Heimatwelt

Mit Beiträgen von Gemeinde Gemeindearchiv Geschichtsverein Weimar

Heft Nr. 46/2010

Herausgeber Gemeindevorstand der Gemeinde Weimar (Lahn)

1 Inhalt

Das Wichernhaus in Niederweimar und seine Geschichte von Hans Schneider ...... 3

Der Architekt des Wichernhauses und die Heimatschutzbewegung von Siegfried Becker ...... 5

Das Gemeindehaus Huteweg 2 in Niederweimar von Hans Schneider ...... 12

Die Schwesternstation und Diakoniestation in Roth von Otto Weimar ...... 15

Die alte Schule in Niederweimar von 1863 von Hans Schneider ...... 17

Meine Erinnerungen an die Hamsterzeit von Hans Schneider …………………………………………………………………………….. 21

Johann Friedrich (1563-1629) aus Wolfshausen von Friedrich von Petersdorff …………………………………………………………………... 24

Eine Skizze zu Carl Bantzers „Abendmahl“ aus Niederwalgern von Siegfried Becker ……………………………………………………………………………. 26

Die Erfassung von Wenkbach im Ostsiedlungsprojekt der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung 1936-1943 von Siegfried Becker ...... 30

Kleine Mitteilungen

Der „Wiesengarten“ in Niederwalgern (S. Becker) ...... 11

Eine kuriose Deutung des Familiennamens Zick/Zück (S. Becker) ...... 16

Hausnamen-Missverständnisse (S. Becker) …………………………...... 29

Ein Foto der Kastanienallee am Waldschlösschen bei Argenstein (G. Klein) ………………….. 42

Bücherschau

Dieter Prinz: Sagen und Geschichten aus dem Gleiberger Land und Umgebung (S. Becker) … 10

Aus der Geschichte der Familie Schenck zu Schweinsberg [Kalender] (S. Becker) ...... ………. 20

Neue Schriftenreihe der Gemeinde Weimar (S. Becker) ………………………………………. 23

Barbara Wagner: Die jüdischen Friedhöfe […] in , und Roth (S. Becker) … 25

2 Das Wichernhaus in Niederweimar und seine Geschichte

von Hans Schneider

Wurde in vergangenen Jahren Jahrzehn- Saal) für Jugendarbeit; so steht es in der Bau- ten vom Wichernhaus in Niederweimar ge- beschreibung. Das Gebäude wurde auf einem sprochen, so wusste die ältere Bevölkerung in der Kirchengemeinde Niederweimar gehören- unserem Ort sofort, dass es sich um das bau- den Grundstück errichtet. Durch Erbpachtver- lich ansprechende Fachwerkgebäude im Hu- trag vom 1. April 1937 wurde dem Kirchen- teweg 6 handelt. Viele Erinnerungen werden kreis das Grundstück für 99 Jahre bei der Bevölkerung geweckt, wenn hiervon überlassen. Der Vertrag beinhaltete, dass ein geredet wird. Die Gläubigen hatten einen be- jährlicher Erbbauzins von einem 1825/2000 sonderen Bezug zu diesem Gebäude. tausendstel Doppelzentner Roggen vom Erb- Das Haus wurde in den Jahren 1937/38 bauberechtigten zu zahlen war. Statt Roggen durch den Kirchenkreis Marburg als Wohnung konnte der Grundstückseigentümer auch 20 für den Kreisdiakon errichtet. Außerdem be- Goldmark verlangen. Ob der Mietzins jemals kam das Gebäude eine Gemeindestube (kleiner bezahlt wurde, wäre zu untersuchen.

Das Wichernhaus vor dem Verkauf im Jahr 1977

Wegen der fehlenden zentralen Wasserversor- nehmigung: Gemeindestube) diente kirchli- gung in Niederweimar musste ein Brunnen chen Veranstaltungen und stand geistlichen gegraben werden. Für die Fäkalien wurde eine Andachten zur Verfügung. So konnte der im Zweikammergrube errichtet. Die Baubeschrei- Jahr 1935 gegründete Kirchenchor nach Fer- bung beinhaltet weiter, welche Baumaterialien tigstellung des Gebäudes einziehen und seine zur Durchführung verwandt werden mussten. wöchentlichen Chorproben durchführen. Auch Es wurde besonderer Wert auf Bedachung mit die Frauenhilfe sowie die ev. Jugendgruppen Biberschwanzziegeln gelegt. Planer und Bau- fanden hier für ihr wöchentliches Treffen eine leiter war Architekt Karl Rumpf aus Marburg. Bleibe. Kurz vor der Fertigstellung des neuen Mit den Bauarbeiten wurde im Herbst 1937 Gemeindezentrums fanden sich eine Anzahl begonnen; sie wurden im Jahr 1938 abge- Frauen mittleren Alters, die im Wichernhaus schlossen. Nach Fertigstellung bezog Kreisdi- einen großen Teppich für den Altar in der neu- akon Emil Schmidt die Wohnung. Vorrangig en Kirche in wochenlanger Arbeit geknüpft bestand seine Aufgabe in der Jugendbetreuung haben. Weitere weltliche Vereine oder Ver- auf Kreisebene. Der kleine Saal (in der Bauge- bände nutzten gelegentlich den Saal, weil die

3 politische Gemeinde Niederweimar keine ähn- sche Zwecke anzumieten. In dem Schreiben lichen Räumlichkeiten anbieten konnte. So wurde auch erwogen, auf die Alte Schule (das wurde dort im Jahr 1970 auch der Bürgerver- ehemalige Bürgermeisteramt) zurückzugreifen, ein ins Leben gerufen. Nachdem 1974 das neue da diese noch nicht entwidmet war. Aber hier Ev. Gemeindezentrum fertig gestellt war, zo- war der bestehende im Wege. gen die vorgenannten Gruppen dorthin um. Nun war der Bauantrag für ein neues Pfarrhaus Das Wichernhaus wurde nach dem Theolo- neben dem Wichernhaus schon über zwei Jahre gen und Sozialreformer Johann Hinrich Wi- genehmigt, und man trat auf der Stelle. chern benannt, dessen 200. Geburtstag im Jahr Dann kam die Wende: Nach weiteren vor- 2008 begangen wurde. Wichern gründete in herigen Absprachen mit dem Kirchenkreis Hamburg das „Rauhe Haus“ als „Rettungsan- willigte dieser jetzt doch ein, das Wichernhaus stalt für sittlich verwahrloste Kinder“ und gilt der Kirchengemeinde Oberweimar für ein als Begründer der Diakonie. Er wurde von der Pfarrhaus zu verkaufen. Damit wurde der ge- Preußischen Regierung mit der Reformierung nehmigte Bauantrag vom 14. September 1948 des Gefängniswesens beauftragt und war eine für ein neues Pfarrhaus gegenstandslos. Am vielgefragte Persönlichkeit, wenn es um kirch- 16. März 1953 erhielt die Kirchengemeinde liche Belange ging. Der am Grundstück vor- Oberweimar vom Landkreis die Genehmigung beiführende Verbindungsweg zwischen dem für den Umbau des Wichernhauses. Mit Ver- Alten Dorf und dem Huteweg erhielt seinen trag vom 30. Dezember 1953 erwarb das Namen. Durch die Überführung der Main- Kirchspiel Oberweimar das Wichernhaus von Weserbahn hat der Johann-Hinrich-Wichern- dem Kirchenkreis zu einem Preis von 22.000,- weg seine Verbindung zum Huteweg verloren. DM. Die Umbau- und Sanierungsarbeiten am In den Jahren ab 1948 bemühte sich die Gebäude konnten beginnen. Im Jahre 1947 Kirchengemeinde Oberweimar, das Gebäude wurde in Niederweimar durch das Kirchspiel vom Kreiskirchenamt Marburg als Wohnung Oberweimar eine Hilfs-Pfarrstelle eingerichtet, für einen zweiten Pfarrer im Kirchspiel zu die im Jahr 1949 in eine ordentliche Pfarrstelle erwerben. Diese Bemühungen scheiterten. Die umgewandelt wurde. Die Stelle erhielt Pfarrer Kirchengemeinde sah sich gezwungen, ein Hanns Endter, der privat zur Miete wohnte. Pfarrhaus zu bauen. Sie stellte einen Bauantrag Nachdem der Umbau des Wichernhauses für für ein neues Pfarrhaus auf dem angrenzenden eine Pfarrerwohnung, im Jahr 1953 abge- Pfarrgrundstück neben dem Wichernhaus, der schlossen war, wurde das Haus von Pfarrer am 14. September 1948 durch das Kreisbauamt Endter mit seiner Familie bezogen. Hiermit genehmigt wurde. Der Superintendant des war der Auszug des Kreis-Diakons Emil Kirchenkreises wies allerdings mehrmals auf Schmidt verbunden, der seine Tätigkeit von die schwierige Beschaffung von Baumateria- seiner neuen Wohnung in Lohra aus führte. lien und Einrichtungsgegenständen für den Im Jahr 1959 erhielt Niederweimar ein ei- Neubau hin. Für Öfen, Waschkessel und Me- genes Kirchspiel, das sich aus den Orten Nie- talleinrichtungen usw. mussten sogar „Eisen- derweimar, und Cyriaweimar zu- scheine“ vorgelegt werden. Bedenken, die sammensetzt. Diese Dörfer wurden aus dem heute nicht vorstellbar sind. Die Wirren des Kirchspiel Oberweimar ausgegliedert. Das Krieges waren noch voll spürbar. Der schlep- Johann-Hinrich-Wichernhaus, das bis dahin im pende Fortgang der Baumaßnahme wurde Eigentum des großen Kirchspiels Oberweimar durch den neuen Pfarrer, Herrn Endter, in meh- stand, ging in das neue Kirchspiel Niederwei- reren Schreiben beklagt, wobei er auf seine mar über. Somit hat das neue Kirchspiel Nie- unbefriedigenden Wohnverhältnisse verwies, derweimar auch ein Pfarrhaus. Mit der Errich- und dass dadurch sein Pfarrdienst leiden wür- tung des neuen Pfarrhauses in der Straße „Zur de. Unterstützt wurden diese Eingaben durch Kirche“, also neben dem ev. Gemeindezent- den Kirchenvorstand. Auch die Landes-SPD rum, wurde das bisherige Pfarrhaus, bei der schaltete sich in einem mehrseitigen Schreiben Bevölkerung immer noch als „Wichernhaus“ vom 15. Januar 1951 hier ein und suchte nach bezeichnet, entbehrlich. Die Kirchengemeinde Lösungen. Es gab in der Sache keinen Fort- Niederweimar verkaufte es im Jahr 1977 an gang. Nach einem Vermerk des Landeskir- den heutigen Besitzer. chenamtes vom 31. Januar 1951 wurde einge- sehen, dass ein Pfarrhaus-Neubau notwendig Quellen: Pfarramt Niederweimar. – Gemeindearchiv Weimar. – Ev. Dekanat Cölbe. – Helga Damm, ehem. war. Zwischenzeitlich bemühte sich das Schul- Kirchenvorstandsmitglied. – Lydia Wenz, Mitarbeiterin amt des Kreises, das Wichernhaus für schuli- im Kirchenamt Marburg.

4 Der Architekt des Wichernhauses und die Heimatschutzbewegung

von Siegfried Becker

Vor vielen Jahren schon ahnte ich beim Blick Otto Dettmering 1929 in einem Gartengrund- auf das markante Dach des Wichernhauses in stück „Auf dem Pfingstloch“ (heute: An der Niederweimar, wer der Architekt gewesen sein Neuen Schule) ein Wohnhaus errichten, das im könnte. Auch in Niederwalgern finden wir ja Juli 1930 bezogen werden konnte (Dettmering ein ganz ähnliches Gebäude mit geschweiftem 2010: 272-274).Wie das Wichernhaus wurde Dach. Nach dem Tod von Pfarrer Ludwig auch das Wohnhaus in Niederwalgern entwor- Dettmering ließen seine Witwe Minna Dettme- fen von Architekt Karl Rumpf (1885-1968) in ring und ihre Kinder Else Heldmann und Dr. Marburg.

Das Wichernhaus in Niederweimar, entworfen von Karl Rumpf (1885-1968) (Bildarchiv Foto Marburg)

Karl Rumpf war Architekt und Volkskundler. schule in , studierte an der Technischen Aus einer Marburger Handwerker- und Kauf- Hochschule Karlsruhe (bei Carl Schäfer, dem mannsfamilie stammend, absolvierte er eine Architekten der Marburger Universität am Ausbildung an der Königlichen Baugewerk- Lahntor) und an der Technischen Hochschule

5 München. Nach dem Examen beteiligte er sich Heimatschutzbewegung und die Heimatkunst 1911 an Wettbewerben zum zeitgemäßen Bau- am Beginn des 20. Jahrhunderts sind nicht aus en und lieferte unter anderem Entwürfe zu sich selbst heraus zu erklären; sie waren auch Einfamilienhäusern für den Holzhausenpark in Antwort und Spiegel einer Entdeckung und Frankfurt am Main. Sie zeigen bereits jene Erschließung der Ferne. Man begann zu reisen, geschweifte Dachform, die zu einem seiner und mit dem Kolonialismus der wilhelmini- Kennzeichen werden sollte (Höck in Leinwe- schen Zeit übten auch ferne Länder einen Reiz ber 1989: 27). auf Sinne und Sehnsüchte aus, der noch aus Rumpf entwickelte darin einen eigenständi- Reiseführern und Reiseliteratur von damals gen Stil, nahm aber mit der Fachwerkkonstruk- herauszulesen ist, Beschreibungen des Pitto- tion, die er wie am Wichernhaus manchmal für resken, Malerischen, jenes Schwelgen in Au- die Obergeschosse seiner Bauten entwarf, An- genlust und Gaumenfreuden, das die Annähe- regungen der Heimatschutzbewegung auf, die rungen an das Fremde so angenehm machte. seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Erhal- Rumpf ist auch dafür ein bezeichnendes tung der alten Ortsbilder hinwirkte. Auch Neu- Beispiel. An einem schweren Nierenleiden bauten sollten den vorhandenen, historisch erkrankt, reiste er 1912 nach Ägypten, wo er gewachsenen Ortsbildern angepasst werden, sich von einer Kur im warmen mediterranen was 1907 zum preußischen Gesetz gegen die Klima Besserung erhoffte. Ägypten selbst hat bauliche Verunstaltung führte (Bauer 2001). ihn nie losgelassen; hier hatte er schon begon- Die Heimatschutzbewegung war Teil eines nen, die Museumsbestände zu zeichnen, und gesellschaftlichen Prozesses, der in der Hoch- über einen Wettbewerb war ihm sogar der industralisierung mit ihren Erfahrungsbrüchen, Eintritt ins Ministerium geglückt, wo er für die mit ihrer Beschleunigung des Alltagslebens arabische Denkmalpflege tätig werden konnte, eine Inszenierung von Heimat im kulturellen ehe er nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges Gedächtnis eingeleitet hatte. Heimat wurde zur Ende November 1914 mit einem englischen Beschreibung des Vergehenden, des Verlore- Gefangenentransport nach Malta gebracht nen – und auch: des Nie-da-Gewesenen, des wurde, wo er seine Arabischkenntnisse noch Ideals. Die Landschaften, die zu Heimatbildern vertiefte. komponiert wurden, beschrieben Idealland- In den Erfahrungen der Fremde werden schaften oder doch idealistisch überhöhte vielfach Anklänge eines Wiedererkennens der Landschaften, Träume von unberührter Natur eigenen kleinen Welt, des Daheim, deutlich, und sozialer Harmonie. Diese restaurative Ab- jene Perspektiven, die das Eigene im Fremden sicht der Agrarromantik wird vor allem im suchen. Das nennen wir den ethnomethodolo- Werk von Heinrich Sohnrey (1859-1948) deut- gischen Modus des Fremdverstehens aus der lich, der sich im „Deutschen Verein für ländli- Kenntnis des Eigenen, des eigenen Alltagswis- che Wohlfahrts- und Heimatpflege“ mit zahl- sens. Mit dem allmählichen Verstehen des reichen, sozialpolitisch engagierten Beiträgen Fremden aber veränderte sich der Blick auf das für eine Bekämpfung der Abwanderung vom Eigene. Es wurde nun auch das Fremde im flachen Land einsetzte. 1904 wurden zudem Eigenen gesucht, die vermeintlich archaischen mit der Gründung des Bundes Heimatschutz Relikte einer bäuerlichen Kultur, Bilder, die Erhaltungsmaßnahmen für die „Volkskunst auf bis heute nachwirken, wenn von Heimat die dem Gebiete der beweglichen Gegenstände“, Rede ist. für „Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten“ Auch dies finden wir bei Karl Rumpf wie- proklamiert. der: 1918 übernahm er, nach Marburg zurück- Im Heimatbegriff ist damit eine Ambiva- gekehrt, die Betreuung der Sammlungen des lenz der Vergangenheits-Zukunfts-Beziehung Marburger Kunst- und Altertumsvereins, und enthalten, die seine Bedeutungen im 20. Jahr- wandte sich damit auch den heimischen Muse- hundert geprägt hat. Sie rührt aus zeitlichen umsbeständen zu. 1919 trat er als Teilhaber in und räumlichen Erfahrungen des Fortschritts das Büro des Architekten August Dauber ein; her; denn das Zurücksehnen und Zurückkehren 1927 eröffnete er dann ein eigenes Büro. In- setzt das Fortgewesensein voraus, die Kenntnis zwischen gehörte er auch zum Künstler- und der Ferne, die Befriedigung des Fernwehs. Die Freundeskreis um Carl Bantzer, und er begann Heimat, die nun entdeckt, gefunden und erfun- nicht nur mit den Aufmaßzeichnungen von den wurde, konnte nur aus diesen Perspektiven Dorfkirchen und Bauernhäusern, bäuerlichem einer gesellschaftlichen Öffnung nach außen Hausrat und Arbeitsgerät, Mobiliar und Haus- hin erfolgen. Die Entdeckung der Heimat, die türen, sondern bereitete auch schon Aufsätze

6 zur hessischen Volkskunst und zur Keramik Es ist die Tragödie des Heimatbegriffes, vor. Diesen Themen hat er sich seitdem neben dass er, der doch das persönliche Erleben, die seinem Beruf als Architekt intensiv gewidmet individuelle Erfahrung des Raumes voraussetzt und ein umfangreiches dokumentarisches – und damit eben auch: ganz unterschiedlicher Werk geschaffen – Ausdruck der Hinwendung Räume und Wahrnehmungsmuster – in der zur regional geprägten Kultur der kleinen Leu- völkischen Ideologie des Nationalsozialismus te in einer Zeit, als diese Ausdrucksformen der auf den politisch instrumentalisierten Begriff Volkskultur selbst schon im Verschwinden der Volksgemeinschaft bezogen und damit begriffen waren. kollektiv gebraucht und missbraucht wurde. Er Rumpfs Biographie verdeutlicht exempla- wurde zum Ausdruck eines Kollektivgefühls risch, dass es nicht allein Verlusterfahrungen stilisiert, auf Staat und Volk – und damit auf waren, nicht nur die Wahrnehmungen einer Nation angewandt. Und dieses instrumentali- Veränderung von Dörfern und Landschaften in sierte Kollektivgefühl wurde bis zuletzt, bis der Industrialisierung, die zur Konstruktion zum Zusammenbruch des NS-Staates gerade von Heimat führten, sondern auch Wahrneh- mit dem Heimatbegriff zur Räson gerufen mungen der Ferne. Das Eigene wurde aus dem wurde. Ich erinnere nur an den zynischen Aus- Fremden neu gesehen und neu erfahren, druck der „Heimatfront”, der für viele alte und Fremd- und Selbstbild korrespondierten mit- junge Menschen den Tod bedeutet hat. Diese einander – eine Veränderung des Eigenen Diskreditierung des Heimatbegriffes hat frei- durch die Aufnahme des Anderen. Es ist ein lich nicht davon abgehalten, ihn auch nach Prozess, der individuell abläuft und ablaufen 1945 wieder zu verwenden und neu zu füllen. muss, der jeden Menschen zu einem eigenen, Auch für diese politisch-ideologische In- ganz persönlichen Heimatbild führt. Doch die strumentalisierung des Heimatlichen, der Do- Crux des Heimatbegriffes, seine Katastrophe kumentation und Interpretation der Volkskultur im 20. Jahrhundert war, dass er seit dem gro- liefert Rumpf ein Beispiel. 1943 erschien noch ßen Krieg an seinem Beginn immer wieder für – mitten im Krieg und trotz der strengen Pa- kollektive Ideale und Ideologien missbraucht pierkontingentierung – seine „deutsche Bau- wurde. ernkunst“ als erster Band einer Schriftenreihe Jetzt begann eine problematische, eine un- des Kurhessischen Landesamtes für Volkskun- rühmliche Karriere des Begriffes Heimat. In- de (dazu Becker 2005). Rumpf hatte schon dem er für etwas verwendet wurde, das schon lange an diesem Werk zu den Strich- und nicht mehr war, das sich aufzulösen begann, Kerbschnittornamenten in der Volkskultur erfuhr er eine Aufladung, in der einer Überhö- gearbeitet, ausgehend von den Schwälmer hung des Schönen die Ausgrenzung des Unan- Brautstühlen, die als Rechtssymbol im bäuerli- sehnlichen, des Bedrohlichen, des Fremden chen Haushalt den Deutungsversuch ihrer gegenübergestellt wurde. Heimat stand für das Ziermuster nahelegten. Dieser Versuch aber Schöne: für die schöne Landschaft, die der musste in der hohen Zeit der Sinnbilddeutung Industrielandschaft entgegengesetzt wurde, für in völkischer Auslegung die Rekonstruktion den schönsten Wiesengrund, der dem Verkehr „einer deutschen Bauernkunst“ behandeln, die und der Geschäftigkeit, für das Festliche, das Wiederfindung dessen, „was zunächst als das dem Alltag, für das Vergangene, das der Zu- Besondere, das spezifisch Hessische galt, [...] kunft entgegengestellt wurde. In einer Zeit, in als das alle deutschen Stämme umschließen- der der wilhelminische Nationalstaat die land- de“. Zähes Festhalten an der Ursprungsform schaftliche Prägung von Kultur zugunsten der wollte Rumpf unter Berufung auf Weigel, hehren Ideale von Volk und Vaterland aufzu- Strzygowski und Strobel darin nachweisen als heben begann, erhielt der Heimatbegriff ge- Antrieb einer „bis in die germanische Vorge- fährliche Potenz. schichte, ja zum Teil bis in die Steinzeit zu- Aus der Heimat wurden, als völkische Ideo- rück“ reichenden Ausdrucksform einer eigenen logie sich ihrer annahm, die als fremd definier- Veranlagung arischer Völker. Das waren nicht ten und diskriminierten Elemente ausgegrenzt: bloß Formulierungen, die dem Text zugefügt die Juden, die Proletarier, die Sozialisten, die wurden, um sein Erscheinen mitten im Krieg als vaterlandslose und heimatlose Gesellen zu rechtfertigen; die Absicht des Buches selbst verunglimpft wurden, weil sie sich im Klas- war auf die Erschließung des Sinngehaltes der senbewusstsein der Internationale nicht auf die geometrischen Ornamentik als weit zurückfüh- räumlich definierte Heimatideologie des Nati- render „Frühkunst“ in den archaischen bäuerli- onalstaates festlegen ließen. chen Kulturschichten des alten Europa ange-

7 legt. Im großen Katalog zur Ausstellung des völkischen Ideologie übergangen worden (vgl. Rumpfschen Werkes 1989 in Kassel ist diese Leinweber 1989). Absicht der Sinnbilddeutung im Kontext der

Das Wichernhaus in Niederweimar, Nordost- und Nordwestseite (Bildarchiv Foto Marburg)

Der Leiter des Landesamtes Bernhard Martin, mer als zuständiger Behörde fraglich. Darauf- der das Buchprojekt 1940 dem Landeshaupt- hin wandte sich Martin an Hans Strobel, der mann vorschlug, bemühte sich energisch, für als Leiter des Amtes für Fest- und Feiergestal- das mit zahlreichen Farbtafeln auszustattende tung in Berlin über beste Kontakte zu Alfred Werk Druckkostenzuschüsse einzuwerben. Rosenberg verfügte, um ihn für eine Förderung Nach Klärung der finanziellen Fragen stell- des Projektes zu gewinnen. te sich dann aber im Januar 1942 aufgrund der Die Veröffentlichung kam tatsächlich zu- Rationierung die Papierbeschaffung als größe- stande. Mit einem Geleitwort von Philipp Prinz res Problem heraus. Martin, fest entschlossen, von Hessen, dem Oberpräsidenten der Provinz das Projekt auch mitten im Krieg zu realisie- Hessen-Nassau, als erster Band der Schriften ren, ersuchte um Intervention des Gauleiters, des Landesamtes auf den Weg gebracht, recht- doch Landesrat Schlemmer erschien eine Ge- fertigte Martin darin die Drucklegung im Krieg nehmigung durch die Reichsschrifttumskam- mit Worten, die nicht mehr nur als verbale

8 Zugeständnisse angesehen werden können, der „Sinnbilder“. Und doch hat er damit die sondern in der Zeit der Verfolgung und Ver- Behauptung einer Kontinuität der Symbole und nichtung als nichtarisch deklarierter Menschen ihrer Sinngehalte über lange Zeiträume hinweg als zynisch zu werten sind. wissenschaftlich gestützt. Karl Rumpf selbst ist so weit nicht gegan- gen. Er beließ es beim Beschreiben und Deuten

Das Wichernhaus in Niederweimar, Nordwestseite (Bildarchiv Foto Marburg)

Karl Rumpfs Interesse an den alten Zier- und bole nimmt die Widmung des Gebäudes auf, Schmuckformen der Bauernhäuser, am Kratz- und auch in der Bauinschrift wird darauf hin- putz und seinen Symbolen wird auch in der gewiesen. Über der Vorhalle zur Eingangstür Ausschmückung des Fachwerk-Oberge- ist mit Frakturbuchstaben in den Balken einge- schosses am Wichernhaus deutlich, die er mit schnitten: Johann · Hinrich · Wichern · Haus, seinem Bauplan in Auftrag gab: eine reiche und darunter: 19 38. Das Erbauungsjahr ist Gestaltung der Gefache mit weiß hervorgeho- zudem als Kratzputzfeld an der Nordostseite benen Kratzputzornamenten lässt sich auf den festgehalten. Eine weitere Bauinschrift ist in Fotos ablesen, die im Bildarchiv Foto Marburg lateinischen Versalien an der Nordostseite im erhalten sind. Die Betonung christlicher Sym- Balken eingeschnitten: IHR ALS DIE LEBEN-

9 DIGEN STEINE BAVET EVCH ZVM GEIST- hausen (Hrsg.): Germanistik und Kunstwissenschaften im LICHEN HAVSE VND ZVM HEILIGEN „Dritten Reich“. Marburger Entwicklungen 1920-1950. (Academia Marburgensis 10) München 2005, S. 99-141. PRIESTER-TVM. Das ist Vers 5 aus 1. Petrus – Bauer, Christine H.: Die Heimatschutzbewegung des 2. Fachwerkkonstruktion und Kratzputzorna- frühen 20. Jahrhunderts und deren Einflüsse auf den mente sind nicht der Erbauungszeit und den Baualltag in Hessen. In: Denkmalpflege & Kulturge- politischen Erwartungen geschuldet, sie spie- schichte 2001, H. 1, S. 27-33. – Dettmering, Erhart: Das alte Pfarrhaus und seine Bewohner von 1718 bis 1975. In: geln vielmehr Rumpfs frühe Einbindung in die Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse und Erinnerungen Gestaltungsprinzipien der Heimatschutzbewe- aus 775 Jahren. Weimar/Lahn 2010, S. 255-276. – Höck, gung, eine ästhetische Anlehnung an die tra- Alfred: Karl Rumpfs Veröffentlichungen. In: Hessische dierten Bauformen des hessischen Fachwerk- Blätter für Volkskunde 51/52, 1961, S. 174-176. – ders.: baus. Und doch zeigen auch sie, dass sich diese Dr. h.c. Karl Rumpf †. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 79, 1968, S. 9-13. bewusste Wiederaufnahme einer bäuerlichen – ders.: Dr. h.c. Karl Rumpf †. In: Zeitschrift für Volks- Baukultur durch die Heimatschutzbewegung in kunde 64, 1968, S. 248-249. – ders.: Karl Rumpfs Veröf- die Vorstellungen baulicher Gestaltung im fentlichungen 1961-68. In: Hessische Blätter für Volks- „Dritten Reich“ einfügte, sich bruchlos verein- kunde 59, 1968, S. 208-209. – Leinweber, Ulf: Karl Rumpf (1885-1968). Alte Handwerkskunst in dokumen- nahmen und fortführen ließ. tarischen Zeichnungen. Mit Beiträgen von Alfred Höck. Katalog zur Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlun- Quellen und Literatur: Bildarchiv Foto Marburg: Inv.- gen Kassel im Ballhaus am Schloß Wilhelmshöhe, Kassel Nrr. 415.095-415.097. – Becker, Siegfried: Bernhard 1989. Martin und die deutsche Volkskunde in Marburg 1934- 1945. In: Kai Köhler, Burghard Dedner, Waltraud Strick-

Bücherschau

Dieter Prinz: Sagen und Geschichten aus dem Gleiber- etwa die Rose (als Gerichtssymbol) in den Entwurf zum ger Land und Umgebung. : Selbstverlag Dieter Wappen von Oberwalgern? Das suggeriert eine rechtsge- Prinz, 2009, 373 S., zahlr. Abb. farb. u. sw schichtliche Verbindung zur Weimarer Rose (die ja auch junges Konstrukt ist) und damit zum landgräflichen Beim Ordnen handschriftlicher Aufzeichnungen und Gericht Niederweimar oder zum Reizberg, was beides heimatkundlicher Literatur entschloss sich Dieter Prinz, nicht haltbar ist. Mit „Zeichner unbekannt“ wurden Illust- eine Sammlung von Sagen und Erzählungen aus dem rationen untertitelt, die signiert und damit recherchierbar Land an der Lahn bei Gleiberg und Gießen, aber auch aus sind – so S. 344 die Kirche in Fronhausen, und hier fällt der südlichen Marburger Landschaft in Buchform heraus- auch der für Augen und Ohren einheimischer Leser un- zugeben. Eine Fülle von Geschichten ist darin vorgelegt sägliche (und heute leider immer häufiger gebrauchte) worden – aus den Dörfern um Pohlheim bis nach Hohe- Genitiv „Fronhausener“ auf – warum schreibt man nicht, nahr, von Wetzlar bis Fronhausen. Das Buch ist als leich- wie die Leute in den Dörfern sagen: „Fronhäuser“? Auf te Lektüre zur Unterhaltung empfehlenswert, aufgelo- der nächsten Seite ist dann die Sage vom Schnabelskreuz ckert durch zahlreiche Illustrationen, wozu vor allem wiedergegeben, wieder ohne konkrete Quellennachweise, Zeichnungen von Otto Ubbelohde, Franz Ewert und aber mit D. Prinz signiert (was nützt das stereotype „Aus Wilhelm Weide herangezogen wurden. Freilich darf man Notizen des Autors“?); S. 352 ist die alte Nixenerzählung nicht allzu hohe Erwartungen daran stellen (und der von der Marburger Elisabethmühle 1615 nach Bellnhau- Autor hat wohlwissend mit dem selbst eingeräumten sen lokalisiert worden, ohne dass erkennbar wäre, ob D. Desiderat häufig fehlender Quellennachweise versucht, Prinz seine „Notizen des Autors“ aus der Literatur (v. der Kritik zuvorzukommen). Die immense Arbeit hätte Pfister, Heßler, ja vielleicht sogar Winkelmann, Hornung, sich eher gelohnt, wäre größerer Wert auf sorgfältigere Duising etc.) oder aus mündlichen Erzählungen hat (die Quellenangaben gelegt und dafür auf manche unnötige dann als Reoralisierung von Literatur, etwa aus dem Zugabe verzichtet worden. Dies betrifft vor allem die Schulunterricht, erkennbar wären). Solche Fragen nach Wappen, die den nach Gemeinden (und Ortsteilen) ge- Rezeptionsprozessen sind leider nicht angedacht, ja viel- gliederten Artikeln jeweils vorangestellt sind. So sehr mit leicht sogar bewusst umgangen worden (man meint sich dem Buch eine Identitätskonstruktion beabsichtigt ist, ja in die Zeit der Grimm-Epigonen mit ihren lapidaren der Autor auch heraldische Kenntnisse und gestalteri- Angaben „mündlich“ zurückversetzt). So bleibt die sches Geschick besitzt, so steht ihre Gewichtung doch in Sammlung bei allem vorgeblichen geschichtlichen Inte- keinem Verhältnis zu den knappen historischen Abrissen, resse merkwürdig unhistorisch, und auch die marginalen und sie sind dort, wo für nicht vorhandene Gemeinde- Literaturhinweise ermöglichen nicht wirklich eine kriti- wappen eigene Entwürfe angeboten werden, nicht immer sche Vertiefung des Stoffs. S.B. historisch begründet und nachvollziehbar: wie kommt

10 Kleine Mitteilung

Der „Wiesengarten“ in Niederwalgern. Flurnamen, die über vom Pfarrhaus grenzt heute der Lauersch-Hof an die sich uns auf den ersten Blick wie von selbst erklären, Straße „Am Wiesengarten“. Dort, wo heute Lauersch müssen nicht immer das bedeuten, was sie vorgeben. Scheuer und das ehemalige Gefrierhaus stehen, lag früher Dies trifft etwa für den „Wiesengarten“ in Niederwalgern ein Gartengrundstück, das auf der Flurkarte von Johannes zu, nach dem heute die innerörtliche Straße benannt ist, Scheffer 1794 (StAMR Karten B 268/ 269) halbmond- die von der Gladenbacher Straße zwischen Lauersch Hof förmig zum alten Pfarrhof (hier links oben im Bildaus- und dem Pfarrhaus hinunter zur „Bach“ und zur „Hof- schnitt) hinweist; zwischen diesem Garten und dem statt“ führt. Ein Garten in den Wiesen an der Wälger Pfarrhof führte ein (hier weiß gelassener) Pfad vorbei an Bach – so einfach mag man sich den Namen herleiten. einer von Johann Georg Heuser (Deis) bewirtschafteten Freilich wurde die Straße nach einem Garten benannt, Wiese (Nr. 77) hinunter zur Bach: die heutige Straße doch mit Wiesen hat der Flurname nichts zu tun. Gegen- „Am Wiesengarten“.

Als Besitzer des Lauersch-Hofes ist auf dieser Karte wurden geboren und ein Sohn Johann Helwig, der jedoch Johannes Kahl eingetragen. Sein Vater Johann Dietrich schon als Säugling starb. Als Erbin eingesetzt wurde Kahl errichtete 1729 das alte, 1964 abgebrochene Wohn- Elisabeth Heuser, Tochter des Johann Georg Heuser in haus dieses Hofes, der Lehngut der Schenken zu Niederwalgern, die 1782 Johann Henrich Lauer aus Schweinsberg war (vgl. Höck, Alfred: Das alte Haus von Großseelheim heiratete. Sie übergaben den Hof an ihren Niederwalgern. In: Hessenland, Beil. der Oberhess. Pres- ältesten Sohn Johannes Lauer (1787-1822); seitdem erst se, 11, 1964, Folge 8); im Lager-, Stück- und Steuerbuch trägt der Hof den Hausnamen Lauersch. Vorher hieß er: 1746 ist als Grundherr der Major Schenck zu Ofleiden Wiase. Der Großvater des Johann Dietrich Kahl, Dietrich angegeben. Nach dem Deutschordenshof zweitgrößter Kahl (1623-1693) aus Stedebach, heiratete 1652 Juliana Hof des Dorfes, werden darin beide Höfe wegen ihrer Weber, die Tochter des Tobias Weber, nach dem der Hof bequemen Hofreiten hervorgehoben (vgl. Höck, Alfred: benannt war, wie der Sterbeeintrag der Juliana Kahl Die Dorfschaft Niederwalgern anno 1746. Aus einem (Tobias Jülche) 1709 im Kirchenbuch Niederwalgern Lager-, Stück- und Steuerbuch der Landgrafschaft Hes- zeigt (vgl. Schmidt, Andreas: Die Grabdenkmäler des sen-Kassel. In: Hessenland 12, 1965, Folge 2). Das zuge- 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts in der Kirche und pachtete Gut der Adligen von Döring zu Elmshausen auf dem Kirchhof. In: Niederwalgern 1235-2010, S. 59- wurde von Kahl für 450 Reichstaler erworben, so dass er 103, hier S. 66ff). Auch die einheiratende Ehefrau ihres nun 161 3/4 a 35 r Land bewirtschaftete. Der Hof war Sohnes Tobias Kahl, Anna Gerhardt aus Fronhausen, damit nach dem Deutschordensgut, das Peter Heuser in wurde nach der Heirat als Tobias Enche bezeichnet. Erbleihe bewirtschaftete (Deis), der zweitgrößte des Tobiase (ausgesprochen Biase/Wiase) war also der Haus- Dorfes (vgl. Kosog, Herbert: Niederwalgern im 18. und name des Hofes, nach dessen Garten (Wiase Goarde) die 19. Jahrhundert. In: Niederwalgern 1235-2010. Ereignis- Straße noch heute ihren Namen „Am Wiesengarten“ se und Erinnerungen aus 775 Jahren. Weimar/Lahn 2010, trägt. S. Becker S. 45-58). Der Gerichtsschöffe Johannes Kahl heiratete 1767 Elisabeth Michel aus Niederwalgern; zwei Töchter

11 Das Gemeindehaus Huteweg 2 in Niederweimar

von Hans Schneider

Das Gemeindehaus im Huteweg 2 wurde als Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die Nachfolgebau des ehemalige alten Hirtenhau- Wohnung von einer Frau mit drei Kindern ses, das sich an der Straße „Altes Dorf“ zwi- bewohnt. Der Zeitzeuge Heinrich Eidam, ge- schen den Grundstücken 8, 9 und 12, also vor boren 1909, erzählte mir im Jahr 2000 folgen- der Kirche befand, errichtet. Das alte Haus des: „Als etwa Zehn- oder Zwölfjähriger spiel- wurde wegen Baufälligkeit im Jahr 1922 ab- te ich mit den Kindern der dort lebenden Fami- gebrochen. lie und habe das Häuschen gut gekannt“. In dem zweistöckigen Gebäude befand sich Das Hüttchen, wie er es auch nannte, habe im Unterschoss ein Backhaus, ein Raum für sich in einem desolaten baulichen Zustand Feuerwehrgeräte sowie ein kleiner Raum zur befunden. Teils seien die Fensterscheiben ka- vorübergehenden Festnahme von Straffälligen. putt gewesen, im Wohnzimmer habe man sich Im Obergeschoss war eine kleine Wohnung vorsichtig bewegen müssen, um nicht nach mit einem Zimmer und einer Küche für den unten durchzubrechen. Auch der Treppenauf- Gemeindehirten, sofern er nicht eine eigene gang war halsbrecherisch. Die Mäuse gingen Wohnung im Ort besaß. Anfang der zwanziger im Haus ein und aus.

Das alte Hirtenhaus wurde im Jahr 1922 durch „Häuschen“ schien aussichtslos, zumal auch die Gemeinde abgebrochen. Auf dem Bild ist die Grundstücksfläche zu klein war. Man ent- das Gebäude zur Hälfte sichtbar. Eine Auf- schied sich für einen Neubau auf dem Grund- nahme von der Gesamtansicht ist nicht erhal- stück im heutigen Huteweg Nr. 2. ten. Für die Gemeinde bestand Handlungsbe- Die Planungen für das neue Gemeindehaus darf. Eine Sanierung oder ein Anbau an das gaben Anlass zu vielen Diskussionen, wie

12 berichtet wurde. Der in Sandstein eingehauene heute an den schweren schmiedeeisernen Be- Spruch gibt Zeugnis hierüber. Die Vorstellun- schlägen zu erkennen. gen, was alles in dem Gebäude untergebracht Auch hierzu erklärte der Zeitzeuge Heinrich werden sollte, gingen bei den Ratsherren weit Eidam folgendes: „Ich habe noch erlebt, dass auseinander. Schließlich einigte man sich dar- der alte „Bruthoas“ (Brothase), eine verwahr- auf, dass folgende Einrichtungen im Haus un- loste obdachlose Person, bei seinen Besuchen tergebracht werden: 1. ein Backhaus, 2. ein in Niederweimar stets straffällig geworden ist, Sozialraum zur vorübergehenden Notaufnahme indem er Brände an Gebäuden oder Strohhau- für Bedürftige, 3. ein Raum für das Unterstel- fen im Feld legte. Man habe ihn dann in dem len der Gemeinde-Feuerwehrspritze mit den kleinen Gemeindegefängnis eingesperrt. Der Gerätschaften, 4. eine Wohnung, evtl. für einen Ortsdiener, der auch gleichzeitig Nachtwächter Gemeindebediensteten (Hirten), 5. ein kleiner war, hatte hier die Aufsicht. „Wenn der ‚Brut- Raum im Keller für die vorübergehende Fest- hoas’ wieder mal eingesperrt war, hatten wir nahme eines Straftäters. Der Eingang zu die- Kinder und Jugendlichen stets unsere Freude sem Raum ist von außen zugänglich und noch daran“.

Das 1922 errichtete neue Gemeindehaus

Die Kontroversen unter den Ratsmitgliedern Sandstein, der wohl aus den Steinbrüchen des zur Erstellung des Gebäudes führten zu der Weimarer-Kopfes entnommen worden ist. Es Einsicht, diese in einem Spruch am Gebäude ist anzunehmen, obwohl nicht durch Quellen festzuhalten. zu belegen, dass dieser Stein mit der eingetra- Im Keller-Mauerwerk des neuen Gebäudes genen Jahreszahl von dem im Jahr 1922 abge- ist an einer gut sichtbaren Stelle ein weißer brochenen alten Hirtenhaus neben der Kirche Sandstein mit der Jahreszahl 1790 eingesetzt. stammen muss und hier zur Erinnerung an das Im Gegensatz hierzu besteht das gesamte alte Gebäude eingebaut wurde. Mauerwerk des Kellergeschosses aus rotem

13

Das Grundstück vom alten Hirtenhaus wurde erwehr hat heute die DLRG ihre Gerätschaften an den Nachbarn Ronzheimer im Jahr 1925 zu untergebracht. Die obere Wohnung steht zur einem Preis von 2.000,- Mark verkauft. Dieser Zeit leer. Am Gebäude ist noch die Feuerwehr- Geldbetrag war der Grundstock für das neue sirene angebracht. Vielleicht wird das Haus in Gemeindegebäude im heutigen Huteweg 2, Zukunft noch weiteren Verwendungszwecken dessen Baukosten 14.142,25 Mark betrugen dienen. (alle Rechnungen sind noch vorhanden). In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden größere Veränderungen am Gebäude vorgenommen. Das Backhaus und der Sozial- raum wurden entfernt, und die Poststelle zog in diese Räume ein. Auch für die Feuerwehrsprit- ze wurde ein neues Domizil Anfang der sieb- ziger Jahre geschaffen. Das kleine „Gefängnis“ in den Kellerräumen wurde nicht mehr ge- braucht. Nachdem die Poststelle in den achtzi- ger Jahren in die Herborner Straße umzogen war, wurde das Gemeindebauamt aus dem Rathaus in diese Räume ausgelagert. Heute dienen die Räumlichkeiten der Jugend als Treffpunkt. In dem Raum der ehemaligen Feu-

14 Die Schwesternstation und Diakoniestation in Roth

von Otto Weimar

„Im August 1927 wurde die Diakoniestation in Gemeinden so umgelegt werden: 50% auf den Roth mit Wolfshausen und Argenstein eröff- Grundsteuersoll und 50% nach der Einwohner- net. Wenkbach hatte sich leider ausgeschlos- zahl. Der Vorstand der Diakonissenstation sen. Das Wohlfahrtsamt Marburg hat sich auf setzte sich wie folgt zusammen: Herr Pfeffer, Veranlassung des Superintendenten Landau Bürgermeister aus Roth, Herr Rauch, Bürger- um die Errichtung sehr verdient gemacht. Die meister aus Wolfshausen, und Herr Karber aus Ausstattung der Station ist wesentlich von Argenstein, sowie je ein Mitglied aus der Ge- ihnen bezahlt worden. Im August 1927 wurde meindevertretung unter dem Vorsitz von Pfar- Schwester Anna Hellmann in Anwesenheit der rer Dellit aus Fronhausen. Frau Oberin des Diakonissen-Hauses Frankfurt Im August 1927 kam ein Vertrag zwischen und Pfarrer Dellit eingeführt. Die politischen dem Diakonissen-Mutterhaus in Frankfurt und Gemeinden tragen die Verantwortung für die dem Vorstand der zukünftigen Diakonissensta- Aufbringung der Kosten.“ So steht es in den tion zustande. Die Vergütung wurde im Ver- Aufzeichnungen der Pfarrei Fronhausen, auf- trag festgelegt. Die Gemeinden mussten mo- geschrieben von Pfarrer Reinhold Dellit (1918- natlich 60 Mark an das Mutterhaus entrichten. 1929 Pfarrer in Fronhausen). Roth, Wenkbach Die Schwester wird vom Mutterhaus mit Klei- und Argenstein gehörten bis zum 1. Juli 1957 dung und Taschengeld versehen, erhält jedoch zum Kirchspiel Fronhausen, Wolfshausen zum eine angemessene freie Wohnung und ein mo- Kirchspiel Cappel. Die medizinische Versor- natliches Haushaltsgeld von 40 Mark. Die gung der Bevölkerung nach dem 1. Weltkrieg Diakonissen sollten ausgebildete Kranken- war allgemein gut, doch ein Teil der Landbe- schwestern sein und mussten sich nach der völkerung, davon der überwiegende Teil aus Ordnung des Mutterhauses richten (aus Akten der Landwirtschaft, gehörte keiner Kranken- im Gemeindearchiv). Aufgabe der Diakonissen kasse an. Viele Menschen waren nicht in der war nicht nur die reine Krankenpflege, sondern Lage, die ärztlichen Honorare zu bezahlen. Die umfasste auch den seelsorgerischen Bereich. Kranken wurden oft zu einem Pflegefall für die Im ständigen Kontakt mit dem Pfarrer übertrug ganze Familie, unsachgemäße Pflege war häu- er ihnen die Leitung der Kindergottesdienste fig die Folge. Daher forderten die Gemeinden, und die Betreuung der Schulkinder bei kirchli- unterstützt von Wohlfahrtsämtern, eine Ver- chen Veranstaltungen. besserung der Krankenpflege in den Dörfern. Die Schwestern, welche als Diakonissen in So hat sich die Gemeindevertretung in Roth, Wolfshausen und Argenstein im Dienst Roth auf Drängen des Kreiswohlfahrtsamtes in waren: einer Sitzung am 18. Juni 1926 auf die Errich- Anna Hellmann 31.8.1927 bis 21.8.1933 tung einer Krankenpflegestation (Diakonissen- station) geeinigt. Es sollte eine gemeinsame Christine Wertz 18.10.1933 bis 20.1.1948 Krankenpflegestation für die Gemeinden Roth, Babette Michel 21.1.1948 bis Herbst 1960 Argenstein und Wolfshausen mit dem Sitz in Schwester Babette Michel wurde im Herbst Roth werden. Zwischen den drei Gemeinden 1960 abberufen, die Stelle wurde vom Mutter- wurde zäh über den finanziellen Anteil jeder haus in Frankfurt nicht mehr besetzt. Gemeinde verhandelt. Auch wenn alle Betei- ligten von der Notwendigkeit einer Kranken- Die Einrichtung der Diakonie-Schwestern- pflegestation überzeugt waren, drohte das Pro- station hat sich zum Wohle aller Kranken und jekt an den Finanzen zu scheitern. Erst nach hilfsbedürftigen Menschen bewährt. Anfang langen Verhandlungen und der Zusage des der 80er Jahre erinnerte man sich wieder an Kreiswohlfahrtsamtes, sich mit einem Zu- diese segensreiche Einrichtung. Um den kran- schuss in Höhe von 200 Mark zu beteiligen, ken und pflegebedürftigen Menschen zu hel- kam eine Einigung zustande. Die Gemeinden fen, kam es 1982/83 zur Bildung einer Kran- stimmten dem Sitz in Roth zu, eine angemes- kenpflegestation für die Kirchspiele Nieder- sene Wohnung wurde bei Jost Grün in Roth walgern und Roth mit Sitz in Niederwalgern in gemietet. Die Kosten sollten für die einzelnen der alten Schule. Die examinierte Kranken- 15 schwester Ingrid Otto übernahm nun diesen mehr als Pflege erfahren“ – unter diesem Leit- Dienst für zwei Jahre. Von September 1985 bis spruch arbeiten heute die Schwestern und Juli 1988 war Christine Thullen für die zwei Krankenpfleger der Diakoniestation. Auch mit Kirchspiele zuständig. Danach wurde die Stelle der Einführung der Pflegeversicherung ist die auf zwei halbe Stellen aufgeteilt (Marita Franz Finanzierung der Diakoniestation nicht einfa- und Veronika Barth, später Manuela Klefenz). cher geworden, denn unsere Diakoniestation Die nächste Änderung trat am 1. Januar soll mehr als nur eine Pflegestation sein. Alle 1994 ein. Es wurde der Zweckverband „Zent- Bürger in den Gemeinden können diesen rale Diakoniestation Fronhausen-Lohra-Wei- Dienst in Anspruch nehmen. Um die Diakonie- mar“ gegründet. Am 5. Juli 1995 wurde die station auch in Zukunft zu erhalten, wird das Leitstelle im alten Bahnhof in Lohra einge- Engagement der Schwestern und Krankenpfle- weiht. Mitglieder in diesem Zweckverband ger, die Spendenbereitschaft wie auch die Be- sind die politischen und die Kirchen- teiligung der politischen und der Kirchen- Gemeinden. „Für die Diakonie unterwegs, Gemeinden nötig sein.

Kleine Mitteilung

Eine kuriose Deutung des Familiennamens Zick/Zück. 1332, in dem die zu Lichtmess (in Purificacione beate Im Heft 42/2007 der Heimatwelt habe ich auf die mögli- Marie virginis: 2. Februar) zu entrichtenden Abgaben aus che Herkunft des Haus- und Familiennamens Zick/Zück der Immunität Fronhausen an der Lahn aufgelistet sind, hingewiesen, den das Salbuch des Gerichts Reizberg werden Hermanus Cix et sui heredes [seine Erben] mit 1592 im Verzeichnis der Ackerleute in Ahln enthält (Zick zwei abzuliefernden Schweinen (II porcos) erwähnt Donges); unter den Hausgesessenen Im dorff Allna wird (Staatsarchiv Düsseldorf, Best. Stift Essen; vgl. Diefen- im Land- und Dorfbuch des Oberfürstentums Hessen bach, Heinrich: Der Kreis Marburg, seine Entwicklung 1629/30 Jacob Zugk der Zimmermann genannt (StAMR aus Gerichten, Herrschaften und Ämtern bis ins 20. Jahr- Best. Salbücher, S 50 Land- und Dorfbuch des Oberfürs- hundert. [Schriften des Instituts für geschichtliche Lan- tentums Hessen 1629/30, Bd. 1). Er geht sicherlich, wie deskunde von Hessen und Nassau 21] Marburg 1943, S. auch die 1572 unter den Eygen Leut zu Ayln genannte 259-261). Anzunehmen ist aber, dass die Essener Schrei- Zuck Elsa erkennen lässt, auf einen Beinamen ‚Zuck’ ber den Beinamen nicht zu deuten wussten; denn in der oder ‚Zück’ (von ‚zücken’) zurück, dessen vollständige selben Quelle, in der auch das Dorf Argenstein erstmals Bedeutung vielleicht im Beinamen einer Hörigen Else erwähnt wird (Argorstene), sind aus diesem Dorf Abga- Czugkswerten aus im Salbuch von 1374 ben eines Hinricus dictus Capra aufgeführt – das ist wohl aufscheint (Küch, Friedrich: Die ältesten Salbücher des eine Fehldeutung der Schreiber, die den Beinamen eines Amtes Marburg. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Henrich Zick falsch interpretierten und daraus einen Geschichte und Landeskunde 29, 1905, S. 145-258; hier „Henrich genannt Ziege“ machten. S. 214; vgl. Becker, Siegfried: Pflugbauern und Einläuf- Zwar kennen wir das heute im Niederdeutschen ver- tige. Hörigkeit und Leibeigenschaft im Spätmittelalter. breitete Wort ‚Ziege’ im Dialekt der Marburger Land- In: 750 Jahre Cyriaxweimar. Geschichte & Geschichten. schaft nicht; während es Vilmar im 19. Jahrhundert für [Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 89] Niederhessen nachwies (Vilmar, August F.C.: Idiotikon Marburg 2008, S. 119-126). Er kam in dieser Form von Kurhessen. Marburg/Leipzig 1868: 468), bemerkte ‚Zuckschwert’ auch andernorts in dieser Zeit noch mehr- Crecelius, es sei in Oberhessen „im Volke nicht bekannt“ fach vor (Küch, Salbücher, S. 221: Heinz Tzockeswert zu (Crecelius, Wilhelm: Oberhessisches Wörterbuch. Darm- Michelbach, und S. 175: Hentz Czugkeswert zu Mar- stadt 1897/1899, Nachdr. Wiesbaden 1966: 417) – hier burg). wurde (und wird) nur ‚Geiß’ (Gääst) verwendet. Doch Der erste Träger dieses Beinamens war sicherlich ein konnte Rein zeigen, dass mit der Ausdehnung der Zie- Mensch, der flink und behende, vielleicht auch unbedacht genhaltung von Süden nach Norden vom 12. bis 15. und jähzornig das Schwert zog (zückte). August F.C. Jahrhundert zunächst das Wort ‚Ziege’ vorrückte und erst Vilmars Deutsches Namenbüchlein (Die Entstehung und in einer zweiten Phase durch ‚Geiß’ ersetzt wurde (Rein, Bedeutung der deutschen Familiennamen. 8. Aufl., neu Kurt: Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt für die hrsg. von Rudolf Homburg, Marburg 1926, S. 71) deutet Haustierbenennung. Untersucht an der deutschen Syno- „Zuckmantel“ als Benennung eines Räubers, der die nymik für ‚capra domestica’. [Beiträge zur deutschen Mäntel herabreißt, ebenso Hans Bahlow (Deutsches Philologie 21] Gießen 1958). Es ist also immerhin mög- Namen-Lexikon. Herkunft und Bedeutung von 15.000 lich, dass zur Zeit des Essener Abgabenregisters 1332 Vor- und Nachnamen. Bindlach 2004, S. 574) nimmt ‚Ziege’ auch im Lahngebiet geläufig war; ob Stadt und Zuckschwerdt als Benennung für jemanden an, der Grafschaft Ziegenhain, 1144 zuerst erwähnt (de Cigen- schnell zur Waffe greift. hagen), mit dem Tier zu tun haben oder ein Personenna- Auf eine frühe Schreibung Cix hat Renate Hildebrandt me (etwa Sigurd) zugrunde liegt, ist trotz des Ziegen- aufmerksam gemacht (Der Hof Zick und seine Entwick- kopfs im Wappen nicht sicher zu klären. Der Familien- lung seit 1978. In: Von Essen nach Hessen. 850 Jahre name Zück in den Dörfern der Marburger Landschaft Fronhausen 1159-2009. Fronhausen 2009, S. 993-996). In aber hat mit der Ziege wohl nichts zu tun. einem Verzeichnis des Reichsstiftes Essen aus dem Jahr S. Becker 16 Die alte Schule in Niederweimar von 1863 Chronologie zur Geschichte des Schulwesens und des Schulgebäudes

von Hans Schneider

Im Jahr 1666 wird erstmals ein Lehrer für Nie- Gemeinde Gisselberg bestand ein Schulver- derweimar in den Kirchenbüchern von Ober- band. Es folgten größere Diskussionen, vor weimar erwähnt. allen Dingen gab es bei den Ratsherren Unei- 1760 stimmte der Gemeinderat darüber ab, nigkeit über den Standort für ein neues Schul- welcher Vollbürger im Folgejahr in seinem haus. Einige bestanden darauf, das neue Ge- Wohnhaus einen Klassenraum zur Verfügung bäude wieder in der Nähe der Kirche zu errich- stellen muss (Vollbürger ist, wer Zugtiere be- ten, weil es für Pfarrer und Kinder angenehmer sitzt, also ein Bauer). sei (sie hatten viermal am Tag die Glocken zu 1798 wurden Zahlungen für Reparaturen läuten). Aber es scheiterte an der nicht ausrei- am Schulhaus festgestellt. Weitere Rechnun- chend verfügbaren Grundstücksfläche. Man gen liegen aus in den Folgejahren für das Ge- entschied sich dann für das am Rande des Or- bäude vor, woraus zu schließen ist, dass ein tes gelegene Grundstück an der Straße zur Schulhaus in Niederweimar vorhanden war, Nähebrücke, dem heutigen Huteweg. Durch wohl das heute noch bewohnte Haus „Altes die drohende Kriegsgefahr (Österreich-Frank- Dorf“, Nr. 12. reich) verzögerte sich das Bauvorhaben. Trotz- Im Jahr 1830 wurde ein Anbau vorgenom- dem wurden die Planungen vorbereitet. Die men, um die stetig wachsende Zahl der Kinder Bauarbeiten gingen schleppend voran. Es folg- unterzubringen. Es währt nicht lange, und die ten Beanstandungen durch den Landbaumeister Räumlichkeiten reichen wieder nicht mehr aus. wegen des unbefriedigenden Zustandes der Auch gibt es keinen Abtritt, wie der Chronist Räumlichkeiten im alten Schulgebäude. Herbert Kosog berichtet. All das führte zu 1863 wurden das neue Schulhaus mit Woh- Überlegungen, ein neues größeres Gebäude zu nung für den Lehrer und das dazu gehörige errichten. Die Schulaufsicht drängte auf eine Stallgebäude für das Halten einer Kuh und Veränderung und spricht von „erbärmlichen“ zwei Schweinen fertiggestellt. Am 31. August Zuständen in Niederweimar. 1863 wurde der Unterricht durch Lehrer Wil- 1858 begannen Planungen für ein neues helm Grün aufgenommen, jedoch ohne die Schulhaus. Auf Grund der vorgenannten Situa- Schüler aus Gisselberg. tion musste die Gemeinde handeln. Mit der

Die alte Schule, gezeichnet von Heinrich Ehlich

17 Gisselberg wollte sich an den Schulbaukosten Weg ein und wurde vom Eigentümer Konrad nicht beteiligen (vgl. meinen Bericht in Hei- Herrmann geführt. Lehrer Hucke zog bis zu matwelt 43, 2008). Die Baukosten für die seiner Pensionierung 1920 in das neue Schul- beiden Gebäude und den Brunnen betrugen rd. gebäude um. 5.200 Taler. Hierzu erhielt die Gemeinde einen 1913 überließ die politische Gemeinde das Zuschuss aus der Staatskasse in Höhe 100 Gebäude der Kirchengemeinde kostenfrei mit Taler. Die weitere Finanzierung erfolgte durch der Auflage, die Unterhaltung zu übernehmen. Aufnahme eines Kredites bei der Landeskre- Es liefen Planungen der Kirche für die Einrich- ditkasse in Höhe von 2.600 Talern. Den Rest tung einer Diakoniestation. In Folge des Aus- musste die Gemeinde aus eigener Tasche fi- bruchs des 1. Weltkriegs scheiterte dieses Vor- nanzieren. Rund 50 Jahre diente das Gebäude haben. Die Kirchengemeinde richtete ein Ge- als Schule und Lehrerwohnung. nesungsheim für verwundete und erholungsbe- Nach jüngst aufgefundenen Belegen wissen dürftige Soldaten ein. Die Gemeindeglieder wir, dass seit 1887 auch die erste Poststelle für stellten 17 Betten sowie Wäsche und Nah- Niederweimar im Schulgebäude eingerichtet rungsmittel zur Verfügung. Zur Finanzierung war. Lehrer Reinhard Hucke war Posthalter. trug die Kirchengemeinde 1.200 Mark bei. Mit der Errichtung eines neuen Schulgebäudes Ebenso wurden Sammlungen durchgeführt. Im in der Herborner Straße im Jahr 1913 wurde Durchschnitt waren 10-15 Soldaten aufge- die alte Schule mit dem Nebengebäude ent- nommen, die Leitung unterstand einer Diako- behrlich, das Stallgebäude abgebrochen. Auch nieschwester. die Poststelle zog in das Haus Haddamshäuser

Soldaten, Pflege- und Hilfskräfte stellen sich dem Fotografen 1914 Die beiden Frauen von rechts (Elisabeth Herrmann und Elisabeth Grebe) waren in der Küche tätig

Ende des Jahres 1916 wurde das Heim aufge- Kasseler Regierungspräsidiums einer Privat- löst, die Räume standen leer. Es zogen Mieter person die Gründung eines Privat-Kinder- in die Wohnräume ein. 1918 liefen Verhand- gartens im ehemaligen Klassenraum genehmigt lungen mit dem Frankfurter Mutterhaus wegen (es muss Liesel Spielmann, Tochter des Leh- der Einrichtung einer Schwesternstation. Am rers Karl Spielmann, gewesen sein, die auch in 3. März wurde die Stelle durch die Schwester späteren Jahren im Kindergarten tätig war). Luise Usbeck besetzt. Die Einrichtungsgegenstände wurden von der Nach kürzlich aufgefundenen Dokumenten Schreinerei Grebe hergestellt. Anfangs wurden wurde am 1. Juli 1931 mit Zustimmung des 8 Kinder gezählt. 18

Gemeindeschwester Wackerbarth mit den bekannten Kindern Ruppert Schnabel und Hans Mengel etwa um das Jahr 1940

1933 erfolgte die Übernahme des Kindergar- 1970 wechselte das Bürgermeisteramt in die tens durch die N.S.V. und ein Ganztagskinder- gegenüberliegenden Räume. Jetzt wurde auch garten mit Mittagsspeisung wurde eingerichtet die Gemeindekasse dort angesiedelt. 1972 (N.S.V. war eine Unterebene der Nazi- stand das gesamte Haus der Gemeindeverwal- Organisation, die auch zu Spenden aufrief; tung zur Verfügung. Es könnte vieles berich- Träger war die Gauleitung). Dann heißt es ten, vor allen Dingen über die laufenden Ver- weiter: „Später wurde der Kindergarten von handlungen zur Neugliederung der Gemein- der Kirche übernommen“. Es ist nicht ersicht- den. lich, in welchem Jahr dies geschah. Der Kin- 1998 erfolgte der Neubau eines Verwal- dergartenbetrieb blieb bis zur Errichtung des tungsgebäudes und der Verkauf der „alten neuen in der Schützenstraße im Schule“ an den heutigen Besitzer. Zusammen- Jahr 1972/73 erhalten. fassen lassen sich also die vielseitigen Nutzun- 1946 zog im rechten Zimmer unten im Flur gen des Gebäudes: es war Schule, Poststelle, ein Textilkaufmann ein, dessen Laden bis zum Genesungsheim, Mietwohnungen, Diakonie- Jahr 1954 bestand. Die anderen Räume im station, Geschäftshaus, Kindergarten, Gemein- Gebäude wurden vermietet. 1956 zog in die deverwaltung und jetzt Zahnarztpraxis, An- oberen Räume links das Bürgermeisteramt ein. waltskanzlei, Steuerberaterbüro. 1960 wurde der Zieh-Brunnen beseitigt; er war nach dem Bau der zentralen Wasserversorgung Quellen: Gemeindearchiv Weimar. - Mitteilungsblätter in Niederweimar überflüssig geworden. 1972. – Heimatwelt 20, 1986.

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Alt-Bürgermeister Gerlach und Karl Hartmann bei den Abbrucharbeiten am alten Ziehbrunnen an der Schule in Niederweimar

Bücherschau

Aus der Geschichte der Familie Schenck zu Schweins- Oberhof, Samtbau, Burg Hermannstein und Pfarrkirche berg. [Kalender] 2011, hrsg. vom Hessischen Staatsar- Hermannstein als Grablege), historische Karten und chiv Marburg, von der Historischen Kommission für Tafeln (Stadtgrundriss von Schweinsberg 1774/75, Hessen und der Schenckenstiftung Samtbau. Redaktion Stammbaum), Porträts (Ferdinand Schenck zu Schweins- Rüdiger Freiherr Schenck zu Schweinsberg und Harald berg, Kurhessischer Minister der Justiz 1830/31; Philipp Winkel, Gestaltung Manuel Drach. Marburg 2010 Schenck zu Schweinsberg, Fürstabt der Abtei 1541-1550; die Leichenpredigt für Wolf Christoph Mit diesem Kalender setzen Staatsarchiv und Historische Schenck zu Schweinsberg, landgräflicher Gouverneur Kommission die Reihe von großformatigen Wandkalen- von Oberhessen, und sein Grabmonument in der Lutheri- dern mit Dokumenten aus hessischen Adelshäusern fort. schen Pfarrkirche Marburg von 1717, zugeschrieben Auf 13 Blättern (samt Titelblatt) werden ausgewählte Johann Friedrich Sommer) sowie das Schenksche Wap- Quellen und Gebäude aus der Familiengeschichte der pen im Glasfenster der Elisabethkirche Marburg Schenken vorgestellt – für die Dörfer der heutigen Ge- (~1300/1315). meinde Weimar nicht nur von Interesse wegen des Die Abbildungen sind auf der Rückseite ausführlich Schenkisch Eigen (Roth, Argenstein und Wenkbach), und profund erläutert – der Kalender wird also weit über sondern auch wegen der rechtsgeschichtlichen Bedeutung das Jahr 2011 hinaus ein oft zu Rate gezogener Einstieg der Schenken als Gerichtsherren im Reizberg, ein Rechts- in die Geschichte einer Familie sein, die mit dem nun titel, den sie als Lehen der Grafen von Nassau- verzeichneten Samtarchiv (als Depositum im Staatsarchiv Saarbrücken erhalten hatten und bis ins 18. Jahrhundert Marburg) einen gehaltvollen Quellenbestand zur Wirt- gegen die Landgrafen von Hessen behaupten konnten. schafts- und Rechtsgeschichte, zur Kultur- und Sozialge- Die vorzüglichen Abbildungen zeigen Urkunden (etwa schichte Oberhessens überliefert hat. Der Kalender im die Belehnung mit dem Erbschenkenamt, der Burgfrieden Format DIN A3 ist für 15,- € zzgl. Versandkosten bei der von 1447, die Bestätigung der Ritterbürtigkeit von 1792), Historischen Kommission für Hessen, Friedrichsplatz 15, Bauwerke (Burg Schweinsberg mit Neuer Kemenate, 35037 Marburg, zu beziehen. S.B. Hexenturm und Torbau der Vorburg, Unter-, Mittel- und

20 Meine Erinnerungen an die Hamsterzeit

von Hans Schneider

In den Nachkriegsjahren 1945 bis Mitte 1948 Essen tauschen. Die Not muss bei vielen groß mangelte es an allem für das tägliche Leben. gewesen sein, sonst hätten diese Leute nicht Besonders ging es um die Ernährung. Während solche Strapazen der langen Wege aus den bei uns auf dem Land keine direkte Not weit entfernten Städten mit ihren Tauschwaren herrschte, gab es in den Städten doch große auf sich genommen. Sie suchten einfach nach Hungersnöte. Obwohl durch die alliierten Be- Essbarem, um zu überleben. Sie kamen meist satzungsmächte das Tauschen oder Handeln in überfüllten Zügen, teils noch auf den Tritt- mit Waren verboten war, so widersetzten sich brettern stehend, in unser Dorf und sicherlich viele Menschen diesem Verbot, weil sie ein- auch in andere Orte, um zu tauschen. Bei man- fach Hunger hatten, und sie nach etwas Essba- chen Familien hatten sich schon Freundschaf- rem suchten. Sie kalkulierten also Strafen ein ten mit den „Hamsterern“ entwickelt, und der und riskierten auch den Verlust der getausch- „Gast“ konnte auch schon mal an einer Mahl- ten Waren. Die Zuteilungen durch die Le- zeit teilnehmen. Bei zu weiter Wegestrecke bensmittelkarten waren oft nicht erhältlich, zurück in ihre Heimatstadt durfte der Besucher weil die Waren vielfach in den Geschäften sich auch mal eine Schlafstelle in Stall oder fehlten. Scheune aussuchen. So war es auch bei meinen „Die Hamsterer“, so wurden die Menschen Eltern. Das Begehrteste für die Hamsterer wa- bei den Einheimischen genannt, obwohl der ren Getreide, Kartoffeln, Speck, Fleisch, Mehl, Begriff „Hamsterer“ nicht zutreffend ist. Sie Eier und vieles mehr. Dafür brachten sie alles wollten nicht hamstern, sondern irgendwelche Mögliche von ihren Habseligkeiten mit. Waren aus dem Haushalt gegen etwas zum

Ein Zug überfüllt mit Menschen (Hamsterer). Sie standen auf den Trittbrettern oder saßen auf dem Dach der Waggons. Die Polizei wurde der Menschenmassen nicht Herr.

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Die Hoffnungen der „Hamsterer“ auf eine waren stets bemüht, unser vorgegebenes „Soll“ spürbare Lebensmittelhilfe musste oft ent- an Abgaben zu erfüllen, auch wenn dies oft- täuscht werden, denn auch bei den Landwirten mals mit Einschränkungen verbunden war. Auf oder Kleinbauern, wie wir es waren, waren die Grund des Berufes meines Vaters mussten sich Lebensmittel rationiert. Wir hatten 18 Hühner, die Eltern vorbildlich verhalten. und davon mussten wir eine festgeschriebene Mir ist noch ein Herr mittleren Alters in Zahl an Eiern im Jahr abliefern. Das gleiche Erinnerung, der aus dem Siegerland beinahe galt für Milch, für Getreide und für Kartoffeln. wöchentlich bei uns eintraf. Mal brachte er aus Hier hatte man von jeder Kuh, von jedem Mor- der dortigen metallverarbeitenden Industrie gen oder Hektar eine vorgeschriebene Menge etwas für den Haushalt mit, mal waren es Ge- an Milch, Getreide oder Kartoffeln her- räte für die Landwirtschaft, wie Hacke oder zugeben. Selbst beim Schlachten der eigenen Gabel. Ein besonderer Tausch bestand in der Schweine durfte man pro Person nur eine vor- Lieferung einer großen Kelter. Diese musste gegebene Menge an Wurst, Speck oder Fettwa- am Bahnhof in Niederwalgern abgeholt wer- ren behalten. Der Fleischbeschauer kontrollier- den. In vorheriger Absprache mit zwei Nach- te die Schlachtung, teilte das Gewicht des ge- barn teilten sich meine Eltern die ausgehandel- schlachteten Tieres durch die Personen der te Gegenleistung von Getreide zum Brotba- Familie und sagte dann, welche Menge von cken. Bei mehreren Besuchen nahm er die Wurst, Fleisch oder Fett an eine zentrale Stelle zuvor abgesprochene Menge an Getreide mit. abzuliefern war. Das war oft bitter für die Be- Ob der Gegenwert an Getreide den Kosten der troffenen, hatte man sich doch alle Mühe ge- Kelter angemessen war, wurde nicht geprüft. geben, um eine gute Ernte einzufahren, und Für den „Hamsterer“ ging es nur um etwas musste sich nun von einem Teil davon wieder zum Essen. Mit der Kelter haben wir und die trennen. Hier und da wurde auch schon mal anderen Beteiligten Jahrzehnte Zuckerüben „schwarz“ geschlachtet, um nicht gar zu spar- ausgequetscht, den Saft mit Birnen oder sam mit Fleischwaren leben zu müssen. Aber Zwetschgen vermischt und Honig und Mus Vorsicht: bei Bekanntwerden dieser verbote- hergestellt. nen Schlachtung landete man schnell für einige Es wurde damals davon gesprochen, dass Wochen in der „Wilhelmstraße in Marburg“ aus den Hamsterer oftmals auch Händler wur- (dort stand das Gefängnis). Landwirte aus un- den, die größere Mengen an Waren zum serem Dorf haben mit dem dortigen „Haus“ Tausch anboten. Hier soll es jedoch mächtige Bekanntschaft machen müssen. Meine Eltern Strafen gegeben haben.

22 In den Jahren nach dem Krieg war die Reichs- vieles kaufen, aber dazu fehlte nun das Geld. mark wertlos, obwohl sie noch als offizielles Denn mit der Währungsreform waren alle Zahlungsmittel galt. Am 20. Juni 1948 kam Bundesbürger gleichgestellt, in dem jeder die das neue Geld: die Deutsche Mark. Die begrenzte Menge von 40 DM pro Person er- Reichsmark wurde hierdurch abgelöst. In den hielt. Ab nun ging es aufwärts mit der west- folgenden Tagen danach füllten sich die deutschen Wirtschaft. Von den „Hamsterern“ Schaufenster mit Waren. Plötzlich konnte man war nichts mehr zu sehen.

Bücherschau

Neue Schriftenreihe der Gemeinde Weimar. Mit dem für die Lokalgeschichte zu motivieren und fürs Mitma- Band Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse und Erinne- chen zu begeistern: fast hundert Beiträge von über fünf- rungen aus 775 Jahren. (Historische Schriften der Ge- zig Autoren sind darin versammelt. meinde Weimar/Lahn 1) Weimar/Lahn 2010, XXIII und Die Gliederung des Inhalts ist nicht chronologisch 821 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-9813641-0-1 (20,- €), aufgebaut, sondern nach Sachgebieten geordnet: Häuser wird eine neue Schriftenreihe eröffnet, in der künftig und Höfe, Wohnen und Wirtschaften, Zu- und Auswan- Monographien und Sammelbände zur Geschichte der derung, Kirche und Frömmigkeit, Gemeinde, Dorf und Dörfer in der heutigen Großgemeinde Weimar erscheinen Schule, Kunst und Kunsthandwerk, Bauern und Obrig- sollen. keit, Bürger und Politik, Straße und Eisenbahn, Hand- Inzwischen liegt auch der zweite Band vor: Die Zeit in werk und Handel, die Landschaft und ihre Nutzung, Allna 807-2010. Beiträge zur Ortsgeschichte. (Histori- Vereinsleben – eine breite Sicht auf die soziale, kulturelle sche Schriften der Gemeinde Weimar/Lahn 2) Wei- und politische Geschichte des Dorfes spiegelt sich darin. mar/Lahn 2010, XVI und 382 S., zahlr. Abb., ISBN 978- In einem Kapitel mit Lebensbildern werden Personen des 3-9813641-1-8 (15,- €). Beide Bände können über den öffentlichen Lebens wie der Abgeordnete der kurhessi- Buchhandel oder über die Gemeinde bezogen werden. schen Ständekammer und spätere Mitbegründer der Am 13. Dezember 2010 wurde im Staatsarchiv Mar- Sozialdemokratie im Kreis Marburg Heinrich Lauer burg die Chronik Niederwalgern 1235-2010 mit einem vorgestellt. Aber auch an Menschen, die nicht im Ram- Sonderpreis des Wissenschaftspreises für hessische Lan- penlicht standen, wird in Skizzen ihres Lebens und Wir- desgeschichte ausgezeichnet, den das Hessische Ministe- kens erinnert. rium für Wissenschaft und Kunst vergibt. Der Hauptpreis Lobenswert sei die sorgfältige Dokumentation. So ging an die Habilitationsschrift von Alexander Jendorff: werden etwa die Grabsteine des 17., 18. und frühen 19. Condominium. Typen, Funktionsweisen und Entwick- Jahrhunderts in der Kirche und auf dem Kirchhof nicht lungspotentiale von Herrschaftsgemeinschaften in Alteu- nur kompetent beschrieben, sondern in ihren familienge- ropa anhand hessischer und thüringischer Beispiele. schichtlichen Kontext gestellt. In den meisten Beiträgen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für sind die ausgewerteten Quellen angegeben und damit Hessen 72) Marburg 2010. nachprüfbar, und mit der verzeichneten Sekundärliteratur Die Chronik Niederwalgern könne als Vorbild für wird zum Weiterlesen im landesgeschichtlichen Schrift- ähnliche Projekte zur lokalgeschichtlichen Spurensuche tum und damit auch zur weiteren Spurensuche angeregt. gelten, sagte der Direktor des Hauptstaatsarchivs Wies- Gelungen sei auch das offene Konzept des Buches, baden Prof. Dr. Klaus Eiler in seiner Würdigung: es sei das einzelne Ereignisse, Monumente, Erinnerungen ex- ein erstaunlich gehaltvolles Buch, das man gern zur Hand emplarisch in ihren jeweiligen historischen Kontext rücke nehme, das die Leser einlade zu einer Zeitreise in die und damit die „kleinen Erzählungen“ der lokalen Ge- Geschichte eines Dorfes im Marburger Land. Die neube- schichte in den „großen Erzählungen“ der Historiogra- gründete Reihe lasse auf manchen weiteren lesenswerten phie verorte. Die Leserinnen und Leser werden auf die Titel hoffen, weshalb dieses Engagement der Gemeinde narrativen und materiellen Spuren in ihrem eigenen für die Geschichte ihrer Ortsteile auch besonders zu Wohnort hingewiesen, die sie vielleicht kennen, aber nun würdigen sei. neu zu sehen und zu lesen lernen. Und sie werden mittels Hervorzuheben sei die professionelle graphische dieser Spuren an die Strukturgeschichte herangeführt, Gestaltung. Layout und Buchschmuck wurden Tom verstehen, dass die Objekte und auch sie selbst Teil grö- Engel aus -Roßberg anvertraut, der viel ßerer historischer Prozesse sind. Erfahrung und Gespür für die Gestaltung landesge- Wesentlich aber ist, dass die Chronik nicht versucht, schichtlicher Bücher besitzt und nicht zuletzt auch Publi- die Lokalgeschichte insgesamt darzustellen, sie „in einem kationsprojekte der Historischen Kommission für Hessen Guss“ zu schreiben. Im Gegensatz zu solchen monogra- betreut. phischen Ortsgeschichten, die nach fünfzig oder hundert Für die Umschlaggestaltung und die Vignetten im Jahren neu geschrieben werden müssen, kann dieses Buch wurden Holzschnitte des ortsansässigen Künstlers Buch in fünfundzwanzig oder in fünfzig Jahren fortge- Heinrich Groß verwendet, eigens für dieses Buch ge- setzt, weitergeschrieben, ergänzt werden: viele Ereignisse schaffen und damit eine originäre Bereicherung des und Quellen der Lokalgeschichte sind ja noch aufzuarbei- Bandes. Auch dies zeichne das Buch aus: es ist in großen ten, trotz dieses dicken Buches. Es schließt die Beschäfti- Teilen von Autorinnen und Autoren aus dem Ort selbst gung mit der Lokalgeschichte und mit der Landesge- erarbeitet worden, unterstützt von fachkundigen Autoren schichte nicht ab, sondern lädt zum Weitermachen ein. aus dem Umland und der nahen Universitätsstadt Mar- S.B. burg. Mit diesem Projekt sei es gelungen, viele Menschen 23 Johann Friedrich (1563-1629) aus Wolfshausen

von Friedrich von Petersdorff

Als Johann Friedrich, Professor an der Univer- toren der Leipziger Thomasschule. Als Ge- sität Leipzig, 1629 starb, wurde er als „wohl- burtsort von Friedrich übernahm der Autor aus gelehrt und weitberühmt“ charakterisiert. 1582, dem ADB-Artikel (1878) die Angabe „Wolfs- im Alter von 18 Jahren, kam er als Student hausen“ und erstellte einen Verweis (Hyper- nach Leipzig und verbrachte in dieser Stadt link oder auch Link genannt) zum Wikipedia- den größten Teil seines Lebens. Im Laufe der Eintrag über den Weimarer Ortsteil Wolfshau- Jahre unterrichtete er an der Universität Rheto- sen – offensichtlich mangels anderer Orte die- rik, Physik, Historien und alte Sprachen. Die- ses Namens. ser anerkannte Gelehrte wurde am 7. Oktober Demnach wäre Friedrich im hessischen 1563 als Sohn eines Bauern und Schultheißen Wolfshausen geboren. Folgerichtig wurde in Wolfshausen (in der Leichenpredigt auch anschließend im Wikipedia-Artikel „Wolfs- „Wolffeshausen“ genannt) geboren. Aber um hausen“ die Rubrik „Söhne und Töchter“ er- welchen Ort dieses Namens handelt es sich? stellt – mit Verweis auf „Johann Friderici Um Wolfshausen im hessischen , dem (1563–1629), deutscher Historiker, Bibliothe- heutigen Ortsteil der Gemeinde Weimar? Die- kar und Pädagoge“. Dieser Wikipedia-Hinweis se Ansicht wurde zeitweise in der Online- veranlasste die Redakteure der Sendung Enzyklopädie Wikipedia vertreten. Oder ist der „Weimar in Thüringen und Weimar in Hes- Geburtsort anderswo zu suchen? sen“, wie sie am 11. Oktober 2010 vom Hör- Zunächst eine kurze Erläuterung zur hier funksender Deutschlandradio Kultur ausge- gewählten Schreibweise des Nachnamens: In strahlt wurde, sich nach Friedrich zu erkundi- der Literatur hat sich keine einheitliche Form gen, da er laut Wikipedia aus Weimar in Hes- durchgesetzt. Der Katalog der Deutschen Nati- sen stamme. Die Anfrage gelangte zu Siegfried onalbibliothek nennt folgende Varianten: Fri- Becker (Niederwalgern), der seine Zweifel an derich, Friderichus, Friderici, Fridericus, der Richtigkeit der behaupteten Beziehung von Fridrichus, Friederich, Friedrich – wobei sich Friedrich zu Wolfshausen äußerte – zumal durch die unterschiedlichen Versionen des Friedrich Mohn ihn nicht in seiner in den Vornamens (Johann, Johannes oder Joannes) 1970er Jahren erschienenen Schrift „Wolfs- die Zahl der Kombinationen erhöht. Nicht zu hausen. Unser Heimatdorf in Vergangenheit vergessen ist zudem die lateinische Namens- und Gegenwart“ erwähnte. form, die nach damaliger Sitte den Herkunfts- Ein Blick in die ADB zeigt, dass von ort berücksichtigte: Wolfeshusius (auch mit „Wolfshausen, einem fränkischen Dorfe bei zwei „f“ vorkommend). Der Artikel in der Würzburg“ die Rede ist. Offensichtlich hat die ADB (Allgemeine Deutsche Biographie, 1878) verkürzte Zitierung aus der ADB zu einer irri- wählte die Schreibweise „Friderich“, während gen Suche nach dem Geburtsort geführt: Ob- Markus Huttner sich in seiner Monographie wohl der ADB-Artikel auf eine Lage bei über „Geschichte als akademische Disziplin“ Würzburg verwies, wurde Wolfshausen im (2007) für die Form „Friedrich“ entschied. Die Lahntal als Geburtsort angegeben – mangels Wahl Huttners für „Friedrich“ ist maßgebend anderer Kandidaten. für die in meiner kurzen Abhandlung gewählte Bei dem Versuch einer Lokalisierung des Form. Es liegt wohl an der geringen Erwäh- Geburtsortes ist zu berücksichtigen, dass sich nung Friedrichs seit dessen Tod, dass eine die Schreibweise von Orten im Laufe der Jahr- Einigung auf eine einzige Schreibweise sich hunderte ändern konnte, ohne dass es einer bisher nicht durchsetzte oder als nicht erforder- offiziellen Umbenennung bedurfte. So ist bei- lich erwies. spielsweise dem „Zedler“ („Grosses vollstän- Die kulturgeschichtliche Bedeutung des diges Universal Lexicon Aller Wissenschafften Johann Friedrich veranlasste im Mai 2008 und Künste“, 64 Bände, 1732-1754) folgender einen anonym schreibenden Autor, einen Arti- Hinweis zu entnehmen: „Wolfshausen oder kel über Johann Friedrich in der Online- Wolckshausen, ein Würtzburgisches Dorf Enzyklopädie Wikipedia zu veröffentlichten – […]“: Demnach änderte sich der frühere Name als einen von mehreren Wikipedia-Artikeln dieses Ortes Wolfshausen in Wolckshausen. desselben Verfassers zu Rektoren und Konrek- Handelt es sich bei diesem Ort, dem heutigen 24 Wolkshausen (Ortsteil der Gemeinde Gaukö- Rhön-Grabfeld) sein – aber zur Klärung bedarf nigshofen, Landkreis Würzburg) um den ge- es noch weiterer Forschungsschritte. suchten Geburtsort Friedrichs? Eine Identifi- zierung Wolkshausens mit dem gesuchten Quellen und Literatur: [Artikel] Wolfshausen oder Wolckshausen. In: Zedlers Universal-Lexicon, Bd. 58, Wolfshausen widerspräche nicht den Ausfüh- Leipzig u. Halle 1748, Sp. 1289. – [Artikel] Wolfshusius, rungen in der ADB. Eine entsprechende Zu- oder Wolfhusius, (Johann Friedrich). In: Zedlers Univer- ordnung beruhte aber nur auf Angaben aus der sal-Lexicon, Bd. 58, Leipzig und Halle 1748, Sp. 1290. – Sekundärliteratur, also nicht auf zeitgenössi- Eckstein, [Friedrich August]: [Artikel] Friderich, Johann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 7, Leipzig schen Quellen. 1878, S. 382-383. – Hoepner, Johann: Christliche Leich- Zu den Primärquellen hingegen zählt die predigt […] M. Johannis Friderici […]. Leipzig 1629 Leichenpredigt Friedrichs, die heute noch in (Abbildungen: http://www.gbv.de/vd/vd17/39:138220C). einzelnen Bibliotheken eingesehen werden – Huttner, Markus: Geschichte als akademische Diszip- kann. Dem gedruckten Lebenslauf ist zu ent- lin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. nehmen, dass der Verstorbene zu Wolffeshau- (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschafts- sen in Francken / vnter das Stifft Würtzburg geschichte, Reihe A, Band 5) Leipzig 2007. – Mohn, gehörig / nahe bey Mellerstadt gelegen gebo- Friedrich: Wolfshausen. Unser Heimatdorf in Vergan- ren wurde. „Mellerstadt“ ist das heutige Mell- genheit und Gegenwart. Marburg [1974]. Online-Seiten (zuletzt angesehen 11. Dezember 2010): richstadt (Landkreis Rhön-Grabfeld). Dieser Seite „Friderich, Johann“. In: Personennamendatei Ort liegt jedoch zu weit von Wolkshausen (PND): http://d-nb.info/gnd/122315138. – Seite „Johann entfernt, um die Worte „nahe bei gelegen“ Friderich“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, verwenden zu können. Demnach ist Wolkshau- http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friderici. – Seite sen nicht der gesuchte Geburtsort „Wolfshau- „Wolfshausen“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfshausen. – Weber, sen“. Blanka und Anke Petermann: Weimar in Thüringen und Es bestehen wohl keine Zweifel, dass nach Weimar in Hessen. Ähnlichkeiten sind rein zufällig. dem Geburtsort in Franken zu suchen ist, und Länderreport, 11. Oktober 2010 (Manuskript zur Sen- zwar im Gebiet des Würzburger Bistums dung: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/laender- report/1288006/; Audio Link: (Kurz-URL) (Hochstift Würzburg). Doch erlaubt der ge- http://tinyurl.com/22mvuso oder (Original-URL) genwärtige Forschungsstand noch keine ein- http://www.dradio.de/aodflash/player.php?station=3&bro deutige Lokalisierung des Geburtsortes. Ein adcast=348710&datum=20101011&playtime=1286795 möglicher Kandidat könnte, in der Nähe von 200&fileid=9476de3b&sendung=348710&beitrag=12880 Mellrichstadt gelegen, das heutige Wülfers- 06&/). hausen an der fränkischen Saale (Landkreis

Bücherschau

Barbara Wagner unter Mitarbeit von Dieter Bertram, dafür die Angaben zu Deportation und Ermordung her- Friedrich Damrath und Friedemann Wagner: Die jüdi- vor, zum Holocaust, dem Auslöschen der jüdischen schen Friedhöfe und Familien in Fronhausen, Lohra, Landgemeinden. Den Familienblättern vorangestellt sind Roth. Hrsg. von der Geschichtswerkstatt Marburg e.V., ausführlichere Erläuterungen zu den sozial- und rechtsge- Marburg 2009, 375 S., zahlr. Abb. schichtlichen Bedingungen des Lebens in den jüdischen Gemeinden Oberhessens, zur Geschichte der Gemeinden Ein Projekt, das 1990 von der Mitgründerin der Ge- und der Friedhöfe, in denen auch Quellen im Staatsarchiv schichtswerkstatt Marburg Barbara Händler-Lachmann ausgewertet wurden; so vermitteln etwa die Angaben zu angestoßen und begonnen, aber durch ihren frühen Tod den Denunziationen durch den Arzt Dr. Hermann, Orts- zum Erliegen kam, konnte dank der intensiven Material- gruppenleiter der NSDAP in Lohra, Eindrücke von der recherche und Texterstellung durch Barbara Wagner zum Situation der noch verbliebenen jüdischen Familien. Abschluss gebracht werden. Die Inventarisation der Dieter Bertram und Friedrich Damrath haben die Grabsteine auf den Friedhöfen der Synagogengemeinde Übersetzung und Umschriften der hebräischen Grabstein- Roth-Fronhausen-Lohra, ergänzt durch die Fotodoku- inschriften besorgt und geben einführend zu den Inven- mentation des Bildarchivs Foto Marburg und durch Fami- tartafeln Hinweise zur Datierung (den Monatsnamen, der lienblätter mit den genealogischen Daten der Familien in Jahreszählung) und den häufiger verwendeten Formeln. den drei Dörfern liegt nun im hochwertigen Druck vor. Friedemann Wagner hat Layout und Bildbearbeitung Barbara Wagner konzentriert sich auf die Grabsteine übernommen. und die biographisch-genealogischen Daten. Mit Ausfüh- Das Buch hat leider keine ISBN, dürfte aber im Buch- rungen zu den familien-, sozial- und kulturgeschichtli- handel bei Angabe der Bezugsadresse erhältlich sein: chen Kontexten geht sie sparsam um; hinter den Namen Geschichtswerkstatt Marburg e.V., Schwanallee 27-31, scheint aber dort Leben auf, wo Eheverträge in die Fami- 35037 Marburg, Tel. 06421/13107. S.B. lienblätter aufgenommen sind. Umso deutlicher treten

25 Eine Skizze zu Carl Bantzers „Abendmahl“ aus Niederwalgern

von Siegfried Becker

Der Kunstmaler Carl Ludwig Noah Bantzer Bänken und einem dämmerigen Altarraum. So (1857-1941), wohl renommiertester Vertreter wurde auch meine Holzkirche.“ jener Künstlergeneration, deren Aufbruch im späten 19. Jahrhundert zugleich ein Rückzug in die Idylle war, besuchte am Beginn der 1880er Jahren mehrfach zu Studienaufenthalten das Dorf Niederwalgern, wo er in der Gastwirt- schaft Heuser („Im Krug zum grünen Kranze“, damals noch im Dorf: Gehanns) logierte (vgl. Becker 2010). In dieser frühen Zeit seines Schaffens sind an den Arbeiten, die in Nieder- walgern entstanden, auch Ansätze seiner künst- lerischen Entfaltung abzulesen, seiner Ent- wicklung vom Genremaler zum akademischen Lehrer, vom trivialen Motiv zu einer changie- renden Synthese zwischen Impressionismus und Realismus im Monumentalbild. Durch den Gesamtstudie zum „Abendmahl in einer hessischen Dorf- Tod seiner ersten Frau Claire 1887 und seiner kirche“, 1891 (Privatbesitz Unkel, ausgestellt 1977) Verarbeitung im Historienbild ‚Wallfahrer am Grabe der heiligen Elisabeth’ bereits angesto- Gerade das ‚Abendmahl’ lässt Wahrnehmung, ßen, erhielt er während eines Parisaufenthaltes Absicht, Deutung Bantzers erkennen, erlaubt 1890 dann jedoch Anregungen zur monumen- uns einen Blick auf die Widersprüchlichkeit talen Inszenierung religiöser Sujets; als erste der Volkslebenmalerei, auf jene innere Verun- große Arbeit dieses Genres entstand 1890/92 sicherung, die sich zwischen realistischer das ‚Abendmahl in einer hessischen Dorfkir- Wahrnehmung und der Apodiktik sentimenta- che’. lischer Verklärung auftut (Scharfe 1990). Die Viele Skizzen und Vorstudien gingen die- sorgfältige, ja penible Vorbereitung zur Kom- sem Bild voraus. An vielen Abendmahlsfeiern position der Bildidee zeigt, dass die Bilder nahm er, zunächst auf die Anregung seiner Bantzers nicht unmittelbare Reaktion auf einen Mutter hin, in Willingshausen teil. Um die Eindruck, nicht Abbild der Realität waren, Positionen und Körperhaltungen der Kommu- sondern jeweils langer Prozess suchender, nikanten beim Empfang des Abendmahls ar- definierender, selektierender und synthetisie- rangieren zu können, fertigte er zahlreiche render Arbeit, zu der er auch den Fotoapparat Fotografien von Schwälmerinnen und als moderne Technik nutzte, um Bildwirkun- Schwälmern in Tracht, und er ließ im Merz- gen zu erproben, in die aber auch Stimmungen, häuser Schulsaal ein Atelier mit dem Interieur Emotionen, Sehnsüchte eingingen. Das einer Kirche einrichten, dann 1891 in Wil- Abendmahl repräsentiere, so urteilen die Aus- lingshausen sogar ein hölzernes Modell nach- stellungsmacher 1977, „die früheste, sezessio- bauen, das maßstabsgetreu der Dorfkirche in nistische Stufe einer noch gläubig- Wenkbach nachempfunden war. Dazu schrieb hoffnungsvollen ästhetischen Geschmacks- er selbst in seinem Buch „Hessen in der deut- wende der bürgerlichen Kultur (Carl Bantzer schen Malerei“, er sei im Frühjahr 1891 zu 1977: 28). dem Entschluss gekommen, sich selbst eine Es war eine Hinwendung zum Land, zu den Kirche aus Holz zu bauen, „und zwar nach vom etablierten Bürgertum lange verachteten dem Vorbild der Kirche im Dorfe Wenkbach Bauern, die nun idealisiert wurden, zum Ge- bei Marburg. Studien von Kirchenräumen hatte genentwurf gerieten in einer Gesellschaft, die ich in der Totenkirche auf dem Schönberg bei zunehmend von der Industrialisierung geprägt Röllshausen, in Cappel bei Marburg und in war, von sozialen Krisen und Konflikten er- Wenkbach gemalt. Die Wenkbacher Kirche schüttert wurde. Noch hatte sich die Heimat- gab mir das, was ich suchte: einen schlichten schutzbewegung nicht organisiert, noch dräng- weißgetünchten Raum mit farbig gestrichenen te die bürgerliche Jugend nicht hinaus in die 26 Natur, als Künstler sich dem Dorf zuwandten Das Vorbild der Wenkbacher Kirche ist allge- und das einfache Leben entdeckten. Im Volks- mein bekannt; auch in der Chronik von Wenk- leben glaubten sie Werte zu finden, die ihnen bach wird darauf hingewiesen. Auf der Suche in der bürgerlichen Kultur verloren zu gehen nach einer geeigneten Dorfkirche skizzierte schienen: es sind Projektionen der eigenen Bantzer aber noch andere Kirchenräume der Ängste und Sehnsüchte, die in den Bildern der Marburger Landschaft, darunter auch die Kir- Hessenmalerei ihr Abbild erhielten. Einer ihrer che in Niederwalgern. Die Skizze ist bezeich- letzten Repräsentanten, musste Bantzer dann net Niederwalgern 25.6.90; und wir finden auch den ideologischen Missbrauch der Bau- auch in seinen Briefen Belege dafür. Diese ernmalerei, eine Umdeutung der längst über- Skizze zeigt deutlich, dass er neben der Foto- holten Ideale seiner eigenen Jugend im Natio- grafie als dem neuen Medium der Dokumenta- nalsozialismus erfahren, ja vielleicht auch er- tion noch immer großen Wert auf konventio- kennen, dass die Ideologie in der Idealisierung nelle künstlerische Verfahren legte (Carl Bant- vorbereitet worden war. Die Idylle, die wir in zer 1977: 92). Auf der Zeichnung ist gut noch seinen frühen Skizzen und Bildern finden, die alte Emporenbrüstung (vor der Kirchener- erwies sich als trügerisch: eine unheimliche weiterung 1897) zu erkennen sowie das alte Idylle, die nur sentimentale Retusche für die Altarkreuz, das offenbar kein Corpus trug. Brüche, nicht aber Zukunftsentwurf sein konn- te.

Carl Bantzer: Skizze zum Interieur der Niederwälger Kirche, bez. Niederwalgern 25.6.90 (Bildarchiv Foto Marburg)

Warum er von den Stationen an der Main- Pfarrassistenten Ferdinand Soldan in Marburg Weser-Bahn gerade Niederwalgern wählte, geheiratet hatte (von Petersdorff 2010: 282). mag zufällig gewesen sein. Denkbar ist, dass er Darauf könnte Bantzers Bemerkung in „Hes- das Dorf anlässlich eines Verwandtenbesuchs sen in der deutschen Malerei“ hindeuten, dass kennenlernte, den er vielleicht einmal zusam- ihn Besuche bei Verwandten und Freunden in men mit seiner Mutter bei Pfarrer Hampe in der Nähe Marburgs zu längeren Aufenthalten Niederwalgern abstattete; Auguste Bantzer auf dem Land veranlasst hätten. Wahrscheinli- geb. Röhrig war über ihren Großvater, den cher ist, dass er zusammen mit anderen Künst- Pfarrer Johann Friedrich Soldan, mit Hampe lern hierher kam; ausdrücklich erwähnt er den verwandt, dessen Tochter Maria 1854 den Maler Wilhelm Claudius aus Dresden, mit dem 27 er 1884 und 1885 vor einigen Schwalmaufent- Eifer als Klingelhöfer hessische Altertümer für halten mehrere Wochen in Niederwalgern ge- das Museum des Hessischen Geschichtsvereins arbeitet habe. Und ziemlich sicher dürfen wir sammelte“ (Bantzer 1932: 83). Möglich wäre annehmen, dass er zusammen mit Fritz Klin- also durchaus, dass Bantzer zugegen war, als gelhöfer (1832-1903) hier war, der den jungen Bickell die Aufnahme vom Kirchberg in Nie- Bantzer als Mentor förderte, ja in seiner Pro- derwalgern fertigte, die als Vorlage für Klin- fessionalität und seinem sozialen Prestige für gelhöfers Gemälde diente (Becker 2010). Bantzer auch Vorbild wurde. Bantzer hatte Klingelhöfer, von dem etliche Gemälde mit Klingelhöfer 1874 durch Vermittlung des Landschaftsimpressionen der Marburger Land- Marburger Malers Wilhelm Ritter kennenge- schaft, von Dorf und Burg Nordeck, vom Salz- lernt und bewohnte, als er 1875 zum Besuch bödetal oder dem Christenberg bekannt sind der Kunstakademie nach Berlin ging, mit ihm (Bantzer/Baeumerth 1993: 82), dürfte auch in ein gemeinsames Zimmer. Später in Marburg Niederwalgern gewesen sein; hier soll sein versammelte sich eine Künstlergesellschaft im Bild einer weidenden Schafherde entstanden Café Scharmann, das als Anbau am Klingelhö- sein, vielleicht an der Wälger Mühle von der ferschen Hause (heute: Café Vetter) genügend Heerstraße aus gesehen, auch wenn der Hö- gastlichen Raum bot und mit Werken Klingel- henzug im Hintergrund den Oberwald nicht höfers geschmückt war; zu dieser Tafelrunde realistisch wiedergibt. Er ist vielleicht aus der gehörte, wie Bantzer in seinen Erinnerungen Erinnerung gezeichnet, vielleicht auch aus an Klingelhöfer schrieb, auch der Konservator Skizzen oder Fotos komponiert, eine häufige Ludwig Bickell, „der mit fast noch größerem Praxis Klingelhöfers als Auftragsmaler.

Fritz Klingelhöfer: Schafherde bei Niederwalgern, um 1890 (Bildarchiv Foto Marburg)

Leider findet sich in den Briefen Bantzers kein 27. Juni 1890 schrieb er aus Willingshausen an eindeutiger Beleg für einen gemeinsamen Be- seine Mutter: Dienstag und Mittwoch war ich such mit Klingelhöfer oder Bickell in Nieder- in Marburg u. Umgebung um ein paar Kir- walgern. Immerhin wird darin der Besuch in chenräume zu malen. Onkel Fritz traf ich beim Niederwalgern erwähnt, währenddessen die Frühschoppen, er sah sehr wohl aus und war Skizze des Kircheninnenraums entstand; am recht vergnügt. […] In Niederwalgern bin ich

28 auch gewesen, von den Jungens war aber kei- er ein abenteuerliches Leben in verschiedenen ner mehr da [womit er die Söhne Hannes und Weltteilen geführt hat, und daß mein lieber Heinche des Gastwirts Heuser meinte, die er alter Freund (und entfernter Verwandter) Lud- 1884 auch porträtierte; vgl. Becker 2010]. Am wig Bickell von ihm mit der für ihn so charak- 10. Oktober 1890 schrieb er dann nochmals an teristischen Mischung von Respekt und In- Auguste Bantzer und Johanna Neymann: Un- grimm sprach. Alle drei – Bantzer, Bickell und ser Ausflug nach Amöneburg am Sonntag war Klingelhöfer – haben die Niederwälger Kirche sehr schön. Montag bis Mittwoch bin ich in abgebildet: Bickell im Foto, Klingelhöfer in Marburg, Kappel, Wenkbach und Niederwal- Öl, und Bantzer mit dem Zeichenstift. Sollten gern gewesen um Kirchenstudien zu machen. sie sich da nicht auch ausgetauscht haben mit Und hier erwähnt er auch das große Feuer in ihren Eindrücken und Wahrnehmungen dieses Wenkbach, das ein Gebäude völlig zerstörte: Baudenkmals? Als ich vorgestern von Walgern nach Nieder- weimar ging, kam ich in Wenkbach zu einem Quellen und Literatur: Carl Bantzer 1857-1941. Foto, großen Brand, ich habe da noch eine halbe Zeichnung, Gemälde. Synthetischer Realismus. Ausstel- lungskatalog, Marburg 1977. – Küster, Bernd, und Paul Stunde geholfen Wände einzureißen, daß ich Jürgen Wittstock (Hrsg.): Carl Bantzer (1857-1941). heute noch lahm in allen Knochen bin. Aufbruch und Tradition. (Marburger Universitätsmuseum An die Freundschaft des jungen Bantzer mit für Kunst und Kulturgeschichte) 2. erw. Aufl. Bremen Fritz Klingelhöfer und Ludwig Bickell erinner- 2003. – Bantzer, Carl: Hessen in der deutschen Malerei. Erster Teil: Die Maler der Schwalm. Mit Kunstchronik te viel später der Göttinger Germanist Edward von Willingshausen. Marburg 1935, 4. Aufl. Marburg Schröder, dem wir einen einfühlsamen Nachruf 1979; erw. und neu hrsg. von Angelika Baeumerth. Mar- auf Bickell verdanken und der auf den Artikel, burg 1993. – Küster, Bernd: Carl Bantzer. Marburg 1993. den Bantzer 1932 zum hundertsten Geburtstag – Bantzer, Carl: 100. Geburtstag des Malers Klingelhöfer. Klingelhöfers in der Zeitschrift Hessenland In: Hessenland 43, 1932, S. 80-84. – Bantzer, Andreas (Hrsg.): Carl Bantzer. Ein Leben in Briefen. Briefe, und in der Oberhessischen Zeitung gebracht Berichte, Werksverzeichnis. 2. Aufl. Willingshausen hatte, am 5. April 1932 ein paar Zeilen der 1998. – Becker, Siegfried: Ein Denkmalstreit um die Anerkennung und des Dankes an Bantzer Kirche 1897. In: Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse schrieb. Er habe gerade den schönen Gedächt- und Erinnerungen aus 775 Jahren. (Historische Schriften der Gemeinde Weimar/Lahn 1) Weimar/Lahn 2010, S. nisartikel für den alten Klingelhöfer gelesen, 229-238. – ders.: Carl Bantzer in Niederwalgern. In: ebd., und es drängt mich, Ihnen für den Genuß und S. 415-422. – von Petersdorff, Friedrich: Die Chronik des die Freude zu danken, die er mir bereitet hat. Pfarrers Hampe. In: ebd., S. 277-282. – Scharfe, Martin: Ich habe den alten Herrn nur ein einziges Mal Hessisches Abendmahl. Exkurs zu Wissenschaft und flüchtig im Geleit Bickells kennengelernt, aber Vergewisserung in volkskundlichem und folkloristischem Tableau. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturfor- er gehörte ja lange Jahre zu den eindrucksvol- schung 26, 1990, S. 9-46. len Erscheinungen im Straßenbilde Marburgs. Trotzdem wußte ich wenig von ihm; nur, daß

Kleine Mitteilung

Hausnamen-Missverständnisse. Viele Hausnamen in alteingesessen ist und früher auch in Niederwalgern unseren Dörfern sind noch gut zu verstehen oder leicht zu vorkam. „Kain“ aber ist von unseren Vorfahren weder als deuten, wenn sie sich von Familien- oder Taufnamen Tauf- noch als Familienname gewählt und gegeben wor- früherer Besitzer der Häuser und Höfe ableiten. Seit den, wohl, weil er wegen des Brudermords eindeutig einigen Jahren werden in etlichen Dörfern Holzschilder negativ besetzt war. Aber auch die Genitivbildung an Wohnhäusern oder Bäuchen angebracht, die zur „Keins“ zeigt, dass die Herkunft des Namens nicht mehr Kenntnis und Überlieferung der alten Hausnamen beitra- bekannt ist. Denn „Kein“ ist ja bereits Genitiv, er bedeu- gen sollen. Dabei werden dann allerdings auch merkwür- tet: „der Keilen Hofreite“, also: der Hof der Bauernfami- dige Fehldeutungen festgeschrieben. Anlässlich der 775- lie Keil. Wir müssten daher besser „Keiln“ schreiben, mit Jahrfeier in Niederwalgern 2010 wurden auch hier auf kaum hörbar gesprochenem „l“. Der Familienname Initiative von Wilhelm Herrmann solche Schilder gefer- kommt ja noch heute in Stedebach vor (Pirrersch), und tigt und verteilt. Einige Landwirte, die ihre Betriebe noch wir kennen auch in Niederwalgern einen Namensträger, bewirtschaften, haben zum Hausnamen noch „Hob“ nach dem der Hof wohl benannt wurde: 1592 wird Jo- dazusetzen lassen, worin sicherlich die Absicht der Dis- hann Keil im Salbuch genannt, und in der Schadensliste tinktion mitgewirkt hat. Dabei ist ein Kuriosum entstan- 1640 ist Hans Keyll aufgeführt, vielleicht sein Sohn oder den: am Keiln-Hof hängt nun ein Schild: „Keins Hob“. Enkel. „Keiln“ ist daher gewiss einer der älteren, schon Immerhin ist der Hausname nicht „Kain“ geschrieben, im späten 16. Jahrhundert entstandenen Hausnamen in wie es im Dorf heute zumeist üblich ist, denn die Assozi- Niederwalgern. Seine Herkunft ist eindeutig; „Keiln“ ist ation zum biblischen Brüderpaar wird ja durch den Fami- schon der besitzanzeigende Genitiv, der nicht gedoppelt liennamen Abel geradezu provoziert, der in Oberwalgern werden muss – es heißt also „Kein Hob“. S. Becker

29 Die Erfassung von Wenkbach im Ostsiedlungsprojekt der Reichs- arbeitsgemeinschaft für Raumforschung 1936-1943

von Siegfried Becker

Unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen, mit higen Bevölkerung für die deutsche Rüstungs- dem das Deutsche Reich 1939 seine aggressive produktion und Landwirtschaft sowie durch Expansionspolitik in Osteuropa in militärische Deportationen „nach Sibirien“, doch wurde das Praxis umsetzte und damit den Zweiten Welt- Vorhaben schon 1942 ersetzt durch die Direk- krieg eröffnete, wurden auch imperialistische tive „vor Ort verhungern lassen“ oder „Ver- und rassistische geopolitische Planungsmaß- nichtung durch Arbeit“. Neben Meyers „Gene- nahmen aufgenommen. In Posen, Danzig und ralplan Ost“ wurden mit der Eingliederung von Kattowitz wurden schon im Dezember 1939 Teilen Weißrusslands als „Generalkommissa- Bodenämter der SS eingerichtet, die landwirt- riat Weißruthenien“ ins „Reichskommissariat schaftliche Betriebe nach der Nationalität ihrer Ostland“ auf Instruktion Alfred Rosenbergs Besitzer aufschlüsseln und Enteignungslisten auch dort die rücksichtslose Eindeutschung erstellen sollten, um Nutzflächen für Umsied- und Kolonisierung vorangetrieben, ein Projekt, lungsprojekte zu erfassen. Das Zentralbode- in das etwa 200.000 Bauern aus Baden und namt registrierte bis Jahresende 1941 einen Westfalen eingebunden werden sollten, die „Landvorrat“ von 1,1 Millionen ha in Danzig- durch Betriebszusammenlegungen ihre Höfe Westpreußen, von knapp 3,2 Millionen ha im verlieren würden (Gerlach 1999). Dieser ge- Warthegau, von rund 1,3 Millionen ha in Ost- waltige raumordnungspolitische Planungs- preußen und von knapp 500.000 ha in Ober- komplex war vorbereitet und ideologisch legi- schlesien. Woher sollten die Siedler kommen, timiert worden durch das nationalsozialistische die auf diesem Land ansässig werden sollten? Lebensraumkonzept (dem von Hans Grimm Als „Generalplan Ost“ wurde ein Planungs- literarisch vorformulierten „Volk ohne Raum“; komplex bezeichnet, der das Stabshauptamt vgl. Gümbel 2003) und beabsichtigte eine be- beim Reichskommissar für die Festigung deut- völkerungspolitische Neuordnung Ost- und schen Volkstums (RKF) und die von Konrad Mitteleuropas durch ethnische Selektion, durch Meyer geleitete Amtsgruppe III B (Volkstum) eine „rassische Durchmusterung“ der Bevölke- des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) um- rung, die als „Totalerfassung“ gedacht war und fasste. Bereits zum Jahresbeginn 1940 lagen nicht nur in den eroberten Gebieten umgesetzt die „Planungsgrundlagen für den Aufbau der werden sollte, sondern schon vor Kriegsbeginn Ostgebiete“ des RKF vor, im November 1941 im Deutschen Reich vorbereitet war, auch im legten das RSHA und im Mai das Stabshaupt- Kreis Marburg, wo etwa das Dorf Wenkbach amt RKF die Entwürfe für den „Generalplan als „Typengemeinde“ ausgewählt und demo- Ost“ vor, der in den „Generalsiedlungsplan“ graphisch erfasst wurde. des RKF 1942/43 mündete (Münk 1993; Hei- Durch das „Gesetz über die Regelung des nemann 2003: 359ff). Meyer hatte in einer Landbedarfs der öffentlichen Hand“ vom 29. Prognose 1942 drei Siedlungsmarken im Balti- März 1935 wurde eine „Reichsstelle für kum, in der Ukraine und in der Region um Raumordnung“ gegründet und durch Erlasse Leningrad sowie 36 weitere Siedlungsstütz- vom 26. Juni und 18. Dezember 1935 Hitler punkte vorgesehen, für deren „Eindeutschung“ direkt unterstellt. Sie sollte die Verteilung des im Laufe von 25 Jahren etwa 3,345 Millionen Bodens und seine Nutzung nach „bodenver- deutschstämmige Siedler benötigt würden so- bundenem Siedlungs-, Wirtschafts- und Volks- wie nochmals 1,5 Millionen für weitere einge- aufbau sicher[stellen]“ und den „Ansprüchen gliederte Gebiete. Ihre Freisetzung sollte durch nach militärischer Sicherheit gerecht werden“. eine „Entstädterung“, aber auch durch großan- Eine „Lösung der zahlreichen und großen gelegte Umsiedlungsprojekte in den klein- und Probleme ohne eine enge Zusammenarbeit mit mittelbäuerlich strukturierten Dörfern im Wes- der Wissenschaft und Forschung [sei] nicht ten des Deutschen Reiches erfolgen. denkbar“, postulierte der Leiter der Reichsstel- Der Siedlungsraum in den eroberten Gebie- le, Minister Hanns Kerrl, und diese Einbindung ten sollte zunächst geschaffen werden durch der Wissenschaft wurde auch an der Universi- Zwangsarbeiterverschleppungen der arbeitsfä- tät Marburg zügig umgesetzt.

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Kartenblatt mit dem Siedlungsgrundriss von Wenkbach (Archiv des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Marburg, Best. Kurhessisches Landesamt für Volkskunde)

Unter den in Marburg eingerichteten sieben geradezu prädestiniert haben, die an der Uni- Fachgruppen befand sich eine Abteilung versität Marburg 1936 begonnen hatten. Am 2. „Volkstum“, deren Leitung der Germanist Juni 1936 hatte Rektor Baur die Direktoren der Bernhard Martin (1889-1983) übernahm. Mar- Institute und Seminare, wissenschaftlichen tin hatte 1914 bei Ferdinand Wrede mit einer Anstalten und Sammlungen zu einer Sitzung Dissertation über „Dialektgeographie des Fürs- eingeladen, die am 9. Juni im Senatssaal des tentums Waldeck und des nördlichen Teils des Universitätshauptgebäudes stattfand und über Kreises Frankenberg“ promoviert; 1922 „Organisation und Aufgaben der Arbeitsge- betraute ihn Wrede mit der Bibliothekarsstelle meinschaft für Raumforschung an der Univer- am Deutschen Sprachatlas (StAMR 310, Acc. sität“ informieren sollte, die der Reichsarbeits- 1992/55, 6317: Personalakte). Ab 1934 baute gemeinschaft für Raumforschung (RAG) in er eine „Volkskundliche Sammlung“ als Bild- Berlin unterstellt war. Auf dem Programmzet- archiv mit Fotografien zu Hausbau, Fachwerk, tel machte sich Martin bereits Notizen über Kratzputz und hessischen Trachten auf, und mögliche Arbeitsvorhaben – Bevölkerung? nach seiner Ernennung zum Honorarprofessor Erbsitte, Trachten, Sprache (Eur.Ethn., Fasz. 1935 bot er auch Lehrveranstaltungen zu 2). Dass die Raumforschung unmittelbar prak- volkskundlichen Themen an, las über „Das tische, anwendungsorientierte Arbeit zu leisten hessische Bauernhaus“ und über „Sitte und hatte, kam Martin offensichtlich sehr entgegen; Brauch“, über „Die deutsche Bauerntracht“ an theoretischen Diskursen desinteressiert, und „Das Volkslied“. fand er hier Aufgaben, die nicht nur seinen 1938 wurde Martin zum Leiter des neuge- dialektologisch-kartographischen Interessen gründeten Kurhessischen Landesamtes für und Kompetenzen entgegenkamen, sondern Volkskunde ernannt (vgl. Becker 2005). Seine auch politische Anerkennung versprachen. Ausbildung in der Dialektgeographie mit ihrer Nach dem Tod von Rektor Baur 1936 über- kartographischen Darstellung nutzte er nun nahm zunächst der Privatdozent für Geogra- auch für die Volkskunde in der Kartenaufnah- phie Dr. Kurt Düring die Leitung. Im Spät- me von Brauch und Gerät nach dem Vorbild sommer 1938 aber bat Düring die RAG Berlin des Sprachatlas. Das mag ihn für die Bestre- wegen anderer Arbeiten, ihn von seinem Amt bungen zum Aufbau einer „Raumforschung“ als Leiter der Hochschularbeitsgemeinschaft in

31 Marburg zu entbinden; der zuständige Referent nährstandes in Zusammenarbeit mit der nahm daraufhin mit dem Herrn Rektor der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung Universität Marburg Fühlung auf, um die Er- und unter Beteiligung zahlreicher sonstiger nennung eines Nachfolgers abzusprechen. Die Stellen Untersuchungen einzuleiten, die dem Wahl fiel, vom Rektor wärmstens unterstützt, Ziel einer Umsiedlung hier ansässiger Bevöl- auf Martin, der seine Bereitschaft postwendend kerungsteile in die wiedergewonnenen Ostge- mitteilte und am 30. September die Leitung der biete nach dem Kriege und der Planung für die RAG-Dienststelle übertragen erhielt (Eur. Ausgestaltung der Siedlung im kurhessischen Ethn., Fasz. 3). In dieser Funktion wurde Raum dienen. Der Herr Oberpräsident hat Bernhard Martin dann auch im Januar 1939 einen Umsiedlungsausschuß gebildet, der heu- vom Oberpräsidenten in Kassel als Mitglied in te die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumfor- den Beirat der Bezirksstelle Kassel der Lan- schung in Marburg, die unter Leitung des desplanungsgemeinschaft Hessen-Nassau beru- Herrn Prof. Martin steht, mit den Vorarbeiten fen. Dass er damit zu einer Nahtstelle zwischen beauftragt hat. Zu diesem Zweck finden in Politik und Wissenschaft wurde, hat sein jedem Kreise teilweise gemeinsam für mehrere Selbstwertgefühl (sein „Pflichtgefühl“) be- benachbarte Kreise ab 4. April 1940 örtliche trächtlich gesteigert (zur politischen Einfluss- Besprechungen statt, deren Termine festgelegt nahme auf die Hochschule vgl. Nagel 2000). sind. Den Termin und die Einzuladenden wird Von der RAG wurde Martin schon 1938 Prof. Martin den Herren Landräten mitteilen. beauftragt, eine Untersuchung über die Land- Ich ersuche, für diese Besprechungen die in flucht in den Gebieten der Landesbauernschaf- dem Schreiben der Reichsarbeitsgemeinschaft ten Hessen-Nassau und Kurhessen durchzufüh- Genannten einzuladen und bei der Bedeutung ren. Mit diesem Projekt zur Landfluchtfrage der Sache selbst an den Verhandlungen teilzu- war Martin bereits tief eingebunden in die nehmen, ferner soweit sie in Ihrem Kreise Planungen von Umsiedlungsmaßnahmen der stattfinden, einen Raum zur Verfügung zu stel- „Ostsiedlung“. Schon nach dem deutsch- len. Bei der uns gesetzten kurzen Frist müssen sowjetischen Nichtangriffs-Pakt vom 23. Au- die Ladungen gegebenenfalls fernmündlich gust 1939 und dem deutschen Angriff auf Po- erfolgen. gez. von Monbart. len begannen die Planungen zu den mit Stalin Martin lud am 2. April 1940 die Landräte vereinbarten Umsiedlungen deutschsprachiger sämtlicher Kreise sowie nachgeordnet die Bevölkerung aus der Sowjetunion, die unter Kreisbauernschaften, die Landwirtschaftlichen dem Aufruf „Heim ins Reich“ die Aufsiedlung Schulen, Staatlichen Gesundheitsämter und polnischer Gebiete nach der Vertreibung der Arbeitsämter zu einer Tagung nach Marburg dort ansässigen Bevölkerung vorbereiten soll- ein, auf der über die Neuordnung der Boden- ten. In der Folge wurden aus der Sowjetunion, und Besitzverhältnisse Kurhessens in Verbin- den baltischen Ländern, aus Wolhynien, Ru- dung mit dem Aufbau des deutschen Ostraumes mänien und Jugoslawien fast eine Million informiert werden sollte. Die daraufhin anlau- Menschen in den Warthegau und nach West- fenden Erhebungen waren bereits im Sommer preußen umgesiedelt; viele von ihnen kamen 1940 soweit vorangeschritten, dass auf einer während der Kriegswirren gar nicht in den Tagung der RAG in Bad Kreuznach am Zielgebieten an, sondern mussten in Lagern 16.10.1940 Instruktionen über die Form der zu ausharren. Mit diesen Umsiedlungen aus Ost- erarbeitenden Berichte ausgegeben werden und Südosteuropa waren jedoch die Pläne kei- konnten; Martins Mitarbeiter Dr. Horst Lehrke, neswegs erfüllt, vielmehr liefen nun verstärkt der als Vertreter des Marburger Amtes teil- die Planungen zur West-Ost-Umsiedlung an. nahm, legte zur Information der Marburger Zu Beginn des Jahres 1940 erging der Auf- Arbeitsgruppen ein ausführliches Protokoll trag zur konkreten Vorbereitung der Umsied- vor. Für die vorgesehenen Umsiedlungsmaß- lung von Familien aus den hessischen Land- nahmen wurden Untersuchungen von Typen- kreisen in die eroberten Gebiete Osteuropas. gemeinden durchgeführt, in denen dezidierte Am 30. März 1940 erreichte den Landrat des Angaben über Sozialstatus, Größe und Zu- Landkreises Marburg ein Schnellbrief des Re- sammensetzung der erfassten Familien erhoben gierungspräsidenten in Kassel mit dem Betreff wurden, um bauliche und wirtschaftliche Ver- Umsiedlung nach dem Osten (StAMR 180 LA hältnisse der grundsätzlich als Familienbetrie- Marburg: A 1959): Innerhalb des Regierungs- be vorzusehenden zukünftigen Betriebe planen bezirks Kassel sind auf Veranlassung der zu können; die auf großformatigen Bögen er- Reichsstelle für Raumordnung und des Reichs- stellten Diagramme sind erhalten, darunter

32 auch sechzehn Bögen der Erfassung von Verwaltungsrates der Landesplanungsgemein- Wenkbach im Kreis Marburg. schaft Hessen-Nassau am Freitag, den 9.5.1941 im Kulturhaus zu Kassel, Typoskript). Ganz ähnlich auch die Argumentation in einem Be- richt des Oberpräsidenten über „West- Ostsiedlung. Belange der gewerblichen Wirt- schaft“ vom 4.2.1941. Dies wird auch am Beispiel Wenkbach deutlich, dessen statistische Erfassung schon im Februar 1941 abgeschlossen war: hier wur- den 9 Familien mit 29 Personen über 14 Jahren und 12 Kindern zur Umsiedlung vorgesehen; 34,41 ha Ackerland aus dem Besitz der Um- siedler sollten damit freigesetzt und zur Auf- stockung der bestehenden Betriebe genutzt werden.

Im März 1941 wohl soweit abgeschlossen, dass die Ausarbeitung eines Wunschbildes vorgesehen werden konnte, hatte Martin für diese Erhebungen vier Kreise mit 84 Typenge- meinden und ebenso viel Gruppen gleicharti- ger Gemeinden ausgewählt und für jede ein- zelne Gemeinde dieser Kreise eine Kontrollun- tersuchung im Benehmen mit der Landesbau- ernschaft durchgeführt [...], um aus diesem Ergebnis auf die Richtigkeit der Typenmethode für das Gesamtgebiet zu schliessen (Eur.Ethn., Fasz. 3: Geschäftsbericht der Landesplanungs- gemeinschaft Hessen-Nassau für die Zeit vom 1.4.1939 bis 31.3.1941, S. 32), doch riefen diese ersten Ergebnisse der statistischen Erfas- Die Auswertung älterer sozialstatistischer Da- sung aufgrund des Umfangs der vorgesehenen ten in diesem Projekt zur „Ostsiedlung“ (wie Bevölkerungsverschiebungen Widerspruch hier von Altersgliederung, Kinderzahl und hervor; so ist in der Niederschrift einer Sitzung Zuverdienst in den Wenkbächer Haushalten der Landesplanungsgemeinschaft vom 9. Mai unter 1 ha Anbaufläche von 1937) zeigt, dass 1941 in Kassel festgehalten, es könne sich nur schon weit früher mit systematischen Vorbe- um theoretische und Durchschnittszahlen han- reitungen der Planungen begonnen worden deln. So seien für den Kreis Frankenberg mit war. Wie schon die industrielle Produktion seinen 35.000 Einwohnern z.B. 40% zur Um- lange vor Kriegsbeginn auf die Rüstung einge- siedlung vorgesehen. Praktisch sei an eine stellt wurde (Hachtmann 1989), muss bereits Abgabe so vieler Menschen aus dem Kreise die Untersuchung zur Landflucht in Hessen- Frankenberg selbstverständlich nicht zu den- Nassau und Kurhessen als konkrete Vorstufe ken (ebd.: Niederschrift über die Sitzung des zur Planung der Ostsiedlung gewertet werden;

33 auch daran war Bernhard Martin schon betei- gen einer Reagrarisierung verbundenen sozial- ligt. Für dieses Landfluchtprojekt hatte Martin und agrarpolitischen Zielsetzungen vor allem als Sachbearbeiter Walter Löhlein eingestellt, des erbhofpolitischen Konzepts hatten die der mit den Ergebnissen der Studie promovie- Konservierung überkommener – und idealisier- ren wollte. Die Promotion Löhleins erfolgte im ter – bäuerlicher Besitz- und Sozialstrukturen Juni 1940; eine zunächst geplante Drucklegung beabsichtigt und die Herauslösung der bäuerli- kam dann allerdings aufgrund der kriegsbe- chen Familienbetriebe aus dem Kapitalismus dingten Papierverknappung und des Aktuali- (und damit – bei der zunächst vorhandenen tätsverlustes der Arbeit nicht mehr zustande. Rezession noch ohne schwerwiegendere Fol- Dieses Projekt, im Kontext einer Verlage- gen – aus der übergreifenden Dynamik der rung der Agrarforschung von der Darréschen kapitalistischen Industriegesellschaft) propa- Bauerntums- und Erbhofideologie zu agrar- giert (Grundmann 1979; Barkai 1977). Mit der technischer Modernisierung und bevölke- Gleichschaltung der berufsständischen Vertre- rungspolitischen Maßnahmen angesiedelt, tungen – darunter auch der Landwirtschafts- geriet bald in einen heftigen Streit um Kompe- kammer für den Regierungsbezirk Kassel und tenzen und Zuständigkeiten mit dem in Gießen des Kurhessischen Landbundes – in der Lan- lehrenden Professor Willeke, der für die RAG desbauernschaft Kurhessen als Führungsorgan die wirtschaftliche Raumforschung an der Gie- des Reichsnährstandes wurde zunächst ver- ßener Universität vertrat; in dieser Auseinan- sucht, in einer extrem antimodernistischen dersetzung verteidigte Martin eifersüchtig sei- Konzeption der Arbeitsverfassung auch die nen alleinigen Anspruch auf das Forschungs- Lohnarbeitskräfte in einen ideellen Interessen- feld, so dass schließlich der bei der RAG für verband der bäuerlichen Wirtschaft zu integrie- die Landfluchtfrage zuständige Sachbearbeiter ren: „bäuerliche Arbeiter [...] stehen zwar in Dr. Thiede in einem ausführlichen Schreiben bezug auf die Stärke ihrer Bindung an den Hof schlichten und Martin erläutern musste, dass erheblich hinter der bäuerlichen Familie zu- ein unkameradschaftlicher Übergriff und un- rück, sind jedoch, zumindest in den Haupt- freundliches Verhalten seitens des Gießener gruppen, so fest und vielseitig mit ihm ver- Kollegen nicht bestehe, und noch im März wachsen, daß es fast einer begrifflichen Ver- 1940 schaltete sich - möglicherweise auf Mar- gewaltigung gleichkommt, sie der Kategorie tins Ersuchen hin - der Oberpräsident der Pro- ‘Arbeiter’ zuzuordnen, die durch Kapitalismus vinz Hessen-Nassau in diese Kompetenzstrei- und Industrialismus einen Inhalt erhalten hat, tigkeiten ein und teilte der RAG in Berlin mit, der für die Verhältnisse in der Landwirtschaft dass er wegen der für Gießen zu umfangrei- nicht paßt. Die bäuerliche Hofgemeinschaft ist chen Aufgaben die RAG-Dienststelle in Mar- im Gegensatz zur städtischen Betriebsgemein- burg vorläufig beauftragt habe, die wissen- schaft nicht nur Arbeits-, sondern Lebensge- schaftliche Oberleitung für die Provinz Hes- meinschaft im echten Sinn des Wortes. [...] Die sen-Nassau in die Hand zu nehmen (StAMR Besonderheit kommt zunächst darin zum Aus- Best. 305a, acc. 1992/55, 4348, fol. 26: druck, daß der bäuerliche Arbeiter bäuerlicher Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Mensch ist wie der Bauer. [...] So reicht der Hessen-Nassau vom 4.3.1940). Begriff ‘bäuerlicher Mensch’ weit über den Diese Strukturplanung zur Eindämmung der eigentlichen Bauern hinaus bis tief in den „Landflucht“ wurden notwendig, als nach dem Kreis der bäuerlichen Arbeiter hinein“ (Bente Anlaufen der industriellen (Rüstungs-) Produk- 1937). Diese Utopie der nationalsozialistischen tion der landwirtschaftliche Arbeitsmarkt zu- Bauerntumsideologie, die Klassengegensätze sammenbrach, der zunächst noch durch ideo- auf dem Lande egalisieren zu können, gipfelte logische Überhöhung der bäuerlichen Arbeits- in durchaus ernst gemeinten Vorschlägen, statt organisation aufrecht erhalten werden sollte. der sozial diskriminierenden Bezeichnungen Das am 20.1.1934 erlassene Gesetz zur Ord- „Dienstknecht“ und „Dienstmagd“ die Titel nung der nationalen Arbeit hatte nach der Zer- „Bauernmann“ und „Bauernmaid“ als Aus- schlagung der Gewerkschaften das Betriebsrä- druck schollenfester Landbevölkerung zu wäh- tegesetz außer Kraft gesetzt und das Führer- len. Doch sie scheiterte bereits 1937, als mit Gefolgschafts-Prinzip auch in der betrieblichen den wirtschaftspolitischen Folgen des Vierjah- Arbeitsorganisation der Landwirtschaft veran- resplans die Abwanderung vom Land dramati- kert – die Entmachtung der Arbeiter war voll- sche Ausmaße annahm. zogen (vgl. Fahle 1986). Die mit den Hoffnun-

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Nun wurde immer deutlicher, dass das Ar- Arbeitsmarktregulierung und der ideologischen beitskräfteproblem in der agrarischen Produk- Beschwörung des Landvolkes „in seiner ur- tion nur vorübergehend mit den Mitteln der sprünglichen starken natürlichen Fruchtbarkeit

35 bis in die heutige Zeit [...] als der Blutsquell überwog der Gesindeanteil in der Landarbei- des deutschen Volkes“ zu lösen war. Schon im terschaft deutlich, er betrug in Hessen 1933 Laufe des Jahres 1936, mit dem Einsetzen des 68,2 % gegenüber 54,7 % im Reichsgebiet und Vierjahresplans und der Steigerung rüstungsre- lag im Regierungsbezirk Kassel sogar bei 71,3 levanter Güterproduktion, zeigten sich erste %, in Oberhessen bei 74,9 %. gravierende Engpässe in der Verfügbarkeit von Die Folgen schreckten auf. 1937 wurde ein Arbeitern in der Bau- und Metallindustrie, die erster Rückgang im Produktionsvolumen fest- durch „arbeitszeitbereinigte“ Produktivitäts- gestellt und in einem Bericht über den Kreis steigerungen nach der Modernisierungsphase Marburg so interpretiert, dass „zunehmende 1935/36 nur noch begrenzt aufzufangen waren. Leutenot und abnehmende Viehzahl parallel Die Intensivierung und Erhöhung der Arbeits- laufen, allerdings mit einer Verlagerung des produktivität in den für die Rüstungspolitik Rindvieh- und Schweinehöchstbestandes um 1 wichtigen Industriebranchen (vgl. Hachtmann - 2 Jahre nach dem Einsetzen der stärksten 1989) vor allem im Kasseler Raum bedeutete Leutenot“ (Bericht von Löhlein, Arbeitsge- mit dem wachsenden Arbeitskräftebedarf und meinschaft für Raumforschung an der Univer- den einsetzenden Interventionen in den Ar- sität Marburg über die „Landflucht im Gau beitsmarkt auch das Entstehen eines in diesem Kurhessen“, zit. n. Willeke 1941). Ausmaß erstmals greifenden Sogs der Industri- Neben den Extensivierungserscheinungen alisierung, der nachhaltige Veränderungen der machte sich darin vor allem auch die physische landwirtschaftlichen Arbeitsverfassung zur Überbeanspruchung der verbliebenen Arbeits- Folge hatte (Willeke 1941). kräfte und der Familienmitglieder bemerkbar, Die Arbeitsmarktregulierung zugunsten der jener (wie es die zeitgenössische Verwaltungs- rüstungsrelevanten Industriezweige bedingte sprache beschreibt) „erhebliche Eingriff in die unter anderem die Herabsetzung des Einstel- Arbeitsleistungssubstanz durch Überarbeit“, lungsalters, und der Sog der Industrialisierung der vor allem zu Lasten der Bäuerin ging (dazu erfasste damit auch die jüngeren Altersgrup- Jacobeit 1979/1980/1983) und durch die An- pen, die bisher noch darauf angewiesen waren, stellung ausländischer Landarbeiter nur in sich als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu begrenztem Umfang aufgefangen werden verdingen. konnte (1938 waren im Landesarbeitsamtsbe- Die Wanderungsbewegung betraf somit nun zirk Hessen 1.152 ausländische Gesindear- auch die ledigen Dienstboten: die ländliche beitskräfte und 1.855 Wanderarbeiter, vor al- Arbeiterfrage wurde zunehmend zu einer Ge- lem Italiener, registriert). sindefrage. Die Abwanderung in die Industrie Die Diskussion gerade der Landfluchtfrage war vor allem in den Jahren seit 1936 stark hat einen Prozess der Umorientierung in der angestiegen (Siebrecht 1939); bis 1938 waren Agrarpolitik in Gang gesetzt, der mit einem in Südwestdeutschland 23,8 %, in Westfalen zunehmenden Machtverlust der Agrarideolo- 17,7 % weniger landwirtschaftliche Arbeits- gen die Anpassung der Landwirtschaft an die kräfte vorhanden, lediglich Sachsen hatte eine Dynamik der industriellen Produktion einfor- Zunahme von 9 % zu verzeichnen. derte und einen nachhaltigen Mechanisie- Die höchsten Abwanderungsraten familien- rungsprozess einleitete – jene Modernisierung fremder landwirtschaftlicher Lohnarbeitskräfte der Agrarproduktion, die als „Aufrüstung des hatte jedoch Hessen zu verzeichnen, hier wa- Dorfes“ umfassende wirtschaftliche Akzente ren nach Zählung des Landesarbeitsamtes 29,9 setzte, ja ökonomische Zweckmäßigkeit anstel- % der Beschäftigten aus der Landwirtschaft le der Ideologie zum Leitfaden der Wirt- ausgeschieden. Hier schlug nun die außeror- schaftspolitik machte. Es war zugleich die dentlich zögerliche Öffnung für arbeitsrechtli- Absage an den Mythos vom bodenständigen che und tarifpolitische Fragen der Landarbeit Bauerntum, in dem auch der landwirtschaftli- und das Beharren in der Gesindearbeitsverfas- che Arbeiter seinen Platz im organischen Ge- sung negativ zu Buche; bis auf die größeren füge gefunden hatte. Gutsbetriebe, in denen ständige, d.h. kontrakt- lich gebundene Landarbeiter vorhanden waren,

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In diesem Kontext ist auch die Aufnahme der rungspolitischen Planungsmaßnahmen zudem Erhebungen für die „Lösung der Landflucht- die Dimensionen der rassenhygienischen Ziel- frage“ zu sehen, in die Bernhard Martin mit setzungen der Raumforschung ab und wurden seinem Landesamt eingebunden war. Spätes- gerade an der Landfluchtfrage exemplifiziert. tens 1939 zeichneten sich in diesen bevölke-

37 Hartmut Quehl, Mitarbeiter des Rassenpoliti- seren Volksboden so auszunützen, dass das schen Amtes, hatte 1938 in „Volk und Rasse“ Bestmögliche herausgeholt wird. [...] Auf allen einen Artikel über die Auslesewirkungen der Gebieten der Kultur zeigten sich die zersetzen- Landflucht veröffentlicht, den Martin nicht nur den Wirkungen [der] Verstädterung, die von wegen seines gerade laufenden Projektes auf- artfremden Kräften, die Geld und Presse in der merksam gelesen haben dürfte; er scheint dar- Hand hatten, gefördert wurde. Auf politischem aus auch unmittelbare Anregungen für seine Gebiet hat der Nationalsozialismus diesen eigene Arbeit abgeleitet zu haben. Im Novem- liberalen Zeitgeist überwunden, aber auf geis- ber 1939 führte Martin Untersuchungen in tigem und wirtschaftlichem Gebiet ist der einem Kriegsgefangenenlager durch in der Kampf noch in vollem Gange und wird noch Absicht, seine mundartlichen Kenntnisse ein- Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Die gestal- mal praktisch anzuwenden, worüber er später tenden Kräfte, die uns für diesen Kampf zur in einem kleinen Artikel auch berichtete. Als Verfügung stehen, müssen aus dem Lande Leutnant bei einer Landesschützenkompanie kommen, denn der entwurzelte Geist des Städ- hatte er unter Benutzung der Wenkersätze pol- tertums hat uns ja gerade in diese Lage hin- nische Kriegsgefangene auf ihre „Zugehörig- eingeführt. Die Kräfte des Landes und seines keit zum Volksdeutschtum“ überprüft. Der Volkes müssen wieder voll entwickelt werden. Bericht erschien in der Vierteljahreszeitschrift Aus dem Bauerntum, dem mit ihm verbundenen der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volks- Arbeiter- und Handwerkertum, muss die deut- kunde, in deren Geleitwort Rosenberg die Ver- sche Aufartung, die die zivilisatorische Entar- bindung von Rassenkunde, Vorgeschichte und tung beseitigt, hervorwachsen. Die Gründung Volkskunde apostrophierte. Auch in der orga- der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumord- nisatorischen Zusammenarbeit mit dem Amt nung und Raumforschung hat also den Sinn, für Rassenhygiene scheint Martin keinerlei eine aus Idee und Gestalt des Nationalsozia- Bedenken gehegt zu haben: als „Pflicht“ und lismus geborene Kampforganisation gegen die „Dienst am Volke“ apostrophiert, setzte er sich Wirkung, Ideen und Denkformen des verstäd- in seinen nun zunehmend erweiterten Funktio- terten artfremden Ungeistes zu sein (Eur.Ethn., nen und Verantwortungsbereichen gerade für Fasz. 2: Vortrag in Frankenberg, November die Rassenhygiene ein. Er hat diese Aufgabe 1938, Typoskript). ernst genommen, gerade auch hinsichtlich der Mit dieser Bereitschaft zur „praktischen rassenhygienischen Projekte in der RAG Mar- Anwendung“ war Martin also schon 1938 vor- burg. Als im April 1939 Zuwendungskürzun- bereitet für den Projektauftrag zur Planung der gen für die „Fachgruppe Pfannenstiel“ (der „Ostsiedlung“; in einem Schreiben vom 14. Arbeitsgruppe für „Rassenhygiene“) drohten - November 1941 an den stellvertretenden was Martin sehr unruhig machte -, setzte er NSDAP-Gauleiter Solbrig in Kassel hob er sich als Leiter der Dienststelle vehement für denn auch stolz diesen Auftrag hervor, der ihm die Beibehaltung der Förderung ein. als dem Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft Auch seine eigenen Reden, die er zur Popu- für Raumforschung, Universität Marburg/Lahn larisierung der Raumforschung hielt, lassen anvertraut worden sei: die Bearbeitung einer eine Identifikation mit der Aufgabe und eine Schätzung für die Ostsiedlung für den Terminologie erkennen, die ganz dem Propa- Reg.Bez.Kassel vorzunehmen. Da er größten gandastil der Parteireden entlehnt war; schon Wert darauf lege, daß die Gauleitung über die in der bereits zitierten Rede vor den Bürger- Fortschritte, die Methode, usw. dieser Unter- meistern der kleineren Städte im Kreis Fran- suchungen auf dem Laufenden ist und bleibt, kenberg schlug er im November 1938 einen lud er sie zu einem Gesprächs- und Besichti- Ton an, der wohl bewusst kämpferisch klingen gungstermin nach Marburg ein. und wirken sollte und keine feineren Nuancie- Martin scheint zwar, wie aus Briefen seiner rungen des Tenors erkennen lässt: Schüler hervorgeht, über die ständig zuneh- Es gilt, den deutschen Raum in einer den mende und ihn von sprachwissenschaftlichen Notwendigkeiten von Volk und Staat entspre- und volkskundlichen Studien abhaltende Be- chenden Weise zu gestalten. Da wir, wie wohl lastung durch die Planungsarbeiten öfter ge- allgemein bekannt ist, ein Volk ohne Raum klagt zu haben; das aber hat er offensichtlich sind, eingezwängt durch die Folgen des Ver- nicht als Anstoß zur Reflexion seiner Arbeit sailler Schanddiktats; ohne Kolonien; gezwun- verstanden, und es hat ihn auch nicht davon gen, im eigenen engen Raum ein starkes Volk abgehalten, sich weiterhin in zusätzliche orga- zu ernähren, sind wir darauf angewiesen, un- nisatorische Aufgaben einbinden zu lassen.

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1942 bis 1945 war Bernhard Martin als stell- legenheiten mitzuteilen, wenn er Vertretungs- vertretender Dozentenführer im NS-Dozenten- vollmachten wahrzunehmen hatte; im April bund tätig, und er wusste pflichteifrig die Ge- 1943 etwa teilte er dem Rektor der Universität

39 mit, er vertrete nun für vierzehn Tage als Gau- Kreis Marburg die Volkstanz- und Trachten- dozentenbundesführer i.V. den wegen "wissen- pflege aufbauten, wirkte Martin als wissen- schaftlicher Untersuchungsfahrt in die schaftlicher Berater – dass dieses Engagement Westbeskiden" abwesenden Professor Kester- zunächst einmal eine Reflexion der „ange- mann (StAMR Best. 305a, acc. 1992/55, 4348, wandten Volkskunde“ im Dritten Reich vor- Fol. 34: Schreiben des NSDAP-Gaudozenten- ausgesetzt hätte, scheint ihm offensichtlich bundesführer i.V. Martin an den Rektor der nicht bewusst geworden zu sein. Für seine Universität vom 7.4.1943). Wenn sich auch „Förderung und aktive Unterstützung der aus diesen kursorischen Exzerpten sicherlich Trachtenarbeit in zahlreichen hessischen noch kein abschließendes Gesamtbild der Per- Trachtengruppen“ wurde ihm 1975 sogar das sonen- und Institutionengeschichte der wäh- Bundesverdienstkreuz verliehen. rend des Nationalsozialismus von Martin ge- Die Umsiedlungspläne sind nur beschränkt prägten volkskundlichen Forschung in Mar- verwirklicht worden. Untersucht werden müss- burg ergibt, so ist darin doch zu erkennen, dass te noch, inwieweit die Bevölkerung in den seine fleißige, fast penible, aber kaum eigen- erfassten Dörfern wie Wenkbach überhaupt ständige oder gar reflektierende Beschäftigung informiert war über die geplanten Umsiedlun- mit der Volkskultur, seine emotional aufgela- gen, und auch, inwieweit diese als Anerken- dene Heimatverbundenheit und sein ausge- nung und Auszeichnung (nämlich der Aussicht prägter, auf wissenschaftliche und zunehmend auf eine ertragsfähige Siedlerstelle) oder als auch auf politische Anerkennung und Reputa- politische Repressalie und Druckmittel emp- tion bedachter Ehrgeiz von den politischen funden wurden. Sie zeigen immerhin, dass die Führungsinstanzen erkannt und instrumentali- großangelegten raumpolitischen Planungskon- siert wurden. Martin und sein Kurhessisches zepte nicht leere Programmatik waren, sondern Landesamt lassen sich sicherlich als ein an- bis auf die Ebene lokaler Strukturen sehr kon- schauliches Beispiel verstehen, wie nationalso- krete Maßnahmen vorbereiteten, die bei länge- zialistische Einflussnahme auf die Universität rer Kriegsdauer auch die Bevölkerung in den eingeleitet und institutionalisiert werden konn- Dörfern der Marburger Landschaft nachhaltig te und Wissenschaft sich funktionalisieren ließ. betroffen hätte. Die Konzepte der systemati- Im April 1945 entlassen und vom 5. April schen Raumordnung im Nationalsozialismus 1945 bis 12. Juni 1946 interniert, wurde Martin hatten deutlich vor dem Kriegsbeginn das frü- in einem erstaunlich glatten Spruchkammer- he ideologische Stadium der Reagrarisierung verfahren als Mitläufer (Kategorie IV) einge- und Dezentralisierung verlassen und Bevölke- stuft; 1950 wurde er als Verwalter einer Assis- rungsverschiebungen in einem riesigen Aus- tentenstelle mit Genehmigung der Landesmili- maß vorbereitet. tärregierung wieder in den Universitätsdienst Umgesetzt aber wurde in großem Umfang eingestellt (HStAWI, Abt. 527/II, Nr. 6239: die Zwangsarbeiterverschleppung, die ja auch Vorgang des Landespersonalamts 1950). einer Freisetzung des benötigten Siedlungslan- Martin war also persönlich recht glimpflich des in Osteuropa dienen sollte und zudem ei- davongekommen; was aber blieb und lange nen weiteren, mit dem Kontext der Land- nachwirkte, war der unausgeräumte Ruch des fluchterhebung und der Raumplanung eng Faches Volkskunde, der NS-Volkstums- verbundenen wirtschaftspolitischen Zweck ideologie willfährige Handlangerdienste ge- erfüllte: das totalitäre System schuf sich in der leistet zu haben. Martin selbst hat nichts dazu Kriegswirtschaft eigene Mittel, um die land- beigetragen, diese Verstrickung zu reflektieren, wirtschaftliche „Erzeugungsschlacht“ zu ja er hat - und dies lässt noch im Nachhinein schlagen. Tausende von Zwangsarbeitern sind seine fast naive Vertiefung in Beschreibung anstelle der Maschinen auf die Äcker geschickt und Pflege der Volkskultur erkennen - auch worden, ausgebeutet als Menschenmaterial, nach dem Krieg die alten Themen ohne reflek- das billiger war als einheimische Landarbeiter tierende Auseinandersetzung weitergeführt: und ohne deren Anspruch, an den „Erzeugnis- sein Buch über die Namengebung der Kartoffel sen der Zivilisation“ teilhaben zu dürfen (dazu konnte nun endlich erscheinen, und in seiner Seeber 1964; Pfahlmann 1968; Gerstein 1988; Schriftenreihe der Beiträge zur Volkskunde Brandes 2005). Hessens erschienen Monographien zu hessi- Auch diese Thematik sollte dringend für die schen Trachten. Als Walter und Hildegard Ortsteile der Gemeinde Weimar aufgearbeitet Gutjahr recht bald nach dem Ende des Zweiten werden. Weltkrieges im Rahmen der Jugendarbeit im

40 Der vorliegende Beitrag kann nur erster Hin- Rüdiger: Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersu- weis auf die Erfassung Wenkbachs als Typen- chungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933-1945. (Kritische Studien zur Ge- gemeinde und ihren institutionellen Hinter- schichtswissenschaft 82) Göttingen 1989. – Heinemann, grund sein; es besteht dazu noch weiterer For- Isabel: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse und schungsbedarf, insbesondere auch hinsichtlich Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neu- des kommunikativen Gedächtnisses. Für Hin- ordnung Europas. (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. weise aus Wenkbach, wer sich noch an die Jahrhunderts 2) Göttingen 2003. – dies. und Patrick statistischen Erhebungen vor Ort erinnert und Wagner (Hrsg.): Wissenschaft, Planung, Vertreibung. seine Erinnerungen mitteilen möchte, wäre ich Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. daher sehr dankbar. Jahrhundert. Stuttgart 2006. – Jacobeit, Sigrid: Arbeits- und Lebensbedingungen der Bäuerin in Klein- und Mit- Quellen und Literatur: BA Berlin: Bundesarchiv, Abt. telbetrieben. Ein Beitrag zur Lebensweise der Frau auf Reichsarchiv, Berlin: Bestände NS 8/264, Fol. 50-57, NS dem Lande in der Zeit der faschistischen Diktatur des 8/267, Fol. 21-25; NS 15/102. – HStAWI: Hessisches Deutschen Imperialismus 1933-1939. Diss. Berlin 1979. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Bestände Abt. 483, Nr. – dies.: Zur Lebensweise der Frauen in klein- und mittel- 4647a; Abt. 520/MSt Neuabl. Nr. 12; Abt. 527/II, Nr. bäuerlichen Betrieben Deutschlands während der Zeit des 6239. – StAMR: Hessisches Staatsarchiv Marburg: Be- Faschismus 1933-1939. In: Acta Museorum Agriculturae stände 305a (Acc. 583 und 1992/55, Nr. 4348, 1-2); 307d 16, 1980, S. 19-23. – dies.: Zum Alltag der Bäuerinnen in (Acc. 1974/17; Nr. 114); 310 (Acc. 1992/55; Nr. 6317); Klein- und Mittelbetrieben während der Zeit des Deut- 180 LA Marburg (Acc. A 1959); 3809. – Eur.Ethn.: schen Faschismus 1933 bis 1939. In: Jahrbuch für Wirt- Archiv des Instituts für Europäische Ethnolo- schaftsgeschichte 1, 1982, S. 7-29. – dies.: Die Stellung gie/Kulturwissenschaft der Universität Marburg: Bestän- der werktätigen Bäuerin in der faschistischen Ideologie de Kurhessisches Landesamt für Volkskunde, Fasz. 1933-1939. Realität und Manipulation. In: Jahrbuch für Raumforschung 1-3; Nachlässe, Nekrologe. – Barkai, Geschichte 27, 1983, S. 171-199. – Jacobeit, Wolfgang, Avraham: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialis- u.a. 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Eine soziologische Volkskundliche Forschung in Waldeck und im Franken- Untersuchung ideologisch fundierter Leitbilder in Archi- berger Land 1920-1945. Zur Rolle von Bernhard Martin tektur, Städtebau und Raumplanung des Dritten Reiches. (1889-1983) für die Instrumentalisierung von Wissen- Bonn 1993. – Nagel, Anne (Hrsg.): Die Philipps- schaft und Heimatkunde im Nationalsozialismus. In: Universität im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichtsblätter für Waldeck, 93, 2005, S. 139-162. – Geschichte. (Pallas Athene, Beiträge zur Universitäts- Bente, Hermann: Landwirtschaft und Bauerntum. Eine und Wissenschaftsgeschichte 1) Stuttgart 2000. – Pfahl- Einführung in die deutsche Agrarpolitik. Berlin 1937. – mann, Hans: Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der Brandes, Karin u.a.: Zwangsarbeit in Marburg 1939 bis deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945. Darmstadt 1968. 1945. Geschichte, Entschädigung, Begegnung. (Marbur- – Schindler, Ludwig: Die Neubildung deutschen Bauern- ger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 80) Mar- tums in Kurhessen. Diss. Marburg 1938. – Schmitz- burg 2005. – Fahle, Günter: Nazis und Bauern. Zur Ag- Berning, Claudia: Vokabular des Nationalsozialismus. rarpolitik des deutschen Faschismus 1933 bis 1945. Berlin/New York 2000. – Seeber, Eva: Zwangsarbeiter in (Pahl-Rügenstein-Hochschulschriften Gesellschaft und der faschistischen Kriegswirtschaft. Die Deportation und Naturwissenschaften 218) Köln 1986. – Gerlach, Christi- Ausbeutung polnischer Bürger unter besonderer Berück- an: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und sichtigung der Lage der Arbeiter aus dem sogenannten Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Generalgouvernement (1939-1945). Berlin 1964. – Sieb- Hamburg 1999. – Gerstein, Susanne Maria: Die polni- recht, S.: Die hessische Wirtschaft im Umbau. Struktur- schen Fremdarbeiter im Landkreis Marburg während des wandlungen von Wirtschaft und Arbeitseinsatz. In: Zweiten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung Rhein-Mainische Wirtschaftszeitung 8/10, 1939. – ders.: der Landwirtschaft. mschr. Marburg 1988. – Grundmann, Der Umfang der Landflucht im hessischen Wirtschafts- Friedrich: Agrarpolitik im „Dritten Reich“. Anspruch und gebiet. In: Ebd., 19, 1939. – Willeke, Eduard: Kurhessen Wirklichkeit des Reichserbhofgesetzes. (Historische und Hessen-Nassau. In: Meyer, Konrad und Klaus Thiede Perspektiven 14). Hamburg 1979. – Gümbel, Annette: (Hrsg.): Die ländliche Arbeitsverfassung im Westen und „Volk ohne Raum„. Der Schriftsteller Hans Grimm zwi- Süden des Reiches. Beiträge zur Landfluchtfrage. (Die schen nationalkonservativem Denken und völkischer ländliche Arbeitsverfassung 1) Heidelberg/Berlin/ Mag- Ideologie. (Quellen und Forschungen zur hessischen deburg 1941, S. 125-154. Geschichte 134) Darmstadt/Marburg 2003. – Hachtmann,

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Nostalgie pur aus dem Jahr 1965 – die Aufnahme zeigt die B3 oberhalb des Waldschlösschens mit den blühenden Kastanien- bäumen. Jeder dieser Bäume hatte einen Durchmesser von fast 1 m. Sie wurden in den 70er Jahren im Rahmen der Straßen- verbreiterung abgeholzt (Text und Foto: Günther Klein)

Einsendungen von Beiträgen und Materialien für die „Heimatwelt“ werden erbeten an die Redaktion: Gemeindearchiv, Alte Bahnhofstraße 31, 35096 Weimar (Lahn) Hans Schneider, Niederweimar, Zur Kirche 2, 35096 Weimar (Lahn)

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