68. Jahrgang, 34–35/2018, 20. August 2018 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Österreich Saskia Blatakes Franz Fallend · Fabian Habersack · WIE TICKT ÖSTERREICH? Reinhard Heinisch EINE SPURENSUCHE RECHTSPOPULISMUS IN FÜNF BEGEGNUNGEN IN ÖSTERREICH. ZUR ENTWICKLUNG DER FPÖ Thomas Winkelbauer WAS WAR „ÖSTERREICH“ Oliver Rathkolb VOR 1918? DER LANGE SCHATTEN DER 8ER JAHRE Thomas Olechowski HANS KELSEN UND Heidemarie Uhl DIE ÖSTERREICHISCHE ÖSTERREICHS AMBIVALENTER VERFASSUNG UMGANG MIT DER NS-VERGANGENHEIT Peter Bußjäger FÖDERALISMUS Rudolf de Cillia · Ruth Wodak UND REGIONALISMUS ZUR DISKURSIVEN IN ÖSTERREICH KONSTRUKTION ÖSTERREICHISCHER IDENTITÄTEN ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Österreich APuZ 34–35/2018 SASKIA BLATAKES FRANZ FALLEND · FABIAN HABERSACK · WIE TICKT ÖSTERREICH? REINHARD HEINISCH EINE SPURENSUCHE IN FÜNF BEGEGNUNGEN RECHTSPOPULISMUS IN ÖSTERREICH. Österreich driftet nach Rechtsaußen, und der ZUR ENTWICKLUNG DER FPÖ Rest Europas wundert sich. Aber es gibt auch Die Entwicklung der FPÖ ist von ideologischen Gegenstimmen und eine Hauptstadt, die anders Flügelkämpfen, Neuausrichtungen und einem sein will. Wie tickt dieses Land, in dem man die Auf und Ab bei Wahlen gekennzeichnet. Als politischen Probleme unserer Zeit wie in einem Sammelbecken für politisch unzufriedene und Vergrößerungsspiegel beobachten kann? verunsicherte Menschen befindet sie sich zurzeit Seite 04–08 im Aufwind und ist an der Regierung beteiligt. Seite 33–40 THOMAS WINKELBAUER WAS WAR „ÖSTERREICH“ VOR 1918? OLIVER RATHKOLB Das sich mit dem Zerfall Österreich-Ungarns DER LANGE SCHATTEN DER 8ER JAHRE und der Gründung der Republik (Deutsch-) Die sogenannten 8er Jahre in Österreich – 1848, Österreich 1918 radikal verkleinernde 1918, 1938 und 1968 – sind Schlüsseljahre Territorium „Österreichs“ stellt Historiker und der österreichischen Demokratiegeschichte. Historikerinnen vor ganz spezifische Probleme. Eine Beschäftigung mit ihnen schärft ein Was also war „Österreich“ vor 1918? kritisches Geschichtsbewusstsein und stärkt das Seite 09–16 Demokratiebewusstsein. Seite 41–46 THOMAS OLECHOWSKI HANS KELSEN UND DIE ÖSTERREICHISCHE HEIDEMARIE UHL VERFASSUNG ÖSTERREICHS AMBIVALENTER UMGANG Der Jurist Hans Kelsen gilt als „Vater der MIT DER NS-VERGANGENHEIT Verfassung“ Österreichs nach dem Ersten Die latenten Widersprüche zwischen offizieller Weltkrieg, insbesondere die Einrichtung des Opferthese und populistischen Gegenerzählun- Verfassungsgerichtshofes geht auf ihn zurück. gen entluden sich immer wieder in Konflikten, Die Machtübernahme der Nationalsozialisten aber erst die Waldheim-Debatte sorgte für zwingt ihn schließlich ins Exil in die USA. eine nachhaltige Konfrontation mit der NS- Seite 18–24 Vergangenheit. Seite 47–54 PETER BUẞJÄGER FÖDERALISMUS UND REGIONALISMUS RUDOLF DE CILLIA · RUTH WODAK IN ÖSTERREICH ZUR DISKURSIVEN KONSTRUKTION Der österreichische Föderalismus hat sich in den ÖSTERREICHISCHER IDENTITÄTEN vergangenen Jahrzehnten verfassungsrechtlich In diesem Beitrag werden Forschungsarbeiten trotz und gerade wegen einiger inkrementalen zur Konstruktion österreichischer Identitäten Anpassungen wenig verändert. Ihn kennzeichnet zusammengefasst. Durch eine longitudinale ein hohes Maß an Verflechtung, das in der Perspektive auf Entwicklungen zwischen 1995 Vergangenheit zunehmend intensiviert wurde. und 2015 wird ein Blick auf Konstanten und Seite 25–31 Veränderungen ermöglicht. Seite 55–61 EDITORIAL 2018 wird in Österreich des 100. Geburtstages der Republik gedacht, die am 12. November 1918 als „Republik Deutschösterreich“ ausgerufen wurde. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht wurde „ohne Unterschied des Geschlechts“ eingeführt, sodass in diesem Jahr auch 100 Jahre Frauenwahl- recht in Österreich gefeiert wird. Im Vertrag von St.-Germain von September 1919 sprachen die gegen das deutsche Kaiserreich und gegen Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg Verbündeten ein faktisches Anschlussverbot an das Deut- sche Reich aus, der Staatsname „Deutschösterreich“ wurde untersagt. Einst Teil eines großen Vielvölkerreiches, musste der neue Staat nach 1918 und erneut nach 1945 erst seine „Identität“ finden, zumal in Abgrenzung zum deutschen Nachbarn. Vor allem die Zeit nach dem 1938 erfolgten „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland wurde lange Zeit mit der offiziellen These von Österreich als Hitlers „erstem Opfer“ einer öffentlichen Geschichts- debatte entzogen. Das änderte sich spätestens mit der Diskussion um die Wehrmacht-Vergangenheit des Bundespräsidenten Kurt Waldheim in den 1980er Jahren. Nach Skandalen um antisemitisches Gedankengut in ihrem Umfeld hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), seit 2017 unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (Österreichische Volkspartei) an der Regierung beteiligt, eine Historiker- kommission einberufen, um auch ihre Geschichte aufzuarbeiten. Die Ankündi- gung der Rechtspopulisten traf auf Skepsis. Oskar Deutsch, Präsident der Isra- elitischen Kultusgemeinde Wien, hielt fest: „Die rechtsextreme Geschichte der FPÖ aufzuarbeiten ist das eine, sich von menschenverachtenden Ideologien zu lösen und aufzuhören, Andersdenkende zu diffamieren, ist noch viel wichtiger.“ Anne Seibring 03 APuZ 34–35/2018 ESSAY WIE TICKT ÖSTERREICH? Eine Spurensuche in fünf Begegnungen Saskia Blatakes Österreich ist schön. Österreich ist klein. Öster- Gerti am Tag unseres Einzugs kennen. Es ist in der reich ist rechts. Seit Dezember 2017 hat das Land Regel nicht gerade leise, wenn man versucht, Mö- eine konservativ-rechtspopulistische Regierung. bel und Kisten in den ersten Stock zu wuchten. In Die Grünen sind aus dem Parlament verschwun- Wien trägt der erste Stock übrigens den schönen den. Innenminister Herbert Kickl spricht davon, Namen Mezzanin. Der zweite Stock heißt dann „Asylbewerber konzentriert an einem Ort halten“ meistens dementsprechend erster Stock, was bei zu wollen, und Bundeskanzler Sebastian Kurz Ausländern oft zu Verwirrungen führt. Es geht träumt von einer neuen „Achse der Willigen“ aus aber noch besser, denn in manchen Gründerzeit- Wien, Rom und Berlin in Sachen Flüchtlingspoli- häusern gibt es mit Souterrain, Parterre, Hochpar- tik. Seine Grenze nach rechts sei allein das Straf- terre und Mezzanin ganze vier Stockwerke unter recht, hat er einmal gesagt. Bei der diesjährigen ös- dem ersten – aber das ist eine andere Geschichte. terreichischen EU-Ratspräsidentschaft versucht Es dauerte nicht lange, bis es an meiner neuen er, das Thema Migration als Priorität zu setzen. Wohnungstür zum ersten Mal klingelt. Klingeln Was ist da los im Alpenidyll? Österreich driftet heißt in Wien anläuten. nach Rechtsaußen, und der Rest Europas wundert Gerti läutete also an. Vor mir stand eine unter- sich. Für viele gilt das Land längst als europäisches setzte, ältere Dame mit hochrotem Kopf. „Heast! Sorgenkind wie sonst nur Polen oder Ungarn. Des is a Frechheit!“ Es folgte eine Tirade über Aber auch in Österreich gibt es Gegenstim- Lärm und Staub und überhaupt, zu wie vielen men, eine Hauptstadt, die der neuen Bundesre- wollen wir hier überhaupt hausen? gierung Paroli bietet, und trotz der derzeitigen Ich entschuldigte mich und versprach ihr, dass Kürzungen immer noch einen Sozialstaat, der sich der Lärm spätestens am Abend erledigt ha- das Land zu einer Insel der Seligen in Sachen Ab- ben sollte. Außerdem versicherte ich ihr, dass wir sicherung macht. Wie tickt dieses Land, in dem nur zu dritt einziehen und es sich bei dem Rest der man die politischen Probleme unserer Zeit – den Menschen um befreundete Umzugshelfer handelt, Aufstieg der Rechtspopulisten, die Krise der De- die ganz bestimmt nicht vorhatten, bei uns zu hau- mokratie und die Schwäche der großen, alten Par- sen. Doch besänftigen konnte ich sie nicht. „Na, teien – wie in einem Vergrößerungsspiegel beob- servas!“ schimpfte sie nur, drehte sich um und achten kann? Einem Land nähert man sich am schloss geräuschvoll ihre Wohnungstür hinter sich. besten über seine Bewohnerinnen und Bewohner: Noch zwei Mal sollte sie an diesem Tag bei eine Spurensuche in fünf Begegnungen. uns anläuten. Beim dritten Mal stand meine klei- ne Tochter neben mir, sie war damals gerade ein GERTI UND DER Jahr alt geworden. Gertis grantige Gesichtszü- WIENER GRANT ge entspannten sich plötzlich, ihr rötlicher Teint schien schlagartig um ein paar Nuancen heller ge- Es beginnt mit Gerti. Mit ihr wohnte ich bis vor worden zu sein. „Jö! Pupperl!“, sagte sie schwär- Kurzem Tür an Tür in einem dieser schönen, leicht merisch und lächelte meine Tochter warmherzig heruntergekommenen Wiener Altbauten. Sie ist an. Der Beginn unserer Bekanntschaft. der Ausgangspunkt bei dem Versuch, einem Phä- Was ich damals noch nicht wusste: Sich zu nomen auf den Grund zu gehen, das man gerne pa- beklagen und zu schimpfen – hier in Österreich thetisch als „Wiener Seele“ bezeichnet. Ich lernte würde man „sudern und granteln“ sagen –, ge- 04 Österreich APuZ hört in Wien nicht nur zum ganz normalen Um- leicht am verblüffendsten – das Nebeneinander gangston, nein, diese Disziplinen sind für Wie- des derben Fluchs und des formvollendeten Sie- nerinnen und Wiener der Königsweg der ersten zens. Die anderen Parkbesucher zeigten sich un- Kontaktaufnahme. beeindruckt. Mein erstes Resümee: Die öffentliche Wien rangiert in einer Liste der unfreundlichs- Beleidigung schien hier irgendwie normal zu sein. ten Weltstädte auf Platz zwei, gleich hinter Paris. Szenen wie diese sollten sich in meinem neu- Und trotzdem war Wien vielleicht noch nie so en Wiener Alltag noch oft wiederholen:
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