkürzung des letzten Achtels auf eine Sechzehntel und Bei- fügung einer Sechzehntelpause (RV) 20 Verkürzung der letzten Viertel auf ein Achtel und Beifügung einer Achtelpause (RV) 27 Verkürzung des ersten Achtels auf eine Sechzehntel und Beifügung einer Sechzehn- telpause, Einfügung einer Sechzehntelpause und Sechzehntel a’ (RV/MV); Zwei Ver- sionen für »bleiche Vater«: eine wie Schubert nur mit ausgeschriebenem Vorhalt auf »Vater« und eine tiefere Version, die zum h’ hinunterführt (MV) 31 Verkürzung des Achtels »ein« auf ein Sechzehntel, Textveränderung auf »furchtbar« und damit rhythmische Verlangsamung (RV) 32 Rhythmische und Melodische Veränderung durch das Einführen einer Triole (RV/MB) und Verkürzung der punktierten Viertel durch Einfügen einer Achtelpause (RV) 33 Beifügung zweier Verzierungsnoten (MB) 35 Das punktierte Achtel wird auf eine punktierte Viertel verlängert, danach kommt es zu einer Beschleunigung der folgenden Noten (RV) 44 Beifügung zweier Vorschläge (WM) 47 Punktiertes Viertel und folgende Achtel statt zweier Viertel (RV) 48 Verkürzung der Halben auf ein Viertel und Beifügung einer Viertelnote (RV) 49 Veränderung des g auf h (MV) 55 Verkürzung des letzen Viertels auf ein Achtel und Beifügung einer Achtelpause (RV) 56 Auflösung der Tonwiederholungen in eine Tonleiter (MV) 57 Beifügung eines Vorhaltes (WM) 59 Beifügung eines Vorschlages und Einfügen einer Triole (WM/RV/MB) 60 Beifügung mehrerer Verzierungsnoten (MB) 61 Auflösung der Viertel in vier Sechzehntel (RV/MB), Veränderung des letzten Achtels von g’ auf e’ (MV) 62 Einfügung eines Oktavsprunges von g’ auf g (MV) 64 Beifügung zweier Verzierungsnoten (MB)

Tab. 1: Auflistung der Veränderungen Vogls in Antigone und Oedip fillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfill Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 89

2.3.2 Jägers Abendlied, op. 3/4 (D 368)

Die erste Fassung von Jägers Abendlied entstand 1815, die zweite findet sich in der Rein- schrift des für Goethe bestimmten Liederhefts und wurde gemeinsam mit Schäfers Kla- gelied, Heidenröslein, und Meeresstille bei Cappi und Diabelli 1821 verlegt. Den Verän- derungen Vogls, die in der Sammlung Witteczek-Spaun erhalten sind, liegt die gedruckte Originalausgabe zugrunde.127 Goethes Text wurde zuvor unter anderem auch von Reichhardt vertont. Dürr weist im Vorwort zur Neuen Schubert-Ausgabe auf die Anekdote hin, dass Goethe selbst den Sänger Genast gescholten habe, weil er dieses Lied ohne Unterscheidung der einzelnen Strophen gesungen hatte.128 Dabei bezog er sich wahrscheinlich nur auf den Ausdruck. Jägers Abendlied ist ein Strophenlied, Schubert notiert die einzelnen Strophen ohne Ver- änderungen. Auch Vogl ist bei seinen Auszierungen im Vergleich zu den dramatischeren Liedern bescheiden. Die Änderungen die hier im Klavierpart zu sehen sind, ergeben sich lediglich aus der Transposition des Stückes um eine Quart abwärts. Vogl oktaviert an einigen Stellen (vgl. die ersten Takte) den untersten Ton der rechten Hand und erhält so Terzen statt Sexten. Allerdings werden zwei Takte Vorspiel hinzugefügt. Die Verzierungen beschränken sich insgesamt auf wesentliche Manieren, wie Doppelschlä- ge (sechs Doppelschläge, davon zwei betont) und kleine Beifügungen zu einzelnen Worten. Lediglich in der Schlusswendung wird ein Sprung eingebaut. Auf den betonten Taktzeiten befinden sich streng nach der gängigen Verzierungspraxis der damaligen Zeit die vorgege- benen Noten, dazwischen wurden kleine Veränderungen eingebracht, die sämtlich in der Harmonie liegen. Scheinbar ging es teilweise darum, manche Worte betonter auszudrücken als andere und auch einen Unterschied zwischen den Strophen zu machen.

127Dürr 1970, S. 7ff. 128Ebda., S. XIV. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 90

Takt 1. Strophe 2. Strophe 3. Strophe 1–2 Eingefügtes Klaviervor- Eingefügtes Klaviervor- Eingefügtes Klaviervor- spiel spiel spiel 5 Sechzehnteltriole Sechzehnteltriole (RV/MB) (RV/MB) 10 Unbetonter Doppelschlag Beifügung zweier Verzie- auf »licht« (WM) rungsnoten auf »schnell« (MB) 11 Beifügung dreier Verzie- Unbetonter Doppelschlag Betonter Doppelschlag auf rungsnoten auf »liebes« auf »rauschend« (WM) »kommt« (WM) (MB) 13 Verzicht auf den Vorschlag auf »mir« (MV) 14 Veränderung der Melodie Veränderung der Melodie Diminuierung von »nicht«, auf »Bild« von c” auf auf »nicht« von c” auf g” melodische Verände- a” und unbetonter Dop- und betonter Doppelschlag rung und unbeton- pelschlag (MV/WM) auf »einmal« (MV/WM) ter Doppelschlag auf »wie mir geschehn«. (RV/MV/MB/WM) 15 d’ anstatt d” (MV)

Tab. 2: Auflistung der Veränderungen Vogls in Jägers Abendlied fillfillfillfillfillfillfillfillfillfill

2.3.3 An Emma, op. 58/2 (D 113)

Die erste Fassung wurde 1814 komponiert, die zweite erschien unter dem Titel An Em- ma. Von Friedrich Schiller 1821 in der Wiener Zeitung für Kunst, Literatur, Theater und Mode. Die heute bekannte, dritte Fassung wurde 1826 als op. 58/2 gedruckt.129 Vogls Verzierungen basieren wahrscheinlich auf einem Manuskript zur dritten Fassung, da noch Teile der zweiten Fassung enthalten sind.130 Hier ist besonders auf die Auftakte hinzuweisen, welche in Vogls Version des Liedes immer als Sechzehntel erscheinen, wäh- rend in der gedruckten Fassung Triolenachtel vorgegeben sind (Takte 24, 26, 28, 40, 42, 62, 69).131 Bei diesem Lied beziehen sich die Veränderungen nicht nur auf die Singstim- me, sondern reichen bis in die Klavierbegleitung hinein. Dürr meint dazu im Vorwort der

129Walther Dürr (Hrsg.), Lieder 3 (=Neue Schubert-Ausgabe, Serie IV), Kassel 1982, S. 275–276. 130Ebda., S. XXI. 131Die Taktzahlen orientieren sich an der Version Vogls. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 91

Neuen Schubert-Ausgabe, dass Vogl vielleicht ursprünglich nur die Singstimme herausge- nommen und verziert hatte und dann den Klavierpart »halb improvisatorisch, halb aus dem Gedächtnis« ergänzte.132 Die Tonart (F-Dur) und die Taktart (2/4) wurden beibehalten, die Veränderungen kön- nen hier aber bereits in den ersten Takten beobachtet werden, in denen Vogl ein Vorspiel hinzufügt. Dann beginnt er mit einem ersten hingestellten »weit«, wesentlich verlangsamt im Gegensatz zu Schuberts Version, was man als allgemeines Charakteristikum dieser Veränderung feststellen kann. Während man bei Schubert 61 Takte zählt, sind bei Vogl 87 zu finden. Auch melodische Beifügungen zur Wortauszierung, die in Takt 50 wirklich den Charakter eines Passaggios erreichen, sind in Vogls Version zu finden. Zusätzliche we- sentliche Manieren kommen hier nicht vor, es werden sogar einige Vorhalte weggelassen oder ausgeschrieben. Die melodischen und rhythmischen Veränderungen gegenüber der Druckfassung sind hier freier als in den anderen Liedern. Eine genaue Beurteilung lässt sich aber nicht machen, da das Manuskript nicht mehr vorhanden ist.

Takt Anmerkungen 1–6 Eingefügtes Klaviervorspiel 7–12 Dehnung der Takte 2–4 von Schubert 7 Dehnung des Wortes »weit« über den ganzen Takt auf a’ statt f’ (RV/MV) 8 Pausen und ein Achtel a’ statt f’ auf »in« (RV/MV) 9/10 Augmentation des Wortes »nebelgrauer« auf die doppelte Länge (RV) 11/12 Verlängerung des Wortes »Ferne« um eine Viertel und Auszierung durch vier Sechzehntelnoten (RV/MB) 15 Dehnung des Wortes »Glück« über den ganzen Takt (RV) 16 Eingefügter Takt (Klavierbegleitung) 18/19 Dehnung des Taktes 9 von Schubert 18 Einfügung einer Viertel auf c” und damit Dehnung des Wortes »schönen« (RV) 19 Einfügung einer Viertel auf d” als Vorhalt zu »Sterne« (RV/MB) 20 Viertel auf h’ anstatt a’ (MV) 21 Einfügung einer Sechzehntelpause (RV) 22 Achteltriole mit Durchgangsnote anstatt punktierte Achtel und Sech- zehntel (RV/MB) 23/24 Dehnung des Taktes 13 von Schubert 23 Dehnung des Wortes »Blick« über den ganzen Takt (RV) 24 Pause und zwei Sechzehntel Auftakt (RV)

132Dürr 1982, S. XXI. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 92

26 zwei Sechzehntel Auftakt (RV) 28 zwei Sechzehntel Auftakt und veränderte Tonhöhen (RV/MV) 29/30 Dehnung des Taktes 18 von Schubert 29 Augmentation der Worte »nur ein« auf die doppelte Länge (RV) 30 Vergrößerung des e’ auf ein Viertel, Einfügung eines Achtels h’ und Vergrö- ßerung des a’ auf ein Achtel (RV/MB) 31 Dehnung des Wortes »Nacht« auf den ganzen Takt (RV) 32 Eingefügter Takt (Klavier) mit Fermate 40 zwei Sechzehntel Auftakt (RV) 42 zwei Sechzehntel Auftakt (RV) 44/45 Dehnung des Taktes 31 von Schubert 44 Dehnung des Wortes »du« auf den ganzen Takt (RV) 45 Pause und Achtel auf f’ und g’ statt Triolenachtel auf a’ (RV/MV) 47 Verkürzung der Pause zu Gunsten des »du« (RV) 48 Weglassung des Vorhaltes (MV/RV) 49–51 Dehnung des Taktes 35 von Schubert 49 Eingefügter Takt. Viertel Pause und ein Viertel h’ auf »du« (RV/MV) 50 Dehnung des Wortes »lebst« auf den ganzen Takt (RV) 51 Passaggio von a’ bis g” mit Rückkehr zum a’ (MB/RV) 52 Verzicht auf den Vorhalt, da die Note vom Leitton erreicht wird 54–59 Dehnung der Takte 38-40 von Schubert 54 Dehnung und Auszierung des Wortes »Liebe« (RV/MB) 55 Dehnung der Worte und Beifügung eines des” (RV/MB) 56 Dehnung des Wortes »nicht« über den ganzen Takt (RV) 57 Eingefügte Pause (RV) 58 Dehnung des Wortes »Liebe« über den ganzen Takt (RV) 59 Dehnung und Melodieveränderung des Wortes »lebst« (RV/MB) 61 Eingefügter Takt (Klavier) 62 zwei Sechzehntel Auftakt (RV) 63 Triolenachtel mit Vorwegnahme des f” statt punktierte Achtel mit Sech- zehntel (RV) 64 Das Wort »Verlangen« wird auf den ganzen Takt gedehnt (RV) 65/66 Das Wort »Verlangen« wird auf den ganzen Takt gedehnt (RV) 65 Das Wort »Emma« wird über den ganzen Takt gedehnt und als Rufterz (des” – h’) gebracht (RV/MV) Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 93

66 Pause und ausgeschriebener Mordent statt aufwärtsgehende Chromatik (RV/MV) 69 Sechzehntel Auftakt (RV) 70 Die letzte Sechzehntel bleibt auf h’ anstatt auf f” zu gehen (MV) 72/73 Dehnung des Taktes 50 von Schubert 72 Dehnung des Wortes »Emma« auf den ganzen Takt (RV) 73 Pause und ausgeschriebener Mordent statt Tonwiederholung (RV/MV) 76 Der vorgeschriebene Vorhalt wurde von Vogl ausgeschrieben 78 Weglassung des Vorhalts (RV/MV) 79 Eingefügter Takt (Pause) 80/81 Dehnung des Taktes 56 von Schubert 80 Vorgeschriebener Vorhalt ist ausnotiert, die Worte »stirbt sie« sind zur dop- pelten Länge augmentiert (RV) 81 Pause und Achtel statt Triolenachtel (RV) 82 Viertel und Achteltriole anstatt punktierter Viertel mit Achtel (RV). Ausnotierter Mordent statt chromatischer Aufwärtsbewegung (MV) 87 Angefügter Takt (Klavier)

Tab. 3: Auflistung der Veränderungen Vogls in An Emma fillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfilllfillfillfillfillfill

2.3.4 Der Fischer, op. 5/3 (D 226)

Die erste Fassung dieses Strophenliedes wurde 1815 komponiert, die zweite findet man in der Reinschrift des Liederheftes für Goethe, welcher der Textdichter ist. Diese Fassung erschien in einem Band mit Rastlose Liebe, Nähe des Geliebten, Erster Verlust und Der König von Thule bei Cappi und Diabelli im Jahr 1821. Vogls Veränderungen, die sich in der Sammlung Witteczek-Spaun befinden, beziehen sich auf diese Originalausgabe.133 In diesem Strophenlied wurden, wie schon in Jägers Abendlied, nur wenige Veränderungen von Vogl angebracht. Zumeist handelt es sich um betonte und unbetonte Doppelschläge sowie Vorschläge. Auffällig sind die Fermaten in Takt 10, Takt 14 und Takt 15, die wohl zur Steigerung des deklamatorischen Ausdrucks eingefügt wurden. Rhythmische Veränderun- gen kommen auch durch zusätzliche Pausen vor. Zwar hat Vogl die Schlusswendung durch die Beifügung von drei Noten verändert, doch anders als in Jägers Abendlied verzichtet er hier darauf, für jede Strophe eine neue Wendung zu finden.

133Dürr 1970, S. 13ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 94

Takt 1. Strophe 2. Strophe 3. Strophe 4. Strophe 1 Eingefügte Durch- gangsnoten auf »liebe« (RV/MV) 2 Unbetonter Unbetonter Dop- Doppelschlag pelschlag und zwei und Nachschlag weitere Verzie- (WM/MV) rungsnoten auf »Sonne«; eingefüg- te Sechzehntelpause (WM/RV/MB) 3 Vorschlag auf Vorschlag auf »daran« (WM) »meine« (WM) 7 Vorschlag auf Vorschlag auf »To- Vorschlag und um- Vorschlag und »Herz« (WM) desglut« (WM) gekehrter, unbeton- unbetonter Dop- ter Doppelschlag pelschlag auf auf »schöner« »Liebsten« (WM) (WM) 10 Fermate und Sech- Fermate und Sech- Fermate (RV) Fermate (RV) zehntelpause (RV) zehntelpause (RV) 14 Fermate (RV) Fermate und Sech- zehntelpause (RV) 15 Fermate und Fermate und Sechzehntel e” Sechzehntel e” Sechzehntel e” Sechzehntel e” (RV/MV) (RV/MV) (RV/MV) (RV/MV) 16 zwei Sechzehntel zwei Sechzehntel zwei Sechzehntel zwei Sechzehntel (e” – a’) und Ach- (e” – a’) und Ach- (e” – a’) und Ach- (e” – a’) und Ach- tel a’ eingeschoben tel a’ eingeschoben tel a’ eingeschoben tel a’ eingeschoben (RV/MV) (RV/MV) (RV/MV) (RV/MV)

Tab. 4: Auflistung der Veränderungen Vogls in Der Fischer fillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfillfilllfillfillfillfillfill

2.4 Die schöne Müllerin, Diabelli 1830

Schuberts Manuskript von Die Schöne Müllerin ist wahrscheinlich schon sehr früh ver- schollen, vermutlich schon vor der Publikation 1824. Die Ausgabe von Vogl und Diabelli aus dem Jahr 1830 ist mit vielen Verzierungen und Vereinfachungen der Gesangslinie ver- Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 95 sehen und wurde deshalb jahrelang stark kritisiert.134 Im Jahr 1829 hatte Diabelli die Rechte an der Schönen Müllerin erworben, kaufte sie und brachte die Edition im Jahr 1830 heraus. Die Ausgabe enthielt einige Verzierungen, die stark dem Stile Vogls entsprachen und laut dem Sänger Josef Gänsbacher auch von Vogl stammten. Andere Eingriffe hingegen sind wahrscheinlich nicht aus Vogls Feder, son- dern stammen vom Herausgeber Diabelli, um die Stücke den Fähigkeiten des Publikums anzupassen. Hier handelt es sich meist um Vereinfachungen der Gesangslinie und um das Weglassen von Verzierungen, die in handschriftlichen Quellen noch enthalten sind.135 Die Verzierungen in der Ausgabe als Vogls Werk darzustellen, wäre bestimmt auch eine verkaufsfördernde Maßnahme des Herausgebers, war der ehemalige Hofopernsänger doch noch immer weithin bekannt in Wien, doch erscheint der Name nicht auf der Ausgabe. Die einzigen Hinweise auf Vogls Urheberschaft der Verzierungen stammen vom Sänger Gänsbacher. David Montgomery zweifelt aber am Wert dieser Aussagen, da Gänsbacher, als die Edition herauskam, gerade ein Jahr alt war und eigentlich kein wirklicher Zeuge dieser Verzierungen sein kann. Montgomery führt einige Veränderungen an, die im ange- gebenen Tempo für einen Sänger nicht ausführbar sind und schließt daher darauf, dass die Änderungen von einem Nicht-Sänger stammen.136 Friedlaender bezeichnete Diabellis Ausgabe der Schönen Müllerin als Fälschung. Dieser Angriff richtet sich aber wahrscheinlich nicht gegen die Ausführung von Verzierungen, sondern gegen das schriftliche Festhalten und Verbreiten von ursprünglich improvisierten Auszierungen.137 Als Sängerin habe ich mich mit den Veränderungen in vier Liedern des Zyklus auseinan- dergesetzt (Mein!, Mit dem grünen Lautenbande, Trockne Blumen und Der Müller und der Bach). Ich habe jeweils die Druckfassung der Neuen Schubert-Ausgabe138, mit Diabel- lis Fassung, die mir als Faksimiledruck vorlag139, ausprobiert und miteinander verglichen. Die in Mein! für den Laiengesang veränderten Linien ergeben sich teilweise aus den großen Sprüngen in der Melodielinie des Originals. Allerdings wird dann, wie bei Montgomery er- wähnt, ein Doppelschlag eingefügt, der im schnellen Tempo kaum auszuführen ist. Einige Vorschläge werden ausnotiert und als Muster wiederholt, auch wenn sie nicht unbedingt der Harmonik entsprechen. Das Strophenlied Mit dem grünen Lautenbande ist für jede Strophe neu abgedruckt und ließe somit auf einige Veränderungen schließen. Jedoch gibt

134Vgl. Julian Armitage-Smith, »Schubert Songs a review«, in: The Musical Times, Vol. 117 (1976), No. 1598, S. 312. 135Dürr 1979, S. 138–139. 136Montgomery 2003, S. 197–198. 137Dürr 1979, S. 140. 138Walther Dürr (Hrsg.), Lieder 2 (=Neue Schubert-Ausgabe, Serie IV), Kassel 1975. 139Walther Dürr (Hrsg.), Franz Schubert: Die schöne Müllerin, Kassel u. a. 1996. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 96 es nur einen Doppelschlag, der lediglich in der zweiten Strophe vorkommt, alle anderen eingefügten Verzierungen werden in allen Strophen gleich ausgeführt. Dies überrascht, da man auch auf einfachem Niveau durchaus Veränderungen einfügen könnte und dies, wie oben bei Vogls Verzierungen gezeigt, von ihm auch getan wurde. Die Vereinfachung liegt bei diesem Lied darin, den punktierten Rhythmus an den Klavierpart anzupassen. Trockne Blumen ist von e-Moll nach c-Moll transponiert, wahrscheinlich um eine ange- nehme mittlere Lage zu gewährleisten. Eingefügte Triolen auf »so« und »wie« sind gut zur Hervorhebung der Worte geeignet, für musikalische Laien erschweren sie allerdings die Ausführung. Häufig werden in diesem Lied kurze Pausen am Phrasenende eingefügt, vor allem sind sie dort wo zwei Vokale zusammenstoßen, oder ein Vokal auf einen klingenden Konsonanten trifft und somit das Trennen der Silben schwieriger ist. In Der Müller und der Bach beschränken sich die Verzierungen, mit Ausnahme der Schlussfloskel, auf den fröhlicheren Teil, in dem der Bach spricht. Die verwendeten Verzierungen sind haupt- sächlich ausnotierte Vorschläge, die bei ihrer Parallelstelle wirklich als solche notiert sind. Alles in allem sind einige hübsche Verzierungen in den Liedern zu finden, doch ist diese Ausgabe für mich als Sängerin recht unattraktiv, da die meisten Veränderungen nicht wirklich Verzierungscharakter aufweisen und nur im direkten Vergleich mit dem Original auffallen, oder aber durch grobe Vereinfachungen der Melodielinie an anderer Stelle in ihrer Wirkung zunichte gemacht werden. Für Laien sind die Veränderungen wohl, bis auf die zu schnellen Doppelschläge, ausführbar, doch könnte man für sie durchaus attrakti- vere Veränderungen finden. Somit scheint es auch mir unwahrscheinlich, dass ein geübter Sänger wie Vogl für derartige Veränderungen verantwortlich zeichnen soll.

3 Kommentare der Zeit

Die Kommentare der Zeitgenossen möchte ich mit dem bekannten Ausspruch Schuberts beginnen, den ich oben schon einmal erwähnt habe: »Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes.«140 Diese Äußerung kann als Einverständ- nis Schuberts mit dem gemeinsamen Musizieren und dem Vortrag Vogls gesehen werden, wobei allein die Tatsache, dass Komponist und Sänger von 1817 bis zum Tod Schuberts miteinander musiziert haben, dafür wohl die größte Bestätigung sein dürfte. Doch wurde das gemeinsame Musizieren, Vogls Art vorzutragen und die eingefügten Ver- zierungen auch von den meisten Mitgliedern des Freundeskreises positiv kommentiert.

140Deutsch 1914, S. 281ff. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 97

Kopien der ausgezierten Fassungen der Lieder wurden im Freundeskreis herumgereicht.141 Von David Montgomery wird allerdings in Frage gestellt, ob Vogl tatsächlich die Lieder Schuberts in den Aufführungen verziert hat, da es angeblich keine konkreten Berichte der Zeitgenossen über die Verzierungen gibt.142 Allerdings deuten einige Dokumente durchaus darauf hin. So schrieb Eduard von Bauernfeld in einem Tagebucheintrag vom 17. Dezem- ber 1826: »Vogl sang Schubertsche Lieder meisterlich, aber nicht ohne Geckerei.«143 Ob sich diese »Geckereien« nun auf Verzierungen im eigentlichen Sinne, eher auf den dekla- matorischen Vortrag Vogls oder ein etwas übertriebenes Verhalten bezogen, kann nicht mehr geklärt werden. Bei Karl Freiherr von Schönstein finden sich konkretere Hinweise auf die Verzierungen. In einer für die Erstellung der Biographie Schuberts gedachten Ab- handlung schrieb er im Jahr 1857, dass Vogl bei einer Probe ein Lied »ohne die geringste Veränderung daran vorgenommen zu haben – deren er sich an Schubertschen Liedern gern zuweilen erlaubte – gesungen«144 hatte. 1841 schrieb wiederum Bauernfeld in einem Artikel in der Allgemeinen Theaterzeitung über die Zusammenarbeit von Schubert und Vogl: »Kleine Änderungen und Ausschmückungen, die sich der gewandte und effektkundi- ge Sänger erlaubte, erhielten zum Teil die Zustimmung des Tonsetzers, gaben auch nicht selten Veranlassung zu freundlichen Kontroversen.«145 In jedem Fall kann man von einem außergewöhnlichen Vortrag Vogls ausgehen, so bemerkt Josef von Spaun in seiner Familienbiographie: »Wenige leben noch, die Vogls Vortrag ge- nossen, aber diese wenigen werden den Eindruck nie vergessen. Sie haben seither nichts Ähnliches gehört.«146 Die Art und Weise, wie Vogl vortrug, scheint also nicht nur retro- spektiv, sondern auch zu seinen Lebzeiten schon etwas ganz Eigenes gewesen zu sein und dürfte sich wohl aus seiner Persönlichkeit ergeben haben. Eine Nachahmung schien offen- bar schon den damaligen Interpreten unmöglich, oder unangebracht. Mehrere Einträge findet man in den Tagebüchern und Briefen der Freunde und Schüler Schuberts. Doch hier werden Verzierungen nicht erwähnt, sondern lediglich die Zustim- mung zum Vortrag zum Ausdruck gebracht. Aus einem Brief Anton von Ottenwalts an Josef von Spaun (Linz, 27. Juli 1825): »Vogl hörten wir dreimal; [...] Normanns Gesang [...] Vogl trägt es selbst schwer (auf jede Note eine Silbe, häufig ein Wort), doch herrlich vor.«147 Fritz von Hartmann schrieb am 21. April 1827 in sein Tagebuch: »Vogl sang

141Dürr 1979, S. 137–138. 142Montgomery 2003, S. 194. 143Deutsch 1914, S. 357. 144Deutsch 1983, S. 118. 145Ebda., S. 259. 146Ebda., S. 420. 147Deutsch 1914, S. 270–271. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 98 herrlich, die meisten der neuen Lieder von Schubert.«148 und Therese Clodis von Schloß Ebenzweyer schrieb in einem Brief aus dem Frühsommer 1825: »Es ist ein göttlicher Genuß, Vogl singen und Schubert spielen zu hören.«149 Wobei letztere Aussage wieder Schuberts Behauptung zu Anfang dieses Kapitels bestätigt, dass die beiden Musiker ein kongeniales Team darstellten. Da es wenige öffentliche Vorträge der Lieder gab, sind Pressestimmen hauptsächlich für die Darbietung des Erlkönigs bei der Akademie im Kärntnertor Theater 1821 vorhanden. Dort wird wenig über den Vortrag selbst gesagt, einzig, dass Vogl der Meister des dekla- matorischen Gesanges sei, und dass das Stück beim Publikum großen Erfolg gehabt hätte. So liest man etwa in der Theaterzeitung vom 13. März 1821: »Von der Komposition des sehr talentvollen und vielversprechenden jungen Tonsetzers, Hrn. Schubert, wurden drei Piecen vorgetragen, von welchen Goethes Erlkönig, von Herrn Hofoperisten Vogl ganz vortrefflich gesungen, große Wirkung machte.«150 Oder in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 21. März 1821: »Der Vortrag der Ballade ›Erlkönig‹, Musik von Schubert, zeigte unsern Meister im deklamatorischen Gesange – Hrn. Vogl – in seiner Größe.«151 Auch hier kann man wieder erkennen, dass gerade was die dramatische Ausgestaltung ei- nes Stückes betraf, sich kaum jemand mit Vogl messen konnte. In der Theaterzeitung vom 29. März 1821 wird der Vortrag des Erlkönigs durch einen anderen Sänger auf folgende Weise beschrieben:

Herr Rueß sang unsers so viel versprechenden Schubert herrlichen Erlkönig nicht ohne Verdienst, doch bleibt jedem, der dieses Genie als Tonstück das erstemal in jener Vereinigung wahrer und würdiger Musikfreunde hörte, der Eindruck, den er durch den seelen- und geistvollen Vortrag damals erhielt unauslöschlich.152

Neben den vielen positiven Stimmen, die man in der Presse und auch in privaten Do- kumenten findet, gab es aber auch Kritik an Vogls Vortragsweise. Gehäuft findet man negative Äußerungen bei Leopold Sonnleithner.

Er [Vogl] trug viele Schubertsche Lieder hinreißend, tiefergreifend, wenn auch (be- sonders später) mit unverkennbarerer Affektation und Selbstgefälligkeit vor. [...] Vogl brachte oft mit einem tonlos gesprochenen Worte, mit einem Aufschrei oder einem

148Ebda., S. 396. 149Ebda., S. 257. 150Ebda., S. 94. 151Ebda., S. 95. 152Ebda., S. 98. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 99

Falsettone eine augenblickliche Wirkung hervor, die aber künstlerisch nicht zu recht- fertigen war und von einem anderen nicht wiedergegeben werden konnte.153

Da Vogl bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1840 die Lieder weiterhin vortrug, kann man über die Zustimmung Schuberts zu den späteren Aufführungen nichts mehr sagen. Das Nachlassen der stimmlichen Qualitäten Vogls in späteren Jahren wird in der Familienchro- nik des Josef von Spaun bestätigt: »in höherem Alter und bei geschwächten Stimmitteln konnte Vogl allerdings die Lieder nicht mehr mit gleich mächtigem Erfolge vortragen als in seiner früheren Zeit.«154 Laut Eric Van Tassel bezog sich die Kritik Sonnleithners, nicht allein auf die Verzierun- gen, es geht eher um den »deklamatorischen Stil«. Leopold von Sonnleithner, ist der am häufigsten zitierte Voglkritiker unter den Zeitgenossen, da sein Wunsch nach einer natürli- chen Art zu singen, nach einem naiven, lyrischen Stil eher den Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Vorstellungen von Werktreue entspricht.155 1860 schreibt Sonnleithner:

Ein Hauptvorzug von Schuberts Liedern besteht in der durchaus edlen, reiz- und aus- drucksvollen Melodie; [...] Man kann diese Melodien [...] auf dem Leierkasten oder auf der Stockflöte spielen, und sie bleiben doch reizend; ihre musikalische Schönheit ist durch einen deklamatorischen Vortrag keineswegs bedingt. – Schubert forderte daher vor allem, daß seine Lieder nicht sowohl deklamiert als vielmehr fließend gesungen werden, daß jeder Note mit gänzlicher Beseitigung des unmusikalischen Sprachtones der gebührende Stimmklang zuteil und daß hiedurch der musikalische Gedanke rein zur Geltung gebracht werde. Damit in notwendigem Zusammenhange steht die strengste Beobachtung des Zeitmaßes.156

Während Sonnleithner, wie auch bei Montgomery bemerkt, hier eher die Sänger um die Jahrhundertmitte kritisiert, bleibt nicht ausgeschlossen, dass Vogl ebenfalls in seinen spä- teren Jahren mehr theatralische Effekte einbaute, um die stimmlichen Unsicherheiten zu kaschieren, was Sonnleithner ebenfalls bemängelte.157 Allerdings muss man eine Unter- scheidung zwischen deklamatorisch und theatralisch machen. Ein deklamatorischer Vor- trag, der von den Zeitgenossen, wie oben angeführt, sehr gelobt wurde, ist auch nicht mit 153Deutsch 1983, S. 131. Der Originaltext aus dem Jahr 1858 ist als Notizen zur Biographie des Franz Schubert im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erhalten. 154Ebda., S. 419. 155Van Tassel 1997, S. 709. 156Deutsch 1983, S. 388. Der Originaltext »Über den Vortrag des Liedes, mit besonderer Beziehung auf Franz Schubert« erschien am 7. November 1860 in der Wiener Zeitschrift Rezensionen und Mitteilungen über Theater und Musik. 157Montgomery 2003, S. 24–25. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 100 einem gesprochenen Text gleichzusetzen, wie dies bei Sonnleithner angedeutet wird. Es handelt sich wohl um einen deutlichen Vortrag unter Berücksichtigung der emotionalen Ebene. Montgomery meint, dass Sonnleithner mit dem Bezug zum lyrischen Gesang ledig- lich sagen will, dass der Sänger nicht in die Rolle schlüpft, sondern nur Erzähler bleibt.158 Bei Schubert kommen allerdings unterschiedliche Arten von Liedern vor, manche drama- tischer, manche lyrischer. Obwohl Sonnleithner immer auf den lyrischen Gesang besteht, wäre eine Gestaltung immer auf dieselbe Weise wohl nicht korrekt. Gerade Lieder wie Antigone und Oedip, die unterschiedliche Personen enthalten oder Der Erlkönig, welcher selbst von Schubert in verteilten Rollen aufgeführt wurde, sprechen gegen Sonnleithners Forderung. Doch für Sonnleithner mag das Lied an sich eine andere Bedeutung gehabt haben als für Vogl. Er war ein Verfechter der Melodie, nicht der Deklamation, sah die Lieder als absolute Musik, die auch auf Instrumenten gespielt, ihren Wert beibehalten würden. Vogl hingegen war dem Wort verhaftet, sein großes Können lag darin, die Bedeutung der Worte zu unterstreichen und den Zuhörern nicht nur die Melodie, sondern auch die Poesie näher zu bringen.159 Dürr ist der Auffassung, dass das rallentando, Fermaten und vielleicht sogar dynami- sche Veränderungen zu den Grundanforderungen des Strophenliedes gehören und dem von Sonnleithner oben genannten Wunsch Schuberts bezüglich des Zeitmaßes nicht wi- dersprechen.160 Der Einfluss Vogls auf Schubert wurde von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich aufge- nommen. So merkte Karl von Schönstein positiv an, dass Schubert auf das Urteil Vogls viel Wert legte und er es gewohnt war »die meisten seiner Gesangsschöpfungen dem Meis- ter Vogl zur Durchsicht zu bringen, von welchem er sehr gerne Rat annahm.« 161 Dieses Faktum fasste Leopold von Sonnleithner wiederum sehr negativ auf: »Vogls Ein- wirkung war auch (nebst den Maler-Freunden) großenteils daran schuld, daß Schubert sein Genie viel zu sehr in der kleinen Liederform zersplitterte und es nicht zur Vollendung in der großen Form der Sinfonie und Oper brachte.«162

158Ebda., S. 26. 159Van Tassel 1997, S. 705–706. 160Dürr 1979, S. 132. 161Deutsch 1983, S. 117. 162Ebda., S. 131. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 101

C CONCLUSIO

Durch die Betrachtung der Persönlichkeit Vogls, der Verzierungspraxis zur Schubert-Zeit sowie der Beziehungssituation zwischen Komponist und Sänger, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Schubert die Verzierungen, welche Vogl in seinen Liedern anbrachte, wohl mehr als nur geduldet haben dürfte. Nach anfänglicher einseitiger Abhängigkeit des Kom- ponisten von der Meinung und Unterstützung des älteren und bereits bekannten Sängers, hat sich dann im musikalischen Bereich eine Partnerschaft und somit eine gegenseitige Achtung ergeben. Ich kann mich der zweifelnden Haltung Montgomerys, ob die Verzierungen tatsächlich aufgeführt wurden, nicht anschließen, da Aussagen Schönsteins und Bauernfelds das Ge- genteil belegen. Allerdings gehe ich auch nicht mit Van Tassel und Dürr konform, welche die Meinung vertreten, dass jeder Interpret willkürliche Veränderungen in den Liedern anbringen sollte. Vielmehr denke ich, Schubert war mit dem Zusammenspiel zwischen ihm und Vogl und dem, was beide Partner in diese musikalische Beziehung einbringen konnten, einverstan- den und dazu gehörten unter anderem auch die Verzierungen. Diese sind aufgrund Vogls musikalischer Ausbildung Teil seines Denkens. Die intensive, auch theoretische Auseinan- dersetzung mit den Liedern Schuberts und den ihnen zugrunde liegenden Texten entspricht seiner humanistisch gebildeten Persönlichkeit. Somit sollten die erhaltenen Quellen zu Vogls Verzierungspraxis selbstverständlicher Be- standteil musikpraktischer und musikwissenschaftlicher Beschäftigung mit Schuberts Lie- dern sein. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 102

D BIBLIOGRAPHIE

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ANHANG

Anhang A Kantate zum Geburtstag Vogls, 1819163

1. Sänger, der vom Herzen singet 4. In der Weihe deiner Würde Und das Wort zum Herzen bringet, Stehst du, aller Sänger Zierde, Bei den Tönen deiner Lieder Auf Thaliens Tempelstufen, Fällt’s wie sanfter Regen nieder, Hörst um dich des Beifalls Rufen; Den der Herr vom Himmel schickt, Doch ein Kranz, ein Sinngedicht Und die dürre Flur erquickt Ist der Lohn des Künstlers nicht.

2. Diese Berge sah’n dich blühen, 5. Wenn dich einst in greisen Tagen Hier begann dein Herz zu glühen, Deines Lebens Mühen plagen, Für die Künstlerhöh’n zu schlagen, Willst du nicht zur Heimat wandern? Die der Wahrheit Krone tragen; Laß die Helden einem Andern, Der Natur hast du entwandt, Nur von Agamemnons Sohn Was die Kunst noch nicht verstand. Trag die treue Brust davon.

3. Da saht ihr Oresten scheiden, 6. Gott bewahr’ dein teures Leben Jakob mit der Last der Leiden, Heiter, spiegelklar und eben, Saht des Arztes Hoffnung tagen, Wie das Tönen deiner Kehle Menschlichkeit am Wasserwagen, Tief herauf aus voller Seele; Saht, wie man sich Linen sucht, Schweigt dann einst des Sängers Wort, Bräute holt aus Bergesschlucht. Tönet doch die Seele fort.

163Deutsch 1914, S. 64–65. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 106

Anhang B In Wien verfügbare Gesangstraktate nach David Montgomery164

1774 Giambattista Mancini (1716–1800), Pensieri, e rifflessioni sopra il canto figurato (Wien) 1789 Singschule von verschiedenen Componisten (Wien) 1791 Die Singschule, oder Solmisation, desgleichen noch keine zum Vorscheine ge- kommen, worinnen die nothwendigsten Regeln und eine Menge musikalische und fugirte Stücke u.s.w. enthalten sind, mittelst welschen ein Schüler in kurzer Zeit zur Vollkommenheit gelangen kann. Componiert von 8 berühm- ten Kapellmeistern aus Europa (Wien) 1794 Ferdinand Kauer (1751–1831), Singschule nach dem neuesten System der Ton- kunst (Wien) 1798 Franz Xaver Paul Riegler (ca. 1747–1796), Anleitung zum Gesange, und dem Klavier, oder Orgel zu spielen (Budapest) 1798/1799 [Joseph Agus, Charles-Simon Catel, Marie Luigi Cherubini und François- Joseph Gossec, Principes élémentaires de musique arrêtes par les membres du Conservatoire, suivis de solfèges (Paris)] 1800 Marie Luigi Cherubini (1760–1842), Pierre Garat (1762–1823), François- Joseph Gossec (1734–1829), Louis-Joseph Guilchard, Etienne-Nicolas Méhul (1763–1817), Pierre Louis Ginguené (1748–1816), Honoré François Plantade (1764–1839), [ ] Richer, u. a., Méthode de chant du Conservatoire de musique (Paris, Wien, Mailand) 1800 Gesangslehre des Conservatoriums der Musik in Paris... (Leipzig) 1800? Johann Friedrich Schubert, Neue Singe-Schule... (Leipzig) 1800–1820 Danzi, F[ranz]: Singübungen für eine Bass-Stimme (Leipzig) 1805 Alexis de Garaudé, Méthode de chant (Paris) 1809 Bonifazio Asioli, Primi elementi di canto (Mailand) 1810 [ ] Maier, Versuch einer elementarischen Gesanglehre für Volksschulen [& 20 Singstükcke zur Rotweilschen Gesangslehre] (Wien) 1811 Joseph Preindl (1753–1823), Gesang-Lehre (Wien) 1812 Ambrogio Minoja, Lettera sopra il canto (Mailand) 1812 Friedrich Wilke, Leitfaden zum praktischen Gesangsunterricht, besonders auf dem Lande, nebst einer Abbildung des Octochords (Berlin) 1813 J.C. Wöltzel (?–1836), Grundriß einer pragmatischen Geschichte der Decla- mation und Musik, nach Schoeher’s Ideen (Wien)

164Gekürzt übernommen aus Montgomery 2003, S. 278–305. Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 107

1814 Antonio Peregrino Benelli, Regole per il canto figurato, o siano precetti ragio- nati per apprendere i prinipj di musica, con esercizj, lezioni, ed in fine solfeggi per imparare a cantare (Mailand) 1816 Bonifazio Asioli, [ ]I. Scali e salti per l solfeggo. II. Preparazione al canto ed ariette (Mailand) 1816 Antonio Salieri, Scuolo di canto, in versi e i versi in musica (Wien) 1818 Franz Schubert, Sing-Übungen (Wien) ca. 1820 Friedrich Starke, Kurzgefaßte Gesang-Methode (Wien) 1820 Peter von Winter, Vollständige Singschule (Mainz) 1821 [ ] Mizius, Praktische Anleitung zum Gesangsunterricht für Schulen (Mainz) 1822 August Ferdinand Häser, Versuch einer systematischen Übersicht der Gesang- lehre (Leipzig) 1822 Joseph Hoerger, Kurze und faßliche Sing-Anleitung (Augsburg) 1826 Johann Christian Markwort, Umriss einer Gesammt-Tonwissenschaft; wie auch einer sprach- und Tonsatzlehre und einer Gesang-, Ton- und Rede- Vortragslehre insbesonders (Darmstadt) 1826 Adolph Bernhard Marx, Die Kunst des Gesanges (Berlin) 1828 Wilhelm Häser, Andeutungen über Gesang und Gesanglehre ohne Datum Blüher, C.G.C., Kurzer Elementar-Unterricht im Gesange (Leipzig); Bona, P., Metodo per il canto/Breve metodo per il canto (Mailand); Righini, Vincen- zo Übungen um sich in der Kunst des Gesanges zu vervollkommen (Wien); Savinelli, Avviamento all’arte del canto. Metodo completo (Mailand) Die Verzierungen des Schubertsängers Johann Michael Vogl 108

Anm. der Herausgeber: Aus rechtlichen und monetären Gründen kann das Noten- beiheft mit den darin enthaltenen Notenbeispielen an dieser Stelle nicht abgebildet werden. Die Autoren 109

Die Autoren

Andreas Holzmann Andreas Holzmann (*1986) maturierte 2004 mit Auszeichnung am BRG/BORG Telfs und studiert seit 2005 Musikwissenschaft und Translationswissenschaft (Englisch, Französisch) an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Im Jahr 2008 verbrachte er im Zuge des Erasmus-Austauschprogramms ein Semester an der Université François-Rabelais in Tours, Frankreich. Seit Oktober 2009 ist er studentischer Mitarbeiter am Institut für Musikwis- senschaft in Innsbruck.

Raphaela Stadler Raphaela Stadler (*1985) studiert seit 2003 Internationale Wirtschaftswissenschaften (Abschluss 2008) und Musikwissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Im Rahmen ihres Studiums verbrachte sie ein Jahr an der University of Colorado in Boulder, USA. Seit März 2009 ist sie studentische Mitarbeiterin am Institut für Musik- wissenschaft und am Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus in Innsbruck.

Jonas Traudes Jonas Traudes (*1984) schloss seinen schulischen Werdegang 2003 mit dem Abitur an der Martin-Niemöller-Schule in Wiesbaden ab. 2006 begann er das Studium der Musikologie in Graz, das er 2010 mit einer Bachelor-Arbeit zum Körperdiskurs im Kontext des mu- sikalischen Expressionismus abschloss. Seit Herbst 2009 studiert er im Lehrgang Klassik am Johann-Joseph-Fux-Konservatorium Gitarre bei Johann Palier.

Antonia Zangger Antonia Zangger erhielt bereits seit frühester Kindheit eine musikalische Ausbildung (Querflöte, Gesang, Klavier). Nach der Matura am Akademischen Gymnasium in Graz begann sie ihr Studium der Rechtswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz (Erstes Diplom 2003). Seit 2003 studiert sie Alte Musik/Gesang am Johann-Joseph-Fux- Konservatorium in Graz bei Margret Bogner und seit Herbst 2007 zusätzlich Angewandte Musikwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Impressum 110

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A. Univ.-Prof. Dr. Monika Fink Mag. Lukas Christensen

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