68. Jahrgang, 34–35/2018, 20. August 2018

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Österreich

Saskia Blatakes Franz Fallend · Fabian Habersack · WIE TICKT ÖSTERREICH? Reinhard Heinisch EINE SPURENSUCHE RECHTSPOPULISMUS IN FÜNF BEGEGNUNGEN IN ÖSTERREICH. ZUR ENTWICKLUNG DER FPÖ Thomas Winkelbauer WAS WAR „ÖSTERREICH“ Oliver Rathkolb VOR 1918? DER LANGE SCHATTEN DER 8ER JAHRE Thomas Olechowski HANS KELSEN UND Heidemarie Uhl DIE ÖSTERREICHISCHE ÖSTERREICHS AMBIVALENTER VERFASSUNG UMGANG MIT DER NS-VERGANGENHEIT Peter Bußjäger FÖDERALISMUS Rudolf de Cillia · Ruth Wodak UND REGIONALISMUS ZUR DISKURSIVEN IN ÖSTERREICH KONSTRUKTION ÖSTERREICHISCHER IDENTITÄTEN

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Österreich APuZ 34–35/2018

SASKIA BLATAKES FRANZ FALLEND · FABIAN HABERSACK · WIE TICKT ÖSTERREICH? REINHARD HEINISCH EINE SPURENSUCHE IN FÜNF BEGEGNUNGEN RECHTSPOPULISMUS IN ÖSTERREICH. Österreich driftet nach Rechtsaußen, und der ZUR ENTWICKLUNG DER FPÖ Rest Europas wundert sich. Aber es gibt auch Die Entwicklung der FPÖ ist von ideologischen Gegenstimmen und eine Hauptstadt, die anders Flügelkämpfen, Neuausrichtungen und einem sein will. Wie tickt dieses Land, in dem man die Auf und Ab bei Wahlen gekennzeichnet. Als politischen Probleme unserer Zeit wie in einem Sammelbecken für politisch unzufriedene und Vergrößerungsspiegel beobachten kann? verunsicherte Menschen befindet sie sich zurzeit Seite 04–08 im Aufwind und ist an der Regierung beteiligt. Seite 33–40

THOMAS WINKELBAUER WAS WAR „ÖSTERREICH“ VOR 1918? OLIVER RATHKOLB Das sich mit dem Zerfall Österreich-Ungarns DER LANGE SCHATTEN DER 8ER JAHRE und der Gründung der Republik (Deutsch-) Die sogenannten 8er Jahre in Österreich – 1848, Österreich 1918 radikal verkleinernde 1918, 1938 und 1968 – sind Schlüsseljahre Territorium „Österreichs“ stellt Historiker und der österreichischen Demokratiegeschichte. Historikerinnen vor ganz spezifische Probleme. Eine Beschäftigung mit ihnen schärft ein Was also war „Österreich“ vor 1918? kritisches Geschichtsbewusstsein und stärkt das Seite 09–16 Demokratiebewusstsein.­ Seite 41–46

THOMAS OLECHOWSKI HANS KELSEN UND DIE ÖSTERREICHISCHE HEIDEMARIE UHL VERFASSUNG ÖSTERREICHS AMBIVALENTER UMGANG Der Jurist Hans Kelsen gilt als „Vater der MIT DER NS-VERGANGENHEIT Verfassung“ Österreichs nach dem Ersten Die latenten Widersprüche zwischen offizieller Weltkrieg, insbesondere die Einrichtung des Opferthese und populistischen Gegenerzählun- Verfassungsgerichtshofes geht auf ihn zurück. gen entluden sich immer wieder in Konflikten, Die Machtübernahme der Nationalsozialisten aber erst die Waldheim-Debatte sorgte für zwingt ihn schließlich ins Exil in die USA. eine nachhaltige Konfrontation mit der NS- Seite 18–24 Vergangenheit. Seite 47–54

PETER BUẞJÄGER FÖDERALISMUS UND REGIONALISMUS RUDOLF DE CILLIA · RUTH WODAK IN ÖSTERREICH ZUR DISKURSIVEN KONSTRUKTION Der österreichische Föderalismus hat sich in den ÖSTERREICHISCHER IDENTITÄTEN vergangenen Jahrzehnten verfassungsrechtlich In diesem Beitrag werden Forschungsarbeiten trotz und gerade wegen einiger inkrementalen zur Konstruktion österreichischer Identitäten Anpassungen wenig verändert. Ihn kennzeichnet zusammengefasst. Durch eine longitudinale ein hohes Maß an Verflechtung, das in der Perspektive auf Entwicklungen zwischen 1995 Vergangenheit zunehmend intensiviert wurde. und 2015 wird ein Blick auf Konstanten und Seite 25–31 Veränderungen ermöglicht. Seite 55–61 EDITORIAL

2018 wird in Österreich des 100. Geburtstages der Republik gedacht, die am 12. November 1918 als „Republik Deutschösterreich“ ausgerufen wurde. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht wurde „ohne Unterschied des Geschlechts“ eingeführt, sodass in diesem Jahr auch 100 Jahre Frauenwahl- recht in Österreich gefeiert wird. Im Vertrag von St.-Germain von September 1919 sprachen die gegen das deutsche Kaiserreich und gegen Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg Verbündeten ein faktisches Anschlussverbot an das Deut- sche Reich aus, der Staatsname „Deutschösterreich“ wurde untersagt. Einst Teil eines großen Vielvölkerreiches, musste der neue Staat nach 1918 und erneut nach 1945 erst seine „Identität“ finden, zumal in Abgrenzung zum deutschen Nachbarn. Vor allem die Zeit nach dem 1938 erfolgten „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland wurde lange Zeit mit der offiziellen These von Österreich als Hitlers „erstem Opfer“ einer öffentlichen Geschichts- debatte entzogen. Das änderte sich spätestens mit der Diskussion um die Wehrmacht-Vergangenheit des Bundespräsidenten Kurt Waldheim in den 1980er Jahren. Nach Skandalen um antisemitisches Gedankengut in ihrem Umfeld hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), seit 2017 unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (Österreichische Volkspartei) an der Regierung beteiligt, eine Historiker- kommission einberufen, um auch ihre Geschichte aufzuarbeiten. Die Ankündi- gung der Rechtspopulisten traf auf Skepsis. Oskar Deutsch, Präsident der Isra- elitischen Kultusgemeinde Wien, hielt fest: „Die rechtsextreme Geschichte der FPÖ aufzuarbeiten ist das eine, sich von menschenverachtenden Ideologien zu lösen und aufzuhören, Andersdenkende zu diffamieren, ist noch viel wichtiger.“

Anne Seibring

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ESSAY WIE TICKT ÖSTERREICH? Eine Spurensuche in fünf Begegnungen Saskia Blatakes

Österreich ist schön. Österreich ist klein. Öster- Gerti am Tag unseres Einzugs kennen. Es ist in der reich ist rechts. Seit Dezember 2017 hat das Land Regel nicht gerade leise, wenn man versucht, Mö- eine konservativ-rechtspopulistische Regierung. bel und Kisten in den ersten Stock zu wuchten. In Die Grünen sind aus dem Parlament verschwun- Wien trägt der erste Stock übrigens den schönen den. Innenminister Herbert Kickl spricht davon, Namen Mezzanin. Der zweite Stock heißt dann „Asylbewerber konzentriert an einem Ort halten“ meistens dementsprechend erster Stock, was bei zu wollen, und Bundeskanzler Sebastian Kurz Ausländern oft zu Verwirrungen führt. Es geht träumt von einer neuen „Achse der Willigen“ aus aber noch besser, denn in manchen Gründerzeit- Wien, Rom und Berlin in Sachen Flüchtlingspoli- häusern gibt es mit Souterrain, Parterre, Hochpar- tik. Seine Grenze nach rechts sei allein das Straf- terre und Mezzanin ganze vier Stockwerke unter recht, hat er einmal gesagt. Bei der diesjährigen ös- dem ersten – aber das ist eine andere Geschichte. terreichischen EU-Ratspräsidentschaft versucht Es dauerte nicht lange, bis es an meiner neuen er, das Thema Migration als Priorität zu setzen. Wohnungstür zum ersten Mal klingelt. Klingeln Was ist da los im Alpenidyll? Österreich driftet heißt in Wien anläuten. nach Rechtsaußen, und der Rest Europas wundert Gerti läutete also an. Vor mir stand eine unter- sich. Für viele gilt das Land längst als europäisches setzte, ältere Dame mit hochrotem Kopf. „Heast! Sorgenkind wie sonst nur Polen oder Ungarn. Des is a Frechheit!“ Es folgte eine Tirade über Aber auch in Österreich gibt es Gegenstim- Lärm und Staub und überhaupt, zu wie vielen men, eine Hauptstadt, die der neuen Bundesre- wollen wir hier überhaupt hausen? gierung Paroli bietet, und trotz der derzeitigen Ich entschuldigte mich und versprach ihr, dass Kürzungen immer noch einen Sozialstaat, der sich der Lärm spätestens am Abend erledigt ha- das Land zu einer Insel der Seligen in Sachen Ab- ben sollte. Außerdem versicherte ich ihr, dass wir sicherung macht. Wie tickt dieses Land, in dem nur zu dritt einziehen und es sich bei dem Rest der man die politischen Probleme unserer Zeit – den Menschen um befreundete Umzugshelfer handelt, Aufstieg der Rechtspopulisten, die Krise der De- die ganz bestimmt nicht vorhatten, bei uns zu hau- mokratie und die Schwäche der großen, alten Par- sen. Doch besänftigen konnte ich sie nicht. „Na, teien – wie in einem Vergrößerungsspiegel beob- servas!“ schimpfte sie nur, drehte sich um und achten kann? Einem Land nähert man sich am schloss geräuschvoll ihre Wohnungstür hinter sich. besten über seine Bewohnerinnen und Bewohner: Noch zwei Mal sollte sie an diesem Tag bei eine Spurensuche in fünf Begegnungen. uns anläuten. Beim dritten Mal stand meine klei- ne Tochter neben mir, sie war damals gerade ein GERTI UND DER Jahr alt geworden. Gertis grantige Gesichtszü- WIENER GRANT ge entspannten sich plötzlich, ihr rötlicher Teint schien schlagartig um ein paar Nuancen heller ge- Es beginnt mit Gerti. Mit ihr wohnte ich bis vor worden zu sein. „Jö! Pupperl!“, sagte sie schwär- Kurzem Tür an Tür in einem dieser schönen, leicht merisch und lächelte meine Tochter warmherzig heruntergekommenen Wiener Altbauten. Sie ist an. Der Beginn unserer Bekanntschaft. der Ausgangspunkt bei dem Versuch, einem Phä- Was ich damals noch nicht wusste: Sich zu nomen auf den Grund zu gehen, das man gerne pa- beklagen und zu schimpfen – hier in Österreich thetisch als „Wiener Seele“ bezeichnet. Ich lernte würde man „sudern und granteln“ sagen –, ge-

04 Österreich APuZ hört in Wien nicht nur zum ganz normalen Um- leicht am verblüffendsten – das Nebeneinander gangston, nein, diese Disziplinen sind für Wie- des derben Fluchs und des formvollendeten Sie- nerinnen und Wiener der Königsweg der ersten zens. Die anderen Parkbesucher zeigten sich un- Kontaktaufnahme. beeindruckt. Mein erstes Resümee: Die öffentliche Wien rangiert in einer Liste der unfreundlichs- Beleidigung schien hier irgendwie normal zu sein. ten Weltstädte auf Platz zwei, gleich hinter Paris. Szenen wie diese sollten sich in meinem neu- Und trotzdem war Wien vielleicht noch nie so en Wiener Alltag noch oft wiederholen: unterwegs beliebt wie heute. Das deutsche Feuilleton feiert auf Wiens Straßen, in Wiens Ämtern und – deut- die Stadt seit einiger Zeit regelmäßig in Portraits lich gehäuft – in der Straßenbahn, die in Wien Bim und Sonderbeilagen, Musik- und Kunstszene ma- heißt. Nirgendwo sonst eskaliert der latent bro- chen selbst Berliner neidisch. Doch so attraktiv delnde Grant so schnell in unverhohlenen Hass. die Donaumetropole auf Besucher wirkt, so we- Persönlich scheinen das die Wiener nicht zu nig steht die Wiener Mentalität für Gastfreund- nehmen, und zu viel Bedeutung sollte man dieser schaft und ein Lächeln. Angewohnheit nicht beimessen. Gerti zum Bei- Für Touristen findet der erste Kontakt mit spiel wurde nach unserem cholerischen Start eine dem ganz speziellen Wiener Charme meistens im sehr liebe und zuvorkommende Nachbarin, die Kaffeehaus statt. Ohne zu grüßen fragt der Kell- mich auch heute noch anruft und meine Tochter ner, der in Wien respektvoll Herr Ober genannt mit Geschenken überhäuft. Es ist eben scheu und werden möchte, mit griesgrämiger Miene, was versteckt sich hinter einer rauen Schale – das viel- man möchte. Die Antwort kann nur falsch aus- besungene „goldene Wiener Herz.“ fallen, vor allem wenn man mit den Wiener Kaf- feehausspezialitäten – wie Melange, kleiner Brau- EINE PIEFKINESIN UND ner oder Einspänner – nicht vertraut ist. DIE PHANTOMSCHMERZEN Egal wie sehr sich die Wienbesucher auch be- mühen, der Herr Ober wird ihnen mit großer Die zweite Lektion, die nach meiner Ankunft in Wahrscheinlichkeit zu verstehen geben, dass sie Österreich auf mich wartete, war eine historische. auf ganzer Linie versagt haben. Menschen aus Sie ereignete sich an einem Abend zu Anfang mei- Nationen, in denen zurückhaltende Freundlich- nes Studiums, ich saß mit ein paar Kommilitonen keit und Höflichkeit als Bürgerpflicht gelten, sind in einem Beisl, wie die kleinen Kneipen in Wien nicht selten schockiert. „Wir wollten doch nur ei- heißen. Ein Kollege erzählte gerade über einen je- nen Kaffee bestellen“, meinten Freunde aus Portu- ner Zufälle, bei denen sich Freunde wiederum über gal – es handelt sich um außerordentlich liebe und drei Ecken kennen und sich der Kreis der Zufalls- zurückhaltende Menschen – jüngst verschreckt. bekanntschaften auf wundersame Weise schließt. Der werte Herr Ober des Wiener Traditions-Kaf- „Tja, Österreich ist eben klein“, kommentierte ich feehauses hätte sie erst ungeduldig angeschnauzt ohne Hintergedanken. Ich hätte ebenso sagen kön- und sei dann unverrichteter Dinge abgerauscht. nen: „München ist klein“ oder „Europa ist klein“. Gut möglich, dass er ihnen noch ein beherztes Oh, wie wurde ich eines Besseren belehrt. „Schleicht’s Euch!“ hinterhergerufen hat. Ein leicht alkoholisierter Mann am Nebentisch Auch meine Anfänge in Wien waren von har- herrschte mich an: „So klein auch wieder nicht. ten Konfrontationen mit dem speziellen Wie- Ihr depperten Piefkinesen immer.“ Ohne es zu ner Grant geprägt: Es war mein erster Früh- wissen, hatte mich der beschwipste Beislbesucher ling in Wien, und ich verbrachte einen sonnigen gleich in zweifacher Hinsicht aufgeklärt: erstens, Samstagnachmittag im Stadtpark – einer der vie- dass die Größe Österreichs nicht thematisiert len wunderschönen Wiener Grünoasen. Ruhi- werden durfte – schon gar nicht von einer Person ge Stimmung, Menschen auf Picknickdecken, ir- aus einem anderen, größeren europäischen Land gendjemand spielte leise Gitarre. „Sie deppertes und erst recht nicht von einer Deutschen. Das Oaschloch, Sie!“, kreischt plötzlich eine elegant habe halt mit den „Phantomschmerzen“ einer gekleidete Dame mit Hund einen ebenfalls distin- einst großen Nation zu tun, erklärten mir meine guiert wirkenden Herren, ebenfalls mit Hund, an. österreichischen Kommilitonen lässig. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt – in Zweitens, dass die Deutschen hier gern Piefke keiner anderen Stadt der Welt: Der plötzliche Aus- oder Piefkinesen genannt werden – eine Anspie- bruch der Wut, das laute Anschnauzen und – viel- lung auf die österreichisch-preußische Geschichte.

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Schließlich siegten die als besonders korrekt und Jahrhunderte eben auf die Wiener abgefärbt. Den dienstbeflissen geltenden Preußen 1866 im preu- Grund des autochthonen Grants auf die Nach- ßisch-österreichischen Krieg über Österreich. Auf barn abzuschieben, erscheint mir allerdings die jeden Fall lernt man als Ausländerin in Wien ziem- dürftigste Erklärung von allen zu sein. lich schnell, dass es hier an der Tagesordnung ist, Und wie sehen es die Wiener und Wiene- dass sich wildfremde Menschen ankeifen und mit rinnen selbst? Als ich mit einer hier geborenen üblen Schimpfwörtern titulieren. Freundin darüber spreche, beginnt sie zu strah- Aber woher kommt er eigentlich, dieser le- len: „Ich liebe den Wiener Grant. Hier muss gendäre Wiener Grant? Hat er etwas mit der ös- man nicht gespielt freundlich sein wie anderswo. terreichischen Geschichte zu tun? Damit, dass Wenn ich schlechte Laune habe, kann ich das ein- Österreich einst ein riesiger Vielvölkerstaat war fach zeigen und muss noch nicht einmal grüßen, und jetzt, nun ja, kleiner ist? Diese Frage hat wenn ich keine Lust dazu habe.“ In einer Zeit des mich in den eineinhalb Jahrzehnten seit meiner Zwangs zur Positivität und des organisierten Op- Einwanderung sehr beschäftigt. Meine Haltung timismus kann ich dieser Haltung schon einiges zur Wiener Mentalität hat dabei gewisse Pha- abgewinnen. sen durchlaufen: Auf anfängliches Staunen folg- Vielleicht ist es einfach so: Die Wiener neh- te das störrische Abstreiten und Verteidigen, vor men andere und vor allem sich selbst so, wie sie allem ausländischen Besuchern gegenüber. So viel nun einmal sind. Mit all ihren Launen und Be- unfreundlicher seien die Wiener doch gar nicht findlichkeiten. Die Wiener Seele darf granteln, und außerdem sei der Wiener Schmäh – dieser wenn ihr danach ist. Und das passt doch zu je- schwarze Humor par excellence – die beste Ent- ner Stadt, in der Sigmund Freud die Psychoana- schädigung für holprige Erstkontakte. lyse erfand. Doch zu guter Letzt musste selbst ich als Wahl-Wienerin zugeben, dass schon etwas dran PETER UND DAS ist am besonderen Grant, den ich seitdem rational STADT-LAND-GEFÄLLE zu analysieren versuche. Doch alle Erklärungen, die ich bisher gefunden habe, sind krude und un- In den Sozialwissenschaften gibt es eine Theorie, befriedigend. ohne die kein Erstsemester auskommt: die Clea- Die erste und unaufgeregteste: Wien ist nun vage-Theorie. Der norwegische Politikwissen- einmal eine große Stadt, und da herrscht eben ein schaftler und Soziologe Stein Rokkan und sein rauerer Ton. Die Anonymität führt dazu, dass sich amerikanischer Kollege Seymour Martin Lipset die Menschen nicht mit Samthandschuhen anfas- beschrieben sie 1967 erstmals in einem Aufsatz, sen, da sie nicht fürchten müssen, sich schon bald und sie hat nichts mit großzügig ausgeschnit- wiederzusehen, oder voneinander abhängig zu tenen Cocktail-Kleidern zu tun, sondern be- sein, wie das in eng gestrickten Dorfgesellschaf- schreibt, entlang welcher Konflikte sich Parteien ten der Fall ist. Aber wieso sind die Menschen in formieren. Ihr zufolge gibt es vier große Gegen- Hamburg oder Graz dann so viel besser gelaunt? sätze in der Politik: den Graben zwischen Kapital Die zweite These argumentiert historisch: Die und Arbeit, zwischen Kirche und Staat, zwischen Wiener Unfreundlichkeit stamme aus der Zeit Stadt und Land und jenen zwischen Zentrum und des ehemaligen Vielvölkerstaats Österreich-Un- Peripherie. garn und damit aus einer Phase der Wiener Ge- Ich behaupte: Nirgendwo sonst kann man schichte, in der sich die aus allen Himmelsrich- die letzten beiden Dichotomien besser beobach- tungen stammenden Neo- und Alt-Wiener schon ten als in Österreich. „Wien ist anders“ lautet der rein sprachlich nicht verstanden und auch deshalb Werbeslogan der österreichischen Hauptstadt, eher misstrauisch gegenübertraten. Aber wieso und er ist Programm. In Wien werden oft poli- sind dann andere multikulturelle Schmelztiegel, tische Entscheidungen getroffen, die im Rest der wie zum Beispiel das sonnige Kalifornien, nicht Republik für Unverständnis sorgen. Als während gerade für ihre Misanthropie berühmt? der Flüchtlingskrise in Österreich Grenzzäune Eine dritte, politisch unkorrekte These be- und Obergrenzen diskutiert wurden, beschwor sagt, es sei der Einfluss des Osteuropäisch-Balka- die rot-grüne Wiener Stadtregierung den „Weg nesischen. Dort, „im Osten“, sei der Umgangs- der Menschlichkeit“ und nahm mehr Flüchtlinge ton nun einmal rauer und das habe im Lauf der auf, als es die Quote vorschrieb.

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In Wien wird traditionell anders gewählt. Be- ROSI UND reits in der Zwischenkriegszeit etabliert sich die DIE ANGST Donaumetropole als „Rotes Wien“: Im Rest des Landes herrscht die Christlichsoziale Partei, in In einer Gaststätte im nordwestlich von Wien ge- Wien regiert die Sozialdemokratische Arbeiter- legenen Waldviertel unterhielt ich mich nach der partei Deutschösterreichs (sic), die groß angeleg- jüngsten Wahl mit Wirtin Rosi. Woher ich kom- te soziale Wohnbauprojekte startet und Refor- me, wollte sie wissen. „Aus Wien? Hast Du kei- men in der Bildungs- und Sozialpolitik lanciert. ne Angst?“ Sie stellte das Tablett ab und sah mich Weil Wien seit 1945 bis heute durchgehend von verschreckt an. Nach Wien traue sie sich schon Bürgermeistern regiert wird, die der Sozialdemo- seit Jahren nicht mehr: zu viel Kriminalität, zu kratischen Partei Österreichs (SPÖ) angehören, viele Ausländer. Mein Argument, dass Öster- verwenden politische Gegner den Titel „Rotes reich eines der sichersten Länder und Wien eine Wien“ heute auch oft als polemische Abwertung der sichersten Städte der Welt sei, wischte sie vom der sozialdemokratischen Dominanz. Tisch. „Alles wird immer schlimmer“, meinte sie. Auch bei den letzten Wahlen zeigte sich das Ihre größte Hoffnung sei nun, dass „einmal rich- traditionelle Stadt-Land-Gefälle deutlicher denn tig aufgeräumt wird“. je: Während das Land nach Rechts(außen) drifte- Auf dem Tresen lag die „Kronen Zeitung“, te, blieb in Wien Rot-Grün an der Macht. In ande- wichtigste Meinungsmacherin des Landes. In Ös- ren Ländern steht die Bevölkerung der jeweiligen terreich spielen die Boulevardmedien eine noch Hauptstadt für gewöhnlich indifferent bis bewun- größere Rolle als in Deutschland. Neben der dernd gegenüber. In Österreich blickt man dage- „Kronen Zeitung“ – der österreichischen Versi- gen skeptisch auf den „Wasserkopf Wien“. Die on der „Bild“-Zeitung – mischt seit 2006 die noch Bezeichnung stammt aus der Zeit nach dem Ende radikalere Boulevardzeitung „Österreich“ in der der Donaumonarchie, als das Zentrum des riesigen Medienlandschaft und damit in der Politik kräf- Reiches zur Hauptstadt eines Kleinstaates mutier- tig mit. Bei ihr handelt es sich gar um ein Gra- te. Mit einer überproportionalen Konzentration tisblatt, was die besonders hohe Auflage erklärt. der Bevölkerung und – so argumentieren die Lan- Macher Wolfgang Fellner gilt in Journalistenkrei- deschefs der Bundesländer bis heute – einem zu sen als eine Art „Pate“ im Coppolaschen Sinne. großen Verbrauch an Ressourcen. Beide Blätter positionierten sich im Wahlkampf Doch das Misstrauen beruht auf Gegenseitig- deutlich für die Spitzenkandidaten der Österrei- keit: Mein guter Freund Peter, ein eingefleischter, chischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitli- in Hietzing geborener Wiener, der seine Stadt nie chen Partei Österreichs (FPÖ) und machten die verlassen würde und sie ebenso in den Himmel Flüchtlingspolitik zum Thema Nummer Eins. lobt wie scharf kritisiert, sagte mir einmal: „Ich Die Hetze wirkt, das haben die letzten bei- empfinde mich nicht als Österreicher. Wenn ich den großen Wahlen – die Bundespräsidentenwahl die Wiener Stadtgrenze verlasse, fühle ich mich 2016 und die Nationalratswahl 2017 – gezeigt. wie in einem fremden Land.“ Die Angst dominiert bei Rosi und vielen ande- Die Natur ist ihm, dem überzeugten Städter ren im Land. Sie deshalb alle pauschal als „Nazis“ und verkappten Hipster, suspekt, die Menschen zu bezeichnen, wäre falsch. Doch sie ist wieder auf dem Land wirken auf ihn exotisch. Leider da, die Sehnsucht nach dem „starken Mann“. Der nicht im positiven Sinn: Er hält sie für rückstän- berühmte österreichische Psychiater Erwin Rin- dig und hinterwäldlerisch. Dass es immer mehr gel schrieb in seinem Standardwerk „Die öster- Wienerinnen und Wiener – auch wegen der stei- reichische Seele“ schon 1984: „Der Österreicher genden Wohnkosten – ins Umland zieht, kann ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man er nicht verstehen. Die Reihenhaussiedlungen, ihm sagt: ‚Du bist ein ungerecht Behandelter, ein die rund im Wien entstehen, nennt er verächtlich Getretener und Unterdrückter, ich aber werde „Legebatterien“ und sitzt lieber auf seinem klei- kommen und dich aus dieser Not und aus diesem nen Balkon, von dem aus er auf einen dieser typi- Elend befreien.‘“ Den Grund sah Ringel in der schen, taubenverdreckten Innenhöfe blickt. „Die autoritären Erziehung, die auf Gehorsam, Drill Provinz“, wie er den Rest des Landes verächtlich und Unterdrückung setzt. nennt, steht für ihn für Männerbünde, Sexismus Zwar hat auch Österreich begonnen, die Zeit und Rechtsradikalismus. des Nationalsozialismus aufzuarbeiten – Ent-

07 APuZ 34–35/2018 schädigungen wurden gezahlt, Forschung betrie- Staaten der EU und als politische Kraft zwischen ben und Gedenkstätten und Mahnmale errichtet. Ungarn und Deutschland und damit zwei grund- Doch bis heute wirkt die „Opferthese“ nach, jene verschiedenen Lagern in der europäischen Flücht- Vorstellung von Österreich als erstem Opfer Na- lingspolitik. Während sich SPÖ-Kanzler Christi- zi-Deutschlands. In manchen Schulen, erzählen an Kern eher an der deutschen Linie orientierte, mir österreichische Freunde, wurde die Nazizeit positioniert sich Kurz auf Seiten jener Staaten, die nicht einmal im Geschichtsunterricht durchge- für eine restriktivere Politik stehen. nommen. 80 Jahre sind vergangen seit dem „An- Vielen Österreichern scheint diese Haltung zu schluss“, doch das schwere, braune Erbe hat Ös- gefallen, die stärker auf nationale oder bilaterale terreich noch längst nicht abgeschüttelt. denn gesamteuropäische Lösungen setzt. Öster- reich ist eines der EU-skeptischsten Länder über- ILDIKÓ UND DIE haupt. Und mit der FPÖ regiert eine eurokriti- GEOPOLITISCHE LAGE sche Partei mit, die in Gestalt von Vizekanzler Strache zwar jüngst verkündete: „Wir bekennen Ildikó hat andere Sorgen. Jeden Morgen steigt sie uns als österreichische Patrioten zum europäi- im ungarischen Sopron in den Zug und pendelt schen Friedensprojekt“ – aber gleich nachschob: nach Wien. Seitdem ihr Mann sie von einem Tag „Zugleich werden wir weiter Kritik an Fehlent- auf den anderen verlassen hat, kann sie sich ihre wicklungen in der EU üben“. Wiener Wohnung nicht mehr leisten. Sie musste zu ihrer Schwester ziehen, zurück in ihre Hei- OLLE DEPPERT mat. Nach Wien kommt sie trotzdem jeden Tag. Sie putzt in den weitläufigen Häusern der noblen Vor einem Schwarz-Weiß-Denken, wie es die Fil- nördlichen Bezirke Währing und Grinzing. terblasen der sozialen Medien nahelegen, muss Die Fahrt ist kurz, trotzdem liegen immer man sich heute vielleicht mehr denn je hüten. noch Welten zwischen dem „westlichen“ Öster- Wien ist nicht der einzige Hort eines modernen, reich und dem „östlichen“ Ungarn. So wie Ildikó aufgeschlossenen Österreichs, wie es sich Peter, pendeln täglich Tausende aus den östlichen Nach- der überzeugte Städter gerne vorstellt. Bei wei- barländern, um in Österreich zu arbeiten – als tem nicht alle Österreicherinnen und Österrei- Pflege- und Putzkräfte, auf dem Bau, als unterbe- cher lassen sich von ihren Ängsten dominieren zahlte Erntehelfer. Und die Österreicher pendeln wie Rosi. Meine ehemalige Nachbarin Gerti, die in den Osten – wegen der billigeren Arztleistun- herzliche Wiener Misanthropin, schimpft oft lei- gen, des Biers zum Spottpreis, manche auch als denschaftlich auf „die Ausländer“ – oft habe ich Sextouristen. mit ihr darüber diskutiert. Aber richtig verächt- Lange Zeit lag Österreich als letzte Station lich äußert sie sich über einen ganz bestimm- vor dem Eisernen Vorhang. Viele Österreicherin- ten Menschenschlag. „Wir Wiener san doch olle nen und Österreicher können sich noch gut da- deppert“, meinte sie vor Kurzem, als wir bei ei- ran erinnern, wie nur wenige Kilometer entfernt nem Glaserl Himbeersoda in ihrem Nippes-ge- eine unüberwindbare Grenze Europa in zwei Wel- schmückten Wohnzimmer saßen und über den ten spaltete. So auch an der österreichisch-unga- rauen Umgangston in der Hauptstadt sprachen. rischen Grenze in Ildikós Heimat Sopron. Bevor Es ist dieser Humor, der sich selbst am wenigs- hier im August Hunderte von DDR-Bürgerinnen ten ernst nimmt, der die österreichische Mentali- und Bürgern das Tor zum Westen durchschritten, tät trotz aller Altlasten und neuen Sorgen immer hatten am 27. Juni 1989 die damaligen Außenmi- noch sympathisch macht. nister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und , in einer symbolischen Zeremonie den Grenzzaun durchtrennt. Zelebriert wurde der Ab- bau der ungarischen Überwachungsanlagen, der – mit Wissen des sowje­ ­tischen Präsidenten Michail Gor­ba­tschow – bereits im Mai begonnen hatten. Auch heute hat Österreich wieder eine Rand- lage in zweifacher Hinsicht inne: als Brücken- SASKIA BLATAKES bauer zwischen den Visegrád- und den Balkan- lebt als freie Journalistin in Wien.

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WAS WAR „ÖSTERREICH“ VOR 1918? Thomas Winkelbauer

Mit dem Namen „Österreich“ konnte zwischen im heutigen südwestlichen Niederösterreich) dem frühen Mittelalter und dem 20. Jahrhundert und von 30 – wohl erst zu kultivierenden – je nach Epoche und Kontext Unterschiedliches Königshufen (rund 1000 Hektar) verbrieft. Zur bezeichnet werden. 01 Lagebestimmung der Schenkung bedient sich die Urkunde der Formulierung „in der Gegend OSTARRICHI, , (in regione), die in der Volkssprache (vulgari ÖSTERREICH vocabulo) Ostarrichi heißt, in der Mark und in der Grafschaft (in marcha et in comitatu) des Erstmals urkundlich belegt ist der Begriff in ei- Grafen Heinrich, des Sohnes des Markgrafen nem geografischen Sinn für einen Landstrich im Luitpold (Leopold)“. 04 „Ostarrichi“ bezeich- heutigen Bundesland Niederösterreich im letz- nete zunächst also nicht ein „Reich“ im Sinne ten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts. Die Bayern eines mehr oder weniger selbstständigen Herr- nannten nach dem 955 in der Schlacht auf dem schaftsgebietes, sondern bloß eine nicht ge- Lechfeld unter dem ostfränkisch-deutschen Kö- nau abgegrenzte Gegend (regio). In einer wei- nig Otto I. errungenen Sieg über die Ungarn, in teren, zwei Jahre jüngeren Urkunde Ottos III. dessen Folge Teile des 907 an die Magyaren ver- wird vom geschenkten Gut gesagt, es liege im lorengegangenen Gebietes des Herzogtums Bay- Gau (in pago) Ostarriche. Das Ostarrichi be- ern an der Donau östlich der Enns zurückerobert ziehungsweise Ostarriche von 996 und 998 war werden konnten, den östlichsten Bereich ihres offenbar nicht identisch mit der babenbergi- Herrschaftsgebietes anscheinend „Ostarrichi“. schen Mark (marcha): Die regio beziehungs- Vielleicht haben sie aber auch „bereits im 9. Jahr- weise der pagus namens Ostarrichi liegt in der hundert, als im Osten ihres eigentlichen Stamm- marcha des Grafen Heinrich (gestorben 1018), landes neue politische Bereiche organisiert des Sohnes von Markgraf Luitpold, des Stamm- wurden, diese Gegenden [unter Einschluss Ka- vaters der Babenberger, der von 976 bis 994 be- rantaniens und der späteren Steiermark] als die zeugt ist. Es handelt sich dabei aber nicht um Ostlande, d. h. als Ostar­richi, bezeichnet“. 02 Als die Mark selbst. 05 diese Gebiete im Laufe des 10. Jahrhunderts, ins- Die politische Sprache des ausgehen- besondere durch die Schaffung des Herzogtums den 10. Jahrhunderts verfügte anscheinend Kärnten im Jahr 976, „ein eigenes politisches noch nicht über einen Namen für die bayeri- Profil erlangten, mag sich der Begriff Ostarrichi sche Mark an der Donau. 06 Erst im Laufe des für die Bayern auf das Gebiet an der Donau re- 11. Jahrhunderts wurde der Begriff „Ostarri- duziert haben“. 03 chi“ von einer aus der Perspektive des bayeri- Zu Beginn der 970er Jahre wurde im Do- schen Zentralraumes gewählten Fremdbezeich- nauabschnitt zwischen den Flüssen Enns und nung eines Landstrichs „zur Bezeichnung des Traisen (im Wesentlichen im Alpenvorland, also Herrschaftsbereiches der Babenberger insge- südlich der Donau) die bayerische beziehungs- samt (…). Aus der Benennung von außen ent- weise ottonische „Mark an der Donau“ einge- wickelte er sich auch zu einer Selbstaussage richtet und bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts der Österreicher.“ 07 Allmählich wurde aus ei- allmählich nach Osten, Norden und Süden ver- nem unsicheren und dünnbesiedelten Grenz- größert. In einer Urkunde Kaiser Ottos III. für land eine historische Landschaft. 08 Die „Ostar- das bayerische Hochstift Freising vom 1. No- richi-Urkunde“ von 996 ist also gewiss nicht, vember 996 wurde der Freisinger Bischofskir- wie man manchmal lesen kann, die „Geburts- che die Schenkung eines Hofes (curtis) in Neu- urkunde Österreichs“, sondern allenfalls des- hofen an der Ybbs (in der Nähe von Amstetten sen „Taufschein“. 09

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1156 wurde „Österreich“, die bayerische schen Worten des österreichischen Historikers Mark an der Donau, von Kaiser Friedrich I. Bar- Otto Brunner, „eine Rechts- und Friedensge- barossa – unter hier nicht zu erörternden politi- meinschaft (…), die durch ein bestimmtes Land- schen Umständen – vom Herzogtum Bayern los- recht geeint ist“ und deren Träger „das Land- gelöst und zu einem selbstständigen Herzogtum volk“ ist, „die Landleute, die den politischen erhoben. In der diese Erhebung dokumentie- Verband des Landes bilden“. 11 Ausgehend von renden, nur abschriftlich überlieferten Urkunde den über Grund- und Untertanenbesitz verfü- („Privilegium minus“) bezeugte der Kaiser, dass genden adeligen Landleuten entwickelten auch er die Mark „Austria“ in ein Herzogtum verwan- andere Bewohner des Landes ein Landesbe- delt habe (marchiam Austrie in ducatum com- wusstsein als Österreicher. 12 Spätestens seit 1230 mutavimus). 10 Urkundlich erstmals 1147 belegt, repräsentierte das Landeswappen des rot-weiß- setzte sich „Austria“ als lateinischer Landesname roten Bindenschildes die rechtliche und politi- Österreichs um die Mitte des 12. Jahrhunderts all- sche Einheit des Landes Österreich. Im Übrigen gemein durch und wurde im Laufe des hohen und wird das Vorhandensein eines ausgeprägten Lan- späten Mittelalters auch zur italienischen, spani- desbewusstseins – insbesondere, aber nicht nur schen und englischen Benennung Österreichs. bei den weltlichen und geistlichen Mitgliedern Während der 270-jährigen Herrschaft der der Landstände, die, einer vielzitierten Formu- Markgrafen und Herzöge aus dem Geschlecht lierung Otto Brunners zufolge, das Land nicht der Babenberger (von 976 bis 1246) wurde Ös- etwa „vertreten“, sondern „sind“ 13 – zu Recht terreich nicht nur zu einem Herzogtum, sondern als untrügliches Zeichen für den Abschluss der auch zu einem Land, das heißt, mit den klassi- Landwerdung angesehen. 14

01 . Vgl. v a. Erich Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und 06 Vgl. Christian Lackner, Die Länder und das Reich (907–1278), Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988; Richard G. Plaschka/ in: Winkelbauer (Anm. 1), S. 63–109, hier S. 70. Gerald Stourzh/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Was heißt Öster- 07 Riedmann (Anm. 2), S. 34. reich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhun- 08 Vgl. Scheibelreiter (Anm. 5), S. 59. dert bis heute, Wien 1995. Der vorliegende Beitrag ist eine stark 09 Vgl. u. a. ebd., passim; Gernot Heiss, „Eine Kette von Bege- überarbeitete, sowohl wesentlich gekürzte als auch um eine Reihe benheiten“ – 996/1996, in: ders./Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), von Passagen erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich, Wien 1996, von: Thomas Winkelbauer, Einleitung: Was heißt „Österreich“ und S. 9–27. „österreichische Geschichte“?, in: ders. (Hrsg.), Geschichte Öster- 10 Zit. nach Heinrich Appelt, Privilegium minus. Das staufische reichs, Stuttgart 20183, S. 15–31. Die Anmerkungen beschränken Kaisertum und die Babenberger in Österreich, Wien–Köln–Graz sich auf den Nachweis von Zitaten und Hinweise auf grundlegende 1973, S. 96. Vgl. auch Peter Schmid (Hrsg.), Die Geburt Öster- weiterführende Literatur. reichs: 850 Jahre Privilegium minus, Regensburg 2007. 02 Josef Riedmann, Der „Taufschein“ Österreichs. Die Ostarrichi- 11 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territo- Ur kun­ ­de vom 1. November 996, in: Hermann J. W. Kuprian rialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt (Hrsg.), Ostarrichi – Österreich. 1000 Jahre – 1000 Welten. 19655 (1939), S. 235. Innsbrucker Historikergespräche 1996, Innsbruck–Wien 1997, 12 „Das Landrecht besaß zentrale Bedeutung für das Landesbe- S. 19–38, hier S. 33. wußtsein, hatte in diesem seinen eigentlichen Kristallisationskern. 03 Ebd. Landeszugehörigkeit definierte sich über das Bekenntnis zum 04 Edition des lateinischen Originals: Monumenta Germaniae Landrecht.“ Christian Lackner, Das Haus Österreich und seine historica, Diplomata, Bd. 2/2: Die Urkunden Otto des III. (bearbei- Länder im Spätmittelalter. Dynastische Integration und regionale tet von Theodor von Sickel), Hannover 1893, Nr. 232, S. 647. Vgl. Identitäten, in: Werner Maleczek (Hrsg.), Fragen der politi- Heide Dienst, Ostarrîchi – oriens – Austria: Probleme „österrei- schen Integration im mittelalterlichen Europa, Ostfildern 2005, chischer“ Identität im Hochmittelalter, in: Plaschka/Stourzh/Nie- S. 273–301, hier S. 295. derkorn (Anm. 1), S. 35–50; Riedmann (Anm. 2). Die „Ostarrichi- 13 Brunner (Anm. 11), S. 423. Urkunde“ wird heute als Urkunde Nr. 14 des Bestandes Hochstift 14 Das Landesbewusstsein war geradezu eine Voraussetzung Freising im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München verwahrt. dafür, dass „das mit dem Personenverband [der Landherren] iden- 05 Vgl. Riedmann (Anm. 2), S. 29. Auch die Mark an der Donau tische Land ‚funktioniert‘. Für jeden Landherrn, der das Landtaiding war zunächst keineswegs ein „durchorganisierter, mit Kompetenzen aufsuchte, um an der Rechtsprechung oder an den Beratungen versehener Amtssprengel auf einer bestimmten, flächenmäßig über Landesangelegenheiten teilzunehmen, war [das] Land nicht umschriebenen Basis“. Vielmehr war die Markgrafschaft „dort, eine abstrakte Vorstellung, sondern die lebendige Realität einer wo der Markgraf war, sich gerade aufhielt und seine königliche Rechtsgenossenschaft.“ Winfried Stelzer, Landesbewußtsein in Funktion erfüllte“. Georg Scheibelreiter, Ostarrichi – Das Werden den habsburgischen Ländern östlich des Arlbergs bis zum frühen einer historischen Landschaft, in: Wilhelm Brauneder/Lothar Höbelt 15. Jahrhundert, in: Matthias Werner (Hrsg.), Spätmittelalterliches (Hrsg.), Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996–1806, Landesbewußtsein in Deutschland, Ostfildern 2005, S. 157–222, Wien 1995, S. 9–70, hier S. 39. hier S. 165.

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HERRSCHAFT und Steiermark] und den ‚Stammlanden‘ [west- ZU ÖSTERREICH lich des Arlbergs]“. 18

Seit etwa 1300, also seit den ersten Jahrzehn- HAUS ÖSTERREICH ten der 1282 beginnenden Landesherrschaft der Habsburger in den Herzogtümern Öster- Seit der ersten Hälfte des 14., vor allem aber reich und Steier (Steiermark), ist die Formulie- seit dem frühen 15. Jahrhundert wurde das Ge- rung „Herrschaft zu Österreich“ belegt. Da- schlecht der Habsburger sowohl von Angehöri- mit konnte, erstens, die aus dem Südwesten gen des Hauses selbst als auch von anderen als des Reiches stammende Dynastie selbst, die „Haus Österreich“ (domus Austriae) bezeichnet. sich nunmehr nach ihrem neuen Hauptland Allgemeine Verwendung scheint der Begriff erst nannte, gemeint sein, zweitens, die Summe ih- ab 1438/39 gefunden zu haben, „als die Habs- rer Herrschaftsrechte und schließlich, drittens, burger mit Albrecht II. wieder in den Besitz der alle Länder und Herrschaftsgebiete der Habs- römisch-deutschen Königswürde gelangten“. 19 burger (neben Österreich und Steier sowie Diese Benennung der Dynastie setzte sich bald den Vorlanden westlich des Arlbergs seit 1335 auch in einer Reihe von europäischen Sprachen auch die Herzogtümer Kärnten und Krain und durch (französisch Maison d’Autriche, italienisch seit 1363 die Grafschaft Tirol). Österreich und Casa d’Austria, spanisch Casa de Austria, eng- Steier blieben aber auch nach der Vereinigung lisch House of Austria). unter einem gemeinsamen Landesfürsten im Auch die nicht mehr über das Herzogtum Jahre 1198 zwei selbstständige, nur durch Per- Österreich und die anderen („österreichischen“) sonalunion verbundene Länder mit zwei unter- Erbländer der Habsburger herrschenden Mo- schiedlichen Landrechten, und dasselbe gilt im narchen aus der spanischen Linie des Hauses 14. und 15. Jahrhundert für die Länder Kärn- wurden im 16. und 17. Jahrhundert internatio- ten, Krain und Tirol. Erst in der Ära von König nal als Repräsentanten des Hauses Österreich (seit 1486) und Kaiser (seit 1508) Maximilian I. wahrgenommen und bezeichnet. „In Frankreich (1490/93 bis 1519) fand „erstmalig eine büro- galten gerade die spanischen Habsburger als kratische Überformung der habsburgischen Angehörige der ‚Maison d’Autriche‘; zwei spa- Länder“ statt. 15 nische Infantinnen, die in die französische Dy- In diesen Jahren artikulierte der Landes- nastie [der Bourbonen] einheirateten, Gattinnen fürst auch zum ersten Mal den Ständen der ein- von Ludwig XIII. und Ludwig XIV., hießen in zelnen Erb­länder gegenüber „explizit unifikato- Frankreich Anne d’Autriche und Marie-Therè- rische Absichten“. 16 So forderte Maximilian im se d’Autriche. In Spanien aber und seinen über- September 1517 die Stände seiner Länder zur Be- seeischen Besitzungen nannte man die spani- schickung eines Ausschusslandtages auf und for- schen habsburgischen Könige ‚Reyes de la Casa mulierte als Aufgabe der ab Januar 1518 in Inns- de Austria‘, ‚Reyes Austriacos‘ oder einfach ‚los bruck tagenden Versammlung, zwischen den ‘.“ 20 oberösterreichischen (Tirol und die Vorlande) und den niederösterreichischen (Österreich ob HABSBURGERMONARCHIE und unter der Enns, Steiermark, Kärnten und Krain) Ländern eine „ainigung (…) aufzürichten, Die mitteleuropäische Habsburgermonarchie wie sy sich alle als glider ains haubts gegenainan- ist 1526/27 als eine „monarchische Union von der halten (…) sollen und mügen“. 17 Ständestaaten“ 21 entstanden und in gewisser Im Übrigen verdankt die heutige Republik

Österreich „Gestalt und Namen“ im Grunde 18 Dienst (Anm. 4), S. 50. dem Streben der Habsburger „nach einer terri- 19 Lackner (Anm. 12), S. 287. torialen Verbindung zwischen dem babenbergi- 20 Zöllner (Anm. 1), S. 38 f. Vgl. auch Alfred Kohler, Die euro- schen Erbe [d. h. den Herzogtümern Österreich päische Bedeutung des Begriffs „Casa de Austria“, in: Plaschka/ Stourzh/Niederkorn (Anm. 1), S. 135–147; Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Europäische Dimensionen österreichischer Geschichte, 15 Lackner (Anm. 12), S. 284. Wien 2002. 16 Ebd. 21 Otto Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, 17 Zit. nach ebd. in: Südost-Forschungen 14/1955, S. 122–144.

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Hinsicht bis zu ihrem Ende 1918 ein „zusam- Schlüsselfragen der Geschichte des politischen mengesetzter Staat“, eine „zusammengesetz- Systems der Habsburgermonarchie besteht da- te Monarchie“ 22 geblieben. Selbst die drei 1526 her darin, ob und gegen welche Widerstände sie durch Personalunion verbundenen Ländergrup- eine Integration ihres Herrschaftsbereichs zu ei- pen – die österreichischen Erbländer, die Län- nem möglichst einheitlich regierten oder jeden- der der böhmischen Krone und das Königreich falls möglichst effektiven, das heißt militärisch Ungarn – waren keineswegs nach einheitlichem schlagkräftigen Staat erreichten. Bündnispartner Recht regierte und verwaltete Territorialstaaten, waren dabei insbesondere die katholische Kirche, sondern seit unterschiedlich langer Zeit durch das Offizierskorps der kaiserlichen Armee, der in Personalunion verbundene Länderkonglomera- mehreren Ländern begüterte („österreichische“) te. Die frühneuzeitliche Habsburgermonarchie Hochadel und die (hohe) Bürokratie (Stichwort war also genaugenommen eine monarchische „Hofratsnation“). 25 Union monarchischer Unionen von Ständestaa- Zur Schaffung eines aus den österreichischen ten, ein aus zusammengesetzten Staaten zusam- und böhmischen Ländern bestehenden „Kern- mengesetzter Staat. 23 staates“ mit einheitlicher Rechtsordnung und Das politische System der werdenden Do- einheitlichem Staatsapparat kam es erst in der naumonarchie und die staatsrechtliche Stellung zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beginnend der ihre Länder in vielfacher Personalunion be- mit der von den Zeitgenossen als „Revolution“ herrschenden Könige, Herzöge, Markgrafen erlebten Staatsreform des Jahres 1749. Die ins- und Grafen aus dem Hause Österreich wurden besondere in den 1670er, 1780er und 1850er Jah- zusätzlich durch den Umstand verkompliziert, ren unternommenen, mehr oder weniger gewalt- dass der multiple Landesfürst mit Ausnahme samen Versuche, das Königreich Ungarn nach der Regierungszeiten Karls V. (1519–1556) und dem Muster der „deutschen“ beziehungswei- Karls VII. (1742–1745) stets auch die römisch- se „deutsch-slawischen“ Erbländer zu regieren, deutsche Kaiserwürde innehatte und dass die schlugen hingegen fehl und mündeten schließ- österreichischen und die böhmischen Länder – lich in den staatsrechtlichen „Ausgleich“ des Jah- nicht hingegen das Königreich Ungarn mit sei- res 1867. nen Nebenländern und seit dem 18. Jahrhundert Über einen gemeinsamen Namen verfüg- die im Spanischen Erbfolgekrieg behaupteten te das Länderkonglomerat des Hauses Öster- ehemals spanischen Länder sowie Galizien und reich in Mitteleuropa im 16. und 17. Jahrhun- die Bukowina – Territorien des Heiligen Römi- dert noch nicht. Die Königreiche, Länder und schen Reichs waren. 24 Herrschaften der spanischen Habsburger wa- Die Landesfürsten aus der österreichischen ren schon seit längerem als „Monarchia Hispa- (oder deutschen) Linie des Hauses Österreich nica“ („Spanische Monarchie“) bezeichnet wor- herrschten über Königreiche und Länder mit den, als in Analogie dazu um 1700, sei es bereits sehr unterschiedlichen historischen Traditio- vor oder erst nach dem in diesem Jahr erfolg- nen, politischen und Rechtssystemen. Eine der ten Aussterben der spanischen Linie des Hauses Österreich im Mannesstamm, die Bezeichnung „Monarchia Austriaca“ („Österreichische Mo- 22 Helmut G. Koenigsberger, Dominium regale or dominium politicum et regale? Monarchies and Parliaments in Early Modern narchie“) als Sammelbezeichnung für die Kö- Europe, in: Karl Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und nigreiche und Länder der österreichischen Li- seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, nie des Hauses aufkam. So finden sich in dem S. 43–86; ders., Zusammengesetzte Staaten, Repräsentativver- Testament, das der künftige Kaiser Karl VI. als sammlungen und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, in: König Karl III. von Spanien am 26. September Zeitschrift für historische Forschung 4/1991, S. 399–423; John H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 1/1992, S. 48–71. 25 Vgl. Michael Hochedlinger, Austria’s Wars of Emergence. 23 Vgl. Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. War, State and Society in the Habsburg Monarchy 1683–1797, Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen London u. a. 2003; Peter Rauscher (Hrsg.), Kriegführung und Zeitalter, Teil 1, Wien 2003, S. 25 und passim. Staatsfinanzen. Die Habsburgermonarchie und das Heilige Römi- 24 Vgl. Harm Klueting, Das Reich und Österreich 1648–1740, sche Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des habsbur- Münster 1999; Petr Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die gischen Kaisertums 1740, Münster 2010; P[eter] G. M. Dickson, Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen Finance and Government under Maria Theresia, 1740–1780, des Absolutismusparadigmas, Stuttgart 2006. 2 Bde., Oxford 1987.

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1711, nach dem unerwarteten Tod seines älteren aufgelöst. 29 Damit trat die 1866 (Österreichisch- Bruders, Kaiser Josephs I., in Barcelona verfass- preußischer Krieg, Schlacht bei Königgrätz) te, bevor er zur Kaiserkrönung nach Frankfurt und 1870/71 (Deutsch-französischer Krieg, am Main aufbrach, beide Bezeichnungen neben- Gründung des Deutschen Reiches) nur vorläu- einander. Es war also „der Wiener Hof und so- fig 30 und erst 1945 (Neugründung der Republik mit die Politik, die den Begriff um 1700 aus dem Österreich) beziehungsweise 1990 („Wieder- Spanischen herüberholte“. 26 vereinigung Deutschlands“) gelöste „Deutsche Der erste bisher bekannte Beleg für den Be- Frage“ ins Leben, die an dieser Stelle ausgeklam- griff „Monarchie des Hauses Österreich“ mit Be- mert bleiben muss. 31 zug auf das Herrschaftsgebiet der in Wien resi- Im staatsrechtlichen Sinn war erst in den Ver- dierenden Habsburger ist der Titel eines 1673 fassungen beziehungsweise Verfassungsentwür- in Prag erschienenen Buches, Johann Jakob von fen für die Habsburgermonarchie aus den Revolu- Weingartens „Fürstenspiegel oder Monarchia tionsjahren 1848 und 1849 von einem „Kaisertum deß Hochlöblichen Ertzhauses Oesterreich“. 27 Österreich“ und einem „österreichischen Kaiser- Aber erst in den 1770er Jahren kam der Wandel staat“ die Rede (Verfassungs-Urkunde des ös- der Begriffe „Monarchie des Hauses Österreich“ terreichischen Kaiserstaates vom 25. April 1848, und „Österreichische Monarchie“ von einer dy- Reichsverfassung für das Kaiserthum Oesterreich nastischen Herrschaftsbezeichnung zu einer Ter- vom 4. März 1849). Immerhin bezeichnete bereits ritorial- beziehungs­weise Staatsbezeichnung zu Clemens Lothar Fürst Metternich, der maßgeb- einem Abschluss. Der Wiener Arzt Heinrich Jo- liche österreichische Staatsmann der Jahre 1809 hann von Crantz scheint der Erste gewesen zu bis 1848, das komplexe Staatswesen auch kurz als sein, der den Begriff in seinem 1777 publizierten „Kaiserstaat“, „(österreichische) Monarchie“ und Werk „Gesundbrunnen der österreichischen Mo- „österreichischen Staat“. 32 narchie“, einem Verzeichnis von nicht weniger als 656 Badeorten samt balneologischen Erläuterun- DOPPELMONARCHIE gen, in einem gedruckten Buch im territorialen ÖSTERREICH-UNGARN Sinn verwendete. 28 Napoleons Krönung zum erblichen Kai- Primäres Ziel der Politik des neuen, im Dezem- ser der Franzosen zeichnete sich bereits ab, als ber 1848 mit 18 Jahren auf den Thron gelang- am 11. August 1804 durch ein kaiserliches Pa- ten Kaisers Franz Joseph I. in der zehnjährigen tent verkündet wurde, dass Franz II., Kaiser des Epoche des sogenannten Neoabsolutismus nach Heiligen Römischen Reichs, den Titel eines erb- lichen Kaisers von Österreich (als Franz I.) an- genommen habe. Zwei Jahre später schlossen 29 Siehe u. a. Brigitte Mazohl-Wallnig, Zeitenwende 1806. Das Ende des Heiligen Römischen Reichs und die Geburt des modernen sich 16 Reichsfürsten dem am 1. Juli 1806 von Europa, Wien–Köln–Weimar 2005. Napoleon gegründeten Rheinbund an und er- 30 Vgl. z. B. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Be- klärten am 1. August dieses Jahres auf dem Im- wußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien u. a. 1996², merwährenden Reichstag in Regensburg ihren S. 303–310 („Der Anschlußgedanke in der Ersten Republik“). Austritt aus dem Reich. Wenige Tage danach, 31 Siehe u. a. Heinrich Lutz/Helmut Rumpler (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der am 6. August, liquidierte Kaiser Franz die rö- politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deut- misch-deutsche Kaiserwürde und erklärte „das schen Mitteleuropa, Wien 1982; Anselm Doering-Manteuffel, Die Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, des deutschen Reichs gebunden hat“, für gelöst, München 20103. Gerald Stieg hat unlängst die plausible These alle Reichsstände ihrer Bindungen an Kaiser und vertreten, dass sich die österreichische Identität (in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) „durch Abgrenzung und Differenz, Reich für ledig und alle Reichsinstitutionen für durch eine Art feindselige Konkurrenz mit Deutschland“ konstituiert habe, „also durch das, was Freud den ‚Narzissmus der kleinen Differenz‘ genannt hat“. Gerald Stieg, Sein oder Schein. Die 26 Grete Klingenstein, Was bedeuten „Österreich“ und „öster- Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss, Wien– reichisch“ im 18. Jahrhundert? Eine begriffsgeschichtliche Studie, Köln–Weimar 2016, S. 33. in: Plaschka/Stourzh/Niederkorn (Anm. 1), S. 149–220, hier 32 Zöllner (Anm. 1), S. 60. Vgl. auch Wolfgang Häusler, S. 191. Kaiserstaat oder Völkerverein? Zum österreichischen Staats- und 27 Vgl. ebd., S. 187 f. Reichsproblem zwischen 1804 und 1848/49, in: Plaschka/Stourzh/ 28 Vgl. ebd., S. 201 f. Niederkorn (Anm. 1), S. 221–254.

13 APuZ 34–35/2018 der Niederschlagung der Revolutionen von Reichshälfte („Cisleithanien“, offiziell: „die im 1848/49 war die Schaffung eines alle Länder des Reichsrat [d. h. im Wiener Parlament] vertrete- Hauses Österreich (beziehungsweise Habsburg nen Königreiche und Länder“) hielt man an der beziehungsweise Habsburg-Lothringen) um- Vorstellung von Österreich-Ungarn als (zumin- fassenden, zentral von Wien aus regierten Kai- dest in völkerrechtlicher Hinsicht) einem Staat sertums Österreich. 33 Diese scheiterte schließ- fest, während man in Ungarn von zwei politisch, lich vor allem infolge militärischer Niederlagen militärisch und wirtschaftlich verbündeten und der daraus resultierenden schweren Kri- selbstständigen Staaten unter einem gemeinsa- se der Staatsfinanzen und wurde ab 1860 durch men Monarchen mit gemeinsamer Außenpoli- eine zaghafte Konstitutionalisierung sowie 1867 tik sprach. „Der Österreichbegriff begann sich“, durch eine Teilung der Monarchie in zwei je- wie Ernst Bruckmüller treffend formuliert hat, weils als konstitutionelle Monarchien konstru- „auf den nichtungarischen Teilstaat der Habs- ierte „Reichshälften“ beziehungsweise Staaten burgermonarchie zurückzuziehen“. 35 „Öster- und die Schaffung der Doppelmonarchie Ös- reich“ wurde dadurch – offiziell erst 1915 – zum terreich-Ungarn („Österreichisch-Ungarische Synonym der Bezeichnungen „die im Reichsrat Monarchie“ oder „Österreichisch-Ungarisches vertretenen Königreiche und Länder“, „westli- Reich“) ersetzt. Im Zuge des staatsrechtlichen che Reichshälfte“ und „Cisleithanien“. In die- Ausgleichs mit Ungarn wurde 1867 zunächst sem Sinne gab es von 1867 bis 1918 ein einheit- die ungarische „Aprilverfassung“ des Jahres liches „österreichisches Staatsbürgerrecht“, eine 1848 wieder in Kraft gesetzt. Im Dezember des- „österreichische Staatsbürgerschaft“. 36 Dennoch selben Jahres musste Franz Joseph, um die Zu- blieben auch nach 1867 alle drei territorialen Be- stimmung der Deutschliberalen zum Ausgleich deutungsebenen des Österreichbegriffs in Ge- zu erlangen, mehrere neue Staatsgrundgesetze brauch, nämlich: für die künftige westliche Reichshälfte, die zu- –– Österreich als Kronland beziehungswei- sammen die sogenannte Dezemberverfassung se die zwei Kronländer Österreich un- bildeten, bestätigen – darunter auch das Staats- ter und ob der Enns, die heutigen Bundes- grundgesetz über die allgemeinen Rechte der länder Niederösterreich (unter Einschluss Staatsbürger, das bis zum heutigen Tag Bestand- der Haupt- und Residenzstadt Wien) und teil des österreichischen Bundesverfassungs- Oberösterreich, rechts ist. –– Österreich als der, von Wien aus gesehen, Was verstand man nun zwischen 1867 und „diesseitige Staat“ (Cisleithanien), und 1918, vom Ausgleich und der Dezemberverfas- schließlich sung bis zum Ende Österreich-Ungarns, un- –– Österreich als die Gesamtmonarchie, das ter „Österreich“? 34 Darüber gingen die Mei- Völkerrechtssubjekt „Österreich-Ungarn“. nungen der österreichischen (insbesondere der deutschösterreichischen) und der ungarischen GEOGRAFISCH-POLITISCHE (magyarischen) Staatsrechtler und Politiker aus- RÄUME DER ÖSTERREICHISCHEN einander. In der westlichen oder österreichischen GESCHICHTE BIS 1918

33 Siehe zuletzt Georg Seiderer, Österreichs Neugestaltung. Das sich mit dem Zerfall Österreich-Ungarns Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen und der Gründung der Republik Österreich (zu- Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849–1859, Wien 2015; nächst: Deutsch-Österreich) im Oktober und Harm-Hinrich Brandt (Hrsg.), Der österreichische Neoabsolutismus November 1918 radikal verkleinernde Territori- als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen um „Österreichs“ stellt Historiker und Histori- strittigen Epochenbegriff, Wien–Köln–Weimar 2014. 34 Vgl. insbesondere Gerald Stourzh, Die dualistische Reichs- struktur. Österreichbegriff und Österreichbewusstsein 1867–1918 35 Ernst Bruckmüller, Österreichbegriff und Österreich-Bewußt- (1991), in: ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. stein in der franzisko-josephinischen Epoche, in: Plaschka/Stourzh/ Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien–Köln–Graz 2011, Niederkorn (Anm. 1), S. 255–288, hier S. 260. S. 105–124; ders., Der Dualismus 1867–1918: Zur staatsrechtli- 36 Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allge- chen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: meinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonar- Königreiche und Länder, Artikel 1: „Für alle Angehörigen der im chie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Teil 1, Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder besteht ein allge- Wien 2000, S. 1177–1230. meines österreichisches Staatsbürgerrecht.“

14 Österreich APuZ kerinnen vor ganz spezifische Probleme. 37 Wer inhalten oder beinhaltet haben und der Geschich- sich mit der Geschichte Österreichs befasst, hat te, die in diesen Räumen stattfand. Darin einge- es mit zwei unterschiedlichen historiografischen schlossen ist die Wahrnehmung dieser Räume Traditionen zu tun, und zwar, erstens, mit der durch die Zeitgenossen wie rückblickend in der Landesgeschichtsschreibung, die infolge des re- österreichischen und internationalen Geschichts- lativ stabilen räumlichen Rahmens der meis- wissenschaft.“ 40 ten österreichischen (Bundes-)Länder seit dem Strohmeyer unterscheidet als für die (neue- Hoch- und Spätmittelalter – abgesehen von den re) österreichische Geschichte relevante Räume erst nach 1918 geschaffenen Bundesländern Wien – neben Europa –, erstens, staatlich-territori- und Burgenland – „eine Art ruhenden Pol der ale Räume, zweitens, europäische Mesoregio- Geschichtsschreibung in Österreich darstellt“, nen (Zentraleuropa und Ostmitteleuropa) und, und, zweitens, mit der „gemeinsamen“ österrei- drittens, das habsburgische Imperium, also die chischen Geschichte. Im Unterschied zur Ge- die Herrschaftsräume sowohl der spanischen als schichte der einzelnen Länder ist die gemeinsame auch der österreichischen (oder deutschen) Linie österreichische Geschichte ein „im räumlichen des Hauses Österreich umfassende „dynastische Umfang wie in zeitlicher Kontinuität instabiler Agglomeration“. 41 In unserem Zusammenhang Traditionsstrang“. 38 relevant sind in erster Linie die sich im Zeitver- Der Historiker Arno Strohmeyer hat 2008 lauf ändernden staatlich-territorialen Räume, den – meines Erachtens gelungenen – Versuch nämlich die österreichischen Erblande des Mit- unternommen, „Österreichische Geschichte der telalters und der Frühen Neuzeit, die Habsbur- Neuzeit“ als „multiperspektivische Raumge- germonarchie (1526–1918), das Heilige Römi- schichte“ zu begreifen. Er geht von einer „Plura- sche Reich (962–1806) und der Deutsche Bund lität der Räume“ der österreichischen Geschich- (1815–1866). te aus. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen Das in der österreichischen Geschichte eine liegt „auf politischen Räumen, d. h. auf Räumen, tiefe Zäsur bildende Jahr 1918, die Niederlage die sich durch politische Praxis konstituierten Österreich-Ungarns und die Auflösung dieses und politische Ordnung produzierten“. 39 Um vielsprachigen, multiethnischen und multikon- einen Raum als Gegenstand und Bestandteil der fessionellen Staatsgebildes bedeuten den heutigen österreichischen Geschichte zu verstehen, müs- Österreichern kaum mehr etwas ihre eigene, his- se „nicht unbedingt ein genetischer Bezug auf- torisch fundierte (nationale) Identität Berühren- grund von Staatsbildungsprozessen oder der Ent- des, werden nicht als „unsere“ Niederlage oder wicklung des Nationalbewusstseins bestehen, der Zerfall „unseres“ ehemaligen Staates emp- ausschlaggebend ist vielmehr die geographische funden. Bezeichnenderweise wird sich das neue Überschneidung. Eine so verstandene österrei- Haus der Geschichte Österreich, dessen Eröff- chische Raumgeschichte konstituiert sich somit nung für November 2018 angekündigt ist, zu- aus der Geschichte der Räume, die das Gebiet des mindest bis auf Weiteres praktisch ausschließ- heutigen Österreich oder einzelne seiner Teile be- lich der Zeit seit der Republikgründung widmen (die Eröffnungsausstellung trägt den Arbeitstitel „Österreich 1918–2018“ 42). 37 Vgl. insbesondere Herwig Wolfram/Walter Pohl (Hrsg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien Das Gegenteil gilt – en passant sei es ange- 1991; Martin Scheutz/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Was heißt „ös- merkt – für die Bedeutung der Jahre 1526 (Schlacht terreichische“ Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der bei Mohács) und 1920 (Friedensvertrag von Tria- Neuzeitforschung, Innsbruck 2008; Stourzh (Anm. 34); ders., Er- non) im historischen Gedächtnis der heutigen Un- schütterung und Konsolidierung des Österreichbewußtseins – Vom garn oder der Jahre 1620/21 (Schlacht am Weißen Zusammenbruch der Monarchie zur Zweiten Republik, in: Plaschka/ Stourzh/Niederkorn (Anm. 1), S. 289–311; ders., Vom Reich zur Berg, „Prager Blutgericht“) und 1918 (Gründung Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990; zuletzt in aller Kürze: Thomas Winkelbauer, Vorwort des Herausgebers, in: ders. (Anm. 1), S. 11–13. 40 Ebd., S. 169. 38 Stourzh (Anm. 37), S. 310. Vgl. insb. ders., Der Umfang der 41 Arno Strohmeyer, Die Habsburger Reiche 1555–1740: Herr- österreichischen Geschichte, in: Wolfram/Pohl (Anm. 37), S. 3–27. schaft – Gesellschaft – Politik, Darmstadt 2012, S. 12–14. 39 Arno Strohmeyer, „Österreichische“ Geschichte der Neuzeit 42 Siehe www.hdgoe.at. Vgl. auch Thomas Winkelbauer (Hrsg.), als multiperspektivische Raumgeschichte: ein Versuch, in: Scheutz/ Haus? Geschichte? Österreich? Ergebnisse einer Enquete über das Strohmeyer (Anm. 37), S. 167–197. neue historische Museum in Wien, Wien 2016.

15 APuZ 34–35/2018 der Tschechoslowakei) im nationalen Geschichts- rücksichtigen sind als die böhmischen Länder, bild der heutigen Tschechen. Die moderne öster- Ungarn oder Galizien, aber auch als das „althabs- reichische Nation ist eine sehr junge Nation. Ihre burgische“ Herzogtum Krain (heute Slowenien). wichtigsten historischen „Erinnerungsorte“ sind Die anderen Teile der Monarchie werden vor al- die Jahre 1945 (Kriegsende, Ende der nationalso- lem im Hinblick auf ihre Beziehungen zu diesen zialistischen Herrschaft, Wiederrichtung der Re- und zum Wiener Zentrum berücksichtigt werden publik Österreich) und 1955 (Staatsvertrag, Ende beziehungsweise soweit es zum Verständnis der der Besatzungszeit, Erklärung der Immerwäh- Monarchie als Ganzes notwendig ist. Aber das ist renden Neutralität). im Grunde nur eine Verlegenheitslösung. Eine „Geschichte Österreichs“ kann kei- ne „(deutsch-)österreichische Nationalgeschich- te“ sein. Während die ersten Jahre nach 1918 von einer „Entösterreicherung“ des politischen Be- wusstseins eines großen Teils der Deutsch-Öster- reicher geprägt gewesen sein dürften und die Dik- tatur der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt (von) Schuschnigg („Ständestaat“, „Austro- faschismus“) in den 1930er Jahren die Parole von Österreich als dem „zweiten deutschen Staat“ ausgegeben hatte, kam es erst nach 1945 zu ei- ner „Austrifizierung“ Österreichs in einem enge- ren, „kleinösterreichischen“ Sinn (Ernst Hanisch hat von der „Reaustrifizierung“, der eigentlichen österreichischen Nationsbildung, gesprochen 43), nach dem Bruch mit Deutschland und der deut- schen Geschichte. 44 Was also war „Österreich“ vor 1918? Vom Frühmittelalter bis 1918 kann meines Erachtens unter Österreich „in etwa jener Raum verstanden [werden], der von einem oder mehreren auf dem Boden der heutigen Republik Österreich gelege- nen politischen, sozialen und kulturellen Zentren aus beherrscht oder jedenfalls maßgeblich beein- flusst wurde“. 45 Von 1526 bis 1918 ist die „ge- meinsame österreichische Geschichte“ im Sinne von Gerald Stourzh weitgehend identisch mit der Geschichte der Habsburgermonarchie, wobei – jedenfalls wenn die Autoren Österreicher sind – aus praktischen und pragmatischen Gründen das heutige Staatsgebiet überrepräsentiert sein wird, also beispielsweise Ober- und Niederösterreich, Tirol, Salzburg und die Steiermark stärker zu be-

43 Ernst Hanisch, Reaustrifizierung in der Zweiten Republik und das Problem eines österreichischen Nationalismus, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg/Eva Cescutti (Hrsg.), Gestörte Identi- THOMAS WINKELBAUER täten? Eine Zwischenbilanz der Zweiten Republik. Ein Symposion ist Universitätsprofessor für Österreichische zum 65. Geburtstag von Moritz Csáky, Innsbruck–Wien 2002, Geschichte (Geschichte der Habsburgermonarchie S. 27–34. seit dem 16. Jahrhundert) und Direktor des Instituts 44 Vgl. insb. Stieg (Anm. 31); Peter Thaler, The Ambivalence of Identity. The Austrian Experience of Nation-Building in a Modern für Österreichische Geschichtsforschung der Society, West Lafayette 2001. Universität Wien. 45 Winkelbauer (Anm. 37), S. 12 f. [email protected]

16 Österreich APuZ 300 k m erso n Ch zes Go tha 201 8 Mee r ess a h–Ung arns End e chwa r ie w

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S pe l 1 ns ta nza art og raph ie, Staatsgrenze Österreich-Ungarn 1914 Grenze innerhalb Österreich-Ungarns 1914 sonstige Staatsgrenze 1914 Staatsgrenze im Dezember 1918 Hauptstadt 1914 1918 Hauptstadt 1914, Hauptstadt 1918 neu sonstige wichtige Stadt Königreich Ungarn 1914 Kaiserreich Österreich 1914 Bosnien und Herzegowina 1914 Deutsch-Österreich 1918 Ungarn 1918 Region in Österreich-Ungarn Staat 1914 1918 Staat 1914, Staat 1918 neu Osmanisches Reich Das Ko er reic

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17 APuZ 34–35/2018

HANS KELSEN UND DIE ÖSTERREICHISCHE VERFASSUNG Thomas Olechowski

Im Jahr 1971, als Hans Kelsen 90 Jahre alt wurde, Familie fortsetzen. Mehr aus Pflichtgefühl denn nahm dies die österreichische Bundesregierung aus Neigung inskribierte er 1901 die Rechts- und zum Anlass, eine Bundesstiftung mit dem Namen Staatswissenschaften an der Universität Wien und „Hans Kelsen-Institut“ zu errichten, die das wis- war von den ersten Vorlesungen enttäuscht. Stär- senschaftliche Werk des Jubilars fortführen und ker als die Rechtswissenschaften interessierte ihn bewahren sollte; das Amt des Vorsitzenden dieser die Philosophie, und noch während des Studi- Stiftung sollte stets mit dem des Bundeskanzlers ums reifte bei ihm der Entschluss, sich mit einer der Republik Österreich verbunden sein. Diese rechtsphilosophischen beziehungsweise rechts- außergewöhnliche Ehrung, die noch nie zuvor ei- theoretischen Schrift an der Universität Wien zu nem noch lebenden Juristen zuteil geworden war, habilitieren, das heißt die Lehrbefugnis als Privat- wurde im Stiftsbrief folgendermaßen begründet: dozent zu erhalten. Dem ehrgeizigen Ziel stand „Die Republik verdankt Hans Kelsen ihre Ver- zunächst eine Reihe von Hindernissen, vor al- fassung; was immer am österreichischen Bundes- lem materieller Art, entgegen. 1905 ließ sich Kel- Verfassungsgesetz über die Zeiten hinaus Bestand sen taufen, da Angehörige der jüdischen Religion haben wird, ist mit seinem Namen verbunden.“ 01 deutlich schlechtere Aussichten als Katholiken Wer war dieser Mann, von dem schon 1934 der hatten, beim Staat, dem wichtigsten Arbeitgeber damalige Dean der Harvard Law School, Roscoe für Juristen, eine Anstellung zu finden. Pound, erklärte, dass er „unquestionably the lead- Ab 1909 war Kelsen an der k. k. (kaiserlich- ing jurist of the time“ sei, und der heute von vie- königlichen) Exportakademie (der Vorläuferin len als „Jahrhundertjurist“ bezeichnet wird? der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) tätig, was es ihm erlaubte, zügig an einer umfangrei- EIN JUNGER JURIST chen Monografie zu arbeiten. Diese erschien 1911 IN DEN LETZTEN TAGEN und hatte „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ DER HABSBURGERMONARCHIE zum Gegenstand. Kelsen bemühte sich in diesem Buch, wie er es später selbst ausdrückte, „eine rei- Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag ge- ne, das heißt: von aller politischen Ideologie und boren; er starb am 19. April 1973 in Orinda in Kali- allen naturwissenschaftlichen Elementen gerei- fornien. 02 Er teilt somit das Schicksal vieler berühm- nigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ter Österreicherinnen und Österreicher, wie etwa ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu Kaiserin „Sisi“ oder Billy Wilder, auf dem Gebiet entwickeln“. 03 Die „Hauptprobleme der Staats- der heutigen Republik weder geboren noch gestor- rechtslehre“ sind somit die Geburtsstunde der ben zu sein. Doch verbrachte er mehr als die Hälfte „Reinen Rechtslehre“, an der Kelsen sein Leben seines Lebens in Wien, wohin seine jüdische Fami- lang arbeitete. Zwei Prinzipien dieser Lehre präg- lie schon 1885 zog, und die damals fünftgrößte Stadt ten schon dieses Buch: die Trennung von „Sein“ der Welt mit ihrem bunten Gemisch von Menschen und „Sollen“ als zwei grundverschiedene For- aus allen Teilen des Vielvölkerstaates prägte auch ihn men menschlichen Denkens sowie die Überzeu- und seine Lehre, wie er stets einbekannte. gung, dass oberste, allgemeingültige Werte, wie Der älteste Sohn eines Bronzelusterfabrikan- etwa Gerechtigkeit, mit rationalen Mitteln nicht ten sollte nach dem Wunsch seines Vaters nicht erkannt werden können. Letzteres zeigte schon dessen Geschäft übernehmen, sondern an der die Tatsache, dass noch nie in der Menschheits- Universität studieren und möglichst als Arzt geschichte Einigkeit darüber bestand, was „ge- oder Anwalt den gesellschaftlichen Aufstieg der recht“ sei.

18 Österreich APuZ

Trotz der – aus heutiger Sicht – bahnbrechen- den Bedeutung des Buches war das Echo auf Kel- sens „Hauptprobleme“ anfangs mäßig; Kelsen erhielt am 10. Juli 1911 die Lehrbefugnis als Privat- dozent an der Universität Wien, aber vorerst keine Anstellung, sondern blieb weiter beruflich an der Exportakademie tätig. Die entscheidende Wende in Kelsens Leben war der Erste Weltkrieg, als er, nach verschiedenen Tätigkeiten in Militärjustiz und -verwaltung, im Oktober 1917 zum persönlichen Berater des k. u. k. Kriegsministers Rudolf Stöger- Steiner zu Steinstätten aufstieg und auf diese Wei- se in Kontakt zu allen politischen Größen seiner Zeit kam. Mithilfe dieser Kontakte gelang es Kel- sen auch, gegen alle antisemitischen Widerstände von Seiten der Fakultät, im Juli 1918 eine Professur für Staatsrecht an der Universität Wien zu erhalten. Politisch stand Kelsen wohl schon seit sei- ner Studienzeit den Sozialdemokraten nahe und war auch persönlich mit den drei Vordenkern des „Austromarxismus“, Max Adler (1873–1937), Otto Bauer (1881–1938) und (1870–1950), befreundet. Er trat allerdings niemals der Sozial- demokratischen Arbeiterpartei bei, und auch dem Marxismus selbst stand Kelsen durchaus kritisch gegenüber, was sich später in einer Vielzahl von Hans Kelsen, um 1930 Schriften niederschlug. Vor dem Krieg, zur Zeit © Anne Feder Lee. der Monarchie, äußerten sich Kelsens politische Positionen lediglich in seinem Interesse am Wahl- recht und in seinem Engagement für die Volksbil- verkündete, Österreich (nicht aber Ungarn) nach dung. Denn politische Bildung, wie er sie selbst in Nationalitäten neu gliedern zu wollen und die Ab- einer Reihe von Abendveranstaltungen in Volks- geordneten des österreichischen Reichsrates dazu bildungshäusern betrieb, war seines Erachtens für aufrief, „Nationalräte“ zu bilden. Der Vorstoß war, eine funktionierende Demokratie unerlässlich. 04 zumal er die Integrität des multiethnisch zusam- mengesetzten ungarischen Königreiches nicht an- GRÜNDUNG DER REPUBLIK tasten wollte, ungenügend und kam ohnedies viel zu spät, weil die meisten Völker zu diesem Zeitpunkt Den Zusammenbruch der Monarchie erlebte Kel- schon ihre eigenen Staaten gebildet hatten. Nur die sen aus nächster Nähe mit, und in seiner Auto- deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates biografie beschreibt er ausführlich, wie er als Ver- schienen dem Aufruf des Kaisers zu folgen, indem trauensmann des Kriegsministers den letzten k. k. sie sich wenige Tage später zu einer „Vollversamm- Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch bei des- lung“ trafen, doch auch ihnen ging es nicht (mehr) sen Versuchen, den Vielvölkerstaat zusammen- um eine Umgestaltung der Habsburgermonarchie, zuhalten, unterstützte. Am 16. Oktober 1918 un- sondern um die Bildung eines eigenen Staatswe- terzeichnete Kaiser Karl ein Manifest, in dem er sens. Als am 28. Oktober der „Tschechoslowaki- sche Staat“ und am 29. Oktober der „Staat der Slo- 01 Der Stiftsbrief ist abgedruckt in: Hans Kelsen-Institut (Hrsg.), wenen, Kroaten und Serben“ ausgerufen wurde, Hans zum Gedenken, Wien 1974, S. 77–85. Zur Tätigkeit des folgte die „Provisorische Nationalversammlung für Hans Kelsen-Instituts siehe www.kelseninstitut.at. Deutschösterreich“ am 30. Oktober mit der Grün- 02 Vgl. Rudolf A. Métall, Hans Kelsen, Wien 1969. 03 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig–Wien 1934, S. III. dung des „Staates Deutschösterreich“. 04 Vgl. Tamara Ehs, Hans Kelsen und politische Bildung im Hans Kelsen war ab Anfang November für modernen Staat, Wien 2007. die neue deutschösterreichische Staatsführung,

19 APuZ 34–35/2018 insbesondere für Staatskanzler Karl Renner, be- sche Rolle gespielt hatten, hatten in den Monaten ratend tätig und erstellte zunächst ein Gutachten, des Umbruchs erheblich an Macht gewonnen. Die in dem er erklärte, dass Deutschösterreich ebenso Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat „revolutionär“ wie der tschechoslowakische und war nur die Konsequenz dieser Entwicklung, ja der jugoslawische Staat entstanden sei und ebenso Kelsen war bestrebt, diese Macht durchaus wie- wenig wie diese beiden als Rechtsnachfolger nach der zugunsten der Zentralgewalt zu beschränken. der Monarchie angesehen werden könne. Diese Bund und Länder sollten dem Prinzip der par- bis heute offizielle Staatsdoktrin konnte sich bei lamentarischen Demokratie folgen; im Übrigen den Siegermächten allerdings nicht durchsetzen. sollte alles aus der Verfassung der Monarchie, was Sie sahen „Deutschösterreich“ als einen der bei- sich bewährt hatte und unter den geänderten poli- den Rechtsnachfolger der Österreichisch-Unga- tischen Bedingungen unverändert bleiben konnte, rischen Monarchie und daher, neben Deutsch- auch tatsächlich unverändert bleiben (so etwa die land und Ungarn, als mitschuldig am Ausbruch Justiz). Kelsen fertigte bis Anfang Juli einen ersten des Ersten Weltkrieges. Verfassungsentwurf an und schickte ihn nach St. Deutschösterreich, das unmittelbar nach dem Germain zu Renner. Noch während dessen Ab- Regierungsverzicht Kaiser Karls, am 12. Novem- wesenheit von Österreich aber entwarf Kelsen ber 1918, sich nicht nur zu einer „Republik“, son- auch mehrere Varianten seines Grundentwurfes. dern auch zu einem „Bestandteil der Deutschen Diese Varianten betrafen insbesondere drei Be- Republik“ erklärt hatte, wurde mit dem Frie- reiche: Manche Entwürfe sahen einen Bundesprä- densvertrag von St. Germain vom 10. Septem- sidenten als Staatsoberhaupt vor, andere dagegen ber 1919 gezwungen, sich in „Österreich“ um- verbanden diese Funktion mit der des Parlaments- zubenennen und auf einen Zusammenschluss mit präsidenten. Verschiedene Varianten legte Kelsen Deutschland zu verzichten. So sehr dies von wei- auch zum Bundesrat, der Länderkammer des ös- ten Kreisen der österreichischen Bevölkerung, terreichischen Parlaments, vor. Der dritte und darunter auch Karl Renner und Hans Kelsen, be- schwierigste Bereich betraf die Grund- und Men- dauert wurde, so fiel damit doch das Haupthin- schenrechte. Hier trafen die ideologischen Fron- dernis für die Umgestaltung Österreichs in einen ten von Sozialdemokraten und Christlichsozialen Bundesstaat weg. Denn Anfang 1919 hatte Kel- mit voller Wucht aufeinander; einige von Kelsens sen erklärt, dass es praktisch unmöglich sei, dass Entwürfen folgten dem (eher konservativen) Vor- Österreich ein Bundesstaat sein und selbst ei- bild der österreichischen Verfassung 1867, ande- nem Bundesstaat – dem Deutschen Reich – betre- ren dem (eher progressiven) Vorbild der Weimarer ten könne. Würde Österreich hingegen souverän Reichsverfassung 1919. bleiben, „dann wäre zweifellos die bundesstaatli- Nach seiner Rückkehr aus St. Germain im che Verfassung nach dem Muster der Schweiz der Herbst 1919 wählte Renner einen dieser Kelsen- beste Ausdruck der gegebenen politischen Kon- schen Verfassungsentwürfe aus und machte ihn stellation“, so Kelsen. 05 zur Grundlage der politischen Verhandlungen. Diese wurden sowohl zwischen den Parteien als „ARCHITEKT“ DER auch zwischen der Staatsregierung und den Lan- BUNDESVERFASSUNG desregierungen geführt. Eine Reihe weiterer Ent- würfe wurde vorgelegt; die meisten von ihnen Kurz bevor Staatskanzler Karl Renner zu den waren aber nur Varianten der Kelsen-Entwürfe, Friedensverhandlungen nach St. Germain fuhr, sodass rasch deutlich wurde, wo Konsens erzielt erteilte er Hans Kelsen den Auftrag, den Entwurf werden konnte und wo nicht. Kompromisslö- zu einer Bundesstaatsverfassung auszuarbeiten. 06 sungen wurden etwa in der Frage des Staatsober- Die Länder, die bis 1918 nur eine geringe politi- hauptes sowie der Länderkammer erzielt: Zwar wurde ein eigenes Amt des Bundespräsidenten 05 Hans Kelsen, Die Stellung der Länder in der künftigen geschaffen, dieser aber fast nur mit repräsenta- Verfassung Deutschösterreichs, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht tiven Aufgaben betraut, sodass er kein Gegen- 1/1919, S. 115–146. gewicht zum Parlament bilden konnte. Ähnlich 06 Vgl. Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur öster- reichischen Bundesverfassung, in: Robert Walter/Werner Ogris/ auch die Lösung beim Bundesrat, dem kaum po- ders. (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien litisches Gewicht neben dem – vom Volk direkt 2009, S. 211–230. gewählten – Nationalrat zukam.

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Keine Lösung dagegen war bei der Kompe- heben. 07 Diese Art der Verfassungskontrolle war tenzaufteilung zwischen Bund und Ländern in neuartig, wurde weltweit bestaunt und vielfach Sicht, da es hier um die Verteilung der Macht zum Vorbild genommen, so insbesondere von der schlechthin ging, und unüberbrückbar schie- Bundesrepublik Deutschland bei der Errichtung nen auch die ideologischen Gegensätze bei den des Bundesverfassungsgerichts 1951. Grundrechten. Im Sommer 1920 zerbrach die Auch ist zu konstatieren, dass das Demokra- Große Koalition aus Sozialdemokraten und tiekonzept des österreichischen Bundes-Verfas- Christlichsozialen, Renner trat als Staatskanz- sungsgesetz 1920 weitgehend mit den Demokra- ler zurück, die Fertigstellung der Verfassung tievorstellungen Hans Kelsens übereinstimmte. schien in weiter Ferne. Noch einmal rafften sich Kelsen publizierte im Jahr 1920 gleich drei Bü- die beiden Parteien auf und bildeten – trotz Re- cher: „Das Problem der Souveränität“, „Sozia- gierungskrise – einen parlamentarischen Aus- lismus und Staat“ sowie „Vom Wesen und Wert schuss, dem auch Kelsen als parteiunabhängi- der Demokratie“. Wir dürfen annehmen, dass er ger Verfassungsexperte angehörte, und der bis mit diesen Schriften noch mehr als mit seiner par- zum Herbst die Verfassung fertigstellen sollte. lamentarischen Beratertätigkeit von Einfluss auf Aber auch er wäre gescheitert, hätten nicht die das verfassungsrechtliche und politische Denken beiden Parteien am 18. September 1920 verein- seiner Zeitgenossen war. bart, all jene Materien, über die bislang keine Kelsens Demokratiekonzept kann gewisser- Übereinkunft erzielt hatte werden können, ein- maßen als das Pendant seiner Rechtstheorie be- fach auszuklammern und hier – provisorisch – zeichnet werden. Beide gingen davon aus, dass den Rechtszustand der Monarchie unverändert oberste Werte nicht rational erkennbar seien, beizubehalten. So konnte am 1. Oktober 1920 dass Wertvorstellungen immer nur subjektiver das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) formell Natur seien. Dazu gesellte sich ein Menschen- beschlossen werden, doch war es eine unvoll- bild, das Kelsen mit dem aus der indischen Phi- ständige Verfassung, ein Verfassungstorso. So losophie stammenden „Tat Tvam Asi“ („das bist enthielt es – und enthält bis heute – (fast) keine du“) beschrieb: dem Erlebnis, in dem Anderen Grundrechte; diesbezüglich ist bis heute „pro- sich selbst zu erkennen. 08 Der Mensch, der die visorisch“ das Staatsgrundgesetz über die all- Demokratie wolle, sei jener, der die Gleichartig- gemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 in keit, die Gleichwertigkeit des Anderen mit sich Geltung. selbst erkenne, der die Freiheit nicht nur für sich selbst, sondern für alle wolle. Realisierbar sei dies VOM WESEN UND WERT freilich nur mit Einschränkungen: Denn wenn DER DEMOKRATIE die Mehrheit ein Gesetz beschließe, so seien nur jene frei, die diesen Inhalt auch selbst gewollt ha- Kelsens Rolle bei der Verfassungsgesetzgebung ben, die anderen müssen sich diesem Willen beu- darf also nicht überschätzt werden. Er war an gen. So erklärte Kelsen die Freiheit zum „Ideal“ ihr nicht als Politiker, sondern als Jurist beteiligt, der Demokratie, doch mache diese auf dem Weg und seine Aufgabe war es nicht, eigene politische zur Demokratie eine bedeutsame Metamorphose Überzeugungen kundzutun, sondern den von durch, indem an die Stelle der Freiheit des Einzel- den beiden großen Parteien mühsam errungenen nen die Freiheit eines ganzen Volkes trete. Dazu Kompromiss in einen technisch perfekten Verfas- trete in der Praxis eine zweite Metamorphose: sungstext umzugießen. Diese Aufgabe sollte al- durch die Wandlung von der direkten zur indi- lerdings nicht gering geschätzt werden; gerade bei rekten (repräsentativen) Demokratie. den „technischen Lesungen“, die Ende Septem- Kelsen war ein vehementer Verfechter des – ber 1920 im Parlament geführt wurden, um der gerade in der Zwischenkriegszeit so umstritte- Verfassung den „Feinschliff“ zu geben, gelang es Kelsen, noch eine Reihe bedeutsamer Punkte in 07 Vgl. Ewald Wiederin, Der österreichische Verfassungsge- die Verfassung zu bringen. Dies betraf insbeson- richtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter dere den Verfassungsgerichtshof, der (als einziger als eigenständiges Verfassungsgericht, in: Thomas Simon/Johannes Kalwoda (Hrsg.), Schutz der Verfassung, Berlin 2014, S. 283–306. österreichischer Gerichtshof) das Recht bekam, 08 Vgl. , Menschenbild und Friedenssicherung, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen in: Robert Walter/Clemens Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege und im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit aufzu- sozialphilosophischer Forschung, Wien 1997, S. 57–73.

21 APuZ 34–35/2018 nen – Parlamentarismus. Er hielt ihn schlicht sah, das einen Kollektivwillen entwickeln kön- für „die einzig mögliche reale Form (…), in der ne, vertrat Kelsen die Idee eines pluralistischen die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Volksbegriffes und sah im angeblichen „Volks- Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“. 09 willen“ nur die Resultante der verschiedenen Dabei stand er direktdemokratischen Elementen, Einzelinteressen. wie etwa Volksabstimmungen, nicht ablehnend Aus diesem Grund konnte ein gewählter Prä- gegenüber; aber er erkannte auch deren Grenzen. sident für Kelsen auch kein „Hüter der Verfas- Das Parlament sollte nicht nur Abstimmungsma- sung“ sein, wie dies Schmitt behauptete. Eine sol- schine sein, sondern in erster Linie der gemeinsa- che Aufgabe müsse einem Gericht zukommen, men Diskussion, der Suche nach einem Kompro- das lediglich darüber zu wachen habe, dass alles miss, der alle Seiten befriedige, dienen. staatliche Handeln in jenem Rahmen verbleibe, Dazu schien es nötig, dass das Parlament den die Verfassung vorgebe. Wie dieser Rahmen möglichst alle Strömungen in der Gesellschaft ausgefüllt werde – das sei Sache der Politik und entsprechend ihrem tatsächlichen Kräfteverhält- daher vom Gericht nicht überprüfbar. Nur dort, nis widerspiegle. Kelsen befürwortete daher ein wo der Rahmen überschritten werde, könne ein Verhältniswahlrecht, das den Willen des Volkes Verfassungsgericht eingreifen und verfassungs- möglichst unverfälscht wiedergebe, und lehnte widrige Normen aufheben. Somit kam auch der aus demselben Grund beispielsweise Wahlkreise, Verfassungsgerichtsbarkeit eine wesentliche Rol- die nur die großen Parteien begünstigen, ab. le in Kelsens Demokratietheorie hinzu. Skeptisch stand Kelsen dem Gedanken ge- genüber, dass eine Einzelperson – etwa ein INTERNATIONAL GEFEIERT – Staatspräsident – ein Volk repräsentieren könne. ZU HAUSE UNTER DRUCK Schon bei Parlamentsabgeordneten hielt er den Repräsentationsgedanken für eine „Fiktion“; Als „Vater der Verfassung“ genoss Kelsen hohes der Parlamentarismus war für ihn lediglich „ein Ansehen – sowohl in seiner Heimat Österreich Kompromiß zwischen der demokratischen For- als auch international. Schon vor dem Ersten derung der Freiheit und dem allen sozialtechni- Weltkrieg hatte er damit begonnen, einen Kreis schen Fortschritt bedingenden Grundsatz dife- von Schülern zu bilden, mit denen er sich zu „Pri- renzierender Arbeitsteilung“. 10 Aber immerhin vatseminaren“ traf und von denen er nach 1920 könne – bei entsprechender Ausgestaltung des immerhin sieben zur Habilitation führte; viele Wahlrechtes – jeder Wahlberechtigte sagen, dass von ihnen erhielten später selbst Lehrstühle an er einen Abgeordneten gewählt habe, der auch verschiedenen Universitäten. Aus Deutschland, wirklich im Parlament sitze. Auch wenn in man- Frankreich und aus den Niederlanden, aus Japan, chen Verfassungen (wie etwa in Deutschland in Guatemala und vielen anderen Staaten kamen Artikel 41 der Weimarer Reichsverfassung) ste- Rechtswissenschaftler nach Wien, um hier den he, dass der Präsident „vom ganzen Volk“ ge- österreichischen Verfassungsgerichtshof kennen- wählt werde, so werde er in Wirklichkeit doch zulernen und mit Hans Kelsen über seine „Reine nur von einer Mehrheit gewählt, und höchstens Rechtslehre“ zu diskutieren. 12 diese könne er daher repräsentieren. 11 Er stell- Kelsen war aber nicht nur als Universitätspro- te sich damit in direkten Widerspruch zu zahl- fessor, sondern auch als Richter am österreichi- reichen deutschen Staatsrechtlern, wie etwa Carl schen Verfassungsgerichtshof, an dessen Errich- Schmitt, der den deutschen Reichspräsidenten tung er selbst entscheidenden Anteil gehabt hatte, als Garanten für die Einheit des Volkes und als tätig. Als solcher prägte er die Rechtsprechung „Hüter der Verfassung“ bezeichnete. Während dieses Gerichtshofes entscheidend. Schmitt das Volk als ein einheitliches Ganzes an- Wie in vielen europäischen Ländern, so ge- riet auch in Österreich die parlamentarische De- 09 Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien 1925, mokratie schon nach wenigen Jahren in eine tiefe S. 5. Krise. Vor allem die austrofaschistischen Heim- 10 Ebd., S. 7. wehren drängten auf eine umfassende Verfas- 11 Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6/1931, 576–628, hier: S. 615. Diese Problematik ist nicht zu verwechseln mit der Frage, ob der Präsident sich in seinem Amt 12 Vgl. Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hrsg.), um parteipolitische Neutralität bemühen soll. Der Kreis um Hans Kelsen, Wien 2018.

22 Österreich APuZ sungsreform, die das parlamentarisch-demokra- te recht deutlich ausspielten. 14 All dies veranlass- tische System zugunsten eines „starken Mannes“ te Kelsen, 1930 Wien zu verlassen und einen Ruf beseitigen sollte. Um der drohenden Gefahr eines der Universität Köln anzunehmen, wofür sich Putsches zuvorzukommen, einigten sich Christ- der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenau- lichsoziale und Sozialdemokraten 1929 auf eine er persönlich eingesetzt hatte. größere Verfassungsreform, die das politische Gewicht des Bundespräsidenten im Verhältnis ZEHN JAHRE zum Nationalrat deutlich aufwertete, aber doch ODYSSEE das demokratische Element dieser Verfassung nicht infrage stellte. In Wien hatte Kelsen vor allem Vorlesungen über Kelsen hatte an diesen Verfassungsarbeiten österreichisches Staatsrecht gehalten; an diesem keinen Anteil mehr, sondern konnte nur von au- Fach bestand im preußischen Köln kein Bedarf. ßen Kritik an demokratiefeindlichen Bestrebun- Der mittlerweile 49-jährige Kelsen wechselte nun- gen üben. Er war allerdings auch persönlich von mehr ins Völkerrecht, in das er sich in den folgen- dieser Reform betroffen, da mit ihr sämtliche den Jahren fast ebenso gut einarbeitete wie seiner- Richter des Verfassungsgerichtshofes abgesetzt zeit in das Verfassungsrecht. Und natürlich waren wurden und der Verfassungsgerichtshof nach ei- seine rechtstheoretischen und rechtsphilosophi- nem völlig neuen Bestellmodus zusammengesetzt schen Arbeiten von übernationaler Bedeutung. Ins- wurde. 13 Diese Neuerung war vor allem deshalb gesamt behielt Kelsen die drei Jahre, die er in Köln zustande gekommen, weil die Christlichsozia- verbrachte, „in sehr angenehmer Erinnerung“. 15 len Kritik an einigen Entscheidungen des Verfas- Fast unmittelbar nach Hitlers „Machtergrei- sungsgerichtshofes geübt und ihm zu große Nähe fung“, am 13. April 1933, wurde Kelsen als Pro- zu den Sozialdemokraten vorgeworfen hatten. fessor „beurlaubt“ und einige Monate später Tatsächlich „verfügten“ die Sozialdemokraten – in den Ruhestand versetzt. Nur mit viel Glück nach einer informellen Absprache mit den ande- konnte Kelsen mit seiner Frau und seinen beiden ren Parteien – fortan nur mehr über zwei Rich- fast erwachsenen Töchtern nach Österreich flie- terstellen, während die Nominierung der übrigen hen; den größten Teil seiner Ersparnisse musste zwölf Stellen in der Hand der bürgerlichen Par- er zurücklassen, und der Staat Preußen weigerte teien war. Der Vorsitzende der Sozialdemokrati- sich auch, ihm eine Pension auszubezahlen (sei- schen Arbeiterpartei, , bot denn auch ne Ansprüche gegen die Republik Österreich wa- Kelsen an, auf einem „roten Ticket“ erneut in den ren seinerzeit an Preußen abgetreten worden), so- Verfassungsgerichtshof einzuziehen. Kelsen aber dass sich Kelsen auch materiell in einer äußerst lehnte ab: Er war seinerzeit von allen Parteien schwierigen Position befand. Weder eine österrei- einvernehmlich nominiert worden; Kelsen, der, chische noch eine deutschschweizerische Univer- wie bereits betont, niemals einer politischen Par- sität bot ihm eine Professur an. Lediglich an der tei angehört hatte, wollte nun nicht aufgrund des Deutschen Universität Prag bemühten sich seine Votums einer einzigen Partei in diesen Gerichts- Freunde um eine Berufung, zumal dort der Lehr- hof geschickt werden. stuhl für Völkerrecht schon seit einiger Zeit un- Auch an der Universität Wien waren die Zu- besetzt war. Sie stießen dort aber auf hinhalten- stände für Kelsen zunehmend unerfreulich: Der den Widerstand der mit den Nationalsozialisten Antisemitismus unter Professoren und Studie- sympathisierenden Professoren. renden wurde immer stärker; eine „Gelbe Liste“ So nahm Kelsen einstweilen eine Lehrtätig- warnte vor dem Besuch von Vorlesungen jüdi- keit beim Genfer Institut universitaire de hautes scher Professoren, darunter auch des „Marxis- études internationales an. 16 Er fand hier eine sehr ten“ Kelsen. Mehrere Professoren seiner Fakul- tät verfassten umfangreiche Streitschriften gegen 14 Vgl. Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Staudigl- Kelsen, die scheinbar sachlich gehalten waren, in Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Wahrheit aber doch auch die antisemitische Kar- Fakultät 1918–1938, Wien 2014. 15 Hans Kelsen, Autobiographie, in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen Werke 1, Tübingen 2007, S. 29–91, hier S. 77. 13 Vgl. Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter, in: 16 Vgl. Jürgen Busch/Nicoletta Bersier Ladavac, Zwischen zwei Stanley L. Paulson/Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen, Tübingen Welten. Hans Kelsens Genfer Jahre, in: Beiträge zur Rechtsge- 2005, S. 353–384. schichte Österreichs 5/2015, 7–31.

23 APuZ 34–35/2018 angenehme, internationale Atmosphäre vor und unterrichten, nicht jedoch eine dauernde Anstel- konnte forschen, unter anderem erschien in je- lung zu erhalten, weshalb er 1942 als Gastprofes- ner Zeit sein wohl berühmtestes Buch, die „Reine sor an die University of California ging. Rechtslehre“, in dem er seine gleichnamige The- Wie schon im Ersten Weltkrieg, so war es orie zusammenfasste. Doch war die Lehrtätigkeit auch nun wieder das Militär, das die Leistungen nur befristet und mit keinen Pensionsansprüchen Kelsens als erstes würdigte und so auch seiner verbunden. Als daher die Deutsche Universität akademischen Laufbahn neuen Antrieb gab. In zu Prag doch noch Kelsen berief, nahm dieser den den Jahren 1944 und 1945 reiste er mehrfach zu Ruf an und reiste im Herbst 1936 in die Haupt- Beratertätigkeiten nach Washington. 17 Dort war stadt der Tschechoslowakei. er unter anderem mit der Neugestaltung Öster- Dort begegnete ihm ein feindseliges, gewalt- reichs nach dem Krieg sowie auch mit der Vorbe- bereites Klima. Nationalsozialistische Studie- reitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozes- rende störten seine Vorlesung, und es kam zu se befasst. Kelsens Beratertätigkeit für die Army Krawallen, sodass die Fakultät für mehrere Mo- und das State Department wurde auch in Berke- nate geschlossen werden musste. In einem ano- ley positiv registriert, und im Juni 1945 wurde nymen Brief wurde seine Ermordung angedroht, Hans Kelsen full professor der University of Ca- und Kelsen erhielt Polizeischutz. Das Münche- lifornia, wo er bis 1952 lehrte. Der wissenschaft- ner Abkommen 1938 und die Zerschlagung der liche Durchbruch in den USA blieb ihm zwar Tschechoslowakei 1939 beendeten Kelsens kur- versagt, doch konnte er auf zahlreichen Vortrags- zes „Prager Gastspiel“, wie er es selbst genannt reisen nach Lateinamerika und Europa große Er- hatte, und er kehrte nach Genf zurück. Über- folge feiern. 18 Im Zuge dieser Reisen kam er auch flüssig zu betonen, dass die neuen, nationalsozi- mehrmals nach Deutschland und Österreich; eine alistischen Machthaber in Prag Kelsen auch nun echte Rückkehr jedoch erfolgte nicht. Seine eins- wieder Gehalts- oder Pensionszahlungen ver- tige Heimat war ihm fremd geworden. weigerten. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrie- ges war Kelsens Entschluss gefasst, Europa zu verlassen, und im Mai 1940 verließ er mit sei- ner Frau Genf und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Die jüngere Tochter war schon zuvor in die USA gegangen, die ältere nach Palästina ausgewandert.

IN AMERIKA

Kelsen war zum Zeitpunkt seiner Emigration in die Vereinigten Staaten schon fast 60 Jahre alt und sprach kaum Englisch. Nur mit großer Mühe konnte er sich in der neuen Umgebung zurecht- finden; er erlernte zwar die neue Sprache, be- herrschte sie aber stets nur unvollkommen, was mit ein Grund für den mangelnden Erfolg seiner „Reinen Rechtslehre“ in den USA gewesen sein dürfte. 1936 hatte ihm die Harvard University ein THOMAS OLECHOWSKI Ehrendoktorat verliehen, doch nach seiner Emi- ist Außerordentlicher Universitätsprofessor, gration gelang es ihm dort nur, zwei Jahre lang zu Leiter der Forschungsstelle für Rechtsquellen­ erschließung am Institut für Rechts- und Verfas- sungsgeschichte der Universität Wien, Obmann der 17 Vgl. Thomas Olechowski, Hans Kelsen, The Second World Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der War and the U. S. Government, in: D. A. Jeremy Telman (Hrsg.), Österreichischen Akademie der Wissenschaften Hans Kelsen in America, Cham 2016, S. 101–112. 18 Vgl. Miriam Gassner, Der Kreis um Hans Kelsen in Latein- sowie Geschäftsführer der Bundesstiftung „Hans amerika, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 4/2014, Kelsen-Institut“. S. 64–83. [email protected]

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FÖDERALISMUS UND REGIONALISMUS IN ÖSTERREICH Peter Bußjäger

Das Gedenkjahr 2018 hat auch für den österrei- Der österreichische Bundesstaat weist alle chischen Föderalismus Relevanz. Zwar erfolgte Merkmale auf, die in der Staatstheorie mit einem die Konstituierung Österreichs als Bundesstaat solchen Gebilde verbunden sind: Dazu gehört erst mit dem Inkrafttreten der Bundesverfas- erstens, dass die Gesetzgebung und die Vollzie- sung am 1. Oktober 1920, die Weichen wurden hung auf zwei Ebenen, Bund und Länder, auf- jedoch bereits in den ersten Novembertagen des geteilt sind. 05 Das zweite Kriterium eines Bun- Jahres 1918 gestellt. Nach dem Zusammenbruch desstaates ist die Mitwirkung der Länder an der der Monarchie im Oktober/November 1918 er- Bundesgesetzgebung: In Österreich erfolgt diese klärten die meisten deutschsprachigen Kronlän- – wie in Deutschland – im Wege des Bundesrates der Cisleithaniens, also des österreichischen Teils als der zweiten Kammer des Parlaments, das so- der Habsburgermonarchie, ihren Beitritt zum mit aus Nationalrat und Bundesrat besteht. 06 Deutsch-Österreichischen Staat, wie es in den Die Rechtsstellung des österreichischen Bun- Erklärungen jeweils gleich lautete. 01 Daraus re- desrates ist im Vergleich mit seinem deutschen sultiert der Gründungsmythos der Republik, der Pendant schwach: Er hat im Wesentlichen le- von föderalistischer Seite gerne vertreten wird: diglich Zustimmungsrechte zu Verfassungsän- Die Länder hätten den Bundesstaat begründet derungen zulasten der Länder (Art. 44 Abs. 2 (und nebenbei gesagt, dies 1945 gleich ein zweites B-VG) und zu Staatsverträgen (Art. 50 Abs. 1 Mal). 02 Freilich deutet schon der Gleichklang der Z. 2 B-VG), die den Zuständigkeitsbereich der Beitrittserklärungen darauf hin, dass sie koordi- Länder regeln. Im Übrigen verfügt der Bundes- niert waren. Tatsächlich muss die Gründung der rat nur über ein suspensives Veto, über das sich Republik, die am 12. November 1918 ausgerufen der Nationalrat mit Beharrungsbeschluss hin- worden war, als ein paralleler Vorgang zwischen wegsetzen kann (Art. 42 B-VG). Zur rechtlichen Bund und Ländern verstanden werden. Die Fra- Schwäche kommt die politische hinzu: Die Mit- ge, wer zuerst da war, ist müßig, es hätte den ös- glieder des Bundesrates orientieren ihr Abstim- terreichischen Bundesstaat nicht ohne die gleich- mungsverhalten nicht an artikulierten Länderin- zeitige Existenz der Zentralregierung und der teressen, sondern an dem Abstimmungsverhalten Landesebene gegeben. ihrer jeweiligen Parteikolleginnen und -kollegen im Nationalrat. 07 STAATSRECHTLICHE GRUNDLAGEN Zum Wesen eines Bundesstaates zählt außer- DES FÖDERALISMUS dem die sogenannte Verfassungsautonomie der IN ÖSTERREICH Länder, also ihre Befugnis, ihre innere Organisa- tion und Struktur im Rahmen der gesamtstaatli- Die Bundesverfassung (B-VG) 03 erklärt Öster- chen Verfassung selbst zu regeln. Eine solche Ver- reich in Art. 2 B-VG als Bundesstaat. Damit ist fassungsautonomie der österreichischen Länder noch nichts über die institutionelle Ausgestal- existiert. Schließlich ist die eigenständige Finanz- tung ausgesagt. „Die Beantwortung der Frage, hoheit der Länder ein Kriterium des Bundesstaa- ob es dieser Verfassung gelungen ist, aus Öster- tes. Die österreichischen Länder verfügen zwar reich einen Bundesstaat zu machen, wird von über eine Budgethoheit, beziehen ihre Einnahmen der jeweiligen Bestimmung des Bundesstaats- aber weitgehend aus dem Finanzausgleich und er- begriffs abhängen“, schrieben die Verfassungs- heben insbesondere keine eigenen Steuern. rechtler Hans Kelsen, Georg Fröhlich und Adolf Der damalige Vorarlberger Landeshaupt- Merkl 1922. 04 mann Otto Ender (1875–1960) sprach in einer

25 APuZ 34–35/2018 der letzten Diskussionsrunden zwischen Ver- geschränkte Gestaltungsmacht zu kompensieren tretern der Zentralregierung und den Ländern und auch an der Europäisierung teilzuhaben, sind im Jahre 1920 von einem dreifach getöteten, er- die Landtage marginalisiert. 09 schlagenen Föderalismus. Er meinte damit die geringe Kompetenzausstattung der Länder, die REALIEN DES FÖDERALISMUS fehlende Steuerautonomie und den hohen Zen- IN ÖSTERREICH tralisierungsgrad der Vollziehung durch eigene Bundesbehörden. 08 Daran hat sich in den ver- Neun selbstständige Länder gangenen nahezu hundert Jahren kaum etwas Art. 2 Abs. 2 B-VG bestimmt, dass der Bundes- geändert. staat aus den neun selbstständigen Ländern Bur- Im internationalen Vergleich ist der österrei- genland, Kärnten, Niederösterreich, Oberös- chische Föderalismus ein sogenannter Verbund- terreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg föderalismus, auch kooperativer Föderalismus und Wien gebildet wird. Die Unterschiede zwi- genannt: Bundes- und Landesebene sind im Wege schen den Ländern in territorialer und bevölke- der Kompetenzverteilung, vor allem aber auch in rungsmäßiger Hinsicht sind beträchtlich, wenn- der Vollziehung von Gesetzen eng miteinander gleich die Disparitäten insgesamt nicht so stark verflochten. Insoweit ähnelt der österreichische wie in anderen Bundesstaaten sind: Wien, das Föderalismus durchaus dem deutschen Modell. gleichzeitig Stadt und Gemeinde ist, ist das be- Im Gegensatz dazu steht ein dualer Föderalis- völkerungsreichste (1,86 Millionen Einwohner, mus, in dem die Funktionen der Bundes- und der 415 km²) und gleichzeitig flächenmäßig kleins- Landesebene streng getrennt sind, wie dies etwa te Bundesland, das bevölkerungsmäßig kleinste in den USA der Fall ist. Bundesland ist das Burgenland mit etwa 292 000 Mit der schwachen legislativen Kompetenz- Einwohnern, das in territorialer Hinsicht größte ausstattung Hand in Hand geht die Schwäche der Bundesland ist Niederösterreich mit 19 186 km², Landtage. Während es den Landesexekutiven ge- das mit 1,65 Millionen Einwohnern nur knapp lingt, im Rahmen des kooperativen Föderalismus hinter Wien liegt. die verfassungsrechtlich und unionsrechtlich ein- Auch Österreich ist derzeit stark von Ur- banisierung geprägt, was zu einer wachsenden Bedeutung Wiens und seines niederösterreichi- 01 Vgl. Peter Bußjäger, Landesverfassung und Landespolitik in Vorarlberg. Die Verfassungsgeschichte Vorarlbergs und ihre Aus- schen Umlandes führt. Dies verstärkt die schon wirkungen auf die Landespolitik 1848–2002, Graz 2004, S. 39. aus historischen Gründen (Wien war die Haupt- Der Autor bedankt sich bei Mag. Julia Oberdanner, Institut für stadt des Habsburgerreiches) bestehende Do- Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck, für die Unterstützung. 02 Dazu ders., Stunde Null: Die staatsrechtlichen Perspektiven 07 Vgl. Heinz Schäffer, Alternative Modelle zur Wahrnehmung 1945 aus der Sicht der Länder, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Länder- der Länderinteressen an der Bundesgesetzgebung, in: Peter konferenzen 1945 – Die Länder und die Wiederbegründung der Bußjäger/Jürgen Weiss (Hrsg.), Die Zukunft der Mitwirkung der Republik, Wien 2006, S. 1–15. Länder an der Bundesgesetzgebung, Wien 2004, S. 43–82, hier 03 Das B-VG ist die Stammurkunde der Bundesverfassung in der S. 49; Günther Hummer, Der Bundesrat und die Gesetzgebung, Fassung der seither erfolgten (zahlreichen) Novellierungen. Da in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Bundesstaat und Bundesrat, Wien das B-VG anders als das Grundgesetz kein Inkorporationsgebot 1997, S. 367–398, hier S. 374 f.; Jürgen Weiss, Der Bundesrat und kennt, gibt es zahlreiche weitere Bundesverfassungsgesetze (BVG) die Bundesstaatsreform, in: ebd., S. 497–525, hier S. 522 f.; Ger- sowie Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen, hart Holzinger, Der österreichische Bundesstaat und seine Reform, Staatsverträge in Verfassungsrang und einzelne Bestimmungen in in: Metin Akyürek et al. (Hrsg.), Staat und Recht in europäischer Staatsverträgen in Verfassungsrang. Perspektive. Festschrift Heinz Schäffer, Wien 2006, S. 277–294, 04 Hans Kelsen/Georg Fröhlich/Adolf Merkl (Hrsg.), Die Bundes- hier S. 279. verfassung vom 1. Oktober 1920, Wien 1922, S. 66. Siehe zu 08 Vgl. Bußjäger (Anm. 1), S. 44. Hans Kelsen auch den Beitrag von Thomas Olechowski in dieser 09 Vgl. Peter Bußjäger, Die Beteiligung nationaler und Ausgabe (Anm. d. Red.). regionaler Parlamente an der EU-Rechtsetzung – Chance oder 05 Es gibt eine Generalklausel zugunsten der Länder (Art. 15 Vortäuschung von Partizipation?, in: Anna Gamper/ders. (Hrsg.), Abs. 1 B-VG), die jedoch durch zahlreiche explizit genannte Bun- Subsidiarität anwenden: Regionen, Staaten, Europäische Union – deskompetenzen, insbesondere Art. 10 bis 14b B-VG, aber auch La Sussidiarieta Applicata: Regioni, Stati, Unione Europea, Wien zahlreiche weitere Bestimmungen im B-VG und außerhalb des 2006, S. 33–60, hier S. 33; ders., Mitwirkung der Länder an der B-VG, stark ausgehöhlt ist. Rechtsetzung in der Europäischen Union, in: Stefan Griller et al. 06 Die Mitglieder werden von den Landtagen, also den Landes- (Hrsg.), 20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, Wien 2016, parlamenten gewählt. S. 359–381, hier S. 377 f.

26 Österreich APuZ minanz der Hauptstadt in vielerlei Hinsicht. So Föderalistisches Bewusstsein sind im Gegensatz etwa zu Deutschland prak- in Österreich tisch alle Institutionen von gesamtstaatlicher Föderalismus ist in Österreich, dem Staatsrecht- Bedeutung wie der Verfassungsgerichtshof, der ler Ewald Wiederin zufolge, „eine Sache für das Verwaltungsgerichtshof oder der Rechnungs- Gemüt“. 12 Föderalismus ist zwar im Bewusstsein hof, von den Ministerien ganz abgesehen, in der Bürgerinnen und Bürger weitgehend positiv Wien angesiedelt. verortet, aber die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und regionale Rechtsdifferenzie- Bedeutung des kooperativen rung zu akzeptieren, vergleichsweise wenig stark Föderalismus ausgeprägt. 13 Dieses auch in Deutschland zu be- Die Bedeutung des kooperativen Föderalis- obachtende Phänomen hat der deutsche Polito- mus im österreichischen Bundesstaat ist un- loge Roland Sturm als „Föderalismus-Paradox“ bestritten. 10 Wichtig ist insbesondere die Lan- bezeichnet. 14 Die empirischen Befunde bestätigen deshauptleutekonferenz, wo Länderpositionen diese These: In Umfragen wird der Landesebene sowohl auf nationaler wie auf europäischer von den Bürgerinnen und Bürgern ein deutlich Ebene koordiniert werden. 11 Das Gremium höheres Vertrauen entgegengebracht als der Bun- wird in der Bundesverfassung selbst nicht er- desebene oder gar der europäischen Ebene. Ge- wähnt und arbeitet informal. Diese Informali- schlagen werden die Länder im Vertrauensbonus tät ist einerseits Stärke, weil es Flexibilität in allerdings von den Gemeinden, was durch deren der Formulierung der Positionen ermöglicht, Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern zu erklä- andererseits aber ebenso Schwäche, weil nur ren ist. dann, wenn die Landeshauptleute in der Lage Detailreichere Befunde liegen aus verschiede- sind, die jeweiligen Positionen ihrer Partei- nen Studien für die Jahre 2009 15 und 2010 16 vor. en auch auf Bundesebene zu beeinflussen, ihre Die Aussage „Wir brauchen die Länder nicht Standpunkte Gewicht haben. Die Entwicklung mehr“ wurde österreichweit von 79,3 Prozent der vergangenen Jahrzehnte war insgesamt von der Befragten abgelehnt. 17 Die Arbeit der Länder einer zunehmend mächtigeren Position der (und Gemeinden) wird deutlich besser bewertet Landeshauptleutekonferenz geprägt. Inwieweit als jene des Bundes und der EU. 18 Die Bandbreite die gegenwärtige ÖVP/FPÖ-Koalition den der Unterstützung schwankt unter den Ländern Einfluss der Landeshauptleutekonferenz redu- nur wenig. Dem steht gegenüber, dass sich die zieren wird, ist noch ungewiss.

12 Vgl. Ewald Wiederin, Bundesstaat neu, in: Österreichische 10 Vgl. Ferdinand Karlhofer, A Federation without Federalism? Juristenkommission (Hrsg.), Der Österreich-Konvent. Zwischenbilanz Zur Realverfassung der Bund–Länder–Beziehungen, in: Peter Buß- und Perspektiven. Festgabe für Herbert Schambeck, Wien 2004, jäger (Hrsg.), Kooperativer Föderalismus in Österreich. Beiträge S. 49–77, hier S. 58. zur Verflechtung von Bund und Ländern, Wien 2010, S. 131–146; 13 Vgl. ebd., S. 57 f. Theo Öhlinger, Die Bedeutung von Koordination und Koopera- 14 Roland Sturm et al., Landesbewusstsein und Einheitlich- tion im Systems des österreichischen Föderalismus – Allgemeine keit der Lebensverhältnisse: Das Föderalismus-Paradox, in: Einschätzung und Ausblick in die Zukunft, in: ebd., S. 19–28, hier Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen S. 19; Georg Lienbacher/Erich Pürgy, Kooperativer Bundesstaat, (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2010, Baden-Baden 2010, in: Erich Pürgy (Hrsg.), Das Recht der Länder I, Wien 2012, S. 29–40. S. 561–592. 15 Vgl. Peter Bußjäger/Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver 11 Vgl. Peter Bußjäger, Föderalismus durch Macht im (Hrsg.), Föderalistisches Bewusstsein in Österreich. Regionale Iden- Schatten? Österreich und die Landeshauptleutekonferenz, in: titätsbildung und Einstellung der Bevölkerung zum Föderalismus, Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen Wien 2010. (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2003, Baden-Baden 2003, 16 Vgl. Franz Fallend, Regionale Identität, Partizipation und S. 79–99; Ferdinand Karlhofer, Gestaltungskraft und Veto- Solidarität: Ausgewählte österreichische Regionen im internatio- macht. Funktion und Praxis der Landeshauptleutekonferenz, nalen Vergleich, Vortrag, 18. 1. 2011, Innsbruck, foederalismus.at/ in: Andreas Rosner/Peter Bußjäger (Hrsg.), Im Dienste der contentit4/uploads/Praesentation.pdf. Länder – im Interesse des Gesamtstaates. Festschrift 60 Jahre 17 Vgl. Peter Bußjäger/Gilg Seeber, Zwischen Föderalismus Verbindungsstelle der Bundesländer, Wien 2011, S. 311–326; und Unitarismus – das föderalistische Bewusstsein der Öster- Karl Weber, Macht im Schatten? (Landeshauptmänner-, Lan- reicherinnen und Österreicher nach der Föderalismusumfrage desamtsdirektoren- und andere Landesreferentenkonferenzen), 2009, in: Bußjäger/Karlhofer/Pallaver (Anm. 15), S. 27–49, hier in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1992, S. 32. S. 405–418, hier S. 414. 18 Vgl. ebd., S. 37.

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Menschen mehr Einheitlichkeit in den Lebensbe- Bundesrat sehr engagiert, auch im Vergleich mit dingungen wünschen 19 und bezüglich eines Wett- anderen nationalen Parlamentskammern. 24 bewerbs unter den Ländern kritisch eingestellt sind. 20 Dessen ungeachtet möchten die Bürgerin- Die Länder als Akteure nen und Bürger „mehr Macht“ für die Länder ge- der grenzüberschreitenden genüber der Bundesebene. 21 Zusammenarbeit Die österreichischen Länder verfügen gemäß FÖDERALISMUS UND Art. 16 B-VG über die Kompetenz, mit anderen GRENZÜBERSCHREITUNG Staaten oder deren Teilstaaten sogenannte Län- derstaatsverträge abzuschließen. Diese 1988 den Die Länder im europäischen Ländern übertragene Zuständigkeit beruhte auf Mehrebenensystem einer langjährigen Forderung derselben, von der Die Europäische Union hat auch auf den österrei- sie allerdings bis heute keinen Gebrauch machten. chischen Föderalismus beträchtliche Auswirkun- Grund dafür ist nicht nur das umständliche Ver- gen. Die Beteiligungsrechte der Länder am Wil- fahren, das den Landeshauptmann als Vertreter lensbildungsprozess in der Europäischen Union des Landes gegenüber dem Bundespräsidenten zu sind mit jenen der deutschen Länder durchaus einem untergeordneten Organ macht, 25 sondern vergleichbar. Ganz dem Geist des kooperativen auch der Umstand, dass die Länder in der Pra- Föderalismus österreichischer Prägung entspre- xis lieber informellere Wege gehen. Die Länder chend erfolgt jedoch Ländermitwirkung nicht unterhalten eine Vielzahl grenzüberschreitender über den Bundesrat, sondern faktisch im Wege Kontakte, mit einer besonderen Verdichtung in von innerhalb der Länderexekutiven abgestimm- Tirol mit dem EVTZ (Europäischer Verbund ter- ten Beschlüssen. 22 ritorialer Zusammenarbeit) Europaregion Tirol – Die Länder sind befugt, durch sogenannte Südtirol – Trentino, in Vorarlberg mit der Inter- einheitliche Länderstellungnahmen den Bund in nationalen Bodenseekonferenz (IBK), in Kärnten Beratungen und Abstimmungen auf der europä- mit dem EVTZ Euregio „Senza Confini“ Kärn- ischen Ebene zu binden, wenn es sich um An- ten, Friaul Julisch Venetien und Veneto. Daneben gelegenheiten handelt, die in den selbstständigen gibt es zwischen den Ländern und ihren Nach- Wirkungsbereich der Länder fallen. Der Bund ist barregionen noch zahlreiche weitere Gesprächs- allerdings gemäß Art. 23d B-VG ermächtigt, aus runden und Kooperationsplattformen. Im Rah- zwingenden außen- und integrationspolitischen men dieser Kooperationen können bestimmte Gründen von einer solchen Stellungnahme ab- Politikbereiche sowie gemeinsame Maßnahmen zuweichen. Die Länder haben bisher insgesamt im Rahmen der Zuständigkeiten der Partner ab- 122 einheitliche Länderstellungnahmen auf der gestimmt werden. Warum also sollten sie einen Grundlage von Art. 23d B-VG erstattet. 23 Der Staatsvertrag abschließen müssen, der letzten En- Bund hat sich in den meisten Fällen daran gehal- des nach den Bestimmungen des Art. 16 B-VG ten, offene Konflikte zwischen Bund und Län- nicht vom Landeshauptmann, sondern vom Bun- dern in europäischen Angelegenheiten gab es despräsidenten unterzeichnet würde? praktisch keine. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit Der Nationalrat verfügt gemäß Art. 23e der Länder stellt sich vielfältig dar, auch wenn sie Abs. 3 B-VG ebenfalls über das Recht, binden- aufgrund ihrer beschränkten Zuständigkeiten be- de Stellungnahmen gegenüber der Bundesregie- ziehungsweise der noch geringeren Schnittmenge rung zu formulieren, übt dieses aber nur selten der gemeinsamen Zuständigkeiten der jeweiligen aus. Im Verfahren der Subsidiaritätskontrolle auf Partner der Kooperation mitunter rasch an ihre der Grundlage des Vertrags von Lissabon ist der 24 Vgl. Europäische Kommission, Jahresberichte über die Anwen- 19 Vgl. ebd., S. 44 f. dung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässig- 20 Vgl. ebd., S. 42 ff. keit, 2010–2016. 21 Fallend (Anm. 16), Folien 9 und 11. 25 Vgl. Stefan Hammer, Länderstaatsverträge: Zugleich ein Bei- 22 Vgl. Bußjäger (Anm. 9), S. 377 f. trag zur Selbständigkeit der Länder im Bundesstaat, Wien 1992, 23 Siehe Föderalismusdatenbank des Instituts für Föderalismus, insb. S. 40 ff., S. 121 ff.; Teresa eber,W Art 16 B-VG, in: Benjamin November 2017, http://foederalismus.at/contentit4/uploads/ Kneihs/Georg Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundes- foederalismus_datenbank.pdf. verfassungsrecht, 19. Lieferung, Wien 2017, Randzeichen 24 ff.

28 Österreich APuZ

Grenzen stößt. Dies gilt auch für die beiden be- Zu verschiedenen Themenbereichen des Regie- reits erwähnten EVTZ. Die Möglichkeit der Part- rungsprogramms liegen bereits Positionierungen ner eines solchen EVTZ, grenzüberschreitend zu- der Regierung vor. sammenzuarbeiten, ist eine beachtliche Leistung Im Zusammenhang mit einer angepeilten des EU-Rechts, weil damit für subnationale En- Entflechtung der Kompetenzverteilung ist un- titäten die Möglichkeit geschaffen wurde, über ter dem Titel „Moderner Bundesstaat“ die Ab- die Staatsgrenzen hinweg institutionalisiert zu schaffung des Kompetenztypus der Grundsatz- kooperieren, ohne dazu einer verfassungsrechtli- und Ausführungsgesetzgebung in Art. 12 B-VG chen Grundlage zu bedürfen. 26 vorgesehen. 32 Hier verfügt der Bund über die Zu- ständigkeit, allgemeine Grundsätze aufzustellen, FÖDERALISMUS die von den Ländern in Form von Ausführungs- IM REGIERUNGSPROGRAMM gesetzen näher konkretisiert werden müssen. DER ÖVP/FPÖ-KOALITION In der Theorie könnte eine derartige Form der Gesetzgebung ein durchaus wirkungsvolles In dem am 16. Dezember 2017 vorgestellten bundesstaatliches Instrument sein. 33 Die Konse- Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ 27 ist quenz einer funktionierenden Grundsatz- und insbesondere das erste Großkapitel „Staat und Ausführungsgesetzgebung, die darin liegt, regi- Europa“ mit den Unterkategorien „Verwal- onale Differenzierungen bei gleichzeitiger Wah- tungsreform und Verfassung“ 28 beziehungswei- rung gewisser von zentraler Stelle festgelegter se in weiterer Folge „Moderner Bundesstaat“ 29 „Mindeststandards“ zuzulassen, würde letztend- von föderalistischer Bedeutung. In Summe lich der bundesstaatlichen Idee, Vielfalt mit Ein- überwiegen die zentralistischen Tendenzen heit zu verbinden, am besten entsprechen. 34 Die trotz vereinzelter Bekenntnisse zu Subsidia- österreichische Praxis konnte diese Ansprüche rität deutlich. Letztere werden in erster Linie nicht einlösen. Die Grundsatzgesetze des Bundes im Kontext der Europäischen Union geäußert. sind viel zu detailliert. Hinzu kommt noch, dass Die Wortwahl des Programms lässt eine Wert- die Länder sich ihnen eröffnende Spielräume mit- schätzung föderaler Strukturen und ihrer Vor- unter nicht ausnützen. 35 züge eher vermissen. Mitunter wird darauf hin- Dieser Befund deckt sich zudem mit inter- gewiesen, veraltete Strukturen überwinden zu nationalen Entwicklungen: Zwar finden sich müssen, 30 und damit auch angedeutet, wohin vergleichbare Kompetenztypen auch in ande- die Reise gehen soll. ren europäischen Staaten, diese sind allerdings Wie in früheren Regierungsprogrammen 31 entweder mit ähnlichen Problemen behaftet wird hingegen das angestrebte Einvernehmen (Grundlagengesetzgebung in Spanien), 36 wur- zwischen Bund und Ländern betont. Dies ist alles den bereits beseitigt (Rahmengesetzgebung ge- nichts Neues und geradezu typisch für koopera- tiven Föderalismus im unitarischen Bundesstaat. 32 Vgl. Regierungsprogramm (Anm. 27), S. 17. 33 Vgl. Peter Bußjäger/Christoph Schramek, Catch22: Das föderalistische Paradoxon in Österreich, in: Europäisches Zentrum 26 Vgl. Peter Bußjäger, EVTZ: Placebo oder doch tragfähige für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Födera- Grundlage zur Bewältigung neuer Herausforderungen?, in: lismus 2017, Baden-Baden 2017, S. 336–346, hier S. 339. Walter Obwexer et al. (Hrsg.), Integration oder Desintegration? 34 Vgl. Peter Pernthaler/Fried Esterbauer, Der Föderalismus, in: Herausforderungen für die Regionen in Europa, Baden-Baden Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfas- 2018, S. 153–170; Peter Bußjäger et al. (Hrsg.), Der Europäische sungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 325–345, hier Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für S. 342; zu einer derartigen „vermittelnden Funktion“ von Art. 12 die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, Wien 2011. B-VG auch Klaus Wallnöfer, Bundesstaatlicher Wert und Unwert 27 Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017 von Art 12 B-VG am Beispiel des Elektrizitätsrechts, in: Michael bis 2022, www.bundeskanzleramt.gv.at/regierungsdokumente. Holoubek/Andrea Martin/Stephan Schwarzer (Hrsg.), Die Zukunft 28 Ebd., S. 3 ff. der Verfassung – Die Verfassung der Zukunft? Festschrift für Karl 29 Ebd., S. 17. Korinek, Wien–New York 2010, S. 287–309, hier: S. 292 f. 30 Vgl. ebd., S. 13, S. 17. 35 Vgl. Erich Pürgy, Bundesverfassungsrecht und Landesrecht, in: 31 Vgl. Peter Bußjäger, „Change“ auf Österreichisch: Födera- ders. (Anm. 10), S. 1–60, hier S. 23; Wallnöfer (Anm. 34), S. 293 f. listische Bemerkungen zum Regierungsprogramm der SPÖ-ÖVP- 36 Vgl. César Colino/Angustias Hombrado, Machtteilung in Spa- Koalition vom November 2008, in: Kärntner Verwaltungsakademie nien – Formelle und informelle Prozesse, gegenwirkende Kräfte und (Hrsg.), Bildungsprotokolle Bd. 7. 6. Klagenfurter Legistik Gesprä- impliziter Wandel, in: Anna Gamper et al. (Hrsg.), Föderale Kompetenz- che 2008, Klagenfurt 2009, S. 135–146, hier S. 144 f. verteilung in Europa, Baden-Baden 2016, S. 349–376, hier S. 359.

29 APuZ 34–35/2018 mäß Art. 75 GG alt in Deutschland) oder hätten weigern. Aus diesem Grund hat die Beseitigung beseitigt werden sollen, wie in Italien (konkur- der Norm für den Bund besondere Relevanz. rierende Gesetzgebung gemäß Art. 117 Abs. 3 Im Gegenzug sieht der Entwurf den Entfall von italienische Verfassung), was allerdings am nega- mehreren Zustimmungsrechten des Bundes in tiven Ausgang der Volksabstimmung vom 4. De- Landesangelegenheiten vor (so beispielswei- zember 2016 zur Verfassungsreform gescheitert se bei Änderungen in den Sprengeln der poli- ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen tischen Bezirke durch Verordnung der Landes- wurde die Grundsatz-/Rahmengesetzgebung in regierung 41). Aus föderalistischer Sicht wäre die der Literatur als wenig zukunftsträchtiges Kon- Reform begrüßenswert, da eine sinnvolle Ent- zept betrachtet. 37 flechtung wechselseitiger Einflussnahmen -er In einem vorgelegten Entwurf einer Verfas- reicht werden könnte. sungsänderung 38 ist eine weitgehende Abschaf- Ein Reformprojekt, das für den Föderalismus fung des Art. 12 B-VG vorgesehen. Die meisten in Österreich von großer Bedeutung ist, auch der darin angesiedelten Kompetenzen würden wenn es sich ironischerweise ausschließlich im nunmehr in die Allgemeinzuständigkeit der Län- Bereich der Bundesgesetzgebung abspielt, ist die der übertragen, auch so wichtige Materien wie Reform der Sozialversicherungen. 42 Österreich etwa die Kinder- und Jugendhilfe. Allerdings verfügt über 21 Sozialversicherungsträger, die die wurde die Abklärung der umstrittenen Kompe- Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung der tenzen für Spitäler, die Sozialhilfe (Mindestsiche- verschiedenen Gruppen von Versicherten regeln. rung) 39 sowie Elektrizitätswesen in eine Arbeits- Von besonderer Bedeutung sind dabei die neun gruppe vertagt, die im Verlauf dieses Jahres ihre Gebietskrankenkassen in den Ländern, die zwar Vorschläge erstatten soll. keine Landeseinrichtungen darstellen, weil der Unter dem Titel „Moderner Bundesstaat“ Bund die Regelungs- und Vollziehungskompe- wird auf S. 17 des Regierungsprogramms ein tenz für die Sozialversicherung (Art. 10 Abs. 1 „Abschaffen gegenseitiger Blockademöglich- Z. 11 B-VG) besitzt, aber, da es sich um Selbst- keiten“ angekündigt. Der schon erwähnte Ent- verwaltungskörper handelt, von starker regiona- wurf einer Verfassungsänderung sieht unter an- ler Bedeutung sind. derem den Entfall des Zustimmungsrechts der Die Bundesregierung plant, diese neun Ge- Landesregierung zu Verordnungen der Bundes- bietskrankenkassen zu einer einzigen österrei- regierung über die Änderungen von Bezirksge- chischen Gesundheitskasse zu verschmelzen. Die richtssprengeln vor. 40 Dieses unspektakulär an- Länder werden nach derzeitigem Stand aus ih- mutende Recht hat sich in der Vergangenheit rer Sicht nur Schadensbegrenzung leisten kön- aus Sicht des Bundes als wesentliches Hindernis nen und darauf dringen müssen, dass die von der bei einer Reform der Gerichtsorganisation auf Bundesregierung als Kompensation vorgesehe- Bezirksebene dargestellt. Österreich weist im nen Landesstellen dieser Gesundheitskasse mög- internationalen Vergleich eine besonders hohe lichst weitreichende Kompetenzen im Bereich Zahl von Bezirksgerichten auf. Die Landesre- der regionalen Gesundheitsversorgung erhalten. gierungen sahen sich häufig unter dem Druck Wichtig sind in diesem Zusammenhang insbeson- lokaler Interessen genötigt, die Zustimmungen dere eine gewisse Budgetautonomie und die Zu- zur Fusionierung von Bezirksgerichten zu ver- ständigkeit zum Abschluss von Gesamtverträgen mit der regionalen Ärztekammer über die ärztli- 37 Vgl. Peter Bußjäger, Schlussfolgerungen und Handlungsemp- che Versorgung in den Regionen. fehlungen für die Diskussion über die Reform der bundesstaatli- Wie schon erwähnt, leidet der österreichi- chen Kompetenzordnung in Österreich, in: ebd., S. 807–820, hier sche Föderalismus unter einer verwaltungswis- S. 813. f 38 Siehe ME B-VG, Übergangsgesetz vom 1. Oktober 1920 u. a., senschaftlich unvorteilhaften Ausdifferenzie- 57/ME 26 GP; 57/ME 26. GP Erläut 1 f. rung von Verwaltungsbehörden des Bundes in 39 In der Terminologie des B-VG: „Armenwesen“ (Art. 12 Abs. 1 den Ländern. Eine Zusammenführung mit den Z. 1 B-VG). 40 Vgl. Entfall des § 8 Abs. 5 lit. d Übergangsgesetz vom 1. Ok- tober 1920 in der Fassung des BGBl Nr. 368 des Jahres 1925 41 Vgl. ebd. (ÜG 1920, BGBl 369/1925 idF BGBl I 77/2014). Vgl. Institut für 42 Vgl. Peter Bußjäger, Unterlage zum Positionspapier über die Föderalismus, 41. Bericht über den Föderalismus in Österreich, Reform der Sozialversicherungen, 2017, www.foederalismus.at/ Wien 2017, S. 16. contentit4/uploads/Reform%20der%20Sozialversicherungen.pdf.

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Behörden der allgemeinen staatlichen Verwal- rung durchaus zu kompensieren und im Wege tung in den Ländern, die organisatorisch Lan- der Landeshauptleutekonferenz Einfluss auf die desbehörden sind, aber sowohl Aufgaben der Bundespolitik zu nehmen. Das Regierungspro- Landes- als auch Bundesverwaltung erfüllen, gramm der gegenwärtigen ÖVP/FPÖ-Koalition wäre sinnvoll. 43 sieht verschiedene Reformen im österreichischen Im Punkt „Effizienzgewinnung bei der mit- Föderalismus vor. Es wäre schon viel erreicht, telbaren Bundesverwaltung“ auf S. 17 des Pro- wenn sie ihr Vorhaben, den Bundesstaat im Be- gramms wird dieses Thema angesprochen. Dem- reich der Grundsatzgesetzgebung zu entflechten, nach sollen Aufgaben einzelner Bundesbehörden umsetzen könnte. Ob und inwieweit die Länder organisatorisch in die allgemeine staatliche Ver- von einer solchen Änderung profitieren werden, waltung der Länder eingegliedert, jedoch weiter- bleibt dahingestellt. hin unter Verantwortung und Leitung des Bundes geführt werden (sogenannte mittelbare Bundes- verwaltung). Beispielhaft werden das Bundes- denkmalamt, das Sozialministeriumservice sowie die Wildbach- und Lawinenverbauung angeführt. Ob die Ankündigung allerdings tatsächlich ernst gemeint ist, ist offen. Bisher hat die Regierung jedenfalls keine Schritte zur Umsetzung dieses Punktes unternommen. Ebenfalls erwähnt wird im Regierungspro- gramm eine Ansiedelung von nachgelagerten Dienststellen des Bundes in strukturschwachen Regionen in Abstimmung mit Ländern und Ge- meinden (S. 163). Dabei handelt es sich um die einzige Erwähnung einer Dezentralisierung von Bundesdienststellen im Sinne einer territori- alen Verlagerung. 44 Ob die Bundesregierung eine besondere Energie entfaltet, dieses Pro- jekt auch nachhaltig weiter zu verfolgen, bleibt abzuwarten.

ZUSAMMENFASSUNG

Der österreichische Föderalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfassungsrecht- lich trotz und gerade wegen einiger inkremen- talen Anpassungen wenig verändert. Ihn kenn- zeichnet ein hohes Maß an Verflechtung, das in der Vergangenheit zunehmend intensiviert wur- de. Politologisch ist diese Verflechtung zum ko- operativen Föderalismus geradezu das prägende Merkmal des österreichischen Föderalismus. Im Rahmen dieses Prozesses ist es den Ländern ge- lungen, ihre verfassungsrechtliche Marginalisie-

43 Ders./Georg Keuschnigg/Marija Radosavljevic, Der Bund PETER BUẞJÄGER und seine Dienststellen. Die Standorte der Bundesvollziehung als ist Universitätsprofessor am Institut für Öffent- Wirtschaftsfaktor und Potenzial der Verwaltungsreform, Innsbruck liches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der 2015, S. 1 f. 44 Vgl. Peter Bußjäger/Christoph Schramek, Föderalismus Universität Innsbruck und Direktor des Instituts für durch Behördendezentralisierung?, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus. Föderalismus-Forschung Tübingen (Anm. 33), S. 172–183. [email protected]

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32 Österreich APuZ

RECHTSPOPULISMUS IN ÖSTERREICH Zur Entwicklung der Freiheitlichen Partei Österreichs Franz Fallend · Fabian Habersack · Reinhard Heinisch

Als die rechtspopulistische, system-, immigrations- stehen dabei folgende Aspekte: Welche Merkmale und EU-kritische Freiheitliche Partei Österreichs trägt der Rechtspopulismus der FPÖ? Was sind (FPÖ) im Jahr 2000 in eine Regierung mit der kon- die Gründe für deren Wahlerfolg? Wer sind ihre servativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Wählerinnen und Wähler? Welche Erfolge kann eintrat, führte dies zu heftiger Kritik der Opposi- die FPÖ als Regierungspartei vorweisen? Die aus tion, bilateralen diplomatischen „Sanktionen“ der der Betrachtung der FPÖ gewonnenen Erkennt- übrigen 14 EU-Mitgliedsstaaten und negativen nisse sollen abschließend für einen Vergleich mit Schlagzeilen in zahlreichen Medien. Im Kontrast der ebenso als rechtspopulistisch geltenden Alter- dazu hielt sich die Aufregung, als Bundespräsident native für Deutschland (AfD) genutzt werden. Alexander van der Bellen am 18. Dezember 2017 die neue Regierung aus ÖVP und FPÖ angelob- VON DEUTSCHNATIONAL ÜBER te, in Grenzen. Die Regierungsbildung wurde ge- LIBERAL ZU RECHTSPOPULISTISCH nerell als demokratisch legitimiert erachtet, wenn- gleich die FPÖ-Beteiligung nicht kritiklos blieb. Die 1956 gegründete FPÖ bildete ursprünglich ein So hielt man es im linksliberalen „Standard“ Sammelbecken für ehemalige Nazis 05 – und führte für „unheimlich und beängstigend“, dass die FPÖ daher lange ein Dasein als Paria. Ende der 1960er mehrere Schlüsselressorts, unter anderem das In- Jahre versuchte der Parteiobmann Friedrich Peter nen- und das Verteidigungsministerium mitsamt die Partei in die Mitte zu rücken; 1970/71 stützte der ihnen untergeordneten Nachrichtendienste, sie die Minderheitsregierung von Kanzler Bruno übernehmen sollte. Auch dass der künftige Innen- Kreisky (Sozialdemokratische Partei Österreichs, minister als Wahlkampfmanager der Partei „mit SPÖ). 1983, unter ihrem liberal eingestellten Ob- rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemi- mann , zog sie erstmals in eine Regie- tischen Sprüchen für Aufregung gesorgt“ 01 hat- rung ein. In der Koalition mit der SPÖ (1983–1987) te, wurde bemerkt. Für die christlich-liberalen konnte die FPÖ jedoch kaum Akzente setzen, was „Salzburger Nachrichten“ war die Regierungsbil- den innerparteilichen Unmut befeuerte. Der Kärnt- dung 2017 dagegen ein „ganz normaler demokra- ner FPÖ-Vorsitzende Jörg Haider nutzte die Ge- tischer Vorgang“; der Bundespräsident „vollzog legenheit, um sich 1986 mit Unterstützung des den Wählerwillen“, betonte man. 02 Ähnlich hiel- deutschnationalen Flügels zum neuen Bundesvor- ten es die internationalen Medien: Während die li- sitzenden wählen zu lassen. Bundeskanzler Franz berale „New York Times“ daran erinnerte, dass die Vranitzky interpretierte dies als Richtungswechsel FPÖ von Ex-Nazis gegründet worden war, 03 er- und kündigte die Koalition mit der FPÖ auf. 06 kannte die konservative „Frankfurter Allgemeine In den Folgejahren drängte Haider den Zeitung“ in der Regierungsbildung „ein Stück de- Deutschnationalismus allmählich in den Hin- mokratische Normalität“ und meinte: „Die Regie- tergrund und positionierte die FPÖ neu: als rung aus ÖVP und FPÖ ist nicht so radikal, wie rechtspopulistische Partei, die auf Stimmenmaxi- manche Medien sie machen.“ 04 mierung aus war, indem sie in der Bevölkerung Angesichts derart divergierender Bewertungen verbreitete Unsicherheitsgefühle und Ärgernisse stellt sich die Frage, welchen Charakter der inzwi- ansprach und das „reine, anständige Volk“ gegen schen in vielen europäischen Ländern zur „Nor- die „abgehobene, korrupte Elite“ zu mobilisieren malität“ gehörende Rechtspopulismus hat. Dieser suchte. 07 Zunächst nahm die FPÖ vor allem die Frage soll am Beispiel Österreichs beziehungswei- als versteinerte Machtapparate dargestellten Par- se der FPÖ nachgegangen werden. Im Mittelpunkt teien SPÖ und ÖVP ins Visier, die zwischen 1987

33 APuZ 34–35/2018 und 2000 wieder als Große Koalition regierten Kompetenz zu. 09 Während der 1990er Jahre war (wie schon 1947–1966). Zu Beginn der 1990er Jah- sie stets mit zumindest einem, 1993 sogar mit drei re trat an die Stelle der Forderung nach Reformen Themen in den Top 5 der für die Bevölkerung des Systems dessen Infragestellung, und es wurde wichtigsten Themen vertreten. 10 Die Wirksam- eine permanent aggressive Wahlkampfstimmung keit ihres Themenmanagements wurde noch da- erzeugt. Wahlkämpfe kreisten um die „Ausländer- durch gefördert, dass ihr Spitzenkandidat Haider frage“, verknüpft mit Kriminalitätsbekämpfung es glänzend verstand, mit kalkulierten Tabubrü- und Anti-EU-Haltung. Mitte der 1990er Jah- chen und Skandalisierungen am laufenden Band re wurde schließlich der Österreich-Patriotismus emotionalisierende, mediale Aufmerksamkeit er- verstärkt: Sozialleistungen sollten zuerst den Ein- regende Nachrichten zu produzieren. 11 heimischen zugutekommen, österreichische Wer- Der Aufstieg der FPÖ war von Umwälzungen te aufrechterhalten werden. Zur „Bewahrung der des Parteiensystems begleitet, die die Partei einer- geistigen Grundlagen des Abendlandes“ forderte seits ausnutzte, andererseits verstärkte: Mit dem man im Parteiprogramm 1997 „ein Christentum, Einzug der Grünen in den Nationalrat (1986) und das seine Werte verteidigt“ – gegen „radikalen Is- der Abspaltung des Liberalen Forums von der FPÖ lamismus“ und „aggressiven Kapitalismus“. 08 (1993) sahen sich SPÖ und ÖVP nunmehr drei Op- positionsparteien gegenüber, die den auf der politi- URSACHEN DER schen Steuerung durch Große Koalitionen und So- WAHLERFOLGE zialpartnerschaft beruhenden Grundkonsens der Zweiten Republik (seit 1945) infrage stellten. Die Die rechtspopulistische Neupositionierung war Parteiidentifikation, die subjektive Bindung der von Erfolg gekrönt: Von 1983 bis 1999 verfünf- Bürgerinnen und Bürger an „ihre“ Parteien ging fachte sich der Stimmenanteil der FPÖ bei Nati- zurück, während der Anteil der Wechselwählerin- onalratswahlen von 5,3 auf 26,9 %. Die oben be- nen und -wähler bei Nationalratswahlen von 16 schriebene Programmatik der Partei fand in den (1979) auf 46 % (1999) anschwoll. Als Folge davon Motiven ihrer Wählerinnen und Wähler Wider- fiel der gemeinsame Stimmenanteil von SPÖ und hall, wie Abbildung 1 zeigt. ÖVP von 90,8 (1983) auf 60,1 % (1999). 12 Für die Beim Kampf gegen Skandale und Privilegien SPÖ war es ein Schock, als 1999 47 % der Arbei- und bei der „Ausländerfrage“ sprachen die Be- terinnen und Arbeiter die FPÖ wählten, nur mehr fragten der FPÖ von allen Parteien die größte 35 % hingegen sie selbst. 13 Auch Jüngere wandten sich immer mehr den Kleinparteien zu, sodass bei 01 Michael Völker, Ein Erfolg für die Freiheitlichen, 15. 12. 2017, den 18- bis 29-Jährigen 1999 10 % weniger SPÖ https://derstandard.at/2000070453247. und ÖVP als FPÖ, Grüne und Liberale wählten. 14 02 Andreas Koller, Ein ganz normaler demokratischer Vorgang, Dass vor allem die FPÖ das früher als hyper- 19. 12. 2017, www.sn.at/21888982. 03 The Editorial Board, Austria’s Welcome to a Party With a stabil eingeschätzte österreichische Parteiensystem Nazi Past, 20. 12. 2017, www.nytimes.com/2017/12/20/opinion/ derart ins Wanken bringen konnte, hat auch mit tie- austria-nazi-past-kurz.html. feren sozioökonomischen Veränderungen zu tun: 04 Stephan Löwenstein, Reform, nicht Revolution, 17. 12. 2017, Galt Österreich in den 1970er Jahren noch als „Insel www.faz.net/-15346844.html. der Seligen“, gekennzeichnet durch Wohlstand und 05 Ihre ersten beiden Vorsitzenden (Anton Reinthaller, 1956–58; Friedrich Peter, 1958–78) waren SS-Offiziere. sozialen Frieden, so erzeugten der Fall des Eiser- 06 Kompakte Darstellungen über Geschichte, Organisati- on, Ideologie, Ursachen und Wirkungen der Wahlerfolge der 09 Vgl. Wolfgang C. Müller, Wahlen und Dynamik des österrei- FPÖ finden sich bei Kurt Richard Luther, Die Freiheitliche Partei chischen Parteiensystems seit 1986, in: ebd., S. 13–54, hier S. 37 Österreichs (FPÖ) und das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), in: (Tab. 8). Herbert Dachs et al. (Hrsg.), Politik in Österreich. Das Handbuch, 10 Vgl. ebd., S. 42 (Tab. 11). Wien 2006, S. 364–388; Reinhard Heinisch, Demokratiekritik 11 Vgl. Reinhard Heinisch, Austria. The Structure and Agency und (Rechts-)Populismus. Modellfall Österreich?, in: Ludger Helms/ of Austrian Populism, in: Daniele Albertazzi/Duncan McDonnell David M. Wineroither (Hrsg.), Die österreichische Demokratie im (Hrsg.), Twenty-First Century Populism. The Spectre of Western Vergleich, Baden-Baden 2012, S. 361–382. European Democracy, Houndmills 2008, S. 67–83, hier S. 76 f. 07 Vgl. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and 12 Vgl. Müller (Anm. 9), S. 14–23. Opposition 4/2004, S. 541–563, hier S. 543. 13 Vgl. Fritz Plasser/Gilg Seeber/Peter A. Ulram, Breaking the Mold. 08 Vgl. Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Rechtspopulistische Resonan- Politische Wettbewerbsräume und Wahlverhalten Ende der neunziger zen. Die Wählerschaft der FPÖ, in: dies./Franz Sommer (Hrsg.), Das Jahre, in: Plasser/Ulram/Sommer (Anm. 8), S. 55–115, hier S. 81. österreichische Wahlverhalten, Wien 2000, S. 225–241, hier S. 226 f. 14 Vgl. Müller (Anm. 9), S. 28 (Tab. 7).

34 Österreich APuZ

Abbildung 1: Motive der FPÖ-Wählerinnen und -Wähler bei der Nationalratswahl 1999 in Prozent

Kampf gegen Skandale und Privilegien 65

Frischer Wind und Veränderung 63

Beste Vertretung meiner Interessen/Aus Tradition 48

Richtiger Standpunkt in der Ausländerfrage 47

Persönlichkeit Jörg Haiders 40

Denkzettel für die Koalitionsparteien 36

0 20 40 60 80 Quelle: Umfrage zur Nationalratswahl 1999, durchgeführt von Fessel-GfK. Zit. nach: Wolfgang C. Müller, Wahlen und Dynamik des österreichischen Parteiensystems seit 1986, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hrsg.), Das österreichische Wahlverhalten, Wien 2000, S. 13–54, hier S. 44. nen Vorhangs 1989/90 und der Beitritt Österreichs als die FPÖ mit 26,9 % der Stimmen noch, wenn zur EU 1995 einen starken Wettbewerbsdruck für auch sehr knapp, vor der ÖVP erstmals zweit- bisher geschützte Wirtschaftsbereiche, was die Zahl stärkste Partei wurde. Die ÖVP sah eine Chan- der Arbeitslosen und „Modernisierungsverlierer“ ce, aus der Rolle des Juniorpartners in der Großen ansteigen ließ. Die zunehmende Immigration ver- Koalition auszubrechen, und ging eine Koalition stärkte die Existenzängste vieler Menschen – eine mit der FPÖ ein, in der ÖVP-Vorsitzender Wolf- Entwicklung, die die FPÖ geschickt aufgriff. 15 gang Schüssel den Bundeskanzler stellte. Jörg Haider trat im Februar 2000 als Parteivor- VON POPULISTISCHER sitzender der FPÖ zurück, als die neue Koalition OPPOSITION ZUR knapp vier Wochen im Amt war. Diese sah sich REGIERUNGSBETEILIGUNG anfangs starken Protesten ausgesetzt, die in der UND ZURÜCK Verhängung von „Sanktionen“ durch die übrigen 14 EU-Staaten gipfelten. Die „Sanktionen“ erwie- In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre stellte die sen sich jedoch als kontraproduktiv, da sie zu ei- FPÖ, um ihre Regierungsambitionen hervorzu- nem Solidarisierungseffekt in der Bevölkerung ge- kehren, „weiche“ Themen in den Vordergrund gen die rechtlich ungedeckte, demokratiepolitisch (wie den Kinderbetreuungscheck) und legte de- bedenkliche Einmischung von außen führten. Sie taillierte Reformkonzepte vor (etwa für Wirt- wurden daher nach einem kritischen, aber insge- schaft, Pensionen und Familien). Dennoch wurde samt positiven „Weisenbericht“ über die Einhal- sie von den übrigen Parteien wegen ihrer radikalen tung der „europäischen Werte“ in Österreich noch System- und EU-Kritik und ihres ambivalenten im selben Jahr wieder aufgehoben. 17 Verhältnisses zur NS-Zeit weiterhin als Koaliti- Unter dem Motto „Speed Wins“ initiierte die Re- onspartner ausgeschlossen. 16 Diese Ausgrenzung gierung größere Reformen. In der Einwanderungs- wurde nach der Nationalratswahl 1999 beendet, politik schwenkte die ÖVP auf die restriktivere Linie der FPÖ um. Alles in allem wurde die Regierungs-

15 Vgl. ebd., S. 29 f. 16 Vgl. Franz Fallend, Populism in Government. The Case of 17 Siehe dazu Michael Merlingen/Cas Mudde/Ulrich Sedelmeier, Austria (2000–2007), in: Cas Mudde/Cristóbal Rovira Kaltwasser The Right and the Righteous? European Norms, Domestic Politics (Hrsg.), Populism in Europe and the Americas. Threat or Corrective and the Sanctions Against Austria, in: Journal of Common Market for Democracy?, Cambridge 2012, S. 113–135, hier S. 120. Studies 1/2001, S. 59–77.

35 APuZ 34–35/2018 politik jedoch nicht als exzessiv rechtspopulistisch Das Sozialprofil ihrer Wählerinnen und Wäh- oder gar rechtsextrem eingeschätzt. 18 Dazu mangelte ler änderte sich über die Jahre kaum: Die FPÖ es der FPÖ auch an qualifiziertem Personal; mehrere schneidet überdurchschnittlich ab bei Männern, Regierungsmitglieder mussten ihre Posten vorzeitig jüngeren Personen, Arbeiterinnen und Arbeitern räumen. Insgesamt war die Wirtschafts-, Sozial- und sowie Personen mit niedrigerem Bildungsgrad Bildungspolitik der Regierung neoliberal geprägt, (Abbildung 2). was die FPÖ-Parteispitze, die immer behauptet Auch hinsichtlich ihrer Einstellungen unter- hatte, die „kleinen Leute“ zu vertreten, zusehends scheiden sich die FPÖ-Wählerinnen und -Wäh- in Schwierigkeiten brachte. In der „Rebellion von ler von jenen der anderen Parteien: Sie beurtei- Knittelfeld“ (benannt nach dem Austragungsort ei- len die Arbeit der (früheren) Bundesregierung nes Sonderparteitags) begehrte die Parteibasis, an- und Parteien generell negativer, sie schätzen das gestachelt von Haider, gegen ihre Führung auf, die Ausmaß der Gerechtigkeit in Österreich geringer daraufhin zurücktrat. 19 In den vorgezogenen Natio- und die Zukunft pessimistischer ein, und sie se- nalratswahlen vom November 2002 wurde die FPÖ hen mehr Nach- als Vorteile in der EU-Mitglied- auf 10 % der Stimmen dezimiert. schaft (Abbildung 3). Nichtsdestotrotz erneuerte die ÖVP, die über Trotz ihrer Wahlerfolge nahm sich die FPÖ 15 % an Stimmen dazugewonnen hatte (nun- aufgrund der Radikalität ihrer Forderungen und mehr 42 %), die Koalition. Das Regierungsab- ihres Auftretens – ähnlich wie in der ersten Phase kommen, das die FPÖ als deutlich geschwächter ihres Aufstiegs (1986–1999) – auch in der zweiten Juniorpartner abschloss, kam einer Kapitulation Phase (2005–2017) lange Zeit als seriöser Koaliti- der FPÖ gleich, und sie galt fortan als „Steigbü- onspartner selbst aus dem Spiel. gelhalter“ der ÖVP. Sie verlor bei allen folgenden Landtagswahlen (außer in Kärnten), sodass die „TÜRKIS-BLAUE“ KOALITION innerparteiliche Kritik wuchs. 2005 zog der prag- SEIT 2017 matisch orientierte Flügel die Konsequenzen und spaltete sich (ironischerweise unter der Führung 2017 erhielt die FPÖ eine neue Chance, ihre Re- Haiders) als Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) gierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die von der FPÖ ab, um an deren Stelle die Koalition amtierende SPÖ/ÖVP-Koalition unter Bundes- mit der ÖVP fortzusetzen. 20 Die Nationalrats- kanzler Christian Kern (SPÖ) brach auseinander. wahl 2006 endete mit herben Niederlagen für bei- Die ÖVP wählte ihren populären, knapp 31 Jahre de Parteien, sodass wieder eine SPÖ/ÖVP-Koa- alten Außenminister Sebastian Kurz zum neuen lition gebildet wurde, die bis 2017 regieren sollte. Vorsitzenden, der sich weitreichende Machtbe- Die FPÖ ihrerseits wählte 2005 den Wiener fugnisse geben ließ. Um sich als „neu“ zu präsen- Parteivorsitzenden Heinz-Christian Strache zu ih- tieren, kandidierte die ÖVP bei der vorgezogenen rem neuen Bundesparteiobmann und ging in Op- Nationalratswahl am 15. Oktober 2017 als „Liste position. Befreit von Koalitionszwängen belebte sie Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“; und er- ihren rechtspopulistischen Oppositionskurs wieder setzte auch ihre Parteifarbe Schwarz durch Tür- und konnte ihren Stimmenanteil bei Nationalrats- kis. Der Erfolg der symbolischen und inhaltli- wahlen von 11 (2006) auf 26 % (2017) steigern. 21 chen (nationalistischen) Wandlung spiegelte sich im Wahlsieg wider (ÖVP: 31,5 %, SPÖ: 26,9 %, 18 Vgl. Reinhard Heinisch, Success in Opposition – Failure in FPÖ: 26 %). Das daraus folgende Mitterechts- Government. Explaining the Performance of Right-Wing Populist Bündnis wurde ob des zerrütteten Verhältnisses Parties in Public Office, in: West European Politics 3/2003, von ÖVP und SPÖ sowie der starken Ablehnung S. 91–130, hier S. 106. einer Kooperation mit der FPÖ innerhalb der 19 Vgl. Kurt Richard Luther, Wahlstrategien und Wahlergebnis- se des österreichischen Rechtspopulismus, 1986–2006, in: Fritz SPÖ vielfach als alternativlos betrachtet. Plasser/Peter A. Ulram (Hrsg.), Wechselwahlen. Analysen zur Nach einem dreiviertel Jahr im Amt soll eine Nationalratswahl 2006, Wien 2007, S. 231–254, hier S. 236 f. vorsichtige Bilanz der Regierungsarbeit gezogen 20 Vgl. ebd., S. 237 ff. werden. Der Fokus liegt hierbei auf der FPÖ. Nach 21 Vgl. Franz Fallend/Reinhard Heinisch, The Impact of the ihrer ersten Beteiligung erlebte sie 2002 ein Wahlde- Populist Radical Right on the Austrian Party System, in: Steven B. Wolinetz/Andrej Zaslove (Hrsg.), Absorbing the Blow. Populist bakel, das den Anschein vermittelte, rechtspopulisti- Parties and Their Impact on Parties and Party Systems, London– sche Parteien mit ihrer „Anti-Eliten-Politik“ könn- New York 2018, S. 27–54, hier S. 38. ten nur in der Opposition gewinnen, nicht aber,

36 Österreich APuZ

Abbildung 2: Sozialprofile der ÖVP-, SPÖ- und FPÖ-Wählerinnen und -Wähler bei der Nationalratswahl 2017 in Prozent 0 20 40 60 80 100

Gesamtstimmen 32 27 26 Männer 33 25 29 Frauen 30 29 22 16–29 Jahre 28 17 30 30–59 Jahre 31 27 28 Ab 60 Jahre 36 34 19 ÖVP Arbeiterinnen und Arbeiter 15 19 59 SPÖ

Angestellte 31 26 26 FPÖ Selbstständige 41 14 23 Pflichtschule 25 33 33 Lehre 28 25 37 Berufsbildende Mittlere Schule 41 21 21 Matura 42 25 10 Universität 32 31 7

Quelle: Martina Zandonella/Flooh Perlot (SORA), Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse. Nationalratswahl 2017, 15. Oktober 2017, Wien, www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2017_NRW_Grafiken-Wahltagsbefragung.pdf. wenn sie als Regierende selbst zur „Elite“ werden. 22 ÖVP/FPÖ-Bündnisses blieben zwar aus, den- Dass es sich dabei aber um keinen Automatismus noch protestierten auch 2017 mehrere Tausend handelt, zeigen Beispiele in ganz Europa. 23 Denn so gegen die Angelobung. 26 Und auch Affären wie können etablierte Parteien ihren „Gegner“, der nun die Verbindung des FPÖ-Spitzenkandidaten bei Koalitionspartner ist, schwerer isolieren, um des- der niederösterreichischen Landtagswahl, Udo sen Chancen zu mindern, 24 hingegen Populisten ihr Landbauer, zur Burschenschaft Germania, de- Profil in Regierungsphasen schärfen. 25 ren antisemitische Liederbücher im Januar publik Erstmals untersteht der FPÖ unter ande- wurden und seinen Rücktritt zur Folge hatten, 27 rem das Innen- und das Verteidigungsministeri- belasteten die Regierungsarbeit. Die FPÖ-Bun- um, wodurch sich der Sicherheitsapparat in ih- despolitik bewegte sich so stets zwischen dem rer Hand konzentriert. Konnte die FPÖ bereits Ziel, erfolgreichere Regierungsarbeit zu leisten davon profitieren? Anfangs schien das kaum der als zwischen 2000 und 2005, und dem Umgang Fall. Analog zu den 2000er Jahren dominierten mit ihrem rechtsnationalen Flügel. 28 Personalia rund um FPÖ-Mitglieder nahe der Dazu traten neue Probleme wie etwa die rechtsextremen Szene die Berichterstattung. In- „BVT-Affäre“, die aktuell einen Untersuchungs- ternationale Reaktionen wie im Zuge des ersten ausschuss beschäftigt. Dabei geht es um Vorwür-

22 Vgl. Heinisch (Anm. 18). 26 Vgl. Die neue Regierung ist angelobt, 5500 Menschen demons- 23 Vgl. Andrej Zaslove, The Populist Radical Right in Government. trierten, 18. 12. 2017, https://diepresse.com/home/innenpolitik/​ ​ The Structure and Agency of Success and Failure, in: Comparative 5340249. European Politics 4/2011, S. 421–448. 27 Vgl. Nina Horaczek, Wir schaffen die siebte Million, 24 Vgl. Joost Van Spanje/Nan Dirk De Graaf, How Established 23. 1. 2018, www.falter.at/archiv/wp/wir-schaffen-die-siebte- Parties Reduce Other Parties’ Electoral Support. The Strategy of million. Parroting the Pariah, in: West European Politics 1/2018, S. 1–27. 28 Vgl. Akademikerball: Demo ohne Zwischenfälle, Strache: „Wir 25 Vgl. Daniele Albertazzi/Duncan McDonnell, Populists in Power, sind keine Opfer, keine Täter“, 27. 1. 2018, https://derstandard.at/​ London 2015. 2000073118675.

37 APuZ 34–35/2018

Abbildung 3: Einstellungsprofile der ÖVP-, SPÖ- und FPÖ-Wählerinnen und -Wähler bei der Nationalrats- wahl 2017 in Prozent

0 50 100

Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung 24 63 (sehr/ziemlich zufrieden) 35

Parteien wollen nur die Stimmen der 61 WählerInnen, ihre Anliegen interessieren sie nicht 48 (stimme sehr/ziemlich zu) 78 ÖVP

69 SPÖ Österreich ist ein eher gerechtes Land (ja) 93 21 FPÖ

25 Junge Generation wird eher besser leben (ja) 31 4

EU-Mitgliedschaft bringt Österreich mehr Vorteile 80 87 als Nachteile (stimme sehr/ziemlich zu) 36

Quelle: Martina Zandonella/Flooh Perlot (SORA), Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse. Nationalratswahl 2017, 15. Oktober 2017, Wien, www.sora.at/fileadmin/downloads/wahlen/2017_NRW_Grafiken-Wahltagsbefragung.pdf. fe des parteipolitisch motivierten „Umbaus“ des Die bisherige inhaltliche Arbeit der Regierung Nachrichtendiensts Bundesamt für Verfassungs- kann vor dem Hintergrund betrachtet werden, schutz für Terrorismusbekämpfung, der Innen- dass sich bereits im Vergleich der Nationalrats- minister Herbert Kickl (FPÖ) untersteht. Sei- wahl-Kampagnen 2013 und 2017 eine erstaun- tens der Opposition (SPÖ, NEOS, Liste Pilz) liche Konvergenz von ÖVP und FPÖ um einen kritisch beleuchtet wurde zudem eine Razzia in Kurs zeigte, der das „Nationale“ zum Primat den BVT-Räumlichkeiten, im Zuge derer ver- der Außen- und Innenpolitik machen und Po- meintlich „Rechtsextremismus-Daten“ entwen- litik nach populistischen Idealen in den Dienst det wurden. 29 Zu einem weiteren Politikum ent- des „wahren“, aber „vergessenen“ Volkes stellen wickelte sich das Verhältnis zwischen der FPÖ wollte. 31 Dabei bewegte sich vor allem die ÖVP und dem öffentlich-rechtlichen ORF. Hatte die weit nach rechts. Forderungen nach einer rest- FPÖ bereits im Wahlkampf die „Zwangsgebüh- riktiveren Migrationspolitik, stärkerem Fokus ren“ im Visier, so kam es nun zur Eskalation, als auf Sicherheit sowie nach weitgehenden Arbeits- Vizekanzler Strache mit einem Facebook-Post, in marktreformen und einer Sozialpolitik im Diens- dem er dem ORF unterstellte, „Fake-News, Lü- te der Einheimischen durchzogen so die Kampa- gen und Propaganda“ zu verbreiten, eine Klage gnen von ÖVP und FPÖ. Konnten sich also die auf sich zog. 30 ÖVP und vor allem die FPÖ angesichts der pro- pagierten inhaltlichen und den „politischen Stil“ betreffenden Reformen bereits profilieren? 29 Vgl. Viele Fragen offen, 8. 3. 2018, https://orf.at/stories/​ 2429474/2429473. 30 Vgl. Anna-Maria Wallner, Nach Facebook-Post: Armin Wolf 31 Vgl. Reinhard Heinisch/Anika Werner/Fabian Habersack, Re- kündigt Klage gegen Strache an, 13. 2. 2018 https://diepres- claiming National Sovereignty. The Case of the Conservatives and se.com/home/kultur/medien/5370937/Medienpolitik_Nach- the Far-Right in Austria, in: Linda Basile/Oscar Mazzoleni (Hrsg.), In FacebookPost_Armin-Wolf-kuendigt-Klage-gegen. the Name of the Sovereign People (in Bearbeitung).

38 Österreich APuZ

Zunächst lässt sich eine klare, von Kritik be- Große Teile der Migrations- und Asylpolitik gleitete Abkehr von der in Österreich praktizier- werden von der EU-Ratspräsidentschaft überla- ten Konsenspolitik erkennen, die sich besonders gert, die Österreich am 1. Juni 2018 antrat – mit in dem gegenüber der vorherigen Legislaturperio- „Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration“ de um ein Drittel gesunkenen Anteil einstimmiger als prominentestem Agendapunkt. 39 Und hier Gesetze (aktuell 22 %) manifestiert. Umstritten ist zeigt sich eine Linie, die bereits im Wahlkampf ih- dabei vor allem die Wende in der Arbeitsmarkt- ren Anfang nahm (Annäherung an die Visegrád- und Sozialpolitik. Nicht nur sieht sich die Regie- Staaten Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien) und rung hier mit einer öffentlichen Mehrheit gegen ih- sich mit einer neuen „Achse der Willigen“ 40 von ren Kurs konfrontiert, 32 auch zeigte sich die FPÖ Berlin bis nach Rom fortsetzen soll. Kurz sieht – immerhin deklarierte Partei des „kleinen Man- Österreich dabei als „Brückenbauer“, als Media- nes“ und mit dem Ressort für Arbeit und Soziales tor in einer Krise, die nur auf EU-Ebene zu lösen betraut – intern uneinig, speziell über die Ermögli- sei. 41 Dennoch dürfte der Vorsitz primär als Bühne chung eines 12-Stunden-Arbeitstages und die So- für das nationale Publikum dienen. Diese Öffent- zialbeitragssenkungen. 33 Einschränkungen bei der lichkeit kommt nicht zuletzt auch der FPÖ zugu- Familienbeihilfe, die vorwiegend Nicht-EU-Bür- te. Folgten der ersten FPÖ-Regierungsbeteiligung gerinnen und -Bürger treffen, gehen dagegen viel noch „Sanktionen“, so verhandelt man nun auf eher mit FPÖ-Kernforderungen einher. Augenhöhe – wie etwa im Juni in Innsbruck beim Beschlüsse wie das auf FPÖ-Initiative und Treffen der Innenministerinnen und -minister 42 . ebenfalls gegen breite Gegnerschaft gekippte Nichtrauchergesetz laufen wiederum der klassi- DIE AFD – EINE schen FPÖ-Forderung nach stärkeren direktde- „ANDERE FPÖ“? mokratischen Instrumenten zuwider. 34 Auch das CETA-Abkommen, das die FPÖ mitbeschlossen Auch die 2013 gegründete, wie die FPÖ als hat, 35 stellt ein Glaubwürdigkeitsproblem für sie rechtspopulistisch eingestufte AfD kann auf Er- dar, hatte man sich doch zuvor klar dagegen aus- folge zurückblicken. Zwar ist sie noch weit von gesprochen und ein Referendum hierzu verlangt. einer Regierungsbeteiligung entfernt, dennoch Demgegenüber punktete die FPÖ mit ihrer drängt sich die Frage auf: Wie ähnlich sind sich Agenda in der Migrations-, Asyl- und Sicher- beide Parteien? Trotz vieler Parallelen und inten- heitspolitik bei den Wählern und Wählerinnen. siver Kontakte gibt es große Unterschiede. So konnte sie eine Aufstockung der Polizei errei- Erstens befinden sich AfD und FPÖ in ver- chen 36 sowie ein restriktiveres „Fremdenrecht“, schiedenen Phasen ihres Entwicklungszyklus, das es nun zulässt, Mobiltelefondaten auszuwer- wobei der AfD als jüngerer Partei noch viele ten sowie Bargeld sicherzustellen. 37 Zudem wur- Richtungskonflikte bevorstehen werden, die die de die bestehende Grenzschutzeinheit umgebaut, FPÖ schon hinter sich hat. Die Konflikte zwi- damit sie „flexibler“ agieren könne. 38 schen deutschnationalen und liberalen Elementen und daraus folgende Abspaltungen schwächten die FPÖ jedoch nicht. Im Gegenteil, sie mach- 32 Vgl. ÖVP stabil voran, SPÖ und FPÖ kämpfen um Platz zwei, ten die Partei insgesamt kohäsiver und scheinen 14. 7. 2018, https://derstandard.at/2000083465206. 33 Vgl. Wegen 12-Stunden-Tag: FPÖ-Politiker tritt aus der Partei Teil der Entwicklung ehemals breiterer Protest- aus, 4. 7. 2018, https://diepresse.com/home/innenpolitik/​5458423. parteien zu sein, die über die Zeit ideologisch en- 34 Vgl. Gerfried Sperl, Die erste Niederlage der Kurz-Regierung, 19. 2. 2018, www.news.at/a/oevp-fpoe-kommentar-niederlage- kurz-regierung-9087883. 39 Bundeskanzleramt, Programm des österreichischen Ratsvor- 35 Vgl. Ceta-Beschluss im Nationalrat umstritten, 16. 5. 2018, sitzes 2018, www.bundeskanzleramt.gv.at/nationales-programm, www.wienerzeitung.at/965097. S. 8 f. 36 Vgl. Regierung beschloss deutliche Aufstockung der Polizei, 40 Vgl. Heribert Prantl, Es stellt einem die Haare auf, 14. 6. 2018, 15. 2. 2018, www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5371770. www.sueddeutsche.de/1.4013997. 37 Vgl. Innenausschuss beschließt weitere Fremdenrechtsver- 41 Vgl. Thomas Sendlhofer, EU-Vorsitz: Kurz will als „Brückenbauer“ schärfung, 21. 6. 2018, www.kleinezeitung.at/service/newsticker/​ Spannungen beseitigen, 30. 6. 2018, https://kurier.at/politik/inland/ 5451215. eu-vorsitz-kurz-will-als-brueckenbauer-spannungen-beseitigen/​ 38 Vgl. Neue Grenzschutz-Truppe PUMA: Nun kommt auch 400059473. Taskforce, 27. 6. 2018, https://kurier.at/politik/inland/neue-grenz- 42 Vgl. In Innsbruck wird die Krise der Migrationspolitik fortge- schutz-truppe-puma-nun-kommt-auch-taskforce/400057415. setzt, 12. 6. 2018, https://derstandard.at/2000083292426.

39 APuZ 34–35/2018 ger, aber schlagkräftiger werden. Auch der AfD lich. Dennoch hat sie einen großen Teil ihrer An- scheinen die inneren Konflikte an der Wahlurne hängerschaft in der (männlichen) Arbeiterschaft nicht zu schaden. Sie mobilisiert in Westdeutsch- und Gruppen mit niedrigerer Bildung. land (als dem Ausgangspunkt der ursprünglich eurokritischen Single-issue-Partei) andere Schich- FAZIT ten als im Osten, besonders nach ihrer Hinwen- dung zur Zuwanderungs- und Islamkritik. Diese Seit ihrem Wandel hin zu einer rechtspopulisti- regional verschiedenen Mobilisierungspotenziale schen Partei hat die FPÖ zwei ähnliche Phasen stärken die Partei eher, als sie zu behindern. 43 durchlaufen (1986–2005 und ab 2005), die je- Zweitens kann die FPÖ als längst etablierte weils mit radikaler Systemkritik begannen und Partei mit einem stabilen Sockel an Wählerinnen über zunehmende Wahlerfolge und moderate- und Wählern moderater und flexibler auftreten, rem Auftreten zweimal in Regierungsbeteiligung um Koalitionspartner zu finden. Dagegen muss mündeten. Während die erste ÖVP/FPÖ-Koali- die AfD permanent ihre Abgrenzung vom Main- tion jedoch in einem Absturz und einer Spaltung stream unter Beweis stellen. der FPÖ endete, zeigt sich heute, dass es sich da- Drittens operieren FPÖ und AfD – wie eine bei um keinen Automatismus handeln muss: Die Untersuchung ihrer Programme für die Bun- „Mitte“ der öffentlichen Meinung ist heute be- destags- beziehungsweise Nationalratswahl von sonders nach der „Flüchtlingskrise“ weit rechts. 46 2017 zeigt 44 – mit unterschiedlichen ideologi- Eine Mehrheit unterstützt den Regierungskurs, schen Stoßrichtungen, wenn es um die Definiti- wie die letzten Wahlumfragen ergaben. 47 Auch on des „Volkes“ geht, das sie stets beschwören. Bundeskanzler Kurz bleibt weiterhin populär, Während die AfD eine klare Vorstellung davon und Konflikte zwischen den Koalitionären blei- hat, wer zum „Staatsvolk“ gehört, und eine deut- ben – im Vergleich zur Vorgängerregierung SPÖ/ sche „Leitkultur“ hochhält (Christentum, Spra- ÖVP – weitgehend aus. Auch die Schwäche der che, Herkunft etc.), sieht die FPÖ „das Volk“ Opposition sowie der Gewerkschaften, die der- als durch nationale und überstaatliche Eliten be- zeit in einer inhaltlich-personellen Neuorientie- droht, bleibt aber vage in seiner Definition und rung verhaftet scheinen, tragen zu den stabilen spricht auch eher von „Heimat“. Umfragewerten bei. Verglichen mit den 2000er Viertens ist auffallend, dass sich die FPÖ viel Jahren spricht heute also vieles für einen Aufwind stärker als die AfD als Partei der „kleinen Leu- der Rechtspopulisten – nicht nur in Österreich. te“ wahrnimmt (sie bezeichnet sich selbst als „so- ziale Heimatpartei“) und daher viel stärker den Sozialstaat betont – freilich nur für Österreiche- rinnen und Österreicher, nicht für Zugewanderte. Die AfD zeigt ihre liberalen Wurzeln deutlicher und gibt sich bisher als rechte Mittelstandspar- tei. 45 Auch die FPÖ hat liberal-mittelständische FRANZ FALLEND Wurzeln, und auch sie ist weder in der Arbeiter- ist Senior Scientist am Fachbereich Politikwissen- bewegung verwurzelt noch gewerkschaftsfreund- schaft und Soziologie der Universität Salzburg. [email protected] 43 Vgl. Hans-Georg Betz/Fabian Habersack, Regional Nativism in Germany. The AfD in Former East Germany, in: Reinhard Hei- FABIAN HABERSACK nisch/Emanuele Massetti/Oscar Mazzoleni (Hrsg.), The People and ist Doktorand am Fachbereich Politikwissenschaft the Nation (in Bearbeitung). und Soziologie der Universität Salzburg. 44 Vgl. Reinhard Heinisch/Anika Werner, Paper, vorgestellt auf der Tagung „Minding the Gap? The Populist Surge and Its Conse- [email protected] quences for Representation“, WZB Berlin, 7.–8. 6. 2018. 45 Siehe aber zu Überlegungen, die Partei „sozialer“ auszu- REINHARD HEINISCH richten, Rainer Hank, Nationalsoziale Alternative, in: Frankfurter ist Universitätsprofessor für Österreichische Politik Allgemeine Sonntagszeitung, 15. 7. 2018. in vergleichender europäischer Perspektive und 46 Vgl. Laurenz Ennser-Jedenastik, Was Sebastian Kurz erkannt hat: Die Mitte ist weit rechts, 29. 10. 2018, https://derstandard.at/​ Leiter des Fachbereichs Politikwissenschaft und 2000082435589. Soziologie der Universität Salzburg. 47 Vgl. neuwal.com/wahlumfragen. [email protected]

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ESSAY DER LANGE SCHATTEN DER 8ER JAHRE Kritische Geschichtsbetrachtung und Demokratiebewusstsein Oliver Rathkolb

Nach Étienne François und Hagen Schulze sind Tatsächlich hatte die Sozialdemokratie die ei- Erinnerungsorte, wie sie der Französische Histo- gentlich bürgerliche Revolution 1848 Ende des riker Pierre Nora als „Lieux de Mémoire“ entwi- 19. Jahrhundert (bis 1933) zu einer sozialistischen ckelt hat, „langlebige, Generationen überdauernde umcodiert und auch große Feiern für die „März- Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und gefallenen“ organisiert, die zu Machtdemonstra- Identität“. 01 Die sogenannten 8er Jahre in Öster- tionen, vergleichbar mit dem 1. Mai, wurden. 02 reich – 1848 (Revolution), 1918 (Republikgrün- Schon 1895 sah sich die Sozialdemokratie in Cis- dung), 1938 („Anschluss“), 1968 (Prager Frühling leithanien als Nachfolgerin des liberalen Bürger- beziehungsweise 68er-Bewegung) – sind Schlüs- tums, das diese Revolution nicht mehr feierte, da seljahre der österreichischen Demokratiege- der Liberalismus als politische Kraft bereits fast schichte. Sie veranschaulichen die Definition der wieder verschwunden war. Ab 1888 wurde nicht „Erinnerungsorte“, wobei deutlich wird, dass die- mehr der Obelisk auf der Schmelz, sondern der se wie auch das kollektive Gedächtnis selbst im- neue Zentralfriedhof zum Treffpunkt der Gedenk- mer Wandlungen unterworfen sind beziehungs- feiern, nachdem der Friedhof auf der Schmelz auf- weise im Laufe von Generationen verschwinden gelöst und die 35 Märzgefallenen exhumiert wor- können. Zu diesen Topoi gehören beispielsweise den waren. An die Niederschlagung der Wiener zentrale historische Schlüsseljahre und Ereignis- Oktoberrevolution 1848 mit 3000 bis 4000 Toten, se oder in der jeweiligen historischen, nationalen 70 in Österreich vollstreckten Todesurteilen und Diskussion zentrale Begriffe, Feste, Rituale, Per- 120 Exekutionen in Ungarn wurde nur indirekt sönlichkeiten oder Mythen. Im Folgenden werde erinnert. Nach den Märzereignissen 1848 schien ich die genannten Erinnerungsorte der 8er Jahre sich ja die bürgerliche Revolution durchgesetzt zu thematisieren, die die Erinnerung an die Geschich- haben, die Niederlage war scheinbar weniger zur te der parlamentarischen Demokratie reflektieren, symbolischen Inszenierung geeignet. punktuell mit vergleichbaren kollektiven Erinne- Nach 1945 wurde diese konstruierte Par- rungsdebatten in Ungarn in Beziehung setzen und teitradition der Sozialdemokratie nur von dem am Ende begründen, warum die Beschäftigung mit kommunistischen Vordenker Ernst Fischer, der diesen Daten von Wert für die Demokratie ist. ursprünglich Sozialdemokrat war, in einer Bro- schüre wieder aufgenommen, die nun im Zei- 1848 – EIN POLARISIERENDER, chen des Klassenkampfes und des Nationalitä- VERGESSENER ERINNERUNGSORT tenkonflikts stand. Der Sozialdemokratischen Partei Österreichs hingegen waren die großdeut- Als der damalige Kulturminister Josef Ostermay- schen Traditionen, die mit 1848 und der Frank- er zu Beginn der Debatte um ein Haus der Ge- furter Paulskirche verbunden waren, nicht mehr schichte Österreich in der Neuen Burg im Fe- genehm, da der „Anschluss“ an Deutschland als bruar 2015 „1848“ als einen möglichen Beginn für politische Doktrin zugunsten der Akzeptanz ei- die museale Umsetzung dieses Museumprojekts nes kleinen Österreichs aufgegeben worden war. vorgeschlagen hatte, gab es Aufregung bei eini- Heute ist 1848 ein vergessener Erinne- gen der Österreichischen Volkspartei nahestehen- rungsort. Der Jurist und Politikwissenschaft- den KommentatorInnen, die meinten, hier würde ler Manfried Welan schreibt zu Recht in diesem eine Art „sozialistische Revolution“ ins Zentrum Zusammenhang vom Fehlen eines Revolutions- des Hauses der Geschichte gestellt werden. patriotismus, der letztlich das Manko erkläre, wa-

41 APuZ 34–35/2018 rum es in Österreich keinen Verfassungspatriotis- ausgetrennt worden war, sichtbar: 07 Rote Garden mus gebe. 03 Heute erinnern nur mehr schlagende wollten offensichtlich symbolisch den Beginn des deutschnationale Burschenschaften an 1848 – und Sozialismus und einer Revolution markieren. Bald die Israelitische Kultusgemeinde, da unter den nachdem diese Fahnen aufgezogen wurden, fielen Märzgefallenen Studenten jüdischer Herkunft Schüsse Richtung Parlament: Der sozialdemokrati- waren. In Ungarn hingegen ist die Erinnerung an sche Schriftsteller Ludwig Brügel wurde von einer 1848 nach den intensiven Feiern zur 1956er Re- Kugel getroffen und verlor ein Auge, 30 Menschen volution eine nach wie vor wichtige Säule der ak- wurden verletzt, zwei angeblich getötet. Trotz der tuellen Geschichtspolitik 04 – weniger aber aus de- folgenden Massenpanik am Ring blieb die angesag- mokratiepolitischer Sicht, sondern eher als Teil te Revolution aus, nur die Redaktionsräume der der Konstruktion einer ungarischen Nation auf „Neuen Freien Presse“ wurden kurzzeitig besetzt. der Basis von Niederlagen auf dem Weg zur nati- Geblieben sind von diesem Tag jedoch die onalen Unabhängigkeit. prägenden „Geburtsfehler“ für eine funktionie- rende demokratische politische Kultur in der 12. NOVEMBER 1918 – EIN Ersten Republik: die Identitätsfrage, die Tendenz, UMSTRITTENER NATIONALFEIERTAG Politik mit Gewalt durchzusetzen, die ausgren- zende Versäulung der großen politischen Massen- Nicht nur 1848, sondern auch 1918 war in der Ers- parteien aus der Zeit der Monarchie, der Christ­ ten Republik ein umkämpfter, „ungeliebter“ Er- lich­sozia­len und der Sozialdemokraten, mit innerungsort, obwohl der 12. November 1918 als größtenteils völlig konträren Lebens- und Poli- Tag der Ausrufung der Republik „Deutsch-Ös- tikentwürfen sowie die katastrophale wirtschaft- terreich“ zum Staatsfeiertag erklärt worden war. liche Lage als Folge der Auflösung des Österrei- Während Otto Bauer, die prägende Führungsper- chisch-Ungarischen Staates und des Krieges. sönlichkeit der Sozialdemokraten der Zwischen- Während heute das Nationalbewusstsein der Ös- kriegszeit, diesen Tag als Symbol für eine „de- terreicherInnen im internationalen Vergleich bereits mokratisch-nationale“ Revolution bezeichnete, 05 als „Hyperpatriotismus“ bezeichnet werden kann 08 wandten sich die bürgerlichen Kräfte gerade gegen und im europäischen Kontext ziemliche Probleme diese Deutung. Immer wieder kam es später zu ge- bereitet, blieb die Identitätsfrage, die schon die Mon- walttägigen Auseinandersetzungen an diesem Jah- archie geplagt hatte, nach 1918 ungelöst – selbst nach restag – in den frühen 1930er Jahren auch zwischen dem Verbot eines Anschlusses an Deutschland der Sozialdemokraten und Nationalsozialisten. Alliierten dominierten darauf bezogene Ideen zu- Bestenfalls gibt es heute vage visuelle Erinne- mindest bis zur Machtübernahme Hitlers 1933. rungen an das Foto von diesem Ereignis, 06 mit dem Diese Vorstellungen waren auch im katholi- Transparent „Hoch lebe die sozialistische Repu- schen Kulturdeutschnationalismus des ursprüng- blik“ vor dem Haupteingang des Parlaments und lich antinazistischen, klerikal orientierten Regi- der Figur der Pallas Athene. Nur im Filmdoku- mes von Engelbert Dollfuß und seinem Nachfolger ment werden die zerstückelten ehemals rot-weiß- Kurt Schuschnigg am Rande Wegweiser für den roten Fahnen, aus der der weiße Mittelteil her- „Anschluss“ 1938. Der autoritär, ohne Parlament agierende Schuschnigg brachte die Folgen dieser

01 Étienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Identitätsverwirrung der ÖsterreicherInnen in sei- Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 9–24, hier ner Kapitulationsrede mit dem Verzicht auf mili- S. 17. Der vorliegende Beitrag beruht teilweise auf einem überar- tärischen Widerstand auf den Punkt: „weil wir um beiteten und wesentlich erweiterten Text des Autors: Oliver Rath- keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, kolb, Die 8er Jahre als Erinnerungsorte der Demokratiegeschichte deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind“. Österreichs, in: Europäischen Rundschau 4/2017, S. 43–50. 02 Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Häusler, Ideen können nicht Der Nationalfeiertag der Ersten Republik, der erschossen werden. Revolution und Demokratie in Österreich 12. November 1918, galt als umstrittener Feier- 1789 – 1848 – 1918, Wien 2017. tag, wie Aufmärsche paramilitärischer Organisa- 03 Vgl. Manfreid Welan, Revolution und Konstitution, 24. 10. 2017, www.wienerzeitung.at/925112. 04 Vgl. Barbara Haider/Hans Peter Hye (Hrsg.), 1848: Ereignis und 07 Siehe http://stadtfilm-wien.at/film/191. Erinnerung in den politischen Kulturen Mitteleuropas, Wien 2003. 08 Vgl. Svilla Tributsch/Peter Ulram, Kleine Nation mit Eigen- 05 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923, S. 101 f. schaften. Über das Verhältnis der Österreicher zu sich selbst und 06 Siehe www.oesterreich100.at/1918.html. zu ihren Nachbarn, Wien 2004.

42 Österreich APuZ tionen der großen Parteien und Pressepolemiken Was aber ist von 1918 und der Zeit danach im am zehnten Jahrestag 1928 untermauerten. Da- Gedächtnis geblieben? In einer Studie von 2007 ran konnte selbst die Grundsteinlegung für das zeigte sich beispielsweise, dass jener Kanzler, der Wiener Praterstadion anlässlich des Republikju- 1933 das Parlament nach einer Geschäftsordnungs- biläums nichts ändern. Das von dem sozialdemo- krise auflöste und im Juli 1934 von österreichischen kratischen Gesundheitsstadtrat und Universitäts- Nationalsozialisten bei einem Putschversuch ermor- professor für Anatomie, Julius Tandler, initiierte det wurde, nur mehr von etwas mehr als 40 Prozent Republikdenkmal beim Parlament zeigte nur die der befragten Personen historisch bewertet werden sozialdemokratischen Politiker Victor Adler, Ja- konnte. Der Aussage „Bundeskanzler Dollfuß ver- kob Reumann und Ferdinand Hanusch. dient große Bewunderung“ stimmten 24,6 Prozent Trotz dieser Gegensätze und der sozialen und zu, 40,3 Prozent gaben keine Antwort, 36,6 Prozent ökonomischen Krise war es aber zumindest in lehnten diese Feststellung ab. 09 Hinsichtlich der den ersten Jahren nach 1918 gelungen, nach dem Nachfrage, ob Bundeskanzler Dollfuß die Demo- Zerfall der Monarchie in neue Nationalstaaten in kratie zerstört habe, antworteten 19,1 Prozent mit einer Konzentrationsregierung beziehungswei- Ja und 19,6 Prozent mit Nein, 47,7 Prozent hatten se Großen Koalition bis Oktober 1920 unter der keine Meinung. Führung des sozialdemokratischen Staatskanz- Wie stark die Erinnerung an 1918 an die je- lers Karl Renner, den formalen Rahmen sowohl weilige Geschichtspolitik angebunden ist, zeigt für Wahlen als auch sozialpolitische Gesetze über sich an den Ergebnissen derselben Umfrage, bei den Acht-Stundentag, die Kinderarbeit und die der 80 Prozent der befragten Ungarn den Frie- Heimarbeit in der Nationalversammlung zu er- densvertrag von Trianon als die größte nationale arbeiten. Im Zentrum standen auch das allgemei- Tragödie bezeichneten. 10 Dieses Leidensnarra- ne Frauenwahlrecht und die österreichische Ver- tiv wird durch die Erinnerung an die blutig nie- fassung 1920 als die großen Erfolge dieser kurzen dergeschlagene Revolution von 1956, aber auch Nachkriegsallianz. Diese erfolgreiche erste Gro- eine sehr negative Einschätzung der sozialen und ße Koalition blieb in der Erinnerungspolitik der ökonomischen Entwicklungen nach 1989 und das Zweiten Republik ausgeklammert, die maßgeb- Ende des Kalten Krieges verstärkt. In Tschechien lich von Großer Koalition und Sozialpartner- und Polen hingegen wird 1989 wesentlich positi- schaft geprägt werden sollte. ver erinnert. 11 Heute, 100 Jahre später stellt kaum jemand mehr den demokratischen und republikanischen 1938 – SEISMOGRAF FÜR Weg Österreichs nach 1918 infrage. Gleichzei- DIE OPFERDOKTRIN UND EINE tig wird der brutale Erste Weltkrieg, den die Eli- KRITISCHE GESCHICHTSPOLITIK ten der Habsburger Monarchie – unterstützt vom GEGENÜBER NATIONAL- preußischen Imperialismus – vom Zaun gebro- SOZIALISMUS UND HOLOCAUST chen haben, und der die europäische Gesellschaft radikal verändert hat, in Österreich kaum mehr Das Jahr 1938 und der nachfolgende national- bewusst erinnert – obwohl seine Folgen bis heute sozialistische Terror im Zweiten Weltkrieg und wirksam sind. Holocaust sind inzwischen bereits nicht nur eu- Dabei könnte 1918 für Europa ein neuer ge- ropäische, sondern internationale Erinnerungs- meinsamer Reflexionspunkt im Sinne transnati- orte geworden. Bereits 2008 wurde nicht nur an onaler Erfahrungen und Prägungen werden. Vor den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozi- dem Hintergrund der europäischen Integration alistische Deutschland erinnert, sondern auch an sind Fragen wie Migration und Integration im die Kollaboration zahlreicher ÖsterreicherInnen. Habsburgerreich, aber auch der Nationalitäten- konflikt und die Gründung der Nachfolgestaa- 09 Vgl. Dollfuß für 40 Prozent „unbekannt“, 29. 2. 2008, http:// ten sowie die Erosion der jungen demokratischen sciencev1.orf.at/science/news/150949. Strukturen höchst relevante Geschichtsthemen. 10 Vgl. Árpád v. Klimó, Hungary, in: Oliver Rathkolb/Günther Diese könnten durchaus die vorherrschende nati- Ogris (Hrsg.), Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck u. a. onalstaatliche Abgrenzung und Ausgrenzung der 2010, S. 79–90, hier S. 83. Nachbarstaaten aus dem österreichischen Ge- 11 Vgl. Standard Eurobarometer 74, Herbst 2010: http://ec.​ schichtskanon nach 1918 auflösen. europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb74/eb74_anx_full_fr.pdf.

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Gerade 2018 sollten wir weiter an der notwendi- des Kalten Krieges und des Generationenwechsels gen Dekonstruktion der selbstverliebten „Opfer­ etwas an Bedeutung abnimmt. Nichtsdestotrotz doktrin“ arbeiten – durch eine selbstkritische Aus- dominiert er weiterhin die kollektive und mediale einandersetzung mit den Novemberpogromen am Auseinandersetzung in Österreich. 9./10. November 1938 an Juden und Jüdinnen, bei denen es zahlreiche österreichische TäterInnen Niederschlagung und viele ZuschauerInnen gegeben hat. des Prager Frühlings Umfragen aus 2017 belegen aber, dass es Der Fokus auf die Ereignisse im Nachbarland, durchaus – trotz gestiegenem selbstkritischen die mit der militärischen Intervention der Sow- Geschichtsbewusstsein zur Kollaboration mit jetunion und Verbündeter des Warschauer Paktes den Nationalsozialisten – eine Tendenz zum endeten, hängt damit zusammen, dass die Bedeu- „Schlussstrich“ gibt: 40 Prozent der Befragten tung der österreichischen Neutralität als geopo- äußern sich dahingehend, dass Diskussionen über litisch nützliches Modell betont und diese wich- den Zweiten Weltkrieg und Holocaust beendet tige Identitätsmetapher verstärkt werden kann. werden sollten. 12 2008 ist eine interessante Zusatzvariante in den 1945 wurden nur teilweise die „Lehren aus medialen Inszenierungen dazu gekommen – die der Geschichte“ gezogen, wobei die beiden gro- am Rande aber immer vorhanden war –, nämlich ßen Parteien ein gemeinsames Ziel hatten: die die starke prowestliche und massiv antikommu- Wiederherstellung der Souveränität eines demo- nistische Parteinahme österreichischer Medien, kratischen Österreichs und die Loslösung von obwohl oft übersehen wird, dass das Dubček- Deutschland. Die externen Zwänge des Wieder- Regime letztlich nur einen anderen Kommunis- aufbaus, die alliierte Administration und der be- mus umsetzen, aber keineswegs eine westliche ginnende Kalte Krieg überwanden die durchaus pluralistische Demokratie mit Mehrparteiensys- bestehenden ideologischen Gräben und Konflikt- tem etablieren wollte. zonen. Der Bürgerkrieg des Februar 1934 wur- Betont wird aber letztlich, dass Österreich da- de nach 1945 durch einen „Burgfrieden“ neutra- mals wie 1956 bei der ungarischen Revolution als lisiert, aber nicht aufgearbeitet. Der Mythos der Asyltransitland funktionierte und damit seinen gemeinsamen „Lagerstraße“, das heißt das ge- Neutralitätsstatus in der Krise erfüllte. Bis zum meinsame Erleben ehemaliger politischer Gegner 17. September 1968 wurden in 93 653 Fällen für von Verfolgung, Haft und Folter in den national- tschechoslowakische Staatsbürger, die vorerst in sozialistischen Konzentrationslagern, sollte einen Österreich die Entwicklung der Situation abwar- Schlussstrich unter die umkämpfte Vergangenheit ten wollten, Quartier und Verpflegung zur Ver- und die Gewalt in der Politik der Ersten Repu- fügung gestellt. In diesem Zeitraum stellten aber blik ziehen, während gleichzeitig die „Opferdok- nur 1355 Personen Asylanträge. Bis 1970 blieben trin“ die Kollaboration von ÖsterreicherInnen 160 000 Tschechen und Slowaken nur für kurze in der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Zeit in Österreich, nur rund 10 000 stellten Asyl- Expansionsmaschinerie auf wenige TäterInnen anträge, und nur 600 wurden eingebürgert. reduzieren wollte. 2018 ist hoffentlich kein Platz mehr für derartige Geschichtsverfälschungen. 1968er-Bewegung Während in vielen westeuropäischen Gesellschaf- SONDERFALL 1968 ten bei 1968er Jahrestagen immer die Studenten- bewegung 1968 und der Sturm auf die autoritären Die Ereignisse des Jahres 1968 – „Prager Frühling“ Strukturen betont wird – so in Frankreich oder und seine Niederschlagung sowie die Studenten- in der Bundesrepublik Deutschland – spielte dies proteste – bilden in Österreich zunehmend zwei lange in Österreich keine Rolle, obwohl „1968“ getrennte Erinnerungsorte. 2018 wird ausführli- natürlich auch ein Teil der demokratischen Ent- cher als zuvor über die 1968er-Bewegung berich- wicklung in der Zeit nach 1945 in Westeuropa tet, wohingegen der Erinnerungsort der Zerschla- war. Typisch für die Situation in Österreich ist, gung des „Prager Frühlings“ aufgrund des Endes dass die „68er-Revolution“, wie dies der Histo- riker Fritz Keller treffend formuliert hat, im uni- 12 Siehe www.sora.at/nc/news-presse/news/news-einzelansicht/ versitären-studentischen Umfeld höchstens eine news/schon-43-fuer-starken-mann-776.html. „heiße Viertelstunde“ gewesen ist.

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Zwar gab es bereits im Jänner 1968 Versuche, die nen und MittelbauvertreterInnen gleichberechtigt deutsche und französische studentische Debatte an mit ProfessorInnen –, in der Justiz und im Sozi- der Universität Wien mit ersten Diskussionen über albereich erfolgten erst im Laufe der 1970er Jah- die autoritären und rückschrittlichen Strukturen an re. Kanzler Bruno Kreisky kanalisierte den gesell- österreichischen Universitäten mit deutschen und schaftlichen Druck nach mehr gesellschaftlicher österreichischen Professoren und Studenten auf- Öffnung geschickt und setzte ihn in konkrete Re- zunehmen. Tenor der damaligen Berichterstattung formmaßnahmen um. „Wer die Demokratie stabi- war: „Universität: Wie im Mittelalter! Deutsche lisieren will, muss sie in Bewegung halten“, ist ein Professoren sind über Verhältnisse an Österreichs typisches von Kreisky verwendetes Zitat aus die- Hochschulen entsetzt. Erschütternder Eindruck ser Zeit. 13 Immer wieder thematisierte er diese Vi- von dem reaktionären Geist, von der Missachtung sion, die die gesamte Gesellschaft umfassen soll- der demokratischen Grundprinzipien“. te: „Durchflutung aller gesellschaftlichen Bereiche Doch derartige Kontroversen wurden in der mit Ideen der Demokratie“. Hier steht er wie Wil- Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und führten ly Brandt in der Bundesrepublik Deutschland mit zu keinen kurzfristigen Strukturänderungen. Selbst seiner Devise „Mehr Demokratie wagen“ in einem Demonstrationen wie bei einem Vortrag eines Di- Diskurs, der radikale Konzepte der 1968er-Bewe- plomaten des autoritären griechischen Regimes gung politisch kanalisieren, aber die Jugend stärker lassen sich in deren Wirken mit dem Bonmot ei- in die politische Kommunikation einbinden sollte. nes Pedells gegenüber dem damaligen Rektor Fritz Die Reformen nahmen der 1968er-Bewegung Schwind zusammenfassen: „Magnifizenz, im Audi letztlich den gesellschaftlichen Druck und verhin- Max is’ a Wirbel“ (12. März 1968), der sich seiner- derten eine mögliche militante Radikalisierung seits auf einem Ball im Großen Festsaal der Univer- wie in der Bundesrepublik Deutschland (mit der sität Wien befand und nicht wirklich irritiert zeigte. RAF) oder in Italien (Rote Brigaden). Viele da- Heftige negative öffentliche Meinungsmache mals aufgeworfene Themen wie extreme Gewalt und massive polizeiliche und gerichtliche Verfol- und Zwang gegen Jugendliche in Kinderheimen gung folgte aber der „Aktion Kunst und Revoluti- wurden aber erst nach 2010 politisch ernsthaft in- on“ von Otto Muehl, Günter Brus, Oswald Wiener stitutionell diskutiert und führten zu finanziellen und anderen am 7. Juni 1968 im Hörsaal 1 des Neuen Entschädigungen. Institutsgebäudes. Die AktionistInnen versuchten, 2018 wird zunehmend ausführlicher über das Bewusstsein für die autoritären gesellschaftlichen österreichische „Mailüfterl“ 1968 berichtet. Eine Zustände zu schaffen und vor allem öffentliche Re- jüngere Generation von JournalistInnen versucht aktionen zu initiieren, was durch zahlreiche Tabu- hier, an westeuropäische Erinnerungsdebatten an- brüche erfolgen sollte. Selbst der „linke“ „Express“ zuschließen. Im Vergleich zu Deutschland spielt jagte „Österreichs Kulturrevoluzzer“ und die kon- die 1968er Bewegung im öffentlichen Diskurs aber servative Tageszeitung „Die Presse“ beklagte „dass nach wie vor eher eine marginale und Elitenrolle. hunderte Studenten hier wohlgefällig zusehen und nicht zumindest weggesehen haben“. Die linken SCHLUSS Studentenfunktionäre fürchteten, dass durch die- se Diskussion endgültig Studentenproteste wie in Wer glaubt, dass eine kritische Analyse der 8er Jah- Frankreich oder der Bundesrepublik Deutschland re nur ein irrelevantes Hobby von einigen Histo- in Österreich nicht Nachahmung finden konnten – rikerInnen sowie an historischen Jahrestagen inte- und sie sollten Recht behalten. Typisch für die an- ressierten Medien ist, irrt. Studien und Umfragen dere 1968er-Bewegung in Österreich ist, dass sie in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn im nicht nur von „Linken“, sondern auch von ÖVP- Jahre 2007 14 und Nachfolgestudien in Österreich nahen StudentInnen und jungen Nachwuchspoli- 2017 15 belegen eindeutig, dass es eine Wechselwir- tikerInnen aus dem Cartellverband (CV) getragen wurden und dass kleinere Universitäten wie Graz oder Salzburg eine wichtige Rolle bei Strukturän- 13 Das Zitat stammt ursprünglich von dem liberalen französi- derungsdebatten spielten. schen Politiker Édouard Herriot: „On ne stabilise une démocratie que par le mouvement“. Die großen demokratiepolitischen Reform- 14 Vgl. Rathkolb/Ogris (Anm. 10). projekte in den Universitäten – Drittelparitäten 15 Siehe www.sora.at/nc/news-presse/news/news-einzelansicht/ und Entscheidungsmöglichkeiten für StudentIn- news/schon-43-fuer-starken-mann-776.html.

45 APuZ 34–35/2018 kung zwischen kritischem Geschichtsbewusstsein Carl Schmitt kläglich, heute ist er aber wieder nicht und einem aktiven und positiven Demokratiebe- nur bei der rechtsextremen Identitären Bewegung wusstsein gibt. Je selbstkritischer die Auseinander- hoch im Kurs. Die Mühsal parlamentarischer Aus- setzungen sind, umso stärker ist auch das demo- handlungsprozesse und die dabei notwendige Be- kratische Bewusstsein und desto geringer zeigen rücksichtigung von Minderheitenpositionen sind sich autoritäre Einstellungsdispositionen. Es ist auch in der Gegenwart nicht wirklich als wichtige kein Zufall, dass umfassende Bildung sowohl das Bestandteile der politischen Kultur akzeptiert. In ei- Demokratiebewusstsein fördert, als auch die gras- ner komplexen und unübersichtlichen Zeit sind ra- sierende Suche nach einem „starken Mann“ oder sche und scheinbar einfache Entscheidungen gefragt. einem „starken Führer“, der ohne Parlament und Bemerkenswert dabei ist, dass zunehmend das Wahlen zu Rande kommt, zurückdrängt. Nichtwissen über vergangene Diktaturen aus der Wohin politisches Desinteresse beziehungs- Zwischenkriegszeit ansteigt und die gespaltene Er- weise Politikverdrossenheit führen kann, haben innerung beispielsweise über die Kanzler-Diktatur die Wahlsiege Viktor Orbáns und seiner Partei von Dollfuß in Österreich nicht aufgearbeitet und Fidesz in Ungarn gezeigt. In den Umfragen von demokratiegeschichtlich neu eingeordnet wird. 2007 zeigte sich eine deutlich höhere apathische Zwar gibt es inzwischen Übereinstimmung über Grundstimmung in Ungarn im Vergleich zu Po- den Diktaturcharakter des Regimes 1933 bis 1938, len, der Tschechischen Republik und Österreich. 16 umstritten bleiben aber seine Zielsetzungen bezüg- Gerade diese apathischen WählerInnengruppen lich der Zerschlagung der Sozialdemokratie und der lassen sich mit autoritären und auch nationalisti- freien Gewerkschaften als Voraussetzung für eine schen Botschaften mobilisieren. Inzwischen ha- Politik zur Erhaltung den Unabhängigkeit als zwei- ben die Wahlergebnisse in Polen, bei den jüngsten ter Deutscher Staat. Auch hier wird das Nichtwissen Präsidentschaftswahlen in den USA, aber letztlich über die historischen Entwicklungen zunehmend auch die Brexit-Entscheidung in Großbritannien ein veritables Problem der Geschichtspolitik und dokumentiert, dass sich jene WählerInnenschich- damit auch letztlich der Demokratiepolitik. ten, die sich sozial und auch gesellschaftlich de- In Bezug auf die Zustimmung zur Demokra- klassiert fühlen und meinen, politisch nichts mehr tie als – trotz aller Probleme – beste Regierungs- verändern zu können, durch entsprechend auto- form ist ein Rückgang in den Umfragen 2007 und ritär aufgeladene Botschaften und das Aufbauen 2017 von 86 auf 78 Prozent der befragten Öster­ von Feindbildern ansprechen lassen. reicherIn­nen zu verzeichnen. Das Votum für au- Die Erfahrung mit der Zwischenkriegszeit, toritäre Regierungsformen stieg hingegen leicht aber auch die aktuellen Entwicklungen – heute an, und der (gewählte) „starke Mann“ an der Spit- auf deutlich höherem sozioökonomischen Ni- ze Österreichs ist für 43 Prozent der Befragten at- veau – unterstreichen die fragile Basis der parla- traktiv. 17 23 Prozent stimmen darüber hinaus der mentarischen Demokratie westlicher Prägung. Aussage zu, man „sollte einen starken Führer ha- Wenn das demokratische System nicht für soziale ben, der sich nicht um ein Parlament und Wahlen Gerechtigkeit möglichst vieler Gruppen, Gerech- kümmern muss“. In diesem Sinne bleibt das Man- tigkeit, Solidarität und demokratische Orientie- tra nach mehr politischer Bildung ein wesentli- rung im Lebens- und Arbeitsalltag sorgen kann, ches Ziel einer modernen und aufgeschlossenen steigt die Bereitschaft, einem „starken Führer“ zu demokratischen Gesellschaft. folgen, deutlich an. Ich bin gespannt, ob es 2018 gelingt, doch Scheinbare Lösungen kündigen sich an mittels noch den Samen für einen demokratischen Ver- „Volksakklamation“ durch Volksabstimmungen als fassungspatriotismus in Österreich zu pflanzen, einzige wirkliche Form der unmittelbaren und di- der auch die europäische Entwicklung und ein rekten Demokratie. Damit scheiterte schon der kon- globales Bewusstsein gleichermaßen mitträgt. servative Staatsrechtslehrer und NS-„Kronjurist“ Die Zeitgeschichtsforschung kann ihren Beitrag zu dieser Orientierung leisten.

16 Vgl. Oliver Rathkolb, Neuer Politischer Autoritarismus, in: OLIVER RATHKOLB APuZ 44–45/2011, S. 56–62. 17 Vgl. Hohe Werte für politische Toleranz in Österreich, ist Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts 29. 7. 2018, https://derstandard.at/2000084362473/Umfrage- für Zeitgeschichte der Universität Wien. Hohe-Werte-fuer-politische-Toleranz-in-Oesterreich. [email protected]

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OPFERTHESEN, REVISITED Österreichs ambivalenter Umgang mit der NS-Vergangenheit

Heidemarie Uhl

Im Jahr 1988, zwei Jahre nach Beginn der soge- der sich Antisemitismus und Verharmlosung des nannten Waldheim-Debatte, stellte der deutsche Nationalsozialismus verbargen – eine Folge der Soziologe M. Rainer Lepsius eine gewagte The- Lebenslüge vom „ersten Opfer“ des National­ se auf: Bei Österreich handle es sich um einen sozialismus. 02 der „Nachfolgestaaten des ‚großdeutschen Rei- In den folgenden Jahren sollte deutlich wer- ches‘“ – eine damals skandalöse Zuschreibung, den, dass sich die Grundsatzkonflikte über den die österreichische Staatsräson war ja seit 1945 Ort des Nationalsozialismus im nationalen Ge- darauf ausgerichtet, jeden historischen Zusam- dächtnis nicht auf die Nachfolgestaaten des „Drit- menhang mit Deutschland in Abrede zu stellen. ten Reiches“ beschränkten. Ende der 1980er Jahre Aber nur die Bundesrepublik, so Lepsius weiter, brachen in vielen europäischen Staaten Kontro- habe als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Rei- versen um die bislang ausgeblendete Beteiligung ches die Verantwortung für dieses negative his- von Teilen der Bevölkerung am NS-Herrschafts- torische Erbe übernommen und dieses als „dau- apparat auf, nach 1989 auch in Ländern des ehe- ernde Mahnung (…) normativ internalisiert“. maligen „Ostblocks“. Im nun einsetzenden Pro- Österreich hingegen sei von der Auffassung ge- zess der Neudefinition des Geschichtsbildes der prägt, der Nationalsozialismus gehöre „in die Ge- europäischen Nationen 03 stellte sich auch die Fra- schichte Deutschlands, nicht in diejenige Öster- ge des österreichischen Gedächtnisses neu. War reichs“. Die NS-Vergangenheit konnte so, analog die Praxis des Verschweigens, Verdrängens und zur Strategie der DDR, „externalisiert“ werden. Verleugnens ein Sonderfall? Lepsius’ Fazit: Die Bundesrepublik sei geprägt Der britisch-amerikanische Historiker Tony durch die Anerkennung des Nationalsozialismus Judt hat in seinem bahnbrechenden Artikel „The als einer „normativen Instanz in der politischen Past is another Country. Myth and Memory in Kultur“. Dies sei „in den beiden anderen Nach- Postwar Europe“ (1992) nach europäischen Ge- folgestaaten nicht der Fall“. 01 meinsamkeiten im Umgang mit den traumati- Was Lepsius analytisch sezierte, wurde noch schen Erfahrungen von NS-Terror, Krieg und prägnanter in der deutschen und internationa- Holocaust gefragt. Seine Analyse zeigt, dass die len Medienberichterstattung angeprangert. Die „myths of postwar Europe“ – ungeachtet der Debatte um die Kriegsvergangenheit des ehema- jeweils unterschiedlichen ereignisgeschichtli- ligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim im chen Hintergründe – ein gemeinsames narratives Präsidentschaftswahlkampf 1986 brachte Öster- Muster aufweisen: Die NS-Zeit wird als eine von reichs Umgang mit seiner NS-Vergangenheit in außen aufgezwungene Fremdherrschaft, das ei- die Schlagzeilen, mit desaströsen Auswirkungen gene Volk als unschuldiges Opfer eines brutalen für das Image des Landes. Die neutrale „Insel der Okkupationsregimes dargestellt, gegen das sich Seligen“ zwischen den Frontlinien des Kalten die mutigen Helden des Widerstands aufgelehnt Krieges wurde nun zum Land der unbewältig- haben. Die Darstellung der Nation als Opfer ten Vergangenheit. „Österreichs stiller Faschis- und des Widerstands als nationalem Freiheits- mus“ titelte der „Spiegel“ im April 1986. Alles, kampf ermöglichte es den europäischen Nach- was bislang das positive Bild der „Alpenrepu- kriegsgesellschaften durchgängig, die Frage der blik“ ausmachte – von den Lipizzanern bis zur partiellen Mitwirkung an NS-Verbrechen aus Mozartkugel –, erschien nun als Fassade, hinter der eigenen Geschichte zu „externalisieren“. Für

47 APuZ 34–35/2018 den NS-Terror und insbesondere den Holocaust Opferthese reduzieren. Der Umgang mit der NS- wurde allein Nazi-Deutschland (beziehungs- Zeit war vielmehr durch ein spannungsreiches weise die Bundesrepublik als Rechtsnachfolge- Wechselspiel von Entgegenkommen und Ab- rin) verantwortlich gemacht. 04 Bemerkenswert grenzung gegenüber den ehemaligen Nationalso- ist dabei, dass die Ermordung der jüdischen Be- zialist/inn/en bestimmt – mehr als 500 000 Öster- völkerung in den Nachkriegsjahrzenten insge- reicher/innen wurden nach 1945 „entnazifiziert“. samt nur eine marginale Rolle spielte. 05 Im euro- Die latenten Widersprüche zwischen offiziell-an- päischen Kontext erschien Österreich nun zwar tifaschistischer Opferthese und populistischen als spezifisches, aber nicht als einziges Fallbei- Gegenerzählungen entluden sich immer wieder spiel für die erfolgreiche Ausblendung des Na- in Konflikten, aber erst die Waldheim-Debatte tionalsozialismus. Wenn selbst Österreich, das sollte Österreich nachhaltig mit seiner NS-Ver- seit dem „Anschluss“ im März 1938 integraler gangenheit ­konfrontieren. Bestandteil des Deutschen Reiches war, seine NS-Vergangenheit negieren konnte, dann hatten DIE OFFIZIELLE THESE: andere Länder weitaus mehr Anrecht auf einen „ERSTES OPFER“ DES Opferstatus. Tony Judt resümiert: „War Öster- NATIONALSOZIALISMUS reich schon schuldlos, so bedurfte offenbar auch die besondere Verantwortung anderer Nicht- Im August 1945 fand am Wiener Schwarzenberg- Deutscher in anderen Ländern keiner genaueren platz die Enthüllung des von der sowje­ ­tischen Be- ­Überprüfung.“ 06 satzungsmacht errichteten Denkmals für die Rote Das österreichische Gedächtnis, die „spezi- Armee statt, die Wien im April 1945 befreit hatte. fisch österreichische Kultur des Erinnerns und Bei dieser Feier erklärte der damalige Staatssekre- Vergessens“, 07 lässt sich allerdings nicht auf die tär und spätere Bundeskanzler Leopold Figl (Ös- terreichische Volkspartei, ÖVP): „Sieben Jahre

01 M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und schmachtete das österreichische Volk unter dem die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Hitlerbarbarismus. Sieben Jahre wurde das öster- Reiches“, in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolf- reichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein gang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu ei- Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziolo- ner Idee war möglich, brutaler Terror und Ge- gentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frank­furt/M.–New York 1989, walt zwangen die Menschen zu blindem Unter­ 08 S. 247–264, hier S. 250 f. Siehe dazu kritisch: Katrin Hammerstein, tanentum.“ Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Natio- Figls Rede ist ein typisches Beispiel für die nalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen parteienübergreifende „antifaschistische“ Haltung von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen der ersten Nachkriegszeit. Die Basis dafür wur- 2017, S. 9 ff., S. 504. 02 Vgl. www.spiegel.de/spiegel/print/index-1986-16.html. de in der Proklamation über die Selbstständigkeit 03 Vgl. dazu den Überblick über die Verdrängungs- und Österreichs vom 27. April 1945 gelegt; die vielzi- Aufarbeitungsgeschichte der europäischen Nationen im Katalog tierte Formulierung „das erste freie Land, das der der Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist“ Erinnerungen“ (Deutsches Historisches Museum Berlin 2004/05). wurde wörtlich aus der Moskauer Deklaration der Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004. alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943 09 04 Aber auch in der Nachkriegs-Bundesrepublik stand das „eige- übernommen. ne Leid“ – Opfer der Vertreibung und des Bombenkriegs – vielfach Aus heutiger Sicht wird die Moskauer Dekla- im Vordergrund. Der Schuldabwehr diente auch die Vorstellung, ration unzulässig in den Zeugenstand gerufen, dass nur Hitler und die NS-Führungsspitzen für die Verbrechen denn die mit der Formulierung „erstes Opfer“ des Regimes verantwortlich zu machen sind. Vgl. Hammerstein (Anm. 1), S. 68 ff. verbundene Aussicht auf eine Wiederherstellung 05 Vgl. Tony Judt, Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politi- Österreichs diente der psychologischen Kriegs- sche Mythen im Nachkriegseuropa, in: Transit. Europäische Revue führung beziehungsweise dem weitgehend er- 6/1993, S. 87–120. 06 Ebd., S. 91. 07 Waltraud Kannonier-Finster/Meinrad Ziegler, Einleitung und 08 Zit. nach Mahnmal unerbittlicher Gerechtigkeit, in: Das Kleine Ausgangspunkte, in: dies. (Hrsg.), Österreichisches Gedächtnis. Volksblatt, 21. 8. 1945, S. 1 f. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien 1993, 09 Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs, Staatsge- S. 21–26, hier S. 21. setzblatt für die Republik Österreich, 1/1945, 1. 5. 1945, S. 2.

48 Österreich APuZ folglosen Versuch, einen österreich-patriotischen „unösterreichische“, im Widerspruch zum öster- Widerstand zu motivieren. 10 Der Vorwurf, die reichischen „Volkscharakter“ stehende Ideologie Opferthese sei eine „Geschichtslüge“, 11 greift je- handelte, wurde zu einem Grundpfeiler des ös- doch für die erste Nachkriegszeit zu kurz. Zum terreichischen Nationalbewusstseins. 16 einen eröffnete sich damit in der prekären Lage Die Ausstellung „Niemals vergessen!“ bilde- zu Kriegsende die Möglichkeit der Distanzierung te den Höhe-, aber auch den Schlusspunkt der von NS-Deutschland, die von den Gründungsvä- Gründungserzählung eines aus dem Geist des tern der Zweiten Republik naturgemäß aufgegrif- Antifaschismus wiedererstandenen Österreich. fen wurde. Zum anderen durchdrang die damit Spätestens 1948, mit dem Beginn des Kaltes Krie- verbundene anti-nationalsozialistische Überzeu- ges und der Reintegration der ehemaligen Natio- gung die politische Symbolik und Rhetorik in al- nalsozialist/inn/en, zeichnete sich ein Richtungs- len Bereichen des öffentlichen Lebens – der zy- wechsel ab. Durch das Nationalsozialistengesetz nische „double-talk“ 12 manifestierte sich erst 1947 erlangten rund 487 000 „Minderbelastete“ ab 1948. Im neuen Staatswappen, proklamiert (etwa 92 Prozent der ehemaligen NSDAP-Mit- mit 1. Mai 1945, wurde der aus der Ersten Re- glieder) wieder das Wahlrecht. 17 Die Konkurrenz publik übernommene Adler mit einer gespreng- um das beträchtliche Stimmenpotential der „Ehe- ten Eisenkette „zur Erinnerung an die Wieder- maligen“ wurde ab nun zur Signatur der politi- erringung der Unabhängigkeit Österreichs und schen Kultur in der Zweiten Republik. Umwor- den Wiederaufbau des Staatswesens“ versehen. 13 ben wurde diese Wählerschicht sowohl von den Das 1946 von der Bundesregierung herausgege- beiden Großparteien SPÖ (Sozialdemokratische bene „Rot-Weiß-Rot-Buch“ präsentierte amtli- Partei Österreichs) und ÖVP als auch von dem che Belege für den Widerstand und forderte daher 1949 als Sammelbecken für ehemalige National- „Gerechtigkeit für Österreich“. 14 Die Errichtung sozialst/inn/en gegründeten VdU (Verband der von monumentalen Widerstands-Denkmälern in Unabhängigen), aus dem 1956 die Freiheitliche Wien und in den Bundesländern wurde beschlos- Partei Österreichs (FPÖ) hervorging. 18 sen – allerdings sollten nur wenige davon reali- Die veränderte Situation hatte entscheidende siert werden. Einen Höhepunkt der Auseinan- Auswirkungen auf die Semantik der Opferthese. dersetzung mit dem Nationalsozialismus bildete Die Würdigung des Widerstands, zentrales Ar- die offiziöse „Antifaschistische Ausstellung“ mit gument zur Untermauerung des in der Moskau- dem Titel „Niemals vergessen!“, 1946 im Wie- er Deklaration von Österreich geforderten „eige- ner Künstlerhaus gezeigt. NS-Terror, Krieg, auch nen Beitrags zu seiner Befreiung“, fand Ende der die Judenverfolgung wurden eindrucksvoll ange- 1940er Jahre ein abruptes Ende. Der Widerstand prangert, aber zugleich dem deutschen Faschis- stand nun unter Kommunismus-Verdacht, Denk- mus beziehungsweise dem preußischen Militaris- mäler waren im antikommunistischen Klima der mus zugeschrieben. 15 Dass es sich dabei um eine 1950er und 1960er Jahre kaum noch realisierbar. Vor diesem Hintergrund beriefen sich öster- reichische Politiker – auch und gerade jene, die in 10 Vgl. Robert H. Keyserlingk, Austria in World War II. An Anglo- der NS-Zeit als Regimegegner inhaftiert waren – American Dilemma, Kingston-Montreal 1988; Günter Bischof, Die nur noch in der Selbstdarstellung nach außen auf Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem 2. Welt- krieg, in: Zeitgeschichte 11/12/993, S. 345–366. die Opferthese, vor allem als Argument in den 11 Robert Menasse, Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur Verhandlungen um den Staatsvertrag und zur österreichischen Identität, Wien 1993, S. 15. 12 Anton Pelinka, Austria: Out of the Shadow of the Past, Boul- der 1998, S. 190. 16 Vgl. Werner Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder. 13 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, 2/1945, Historische Legitimation in Ständestaat und Zweiter Republik, Wien 1. 5. 1945, S. 13. 1998. 14 Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellun- 17 Vgl. Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche gen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Tálos et al. (Hrsg.), NS- der Okkupation Österreichs. Nach amtlichen Quellen. Erster Teil, Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 852–883, Wien 1946, S. 3. Ein geplanter zweiter Band wurde nicht publiziert. hier S. 859. 15 Vgl. Wolfgang Kos, Die Schau mit dem Hammer. Zur Planung, 18 Vgl. Margit Reiter, Inklusion und Exklusion. Zur politischen Ideologie und Gestaltung der antifaschistischen Ausstellung „Nie- Formierung ehemaliger NationalsozialistInnen im Verband der mals vergessen!“, in: ders. (Hrsg.), Eigenheim Österreich. Zu Politik, Unabhängigen (VdU) und in der frühen FPÖ, in: Zeitgeschichte Kultur und Alltag nach 1945, Wien 1994, S. 7–58. 3/2017, S. 143–159.

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Abwehr von „Wiedergutmachungs“-Ansprü- Neugestaltung von Kriegerdenkmälern wieder chen jüdischer Organisationen. In Österreich zu ihren im härtesten Kampf gefallenen Söhnen selbst reduzierte sie sich zunehmend auf den Mi- ­bekennt.“ 19 nimalkonsens: dass das Land mit dem National- Die Denkmallandschaft ist ein Indikator für sozialismus nichts zu tun gehabt habe. Die öster- die Durchdringung der österreichischen Gesell- reichische Geschichte endete am 13. März 1938 schaft mit einem Geschichtsbild, das im Wider- mit dem Gesetz über die „Wiedervereinigung spruch zur Opferthese steht. Kriegerdenkmäler Österreichs mit dem Deutschen Reich“ und be- zählen zum „selbstverständlichen“ Inventar je- gann wieder am 27. April 1945. Die Jahre dazwi- der Gemeinde. Das Gefallenengedenken zu Al- schen waren eine Leerstelle, denn sie gehörten lerheiligen und Allerseelen am 1. und 2. No- zur deutschen (Nationalsozialismus) oder zur vember, gemeinsam getragen von Kirche und Weltgeschichte (Zweiter Weltkrieg). Der Staat Kameradschaftsbund, wurde Bestandteil der Österreich, so die Begründung, war an beiden lokalen Folklore. Die öffentliche Präsenz von nicht beteiligt. Gedenkstätten für die Opfer der NS-Gewalt- herrschaft blieb – außerhalb Wiens – hingegen DIE POPULISTISCHE ANTITHESE: marginal. Das Gedenken an die mehr als 66 000 OPFER DES KRIEGES GEGEN jüdischen Österreicher/innen, die der Shoah DEN NATIONALSOZIALISMUS zum Opfer fielen, sollte aber auch in der Bun- deshauptstadt bis in die 1980er Jahre eine Leer- In dieser Leerstelle konnte sich eine gegenläu- stelle bleiben. 20 fige Opfererzählung etablieren, die jahrzehnte- Die machtvolle, auf regionaler und lokaler lang innerhalb Österreichs weitaus wirkmäch- Ebene vielfach hegemoniale Gegenthese zur of- tiger war als die offizielle Selbstdarstellung als fiziellen Sprachregelung sah die Österreicher/in- „erstes Opfer“. Die populistische Antithese zum nen somit nicht als Opfer des Nationalsozialis- antifaschistischen Geist von 1945 manifestiert mus, sondern als Opfer des Krieges gegen den sich im „Heldengedenken“ an die Gefallenen. In Nationalsozialismus – zivile und militärische der Unabhängigkeitserklärung waren die öster- Opfer der alliierten Armeen, Opfer des Bomben- reichischen Wehrmachtssoldaten als Opfer eines krieges, Opfer von Vergewaltigungen durch Rot- „sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg[es]“ armisten. betrauert worden. Wenige Jahre später wurden Die gegensätzlichen Sichtweisen brachen fall- sie als „Helden“ der „Pflichterfüllung“ und der weise in Denkmalkonflikten auf. So weigerte sich „Tapferkeit“ gewürdigt, die die „Heimat“ ge- der niederösterreichische Kameradschaftsbund gen die „Feinde aus dem Osten“ verteidigt hät- 1963 an der Weihe einer Gedenkstätte für Pries- ten. Ab Beginn der 1950er Jahre wurden Krie- ter im niederösterreichischen Wallfahrtsort Ma- gerdenkmäler für den Ersten Weltkrieg um die ria Langegg teilzunehmen, weil in der Namens- Namen der Toten erweitert oder neu errichtet. liste nicht nur Gefallene des Ersten und Zweiten Die Aufmärsche und „Heldengedenkfeiern“ des Weltkriegs, sondern auch drei im KZ ermordete ab 1952 wieder zugelassenen Kameradschafts- Geistliche angeführt waren. Begründet wurde der bundes machten deutlich, dass es nicht allein um Boykott folgendermaßen: Die „ehrlichen Solda- das Totengedenken, sondern auch um die sym- ten, die das Priesterkleid trugen, ihren Eid hielten bolische Rehabilitierung der Wehrmachtssol- und dafür starben“, sollten nicht „mit den ver- daten ging. Bei der Weihe des 1951 errichteten schiedenen Erscheinungen gegensätzlicher Art“ Denkmals im Soldatenfriedhof des Zentralfried- gleichgestellt werden. 21 hofs von Graz, der zweitgrößten Stadt Öster- reichs, kommentierte die führende regionale 19 Dem Andenken der Gefallenen, in: Kleine Zeitung, 5. 6. 1951, Tageszeitung: „Es war eines der traurigsten Zei- S. 4. chen der Nachkriegszeit, daß die Überlebenden 20 Vgl. Heidemarie Uhl, From the Periphery to the Center of das Andenken ihrer Gefallenen auslöschen soll- Memory: Holocaust Memorials in , in: Dapim. Studies on the ten in selbstzerfleischender Anklage und grau- Holocaust 2/2016, S. 221–242. 21 NÖ. Landzeitung, F.37, 12. 9. 1963. Zit. nach Heidemarie Uhl, samer Selbstbeschuldigung. Wir können uns Kriegerdenkmäler, in: Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl nur freuen, daß diese Zeit überwunden ist und (Hrsg.), Memoria Austriae I. Menschen – Mythen – Zeiten, Wien daß sich die Heimat durch die Erneuerung und 2004, S. 545–559, hier S. 555.

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Kontrovers war insbesondere die Beurtei- ganisationen auf der Wiener Ringstraße einen lung des Kriegsendes – für die offizielle Opfer- machtvollen Fackelzug veranstalteten. Zu den these bedeutete das Jahr 1945 die Befreiung vom zahlreichen „Naziaktivitäten“ kamen skanda- Nationalsozialismus, für die populistische Ge- löse Freisprüche hochrangiger NS-Funktionä- genthese Bomben, Chaos, Not, Zusammenbruch, re (etwa 1963 im Prozess gegen Franz Murer, Übergriffe der sowje­ ­tischen Besatzungssoldaten den „Schlächter von Vilnius“). Wie bedrohlich und den Beginn der zehnjährigen Besatzungszeit. die Tendenzen einer „Renazifizierung“ 23 waren, Allerdings war dieses Konfliktpotenzial insofern wurde 1965 in der Affäre Borodajkewycz evi- entschärft, als „1945“ seit der Unterzeichnung dent. Taras Borodajkewycz, Professor für Neu- des Staatsvertrages mit „1955“ überschrieben ere Geschichte an der Wiener Hochschule für wurde. Bis in die jüngste Zeit war es eine öster- Welthandel, war durch deutschnationale und reichische Besonderheit, dass die „runden“ Jah- antisemitische Äußerungen aufgefallen, sein restage des Kriegsendes in der Geschichtskul- provokantes Auftreten in einer vom Fernsehen tur praktisch keine Rolle spielten. Denn in den übertragenen Pressekonferenz löste Demonstra- „5er Jahren“ wurde das Jubiläum des Staatsver- tionen von Gegnern und Anhängern aus (unter trages begangen, als Re-Inszenierung des eigent- anderem wurde dabei „Hoch Auschwitz!“ ge- lichen Gründungsmythos der Zweiten Republik, rufen), bei denen ein Demonstrant, der ehema- der Erfolgsgeschichte eines kleinen Landes zwi- lige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst schen den Blöcken, das den Großmächten seine Kirchweger, von einem einschlägig vorbestraf- Freiheit abgetrotzt hatte. Damit unterblieb aber ten Rechtsradikalen getötet wurde. 24 Die Chro- auch die Auseinandersetzung mit der Bedeutung nique scandaleuse setzte sich 1975 fort, mit dem des Jahres 1945. Eine Meinungsumfrage aus dem Konflikt zwischen Bundeskanzler Bruno Kreis- Jahr 1998 zeigt jedenfalls, dass nicht die Grün- ky und Simon Wiesenthal, als dieser den Einsatz dung der Zweiten Republik, sondern der 15. Mai von FPÖ-Parteiobmann Friedrich Peter in einer 1955 als eigentlicher Tag der Freiheit gilt. 20 Pro- berüchtigten SS-Einheit aufdeckte. zent der Befragten waren „stolz“ auf diesen Tag, Die offizielle Opferthese blieb von diesen nur ein Prozent votierte für den 27. April 1945. 22 Skandalen und Konflikten nicht unberührt, viel- mehr: Sie bezog daraus dynamische Impulse. In VON DER ENTLEGITIMIERUNG den medial ausgetragenen Kontroversen über ZUR REAKTIVIERUNG: das Wiedererstarken von Deutschnationalismus, TRANSFORMATIONEN Antisemitismus und NS-nahem Gedankengut DER OPFERTHESE formierten sich Gegenpositionen, getragen von konservativ-katholischen Patriot/inn/en, ehema- In der Waldheim-Debatte stand die Formulie- ligen Widerstandkämpfer/inne/n aller politischen rung vom „ersten Opfer“ als Angelpunkt der Richtungen und jungen Historiker/inne/n der österreichischen „Lebenslüge“ im Zentrum der 68er Generation. Die Kritik richtete sich nicht Kritik. Dem wäre entgegenzuhalten, dass – wie auf die Opferthese, sondern auf ihren Bedeu- gezeigt – die Opferthese keineswegs durch- tungsverlust in der politischen Kultur, vor allem gängig den Umgang mit der NS-Vergangenheit im Hinblick auf die mangelnde Anerkennung des bestimmte. Insbesondere nach der Wiederer- Widerstands als Grundlage für das Wiederstehen langung der vollen Souveränität erschien die Österreichs 1945. Es zählt zu den Verdiensten der Berufung auf den Widerstand, die seit Kriegs- in der Kreisky-Ära verstärkt institutionalisierten ende zur Erlangung des Staatsvertrags in Tref- wissenschaftlichen Zeitgeschichte, den vielfach fen geführt worden war, vielfach obsolet. Nach geleugneten oder als kommunistisch diffamier- 1955 mehrten sich zudem deutschnationale und „neonazistische“ Manifestationen. Als Fa- 23 Walter Hacker, Warnung an Österreich, in: ders. (Hrsg.), Neo- nal für das Wiedererstarken der alten und neu- nazismus: Die Vergangenheit bedroht die Zukunft, Wien–Frank­ en „Unbelehrbaren“ galt die Schillerfeier 1959, furt/M.–Zürich 1966, S. 7–14, hier S. 9. als Burschenschaften und deutschnationale Or- 24 Vgl. Gerard Kasemir, Spätes Ende für „wissenschaftlich“ vorgetragenen Rassismus. Die Affäre Borodajkewycz, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in 22 Vgl. Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl, Das kulturelle Ge- Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thaur–Wien–München dächtnis Österreichs. Eine Einführung, in: ebd., S. 9–25, hier S. 14 1995, S. 486–501.

51 APuZ 34–35/2018 ten „österreichischen Widerstand“ neu im Ge- Der Waldheim-Skandal und das zwei Jah- schichtsbewusstsein zu verankern und vor allem re danach anlässlich der 50-jährigen Wieder- in die Schulbücher zu bringen. Erst durch die his- kehr des „Anschlusses“ begangene „Gedenkjahr torisch-politische Bildungsinitiative der 1970er 1938/88“ brachten für Österreich jene katharti- Jahre (unter anderem durch den Grundsatzerlass sche Grundsatzdebatte um die verdrängte NS- „Politische Bildung“ 1978) wurde die Opferthese Vergangenheit 27, die charakteristisch für die eu- des Jahres 1945 in ihrem ursprünglichen anti-na- ropäischen „Memory Wars“ 28 im ausgehenden tionalsozialistischen Geist reaktiviert. Einen wei- 20. Jahrhundert ist. Auch das traditionelle Gefal- teren kaum zu unterschätzenden Einfluss hatte lenengedenken wurde nun in neuem Licht gese- die emotionale Erschütterung durch die Fernseh- hen: als machtvolles Symbol für die nach wie vor serie „Holocaust“, 1979 kurz nach der Ausstrah- ungebrochene Präsenz der „unbewältigten Ver- lung in der Bundesrepublik auch im ORF gesen- gangenheit“ in der regionalen und lokalen Erin- det. Dieser Wissenshorizont war prägend für jene nerungskultur. Kriegerdenkmäler repräsentierten Generation, die 1986 den Kampf gegen das Ge- jenen „braunen, unterirdischen Fluß“ (Josef Has- schichtsbild der Verharmlosung und Verdrän- linger), aus dem sich die gefühlsmäßigen Bindun- gung aufnehmen sollte, das von Kurt Waldheim gen an die NS-Zeit speisten. 29 Sie wurden zum symbolisiert ­wurde. Indikator für die Verbreitung eines Geschichts- bewusstseins, das „eindeutig und unversöhnlich“ WALDHEIM-AFFÄRE 1986: DAS im Widerspruch zur „Philosophie“ der Zweiten ZERBRECHEN DES OPFERMYTHOS Republik steht, wie der Politologe Anton Pe- UND DIE EUROPÄISIERUNG linka in der ersten Studie zum problematischen DES ÖSTERREICHISCHEN „Heldengedenken“ an die Wehrmachtssoldaten GEDÄCHTNISSES schrieb: „Nichts von der Befreiung Österreichs durch die Alliierten und durch den österreichi- Im Epizentrum der Waldheim-Affäre stand der schen Widerstand, nichts von der Besetzung Ös- berühmte Satz, mit dem sich der ÖVP-Präsi- terreichs durch Deutschland.“ 30 Die auch in dentschaftskandidat gegen den Vorwurf der Ver- österreichischen Städten gezeigte „Wehrmachts- wicklung in Kriegsverbrechen auf dem Balkan ausstellung“ sollte wenige Jahre später die Legen- rechtfertigte: „Ich habe im Krieg nichts ande- de von der „sauberen Wehrmacht“ grundsätzlich res getan als Hunderttausende andere Österrei- infrage stellen. cher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt“. 25 In den 1990er Jahren entwickelte sich eine Das Ausmaß an Unverständnis und Ablehnung, „Synchronisierung der Gedächtnislandschaf- auf das Waldheims Aussage über die „Pflichter- ten“, 31 nicht allein mit der Bundesrepublik füllung“ in der Wehrmacht stieß, war durchaus Deutschland, sondern analog zur Neuausrich- erstaunlich. Ein Jahrzehnt zuvor hatte dieses Ar- tung der europäischen Erinnerungskultur. 1991 gument noch keinen Anstoß erweckt. 1975 hatte erfolgte die offizielle Distanzierung von der Op- sich FPÖ-Parteiobmann Friedrich Peter mit den ferthese. Bundeskanzler Franz Vranitzky be- Worten „Ich habe lediglich meine Pflicht erfüllt“ kannte sich in seiner Rede vor dem Parlament gegen Simon Wiesenthals Aufdeckung seiner SS- zur „Mitverantwortung für das Leid, das zwar Vergangenheit verteidigt. Kurt Waldheims Recht- nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger die- fertigung, dass er „nach vielen Jahren im Ausland nicht wissen habe können, daß sich mittlerwei- le das geistige Klima in Österreich dahingehend 27 Vgl. Cornelius Lehnguth, Waldheim und die Folgen. Der par- verändert habe, daß ein solcher Satz nicht mehr teipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, 26 Frank­furt/M. 2013. selbstverständlich von allen akzeptiert werde“, 28 Vgl. Dan Stone, Memory Wars in the „New Europe“, in: kann insofern eine gewisse Schlüssigkeit nicht ab- ders. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Postwar European History, gesprochen werden. Oxford 2012, S. 715–731. 29 Josef Haslinger, Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich, Darmstadt-Neuwied 1987, S. 65. 25 Kurt Waldheim in einer Wahlbroschüre vom April 1986. Zit. 30 Anton Pelinka, Vorwort, in: Reinhold Gärtner/Sieglinde nach Neues Österreich (Hrsg.), Pflichterfüllung. Ein Bericht über Rosenberger, Kriegerdenkmäler. Vergangenheit in der Gegenwart, Kurt Waldheim, Wien 1986 (Einband). Innsbruck 1991, S. 7 f. 26 Menasse (Anm. 11), S. 14 f. 31 Hammerstein (Anm. 1), S. 458 ff.

52 Österreich APuZ ses Landes über andere Menschen und Völker de Generationen als Mahnung für die Zukunft gebracht haben“. 32 ­sorgen.“ 33 1997 wurde – nach deutschem Vorbild – ein Es ist wohl kein Zufall, dass der Ton dieses Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialis- Bekenntnisses an die Stockholm Declaration vom mus beschlossen, mit Zustimmung aller Parla- 27. Januar 2000 erinnert, unterzeichnet von mehr mentsparteien. Allerdings fiel die Wahl nicht auf als zwanzig Staats- und Regierungschefs beim den 27. Jänner, sondern auf den 5. Mai, den Tag Stockholm International Forum on the Holo- der Befreiung des Konzentrationslagers Maut- caust, einer der ersten hochrangigen internatio- hausen – wohl auch um eine Differenz zur Bun- nalen Konferenzen des neuen Jahrtausends. Bei desrepublik zu markieren. Am 26. Oktober 2000, dieser Konferenz wurde erstmals auf hochrangi- zum Datum des Nationalfeiertags, wurde das ger politischer Ebene der Holocaust als singuläres Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz ent- historisches Ereignis und Bezugspunkt einer eu- hüllt. Den Medienberichten ist auch eine gewis- ropäischen und potenziell globalen Erinnerungs- se Genugtuung darüber zu entnehmen, dass Wien kultur gewürdigt. 34 dieses Projekt vor Berlin realisiert hatte. Regie- Angesichts der Orientierung der österreichi- rungsvertreter waren nicht geladen, wegen der schen Erinnerungskultur am europäischen be- Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Hai- ziehungsweise globalen Holocaust-Gedächtnis 35 der erschien dies unangemessen. ist es bemerkenswert, dass das Jahr 1945 erst spät Im Februar 2000 war Wolfgang Schüssel in die Diskussion geriet. Die berühmte Rede des (ÖVP) eine Koalition mit der FPÖ eingegan- deutschen Bundespräsidenten Richard von Weiz- gen. Die erstmalige Regierungsbeteiligung einer säcker anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsen- rechtspopulistischen Partei in einem Land der des hatte in Österreich praktisch keine Resonanz – EU galt als Verletzung des europäischen Wer- 1985 wurde hier traditionell der Staatsvertrag tekonsenses und führte zu Protesten in ganz gefeiert. „1945“ war aber nach wie vor ein subku- Europa. Der Versuch der EU-Mitgliedsstaa- tanes geschichtspolitisches Minenfeld: Wurde Ös- ten, diesen Tabubruch durch „Sanktionen“ zu terreich besetzt oder befreit? begegnen, war zwar rasch zum Scheitern ver- Auf die Agenda geriet dieses Datum para- urteilt, führte aber doch dazu, dass sich FPÖ- doxerweise durch die seit 2002 von schlagenden Obmann Jörg Haider und der ÖVP-Vorsit- Burschenschaften abgehaltene Totenehrung am zende und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel 8. Mai in der Krypta des österreichischen Hel- auf Verlangen von Bundespräsident Thomas dendenkmals für die Gefallenen des Ersten und Klestil in einer Präambel zum Regierungspro- Zweiten Weltkriegs im Äußeren Burgtor der gramm zu den „grundlegenden Werten der De- Wiener Hofburg. Im April 2002 hatten Rechts- mokratie in Europa“ bekennen mussten. Dazu extreme und Burschenschaften auf dem Helden- zählte vor allem auch die Selbstverpflichtung platz gegen die Wehrmachtsausstellung demons- zur „kritischen Auseinandersetzung mit der triert, mit Plakaten, auf denen „Großvater wir NS-­Vergangenheit“: „Österreich stellt sich sei- danken dir“ und „Wehrmachtssoldaten – wir ge- ner Verantwortung aus der (…) Geschichte des denken Eurer Heldentaten“ zu lesen war. Am 20. Jahrhunderts und den ungeheuerlichen Ver- 8. Mai 2002 wurde erstmals eine Totengedenk- brechen des nationalsozialistischen Regimes feier für die Wehrmachtssoldaten abgehalten, die (…) Die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit auf starke öffentliche Kritik stieß. Bis 2012 wie- des Verbrechens des Holocaust sind Mahnung derholte sich jährlich das gleiche Schauspiel: Der zu (…) Wachsamkeit gegen alle Formen von Heldenplatz wurde am 8. Mai weiträumig abge- Diktatur und Totalitarismus. Die Bundesregie- sperrt, Gegendemonstrationen der Zugang zum rung (…) wird für vorbehaltlose Aufklärung, Platz verweigert. Die Burschenschaften wurden Freilegung der Strukturen des Unrechts und Weitergabe dieses Wissens an nachkommen- 33 Präambel des Regierungsprogramms. Zit. nach www.welt.de/ print-welt/article500574/Die_Praeambel_des_Regierungsprogramms.​ ​ html. 32 Zit. nach Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hrsg.), Kontro- 34 Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den versen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Holocaust, www.holocaustremembrance.com/stockholm-declaration. Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt/­ M.– 35 Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen New York 20082, S. 575 f. Zeitalter: Der Holocaust, Frank­furt/M. 2007.

53 APuZ 34–35/2018 durch ein massives Polizeiaufgebot abgeschirmt auch durch Tabubrüche in Bezug auf Nationalso- und konnten den Platz exklusiv für ihre provo- zialismus und Antisemitismus profiliert. Erstaun- kante Heldenehrung nutzen. 2012 organisierter licherweise zählte der Beschluss zur Errichtung eine Plattform zivilgesellschaftlicher Initiativen von zwei bereits länger geplanten Denkmälern – ein „Fest der Befreiung“, dem ein Teil des Hel- eine Mauer mit den Namen der Holocaust-Opfer denplatzes zugestanden wurde. Seit 2013 wird der in Wien und das Denkmal für die in Maly Trosten- Tag des Kriegsendes mit einem „Fest der Freude“ ez ermordeten Österreicher/innen – zu den ersten auf dem ganzen Heldenplatz gefeiert, das Bun- Aktivitäten der ÖVP-FPÖ-Regierung. Seit Jah- desheer beteiligt sich daran mit einer Mahnwache resbeginn erregten allerdings immer wieder anti­ für die Opfer des National­sozialismus. 36 semitische „Vorfälle“ in der FPÖ und den ihnen Der Konflikt um den 8. Mai am Heldenplatz nahestehen deutschnationalen Burschenschaften­ mag dazu beigetragen haben, dass 2015 nicht der Aufsehen. 38 Mit Spannung wurden daher die mitt- Staatsvertrag, sondern erstmals das Kriegsende im lerweile etablierten offiziellen Gedenkanlässe zum Vordergrund stand. Der Festakt zum 70. Jahrestag internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Jän- der Gründung der Republik Österreich eröffne- ner und zum Gedenktag am 5. Mai erwartet. Fast te den Rahmen für eine Grundsatzerklärung von schien es, als wäre das Gedenken an die Opfer des Bundespräsident Heinz Fischer: „Hat es nicht lan- Nationalsozialismus bereits glatte Routine, hätte ge Zeit Streit über die Frage gegeben, ob Öster- nicht der Schriftsteller Michael Köhlmeier mit sei- reich 1945 tatsächlich befreit wurde, oder ob es ner Rede bei der Gedenkfeier zum 5. Mai für ei- nicht eher aus der Unfreiheit in Großdeutschland nen Eklat gesorgt: Er wolle den Opfern des Na- in die Unfreiheit durch die Besatzungsmächte ge- tionalsozialismus „in die Augen sehen können“ raten ist? Die klare Antwort lautet wie folgt: Ös- – „Diese Menschen höre ich fragen: Was wirst terreich ist 1945 von einer unmenschlichen verbre- du zu jenen sagen, die hier sitzen und einer Par- cherischen Diktatur befreit worden.“ 37 Dass bei tei angehören, von deren Mitgliedern immer wie- diesem Staatsakt der deutsche Bundespräsident Jo- der einige, nahezu im Wochenrhythmus, naziver- achim Gauck als Ehrengast eine Rede hielt, ist ein harmlosende oder antisemitische oder rassistische bemerkenswerter Indikator für die Entkrampfung Meldungen abgeben (…)?“ 39 des Verhältnisses zu Deutschland: Die Abgrenzung Ob Gedenkfeiern für die Opfer des National­ zum „großen Nachbarn“ war ja ein Grundmotiv sozialismus weiterhin eine Reibungsfläche blei­ im österreichischen nation building seit 1945. ben, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Am österreichischen Beispiel zeichnet sich jedoch SCHLUSS ab, dass der moralische Imperativ der Erinnerung an den Holocaust – die Verpflichtung zum Kampf 2018 begeht Österreich wieder ein Gedenkjahr – gegen Rassismus und Antisemitismus – Auflö­ 100 Jahre Ausrufung der Republik, 70 Jahre „An- sungserscheinungen zeigt. Das Holocaust-Ge­ schluss“. Die Rahmenbedingungen haben sich denken ist mittlerweile zu einem symbolischen durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ aber- Kapital offizieller Geschichtspolitik geworden, mals verändert. Die FPÖ hatte aus ihren histori- die Orientierung an den damit verbundenen nor­ schen Verbindungen zum Lager der „Ehemaligen“ mativen Werten ist nicht mehr zwingend notwen­ nie ein Hehl gemacht, und Jörg Haider hatte sich dig. Das zeigt nicht zuletzt die eindrucksvolle Gedenkrede von FPÖ-Parteiobmann und Vize­ 36 Heidemarie Uhl, Von Helden und Opfern, in: Peter Stachel kanzler Heinz-Christian Strache bei einer neu eta­ (Hrsg.), Mythos Heldenplatz. Hauptplatz und Schauplatz der blierten Wiener Gedenkfeier am Tag der Interna­ Republik, Wien 2018, S. 174–179. tionalen Befreiungsfeier in Mauthausen. 37 Staatsakt zu „70 Jahre Republiksgründung“: Rede des Bundes- präsidenten, 27. 4. 2015, www.bundespraesident.at/newsdetail/ artikel/staatsakt. HEIDEMARIE UHL 38 Vgl. Mauthausen Komitee Österreich, Lauter Einzelfälle? Die ist habilitierte Historikerin am IKT Institut für FPÖ und der Rechtsextremismus, Wien 2018. Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der 39 Rede von Michael Köhlmeier, 5. 5. 2018, www.erinnern.at/ Österreichischen Akademie der Wissenschaften bundeslaender/oesterreich/gedenktage/5.-mai-gedenktag-gegen- gewalt-und-rassismus-im-gedenken-an-die-opfer-des-nationalso- Wien und Lehrbeauftragte an den Universitäten zialismus/michael-koehlmeiers-gedenkrede-die-dinge-beim-name- Wien und Graz. nennen/Rede%20Michael%20Koehlmeier.pdf [email protected]

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ZUR DISKURSIVEN KONSTRUKTION ÖSTERREICHISCHER IDENTITÄTEN 1995–2015 Rudolf de Cillia · Ruth Wodak

In diesem Beitrag fassen wir Forschungsarbei- interpretiert, wobei wir von einer dialektischen ten zur österreichischen Identität der vergange- Wechselwirkung zwischen diskursiven Ereignis- nen zwei Jahrzehnte am Institut für Sprachwis- sen und den sozialen/gesellschaftlichen Struktu- senschaft der Universität Wien zusammen. Durch ren, in die sie eingebettet sind, ausgehen. Einer- eine longitudinale Perspektive auf Entwicklun- seits formen und beeinflussen soziale Kontexte gen zwischen 1995 und 2015 wird erstmalig ein die Diskurse, andererseits beeinflussen Diskurse Blick auf Konstanten und Veränderungen in der die soziale und politische Realität. Konstruktion österreichischer Identitäten in die- Um die Vernetzung von diskursiven Praktiken sem Zeitraum ermöglicht. 01 Anlass für die For- und außersprachlichen gesellschaftlichen Struk- schungsprojekte waren die drei Jubiläumsjahre turen zu erfassen, kombinieren wir verschiede- 1995 (50 Jahre Zweite Republik, 40 Jahre öster- ne linguistische und sozialwissenschaftliche Me- reichischer Staatsvertrag), 02 2005 (60 Jahre Zwei- thoden. Damit soll ein möglichst detailliertes Bild te Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre österreichischer Identitätskonstruktionen in öf- EU-Mitgliedschaft) 03 und 2015 (70 Jahre Zwei- fentlichen, halböffentlichen und quasiprivaten te Republik, 60 Jahre Staatsvertrag und 20 Jahre Settings verschiedener Formalitätsgrade gezeich- EU-Mitgliedschaft). 04 Die Forschungen verorten net werden. sich methodisch in der Wiener Schule der kriti- schen Diskursanalyse, dem „diskurshistorischen ZENTRALE Ansatz“ (DHA), 05 und haben entscheidend dazu ANNAHMEN beigetragen, diesen weiterzuentwickeln. Im Fol- genden stellen wir zunächst den DHA kurz dar; Wir gehen davon aus, dass Nationen mentale anschließend skizzieren wir zentrale theoreti- Konstrukte sind, „vorgestellte Gemeinschaften“ sche Konzepte, analysierte Korpora und wichti- im Sinne Benedict Andersons, 06 repräsentiert als ge Analysedimensionen. Schlussendlich erläutern souveräne und begrenzte politische Einheiten. wir einige Ergebnisse beispielhaft an inhaltlichen Weiter, dass nationale Identitäten diskursiv pro- Dimensionen der Konstruktion von österreichi- duziert, reproduziert, aber auch transformiert schen Identität/en. und demontiert werden. Dabei ist unter „nati- onaler Identität“ ein im Zuge der „nationalen“ DISKURS ALS (schulischen, politischen, medialen, sportlichen, SOZIALE PRAXIS alltagspraktischen) Sozialisation internalisierter Komplex von gemeinsamen und ähnlichen Vor- Für den DHA ist einerseits der systematische stellungen beziehungsweise Wahrnehmungssche- Einbezug des historischen Kontexts wichtig, an- mata, von gemeinsamen und ähnlichen emoti- dererseits das Prinzip der Methodentriangulie- onalen Einstellungen und Haltungen und von rung. Multimodale, schriftliche und mündliche gemeinsamen und ähnlichen Verhaltensdispositi- Daten werden unter Berücksichtigung möglichst onen zu verstehen. aller zugänglichen Informationen über die his- Die gemeinsamen und ähnlichen Vorstellun- torische Einbettung diskursiver Ereignisse ana- gen betreffen in unserem Fall bestimmte Inhalte lysiert. Diskurs wird, wie in anderen diskurs- nationaler Identität, aber auch andere nationale analytischen Zugängen, als Form sozialer Praxis „Sie-Gruppen“. Die gemeinsamen und ähnlichen

55 APuZ 34–35/2018 emotionalen Einstellungen und Haltungen bezie- angebotenen Identitätsentwürfen und den „All- hen sich auf die jeweilige, willkürlich definierte tagsdiskursen“ besteht eine wechselseitige Beein- „In-group“ einerseits und auf die jeweiligen – im- flussung. Aus diesem Grund untersuchen unse- mer wieder wechselnden – „Out-groups“ ande- re Studien verschiedene Korpora von Texten aus rerseits. Zu den Verhaltensdispositionen zählen dem öffentlichen, halböffentlichen und quasipri- sowohl Dispositionen zur Solidarisierung mit der vaten Bereich. „Wir-Gruppe“ als auch die Bereitschaft zur Aus- grenzung der „Anderen“. KORPORA, INSTRUMENTARIUM Außerdem ist davon auszugehen, dass in den UND DIMENSIONEN DER ANALYSE diskursiven Konstruktionen nationaler Identität/ en vor allem die nationale Einzigartigkeit (Singu- Unsere Analysemethoden wurden zunächst 1995 larität) und innernationale Gleichheit (Homoge- im Wechselspiel zwischen einer eingehenden nität) betont, innernationale Differenzen dage- theoretischen Auseinandersetzung mit der Li- gen großteils ausgeblendet werden. Damit wird teratur und einer pilotmäßigen Analyse des Da- eine größtmögliche Differenz zu anderen Nati- tenmaterials in einem abduktiven Verfahren ent- onen entworfen. Mitglieder einer Nation setzen wickelt, in qualitativen Fallstudien angewandt 07 sich über diese Betonung der Differenz besonders und dann 2005 und 2015 entsprechend den neu- von jenen Nationen ab, die der eigenen besonders en technischen Möglichkeiten weiterentwickelt ähnlich sind (eine These, die sich mit Sigmund (1995 waren beispielsweise korpuslinguistische Freud als „Narzissmus der kleinen Differenzen“ Verfahren noch nicht möglich). Die Tabelle fasst auf den Punkt bringen lässt) – also beispielswei- alle Daten zusammen, die analysiert wurden, wo- se ÖsterreicherInnen von ihren deutschen Nach- bei die Gruppendiskussionen (GD) und Inter- barn. views den halböffentlichen Diskurs, die ande- Besonders betonen wollen wir, dass es die ren schriftlichen, mündlichen und multimodalen eine nationale Identität nicht gibt, sondern viel- Texte den öffentlichen, also den medialen und po- mehr werden je nach Öffentlichkeit, Setting und litischen, Diskurs repräsentieren. Thema unterschiedliche Identitäten angespro- In der systematischen Textanalyse unter- chen und damit relevant. Nationale Identitäten scheiden wir drei Ebenen: Inhalte der nationalen werden also als variabel, dynamisch, brüchig und Identität, diskursive Strategien der Argumenta- ambivalent begriffen. Zwischen den von den po- tion und sprachliche Realisierungsformen, wo- litischen, ökonomischen Eliten sowie den Medien bei nur die Inhalte spezifisch für den Diskurs zu nationalen Identitäten sind. Die Inhalte der na- tionalen Identität setzen sich aus fünf Dimen- 01 Der Beitrag berichtet Ergebnisse des vom FWF finanzierten sionen zusammen: die Imagination eines/einer Projekts „Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität/ en 2015“ (P 27153). Wir danken Markus Rheindorf für wichtige „homo/femina nationalis“ (eines/einer „typi- Hinweise und Kommentare. schen“ Vertreters/in einer Nation); die Narration 02 Vgl. Ruth Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion nationa- einer gemeinsamen politischen Geschichte („Ur- ler Identität, Frank­furt/M. 1998. sprungsmythos“); die sprachliche Konstruktion 03 Vgl. Rudolf de Cillia/Ruth Wodak, Ist Österreich ein „deut- einer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft; die sches“ Land? Sprachenpolitik und Identität in der Zweiten Republik, Innsbruck u. a. 2006; dies., Gedenken im „Gedankenjahr“. Zur sprachliche Konstruktion eines „nationalen Kör- diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten im Jubilä- pers“; die sprachliche Konstruktion einer ge- umsjahr 2005, Innsbruck 2009; Ruth Wodak et al., The Discursive meinsamen Kultur. Construction of National Identities, Edinburgh 20092. Die zweite Analyseebene betrifft die Stra- 04 Vgl. Ruth Wodak et al., Zur diskursiven Konstruktion österrei- tegien der Argumentation. Darunter verste- chischer Identität/en 2015, Berlin 2018 (i. V.). 05 Vgl. Martin Reisigl/Ruth Wodak, The Discourse-Historical hen wir mehr oder weniger automatisierte oder Approach, in: Ruth Wodak/Michael Meyer (Hrsg.), Methods of aber bewusste, auf den verschiedenen Ebenen Critical Discourse Studies, London 2006, S. 23–61; Markus Rhein- der mentalen Organisation angesiedelte, mehr dorf, Diskursanalyse in der Linguistik: Der Diskurshistorische Ansatz, oder weniger elaborierte Handlungspläne. Die- in: Florian Wilk (Hrsg.), Sprache und Identität. Tagungsband der se können angesichts der unterschiedlichen Ent- Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Neunkirchen 2017, S. 17–62. stehungs- und Äußerungsbedingungen der er- 06 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karrie- re eines erfolgreichen Konzepts, Frank­furt/M.–New York 1988. 07 Vgl. Wodak et al. (Anm. 2).

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Tabelle: Daten 1995, 2005, 2015

TEXTSORTEN/TEXTE 1995 2005 2015 Gedenk- und Festreden 23 17 15 ca. 600 (zu den ca. 400 (zu den Print-Artikel Themen Neutralität Affären um Kampl 16 733 und Sicherheitspolitik) und Gudenus) 456 (teilweise TV- und Radio-Sendungen verschriftet) Werbung 20 10 54 Museums- und Ausstellungskataloge 5 11 Gruppendiskussionen (verschriftet) 7 2 8 Interviews (verschriftet) 24 13 Parteiprogramme, 42 Parlamentsdebatten 1998–2015, 757 Gesetze 154 Rechtsprechung ab 1998 (zu Asyl, 92 505 Staatsbürgerschaft, Fremdenrecht)

fassten Dokumente unterschiedliche Grade an in folgendem Beispiel: „Immer klarer erkennen Intention und Finalität aufweisen. Das folgen- wir Österreicher heute wieder unseren Platz im de Beispiel illustriert, wie eine „innernationale Zentrum Europas. Aus einer Randlage sind wir Gleichheit oder Ähnlichkeit“ imaginiert wird: in die Mitte gerückt. … Das bedeutet auch Hi- 2006 verglich eine Seniorin in einer Gruppen- neinwachsen in die gemeinsame Heimat Europa, diskussion stereotyp die ÖsterreicherInnen mit ohne dass uns dabei die Heimat Österreich verlo- anderen typischen VertreterInnen von Natio- ren gehen darf.“ (Bundeskanzler Schüssel, Rede nen, indem sie Erfahrungen aus ihrem Berufsle- anlässlich des Staatsvertragsjubiläums am 15. Mai ben resümierte: „…und da hab ich trotzdem ge- 2005). Oder das „Wir“ kann „historisch expan- funden, dass wir Österreicher, ah:, wir san schnell diert“ sein, wie in folgendem Beispiel, in dem wie die Italiener, gscheit wie die Sch(weizer)/ es neben den lebenden ÖsterreicherInnen auch ah, akkurat, wie die Deutschen: damals waren, noch verstorbene inkludiert: „(…) unsere beiden u:nd/ also eher überall das Positive würd ich Kriege, wos ma verloren hobm“ (GD 1995, der hervor(kehren).“ (GD 2006) Sprecher ist nach 1945 geboren). Die dritte Dimension betrifft die sprachli- Eine wichtige Funktion erfüllen darüber hi- chen Realisierungsmittel und Realisierungs- naus rhetorische Figuren, wie die Personifika- formen, wobei wir in den Analysen jene rhe- tion, die der abstrakten Entität „Nation“ eine torischen Muster, lexikalischen Elemente und menschliche Gestalt gibt und dadurch zu einer syntaktischen Mittel fokussieren, die Einheit, emotionalen Identifikation einlädt:„Das Drama Gleichheit, Differenz, Einzigartigkeit, Kontinu- dieses sechsjährigen Krieges und das Trauma des ität, Autonomie und Heteronomie realisieren. nationalsozialistischen Terrorregimes werfen aber Hier seien nur zwei Beispiele angeführt: Im Dis- düstere Schatten auf die Wiege dieser rotweißro- kurs über nationale Identitäten kommt dem Pro- ten Wiedergeburt, aber das Kind lebt. Inmitten nomen „wir“ und den entsprechenden Possessiva von Ruinen, Not, Hunger und Verzweiflung lebt eine zentrale Bedeutung zu. Ein derartiges „nati- dieses kleine, neue Österreich, weil an diesem Tag onales Wir“ kann entweder nur die heutigen ös- alle nach vorne schauen.“ (Bundeskanzler Schüs- terreichischen StaatsbürgerInnen umfassen, wie sel, Rede am 27. April 2005)

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Darüber hinaus kann eine solche Personifi- Ein zentraler Gründungsmythos der Zweiten kation eine nativistische „Bodypolitik“ anzei- Republik ist die Unterzeichnung des österreichi- gen, also ein Verständnis von Nation als „Volks- schen Staatsvertrags am 15. Mai 1955 im Schloss körper“ und einem durchaus anachronistischen Belvedere in Wien. „Der Staatsvertrag ist die Ge- Volksbegriff; solche Umdefinitionen finden sich burtsurkunde unserer Freiheit“, formulierte es 2015 vermehrt in renationalisierenden Diskursen der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel rechtspopulistischer und national-konservativer in einer Fernsehansprache am 14. Mai 2005 an- Parteien. lässlich des 50. Staatsvertragsjubiläums. Die Sze- ne der Unterzeichnung und die Erklärung „Ös- DISKURSIVER UND INHALTLICHER terreich ist frei!“ von Außenminister Leopold WANDEL 1995–2005–2015 Figl am 15. Mai 1955 ist derart tief im kollektiven nationalen Gedächtnis verankert, dass man die- Die Konstruktion eines/einer „homo/femina se Balkonszene jederzeit abrufen und für ande- nationalis“ ist für Identitätspolitik zentral und re Zwecke, zum Beispiel in der Werbung oder in umfasst oft polarisierende Diskussionen über die der Kunst, rekontextualisieren kann. Entschei- Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit zu einer Na- dend dafür ist, dass der Ausruf Figls in der öf- tion, in unserem Fall zu Österreich: Wer ist „der fentlichen Wahrnehmung auf dem Balkon des echte Österreicher“ beziehungsweise „die ech- Schlosses erfolgte – eine Tonmontage, die eben- te Österreicherin“? Wer ist ein- und wer aus- sowenig den historischen Tatsachen entspricht, geschlossen – Debatten, die die Öffentlichkeit wie die viele Jahrzehnte verwendete Fotomonta- besonders während und nach der Flüchtlingsbe- ge, die alle Repräsentanten gleichzeitig zum Be- wegung 2015/16 bis heute bewegen. Welche Ei- trachter blicken ließ. Für das „Gedankenjahr“ genschaften müssen diese besitzen? Themensträn- 2005 wurde eigens ein Kranwagen mit einer ge wie die emotionale Beziehung zu Österreich, Nachbildung des Balkons im Belvedere herge- eine angenommene typische nationale Mentalität stellt, der durch Österreich fuhr und den Passan- und vermeintliche nationale Verhaltensdisposi- ten besteigen konnten, um darauf selbst „Öster- tionen und Werte spielen eine gewichtige Rolle; reich ist frei“ zu verkünden. 08 weiter verschiedene Momente der biografischen 2015 wurde im Gegensatz zu 2005 am 15. Mai Genese (Zufall, Fügung, Abstammung, Ort der in dem Zimmer des Schlosses Belvedere, in dem Geburt, des Aufwachsens und des Wohnens, der der Staatsvertrag unterzeichnet wurde, eine we- Sozialisation) sowie die „Aktivierung“ der nati- sentlich exklusivere Gedenkfeier der Bundesre- onalen Identität in bestimmten Situationen (zum gierung abgehalten; auf einem Pult vor den ver- Beispiel im ­Ausland). sammelten Politikerinnen wurde das Original des Ein typischer Ausdruck der emotionalen Bin- Staatsvertrags einer Reliquie gleich ausgestellt. dung an die Nation ist das „Bekenntnis zu Ös- Die Feiern 2015 gerieten angesichts unvorher- terreich“ oder der „Nationalstolz“. Letzteren gesehener globaler Ereignisse, wie der Flücht- illustriert das folgende Zitat: „Wos mich ols Öster- lingsbewegung, den Terrorakten in Paris oder der reicher mochn tuat is daß i/is des interessant weil Euro-Krise, in den Hintergrund. Transnationale ich den Wiederaufbau – Österreichs – – erst ols und globale Entwicklungen nahmen auf nationale klaner Bua – und nochher – als Berufstätiger er- Gedenkfeiern und nationale Politik wesentlichen lebt hob ne? – und ich glaub – man soll nicht man Einfluss und bedingen damit den (missglück- kann nicht man muß sogor – stolz sein Österrei- ten) Versuch immer stärkerer Grenzziehung und cher zu sein. anders kann i mir s net vorstelln.“ ­Abschottung. (GD 1995) Bei der Konstruktion einer gemeinsamen Die Konstruktion einer gemeinsamen politi- politischen Gegenwart und Zukunft unter- schen Geschichte dient der Erstellung von Grün- scheiden wir unter anderem folgende Inhalte: dungs- und Ursprungsmythen, die Helden, Siege Staatsbürgerschaft, politische und soziale Errun- und Niederlagen zum Ausgangspunkt historischer genschaften, gegenwärtige und zukünftige politi- Narrative machen. Eine besondere Rolle spielt in sche Probleme, Krisen und Gefahren, zukünftige diesem Fall die österreichische NS-Vergangenheit, politische Ziele und politische Tugenden. Her- vor allem hinsichtlich der Rollen als Täter, Opfer, Mitwisser und Mittäter an den NS-Verbrechen. 08 Vgl. de Cillia/Wodak 2009 (Anm. 3).

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Abbildung: Komposita des Wortes „Grenze“ in der Medienberichterstattung 2015

vorheben wollen wir in diesem Zusammenhang ritoriums mit seinen Grenzen, seiner natürli- die wechselnden Haltungen zur Neutralität: 1995 chen Beschaffenheit und seinen Landschaften, war die Frage der österreichischen Neutralität in- aber auch mit seiner Umgestaltung und seinen sofern wichtig, als sie Anhänger der politischen physischen Artefakten von nationaler Geltung. linken (pro) und rechten Parteien (contra) trenn- Bestimmte politisch-symbolisch besetzte Bau- te, 09 2005 und 2015 stand die Beibehaltung der denkmäler gelten ebenso als Teil des „nationa- Neutralität wieder außer Frage. len Körpers“ wie die Körper herausragender ös- Hingegen bleiben sowohl 1995, 2005 und terreichischer SpitzensportlerInnen (etwa 1995 auch 2015 die sozialen und politischen Errungen- Franz Klammer, 2005 Hermann Maier, 2015 Mar- schaften Österreichs relevant, die vor allem von cel Hirscher), die bei sportlichen Wettkämpfen der älteren Generation besonders betont werden. als partes pro toto für Österreich antreten. So äußerte sich 2006 eine Seniorin in der Grup- 2015 rückten Österreichs Außengrenzen auf- pendiskussion: „was ich vor allem an Österreich grund der Fluchtbewegungen ins Zentrum pola- schätze, die wirtschaftliche Sicherheit, es ist eine risierter politischer und medialer Diskurse. Die Grundsicherheit, die wir alle haben, und i möchte Abbildung zeigt, welche Komposita des Wortes sagen, das ist nicht selbstverständlich.“ (GD 2006) „Grenze“ in der Medienberichterstattung über Ähnlich formulierte es ein Senior 2015: „… und die österreichische Flüchtlingspolitik vorkom- jetzt erleb ich s/ erleb ich so eine VOLLE österrei- men und wie diese den Grenzraum sprachlich chische Identität, ((ea)) indem ich dankbar bin für neu besetzen und strukturieren. 10 Dies ist im Zu- das soziale System“ (GD 2015). sammenhang mit dem schon genannten Streben Außerdem untersuchen wir die vielfachen Be- nach starker Renationalisierung zu sehen, die von deutungen des „nationalen Körpers“, das heißt einer rechtspopulistischen Politik, im Verein mit die diskursive Konstruktion des nationalen Ter-

10 Vgl. Markus Rheindorf/Ruth Wodak, Borders, Fences, and Li- 09 Vgl. András Kovács/Ruth Wodak (Hrsg.), NATO, Neutrality mits. Protecting Austria from Refugees: Metadiscursive Negotiation and National Identity: The Case of Austria and Hungary, Wien of Meaning in the Current Refugee Crisis, in: Journal of Immigrant 2003. and Refugee Studies 1–2/2018, S. 15–38.

59 APuZ 34–35/2018 dem Boulevard, mittels Panikmache forciert wur- ABSCHLIEẞENDE de, um davon politisch zu profitieren. 11 BEMERKUNGEN Die Konstruktion einer gemeinsamen Kultur schließlich wird in Bezug auf Sprache, Religion/ Die vielfältigen und differenzierten Ergebnisse un- „Werte“, Kunst, Wissenschaft und Technik sowie serer Longitudinalstudie zu österreichischen Iden- Alltagskultur (etwa Sport, Ess- und Trinkkultur, titäten können in diesem Rahmen nur kurz angeris- Kleidung) analysiert. Das folgende Beispiel zeugt sen werden. Fokussieren wollen wir im Folgenden in diesem Zusammenhang von der Bedeutung ei- vor allem auf wesentliche Veränderungen und dis- ner gemeinsamen Sprache: „Ahm wos mi zum Ös- kursiven Wandel in den gut zwei Jahrzehnten. terreicher mocht, mir is als erstens eigentlich die Inszenierte Symbolpolitik wird wichtiger: SPRAche eingfalln, da doch sozusagen gewisse Aus- So werden Symbole eines „banalen Nationalis- drücke ((ea)) im Deutschen, wos äh typisch österrei- mus“ zunehmend aktiviert, vor allem 2015 – na- chisches Deutsch is, vielleicht auch in Abgrenzung tionale Stereotypen, Fahnen, die Nationalhym- zum (1s) deutschen Deutsch“ (GD 2015). ne und die sogenannte Österreich-Hymne der Häufig wird in den Gruppendiskussionen rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Öster- von 1995, 2005 und 2015 dieses „österreichische reichs, das „Heimatkonzept“ und österreichische Deutsch“ als wichtiger Identitätsmarker, in Ab- Landschaften als Teil eines nationalen Körpers, grenzung vor allem zum deutschen Deutsch, ge- manchmal in der harmonisierenden Tradition nannt. 1995 spielte es auch im medialen Diskurs des Nachkriegsheimatfilmes beziehungsweise ei- eine große Rolle, weil Österreich beim EU-Beitritt ner völkischen Nostalgie, wie sie die Regisseurin 1995 in einem eigenen Zusatzprotokoll 23 Aus­tria­ Leni Riefenstahl repräsentiert. In diesem Kontext zismen EU-rechtlich schützen ließ. 2015 jedoch rücken 2015 die Außengrenzen, im Unterschied liegt, im Unterschied zu den anderen Zeitpunkten, zu 1995 und 2005, ins Zentrum des politischen vor allem die „Staatssprache“ der Republik (Art. 8 Diskurses. Es findet eine starke Polarisierung im Abs. 1 Bundesverfassung) im Fokus des medialen Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung Diskurses, der wiederum sprachenrechtliche und statt, einerseits eine praktische Solidarisierung ei- -gesetzliche Änderungen im vergangenen Jahr- niger Parteien und der Zivilgesellschaft mit Ge- zehnt (Staatsbürgerschaftsrecht, Fremdengesetz- flüchteten und andererseits der Ruf von Rechts- gebung) widerspiegelt. Gab es 1995 noch keiner- außen, die Grenzen zu schließen. Die Angst vor lei Bestimmungen die Staatssprache betreffend im rechtspopulistischer Programmatik rückt auch Staatsbürgerschaftsrecht und Aufenthaltsrecht, den Mainstream immer mehr in eine nationalis- so wurde der Erwerb der Staatsbürgerschaft 1998 tische/nativistische Ecke, beobachtbar bei den das erste Mal gesetzlich an Kenntnisse der deut- Landtagswahlen, die 2015 stattfanden. Allein der schen Sprache geknüpft, die mündlich nachgewie- Wiener Landtagswahlkampf gestaltete sich an- sen werden konnten. Diese Anforderungen wur- ders – Weltoffenheit und Solidarität standen im den sukzessive verschärft und müssen seit 2006 Gegensatz zur forcierten Politik mit der Angst, mit standardisierten Tests belegt werden (Niveau die vor allem den Mediendiskurs mit wenigen A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenz- Ausnahmen beherrschte und letztlich 2016 zu ei- rahmens GER im Jahr 2006, B1 im Jahr 2011). Im nem Kippen der „Willkommenskultur“ (außer in Aufenthaltsrecht gab es seit 2003 für Drittstaats- Wien) führte. angehörige die relativ „weiche“ Anforderung der Was die Vorstellung von den „Anderen“ be- A1-Kenntnisse, die 2006 auf A2 und 2011 auf B1 trifft, hatten wir 1995 ein allgemeines West-Ost- für dauerhaften Aufenthalt erhöht wurde, wobei und Nord-Süd-Gefälle festgestellt, wonach die bereits vor dem Zuzug nach Österreich Kennt- Unterschiede zu ost- und südosteuropäischen nisse auf dem Niveau A1 nachgewiesen werden Nachbarn als relativ groß wahrgenommen wur- müssen. Im Wechselspiel zwischen rechtspopulis- den. 2005 rückte die Differenz zu Nicht-Öster- tischem Diskurs und sprachgesetzlichen Maßnah- reicherInnen im Land (vor allem zu türkischen men fand also eine vehemente Nationalisierung und muslimischen ZuwanderInnen) in den Mit- der Sprachenpolitik statt. telpunkt, ebenso 2015, wobei hier die zugewan- derten Flüchtlinge einbezogen wurden; das heißt, 11 Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspo- dass immer mehr ethnische und religiös-kultu- pulistischer Diskurse, Hamburg 2016. relle Unterschiede in Bezug auf Zugehörigkeit/

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Nichtzugehörigkeit andere Kriterien überlager- bürgerschaftsrecht und Aufenthaltsrecht, so wa- ten. Die sogenannte Wertediskussion in Bezug ren es 2005 noch relativ geringe Anforderungen auf das „christliche Abendland“ einerseits und an Kenntnissen des Deutschen, die für dauerhaf- den Okzident/Islam andererseits beherrschte ten Aufenthalt und Staatsbürgerschaft verlangt vielfach sowohl das politische wie mediale Ge- wurden. 2015 sind die Anforderungen so hoch, schehen, im Zusammenhang mit den vehemen- dass Illiterate und wenig literalisierte Menschen ten Debatten zu Grenzmanagement, Sicherheit, de facto ausgeschlossen werden. Gerade hier Flucht und ­Migration. kann die Wechselwirkung zwischen zunehmend Die österreichische Erfolgsgeschichte, der national-konser­vativen Positionen im politischen Mythos von der „Stunde Null 1945“ wurde vor Diskurs und gesetzlich-institutionellen Regelun- allem 2005 besonders betont, ausgedrückt etwa gen deutlich aufgezeigt werden. in den Metaphern von der „Wiedergeburt“ bezie- 2015 erweist sich auch überaus deutlich, dass hungsweise von Österreich als „neugeborenem nationale Identität/en angesichts internationa- Kind“; jedoch nicht 1995 und 2015. Die Unter- ler Entwicklungen nicht mehr isoliert, innerhalb zeichnung des Staatsvertrags spielt zu allen drei fester territorialer Grenzen, entworfen werden Zeitpunkten, aber besonders 2005 eine zentrale können. Trotz zunehmender Renationalisie- Rolle. Die österreichische Neutralität – die von rungstendenzen und steigender EU-Skepsis wird vielen PolitikerInnen 1995 schon als obsolet er- Österreich immer abhängiger von gesamteuro- klärt worden war – ist 2005 und 2015 wieder un- päischen Politiken und globalen Debatten. Die- umstritten Teil österreichischer Identitäts­kon­ se Polarisierung findet sich in allen untersuchten struk­tionen. Bereichen und Datensätzen. Was den Umgang mit der NS-Vergangenheit Insgesamt überwiegen jedoch die Kontinuitä- betrifft, wurden die TäterInnen 2005 kaum sicht- ten zu den drei Erhebungszeitpunkten, vor allem bar. 12 Im offiziellen Diskurs wurde eine Art „Op- was die Identifikation mit der Nation Österreich fergemeinschaft“ imaginiert: Alle Opfer wurden betrifft, wobei das Nationsverständnis zwischen so gleichgestellt – die in den Konzentrationsla- staatsnationalem und (zunehmend) kultur-/ gern Ermordeten, die politischen Gefangenen, sprachnationalem Verständnis oszilliert. Der Be- die zivilen Bombenopfer, die gefallenen Wehr- griff einer österreichischen Nation wird im unter- machtssoldaten, die Kriegsgefangenen. 2015 hin- suchten Datenmaterial kaum explizit verwendet. gegen wurden, vor allem im medialen Diskurs, An der Existenz dieser Nation besteht – im Un- die Verbrechen der Endphase (also im Frühjahr terschied zur unmittelbaren Nachkriegszeit – al- und Sommer 1945) in den Vordergrund gerückt, lerdings kein Zweifel. Das folgende Beispiel etwa und der damalige österreichische Bundespräsi- verdeutlicht die emotionale Bindung an die „Na- dent Heinz Fischer erklärte in einem TV-Inter- tion“: Eine nach ihrer Flucht aus Österreich im view am Holocaustgedenktag (27. Januar 2015) Jahr 1938 nach vielen Jahrzehnten zurückgekehr- „Auschwitz“ zu einem „Teil der österreichischen te Teilnehmerin einer Gruppendiskussion drückt Identität“. Der Vergleich von Gedenkreden zur es so aus: „I kann nur sagen, mein schönes Ös- Shoah erweist, dass Konkretisierung und Perso- terreich“, und schließlich, das Land personifizie- nalisierung 2015 stärker im Vordergrund stehen rend: „Ich bin verliebt in mein Österreich. Ich bin als 1995 und 2005. Diese Darstellungsform bleibt verliebt“ (GD 2006) in den Reden zumeist auf positive, heroische, zur Identifikation geeignete Themen beschränkt, wird in den Medien hingegen häufig auch auf Kriegsverbrechen, insbesondere in der Endphase RUDOLF DE CILLIA des Krieges, ­ausgedehnt. ist Professor im Ruhestand am Institut für Sprachwis- Betonen wollen wir nochmals die Nationa- senschaft der Universität Wien. lisierung der deutschen Staatssprache: Gab es [email protected] 1995 noch keine einzige Bestimmung im Staats- RUTH WODAK

12 Vgl. Markus Rheindorf/Ruth Wodak, „It Was a Long Hard ist emeritierte Professorin für Diskursforschung an Road“. A Longitudinal Perspective on Discourses of Commemora- der Lancaster University, Großbritannien. tion in Austria, in: 10plus1 Living Linguistics 3/2017, S. 22–41. [email protected]

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