<<

ROUTES AND ROOTS KONZEPTE UNTERWEGS IN

ROUTES AND ROOTS KONZEPTE UNTERWEGS IN TAMIL NADU

Studienreise Religionswissenschaftliches Seminar Universität Zürich

Herbstsemester 2013 Turnegg Verlag Bachmann, Lüddeckens, Rageth (Hg.) INHALT

Karte 1 Reiseprogramm 2

Simone Meinen Geschichte Tamil Nadus...... Lisa Hochuli Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung...... 12 Hanna Lüddeckens Menschenrechte in Indien...... 18 Milena Schellenbaum Tamil ...... 30 Vanessa Gächter ...... 39 Anina Frieden Pilgern im Hinduismus...... Moira Grieger Götter Tamil Nadus...... 57 Eva Meienberg ...... 69 Anita Noll ...... 77 Patricia Kurt ...... 88 Judith Stutz Der Arunachaleshvara Tempel...... 96 Beatrice Büchi Der weibliche Guru - Sri Sakhti Ammaiyar...... 115 Yves Bachmann Sri Aurobindos integraler Yoga - ...... 126 Patricia Kurt Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im ...... Yves Bachmann Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung......

1

KARTE

Chennai Kanchipuram

Tiruvannamalaia

Tamil Nadu 2

PROGRAMM ZUR STUDIENREISE VOM 18.-31. JANUAR 2014

SAMSTAG 18.1.

die Theosophische Gesellschaft in Adyar,

* Treffen mit Dr. Chittaranjan Satapathy (International Secretary) und mit Mr. C.A. Shinde (Librarian und National Lecturer)

Übernachtung in Chennai: Y.W.C.A., Madras International Guest House - 1086, High Road (E.V.R. Periyar Salai) - Chennai, 600 084 - Tel: 25324234 oder 25324945

SONNTAG 19.1.

Reise von Chennai zum Sri Vast Ashram (ca. 160 km südlich von Chen nai, in der Nähe von Pondicherry)

Besichtigung des Dakshina Chitra (ein Museum zu südindischer Kultur, ca. 20 km südlich von Chennai)

Evt. Halt in Mahabalipuram (Hinduistischen Tempeln aus der Pallava- Zeit)

Übernachtung im Sri Vast Ashram (So-Mi)

MONTAG 20.1. und DIENSTAG 21.1.

Sri Vast Ashram: Kennenlernen einer neuen religiösen Gemeinschaft und Auseinandersetzung mit dem „Guru-tum“

MITTWOCH 22.1.

Samadhi von Sri Auorbindo und Mira Alfassa

Nachmittag: Ankunft in Auroville; Besichtigung des Visitor Centres und des Matrimandirs

Übernachtung in Auroville (Mi-So):

Pavilion of Tibetan Culture und Atithi Griha Guest House

DONNERSTAG 23.1. und FREITAG 24.1.

Auroville: Auseinandersetzung mit der Struktur und Organisation einer Neuen religiösen Gemeinschaft; Einblick in das Leben in Auroville

* Besichtigung verschiedener Projekte und Gespräche mit Ge meinschaftsmitgliedern 3

SAMSTAG 25.1.

baram (Nataraja Tempel)

SONNTAG 26.1.

Weiterreise nach Tiruvannamalai (ca 110 km)

Besichtigung des Arunachaleshvara Tempels in Tiruvannamalai

Übernachtung in Tiruvannamalai: SDD Residency - 21, Vazha Thotta Street - Tiruvannamalai, 606601 Tel: 04175-251777; Cell: 9843030400

MONTAG 27.1. und DIENSTAG 28.1.

Ramana Maharishi Ashram

Übernachtung im Ramana Maharishi Ashram (Mo-Mi)

MITTWOCH 29.1.

Weiterreise nach Kanchipuram (ca 130 km)

Besichtigung des Kailasanatha Tempels in Kanchipuram

Übernachtung in Kanchipuram (Mi-Fr): M.M. Hotels - 65-66, Nellukara Street - Kanchipuram, 631502 Tel: 0091 44 27227250

DONNERSTAG 30.1.

Kattaikkuttu Gurukulam (Tamilische Volkstheater Schule):

* Referat und Diskussion mit der Indologin Dr. H. de Bruin zum Thema „An alternative history of the Tamil stage“

* Führung durch die Schule

* Theateraufführung „The disrobing of Draupadi“

FREITAG 31.1.

Weiterreise nach Chennai (ca. 75 km)

Ende der Studienreise 4

staats ist Tamil, eine weitere verbreite- te Sprache ist Telugu. Die am stärksten vertretene Religion ist der Hinduismus (88.1%), gefolgt von den Minderheiten der Christen (6.1%), Moslems (5.6%) und Jainas (0.1%). Im Norden grenzt Ta- mil Nadu an die Bundesstaaten und , im Westen an , im Osten an den Golf von Ben- galen und im Süden an den Indischen Ozean. Die Hauptstadt Chennai (bis 1996 noch Madras) liegt im nördlichsten Abb. 0: Das Emblem der Regierung von Tamil Abb. 0: Karte von Südindien, Mittelalter (Maps Abb.Nadu 1: zeigtDas Emblem ein Tempeltor der Regierung des Sri von AndalTa- Teil von Tamilof ) Nadu am Golf von Ben- milTempels Nadu ( vgl.zeigt Bautze ein Tempeltor 2006: 540 des) Sri Andal galen (vgl. Bautze 2008: 537). Tempels(Wikimedia (vgl. Commons) Bautze 2006: 540) (Wikime- dia Commons) Frühgeschichte Den Mythen zu folge wurde Südindien Geschichte Tamil Nadus schon seit Tausenden von Jahren von indigenen Stämmen bevölkert. Der Ur- Beitrag von Simone Meinen sprung dieser Bevölkerungsgruppen liegt jedoch im Dunkeln. Anhand von Erwähnungen auf Funden von Steine- dikten lassen sich jedoch die drei grossen Bundesstaat Tamil Nadu („Land der Reiche tamilischer Dynastien zurückver- Tamilen“) liegt an der Südostküste des folgen. Sie betraten die Bühne der Welt- Landes und umfasst eine Fläche von geschichte im 3. Jahrhundert v. Chr. und 130‘058 km2. Tamil Nadu beheimatet prägten Tamil Nadu im Altertum. Das über 72 Millionen Menschen, womit der waren einerseits die Cholas, deren Reich Bundesstaat gemessen an seiner Ein- sich entlang der Coromandel Küste im wohnerzahl der siebtgrösste ist. Knapp Osten erstreckte, andererseits die Pandy- die Hälfte der Bevölkerung lebt in den as im tiefen Süden, und schliesslich die Städten, womit der Bundesstaat eine der Cheras, die über den grössten Teil der höchsten Verstädterungsraten Indiens aufweist (Census of India 2011). Auf alle unterhielten bereits zu dieser Zeit dem Land leben laut Bautze 36 verschie- diplomatische- und Handelsbeziehungen dene Ethnien. Die Amtssprache dieses mit Reichen auf weit entfernten Erdtei- ethnisch stark durchmischten Bundes- len wie zum Beispiel , Arabien Geschichte Tamil Nadus 5

und Europa (vgl. Aiyappan 2013). Funde weite Teile des nördlichen Tamil Na- von römischen Münzen in Kerala zum dus. Dort stehen noch heute bedeutende Beispiel beweisen dies. Unabhängig Bauwerke, welche mit den Namen der voneinander konnten sie alle ihre Macht Pallava Könige geschmückt sind (vgl. bis ins indische Mittelalter halten. Michell 2008: 12). Generell stammen Diese drei frühen Königreiche ver- viele der frühen archäologischen und schwanden dann aber für mehrere Jahr- monumentalen Hinterlassenschaften in Tamil Nadu von den Pallavas (vgl. Baut- den Kalabhras besiegt wurden. Zu den ze 2006: 539). Ein Beispiel dafür sind Kalabhras können hier leider keine wei- teren Angaben gemacht werden, da über weiteres Eindrückliches Zeugniss der die Kalabhras sehr wenig bekannt ist. - Pallava (6. – 9. Jahrhundert) te der erste bedeutende Herrscher der Ab dem 6. Jahrhundert kommt zum ers- Pallava Dynastie, Simha Vishnu (ca. ten Mal die nicht tamilische Dynastie der 537-570) das Gebiet kontinuierlich zu Pallavas an die Macht. Von ihrer Haupt- einem Grossreich. Von der Mitte des 6. Jahrhundert bis ins 9. Jahrhundert waren die Pallavas immer wieder in regionale Kriege mit den Chalykyas von Bada- mi und den Pandyas von ver- wickelt. Die Jahrhunderte der Pallava Herrschaft waren jedoch nicht nur von Schlachten und territorialer Expansion gekennzeichnet. Ihre Regierungszeit war auch eine Ära der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Pallavas gelten als Vorreiter der klassischen dravidischen Architektur und waren Vorbilder an de- nen sich spätere Dynastien orientierten. Auf der Suche nach Arbeit wander- ten viele Brahmanen vom Norden in den Süden und wurden dort schnell zur herrschenden Bevölkerungsschicht. Sie verwalteten die Ländereien und Reich- Abb.2 Felsenrelief aus der Pallava Zeit in tümer, welche den Tempeln geschenkt wurden (vgl. Rothermund 2002: 124). In Geschichte Tamil Nadus 6

dieser Zeit kam es zu grossen Entwick- Südostasien. Die Cholas eroberten die lungen in der bildenden Kunst (vgl. Ai- Gebiete der Ostküste Indiens bis hinauf yappan 2013). Die Pallavas hielten sich nach Bengalen, ferner die Insel Ceylon als stärkste Macht des Südens bis in die () und Teile Burmas neben Mitte des 9. Jahrhunderts. Sumatra, Malaysia und Java. Unter den Cholas wurden besonders im Kaveri Chola, Pandya und Chera (9. – 14. Delta zahlreiche dynastische Schreine Jahrhundert) gebaut. Einer der bedeutendsten davon Im 10. und 11. Jahrhundert gewann die - altehrwürdige Dynastie der Cholas wie- . Mit seinem quadratischen Gelän- der an Macht. Nachdem der letzte Palla- de, das durch grosse, pyramidenartige va König geschlagen war, begannen sie Türme auf jeder Seite begehbar ist, ist er beispielhaft für die Tempelarchitek- auszubreiten. Nachdem der letzte Palla- - va-König Aparajithan (882-901) von den puras“, wie diese Türme genannt wer- Cholas geschlagen worden war, begann den, hat die ganze darauffolgende Kultur religiöser Bauten in Südindien geprägt unaufhaltsame Aufstieg dieser Dynas- (vgl. Michell 2008: 12). Ein weiteres Re- tie zur grössten Land- und Seemacht in likt der Cholas sind die berühmten Chola Geschichte Tamil Nadus 7

Bronzen, welche im Nationalmuseum in auch die Macht der Cholas am Schwin- Chennai zu besichtigen sind. Das Reich den war, konnte unter Maravarman der Cholas endete im 13. Jahrhundert Sundara Pandya (1216-1238) ein Gross- (vgl. Bautze 2006: 540). reich geschaffen werden. Dieses schloss Mit dem Schwinden der Macht der Cho- später den Norden Ceylons und das las entstand im Süden das Grossreich heutige Kerala und Andhra Pradesh mit der Pandyas (vgl. Aiyappan 2013). Ihre ein. Dynastieinterne Thronfolgestreitig- Hauptstadt war Madurai, wo auch ihr re- keiten und Auseinandersetzungen mit ligiöses Zentrum lag. So sind am Minak- muslimischen Truppen aus dem Norden shi-Sundareshvara Tempel in Madurai bereiteten dem Reich der Pandyas zu Be- noch immer Teile aus der Pandyas Zeit ginn des 14. Jahrhundert ein Ende (vgl. zu erkennen (vgl. Michell 2008: 12). Die Bautze 2006: 540). Pandyas beherrschten das Gebiet südlich Die dritte der alten Dynastien, die Cher- des Kaveri, bis sie im 9. Jahrhundert von as, herrschten ab dem 10. Jahrhundert den Pallavas überrannt wurden. Erst als über das Gebiet des heutigen Kerala.

Abb. 4: Karte von Südindien, Mittelalter (Maps of India)

Abb. 0: Das Emblem der Regierung von Tamil Abb. 0: Karte von Südindien, Mittelalter (Maps Nadu zeigt ein Tempeltor des Sri Andal of India) Tempels (vgl. Bautze 2006: 540) (Wikimedia Commons)

Geschichte Tamil Nadus 8

- kuum in Tamil Nadu und machten sich deren beiden Herrscherhäusern des Sü- selbständig. Die mächtigsten von ihnen dens, den Pandyas und den Cholas (vgl. waren die Nayaks von Madurai und Bautze 2006: 540). Jedoch betrieben sie Thanjavur. (vgl. Bautze 2006: 540). einen regen Handel mit dem Westen Asi- Trotz ihrer relativen politischen und mi- ens (vgl. Aiyappan 2013). litärischen Bedeutungslosigkeit erlebten In Ihrer wechselseitigen Geschichte diese Reiche ein Aufblühen der spätdra- konnten die Cholas, Pandyas und Cheras vidischen Kunst. Es kam während dieser ihre Unabhängigkeit bis in das 16. Jahr- Zeit zum Bau und zu Erweiterungen rie- hundert halten. siger und prachtvoller Tempelanlagen. Diese Periode der Blüte und Stabilität Muslimische Herrschaft, Vijayanagar ging am Ende des 17. Jahrhunderts zu und Kleinstaaten (14.- 18. Jahrhun- Ende, als Kriegszüge verschiedener dert) indischer Grossreiche gegen die Klein- - staaten Tamil Nadus begannen. Zu den ji-Sultanates von Delhi in die Hauptstadt Eindringlingen gehörten zum Beispiel Madurai ein und brandschatzte sie. Erst- die Maratha Krieger oder die Mogul Ar- mals stand Tamil Nadu nun unter mus- mee (vgl. Michell 2008: 11/12). limischer Herrschaft. Das Sultanat von Madurai, der südlichste muslimische Vordringen der Europäer und Koloni- Staat auf indischem Boden, war jedoch alherrschaft (17. Jahrhundert – 1947) nur kurzlebig. Nur hundert Jahre spä- Als erste Europäer kamen die Portugie- ter entstand das Hindu Reich von Vija- sen, die in Kerala landeten und über ein yanagar mit Hampi als Hauptstadt. In Jahrhundert lang das indische Handels- den folgenden 300 Jahren sollte es zum monopol innehatten. Um 1609 siedelten wichtigsten Grossreich Indiens in dieser sich die Dänen in (District Tiru- Zeit werden. Die ursprüngliche Tem- vallur) an. 1640 eröffneten die Briten der pelkultur wurde wieder aufgenommen, „East India Company“ dann im Fischer- und viele von den Moslems zerstörten dorf Madrasputnam (heutiges Chennai) Tempel wurden wieder aufgebaut. In der eine erste Handelsstätte. Die Franzosen Schlacht von Talikota 1564 unterlag das setzten sich in Pondicherry fest und die Reich den Deccan Sultanen. Danach zer- Holländer in Nagapattinam. Alle diese - in mehrere Einzelreiche. renden Handel, der im Laufe der Zeit Die Nayaks, Militärstatthalter der Dist- die portugiesische Vormachtstellung rikte des früheren Vijayanagar Reiches, des europäischen Indienhandels auf- füllten nun das entstandene Machtva- hob. Die Inder erhofften sich aus diesen Geschichte Tamil Nadus 9

Beziehungen Unterstützung bei ihren gehören Veerapandian Kattabomman eigenen Problemen. Die Europäer ver- (1760-1799), Maruthu Pandiyar (ge- traten jedoch in der Regel vor allem ihre hängt am 24. Okt. 1801) und Dheeran eigenen Interessen, oft zum Nachteil der (1756-1805) (vgl. Bautze indischen Wirtschaft und Bevölkerung. 2006: 540). Neben den Aufständen ge- Am rücksichtslosesten erwiesen sich die gen die Kolonialherrschaft erlebte Tamil Briten, welche die indischen Lokalher- Nadu auch anti-brahmanische Proteste. ren gegeneinander ausspielten und im Die Nichtbrahmanen-Bewegung hatte Laufe der Zeit eine europäische Macht im Gegensatz zur Unabhängigkeitsbe- nach der anderen militärisch ausschalte- wegung nicht die Befreiung Indiens von ten. Den Franzosen blieb schliesslich nur den Kolonialmächten als Hauptziel. Sie noch Pondicherry, während die Ambitio- war als eine lokale Protestbewegung nen der Briten ihren Höhepunkt im 18. gegen die Vormachtstellung der do- Jahrhundert erreichten, als sie Bengalen minanten Brahmanen im öffentlichen besetzten und ihre Stützpunkte in Bom- Leben und in den kolonialen Institutio- bay und Madras ausbauten. Nach den nen gerichtet. Dem „Nichtbrahmanen- Kriegen gegen das Reich von Mysore Manifest“ von 1916 folgte 1917 die Gründung der politischen Partei „Justice Süden Indiens den Briten zu. Das Gebiet Party“. Durch sie erlangte die Nichtbrah- wurde nun zur „“, ei- manen-Bewegung in den 20er und 30er ner Verwaltungseinheit Britisch-Indiens mit Madras als Hauptstadt. Sie umfass- der Madras Presidency. Später vertrat te im Wesentlichen den heutigen Bun- die Nichtbrahmanen-Bewegung zudem desstaat Tamil Nadu, grosse Teile von einen dravidischen Nationalismus, in- Andhra Pradesh und den Nordteil von dem sie eine eigenständige Identität der Kerala. (vgl. Bautze 2006: 540). Tamilen als „Draviden“ im Gegensatz Dieser Prozess der Einverleibung zu den „Ariern“ Nordindiens postulierte des heutigen Tamil Nadu in das Bri- (vgl. Rothermund 2002: 127ff). tische Kolonialreich erfolgte gegen Im ersten Weltkrieg 1914 war Madras als den Wiederstand der Südinder. Zu den einziger Ort Indiens direkt vom Kriegs- berühmtesten Widerstandskämpfern geschehen betroffen. Am 22. September

Abb.5 Auf dem Zeitstrahl sind die wichtigsten Epochen und Formen der Herrschaft übersicht- lich dargestellt. Timeline (Wikipedia) Geschichte Tamil Nadus 10

bombardierte ein deutscher Kreuzer die und Kautschuk, um nur einige Güter zu Shell-Öltanks und die Küstenbatterie nennen. Wegen der langen Küste spielt von Madras. Es war der einzige Angriff auch die Fischerei eine grosse Rolle auf dem gesamten indischen Boden wäh- (vgl. Bautze 2006: 544). rend des ersten Weltkriegs (vgl. Bautze 2006: 540). Im zweiten Weltkrieg bom- Literatur-Diskussion bardierte die japanische Flotte Madras, Der opulente Bildband „Indien und seine was jedoch keinen grossen Schaden an- Bundesstaaten“ von J. K. Bautze bietet richtete und politisch unbedeutend blieb. geschichtliche, geographische, wirt- schaftliche und religiöse Informationen, Entwicklungen seit 1947 die mit ansprechenden Bildern illustriert Nach Erlangung der Unabhängigkeit Indiens 1947 wurde die „Madras Presi- Indiens geordnet sind. Der Autor ist His- dency“ zunächst zum „“. toriker und auf indische Kunstgeschichte Aus linguistischen Gründen spaltete spezialisiert. Leider ist dem Band keine sich 1953 das Telugu sprechende Gebiet umfangreiche Bibliographie angehängt. des „Madras State“ ab und gründete den Wegen seiner Grösse und seinem Ge- Bundesstaat Andhra Pradesh. Die terri- wicht ist dieses Buch eher unhandlich. torialen Neuordnungen innerhalb Indi- Das Buch „Temple Towns of Tamil ens in den Jahren 1953-1956 sorgten für Nadu“ wurde vom ausgewiesenen Ex- weitere Aufspaltungen. Einige Gebiete perten für Südasiatische Architektur gingen an den Bundesstaat Kerala im George Michell herausgegeben. Anhand Osten und einige an Mysore (heutiges verschiedener Beispiele von Tempel- Karnataka). Was noch übrig blieb, wurde städten in Tamil Nadu illustriert Michell 1968 zum Bundesstaat Tamil Nadu (vgl. verschiedene Ausprägungen des hinduis- Aiyappan 2013). tischen Tempelbaus und deren jeweilige Wirtschaftlich hat Tamil Nadu verschie- Geschichte. Im Fokus steht das Zusam- denste Einnahmequellen. Die bekannte menspiel von sakralem und urbanem Autoindustrie, die Schwerlastwagen, Raum. Bereits das Vorwort ist empfeh- Personenfahrzeuge und Autoteile pro- lenswert, da es einen knappen Überblick duziert wird gerne als das „indische liefert. Detroit“ gesehen. Im Wesentlichen ist Der Artikel „Die Nichtbrahmanen-Be- Tamil Nadu jedoch landwirtschaftlich wegung (1920-1962) und die indische ausgerichtet. Der fruchtbare Boden Ta- Politik“ von Dietmar Rothermund, der mil Nadus ermöglicht eine reichhaltige im Sammelband „Arier und Draviden“ Ernte von Getreiden, Zuckerrohr, Baum- von M. Bergunder und R. P. Das erschie- wolle, Nüssen, Gewürzen, Tee, Kaffee - 11

schen den Brahmanen Tamil Nadus und und Literatur ist das Werk etwas zu dicht der Restbevölkerung mit dravidischer um einen ersten Überblick zu erhalten. Identität. Es wird deutlich, wie die ver- Zudem wird die Kolonialzeit ausgeblen- schiedenen Bevölkerungsgruppen Tamil det. Nadus in die politische Arena eingeglie- Zu empfehlen ist ausserdem der engli- dert wurden und welche Interessen sie sche Wikipedia-Eintrag zu: History of verfolgten. Dieser Artikel ist sehr auf- Tamil Nadu. Er ist übersichtlich geglie- schlussreich, um die Gesellschaftsstruk- dert und geeignet um sich einen ersten turen und die Politik Tamil Nadus zu Überblick zu verschaffen. Weil er sehr verstehen. Dietmar Rothermund ist eme- ausführlich ist und seine Quellenanga- ritierter Professor für Geschichte Südasi- ben gut dokumentiert, hat er eine Aus- ens an der Ruprecht-Karls-Universität zeichnung als „featured article“ erhalten. Heidelberg. Der renommierte indische Historiker K. A. Nilakanta Sastri beschreibt in seinem umfangreichen Werk „A History of Sou- th India“ die Geschichte Südindiens seit ihrem Beginn in prähistorischen Zeiten bis zum Fall des Reichs der Vijayangar. Wegen seiner tiefen Einsicht in Kunst

Bibliographie Aiyappan, Ayinipalli: Tamil Nadu, in: Encyclopaedia Britannica Online Academic Edition. , eingesehen am 10.11.2013. Bautze, J. K. (2008): Indien und seine Bundesstaaten, Köln: Komet. Kulke, Hermann/Rothermund, Dietmar (2010): Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute, München: C. H. Beck. Michell, George (2008): Einleitung, in: Michell, George (Hg.): Temple Towns of Tamil Nadu, Mumbai: Marg Publications. Rothermund, Dietmar (2002): Die Nichtbrahmanen-Bewegung (1920-1962) und die indische Politik, in: Bergunder, Michael/ Das, Rahul Peter: „Arier und Draviden“. Konstruktionen der Vergangenheit als Grundlage für Selbst- und Fremdwahrnehmun- gen Südindiens, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 123-134. Venkatesan, Archana. Tamil Nadu, in: Brill’s Encyclopedia of Hinduism. , eingesehen am 10.11.2013.

Quellenverzeichnis - per2.pdf>, eingesehen am 04.12.2013.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Wikimedia Commons, The Emblem of the State : , eingesehen am 10.11.2013. Abb. 5: Wikipedia, , Timeline: , eingesehen am 13.01.2014. 12

Politik in Tamil Nadu Nichtbrahmanen zurückführen, eine Protestbewegung gegen die Gruppe der Die dravidische Bewegung Brahmanen (vgl. Ziegfeld 2013: 282).

Beitrag von Lisa Hochuli Bei den Brahmanen handelt es sich um eine Kastengruppe innerhalb des indi- schen Kastensystems, das insgesamt Einleitung in vier Kastengruppen, auch varna ge- Die gegenwärtige Politik von Tamil nannt, eingeteilt ist (vgl. Barnett 1976: Nadu ist seit einiger Zeit von zwei regi- onalen Hauptparteien geprägt, die beide hierarchischen Einteilung nach Tätigkeit der sogenannten dravidischen Bewe- und rituellem Status (ebd). Neben der gung entsprungen sind. Diese Bewegung Kaste der Brahmanen, bei denen es sich entwickelte sich unter kulturellen, politi- um Priester und Gelehrte handelt, gibt schen, sowie sozialstrukturellen Aspek- es ausserdem die Kasten der Ksatriyas, ten von Tamil Nadu. Vaisyas und Sudras. Unter diesen Kasten - Die Entstehung der dravidischen berührbaren“ (ebd.). Bewegung Die Kategorie der Nichtbrahmanen Bei der dravidischen Bewegung han- enthielt viele unterschiedliche regionale delt es sich um ein komplexes soziales und soziale Gruppierungen, durch die und politisches Phänomen, das sich als politische Solidarisierung wurde jedoch konstituierend für die tamilische Politik eine gewisse Einheit möglich (vgl. Ro- erweist (vgl. Ziegfeld 2013: 282). Die thermund 2002: 127). Dabei handelte Bewegung befasst sich mit Vorstellun- es sich dementsprechend nicht um eine gen über Religion, Kastensystem und schon existierende soziale Identität, viel- sprachlichen Nationalismus (ebd.). Der mehr um ein politisches Konstrukt, das Begriff des Dravidischen bezeichnet eine Sprachfamilie, welche die meisten und neu betont wurde (vgl. Wyatt 2010: gesprochenen Sprachen Südindiens, u.a. 45). Die politische Solidarisierung be- auch Tamil umfasst (ebd.). Vor allem ruhte vorerst eher auf der Lösung prak- innerhalb der Bewegung selbst wurde tischer Probleme, als auf konkreten The- der Begriff als Bezeichnung einer ethni- orien einer dravidischen Kultur (ebd.). schen Gruppe benutzt, wobei sich deren Die Organisation der Nichtbrahmanen Grenzen, historisch gesehen, primär auf richtete sich dann im Laufe der Zeit Tamil Nadu beschränkt (ebd.). hauptsächlich gegen die dominierende Die heutige dravidische Bewegung Vormachtstellung der Brahmanen im lässt sich auf die ältere Bewegung der öffentlichen Leben und den kolonialen Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung 13

Institutionen (vgl. Ziegfeld 2013: 282). Ziegfeld 2013: 282). Organisiert wurde Durch die britische Kolonialisierung diese Partei von der Nichtbrahmanen- entstand eine Verschiebung der Stellung Elite höherer Kasten, deren Hauptziel der nichtbrahmanischen Elite gegenüber die Schwächung der brahmanischen den Brahmanen, was sich in einer laten- Vormachtstellung im öffentlichen Kolo- ten Unzufriedenheit der nichtbrahmani- nialdienst war (ebd.). Die „Justice Par- schen Elite bezüglich der Position und ty“ bekräftigte in ihrem Programm ihre Möglichkeiten innerhalb der damaligen Loyalität gegenüber den Briten und be- kolonialisierten Gesellschaft äusserte. schuldigte den Indischen Nationalkon- So kam es schliesslich zu einem Rückbe- gress als „Brahmanenorganisation“ (vgl. zug auf eine, als überlegen angesehene, Rothermund 2002: 128). Während den dravidische Vergangenheit, wo noch die 1920ern und 30ern, erreichte die „Jus- rechtmässigen Verhältnisse geherrscht tice Party“ ihren politischen Höhepunkt haben sollen (vgl. Barnett 1978: 28). und sicherte sich die Übermacht in der Zu beachten ist jedoch, dass die Idee Präsidentschaft Madras, die während der der Rückbesinnung auf eine dravidische Kolonialzeit das heutige Tamil Nadu, Kultur ursprünglich auf britische Missi- Teile von Andhra Pradesh, Karnataka onare zurückverfolgt werden kann, wel- und Kerala umfasste (ebd.). Ebenfalls che die Eigenständigkeit der tamilischen eine Nichtbrahmanen-Bewegung war Tradition, sowie die Qualität der entspre- die „Self-Respect Association“, gegrün- chenden Literatur zu rühmen begannen det von E. V. Ramaswami Naicker (vgl. (vgl. Rothermund 2002: 127). Die Un- Ziegfeld 2013: 283). Dieser erreichte terscheidung zwischen den gegenwärti- schliesslich eine Verschmelzung der gen Verhältnissen und einer idealisierten Self-Respect Association und der Justice Vorstellung des Dravidischen wurde Party mit dem Ergebnis einer Partei, die schliesslich zu einem wesentlichen As- von der elite-dominierten Justice Party pekt der dravidischen Bewegung sowie zu einer Partei für die breitere Bevöl- deren Politik (vgl. Barnett 1978: 28). kerung, der Dravidar Kazhagam (DK), wurde (ebd). Mithilfe von direktem Die politischen Anfänge der dravidi- Kontakt mit der Bevölkerung und der schen Bewegung Verbreitung von Literatur, vermochte Das Vorantreiben der Idee einer politi- die DK das Bewusstsein einer Gemein- schen, nichtbrahmanischen Bewegung - mit ursprünglichen, kulturellen Motiven hundert, verkörpert unter anderem durch zu generieren (vgl. Hardgrave 1965: - 30). Die Organisation trug in diesem dian Liberal Federation“ genannt (vgl. Sinne wesentlich dazu bei, das Gefühl Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung 14

einer tamilischen Nationalität in Tamil von Strassentheater und Nutzung des Nadu zu verbreiten. In diesem Zug ka- Kinos, mit der Öffentlichkeit in direk- men zwei neue Elemente in die Ideo- tem Kontakt standen (ebd.). Zudem setz- logie der Nichtbrahmanen-Bewegung, te sich die Parteiführung aus Mitglie- die sich in Atheismus und sprachlichem dern der mittleren Gesellschaftsschicht Nationalismus äusserten (vgl. Ziegfeld zusammen, die zahlenmässig stärkste 2013: 283). Dies geschah vor allem als Schicht, an die sich die Partei mit ihrem Abgrenzung zum nordindischen Hindu- Programm auch überwiegend richtete ismus der Brahmanen, der als fremd und (ebd.). So war für die DMK wesentlich, unterdrückend angeschaut wurde (ebd.). dass sie sich als Partei des „gewöhnli- Gerade das atheistische Element kann chen Mannes“ und im gleichen Atem- als dravidische Reaktion auf die emp- zug, des typischen, durchschnittlichen fundenen Demütigungen, die seitens der hinduistischen Brahmanen den tieferen 115). Zum Einen wurde auf diese Weise Kasten entgegengebracht wurden, ver- der reguläre Staatsangehörige zur Ver- standen werden (ebd.). Obwohl einige körperung des Dravidischen, zum Ande- dravidische Aktivisten ihren Atheismus ren richtete sich die Partei an die tieferen öffentlich demonstrierten, gewann die- Gesellschaftsgruppen und wertete diese ser Aspekt der dravidischen Bewegung dadurch auf. Infolgedessen konnten Kas- keine breitere Akzeptanz in Tamil Nadu tentrennungen und Klassenunterschiede (ebd.). Dies im Gegensatz zum sprach- in einer einzigen dravidischen Nationali- lichen Bezug, der eine dauerhafte Aus- tät zusammengefasst werden. Die DMK wirkung auf die Politik von Tamil Nadu vertrat nun die Ansicht einer alten und gewann (ebd.). glorreichen tamilischen Kultur, die es im Angesicht der Bedrohung durch die Die Entstehung der beiden dravidi- tamilischen Brahmanen und Nordinder schen Hauptparteien von Tamil Nadu zu bewahren galt (vgl. Ziegfeld 2013: Die „Dravida Munnetra Kazhagam“ 283). Das „Dravidische“ wurde dadurch (DMK ) wurde 1949 von C.N. Annadu- politisch gesehen zu einem Synonym für rai gegründet und etablierte sich als die Tamilisch, genauso wie die tamilische erste bedeutende Regionalpartei von Ta- Sprache zu einem politischen Symbol mil Nadu (vgl. Ziegfeld 2013: 285). Bei wurde (vgl. Rothermund 2002: 132). So der DMK handelte es sich seit Anbeginn entwickelte sich die DMK letztlich zu um eine äusserst stark organisierte Par- einer tamilischen Regionalpartei (vgl. tei, deren Mitglieder durch kulturelles Rothermund 2002: 134). Dies ging so Engagement, wie der Begründung lite- weit, dass die DMK ein unabhängiges rarischer Zeitschriften, Aufführungen Südindien in Form von Dravida Nadu Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung 15

forderte, um die tamilischen Interessen auf das dravidische Erbe bezog, jedoch und Sprachen vor einer angeblich schi- in Konkurrenz mit der DMK stand (vgl. kanierenden, von Nordindien dominier- Ziegfeld 2013: 283). Die AIADMK wur- ten Regierung zu schützen (vgl. Ziegfeld de ursprünglich vom Filmstar und Po- 2013: 283). Als Gegenpartei empfand litiker M.G. Ramachandran gegründet, die DMK vor allem die Kongresspartei, nachdem dieser, aufgrund eines Macht- welche zu der Zeit die Regierung Indiens kampfes zwischen ihm und dem dama- leitete und von der DMK als von nord- ligen DMK-Parteiführer M. Karunandhi, indischen Brahmanen beherrscht - mit von der DMK ausgeschlossen wurde dem Ziel der unwilligen Bevöl- (vgl. Ziegfeld 2013: 286). Die beiden kerung aufzuzwingen - angesehen wur- Parteien besitzen heute die stärkste po- de (ebd.). Die indische Regierung ver- litische Macht in Tamil Nadu, auch vor suchte tatsächlich in mehreren Anläufen den übrigen nationalen Parteien, wie der Hindi als Nationalsprache in Regierung Kongresspartei, der Bharatiya Janata und Schulen zu etablieren, ein Vorha- Partei (BJP) und den zwei wesentlichen ben, das in Tamil Nadu vehementen Wi- kommunistischen Parteien (ebd.). derstand erfuhr (ebd.). Als schliesslich - Landessprache ersetzt wurde, hatte dies gung auf die Politik von Tamil Nadu schwere Proteste bis hin zu Streiks und Parteien mit Anlehnung an Symbole gewalttätigen Ausschreitungen in Tamil und Ideen der dravidischen Bewegung Nadu zur Folge (ebd.). Dies bewog die erhalten seit den 1980ern regelmässig Regierung dazu, den Entscheid wieder die Mehrheit der Wählerstimmen (vgl. rückgängig zu machen (ebd.). Dass die Ziegfeld 2013: 283). Dies hatte zur Fol- - ge, dass auch andere politische Eliten noss, zeigte sich auch durch die steigen- das Programm ihrer Parteien Richtung de Wahlbeteiligung der Bevölkerung, tamilischem Nationalismus verschoben die mit der politischen Aktivität der Partei einherging (ebd.). Somit wurde der dravidischen Bewegung äussert sich mit der Gründung der DMK Partei der zudem in der marginalen Position der tamilische Nationalismus zu einer Ideo- Brahmanen in der heutigen tamilischen logie der Massenmobilisation und einem politischen Klasse, ausserdem in der prägenden Element der Politik von Ta- starken Nutzung politischer Vorteile auf- mil Nadu. grund von Kastenzugehörigkeit, sowie In den 1970er entstand zudem die Partei in der breiten Befürwortung des tamili- „All India Anna Dravida Munnetra Kaz- schen Nationalismus (ebd.). hagam“ (AIADMK), die sich ebenfalls Die dravidische Bewegung bildet seit Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung 16

1967 die Regierung von Tamil Nadu, (vgl. Ziegfeld 2013: 284). Wie erwähnt, dennoch wurde nie ernsthaft eine Un- richtete sich die DMK dabei eher an abhängigkeit des Staates gegenüber Menschen der mittleren Gesellschafts- dem restlichen Indien angestrebt (vgl. schichten, indem die Partei Ansprüche zur Aufhebung der Macht der traditio- die DMK und AIADMK bezüglich der nellen Elite stellte. Dies im Unterschied Wahlen in reger Zusammenarbeit mit zur AIADMK, die ihrer populistischen der Kongresspartei und BJP, welche die Strategie eher einen paternalistischen In- beiden Hauptparteien Indiens darstellen (ebd.). Die Wirkung der dravidischen welche das Volk und dessen Interessen Bewegung sollte daher nicht überbewer- schützt, verwies, was vor allem bei der tet werden. Sowohl die politische Margi- ärmeren und marginalisierten Bevölke- nalisierung der Brahmanen, als auch die rungsschicht Anklang fand (vgl. Zieg- starke Nutzung von Vorteilen aufgrund feld 2013: 284). Dies äusserte sich in der von Kastenzugehörigkeit, kann auch in Durchsetzung einer Quote für mittlere südindischen Staaten beobachtet wer- Kasten in Bildungs- und Regierungsbe- den, die kein vergleichbares Phänomen rufen durch die DMK, sowie in der Ein- einer dravidischen Bewegung kennen führung von kostenlosem Mittagessen (ebd.). Ebenso ist unklar, inwiefern die an den öffentlichen Schulen seitens der Verbindung zwischen dem Aufstieg der ADMK (ebd.). Durch das populistische regionalen Parteien in der Politik von Engagement der beiden dravidischen Tamil Nadu und dem tamilischen Nati- Parteien, kam es zu einer Reihe von onalismus tatsächlich hergestellt werden fortschrittlichen Grundsätzen in der So- kann (ebd.). Alternativ zu der Annahme, zialpolitik, was Tamil Nadu im Bereich aufkommender Nationalismus hätte zur sozialstaatlicher Entwicklung zu einem Entstehung der dravidischen Partei- der führenden Staaten Indiens machte en geführt, könnte auch umgekehrt der (ebd.). Obwohl die Zusicherungen der Aufstieg dieser Parteien zu einem ver- dravidischen Parteien an die Bevölke- stärkten Gefühl von tamilischem Natio- rung vor allem der Wahlkampagne dien- nalismus der Wähler beigetragen haben ten, sind darin wesentliche Elemente (ebd.). weiterentwickelter Sozialhilfe enthalten, Mit den Versuchen der frühen Anführer wie Mutterschaftsbetreuung, Subventi- der dravidischen Bewegung, die tamili- on des öffentlichen Verkehrs und Aus- sche Bevölkerung gegen die politische bildungsförderung (ebd.). Ausserdem Vormachtstellung der Brahmanen auf- vermochten die dravidischen Parteien zubringen, kam erstmals eine populisti- mithilfe dieser populistischen Strategie sche Form von Politik in Tamil Nadu auf der Bevölkerung das Bild einer Einheit Politik in Tamil Nadu - Die dravidische Bewegung 17

zu vermitteln und gleichzeitig allfällige in “ von Andrew Wyatt, als - auch teilweise der Aufsatz „Die Nicht- att 2010: 45). brahmanen-Bewegung (1920-1962) Hervorgegangen aus der dravidischen und die indische Politik“ von Dietmar Bewegung, bilden die DMK und AI- Rothermund an. Eine äusserst gute und ADMK als regionale Hauptparteien seit aktuelle Übersicht liefert schliesslich 1967 abwechselnd die Regierung von der Aufsatz von Adam Ziegfeld über Tamil Nadu (vgl. Ziegfeld 2013: 285). Tamil Nadu im „Routledge Handbook Nirgendwo sonst in Indien wurde ein of Indian Politics“, der auch auf die ge- Staat so lange und konstant von regiona- genwärtigeren sozialen und politischen len Parteien regiert (ebd.). der dravidischen Parteien eingeht. Diskussion der Literatur Der beschriebenen Entstehung und Wei- terentwicklung der dravidischen Bewe- gung widmet sich Marguerite Ross Bar- dem Titel „The Politics of Cultural Nati- onalism in South India“, wobei sie sich überwiegend mit dem Phänomen des Nationalismus in der Zeit der Entstehung der dravidischen Parteien auseinander- setzt. Auf die Entstehungszeit der DMK beschränkt sich die Studie von Robert L. Hardgrave „The Dravidian Movement“. Für eine zeitgenössischere Untersu- chung der Politik in Tamil Nadu bieten sich das Werk „Party System Change

Bibliographie Barnett, Marguerite Ross (1976): The Politics of Culutral Nationalism in South India, Princeton/New Jersey: Princeton University Press. Hardgrave, L. Robert (1965): The Dravidian Movement, : Popular Prakashan. Rothermund, Dietmar (2002): Die Nichtbrahmanen-Bewegung (1920-1962) und die indische Politik, in: Bergunder, Michael u. Das, Rahul Peter (Hg.): „Arier“ und „Draviden“. Konstruktionen der Vergangenheit als Grundlage für Selbst- und Fremd- wahrnehmungen Südasiens, Halle: Franckesche Stiftungen zu Halle, 123-134. Wyatt, Andrew (2010): Party System Change in South India. Political entrepreneurs, patterns and processes, London/New York: Routledge. Ziegfeld, Adam (2013): Tamil Nadu, in: Kohli, Atul u. Singh, Prerna (Hg.): Routledge Handbook of Indian Politics, London/ New York: Routledge, 282-290. 18

Ausmass ein- bzw. nicht eingehalten. Im Bezug auf Indien kann hierbei eine hohe Dynamik beobachtet werden. Um die Entwicklung der Einhaltung der Men- schenrechte und den aktuellen Stand bezüglich Indien aufzuzeigen habe ich in einem ersten Schritt mit Hilfe des CI- RI-Human Rights Dataset von Richards und Cingranelli zwei Daten-sätze gebil- det (vgl. Richards/Cingranelli 2011). Ich habe sowohl Daten zur Entwicklung des Einhaltens der Menschenrechte in Indi- auch einen Datensatz für die aktuellen Werte Indiens und der Schweiz gebildet, Abb. 1: Niemand zu Hause um einen Vergleich der beiden Länder zu ermöglichen. Das CIRI-Human Rights Dataset unter- Menschenrechte in Indien scheidet die Menschenrechte im enge- ren Sinne von den Menschenrechten im Beitrag von Hanna Lüddeckens weiteren Sinne. Die Menschenrechte im Im Jahr 1993 bekannten sich bei der engeren Sinne werden unter dem Begriff Weltkonferenz der Menschenrechte in der „physischen Unversehrtheit“ zusam- Wien die Vertre-ter von 171 Ländern mengefasst. Physische Unver-sehrtheit zu der „Erklärung der Menschenrech- beinhaltet die Indikatoren Folterung, te“ (vgl. Partsch 1991), welche be-reits aussergerichtliche Tötung, politische 1948 von den vereinten Nationen ver- Gefan-genschaft und das Verschwinden kündet wurde. In der Erklärung der von Menschen.1 Wiener Men-schenrechtskonferenz von Die weiterführenden Menschenrechte 1993 wird festgehalten, dass alle Men- bestehen aus dem „Selbstbestimmungs- schenrechte „allgemeingül-tig“ und recht“, welches wiederum sieben Indi- „unteilbar“ sind, einander bedingen und katoren zusammenfasst, den wirtschaft- einen „Sinnzusammenhang“ bilden (vgl. lichen, politischen und sozialen Rechten Uni-versity of Minnesota 2013). der Frauen und der Unabhängigkeit der Trotz dieses Anspruchs auf allgemeine Justiz.

Gültigkeit werden die Menschenrechte 1 Für detaillierte Angaben zur Konstruktion nach wie vor in sehr unterschiedlichem vgl. Cingranelli/Richards 2004. Menschenrechte in Indien 19

Das „Recht auf Selbstbestimmung“ be- teten Respekt gegenüber den Menschen- inhaltet Internationale sowie nationale rechten für Indien und die Schweiz dar. Bewegungsfrei-heit, Redefreiheit, politi- Sie wurde von mir anhand des CIRI-Da- sches Wahl- und Mitbestimmungsrecht, tenset für das Jahr 2011 konstruiert. Wahlfreiheit mit eingeschlos-sen, Reli- gionsfreiheit und Arbeitsrecht. Das Ar- Das Menschenrecht auf physische Un- beitsrecht bezieht sich auf die freie Wahl versehrtheit erhält in Indien 2011 laut des Arbeitsnehmers, der Möglichkeit dem CIRI-Datensatz keinerlei Res- den Arbeitsplatz zu wechseln und dem pekt. Allen einzelnen Indikatoren, die Recht Gewerkschaf-ten zu bilden (vgl. dieses Recht verletzten, näm-lich das Cingranelli/Richards 2011). Verschwinden von Menschen, Ausser- Die folgende Tabelle stellt den beobach- gerichtliche Tötungen, Politische Ge-

Menschenrecht Indien CH Range Das Verschwinden von Menschen 0 2 0= Keinerlei Respekt

Aussergerichtliche Tötungen 0 2 2= Voller Respekt Politische Gefangenschaft 0 2 Folterungen 0 1 => Recht auf Physische Unversehrtheit (0-8) 0 7 0= Keinerlei Respekt

8= Voller Respekt Versammlungs- und Verbandsrecht 0 2 0= Keinerlei Respekt

Internationale Bewegungsfreiheit 1 2 2= Voller Respekt Nationale Bewegungsfreiheit 2 2 Redefreiheit 1 1 Politische Wahlfreiheit und politisches Mitbestimmungsrecht 2 2 Religionsfreiheit 0 1 Arbeiterrecht 1 1 => Selbstbestimmungsrecht 7 11 0= Keinerlei Respekt

14= Voller Respekt Wirtschaftliche Rechte der Frauen 1 3 0= Keine Rechte für Frauen dies- Politische Rechte der Frauen 3 2 bezüglich im Gesetz Soziale Rechte der Frauen -- 1= Rechte im Gesetz, werden aber nicht durchgesetzt

2= Rechte im Gesetz, werden aber nur teilweise durchgesetzt, immer noch geringes Level an Diskrimi- nierung wird geduldet

3= Rechte im Gesetz und in der Praxis ohne jegliche Diskrimi- nierung Unabhängigkeit der Justiz 0 2 0= Abhängigkeit

2= Unabhängigkeit Tab. 1: Menschenrechte 2011 in Indien und der Schweiz Menschenrechte in Indien 20

fangen-schaft und Folterungen wurde im jeweils nur 1 von 2 „Punkten“ erzielt. Jahr 2011 der tiefst mögliche Wert von Dies beudeutet wiederum, dass der Re- 0 zugewiesen. Dies bedeutet, dass alle spekt ge-genüber der Redefreiheit, der vier Geschehnisse regelmässig beobach- Religionsfreiheit und dem Arbeitsrecht tet werden konnten und somit keinerlei nur teilweise vorhanden ist. Respekt gegenüber der physischen Un- Die 4 weiteren Indikatoren der weiter- versehrtheit vorhanden ist. führenden Menschenrechte, wobei die In der Schweiz wird der physischen Un- sozialen Rechte der Frauen seit 2005 versehrtheit für das Jahr 2011 ein Wert nicht mehr gesondert erhoben wurden, von 7 zuge-schrieben. Damit respektiert sind sehr unterschiedlich aus-geprägt. auch die Schweiz das Recht auf physi- Während Indien bei den wirtschaftlichen sche Unversehrtheit nicht vollkommen. Rechten der Frauen nur einen „Punkt“ Dies ist auf den Wert der Folterungen zu- er-hält und die Schweiz das Maximum rückzuführen, dem auch in der Schweiz von 3 Punkten, sind Indien bei den poli- nur eine 1 zugeordnet wird. Ein Nach- tischen Rechten der Frauen 3 Punkte zu- teil an dem Datensatz ist die rein quan- geschrieben wobei die Schweiz hierfür titative Auswertung, so ist es für mich nur einen Wert von 2 erhält. Hieraus lässt sich schliessen, dass Indien laut dem CI- in welchem Zusam-menhang in der RI-Datenset die politischen Rechte der Schweiz im Jahr 2011 Folterungen beob- Frauen mehr respektiert, nämlich voll- achtet werden konnten, bzw. auf welches ständig, als es in der Schweiz mit nur - einem teilweise vorhandenen Respekt rückzuführen ist. der Fall ist. Bei den weiterführenden Menschenrech- Der vierte Indikator der weiterführenden ten liegen Indien und die Schweiz nicht Menschenrechte, welcher die Unabhän- ganz so weit auseinander. Indien erreicht gigkeit der Justiz beschreibt, erhält in bei den Selbstbestimmungsrechten einen Indien den Wert 0 und in der Schweiz Wert von 7. Dies spiegelt eine mittlere den Wert 2. Dies bedeutet, dass in Indien Ausprägung des Respekts gegenüber keine Unabhängigkeit der Justiz besteht, den Selbstbestimmungsrechten wieder. während diese in der Schweiz voll-stän- Die Schweiz hingegen erhält bei dem dig angenommen wird. Respekt gegenüber den Selbstbestim- In der folgenden Tabelle wird die Ent- mungs-rechten einen Wert von 11. Die wicklung der Menschenrechte im enge- drei fehlenden „Punkte“ um den maxi- ren Sinne von 1981-2011 in Indien dar- malen Respekt wider-zuspiegeln, büsst gestellt. sie bei der Redefreiheit, der Religions- freiheit und dem Arbeitsrecht ein, wo sie Menschenrechte in Indien 21

Jahr/ Indien 1981 Indien 1990 Indien 2000 Indien 2011 Menschenrecht Physische Unversehrtheit 4 2 1 0 Verschwinden 2 1 1 0 Aussergerichtliche Tötung 1 1 0 0 Politische Gefangenschaft 0 0 0 0 Folter 1 0 0 0 Tab. 2: Entwicklung der Menschenrechte im engeren Sinne von 1981-2011 in Indien

Besonders auffällig sind die Daten von gelegentlich vorkommt. 1981 hingegen Indien, wenn man die Entwicklung der war mit ei-nem Wert von 2 keinerlei Ver- Menschen-rechte in den letzten 30 Jah- schwinden von Menschen verzeichnet ren betrachtet. Der Respekt gegenüber worden. Der Wert „Folte-rung“ verän- den Menschenrechten im engeren Sin- dert sich von gelegentlichem Auftreten, ne, wie in der oben dargestellten Tabel- zu regelmäßigem Auftreten. Politische le deutlich zu sehen, ist stark gesunken. Gefangenschaft behält den Wert 0, was Eine ähnliche Entwicklung kann auch bedeutet, dass sie zu allen 4 Zeitpunk- für die Menschenrechte im weiteren ten regelmäßig beobachtet werden kann. Sinne beobachtet werden, was in der Der Wert der außergerichtlichen Tötung anschliessenden Tabelle zu sehen sein bleibt in der ersten Dekade unverändert wird. mit einem Wert von 1, sinkt anschlies- Der Wert der physischen Unversehrtheit send aber ebenfalls auf den Wert 0 herab. liegt 1981 bei 4 und halbiert sich in jeder Es ist wichtig darauf hinzuweisen, nächsten Dekade. Im Jahr 2009 erreicht dass man bei der Interpretation solcher der Respekt gegenüber der physischen Werte immer vor-sichtig sein sollte, da Unversehrtheit schließlich den absoluten unklar bleibt, inwiefern die einzelnen Tiefpunkt mit einem Wert von 0. Be- Menschenrechte wirklich mehr verletzt trachtet man die Werte der vier Faktoren, werden, oder aber die Verletzungen nur aus denen sich die physischen Unver- verstärkt an dich Öffentlichkeit geraten. sehrtheit bildet, kann man sehr deutlich Dies gilt auch für die anschliessende nachvollziehen auf welche Indikatoren Diskussion über die Entwicklung der die Veränderung im Hauptindex zurück- weiterführenden Men-schenrechte. zuführen sind. Zwischen 1981-1990 ver- Im Jahr 1981 erhält Indien in Bezug liert sowohl der Wert „Verschwinden“ auf das Selbstbestimmungsrecht eine als auch der Wert „Folterung“ einen Ausprägung von 11. Dies entspricht (in Punkt. Das Verschwinden von Menschen Tabelle3 nicht zu sehen) dem Wert der sinkt auf den Wert eins. Dies drückt aus, Schweiz im Jahr 2011. dass das Verschwinden von Menschen Im Jahr 2011 hingegen wird Indien Menschenrechte in Indien 22

Jahr/ Menschenrecht Indien 1981 Indien 1990 Indien 2000 Indien 2011 Selbstbestimmungsrecht 11 10 6 7 Versammlungs- und Verbandsrecht 2 2 1 0 Internationale Bewegungsfreiheit 2 2 1 1 Nationale Bewegungsfreiheit 1 2 1 2 Redefreiheit 2 1 1 1 Politische Wahlfreiheit und Mitbe- 1 1 1 2 stimmungsrecht Religionsfreiheit 2 1 0 0 Arbeiterrecht 1 1 1 1 Wirtschaftliche Rechte der Frauen 1 0 1 1 Politische Rechte der Frauen 2 2 2 3 Soziale Rechte der Frauen 1 1 1 - Unabhängigkeit der Justiz 1 2 2 0

Tab. 3: Entwicklung der weiterführenden Menschenrechte von 1981-2011 in Indien in Verbindung mit dem Selbstbestim- Anschliessend möchte ich für eine quali- mungsrecht nur noch ein Wert von 7 zu- tative Beurteilung der Menschenrechts- geschrieben. lage in Indien den Jahresbericht 2013 Dieser Rückschritt ist insbesondere von Amnesty International heranziehen durch eine Verletzung des Versamm- (vgl. Amnesty International 2013a). lungs- und Ver-bandsrechts, einer leich- In dem Report entsteht kein positives ten Einschränkung der internationalen Bild und es werden fast ausnahmslos Bewegungsfreiheit und einem massiven schwere Miss-stände in Indien aufge- Verletzung der Religionsfreiheit zu er- zeigt. Er beschreibt einige Geschehnis- klären. Auch der Respekt gegenüber se des Jahres 2012, die sich auf Men- der Re-defreiheit hat von 1981 her ab- schenrechtsverletzungen beziehen und genommen. Während das Recht auf beginnt mit der Wiederaufnahme von Redefreiheit im Jahr 1981 noch absolut Hin-richtungen nach dem Urteil auf To- gegeben war, kam es diesbezüglich in desstrafe. Nachdem es zwischen 2004 den Jahren 1990, 2000, und 2011 zu Ein- und 2012 zu keiner Vollstreckung der schränkungen. Das politische Wahl- und Todesstrafe im Sinne einer Hinrichtung Mitbestimmungsrecht hingegen hat über kam, wurde diese im November 2012 den Zeitraum von 1981 bis 2011 an Re- wieder aufgenommen (vgl. Amnesty spekt gewonnen und gilt ebenso wie die International 2013a/ Amnesty Internati- politischen Rech-te der Frauen im Jahr onal 2013b: 2). Auch politische Ausein- 2011 als vollkommen respektiert. andersetzungen führten zu Todesfällen: So berichtet Amnesty In-ternational über die Zusammenstösse zwischen Maoisten Menschenrechte in Indien 23

und Sicherheitskräften in Ost- und Zen- sern durch Kasten angehörende Hindus. tralindien von „Morde[n], Entführungen Die Gewalttaten können, laut Bericht, und Brandstiftungen“, bei welchen min- als Reaktionen auf den Selbstmord eines destens 340 Menschen ums Leben ka- Mannes gesehen werden, dessen Tochter men (vgl. Amnesty International 2013a: sich mit einem Dalit („Kasten-losen“) 1-2). In anderen Zu-sammenhängen vermählt hatte (vgl. Amnesty Internatio- kam es zu Vertreibungen innerhalb In- nal 2013a: 3-4). diens und zu ethnischen und religiö-sen Artikel 25, Absatz 1 der Erklärung der Menschenrechte lautet: „Jeder hat das werden von Amnesty International Men- Recht auf ei-nen Lebensstandard, der schen-rechtsverletzungen vorgeworfen: seine und seiner Familie Gesundheit „Staatliche Akteure“, vermutlich Poli- und Wohl gewährleistet, ein-schließlich zeikräfte schikanierten und verhafteten Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Menschenrechtsverteidiger. Die indi- Versorgung und notwendige soziale Lei- sche Regierung versuchte in mehreren stungen, sowie das Recht auf Sicherheit Fällen, der Regierung kritisch gegen- im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, überstehende Internetseiten zu zensieren Invalidität oder Verwitwung, im Alter und dement-sprechende Berichte in den sowie bei anderweitigem Verlust seiner sozialen Medien zu unterbinden (vgl. Unterhaltsmittel durch unverschuldete Amnesty International 2013a: 4). Hinzu Umstände.“3 kommt, dass Menschenrechtsverletzun- Da das Recht auf Nahrung im CIRI- gen nicht konsequent mit einer Stra-fe Datenset nicht berücksichtigt wird und versehen wurden und sogar Gesetzte be- auch im Amnesty International Report nicht zur Sprache kommt, möchte ich in Men-schenrechtsverletzungen erleich- einem dritten Teil die Ernäh-rungssitua- tern, indem grosse Ermessensspielräume tion in Indien und insbesondere in Tamil im Hinblick auf gewalttätiges Handeln Nadu darstellen. Hierbei habe ich mich von Seiten der Polizei bestehen, wenn an den Untersuchungen des „Internati- es darum geht „Aufstände“ zu ersticken. onal Food Policiy Research Institute“ 2Vor allem in Jammu und Kaschmir sind besonders dramatische Verhältnisse zu Tabelle soll die Situation bezüglich der beobachten gewesen (vgl. Amnesty In- Unterernährung in Indien und den ein- ternational 2013a: 2-3). zelnen Staaten aufzeigen. In Tamil Nadu kam es z.B. zur Plünde- rung und Zerstörung von 268 Dalit-Häu-

2 Vgl. hierzu auch: human rights documenta- tion centre 2013. 3 United Nations 2013. Menschenrechte in Indien 24

Abb. 2: Karte über Ernährungssituation in Indien 2008

beschrieben.4 Unterernährung in allen, in der Unter- Wie in der Tabelle 4 zu sehen sind in suchung aufge-nommenen indischen dem Bundesstaat Tamil Nadu rund 30% Bundesstaaten, ein ernstes Problem. Den der Bevölke-rung unterernährt bzw. Bundesstaaten Punjab, Andhra Pradesh können den Tagesbedarf an ca. 1600 und Kerala wird die Stufe „serious“ Kcal’s nicht decken. Im Ver-gleich zu zugewiesen. Für die restlichen Bundes- der Ernährungssituation in den anderen staaten wird der Status „Alarming“ an- Bundesstaaten Indiens steht Tamil Nadu gegeben. Die Lage in Madhya Pradesh 4 Vgl. International food policy research wird sogar als „extremely Alarming“ institute 2013. Menschenrechte in Indien 25

Abb.3: Ernährungssituation in den indischen Bundesstaaten 2008 auf Rang sechs von siebzehn. Auf Rang diglich einen kleinen Einblick in eine siebzehn steht der Bundesstaat Madhya weitrei-chende Thematik zu bieten. Pradesh, welcher die grösste Unterer- Die folge Abbildung zeigt den prozen- nährung aufweist. tualen Anteil der jeweiligen Religion an der in Indien lebenden Bevölkerung. Im Wie bereits dem CIRI-Datenset zu ent- Jahr 1979 hat Indien den internationa- nehmen (Tabelle 3) hat der Respekt ge- len Pakt über bürgerliche und politische genüber der Religionsfreiheit von 1981 Rechte (UN-Zivilpakt) aus dem Jahr an sehr stark abgenommen und im Jahr 1966 unterzeichnet. Dieser Pakt schliesst 2000 bereits den absolu-ten Tiefpunkt das Recht auf Religionsfreiheit mit ein. erreicht. Den mit dem UN-Zivilpakt verbundenen In einem vierten Abschnitt soll die Situ- optionalen Zusatz über die Möglichkeit ation der Religionsfreiheit in Indien dis- einer Individualbeschwerde im Falle der kutiert werden, wobei ich mich hierbei Verletzung der Religi-onsfreiheit gegen- auf Einschränkungen der Religionsfrei- über den Vereinten Nationen wurde von heit von hinduistischen Bewe-gungen Indien jedoch nicht angenommen (vgl. ausgehend beschränken werde, um le- Evers 2012: 7). Die Schweiz unterzeich- Menschenrechte in Indien 26

nete das entsprechende Abkommen auch In dem Bericht über die Lage der Reli- erst im Jahre 1991. Ebenfalls kommt in gionsfreiheit in Indien von Evers wird der indischen Verfassung das Recht auf deutlich, dass sich aus dem lange Zeit Religionsfreiheit und der Schutz von re- als sehr tolerant gegoltenen Hinduismus ligiösen Minderheiten an verschiedenen in Indien zunehmend radi-kale Strömun- Stellen ausführlich vor (vgl. Evers 2012: gen entwickeln. Immer wieder berufen 8-9).5 sich radikal-hinduistische Gruppierun- gen auf die „Hindutva-Ideologie“, wel- Um ein Mittel gegen religiös motivierte che einige Gemeinsamkeiten mit einer Bewegungen zu haben wurde in vielen Faschistischen oder Nationalsozialisti- indischen Bundesstaaten ein sogenann- schen Sichtweise hat, so Evers. Das Ziel tes Anti-Konversations-Gesetz Erlassen, der Herrschaft eines einzigen Vol-kes, welches das Verbot von Bekehrungen hier der Hinduisten, spielt zum Beispile formuliert und die jeweiligen Strafen für eine zentrale Rolle (vgl. Evers 2012: eine solche Handlung vorgibt. 13-15). Die zuvor genannten Anti-Kon- Tamil Nadu hatte auf den berechtigten versations-Gesetze dienen solchen radi- Vorwurf, dass dieses Gesetz das in der kal hinduistischen Gruppie-rungen als Verfassung abgelegte Recht auf Reli- Machtmittel, indem zum Beispiel viel gionsfreiheit verletze, durch ein ausser durch christliche Organisationen geleis- Kraft setzen des Anti-Konversations-Ge- tete Sozialarbeit als Bekehrungsmass- setztes reagiert (vgl. Evers 2012: 9-11). nahmen interpretiert und so erschwert oder auch unterbun-den werden kann. compilation/19660262/index.html (Stand: 05.03.2014).

Abb. 4: Religionen in Indien 2012 Menschenrechte in Indien 27

Abschliessend kann für Indien festge- den staatlichen Einschränkungen und halten werden, dass die Einhaltung der der Aufhebung von regulierenden Bar- Menschenrech-te, wie sie im CIRI-Da- rieren zur freien Bewegung von Gütern, tenset erfasst sind, Amnesty Internatio- Dienstleistungen, Kapital und Arbeit. nal sie beobachtet, sie im Hin-blick auf Viele Rollen, die ehemals dem Staat zu- die Ernährungssituation gegeben sind gespro-chen wurden, wurden im Zeital- und Berichte über die Religionsfreiheit ter der Globalisierung, ab den 1980/90er wie-dergeben nicht durchgehend respek- Jahren somit von privaten Unterneh- tiert werden bzw. vielen Inderinnen und men übernommen (vgl. Nayak 2011: Indern vorent-halten sind. 6 32-36). Zugleich bediente die Politik Ich möchte zum Schluss eine möglich der Privatisierung, Liberalisierung und Verantwortung der zunehmenden Glo- Globalisierung nur das Interesse ausge- balisierungspro-zesse für die Abnahme wählter Unter-nehmen, welche von einer der Menschenrechte in Indien von 1981- Oberschicht geführt wurden, während 2011 darstellen. die Mittel- und Unterschicht von dem - - sierung in Indien nach dem 2. Weltkrieg sen war.8 Gerade in Indien, wie auch begannen auch die Prozesse der Pri- in ande-ren Schwellenländern, wurden vatisierung und Liberalisierung. Beide durch die Liberalisierung und Privatisie- Prozesse wuchsen in den 1980er Jahren rung besonders große Unternehmen in deutlich an und nahmen noch einmal ab ihrer Wirtschaftskraft und somit auch in den 1990er Jahren massiv zu (vgl. Na- yak 2011: 31).7 hatte nach und nach zur Folge, dass die Mit dieser Entwicklung veränderte sich gestärkten großen Unternehmen über für Indien die Rolle des Staates maß- ausrei-chend Macht verfügten, um vom geblich: „The role of the state has been Staat unabhängige Strukturen zu schaf- - fen. Damit gelang es ihnen, die Politik ral forces of globalization“ (Nayak 2011: des indischen Staates maßgeblich mitzu- 31). bestimmen. Hierbei stand das je-weils ei- Der rasche Globalisierungsprozess war gene unternehmerische Interesse im Vor- gekennzeichnet von weniger werden- dergrund (vgl. Nayak 2011: 41-48). Aus 6 Vgl. International food policy reasearch den eben dargestellten Folgen der Glo- institute 2013. balisierung in Indien, liegt der Schluss 7 Vgl. hierzu in Bezug auf Indien auch: Mül- ler 2006: 66. Zu Diskussionen und weiteren 8 Vgl. zu Diskussionen und weiteren Aus- Ausführungen von negativen Konsequenzen führungen von negativen Konsequenzen der der Globalisierung im Hinblick auf die Libe- Globalisierung im Hinblick auf die Libera- ralisierung der Wirtschaft: Scherer/Blickle/ lisierung der Wirtschaft: Scherer/Blickle/ Dietzfelbinger/Hütter 2002: 14. Dietzfelbinger/Hütter 2002: 14. Menschenrechte in Indien 28

nahe, dass die Kon-trolle des indischen wickelt ein Interesse, Akteure aus dem Staates über die Wirtschaftspolitik bzw. Weg zu räumen, die ihm politisch entge- über wirtschaftliche Entwicklun-gen, genstehen und bedient sich Menschen- wie auch über andere Bereiche der Ge- rechtsverletzungen zur Macht-demonst- sellschaft, zunehmend abnahm (vgl. ration und für Einschüchterungszwecke. Nayak 2011: 46). Im Zuge der Globali- Dies würde unteranderem auch erklären, sierung kann allgemein ein Machtverlust warum viele Todesurteile tatsächlich gar nationaler Regierun-gen beobachtet wer- nicht vollstreckt wurden und werden, da den (vgl. Hesse 2004: 8). Zugleich hatte sie mögli-cherweise lediglich als Ein- der Staat jedoch mit der ihm, im Rah- schüchterungsmaßnahmen von Seiten men des Neoliberalismus9, welcher in des Staates genutzt werden. Indien ab den 1970er Jahren aufkam, die Aufgabe den Schutz des individuellen Rechts auf Privateigentum, den Rechts- staat, die freie Markt-wirtschaft und den freien Handel zu gewährleisten (vgl. Na- yak 2011: 31). Dadurch erhielt er gleich- zeitig Argumente der Rechtfertigung für entsprechende Maßnahmen. Man kann an-nehmen, dass der indische Staat dies teilweise ausnutzte, um seinem zuneh- menden Autori-täts- bzw. Machtverlust entgegen zu wirken. Die Globalisierung in Indien bot der Bevölkerung neue Möglichkeiten Anliegen und Proteste zu äußern. Je mehr sich die Bevölkerung organi-siert, desto mehr sieht sich der Staat berechtigt einzugreifen, mit dem Vorwand die Ordnung zu bewahren und die staatliche Autorität zu gewährleisten. Menschenrechtsverletzungen sind gra- vierende Begleiterscheinungen des Ver- suches, staatliche Macht beizubehalten oder zurück zu gewinnen. Der Staat ent-

9 Für eine ausführliche Darstellung des Neoliberalismus vgl. Harvey/David 2007a und Harvey/David 2007b. 29

Bibliographie Cingranelli, David L./Richards, David L. (1999): Measuring the Level, Pattern, and Sequence of Government Respect for Physical Integrity Rights, in: International Studies Quarterly, Vol. 43, No. 2, 407-18. Harvey, David (2007a): Neoliberalism as Creative Destruction, American Academy of Politi-cal Social Science, Vol. 610, 22-44. Harvey, David (2007b): Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunktverlag. Nayak, Amar K. J. R. (2011): Indien Multinationals. The Dynamics od Explosive Growth in a Developing Country Context. Houndmills, Basingtoke, Hampsphire: Palgrave Macmillan. Partsch, F. J (1991): Der internationale Menschenrechtschutz. Eine Einführung, in: Bundes-zentrale für politische Georg Evers, Religionsfreiheit: Indien; in: missio, Internationales Katholisches Missionswerk e.V. (Hg.): Länderberichte Religionsfreiheit, Heft 11, Aachen 2012.

Internetquellen - lation/19660262/index.html (Stand: 05.03.2014). Amnesty International (2013a): Jahresbericht Indien 2013 http://www.amnesty.de/jahresbericht/2013/indien (Stand: 10.11.2013). Amnesty International (2013b): Bericht “Indien: Rückfall im Kampf gegen die Todesstrafe“ https://www.amnesty. de/2012/11/26/indien-rueckfall-im-kampf-gegen-die-todesstrafe (Stand: 10.11.2013). Cingranelli, David L./ Richards, David L. (2011): The Cingranelli-Richards (CIRI) Human Rights Dataset, http://www. humanrightsdata.org (Stand: 10.11.2013). Human rigths documentation centre 2013: http://www.hrdc.net/sahrdc/resources/armed_forces.htm (Stand: 14.11.2013). 14.11.2013). University of Minnesota 2013: http://www1.umn.edu/humanrts/instree/l1viedec.html (Stand: 10.11.2013). United Nations 2013: http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html (Stand: 10.11.2013).

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Sajtinac, Borislav (Datum unbekannt): Niemand zu Hause, in: Zeit Magazin. Abb. 4: https://www.missio-hilft.de/media/thema/religionsfreiheit/laenderberichte/11-indien.pdf (Stand:05.03.2014). 30

Abb. 1: Plakat zum Film Alex Pandian (2013)

Tamil Film Top 3 der Musikproduzenten: , , Ar Beitrag von Milena Schellenbaum Rahman Top 3 der Filmmusik (Alben): Einführung Neethaane en Ponvasantham, Kumki, Daten1 Hauptproduktionsstätte: Top 3 der Filme: Distrikt , Chennai, Tamil , Nanban, Naan Ee Nadu, auch Kollywood genannt Top 3 der TänzerInnen: Produktionen pro Jahr: 150-200 Aishwarya Rai, , Top 3 der Schauspieler: Deva , , Top 3 der Schauspielerinnen: Allgemeines , , Anushka Wenn von der indischen Filmindust- Top 3 der Regisseure: rie die Rede ist, denken viele sofort an A R Murugadoss, , Shan- , obwohl 70% der jährli- 2 kar chen Filmproduktionen aus Südindien 1 Die Daten zu den Top 3 sind der Homepage 2 Der Terminus Südindien umfasst die vier behindwoods.com entnommen. dravidischen Staaten Tamil Nadu, Andhra Tamil Film 31

stammen. Dabei werden nicht nur Fil- Geschichte4 me auf tamilisch gedreht, sondern auch, 1897, zwei Jahre nachdem in Paris der ein paar wenige, in anderen indischen Sprachen. Die tamilischen Filme sind in fand auch die erste öffentliche Filmvor- Indien so beliebt, dass viele in Mumbai führung in Madras (heute Chennai) statt auf indisch3 nachgedreht werden, umge- (Baskaran 1996: 1). kehrt geschieht dies fast nie (Velayutham Auf vielerlei Arten war dies eine Zeit 2008: 1-4). der monumentalen Veränderungen in - Madras: Tageszeitungen wurden erst- te Kinodichte der Welt, allein in Tamil mals produziert, die ersten motorisierten Wagen tauchten erstmals in den Strassen was ein Viertel aller indischer Kinos aus- auf. Die ersten Strassenbahnen wurden macht. Das Kino ist fester Bestandteil gebaut, ein paar wenige Haushalte und der tamilischen Kultur. So geben 85% Firmen besassen ein Telefon, Menschen der Erwachsenen an, drei- bis viermal gewöhnten sich daran, aufgenommene im Monat ins Kino zu gehen (Dickey Musik von einer schwarzen sich drehen- 1993: 3). den Platte zu hören und die maschinelle Der Kinobesuch ist derart ins kulturelle Produktion von Kunstwerken hatte be- Leben integriert, dass es oftmals keine gonnen (Baskaran 1996: 2). grosse Rolle spielt, welchen Film man Die Menschen damals ahnten noch nicht, sich anschauen geht, Hauptsache es ist dass dies der Beginn einer Massenkultur ein Film. So kann sich die Wahl, wel- werden würde. Es wurden immer mehr chen Film man sich anschauen soll, beim Gang zum Kino mehrmals ändern. Bei der Strasse gezeigt. Der Eintrittspreis der Entscheidung stützt man sich auch war gering, denn eine Lizenz oder Strom nicht auf allfällige Filmkritiken in Zei- waren damals nicht nötig, da der Pro- tungen oder Zeitschriften, sondern ver- jektor mit Magnesiumlampen betrieben lässt sich auf die Bewertung von Freun- wurde. Bald begannen diese Shows eine den oder Bekannten oder Freunden von regelmässige Klientel anzusprechen. So Freunden, welche den Film schon gese- ging es auch nicht mehr lange, bis der hen haben (Dickey 1993: 36). erste Raum nur für Filmvorführungen gebaut wurde. Vorerst blieb das Phäno- men des noch in Madras. Durch

Pradesh, Karnataka und Kerala. Zufall gelang es jedoch einem Reisenden 3 Wenn im folgendem vom „indischen“ Film 4 Die Ausführungen zur geschichtlichen En- die Rede ist, dann bezieht sich das auf Filme twicklung umfassen die Zeitspanne vom An- aus Bollywood in Abgrenzung zu Kollywood- fang des Films 1897 bis zum Ende des Stum- Filmen. Tamil Film 32

aus Tiruchi einige Filmrollen und die (Baskaran 1996: 6). dazu gehörige Ausrüstung zu erwerben - und so in seiner Heimatstadt die erste produktion gab es nur zwei indische Filmvorführung zu machen. Mit dieser Filmemacher, welche jedoch mit ihren Ausrüstung reiste er anschliessend durch Filmen hinter den amerikanischen an- das ganze Land, nach Bombay, Luck- stehen mussten, da diese die besseren now, Lahore und Peshawar und zeigte Stunts und Spezialeffekte hatten und überall seine Filme. Unterdessen gelang somit eine grössere Unterstützung er- es einem Fotografen in Madras Stumm- fuhren. Um dennoch das lokale Pu- blikum für sich zu gewinnen, wur- abzuspielen. Auch er reiste anschlies- den viele Episoden aus den Puranas6 send im ganzen Land herum und sobald gedreht. Die britische Regierung war er genug Geld zusammen hatte, baute er damals auch keine grosse Stütze, im Ge- 1914 das allererste indische Kino in Ma- genteil: Sie unterdrückten sogar die lo- dras (Baskaran 1996: 3). kale Filmproduktion, um Filme des eng- Die meisten Filme, welche zu der Zeit lischen Empires zu verbreiten (Baskaran gezeigt wurden, stammten aus den USA 1996: 5-7). und England. Ein Brite versuchte in Zu der Zeit war es schwierig Leute zu - Publikum zu drehen. Doch schon bald len wollten. Da die ganze Industrie sehr kamen stundenlange Filme mit dramati- instabil war, war die Chance auf ein schen Geschichten aus den USA. Diese regelmässiges Einkommen beim Thea- Drama-Filme markierten den Beginn ter grösser. So spielten alle, welche an einer populären Unterhaltungsform. Ab einem Film mitwirkten, auch selber da- 1912 kamen dann die ersten Filme aus rin mit. Auch Frauen für einen Film zu gewinnen war schwer, weswegen diese (Baskaran 1996: 4). Rollen alle von Männern gespielt wur- 1916 entstand das erste Filmstudio den. Mit dem Ausbruch des ersten Welt- in Madras und mithilfe eines Büh- krieges wurde der Import von Filmen nenschauspielers wurde der erste aus allen Ländern, ausser Grossbritan- südindische Film gedreht, “The Ex- (Malinar 2009: 52) termination of Keechakan”, eine Epi- 6 Die Puranas sind hinduistische Text- sode aus dem Mahabharatha Epos5 sammlungen, welche vor allem Mythen, Ritualtexte, Heldengeschichten, Königslisten, 5 Der Mahabharatha Epos ist einer der gros- eine Beschreibung der Geographie Indiens sen Sanskrit-Epen, welcher „verschiedene und Preisungen besonders heiliger Stätten enthalten. Einzelne Puranas haben auch einen ihrer Lösungsversuche sowie die Entstehung enzyklopädischen Charakter. (Malinar 2009: der neuen theologischen Lehrern“ beinhaltet. 62) Tamil Film 33

nien und Amerika, gestoppt. So war der Gopalamenon Ramachandran, bekannt tamilische Film gezwungen sich in der unter dem Kürzel MGR. Er war der ers- kulturellen Isolation zu entwickeln (Bas- te Filmstar, welcher das Kino für seine karan 1996: 7-10). politischen Ambitionen nutzte. Er blieb nicht der einzige, aber er ist bis heute der Film und Politik erfolgreichste. Er verstand es nicht nur, Seit Anbeginn sind der tamilische Film mittels seiner Filme, seine politische und die Politik miteinander verknüpft. Botschaft zu verbreiten, er schuf mit sei- Schon die britischen Kolonialherren zu nem Netzwerk aus Fanclubs auch eine - stabile, politische Helferbasis (Dickey te Freizeitvergnügen für sich zu nutzen. 1993: 165). Sie verhinderten die Einfuhr von Filmen, welche nicht aus England oder den USA MGR wurde 1915 in Sri Lanka gebo- stammten, und regten gleichzeitig die ren. Im Alter von sechs Jahren war er tamilischen Regisseure dazu an, Pro- gezwungen die Schule zu verlassen, da paganda Filme gegen die Japaner zu sein Vater gestorben war. Seine verarm- drehen, welche damals eine Eroberung te Familie zog daraufhin nach Tamil Nadu. Dort schloss sich MGR zusam- sich auch mit der Unabhängigkeit nicht, men mit seinen Brüdern einer männli- weshalb es nicht verwunderlich ist, dass chen Jugend-Schauspielgruppe an. 1936 alle fünf Regierungschefs von Tamil drehte er dann seinen ersten Film und elf Nadu seit 1967 mit der Filmindustrie zu Jahre später folgte sein erster Hit. Ein schaffen hatten. So waren die ersten bei- den Drehbuchautoren und die drei fol- genden vor ihrer Regierungszeit Film- stars. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Menschen in Südindien weder, wie in den Industriestaaten, regelmäs- sig Abendnachrichten schauen, um über Politiker informiert zu werden, noch täglich Zeitung lesen. Selbst das Radio kann nicht für politische Propaganda genutzt werden, da die meisten nur we- gen der Filmmusik Radio hören (Dickey 1993: 165). Das bekannteste Beispiel für die Kom- bination Film und Politik ist Marudur Abb. 2: Poster von MGR Tamil Film 34

paar Jahre danach schloss er sich der wurde nicht nur als jemand gesehen, Regionalpartei DMK7 an. Als dann das welcher die Probleme der Armen und Bewusstsein für tamilische Politik zu Unterdrückten verstand, sondern man - schrieb ihm auch die Macht und Fähig- misches und politisches Image sorgfältig keit zu, diese zu lösen (Dickey 1993: aufzubauen (Dickey 1993: 166-168). 168-169). In seinen früheren Filmen spielte er im- Selbst als MGR Regierungschef war, mer den verwegenen Helden und mit brach seine immense Popularität nicht wachsendem politischen Engagement, ab, obwohl er in den zehn Jahren (1977- fügte er seinem schauspielerischen 1987) seiner Regierungszeit keinen Film Repertoire Figuren hinzu, welche die mehr drehte (Dickey 1993: 169). Ideologie der DMK widerspiegelte. So Durch seine Filme fühlten die Menschen spielte er oft den unterdrückten, aber eine persönliche Nähe zu ihm: Männer siegreichen Underdog. Doch auch seine sahen in ihm einen beschützenden, äl- Filme waren voller blumiger Dialoge, teren Bruder. Während Frauen in ihm Liebesliedern und dramatischen Kämp- einen Vater sahen, einige wenige hatten fen. In vielen seiner Filme ersetzte MGR sogar Liebesfantasien mit ihm (Dickey Tyrannen durch seine eigenen populis- 1993: 169). tischen Regeln, verehrte seine Mutter, MGR gilt bis heute als Inbegriff für Ehr- verurteilte den Gebrauch von Alkohol lichkeit und Integrität. Man sagt, dass und gab Essen und Kleidung den Ar- der kinderlose MGR all sein Geld den Armen spendete und als er starb, sei- sich immer mit der untersten Bevölke- ner Ehefrau nur einen kleinen Betrag rungsschicht und an dieses Bild glaubten hinterliess. In Wirklichkeit war dies je- die Wähler. Für sie war MGR genau die doch nicht der Fall. Aber die Menschen Rollen, welche er spielte, und so war er waren der Überzeugung, dass entweder besonders für die Armen der Held. Er seine Frau alles behalten hat oder sich irgendwelche Parteimitglieder das Geld 7 Die Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) ist eine Abspaltung der Dravida Kazhagam angeeignet haben. Die Menschen waren (DK), einer politischen Organisation, welche überzeugt, dass der Filmheld MGR im während der britischen Kolonialherrschaft ins realen Leben genauso für die Rechte der Leben gerufen wurde mit dem Ziel, einen dra- vidischen Staat im Süden Indiens zu gründen. Armen kämpfen würde wie im Film. Er Heute steht die Wahrung der tamilischen - Identität und Tradition auf dem Programm. Beide Organisationen stellen sich klar gegen chen Wohltätigkeitsveranstaltungen, ob- das von Brahmanen dominierte Kastensys- wohl seine reale Politik den Armen eher tem und setzten sich für soziale Gerechtigkeit schadete und die Reichen bevorzugte. ein. Die DMK ist im Gegensatz zur DK eine politische Partei. (Rothermund 2002) Doch dies wurde von den Wählern über- Tamil Film 35

sehen. Die Loyalität der Menschen galt unausgesprochene Gefühle oder Träume nicht der DMK, sondern MGR alleine darzustellen (Dickey 1993: 59). und egal welcher Partei er angehört hät- Kampfszenen sind ein ganz eigener te, sie wären ihm gefolgt (Dickey 1993: Bestandteil von Filmen und so wie es 170-172). Schauspieler gibt, welche für ihren Tanz- - stil bekannt sind, gibt es auch solche, liche Attacken von politischen Gegnern welche für ihren Kampfstil bekannt sind. und alle Beweise für seine Korruption Die Kämpfe ähneln denen in Hollywood bis heute (Dickey 1993: 172). Western, sie verwenden eine grössere Auswahl an Waffen. Auch Kung Fu ist Tamilische Besonderheiten sehr populär. Die Kämpfe sind genauso Wie auch bei indischen Filmen sind gut und offensichtlich choreographiert Lieder integraler Bestandteil tamili- wie die Tänze, doch dies wird nicht als scher Filme. Von ihnen hängt es auch störend empfunden, denn die Fans schät- meist ab, ob der Film ein Hit oder ein zen die Ausdruckskraft und die akroba- Flop wird. So wird die Filmmusik auch tischen Fähigkeiten des Ganzen (Dickey immer ein paar Wochen vor dem Film 1993: 60). veröffentlicht, in der Hoffnung, dass Komik ist meist ein separater Bereich eines der Lieder ein Hit wird und sich des Films. Die meisten Filme beinhalten dadurch die Kinosäle füllen werden. Es Slapstick-Comedy Szenen, welche von gibt in Südindien kaum populäre Musik, Komiker Teams gespielt werden und nur welche nicht aus einem Film stammt. So sehr lose mit der Hauptgeschichte ver- sind denn auch die Musikproduzenten bunden sind. Heutzutage wird in gewis- oftmals berühmter als die Regisseure, sen Filmen Humor in den Hauptteil des die Drehbuchautoren oder gar die Stars Films integriert (Dickey 1993: 60). (Dickey 1993: 58). Es ist schwierig, den tamilischen Film nach herkömmlichen Kategorien zu Der Tanz dagegen spielt eine eher un- tergeordnete Rolle, er gehört zu den aus verschiedenen Elementen. So kann Liedern dazu, aber ist nicht annähernd ein klar religiöser Film auch romantische so populär. Wie auch die Musik ist der Elemente oder Kampfszenen enthalten, Tanz eine Kombination aus Traditio- ohne dass es dem Ansehen des Filmes nellem und Modernen. Breakdance- schaden würde (Dickey 1993: 60). Elemente gehören genauso dazu wie Tamilische Filmgeschichten beinhalten der traditionelle Tempeltanz. Die Sing- verschiedene Nebenhandlungen und ei- und Tanzszenen passen oft nicht in den nen grösseren Teil an Melodramen und Handlungsstrang: Sie dienen eher dazu unwahrscheinlicheren Fügungen als Tamil Film 36

Abb. 3: Die tamilische Schauspielerin Nazriya Nazim im Film „Thirumanam Ennum Nikkah“ mit traditioneller Handbemahlung westliche Besucher gewohnt sind. Die Hauptunterschiede zum indischen Länge eines Films hängt nicht nur von Film den Liedern, den Tänzen, Kämpfen und 1. Sprache: Das Tamilische zählt zwar komödiantischen Sequenzen ab, sondern - auch von den unzähligen Handlungs- chen, wird aber fast ausschliesslich in strängen. Tamil Nadu gesprochen. Als dravidische Die Geschichten präsentieren oft Sprache unterscheidet sich das Tamili- Themen, welche auch den Zuschau- sche grundlegend von den indoarischen er betreffen wie Veränderungen der Sprachen, so zog man 1956 die Staats- Familienbeziehungen, ökonomische grenze für Tamil Nadu der Sprachver- Schwierigkeiten und Klassenbeziehun- teilung entsprechend. Das Tamilische ist gen. Aber anstatt realistisch damit um- nicht nur Kommunikationsinstrument, zugehen werden diese Probleme mittels sondern auch Identität des Sprechers und Schurkerei und Fügungen gelöst, wo- wird in Filmen durch Lieder und Dialo- durch der Eindruck entsteht, dass alle Schwierigkeiten in einem Happy End Filme “den Inder” oder “die Inderin” enden (Dickey 1993: 61). zeigen, geht es im tamilischen Film klar um “den Tamilen” oder “die Tamilin” Tamil Film 37

(Velayutham 2008: 6). sehbare Geschichten mit sehr viel Dra- 2. Thema: Im Gegensatz zu indischen ma erzählt. Die Geschichten sind immer Filmen haben tamilische Filme stets ei- zutiefst moralisch, selbstgerecht und nen klar politischen und sozialen Hin- engstirnig, man will zugleich unterhalten tergrund. Sie stehen für eine dravidische und die tamilischen Wertevorstellungen Identität und einen tamilischen Natio- erhalten (Velayutham 2008: 8). nalismus und so lassen lokale Parteien immer wieder ihr Parteiprogramm in die Frauen im tamilischen Film “The stories played out on the screen 3. Protagonisten: Tamilische Filme dre- hen sich grundsätzlich immer um Ta- - milen. Falls andere Inder im Film auf- tauchen, dann sieht man sie immer aus and their heroism. The woman exist der Perspektive eines Tamilen. Sogar die Schauplätze sind immer tamilische, 8). 4. Gender: Tamilische Filme zeigen unattached woman.” immer die klassische, tamilische Ge- (Velayutham 2008: 29) schlechtervorstellung: Der tamilische Mann mit Schnurrbart (rasierte Männer Dieses Zitat gilt sowohl für den indi- gehören in den indischen Film) ist hel- schen wie auch für den tamilischen Film, denmutig, sexuell potent und besitzt die die männliche Orientierung degradiert Fähigkeit Frauen zu kontrollieren. Die die Frau immer in eine untergeordnete tamilische Frau ist gehorsam, recht- Position. In den tamilischen Filmen gibt schaffen, sittsam und rein. Der Mann es einen klaren Gegensatz von guten und trägt traditionell weisse Leinenkleider schlechten Frauen, farblich untermauert und die Frau einen Sari, obwohl in heu- durch schwarz und weiss. Doch auch tigen Filmen auch zunehmend indische die Sprache, Kleidung und Körperform oder westliche Kleidung getragen wird unterscheidet sich. Eine gute tamilische (Velayutham 2008: 8). Frau ist keusch, intelligent, mütterlich Kurz: Der tamilische Film zeigt dem ta- und göttlich. Die schlechte Frau ist ein milischen Publikum, was es heisst, Ta- kokettes, verführerisches Grossmaul, mile zu sein. welche zum Schluss ihren „Lohn“ erhält. Eine Gemeinsamkeit zwischen indi- Die tamilische Mutter wird in einer ver- schem und tamilischem Film gibt es klärten Art und Weise im Film präsen- dennoch: Es werden einfache, vorher- tiert, so dass der Eindruck entsteht, dass Tamil Film 38

sie im Zentrum stehen würde, während veranschaulicht, dass die Männer als sta- ihre Rolle jedoch sehr marginal ist. Sie bil, konstant, beständig und aktiv wahr- wird als Kontrolleurin ihrer Söhne be- genommen werden, während das Weib- trachtet und als ernüchternde Präsenz liche das sekundäre Element darstellt, im Leben ihrer Kriegersöhne; als die manipuliert, verehrt und auf die Seite ge- Geliebte, welche Tamil liebt und die stellt. Ihre Aufgabe ist immer dieselbe: tamilische Kultur, glücklich ihren Kopf Lieder singen, ihre Reinheit bewahren, an die tapferen Schultern der Krieger, mit launischen Ehemännern umgehen, Poeten oder selbstgerechten Ehemänner die Söhne auf Kämpfe vorbereiten und zu lehnen. Es gibt zwei Haupthelden der die Töchter zu guten Ehefrauen zu erzie- Tamilen, aber keine einzige Heldin, was hen (Velayutham 2008: 16-27).

Abbildung 4: Szene aus dem Film Alex Pandian

Bibliographie Baskaran, S. Theodor (1996): The eye of the serpent: an introduction to . Madras, East West Books. Dickey, Sara (1993): Cinema and the urban poor in South India. Cambridge, Cambridge University Press. Rothermund, Dietmar (2002): Die Nichtbrahmanen-Bewegung (1920-1962) und die indische Politik, in: Bergunder, Michael/ - wahrnehmung Südasiens, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Internetseiten http://behindwoods.com/features/Topten/index.html (2.12.13)

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: http://www.metromatinee.com/movies/images/m3749/large/Alex%20Pandian41053.jpg (28.11.13) Abbildung 2: http://www.music2movies.org/wp-content/uploads/2013/07/Top-Tamil-Movies.jpg (15.11.13) Abbildung 3: http://www.breezemasti.com/gallery/details.php?image_id=35385 (28.11.13) 39

(zum Beispiel Handgesten), welche im nicht so komplex wie die im klassischen Sanskrit-Theater. Die klassische Symbo- lik erfordert vom Publikum detaillierte Kenntnisse, um die Darbietung vollstän- dig zu verstehen (De Bruin 1993: 115). Das Volkstheater hat keine hohe Stel- lung. Dies liegt jedoch nicht an der Kunst selber, sondern eher an der nied- rigen Kaste der Schauspieler. Trotz des verzeichnet laut de Bruin jedes Jahr eine wachsende Anzahl an Schauspielern und Aufführungen (De Bruin 1993: 129). Abb. 1: Reich ausgestattete Figur im De Bruin führt aus, dass es unklar ist, wann die Tradition des Volktheaters in Tamil Nadu begann. Historische Tatsa- Tamil Nadu chen reichen bis zweihundert Jahre zu- rück, doch es tauchen Elemente, wie es Beitrag von Vanessa Gächter sie im Volkstheater heute gibt, schon im einem Text auf, der auf 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. datiert wird (De Bruin 1993: Einleitung 115). - milischen Begriff der für das Volksthea- ter typischen und wichtigen Ornamente (De Bruin 1999: 11). Der Begriff Volks- theater bezieht sich auf das Publikum und auf die Form des Theaters, die eine nicht-klassische und weniger strenge ist. Trotzdem sind gemäss de Bruin die Techniken dieses Theaters komplex und erfordern eine hohe Professiona- Abb. 2: Figur mit den typischen Ornamenten lität der Schauspieler. Die Symbolik der Schulter, Kopf und Brust 40

Hanne de Bruin gilt als wichtige Refe- Theaters. Dies beinhaltet das Erlernen renz zum Thema Volkstheater in Tamil der Tänze, Gesänge und Sprechtexte, Nadu. Die Monographie mit dem Titel das Spielen von Instrumenten und das - regelmässige Üben. Die Schüler haben th Indian Theatre Tradition beruht auf danach einen anerkannten Abschluss, mehreren Forschungsreisen in Tamil dies im Gegensatz zu der traditionellen Nadu (De Bruin 1999 : 19). Ihren Fokus Theaterausbildung, bei der kein schuli- legte sie dabei auf die Aufzeigung der scher Abschluss erworben wird. - zutage steht das tamilische Volkstheater Kontextualisierung im Hinduismus gemäss der Internetseite ihrer Schule im Zentrum ihrer Forschung und Interessen Totalform des Theaters, was Sprechen, (Kattaikuttu 2013). Die Theaterschule Singen, Rezitieren von Poetik, Tanzen in Kanchipuram, die sie zusammen mit und das Verwenden von Handgesten und ihrem Mann, der kuttu-Schauspieler ist, Gesichtsausdrücken beinhaltet. Ein klei- gegründet hat, konnten wir im Rahmen nes Orchester begleitet die Aufführung der Studienreise am 30.01.2014 besu- mit verschiedenen Musikinstrumenten chen. Um die 50 Jungen und Mädchen (De Bruin 1993: 117). lernen dort neben den üblichen Schul- Die Theatergruppe besteht aus 13-15 Mitgliedern und tourt während acht

Abb. 3: Orchestergruppe während der Aufführung am 30.01.2014 in Kanchipuram 41

Monaten im Jahr von Dorf zu Dorf. Sie in der Nähe der Bühne errichtet, um den spielen während Festivals für lokale Göttern das Zuschauen zu ermöglichen Gottheiten, während religiösen Festen (De Bruin 1993: 127). zu Ehren von höheren Göttern oder auch Ferner erwähnt de Bruin, dass die Emo- während Trauerfeiern. Die Tradition tionen während der Aufführungen früher oder später immer hochschlagen. Auf Hinduismus beziehungsweise dem hin- die Spitze getrieben wird die Erregung, duistischen Pantheon verbunden. Eine wenn Schauspieler oder Zuschauer in Aufführung lässt man ausrichten, um einen Trance-artigen Zustand verfallen. den Göttern zu huldigen, Kontakt zur Man sieht diesen Zustand als in Kontakt- Götterwelt herzustellen und um Ver- Treten zu der Welt der Götter an und die günstigungen zu bitten beziehungsweise Darbietung wird damit als sehr erfolg- um der toten Seele zu helfen, die Frei- reich betrachtet (De Bruin 1993: 128). heit zu erlangen (De Bruin 1993: 126). Die Schauspieler berichten, dass sie sich Die Aufführung wird in erster Linie zur ihrer Schauspielerei nicht mehr bewusst Erheiterung und Unterhaltung der Götter sind und keine Kontrolle über den Kör- gespielt, darum wird die Bühne oft vor per und physischen Schmerz mehr ha- dem entsprechenden Tempel aufgebaut. ben. Am Schluss einer Szene fallen sie Alternativ wird eine reich geschmückte, erschöpft zusammen und müssen von mit frischen Blumen dekorierte Figurine der Bühne getragen werden (De Bruin 1999: 131).

Charaktere und Struktur Die Charakter, welche gespielt werden, lassen sich nach de Bruin in zwei gro- be Kategorien einteilen: eine höhere Ebene, auf welcher Götter, Helden und Könige angesiedelt sind, und eine tiefe- re, auf welcher die profane Bevölkerung in allen Variationen auftritt. Die Figur zwischen den Ebenen und ist gleichzeitig Herold, Komiker und Wächter des Kö- nigs (De Bruin 1993: 117). Ausserdem gibt er durch komikartige Einlagen den Hauptdarstellern die Gelegenheit, mal zu Abb. 4: Figurine einer lokalen Gottheit Luft zu kommen (De Bruin 1993: 125). 42

- ziell, weil sonst noch mehr Spannungen innerhalb der Theatergruppe auftreten könnten (De Bruin 1993: 131). Gemäss de Bruins Meinung ist die Dar- stellung der göttlich-royalen Figuren im- mer sehr melodramatisch. Die Emotionen scheinen exorbitant, Dialoge übertrieben und soziale Interaktionen zu standardi- siert und ohne spontane Interpretation (de Bruin 1999: 189). Während der Auf- führung am 30.01.2014 in Kanchipuram konnten wir die gleiche Beobachtung machen. Die aufgerissenen Augen und die übertriebene Mimik lassen Emotio- nen beim Publikum ankommen, obwohl wir als westliches Publikum die Sprache

Abb. 5: Die Figur

Die männlichen Charaktere der höheren Ebene werden mit aufwändigem Make- up, den typischen, hölzernen, bemalten Brustpanzern, voluminösen Röcken und Fusskettchen ausgestattet, während die niedere Ebene keine spezielle Kostümie- rung trägt, sondern so auftritt, wie sie ist. will und wie es die Situation im Schau- spiel verlangt. Die weiblichen Charaktere sind generell weniger reich ausgestattet als die männ- lichen (De Bruin 1993: 118). Sie werden aber von Männern gespielt, Frauen sind traditionell nicht als Schauspieler im Grund, weil ihr Menstruationszyklus das Abb. 6: Weibliche Figur 43

nicht verstanden haben. Dagegen ist ge- die Tore zu einer anderen Welt zu öff- mäss de Bruin die Darstellung der alltäg- nen. Ausserdem erwartet das Publikum lichen Charaktere voll Humor und Spott im Dorf die Anpassung des Schauspiels, und lässt den Schauspielern mehr Frei- des Humors und der Kostüme an loka- raum für individuelle Interpretation und le Gegebenheiten wie Politik und lokal Flexibilität. Das mag im Zusammenhang wichtige Personen sowie an die Lau- mit oraler Tradierung stehen (De Bruin ne und Geschmack des Publikums und 1999: 189). Melodramatische Figuren Sponsors. Dies resultiert in der berühm- mit ausgeprägter, übertriebener und so- ten Flexibilität und der lebhaften Tradi- gar übermenschlicher Charakterisierung sind laut Ong leichter und permanenter ist notwendig um zu überleben. Die zu memorisieren als ordinäre, alltägliche Schauspielgruppe ist komplett von den Figuren (Ong 2002: 71). Das Publikum Löhnen der Dörfer abhängig; sind die- stört sich nicht an der übertriebenen Dar- stellung und der wiederholten Interpre- (De Bruin 1999: 57). Die Schauspieler tation der Geschichten, was zählt, sind entwickelten gemäss dem Gespräch mit die Fähigkeiten der Schauspieler, die de Bruin am 30.01.2014 eine geheime Figuren unterhaltsam darzustellen und Sprache, die sie dazu benutzen, Kom-

44

Wünsche und Erwartungen des Publi- kums ein (De Bruin 1993: 123). Der Ablauf des Theaters ist sehr struk- turiert. Wie wir am 30.01.2014 in Kan- chipuram sehen konnten, wird noch vor durchgeführt. Dabei wird das Kopforna- Erst danach wird mit dem Schmin- ken und Kostümieren begonnen. Das Schminken und Anlegen der aufwän- digen Kostümierung mit den schweren Ornamenten dauert einige Zeit. Die er- fahrenen Schauspieler helfen den jün- geren Darstellern und Schauspieler mit Charakteren, die weniger aufwändig zu Abb. 8: Eine weibliche Schauspielerin berei- tet sich auf die Vorführung vor schminken sind, unterstützen diejenigen mit komplexeren Kostümierungen. mentare zum Publikum und Vorschläge Laut de Bruin wird als Einführung in das zur Adaption auszutauschen, ohne dass Spiel und um die richtige Stimmung im es offensichtlich ist. De Bruin meint, Publikum herzustellen Ganesha als Er- dass die Geheimsprache ihren Ursprung öffner des Spiels und als Gott des Erfol- in der Urdu-Sprache haben könnte. ges angerufen und verehrt. Ausserdem Die Flexibilität des Theaters wird unter werden die Instrumente gestimmt und anderem ermöglicht durch die Verwen- das Theater wird mit einer musikali- dung von Blöcken, die aus Dialogen, schen Ansage bekanntgemacht (De Bru- Tanzelementen oder Gesang bestehen in 1993: 124). (De Bruin 1993: 121). Die Blöcke kön- Das eigentliche Spiel beginnt mit dem nen zum Teil beliebig und spontan an- Gesang an verschiedene Götter, danach geordnet werden, es gibt jedoch auch folgt die Vorstellung der Hauptcharak- gewisse Lieder oder Tänze, welche zu tere und dann die der Nebencharaktere. einem bestimmten Zeitpunkt aufgeführt Ein Segensgesang markiert das Ende werden müssen. Gute Schauspieler kön- der Aufführung (De Bruin 1993: 124). nen spontan zwischen den Blöcken hin Die Darbietung beginnt üblicherweise und her wechseln, erkennen, wann sie am Abend und endet erst spät am Mor- welche Textpassage sprechen müssen gen, dauert dementsprechend circa acht 45

Abb. 9: Einführung eines neuen Charakters mit dem Vorhang im Hintergrund

Stunden (De Bruin 1993: 128). Die Schauspieler und deren Training Einführung eines Hauptcharakters ist Professionelle Schauspieler werden oft gemäss de Bruin wichtig und wird pom- in eine Schauspieler-Familie geboren pös und langwierig zelebriert. Oft wird und vom Vater in die Kunst eingeführt. mit einem Vorhang gearbeitet und die Sie sind in Gruppen organisiert, die sich Figur erscheint nach und nach unter Be- schnell zerstreuen und neuorganisieren gleitung von Gesang und Musik. Durch können. Hier zeigt sich wieder die Fle- Poetik, Gesang und Tanz stellt sich der Charakter vor und tritt in den Dialog mit werden spätestens nach Ende der Saison anderen Figuren (De Bruin 1993: 125). neu zusammengewürfelt und so entste- Die Bühne des Theaters ist keine Büh- hen immer wieder neue Zusammenset- ne im westlichen Kontext, sondern ein zungen und Interpretationen (De Bruin einfacher Platz, der beleuchtet wird. Das 1999: 53). Meistens sind alle miteinander Publikum sitzt dabei am Boden an drei verwandt und teilen sich ein Grundstück Seiten. Doch es wird die ganze Lokali- oder Wertgegenstände. Dies führt oft zu tät in die Darbietung miteinbezogen, je Spannungen, Neid und Streit (De Bruin nach aufgeführter Geschichte können 1993: 129). Die Bekanntheit dieses Pro- das Bäume, Teiche oder künstlich er- blems zeigt ein tamilisches Sprichwort: stellte Konstruktionen wie Stangen, um einen Berg zu symbolisieren, sein (De ist so gross wie jener zwischen Neben- Bruin 1993: 128). frauen“ (De Bruin 1993: 131). 46

Das Dorf, in dem die Aufführung statt- spielen. Nach und nach wird er alle klei- neren bis grösseren Rollen einmal spie- der zu Ehren die Gruppe spielt, zahlt len und eignet sich ein Repertoire von der Gruppe kollektiv einen Lohn, von Figuren gemäss seinen Talenten an. Der dem jeder Schauspieler am Ende der Grossteil der Liedtexte und Poetik wird Saison einen Anteil erhält. Dieser wird laut de Bruin mündlich tradiert. Die Ver- schon vor der Beginn der Saison bei schriftlichung der Theaterstücke macht der Auswahl der Schauspieler festgelegt nicht viel Sinn, da jede Darbietung ein und wird nach Wichtigkeit der Figur durch Spontaneität und Interpretation bestimmt, sowie nach der Anzahl und geschaffenes Unikum ist. Trotzdem sind Qualität der Musikinstrumente, Kostü- solche auf dem Markt erhältlich (De Bru- me, Ornamente, etc., die der Schauspie- in 1993: 131). Es sind keine „Autoren“ ler mitbringt (De Bruin 1999: 50). Der Lohn pro Kopf ist jedoch extrem niedrig, gibt Liedtexte oder Poetik mit Referenz meint de Bruin (De Bruin 1993: 129). zu einem berühmten Schauspieler der Im Gespräch am 30.01.2014 erwähnt Vergangenheit (De Bruin 1993: 132). de Bruin, dass der Lohn früher in Na- turalien bezahlt wurde, heute jedoch in Geld, was das Einkommen noch niedri- - ger machte. Das niedrige Einkommen ist theater in Tamil Nadu in einem Zustand der Grund, wieso die Gruppe meistens der Transition. Das Theater kämpfte sich nur aus der Mindestanzahl von Personen durch eine konkurrenzhafte Zeit, in wel- besteht. Um die Aufführung zustande zu cher der erfolgreiche, tamilische Film bringen ist es jedoch nötig, dass 13 bis dem Volkstheater das Publikum entlock- 15 Personen in so einer Theatergruppe mitwirken (De Bruin 1999: 43). vom Schwund von Popularität erholt ha- Das Training gestaltet sich traditionell ben. Die Kommerzialisierung des The- informell. Junge Männer mit Schau- aters hat zu mehr Regelmässigkeit der spielerambitionen oder die Kinder der Vorstellungen und somit zu mehr Popu- Schauspieler verrichten anfangs Tätig- larität geführt (De Bruin 1993: 133). De keiten rund um das Schauspiel: Anklei- Bruin führte im Gespräch am 30.01.2014 dungsassistenz, Wasserbringen, Büh- in Kanchipuram aus, dass das Tempo des nenaufbau, etc. Der Novize lernt das Theaters schneller geworden ist und dass Handwerk durch Zuschauen und Imi- die Einführung knapper gehalten wird, tation der professionellen Schauspieler. um eine kürzere Aufführungszeit zu er- Nach einer gewissen Zeit beginnt er im reichen. Dies mit dem Ziel um mit der Chor mitzusingen oder ein Instrument zu 47

mithalten zu können. Auch die Entspan- soren kommt. Dies ist notwendig, damit nung in der Situation der Kasten hat zu dieses wertvolle Kulturstück nicht doch mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem zugunsten moderner Darbietungen ver- schwindet (De Bruin 1993: 133). 133). Die „built-in“-Flexibilität des - sem Volkstheater untersuchte, ist laut der Autorin der Grund, warum diese Form des Theaters bis heute überlebt hat. Zusätzlich ist die orale Tradition des Anpassungsfähigkeit an alle Gegeben- heiten ein Faktor (De Bruin 1999: 19). Eine interessante Entwicklung die laut de Bruin seit dieser gewonnenen Popu- larität eingesetzt hat, ist die Verwendung des Theaters zur Verbreitung von Bot- schaften. De Bruin führt als Beispiel die Aufklärung über Umweltverschmutzung auf. Das Indian Ministry of Environment habe ein Stück gesponsert, das die Sen- sibilisierung gegenüber Umweltthemen fördern soll. Das Stück war ein Erfolg und de Bruin gibt die Hoffnung zu ver- stehen, dass das Volkstheater dadurch zu noch mehr Aufmerksamkeit und Spon-

Bibliographie Groningen: Egbert Forsten. intercontinental : forms, functions, correspondences. Amsterdam: Rodopi. 115 -139. Kattaikuttu 2013: http://www.kattaikkuttu.org (Stand 15.11.2013).

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 2: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 3: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 4: De Bruin 1993: 127. Abbildung 5: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 6: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 7: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. Abbildung 8: Foto von Vanessa Gächter, Studienreise 2014. Abbildung 9: Foto von Aninia Frieden, Studienreise 2014. 48

Pilgern im Hinduismus - onen der Pilgerreise Beitrag von Anina Frieden - Pilgern gehört im Hinduismus zu den gangsstelle“, „Furt“. Ein Pilgerort stellt wichtigsten Elementen religiöser Praxis dem gemäss eine Stelle dar, an der ein und ist ein in der Pluralität des Hindu- Übergang von der irdischen in die gött- ismus gewissermassen Einheit stiften- liche Welt besonders leicht zu unterneh- des Element (vgl. Malinar 2009: 170). men ist (vgl. Eck 1981: 323). Aus diesem Schätzungen zufolge begeben sich in - Indien pro Jahr ca. 100 Millionen Hin- re Kräfte nachgesagt, oft sind es Orte, dus auf Pilgerreise (vgl. Jacobsen 2009: an denen der Mythologie zufolge Götter 401). Nach Jacobsen sind Pilgerorte für auf die Erde herabgestiegen sind, Hel- viele Hindus wichtigere Orientierungs- den, Seher oder weise Personen gewirkt punkte als heilige Texte (vgl. Jacobsen haben (vgl. Eck 1981: 325). Die heiligen 2013: 7), Pilgerreisen sind aber „freiwil- Orte sollen aber selbst Kräfte besitzen und sind nicht von der Mediation durch eines Hindus, wie dies beispielsweise einen Gott abhängig (vgl. Jacobsen für Muslime der Fall ist (vgl. Jacobsen 2009: 381). und die sie umgebenden Rituale sind oft

Abb. 1: Südindischer Tempelkomplex Pilgern im Hinduismus 49

älter als die Narrative und Gottheiten in wesens bilden. Oft zeichnen sich die ihrem Kult (vgl. Eck 1981: 323). Auf diesen Orten wurden im Laufe der Zeit Merkmale wie Gewässer, Berge, Wäl- Tempel und Schreine errichtet und z.T. der oder Küsten aus. Gewässer gelten bildeten sich darum herum Städte, wel- als besonders heilbringend, da sie reini- che die ebenfalls zentrale ökonomische gend wirken sollen (vgl. Bharati 1963: Komponente des hinduistischen Pilger- 136). In Indien kann zwischen nord- und

Abb.2: Karte wichtiger Pilgerorte in Indien Pilgern im Hinduismus 50

südindischen Pilgerorten unterschieden stellung, dass diese positiven Effekte des Pilgerns von jedem erlangt werden Verehrung landschaftlicher Objekte für können und nicht von ritueller Reinheit, den Norden typischer ist, während im Kastenzugehörigkeit, Reichtum und Gender abhängig sind (vgl. Jacobsen charakterisieren und wo der sakrale Ort 2009: 381), wie dies in vielen Tempeln ausserhalb der Tempelanlage endet (vgl. beispielsweise der Fall ist. Durch das Jacobsen 2009: 394). Hier dürfte aller- Pilgern können im Hinduismus also dings der von uns auf der Studienreise - besuchte Berg Arunachala in Thiruvan- langen, welche ansonsten keinen Zugang namalai eine Ausnahme für den Süden zu erlösungsstiftenden Praktiken haben. repräsentieren. Pilgerorte sind nach Jacobsen sakrale dass in einigen Texttradition die Götter und erlösungsbringende Orte (vgl. Ja- sich beklagen, dass die Menschen zu ein- cobsen 2013: 1). Denn diese dem Hin- fach die Erlösung erlangen könnten, was duismus zufolge den Orten innewohnen- nach Jacobsen eine Spannung im Glau- de, göttliche Kraft soll auf verschiedene ben an die Erlösungsmacht von Orten Weisen nutzbar sein, was auch Rituale an und Göttern zeigt (vgl. Jacobsen 2013: diesen Orten als besonders wirkungsvoll 32). Während in gewissen Texttraditio- gelten lässt (vgl. Eck 1981: 337). Die nen die Pilgerreise auch als eine innere Reise verstanden wird, in der das „Herz“ (vgl. Eck 1981: 420), die „Reinheit des oder die Beseitigung von moralischen Geistes“ (vgl. Jacobsen 2009: 388), oder Verunreinigungen betreffen, andererseits eine korrekte Ausführung von Ritualen aber auch Reichtum, Glück, Heilung etc. vonnöten ist, so wird diesen Faktoren in beinhalten. Sie sollen die Kraft haben, anderen keine Bedeutung geschenkt, da jeden Wunsch zu erfüllen (vgl. Jacobsen bereits die blosse Anwesenheit an einem 2009: 381). Allerdings merkt Shulman an, dass sich die wenigsten Pilger um der soll (vgl. Jacobsen 2009: 381). Erlösung Willen auf Pilgerreise begeben, In Indien gibt es sowohl nationale, als im Zentrum stünden vielmehr diesseitige religiöse Ziele oder weltliche Bedürfnis- Eck 1981: 420). Zusammen bilden sie se (vgl. Shulman 1980: 20). Daneben als Netz von Pilgerorten eine sakrale dient die Pilgerreise auch der Verehrung der jeweiligen Gottheit (bhakti) (vgl. - Malinar 2009: 168). Besonders bedeu- tend ist an dieser Stelle zudem die Vor- Pilgern im Hinduismus 51

Dvaraka), welche als Aufenthaltsorte zu den einzelnen Pilgerorten, in denen vier Himmelsrichtungen symbolisieren. die mit ihnen verbundenen Narrative er- Durch ihre Umkreisung schreitet der zählt und ihre Vorzüge, insbesondere ge- Pilger symbolisch ganz Indien ab, was genüber vedischen Opfern, gelobt wer- in der Tradition grosses Verdienst ver- den. In den Texten wird der jeweilige Ort - meist als „der wichtigste“ von allen be- gersystem, bei dem jede Station einem - der fünf Elemente zugeordnet ist, diese ten für die Verbreitung der Pilgerpraxis sind Chidambaram (Äther), Jambukes- verantwortlich sein (vgl. Jacobsen 2009: hvara (Wasser), Thiruvannamalai (Feu- 383-4). In der klassischen Rechtsliteratur - (Wind) (vgl. Malinar 2009: 165-167). tieren keine formalen Texte zum Pilgern, - Narrativ- und Texttradition gen, in denen beispielsweise Regeln für Pilgerreisen sind, so Eck, verbunden mit eine Pilgerreise eingeführt werden. In dem früheren Glauben an Naturgeister späteren Rechtstexten (nibandhas) wer- und andere mythologische Wesen an den sie erwähnt und die Rituale erklärt solchen Orten, vereinen aber ebenso ve- um eine „logische Kohärenz“ zwischen dische kosmologische Konzepte in sich den zahlreichen Pilgerorten herzustellen (vgl. Eck 1981: 334). Aber Pilgerorte (vgl. Jacobsen 2009: 384). Dies zeigt - nach Jacobsen den Versuch, eine Volks- schen Traditionen erst zentral, als diese tradition in die Rechtstexte aufzuneh- um das 4. Jh. in die brahmanischen Tex- te integriert wurden (vgl. Jacobsen 2009: die tatsächliche Praxis gehabt, dasselbe 389). Dies hing nach Jacobsen mit der gilt auch für die spärlichen philosophi- sinkenden Relevanz von brahmanisch- schen Texte zum Pilgern (vgl. Jacobsen vedischen Ritualen und dem dadurch 2009: 384). In den Texten ist also einer- fehlenden Einkommen der Priester zu- seits die Sanskritisierung bzw. Brahma- sammen, welche durch den Einbezug des nisierung der Pilgertradition ersichtlich Pilgerwesens eine neue Einkommens- (vgl. Jacobsen 2009: 387), andererseits quelle schaffen wollten (vgl. Jacobsen der spätere Versuch, die Tradition durch 2009: 390). Die frühsten Texte, welche Verschärfung der Regeln zu restringie- ren, um sie mit traditionelleren Vorstel- lungen der Rechtstexte zu vereinen (vgl. - Jacobsen 2009: 388). Pilgern im Hinduismus 52

Rituale an einem Pilgerort gewisse Handlungen ausgeführt oder Im Hinduismus existieren zwei Gruppen Gelübde abgelegt werden, diese hängen von Pilgern, einerseits sadhus (Entsa- ger) und andererseits Laienpilger (vgl. des individuellen Pilgers ab. Gelüb- Jacobsen 2009: 401). Erstere sind von de betreffen sexuelle Enthaltsamkeit, den Almosen der Laienpilger und der Verzicht auf Rauschmittel und Fleisch. Tempel abhängig und bleiben oft länge- Daneben rasieren sich viele Pilger den - Kopf, fasten, nehmen Bäder und spen- senz konnten wir in Thiruvannamalai den Almosen (vgl. Jacobsen 2009: 402). beobachten. Pilgerreisen werden von Oft werden vor der Reise die Ahnen den Laienpilgern sowohl individuell als auch in Gruppen ausgeführt. Bestimmte, astrologisch ermittelte Zeiten gelten als von Hindernissen zuständig ist. Wichtig besonders günstig. Pilgerreisen sind v.a. ist auch die vorgängig klare Formulie- rung des persönlichen Zwecks und der sind nach Jacobsen Zeit, Ort und Ritual in der Praxis des Pilgerns eng verknüpft dadurch wird „die Wallfahrt zu einer (vgl. Jacobsen 2009: 401). fruchtbringenden rituellen Handlung“ Zur Vorbereitung der Pilgerreise können (Malinar 2009: 168).

Abb.3 sadhu bei Essensausgabe in Tiruvanamalai Pilgern im Hinduismus 53

Prozessionen statt. Desweiteren sind aber individuelle Rituale von zentralerer Bedeutung. Das Hauptritual bildet da- bei das rituelle Umrunden des heiligen parikrama). Einige Pilger führen dabei regelmässige Kniefälle aus (vgl. Bharati 1963: 140). Diese Umrundungen können von sehr unterschiedlicher Länge und z.T. auch mehrtägig sein. Dabei werden den gesamten Pilgerort, als auch kleine um den Tempel oder Schrein unternom- als heilig erachteten Gewässer liegt, so Abb. 4: Feuerreinigungsritual vor dem Tem- moralischer Verunreinigungen statt pel in Thiruvannamalai (vgl. Jacobsen 2009: 402). Das grösste dieser Baderituale wird im Rahmen des Mythologien des Ortes erzählte. Durch - das exponentielle Wachstum der Pilger tival, das alle zwölf Jahre in Allahabad, ist dies heute kaum mehr der Fall (vgl. Bharati 1963: 144). Besonders zentral (vgl. Jacobsen 2009: 403). bleibt aber die Darbringung von Gaben Am Schrein werden die üblichen Tem- pelrituale abgehalten, wie beispielsweise Priester und die Asketen (vgl. Jacobsen das Läuten der Glocke, der Blickaus- 2009: 393), was gleichzeitig die öko- nomische Grundlage zahlreicher Hindu Priester darstellt. Daneben reichen viele Pilger der zent- Der Tod ist ein zentrales Thema vieler ralen Gottheit Speise- oder Trankopfer (vgl. Jacobsen 2009: 403). Besonders gilt im Hinduismus es als besonders wichtig war ab dem 18. Jahrhundert die günstig dort zu sterben (vgl. Jacobsen persönliche Beziehung zum Tempel- 2009: 403). Sowohl ökonomische und politische Anreise organisierte, mit ihnen die Ri- Veränderungen, als auch moderne Tech- tuale ausführte und ihnen die jeweiligen nologien haben die Pilgerreisen transfor- Pilgern im Hinduismus 54

Bus viel leichter erreichbar und die Rei- se dahin leichter erschwinglich, weshalb sich eine grössere Anzahl Hindus auf Pilgerreise begibt. Die Pilgerindustrie vermischt sich stark mit dem Tourismus, so werden beispielsweise durch auf Pil- gern spezialisierte Reisebüros Bustou- ren zu den Pilgerorten organisiert (vgl. Jacobsen 2013: 5). Diese Vermischung

Pilger, z.B. eine geringere Teilnahme an den Ritualen. Zudem werden hindu- istische Pilgerorte vom indischen Staat oft auch im Rahmen eines spirituellen die Chola-Dynastie, welche den Tempel Tourismus für westliche Besucher ver- vom 10. bis 13. Jahrhundert patroni- marktet (vgl. Jacobsen 2009: 408), wie in Thiruvannamalai zu beobachten war. und setze somit den Verehrungsschwer- punkt. Nachfolgende Dynastien bauten Chidambaram architektonischen Merkmale aus (vgl. Chidambaram in Tamil Nadu vorgestellt Scharfe 2006: 240). werden. Chidambaram ist ein Tempel, in Der Tempelmythos von Chidambaram verehrt wird. Er gilt als einer der wich- in Tamil Nadu und wird oft auch „Herz“ der Erde genannt (vgl. Scharfe 2006: schöner Frauengestalt die Weisen des Pi- 240). Chidambaram war stets ein wich- nienwaldes mit ihren Ehefrauen besucht. tiger Pilgerort. Besonders in der bhakti- Diesen gefallen die beiden sehr. Denn äl- Bewegung des 9.-14 Jahrhunderts hiel- teren Weisen missfallen jedoch die Lust- ten sich hier zahlreiche Poeten dieser auf persönlicher Gottesliebe basierenden anderen Weisen erwecken und sie atta- Bewegung auf. Der Tempel wurde spä- ckieren die beiden Götter mit ihrem Op- testens im zehnten Jahrhundert fertigge- ferfeuer. Dies kann den Göttern nichts sich auch Schreine für andere Götter wie Pilgern im Hinduismus 55

Danach muss er, erwartet durch zwei Schmücken der Gottheit, mehrere Bade- Weise, den Tanz an dem Ort nochmals rituale und Feuerrituale. tanzen, an dem später Chidambaram entstehen sollte. Chidambaram wird im mehrere Feste statt, während deren sich Mythos mit dem kosmischen Berg Meru - stark ändert. Seine Statue wird während sums gilt (vgl. Smith 1996: 31-33). grosser Prozessionen durch die Strassen Chidambaram ist bezüglich seiner Praxis getragen und Blumenparaden abgehal- insofern eine Ausnahme, als hier noch vedische Rituale ausgeführt werden. Sechsmal pro Tag werden sie zu strikt Younger 1995: 46-54). festgelegten Zeiten vollzogen. Sie liegen Obiger Überblick zeigt sowohl die gros- in den Händen einer religiösen Gemein- se Bedeutung der Pilgerpraxis im Hin- duismus, als auch die Vielfältigkeit ihrer einer endogamen Gruppe von etwa tau- Praktiken und Konzeptualisierungen, send Mitgliedern. Die Rituale umfas- welche auf der Vorstellung von sakra- sen das Bringen der Götterstatue aus lem, erlösungsbringendem Raum basie- ihrem „Schlafzimmer“ in den Schrein, ren. das Ankleiden, Füttern von Mahlzeiten,

Abb. 6. Tempelturm von Chidambaram Abb.7: Priester von Chidambaram Pilgern im Hinduismus 56

Bharati, Agehananda (1963): Pilgrimage in the Indian Tradition, in: History of Religions Vol. 3, No. 1, 135-167. Eck, Diana (1981): „Tirthas“: „Crossings” in Sacred Geography, in: History of Religions Vol. 20, No. 4, 323-344. - ism, Leiden: Koninkliijke Brill NV, 381- 410. Scharfe, Hartmut (2006): Chidambaram, in: Wolpert, Stanley (Hg.): Encyclopedia of India, Detroit: Charles Scribner’s Sons, 240. Princeton: Princeton University Press. Smith, David (1996): The dance of Siva. Religion, Art and Poetry in South India, Irthlingborough, Oxford University Press. Oxford University Press.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Foto: Anina Frieden, Studienreise 2014. Abb.3: Foto: Anina Frieden, Studienreise 2014. Abb. 4: Foto: Anina Frieden, Studienreise 2014. Abb.5:http://4.bp.blogspot.com/-akSud4bjWnU/URb-Dpx4AsI/AAAAAAAAGd4/JlJuIDQCPRM/s1600/k12_59465253.jpg (01.12.2013) Abb.6: Foto: Anina Frieden, Reise 2014. Abb. 7: Foto: Anina Frieden, Reise 2014. 57

Die Götter Tamil Nadus den und dann wild im Kreis herumrann- ten und den Namen der Gottheit, die in Beitrag von Moira Grieger sie gefahren war, von sich gaben. Es würde sich im Anschluss an diese Arbeit sehr anbieten diese und andere Arten der Verehrung der verschiedenen Götter zu I. Einleitung betrachten. Worauf ich hier leider nicht Die Welt der Tamilischen Götter ist eine eingehen konnte. äusserst komplexe und vielschichtige Thematik. Dieser Beitrag zum Reise- II. Verschiedene Aspekte der tamili- dossier soll eine erste Übersicht über schen Götterwelt die Götterwelt Tamil Nadus geben, die 1. Die „Grosse“ und die „Kleine“ Tra- im Rahmen dieses Beitrags leider nicht dition in seiner Gesamtheit dargestellt werden Der Hinduismus in Tamil Nadu ist ge- kann. Vielmehr werde ich versuchen prägt von der Sanskrit Tradition und dem einige Grundprinzipien darzulegen und indigenen Glaubenssystem (vgl. Venka- damit ein grundlegendes Verständnisses tesan 2013a: online). Diese existieren der Thematik zu ermöglichen. In ei- nicht einfach nebeneinander, sondern nem ersten Teil des Beitrags stehen die haben sich im Laufe der Zeit vermischt. Grundlegenden thematischen Ausfüh- Der Prozess der „Sanskritisierung“ des rungen, welche dann in einem zweiten gesamten Indischen Gebiets begann Teil durch einige Gottheiten exemplari- bereits im 4.Jh v. Chr.; vielleicht auch sche veranschaulicht werden. vorher und dauert heute noch an. Eine Obwohl der Schwerpunkt des Seminars von der Sanskrit Tradition unbeein- nicht in diesem Gebiet lag, kamen wir auf der Studienreise doch immer wie- religiöser Vorstellungen oder Kultur der in Kontakt mit tamilischen Gotthei- der Tamilen, ist bis heute nicht bekannt ten. Beispielsweise beim Besuch von Dakshina Chitra, einem Museum zur zwischen einer panindischen „Grossen südindischen Kultur, in dem wir unter Tradition“, die von Brahmanen getragen wird und auf Sanskrit Texten basiert und betrachten konnten, oder beim Besuch einer „Kleinen Tradition“, welche alles andere, Nicht-Brahmanische, umfasst in Kalavai, einem Dorf in der Nähe der unterschieden. Diese Unterscheidung Stadt Kanchipuram. Dort konnten wir vereinfacht jedoch die viel komplexere ein Ritual beobachten, bei welchem Wirklichkeit zu stark. Es gibt verschie- Gläubige von Gottheiten besessen wur- dene Grade und Ebenen so genannter Die Götter Tamil Nadus 58

„Grosser“ und „Kleiner“ Traditionen. 2. Die Mythologie Ein Weg die Götter zu verstehen ist über „Grossen Tradition“ auch regionale ihre Mythologie (vgl. Masilamani-Mey- „Grosse Traditionen“, die weder pan- er 2004: 35). Das Wissen über die Götter indisch, noch ausschliesslich sanskri- wurde sowohl mündlich als auch schrift- tisch oder brahmanisch sind. So wird lich überliefert. Eine einheitliche tamili- sche Überlieferung oder Erzählung lässt ausschliesslich in Tamil Nadu, Sri Lan- - ka und Malaysia verehrt. Die Verehrung ge der Erzählungen stammen aus den basiert sowohl auf sanskritischen sowie panindischen oder den tamilischen, li- auch auf tamilischen Texten und sie wird terarischen Traditionen, welche mindes- sie sowohl von brahmanischen als auch tens bis ins 1. Jh. n. Chr. zurückgehen. nicht brahmanischen Priestern getragen Andere Erzählungen wiederum wurden (vgl. Zvelebil 1984: 834-835). nur mündlich überliefert und nie in die Heute haben die regionalen Traditionen geschriebene Kultur aufgenommen (vgl. Tamil Nadus oft wieder Vorrang vor den Valk/ Lourdusamy 2007: S.181). Dies nationalen Traditionen. Angeregt und trifft wohl vornehmlich auf die Mythen bestärkt durch das Interesse des Westens der Dorfgottheiten zu. an den tamilischen Texten, Mythologien Ein grosse Gruppe von südindischen und Übersetzungen derselben, fand auch Mythen bezieht sich auf die lokalen Ma- unter Tamilen in den letzten eineinhalb nifestationen grosser Hindu Gottheiten, regionalem und ethischem Stolz statt. Klassische tamilische Texte wurden wie- sich typischerweise Motive der Sanskrit derentdeckt und neu gedruckt, tamilische Tradition mit solchen lokalen Ursprungs Erbauungsliteratur wurde auswendig ge- (vgl. Zvelebil 1984: 839). lernt und rezipiert und Schreine lokaler Eine andere Gruppe von Mythen bezieht sich auf die Gottheiten der lokalen Tra- auch heute weiterhin eine Brahmanisie- ditionen. Auch diese Mythologie zeigt rung und eine Hinduisierung von Volks- aber oft, in welcher Beziehung die lo- und Dorfkulten statt. Nach wie vor wer- kalen Götter zu den panindischen Göt- den aber sowohl die religiösen Praktiken tern stehen. Viele Volksmythen erzählen tamilischen als auch diejenigen brahma- auch von Begegnungen der Götter mit nischen Ursprungs fortgesetzt und mit Menschen in einer mystischen Zeit. Die Eifer praktiziert (vgl. Jones 2005: 8978). Götter lebten auf der Welt und hatten teilweise Mühe, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken. Ob Die Götter Tamil Nadus 59

die Unterscheidung von menschlicher wichtigsten Götter hingegen männlich Zeit und Göttlicher Zeit für die Gläubi- und die Göttinnen spielen grundsätzlich gen relevant ist, ist aber zu bezweifeln. eher eine untergeordnete Rolle. Einen Denn zwischen den Menschen und den möglichen Grund dafür sieht Whitehead darin, dass die „drawidischen Völker“, statt, und sie sind sich sehr nahe (vgl. welche weibliche Gottheiten verehrten, Masilamani-Meyer 2004: 35). Landwirtschaft betrieben. Das „arische Volk“ hingegen war ein Kriegervolk und Kriegergötter, so Whitehead, seien auf Die Verehrung von Dorfgottheiten, den der ganzen Welt meist männlich (vgl. - Whitehead 1916: 17-18). le im tamilischen Hinduismus. Es gibt 3. Dorfgottheiten werden normalerweise hunderte Volksgötter und Göttinnen in Tieropfer dargebracht. In Tamil Nadu Tamil Nadu. Sie unterscheiden sich von jedoch hat sich dieser Brauch durch Region zu Region, von Dorf zu Dorf. die brahmanischen Vorstellungen, Blut- Ein englischer Kleriker, namens Henry vergiessen sei irreligiös, verändert. So Whithead hat in seiner Untersuchung der südindischen Götter von 1916 vier we- keine Tieropfer, denn er wird als viel zu gut erachtet, um durch Blutvergiessen zu den populären Hindugottheiten wie erfreut zu werden (vgl. Whitehead 1916: 18-19). - rituale) für die vedischen Götter, welche Sie werden bei Unglücken wie Seuchen, meist von Angehörigen der brahmani- Hungersnöten oder der Cholera um Hilfe schen Kaste durchgeführt werden, wer- - sentieren Kräfte der Natur und stehen im Angehörigen aller andern Kasten durch- geführt (vgl. Whitehead 1916: 19). das Universum als Ganzes (vgl. White- head 1916: 17). gewöhnlich als „Wesen von unbere- - chenbarem Temperament betrachtet, als indien mehrheitlich weiblich. In Tamil launisch potentiell gefährlich und sehr Nadu gibt es auch männliche Dorfgott- menschlich in ihrer Neigung zum Übel- heiten, diese sind aber mit Ausnahme nehmen“ (Zvelebil 1984: 884). - Einige Dorfgottheiten haben ihre Ein- lichen Gottheiten und diesen unter- geordnet. Im Hindupantheon sind die vielen Teilen Südindiens verehrt. Teil- Die Götter Tamil Nadus 60

weise hat es Versuche gegeben, die Dorf- III. Beispiele tamilischer Gottheiten gottheiten mit der populären Verehrung Im Folgenden werden zur Veranschau- - lichung des eben dargestellten einige spielsweise durch Heirat, zu verknüpfen Gottheiten vorgestellt. Dier schiere (vgl. Zvelebil 1984: 884). Dies verhilft Menge an Göttern macht es nicht leicht den lokalen Dorfgottheiten zu noblen eine Auswahl zu treffen. Die hier vor- Abstammungslinien und hohen Positi- gestellten wurden einerseits aus dem onen in der göttlichen Hierarchie (vgl. praktischen Grund ausgewählt, dass Valk/ Lourdusamy 2007: 183). Das ide- Informationen übers sie vorhanden wa- ale göttliche Zusammenleben dient als ren. Andererseits sind aber die ausge- friedvolles Beispiel für die Dörfer. wählten Gottheiten weit herum bekannt sind. Nachdem eine Auswahl der Götter getroffen wurde stellt sich die Frage, in Eine der ältesten erhaltenen Vorstellung welcher Reihenfolge man sie vorbringen ist die einer schützenden Muttergottheit möchte, ob und wie man sie gruppieren (Zvelebil 837). Im Unterschied zu den möchte. Ich habe mich dazu entschieden mich auf die heutige Verbreitung der je- beschränkt geblieben ist, sind die Mut- weiligen Götter zu stützen. Man könnte sie aber gut auch nach anderen Kriterien Tradition aufgenommen worden. Auch einteilen. die höheren Kasten, welche sonst die Götter des brahmanischen Pantheons 1. Panindische Götter verehren rufen sie an wenn darum geht Nachfolgend werden einige wichtige um ein Nahziel, wie beispielsweise Götter aus der Sanskrit Tradition vor- Wohlstand, zu erlangen, welches in die- gestellt die in Tamil Nadu eine wichtige sem Leben erreicht werden soll (Zvele- Rolle spielen. Oft werden sie in Formen bil 1984:913). Teilweise sehen Gläubige verehrt die lokale Züge haben, welche in alle Göttinnen letztendlich als Mani- dieser Art in anderen Gebieten Indiens nicht bekannt sind. Lourdusamy 2007: 182). Gemäss Ma- linar jedoch, handelt es sich um unter- schiedliche Göttinnen mit sehr verschie- - denen Eigenschaften und Aufgaben, ter des hinduistischen Pantheons. Als welche jeweils eine eigene Geschichte Zerstörer des Universums ist er neben sowie Mythologie und Anhängerschaft - besitzen (vgl. Malinar 2009: 140). - Die Götter Tamil Nadus 61

Erhaltung der Weltordnung (dharma) und insbesondere der vedischen Ritu- altradition sorgt“ (Malinar 2009: 132). Er wird als kosmisch-königlicher Herr- scher dargestellt, welcher zur Rettung des dharmas in verschiedenen Gestal- 2009:132). Sein tamilischer Name ist

Abb. 1: Südindische Bronze Figur des tamilischen Texten einige südindische bildlichung der zerstörenden wie der die gesamtindische vedische Mytho- schöpferischen Kräfte des Alls verehrt. logie eingegangen sind (vgl. Zvelebil 1984: 949). Die wichtigste ist die von - siegt tanzend einen bösartigen Zwerg, Dämonen, welche die Gestalt von Stie- - ren angenommen hatten, zerstörten Hüt- te und Garten eines alten Mannes. Er - verspracht demjenigen, der dem Treiben ram) wiederholt, symbolisiert die fünf der Stiere Einhalt gebieten würde, seine kosmischen Aspekte: Schöpfung, Erhal- tung, Vernichtung, Verhüllung und Erlö- versuchten es, wurden jedoch von den sung (vgl. Bisschop 2013: online ). Er schützt das Dorf vor Gefahren und garantiert das Wohlergehen der Dorfbe- Zvelebil 1984: 916). wohner (vgl. Malinar 2009: 148). Ein gläubiger Dorfbewohner erklärt in einem Interview mit Valk und Lourdusamy, - der oberste Gott sei. Alle anderen sind lichste Gottheit in Indien. Seine Vereh- seine Kinder und ihm untergeordnet. rung dient dazu das Gelingen aller Un- Weil sie alle tun, wie er ihnen heisst, gibt es unter den Göttern keine Feindselig- beispielsweise vor dem Antritt einer Rei- keiten (Valk / Lourdusamy 2007: 195 ). se angerufen (vgl. Malinar 2009: 138). Die Götter Tamil Nadus 62

then sehr ähnlich sind. In diese Gruppe Bruder Skanda kennen die wenigsten in den gesamten Gebieten Tamil Nadus Nordinder. In Südindien jedoch, wo er und darüber hinaus verehrt werden. Es nimmt er eine wichtigere Stellung ein als die zwar Dorfgottheiten sind, aber den- volkstümlicher Mythos liefert die Erklä- noch in weiten Teilen des Landes verehrt werden. verspricht einen Granatapfel an denjeni- gen seiner Söhne zu geben, welcher als sofort, reitend auf einem Pfau die Rei- meisten verehrte Gott im heutigen Ta- - mil Nadu (vgl. Clothey 2005: 6240). Er tier die Ratte ist, weiss, dass er gegen scheint als eine der wenigen Tamilgott- seinen Bruder keine Chance hat. Schlau heiten, echte vorarische und vorbrahma- nische Elemente drawidischer Religion sagt danach zu seinem Vater, er sei die und Mythologie bewahrt zu haben (vgl. Welt. Dieser ist beeindruckt von der Zvelebil 1984: 907). In seiner frühen 2. Jh. v. Chr. als Gott der Hügel und der langen, strapaziösen Reise heimkehrt, Jagd verehrt. „In frühesten drawidischen Texten „ [...] erscheint [er] als Häuptling und Ahnherr der jagenden Bergstämme, ihm, er solle deswegen nicht zornig sein, als Spender von Regen und Quelle von Fruchtbarkeit.“ (Zvelebil 1984: 908). Zvelebil 1984: 881). Schon zwischen dem 3. und 5. Jh. ver- - 2. Regionale Gottheiten nischen, spät-vedischen Gott Skanda, Die hier vorgestellten Gottheiten werden im gesamten Gebiet Tamil Nadus und den Oberbefehl über die göttliche Ar- teilweise auch in anderen Teilen Südin- mee hat, die die Gegengötter bekämpfen diens verehrt. Sie sind in der hier vorge- stellten Form im restlichen Indien aber ist sein Gegenspieler. Er ist die Perso- nicht bekannt. Was nicht heisst, dass - es nicht Götter gibt, die ihnen in ihrer Form und Funktion und in ihren My- - Die Götter Tamil Nadus 63

nem langen, wie ein glänzendes Blatt Verbindung und Verwandtschaft mit geformtem Speer (vgl. Zvelebil 1984: den grossen Göttern der Sanskrit Tradi- - denste religiöse Symbole, die Teile der asura (Dämon) hatte ein grosses Opfer kulturellen Geschichte der Tamilen sind. die Macht, alles verbrennen zu können, ist, macht ihn für jegliche Gesellschafts- was er berührte. Diese wollte er nun schichten ansprechend macht (vgl. Jones 2005: 8979). dass ihr Ehemann in Schwierigkeiten - - heiten des vorsanskritischen Südindi- ens. Er ist unter anderem auch unter dem Namen Hariharaputra bekannt, was in sie und wollte sich mit ihr vereinen. beliebter Volksmythos erzählt die Ge- schichte seiner Geburt, an der sich sehr bevor sie einander geniessen würden. Da gut erkennen lässt, wie die hierarchische Stellung von Dorfgottheiten durch ihre erschuf sie eine Quelle, welche jedoch

Die Götter Tamil Nadus 64

viel zu klein war um darin zu baden. Sie bisschen Wasser auf sein Haupt gebe. berührte sich dabei mit seiner Hand am aus seinem Versteck hervor und erzählte er sich in sie und sein Samen trat aus. Göttin gewidmetem Tempel in Tiruvanna- und der Samen wurde Hariharaput- malai ra (vgl. Masilamani-Meyer 2004: 20). verehrt. In der Vorstellung Gläubiger rei- einem Dalit verheiratet, der vorgab ein Brahmane zu sein. Als sie die Wahrheit welche in oder vor seinem Schrein ste- über seine Herkunft herausfand, setz- hen, um die Dörfer herum, um böse Dä- te sie sich vor Wut selbst in Brand und monen und Geister zu vertreiben. (vgl. wurde zur Göttin. Noch vor ihrem Tod Zvelebil 1984:861). - fel zu werden, welcher ihr dann geopfert wurde (vgl. Masilamani-Meyer 2004: - der Pocken und wie sich unschwer an fürchtete Göttin. „Man hält sie für mäch- ihrem Namen erkennen lässt, ist sie eine tiger als jede andere weibl. Dorfgottheit, für viel übellauniger, rachsüchtiger und Tamil Nadus und von dualer Natur. Ei- unerbittlicher und für viel schwerer zu nerseits ist sie Göttin der Krankheit und besänftigen.“ (Zvelebil 1984: 900). In des Feuers, andererseits aber auch Göt- einem ekstatischen Tanz verteilt sie Per- tin des Heils und der Kälte. Heute wird len, welche die Pocken verursachen. Ge- mäss eines anderen tamilischen Mythos Blindheit und anderen Krankheiten jeg- licher Art angebetet. Ihre duale Natur er- der neun grossen Weisen. Eines Tages, klären die Mythen durch ihre Herkunft. als ihr Mann ausser Haus war, kamen die Sie verbindet in sich die tiefen und die hohen Kasten. In einer Erzählung wur- Die Götter Tamil Nadus 65

wer die Drei waren und verwandelte sie die Erlaubnis zur Heirat erteilten (vgl. in kleine Kinder. Die erzürnten Götter Zvelebil 1984: 943-944). ihre Schönheit. Sie verwandelten sie in eine hässliche Frau und liessen ihr Ge- sicht von Pocken vernarben. Hässlich, erst im späten 19. Jahrhundert im Zu- wie sie nun war, wurde sie von ihrem sammenhang mit der drawidischen Be- wegung aufkam. Sie ist die Göttin der die Pocken verbreitet, wiedergeboren zu Tamilischen Sprache. Als Göttin, Mut- werden (vgl. Zvelebil 1984: 900-901). ter und Jungfrau wird sie mit Gedichten verehrt. In welchen sie verschiedenen Göttern als ihre Freunde und Begleiter zur Seite gestellt wurde. Dies verlieh Göttin, die ihren Namen von einer ihr einen Anschein von hohem Alter. - Wie andere Götter war auch sie alters- zählt es die Mythologie, in einer Grube los und existierte nur in mythischer Zeit. zur Aufbewahrung der süssen, essbaren In einer der mythischen Biographien, - welche ihr von Dichtern verliehen wur- durch Murukans Einwirken in die Welt - tigen Gedanken eines Weisen und als Kind einer Gazelle geboren, welche sie der sanskritischen Hindu Tradition oder - Frau wurden ihre Zieheltern. Eines Ta- ens, die in der Indischen Nationalbewe- - gung entstanden ist und mit der sie bis- derschöne junge Frau, bewachte sie ein weilen in direkter Konkurrenz steht (vgl. Venkatesan 2013b: online). Gestalt eines Jägers und sie verliebten sich in einander. Nachdem die Hirse ge- 3. Lokale Gottheiten Als lokale Gottheiten werden hier dieje- ihren Zieheltern zurückkehren und die nigen verstanden, die vor allem an einem Liebenden konnten sich nicht mehr se- bestimmten Ort bekannt sind. Dies wür- hen. Eines Nachts wollten sie zusammen zu treffen, von denen hier aber nur eine - Gottheit vorgestellt wird. Beide hier vor- gestellten Gottheiten sind ursprünglich Die Götter Tamil Nadus 66

eng mit der Stadt Madurai verknüpft und Zvelebil 1984: 904). insofern lokale Gottheiten, als dass sie vor allem dort verehrt werden. Sie sind jedoch beide auch in anderen Teilen Ta- - mil Nadus bekannt. heit der tamilisch sprachigen Gebiete von untergeordneter Bedeutung“ (Zvele- bil 1984:903). Der Held von Madurai, dies ist die Bedeutung seines Namens, Fischäugige, was soviel wie liebrei- ist jedoch in ganz Tamil Nadu sehr be- zende, kokette Augen bedeutet. Sie ist kannt ist. Zu seiner Bekanntheit hat vor eine lokale Göttin der Stadt Madurai, allem ein Film beigetragen, in welchem die jedoch in weiten Teilen Tamil Na- er durch den Schauspieler und lang- dus bekannt ist. An ihrer Geschichte jährigen Regierungschef Tamil Nadus, lässt sich sehr gut sehen, wie Herr- M.G. Ramachandran, verkörpert wur- scher ihre Stellungen durch die Verbin- de (vgl. Masilamani-Meyer 2004: 33). dung mit Göttern legitimierten. Denn Emporkömmlings, der trotz seiner nie- - deren Herkunft, Ehre und Ruhm erlangt che nach ihrem Tod vergöttlicht und zur und dank seines Mutes zur Gottheit wird. Er wird von den Dalits, den Unberührba- der Stadt Madurai wurde. Die Brahma- nen machten sie zu einer Manifestation auf. Gemäss eines lokalen Mythos ent- als drei jährige Tochter, mit drei Brüsten, aus dem Opferfeuer. Nach dem Tod ih- res Vaters übernahm sie die Herrschaft über ganz Indien ausbreitete. Auf ihrem Eroberungsfeldzug gelangte sie bis nach - te sich in ihn. Sie errötete, verlor ihre dritte Brust und liess ihre Waffen fallen. Abb. 4: Plakat des 1956 erschienenen Film nach Madurai zurückkehren würde (vgl. Mathurai Veeran Die Götter Tamil Nadus 67

ren, als ihre Klan Gottheit aber auch von auch Wächter oder Begleiter anderer Angehörigen anderer Kasten verehrt. Göttinnen und gehört zum Gefolge des selbst aus einer Kaste der Dalits stam- 2004: 33-34). mend, sich heimlich mit der Königstoch- ter Pommi vermählte, deren Leibwäch- zornigen Vater Pommis, dem König, von den für Reisende äusserst gefähr- - sie zur Mätresse. Nun selbst verkleidet wurde dabei jedoch erwischt. Aufgrund nicht als der grosse Held erkannt, der erst noch die Stadt gerettet hatte. Zur Bestrafung wurden ihm Arme und Bei- ne abgetrennt. Als der König dann doch realisierte wen er gefasst hatte, bat er wieder zum Leben zu erwecken. Sie aber wollte nicht mehr länger leben. Mit einem Messer trennte er sich selbst den Kopf ab. Aus Trauer opferten sich seine Gemahlin Pommi und seine Geliebte Feuer in dem sein Leichnam verbrannt Diese gewährte ihm den Wunsch und nahm ihn in das Götterpantheon auf. Er ist jedoch nicht nur ihr Wächter, sondern Die Götter Tamil Nadus 68

Bibliographie - pedia of Hinduism http://referenceworks.brillonline.com/entries/brill-s-encyclopedia-of-hinduism/siva-COM_1030030?s. Reference, 6240-6241. Clothey, Fred W (1987): Tamil Religions, in: Jones, Lindsay (Hrsg.): Encyclopedia of Religion Vol. 13 (2005)2, Detroit: Macmillan Reference, 8973-8979. Masilamani-Meyer, Eveline (2004): Guardians of Tamil Nadu. Folk deities, folk religion, Hindu themes, Halle: Franksche Stiftung zu Halle. Moeller, Volker: Die Mythologie der Vedischen Religion und des Hinduismus. in Haussig, Hans W. (Hrsg.): Götter und Mythen des Indischen Subkontinents, Wörterbuch der Mythologie, Stuttgard: Klett. Valk, Ülo/Lourdusamy, S. (2007): Vilage Deities of Tamil Nadu in Myths and Legends. The Narrated Expierience, in: Asien Folklore Studies Vol. 66, No 1/2 ,179-199. Venkatesan, Archana: Tamil Nadu, in: Jacobsen Knut A./Basu, Helene/Malinar, Angelika/Narayanan Vasudha (Hrsg.): Brill’s Encyclopedia of Hinduism http://referenceworks.brillonline.com/entries/brill-s-encyclopedia-of-hinduism/tamil-nadu- Venkatesan, Archana: Tamil Texts and Language, in Jacobsen Knut A./Basu, Helene/Malinar, Angelika/Narayanan Vasudha (Hrsg.): Brill’s Encyclopedia of Hinduism

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: http://www.rietberg.ch/media/49926/Indien2_RVI_501_567px.jpg (Stand: 19.11.201213) Abb. 2: Zvelebil, Kamil V.(1984): Mythologie der Tamilen und anderer drawidisch sprechender Völker, in Haussig, Hans W. (Hrsg.): Götter und Mythen des Indischen Subkontinents, Wörterbuch der Mythologie, Stuttgard: Klett, Tafel III., Abb. 3. (Stand: 19.11.2013) Abb. 4: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/a/a7/Mv_release-3-.jpg (Stand: 19.11.2013) 69

Januar dieses Jahres hatten wir an ver- schiedenen Orten auf verschiedene Wei- Beitrag von Eva Meienberg zum Beispiel in der Begegnung mit Sri Vast, beim Besuch des Schreins von Sri Aurobindo, im Arunachaleshvara Tem- pel oder auf dem Berg Arunachala in Tiruvanamalai, im Ashram Ramana Ma- Konzept in hinduistischen Traditionen harishis, in Kanchipuram im Kailasana- tha Tempel, in Kalavai im Angalamman den ersten Blick sehr unterschiedliche Tempel oder überhaupt in der Fülle der Bedeutungen des Begriffs. Einerseits Darstellungen, in denen dem Göttlichen geht es um einen physischen Akt des begegnet werden kann. Auf ein beson- Schauens und andererseits um einen deres Beispiel möchte ich weiter unten eher übertragenen Sinn des Begriffs An- etwas genauer eingehen. schauung, der dann mit Sichtweise über- setzt werden könnte. Malinar erklärt den Philosophische ‚Sicht’; Lehrtradition Begriff folgendermassen: „1. philoso- phische ‚Sicht’; Lehrtradition; 2. Vision oder Anschauungen in nachvedischer bzw. Erscheinen eines Gottes; 3. visuelle Kontaktaufnahme mit der Gottheit im Grundlagetexte der sechs orthodoxen Tempel“ (Malinar 2009: 277). philosophischen Schulen bezeichnet. Orthodox werden sie deshalb genannt, Diana L. Eck beschreibt in ihrem Buch, weil sie die Veden als Autorität grund- sätzlich akzeptieren. Einige Texte be- India“, sehr eingänglich, wie wir die ziehen sich direkt auf vedische Quellen gewaltige Fülle der hinduistischen Bild- (Mimamsa und Vedanta). Die Entste- welt als „visual texts“ lesen können (Eck hung datiert in der Zeit zwischen dem 1996: 2). Um Bilder im hinduistischen Kontext lesen zu können, benötigt man werden der brahmanisch-hinduistischen einerseits ein Verständnis für die Be- Tradition zugeordnet. Folgende Schulen schaffenheit der Bilder. Andererseits werden unterschieden und traditionell braucht es Kenntnis von den Fähigkei- paarweise aufgeführt, weil die Paare ten, mit welchen die Bilder gelesen wer- zum Teil inhaltlich korrespondieren: Ny- den können. aya (Gautama) und Vaisesika (Kanada), Samkhya (Kapila) und Yoga (Patanjali), Auf unserer Reise in Tamil Nadu im Mimamsa (Jaimini) und Vedanta (Badar- 70

ayana) (vgl. Eck 1981: 224). oder in einem heiligen Menschen. Für Die Entstehung der philosophischen Tempel und wohnen einer puja bei, sie Schulen ist geprägt von buddhistischen, machen Pilgerreisen und besuchen hei- jainistischen und hellenistischen Ein- lige Orte oder heilige Menschen, wie sants, sadhus und sannyasins. „Darshana philosophischen Diskurses forcierten. brings good fortune, well-being, grace, Den einzelnen Schulen wird ein Gründer and spiritual merit tot he seeing devo- zugeordnet (vgl. oberer Abschnitt). Eine tees, especially if they go to the temple wichtige Aufgabe der Lehrerpersönlich- early in the morning just after the dei- keiten ist es, Kommentare zu den kano- ties have woken up“ (Fuller 1992: 59). nischen Texten zu verfassen und auch ei- genständige Kommentare zu verfassen. eines Gottes vor seinem Anhänger. Den Die Kommentartradition ist notwendig Begriffen: Sehen und Bild kommen ver- für die Legitimation und Anerkennung schiedene Bedeutungsebenen zu, die der der Lehrtradition. Wichtig ist die Un- genaueren Erklärung bedürfen. terscheidung der philosophischen Lehre von der religiösen Praxis oder Doktrin. Das Heilige sehen Eine religiöse Gemeinschaft hat somit Im gleichnamigen Kapitel von Diana zwei Referenzebenen. Einerseits wird L. Eck werden die hinduistischen Ei- sie über den Kontext religiöser Praktiken genheiten des Begriffs sehen deutlich. verortet und andererseits über die Vertre- tung der philosophischen Lehren ( vgl. - Malinar 2009: 63-64). - tausch statt. Der Anhänger kommt, um Vision bzw. Erscheinen eines Gottes einen Blick zu erhaschen. Erst wenn die und visuelle Kontaktaufnahme mit Gottheit sich zeigt, wird die Sicht für den der Gottheit im Tempel Anhänger frei. Damit steht die Gottheit - am Anfang des Austausches. Die Gott- heit muss sich zeigen wollen, damit sie Konzept in Bezug auf die hinduistische sichtbar wird (vgl. Eck 1996: 6-7). Das Gottesverehrung dar. Die Formulierung tägliche Leben und die Rituale der Hin- dus sind geprägt von den göttlichen Er- mit „Ich gehe zum Gottesdienst.“ aus- scheinungen in der materiellen Welt und nicht von abstrakten inneren Wahrheiten den Blickkontakt mit einer Gottheit in (vgl. Eck 1996: 11). einer Darstellung, einem heiligen Ort 71

Die Bedeutung des Blickes, den die An- mit Konzepten konfrontiert, welche die hängerin von der Gottheit sucht, wird Darstellung Gottes verbieten oder be- klarer, wenn man den Blick als die Um- schränken. Dem Bild wird als Abbild kehrung des bösen Blicks denkt (vgl. Eck misstraut, wie es uns das Höhlengleich- 1996: 7). Genau so, wie das Böse einem nis von Platon lehrt, wo die Bilder als anhaften kann, wird einem das Gute zu blosse Schatten der Wahrheit entlarvt Teil. „Vermutlich haben sich hier volks- werden. Solche Bildkonzepte helfen im religiöse Vorstellungen vom bösen Blick Umgang mit den hinduistischen Bildern mit der allgemeinen Erfahrung verbun- nicht weiter. Immer wieder haben Besu- den, dass Augenschein Wahrheitsbeweis cher aus dem Westen den Umgang mit ist“ (Michaels 1998: 254). Bildern als Idolatrie bezeichnet, also das Anbeten eines Dinges als sei es Gott. Die Verbindung von Wahrheit und Se- Idolatrie aber kann nur vom Betrachter hen betont eine weitere Eigenheit des von aussen festgestellt werden, der die Begriffs ‚Sehen’. Was gesehen wird, Sichtweise desjenigen nicht teilt, der das ist wahr. Wer etwas gesehen hat, ist der Göttliche in den Bildern zu sehen vermag glaubwürdigere Zeuge als derjenige, der (vgl. Eck 1996: 21). Kritische Stimmen es nur gehört hat. Ausdrücke wie Stand- gibt es aber auch im indischen Kontext punkt oder Ansicht machen auch in un- im philosophischen Illusionismus: „Der serem Sprachgebrauch deutlich, dass Gott ist im Grunde eigenschafts- und Sehen und Wissen in Bedeutungsnähe formlos (nirguna, nirakara), die Welt ist rücken. In diesem Zusammenhang wird nur (Augen-)Schein (maya), Blendung, Täuschung. Wahre Einsicht bedarf nicht Zusammenhang mit den sechs philoso- der Blicke, sondern Erkenntnis und inne- phischen Schulen oder eben Sichtweisen rer Schau“ (Michaels 1998: 257). Auch verwendet wird (vgl. Eck 1996: 9-10). Fuller erwähnt, dass einige religiöse Virtuosen die Bilderverehrung für eine Sehr ähnlich verhält es sich mit dem Se- falsche Methode für einfach gestrickte hen des Heiligen. In hinduistischen Tra- Menschen halten, da ja das Göttliche ditionen ist das „image making“ zentral. eigentlich ohne Qualitäten sei (nirguna) In der sichtbaren Welt wird das Heilige (vgl. Fuller 1992: 61). als anwesend gesehen. Überall kann es gesehen werden, in Darstellungen, Or- „In the indian context, seeing is a kind of ten, Menschen. Die Vorstellung eines touching“ (Eck 1996: 9). Der Blick wird unsichtbaren Gottes ist für viele Hindus verstanden als eine Form des Kontak- eine fremde Vorstellung (vgl. Eck 1996: tes. Jemanden berühren und jemanden 10). Aus dem Westen kommend, ist man anschauen waren in den Formulierun- 72

gen der vedischen Literatur verwandte ist zu erkennen, dass der Raum, wo der Aktivitäten. Die damals geltenden An- - standsregeln erlaubten es den Liebes- scheiden ist. Es ist der untere Stock ei- paaren und Eheleuten nur beschränkt in nes zweistöckigen Hauses. Der Raum der Öffentlichkeit zu kommunizieren. hat vergitterte Fenster, die es erlauben Der Blickkontakt musste genügen, was von allen Seiten hereinzuschauen. Als zu einem elaborierten Schauen führte. er sich um 10.15 Uhr ziemlich gefüllt Der indische Tanz natyasastra kennt 36 hatte, standen die restlichen Besuche- verschiedene Arten des Blickes, die ge- rinnen und Besucher draussen und späh- lernt werden wie Gesten oder Schritte. ten hinein. Die meisten Anwesenden - waren westlicher Herkunft. Neben den sche Bedeutung (vgl. Michaels: 1998: Bastmatten am Boden hatte es einen 255). Diese Fähigkeit des differenzierten Korbstuhl, der auf dem Bild ebenfalls Schauens hat auch im Kontakt mit den ersichtlich ist. Die Besucherinnen und Göttern seine Relevanz. Besucher setzten sich auf Kissen oder Teppiche, die man am Eingang ausleihen konnte oder auf selbst mitgebrachte Un- Erlebnis hatten einige von uns in Tiru- terlagen. Einige kauften vor dem Haus vanamalai beim Besuch von Sri Siva den verschiedenen Händlerinnen eine Sakhti Ammaiyar1. Auf dem Foto oben Lotusblume ab, um sie dann vor Siva 1 Beatrice Büchi hat ihren Beitrag zu dieser Gurvī geschrieben. 73

Sakhtis Stuhl zu legen. Die Anwesenden man göttliche Präsenz. Das Aufbauen waren still, konzentriert, ernst, selbst des vedischen Feueraltars wurde vergli- dann, als ein Mann einen regelrechten chen mit der Konstruktion der Welt und Lachanfall bekam und unter Prusten und entsprach dem heutigen Bild. Bis heute Grölen den Raum verliess. Einige me- wird dem Feuer göttliche Qualität nach- ditierten, andere schauten sich um. Alle gesagt und es ist zentral in der hindu- warteten gespannt. Kurz nach der ange- istischen Götterverehrung. Neben dem Lingam als vielleicht berühmteste ani- langsam schritt sie zu ihrem Stuhl, setzte konische Gottesdarstellung gibt es eine sich und begann zu schauen. Sie streifte Vielzahl von Dorfgottheiten oder auch mit ihrem Blick eine um den anderen. Gottheiten mit einem speziellen Aufga- Sie schien keine Scheu und keine Scham benbereich, oft im Zusammenhang mit zu verspüren, während sie die Anwesen- den mit ihrem sehr innigen Blick traf. einem Stein gesehen werden. Die Steine Sie verharrte jeweils einige Zeit und zog sind oft bestrichen mit verschiedensten dann mit ihrem Blick weiter. Mit einigen Substanzen, wie Kumkum-Pulver2 oder hatte sie einen regelrechten Austausch, Blut. Die Rituale, welche diesen Gott- ihre Mimik veränderte sich dabei sehr heiten entgegen gebracht werden, sind langsam. Siva Sakhti sprach kein Wort, denen einer puja ähnlich. Daneben gibt sie tue dies auch sonst üblicherweise es die Vielzahl der Requisiten, mit de- nicht, war zu erfahren. Was zähle, sei nen die Gottheiten dargestellt sind. Die von ihr gesehen zu werden und sie zu Requisiten selber können ebenfalls als sehen. Nach einer guten halben Stunde Materialisierung einer Gottheit gesehen verliess sie den Raum und die Versamm- werden. Eine weitere Kategorie stellen lung löste sich auf. die Natursymbole dar. Der Ganges, der Fluss Yamuna, die Tulsi oder Tulasi- Die Natur des hinduistischen Bildes Der Charakter eines hinduistischen Bil- die Sonne sind einige Beispiele dafür des kann ikonisch oder anikonisch sein. (vgl. Eck 1996: 33-37). Beide Arten der Darstellung haben eine lange Tradition. Anikonisch ist z.B. die Ikonische Darstellungen werden in Darstellung des Lingam. Er stellt die Sanskrit mit murti bezeichnet, was so- Gottheit nicht dar, sondern ver- viel bedeutet wie Form aber auch Inkar- weist auf sie. Zu vedischen Zeiten mit nation oder Manifestation. Murti ist also dem Feueropfer als Ritual, gab es keine mehr als ein Abbild, es ist die Form der Notwendigkeit ikonischer Darstellun- Gottheit, ihre Materialisierung. Vigraha gen. Das Feuer war heilig, in ihm sah 2 Pulver der Gelbwurz oder Safran 74

ist ein weiterer Sanskritbegriff, um Bil- ten zugewiesen. Dem Brahma der Brust, der zu bezeichnen. Dessen Bedeutung Indra der Hand etc. Dieses Ritual knüpft liegt auf der Form des Bildes, die es am Mythos von Purusha an der vor der dem Menschen ermöglicht, das Göttli- Zeit existierte und von dem alle Gott- che zu erfassen. Die Formen des Gött- heiten stammen. Die Augen der Gottheit lichen korrespondieren dabei nicht mit werden ihr erst ganz am Schluss gemalt irdischen Formen. Im Zusammenhang und symbolisch von einem Priester mit dazu stehen die fantastisch anmutenden einem Pinselstrich geöffnet. Erst dann ist Darstellungen von Shiva mit drei Augen und vielen Armen, Ganesha mit Elefan- tenkopf, Krishna mit blauer Haut usw. Erste ikonische Darstellungen, abgese- (vgl. Eck 1996: 38). hen von denen der Kultur des Industals, gehen zurück in die Zeit der Maurya- Die Anfertigung der Bilder unterliegt Dynastie um 320 bis 180 v. Chr. Sie strengen Regeln, welche in zahlreichen stellen sogenannte yaksas und yaksis Sanskrit Texten festgehalten sind. In die- dar. Gottheiten, die im kultischen Alltag sen sastras wird alles genau vorgegeben: beliebt waren und die im Zusammen- Proportionen, Körperhaltungen, Anzahl hang mit den Alltäglichkeiten von Leben Arme, Gesten der Hände (mudras), Art und Sterben verwendet wurden. Mit dem der Attribute usw. Eine Gottheit hat nicht Beginn des Tempelbaus während der eine einzige Erscheinungsform aber die Gupta-Dynastie machte auch die Ent- Erscheinungsformen sind nicht belie- wicklung des Bildes einen Sprung. Nach big. Sie repräsentieren eine Erscheinung der Gupta-Dynastie waren die regiona- aus ihrer mythologischen Geschichte. len Herrscherdynastien für den Tempel- Ein Bild muss auch schön sein, um die bau verantwortlich. Die Entwicklung der Gottheit zu beinhalten und schön ist es Architektur und der bildlichen Darstel- dann, wenn es dem Kanon entspricht, lungen nahm ihren Lauf und führte zu den sastras gemäss gefertigt ist. Schon die Auswahl des Materials und die ri- Einerseits sind die Darstellungen sicht- tuelle Reinigung des Künstlers (silpin) bare Theologie, indem sie eine Lehrmei- vor der Arbeit sind vorgegeben. Bevor nung darstellen. Auf der anderen Seite das Bild gemalt wird, visualisiert es der sind sie auch visuelle Schriften, welche Künstler in einer Meditation. Nach Be- Mythologien erzählen, ähnlich wie es endigung der Arbeit wird das Bild ge- auch im Westen in gotischen Kathedra- weiht. In einem Ritual genannt nyasa, len zu sehen ist. Die visuelle Schrift ist was ‚berühren’ bedeutet, werden den lesbar auch für diejenigen, welche die verschiedenen Teilen des Bildes Gotthei- geschriebene Sprache nicht beherrschen. 75

Die Darstellung der Mythen geht weiter „(1) Erwecken der Gottheit bei Sonnen- bis in die heutige Zeit. Comics, Fernseh- aufgang; (2) Ankleiden der Gottheit mit serien, Filme, gemalte Wandbilder an einer saisonal variierenden Kleidung; öffentlichen Gebäuden usw. sind Zeug- (3) Öffnen des Schreinraums für Be- nisse dieser Entwicklung (vgl. Eck 1996: sucher; (4) Mittags: Darreichen einer 38-44). reichhaltigen Speise; (5) Schliessung des Schreinraums für die Mittagsruhe; Der rituelle Gebrauch des Bildes (6) Nachmittags: leichte Speise und Öff- Das Bild im rituellen Gebrauch hat zwei nen des Schreinraums; (7) Abendritual Bedeutungen. Einerseits ist es Konzen- und Lichterschwenken; (8) Schreinraum trationshilfe für den Betenden und an- wird für die Abendruhe geschlossen. Die dererseits wird es als Träger göttlicher Verehrung begleitet somit den Gott oder Präsenz gesehen. Die zweite Auffassung die Göttin durch den Tag [...]“ (Malinar ist in der bhakti-Tradition verwurzelt. - „Bhakti meint die Zuneigung, Teilhabe pel werden bis zu 16 rituelle Gaben upa- und Anteilnahme, die zwischen einem chara dargebracht. Zu Hause sind es oft Gott und seinem Anhänger bestehen. nur fünf upachara. [...] Als eine Erfüllung dieser Beziehung wird in den Texten immer wieder das „Die 16 Aufwartungen eines Gottes- persönliche, leibhaftige Erscheinen des geschildert“ (Malinar 2009: 57). Das Bild der Gottheit, welche sie ja bein- und Heranführen der Gottheit angezogen etc., um die innige Bezie- zum Waschen der Füsse Gottheit kommt eine emotionale Zuwen- 4. arghya: Darreichen von Wasser für dung, wie sie z.B. Familienmitglieder Gesicht und Mund - bunden mit dem Begriff puja. Puja ist die zum Spülen des Mundes Verehrung eines Gottes im Tempel. Eine puja wird mehrmals täglich, bis zu acht 7. vastra: Ankleiden der Gottheit Mal pro Tag, durchgeführt und richtet - sich nach dem Rhythmus der Gottheit. schnur In der bhakti-Tradition kann man den 9. anulepana: Einsalben der Gottheit folgenden Tagesablauf der rituellen Ver- mit Salben und ätherischen Ölen ehrung beobachten: 76

diesem Dossier war das Buch von Dia- 13. naivedya: Darreichen gekochter Image in India.“ Ihr Werk wird im Zu- Speise - von allen anderen Sekundärliteraturen, blatt die ich verwendet habe zitiert. Sie ver- fasste den Eintrag im Oxford-Lexikon von Kleidung und Geld Eck ist Professorin an der Harvard Di- Götterbildes“ (Malinar 2009:157- vinity School in Massachusetts. Ihre 158). Forschungsschwerpunkte liegen geo- - teressiert sich in Indien vor allem für die Regel ein Priester. Zur Vorbereitung rei- Volksreligion im Umfeld von Tempeln nigt sich der Priester rituell, um sich zu und Wallfahrtsorten. vergöttlichen. Fuller beschreibt, wie die Priester in südindischen Shiva-Tempeln C.J. Fullers „Camphor Flame. Popular zuerst zu Shiva werden müssen, um dann Hinduism and Society in India“ ist eine zu Shiva beten zu können. Der vollende- ethnographische Studie über den populä- te Gottesdienst ist der des Gottes für sich ren Hinduismus. Im verwirrend grossen selbst (vgl. Fuller 1992: 61). Feld führt er in seinem Buch in Kapiteln wie „Götter und Göttinnen“, „Opfer“ Nicht immer will die Gottheit ange- oder „Rituale des Dorfes“ durch die Fül- schaut werden. Je nach Tempelanlagen, le des religiösen Lebens im zeitgenössi- ist der Blick auf die Gottheit versperrt. schen Indien. Zu gewissen Zeiten ist die Gottheit mit Tüchern verhangen und erst mit Beginn Angelika Malinars „Hinduismus. Stu- dium Religionen“ war hilfreich für die historische Verortung ebenso das Ein- führungswerk von Axel Michaels: „Der Diskussion der Literatur Hinduismus. Geschichte und Gegen- Die wichtigste Quelle für die Arbeit zu wart.“

Bibliographie Fuller, Christopher John (1992): The Camphor Flame: Popular Hinduism and Society in India, Princeton, N. J.: Princeton University Press. Michaels, Axel ((1998) 22012): Der Hinduismus: Geschichte und Gegenwart, München: C.H. Beck. 77

- hen werden (Michael 2011: 378). Neben Beitrag von Anita Noll anderen Repräsentationen des Hochgot- 2009: 440), wobei es in Zusammenhang - mit unterschiedlichen Interpretationen tinent vielleicht meist verbreitete Ver- zitiert wird. Dabei lehnen vor allem jün- gere Auslegungen von Hindu-Gelehrten - göttliches Phallussymbol vermehrt ab und weisen dahingegen auf dessen Sym- - Gräbern und weiteren Kultplätzen (Ma- macht hin (siehe u.a. Mudaliyar 1913 linar 2009: 137). Auch können kleinere und Sivananda 1996). Aus einer langen ikonographischen Ent- wicklungsgeschichte resultierend, haben 78

- thropomorphe, zylindrische Gestalt mit 441) als nahezu einzigartig unter den abgerundeter Spitze, sodass sie manch- unzähligen Götterdarstellungen Süd- mal von Wissenschaftlern als „Pfosten“ asiens. So sei die südasiatische religiö- (Fleming 2009: 441) oder „Säulen“ se Kunst vorwiegend für ihre reichlich (Michaels 2008: 382) beschrieben wer- ausgeschmückten Götterbilder in an- den. Das meistens aus Stein, Ton, Holz thropomorpher Form bekannt, welche typischerweise mit mehreren Armen, seiner Grösse und Konstruktion je nach Köpfen, Augen und weiteren augenfälli- Verwendungszweck sehr stark variieren. gen Attributen ausgestattet seien2. Dem- Unterschiedliche Literaturtypen, insbe- seine ausserordentliche darstellerische liefern konkrete und detaillierte Anwei- Schlichtheit aus. Übereinstimmend mit sungen für seine Herstellung und korrek- weiteren Autoren führt Fleming (2009: te Verehrung in den verschiedenen Kon- 441-443) diese ikonographische Eigen- texten1. Im Rahmen von Ritualpraktiken - ziert, sodass man ihre eigentliche Gestalt zuweilen kaum mehr erkennen kann. Charakterisierungen deuten wiederum mit der yoni abgebildet, wobei ersteres auf letzterer steht bzw. in ihr ruht (Ho- als das ultimative Konzept hin. Anders - zusammen, so gelten sie unter anderem keit als der allerhöchste Gott, ja das gött- als Zeichen der kreativen Energie und liche, allumfassende Universum selbst das äusserliche Symbol dafür bildet. Erklärung für die gemeinsame Vereh- Wie bereits angedeutet sind zeitgenös- schlichten, zylindrischen Form das Re- sultat einer langen ikonographischen und Bewahrung der Welt verantwortlich Entwicklungsgeschichte. Schaut man gemacht (Hohenberger 2013: 75). auf ältere archäologische Funde, die

Unabhängig von seiner Ausgestaltung 2 Diese Art anthropomorpher Darstellungen 1 Für einen Überblick über die üblichen wieder. Zur Darstellungsvielfalt des Gottes - zweck siehe Fleming 2009: 452-453. u.a. Jansen 2009: 107-122. 79

beiderseits von der westlichen und in- dhra Pradesh) als das älteste erhaltene - werden, so weisen diese im Gegensatz lich auf einen Zeitpunkt zwischen dem zum bisher Beschriebenen eine phal- dritten und ersten Jahrhundert vor der lische Form auf (Fleming 2009: 444). Zeitwende datiert (Fleming 2009: 445)3. Von der Entwicklungsgeschichte der Die phallus-förmige Skulptur misst über 1,5 Meter und weist eine bezeichnende Kapitel. anatomische Ähnlichkeit mit dem männ-

3 Für eine ausführliche Analyse bzgl. der Ikonographische Entwicklungsge- schichte Mitterwallner 1984: 12-31. Einige Forscher führen die ersten Spuren zurück. So konnten durch Ausgrabungen damalige Grossstädte der Indus-Kultur Siegel mit ithyphallischen Figuren auf- gefunden werden, die in Zusammenhang - werden von manchen Autoren als Zeug- nis für einen vorvedischen, prototypi- 1931: 52-63). Aufgrund des bislang nur sehr beschränkten Wissensstandes über die vorvedische Kultur, insbesondere haben solche Hypothesen jedoch ledig- lich spekulativen Wert und werden des- halb von den meisten zeitgenössischen WissenschaftlerInnen zurückgewiesen (u.a. Hohenberger 2013: 79). Infolge ikonographischer und später andere Forscher dahingegen das grosse - 80

lichen Geschlechtsorgan auf. Die Asso- - lematik wie beim Fall des Gudimallam- menschenähnliche Figur, die vor dem Phallus abgebildet ist und erstmalig in Aufgrund der genannten Schwierigkei- ten bei der Verlinkung der archäolo- - gischen Funde mit einem eindeutigen doch eine mittelalterliche Ergänzung zur phallischen Skulptur darstellt, kann Einführungsalter des Kultes um das ihr Inhalt nicht mit Sicherheit auf die ursprüngliche Bedeutung des Kunstwer- gemäss Hohenberger (2013: 80) ebenso kes zurückgeführt werden, welche somit denkbar, dass die erwähnten Artefakte weiterhin vage bleibt (Fleming 2009: 445). einer altindischen Tradition der Phallus- Die Mehrheit der darauffolgenden phal- verehrung zugehörig seien. In diesem lischen Skulpturen (ca. 1.-3. Jh. u. Z.), Kontext lässt sich auch folgende Bemer- - kung Flemings einordnen: „None of our dition assoziiert werden, stammt dahin- gegen aus der nördlichen Stadt Mathura objects are explicitly, unambiguously, or (Uttar Pradesh), ein damaliges Zentrum der Skulptur-Produktion. Unter den als 448). - Grundsätzlich betrachtet Fleming es als ser Region zeigt sich eine Vielfalt von wahrscheinlich, dass die Assoziation des unterschiedlichen Formen, Grössen und - Ornamenten (v. Mitterwallner 1984: 20). reren Jahrhunderten durchlief, bevor sie So stellen etwa die sogenannten mukha- einem oder mehreren Köpfen ausgestat- - anthropomorphen Brüsten gelten ferner als eine übliche Darstellungsform (Mi- mit anthropomorphen Attributen wurden zwar verschiedene Interpretationen auf- erlegt, doch standen auch diese stets in Zusammenhang mit erst später verfass- ten Mythen oder theologischen Lehren

81

sich schliesslich im Rahmen der mittel- konnte. Wie den Texten zu entnehmen alterlichen Literatur etablieren konnte. ist, wurden später auch die phallus-för- migen Objekte in die etablierte Lehre und Ritualtätigkeit aufgenommen (Ho- zunächst die reichliche Evidenz anthro- henberger 2013: 80). In der Gupta-Zeit (ca. 3.-6. Jh. u. Z.) frühsten Exemplare zur selben Zeit wie Ikonographie schliesslich ihren Höhe- werden (Fleming 2009: 448). Ferner punkt. Nicht nur wurde die phallische konnte anhand Ausgrabungen festgehal- Gestalt nunmehr weitgehend vermieden, sondern die gesamte Darstellungsform im Laufe der Zeit auf dem gesamten indischen Subkontinent erheblichen gängigen philosophischen und theo- Zuwachs erfuhr, woraus eine tenden- ziell grösser werdende Popularität und Diese Entwicklung wird ferner durch die Schaffung von Texten bestätigt, die sich Kults geschlossen wird. Eine weitere interessante Entwicklung, die sich über seiner Herkunft, seiner richtigen Errich- denselben Zeitrahmen erstreckt, beruht tung und korrekten Verehrungsform be- schäftigen. Mit letzteren zwei Punkten - setzen sich im Besonderen die bereits stellungsform im Rahmen der neuen Produktionsschübe weg von ihrem ur- sprünglich phallischen Charakter, hin zu einer mehr abstrakten Gestalt (vgl. Fig. (Fleming 2009: 449). 9 in: v. Mitterwallner 1984: 19). In die- sem Kontext haben einige Autoren dar- Mythologie auf verwiesen, dass die ikonographische - meinen Unwohlsein seitens der brahma- - nischen Elite in Bezug auf die sexuellen reiche Geschichten verwiesen, die in Implikationen der Phallus-Darstellung - zusammenhängen könnte (Hohenberger 2013: 80). Demnach behauptet auch Fle- Die im Mittelalter niedergeschriebenen seiner abstrakten Form von der breiteren Geschichten liefern ein mythisches Er- klärungsmodell für die Herkunft und 82

Schilderungen beschränken sich auf die Kerngeschichte, die den unterschiedli- - chen Fassungen unterliegt. dadurch erneut Gefallen an ihnen. Die Geschichte endet mit der Wiedererrich- Tages in Gestalt eines bettelnden As- tung der kosmischen Ordnung durch das umherwandert, als er auf eine Einsie- delei stösst, die von Weisen und deren Die Geschichte erzählt von einem Streit Bewohnern nicht zu erkennen gibt und sich mit aufgerichtetem Geschlechtsor- die darüber debattieren, welcher der bei- gan präsentiert, ruft durch sein Auftreten den der Grössere sei. Plötzlich erstrahlt die Empörung der Einsiedler hervor. So in ihrer Mitte eine prachtvolle Feuersäu- wird in den meisten Erzählungen weiter le, die ohne ersichtliches Ende in Erde ausgeführt, dass die Frauen der Ein- und Himmel hineindringt. Verwundert über die mächtigen Ausmasse des Feu- ausstrahlender Männlichkeit ergriffen werden und Zeichen ihres sexuellen jeweils nach einem der beiden Enden zu Verlangens nach ihm vorweisen. Blind suchen, wobei der schnellere der beiden vor Eifersucht beginnen die Weisen den sich als der mächtigere Gott offenba- ren würde. Da machen sich die beiden führt. An dieser Stelle unterscheiden sich die meisten Fassungen darin, ob in die höchsten Himmelsphären, wäh- den untersten Erdschichten gräbt. Doch beide versagen, denn die Feuersäule hat - ten einer kosmischen Unordnung nach beginnt diesen als allerhöchsten Gott zu aufsuchen, um ihn um Rat und Beistand hinters Licht und behauptet, das unters- - te Ende gefunden zu haben, woraufhin siedlern, dass der nackte Asket niemand 83

ihn als Betrüger entlarvt. In einigen Ver- cher Kernpunkt beider Mythen stellt - hin bestraft, indem ihm das Anrecht auf die durch die kosmische Wirkkraft bzw. eine eigene Anhängerschaft und eigene - Tempel auf der Welt verwehrt bleibt. Die druck kommt. Eine weitere zentrale Bedeutung dieser als mächtigster Gott (Fleming 2009: Mythen ist in Bezug auf ihre Vorbild- 449). funktion für lokale und regionale Kulte Vergleicht man die beiden Mythen fassbar. So gelten beide Geschichten fer- miteinander, so ist in mancher Hin- ner als Inspiration für zahlreiche lokale sicht eine unterschiedliche Sichtweise und regionale Überlieferungstraditio- nen, die meistens an einen bestimmten Tempel oder eine bestimmte Ortschaft gebunden sind. So können etwa in den Phallus stellt und in gewisser Weise Überlieferungsgeschichten gewisser südindischer Tempel oftmals Aspekte Verehrungsobjekt vorgibt, betont der - wiedergefunden werden (Fleming 2009: überbietbare und unfassbare Grösse des 450). Die Einbindung solcher Elemente in tamilische Überlieferungstraditionen endlosen Feuersäule auftritt. Inhaltli- ist das Thema des folgenden Kapitels.

Tamilische Überlieferungstraditionen Wie bereits erwähnt wurden Aspekte aus pan-indischen Mythen nicht selten von regionalen Traditionen aufgegriffen - ten eingebunden. Die Verlinkung zur Ortschaft wurde üblicherweise so herge- stellt, dass diese in der Geschichte selbst auftrat, indem sie beispielsweise zum Schauplatz einer bestimmten Episode stellen besonders die tamilischen Über- lieferungen einen sehr reichen Text- 84

Rubinen wurde. Im vierten und letzten Zeitalter, dem gegenwärtigen kaliyuga, wurden die Rubinen schliesslich zu vul- kanischem Gestein, wodurch die heutige erklärt wird (Coquet 2002: 122)4. Da die Mehrzahl tamilischer Mythen in enger Verbindung mit lokalen Tempeln oder Ortschaften verfasst wurde, führte dies üblicherweise zunächst zur direkten Verehrung des Tempels bzw. Ortes und Tiruvannamalai anschliessend zur Herausbildung festge- Mythologie intensiv weiterentwickelt legter Pilgerrouten (Shulman 1980: 17). wurde (Bisshop 2009: 751). Diese Wer- im Laufe der Zeit in grössere Werke eingebunden, die in Zusammenhang - mit gewissen Pilgertraditionen entstan- weils in Verbindung mit einer heiligen den (Fleming 2009: 451). In Bezug auf Stätte aus der Tamil Region komponiert und dienen grundsätzlich dazu, den ört- vor allem das Koordinatensystem der lichen Anspruch auf Heiligkeit zu legiti- mieren (Shulman 1980: 4). Ein Beispiel handelt sich hierbei um „die fünf gros- - namalai (Tamilnadu) eine besondere Be- unserer Studienreise bestiegen (siehe dazu Abb. 5). Der an Tiruvannamalai angrenzende Berg hierbei als der Ort beschrieben, an Berg wird nach wie vor von zahlreichen Pilgern und Einheimischen sowie in- und ausländischen Touristen besucht. Während der Berg für einige als Ort des Rückzugs und Feuersäule erschienen ist (Hohenberger der Meditation gilt, wirkt er auf andere be- sonders aufgrund seiner grosszügigen mor- 2013: 80). In diesem Sinne wird ferner gendlichen Aussicht auf die Stadt anziehend. - Der in Tiruvannamalai gelegene Ramana Maharishi ashram gibt ferner darüber Aus- duistischer Zeitrechnung im ersten Zeit- - alter einem Feuerberg gleichkam, der im rückzugsort Ramanas war, der ihn gar als zweiten Zeitalter zu einem Berg aus Dia- „das geistige Herz der Welt“ (siehe auch: Sri Ramana Maharishi Webpage) bezeichnete. manten und im dritten zu einem Berg aus Berges siehe ferner: Coquet 1996. 85

- Cidambaram (Tamilnadu), das appu- dische Wurzeln aufweist und an anderen (Tamilnadu), das agni- ausgeführt wird, besteht darin, dass eine wird. Zeitgleich werden bestimmte ve- Berges in Tiruvannamalai (Tamilnadu), dische Hymnen rezitiert (Hohenberger 2013: 78-79). Ein letzter Aspekt, auf den ich an die- ser Stelle eingehen möchte, betrifft den Pradesh) (Malinar 2009: 167). Die Ver- - sche Tempelkunst. So wurde parallel zur die Gläubigen als besonders verdienst- bereits erwähnten Standardisierung der voll. Ein in diesem Zusammenhang be- deutendes Ritual umfasst die Waschung Dynastie im indischen Mittelalter auch

86

die Ikonographie einzelner anthropo- morpher Gottesvorstellungen einer pan- Tanz die ihm durch die Weisen aus dem indischen Standardisierung unterzogen. Pinienwald zugeworfenen magischen Waffen auffängt und zu Attributen sei- - nes Tanzes werden lässt (Bisshop 2009: 753). In diesem Sinne gilt ferner auch Einbindung und Weiterentwicklung pan- indischer Mythos-Elemente im Rahmen Eine weitere für Tamilnadu im Beson- regionaler Traditionen Tamilnadus. deren bezeichnende Darstellung des als König des Tanzes. Diese Darstel- lung kann auf eine tamilische Fassung

87

Bibliographie Deities, Leiden/Boston: Brill, 741-754. Coquet Michael (1996): Arunâchala. La montagne de Shiva, Paris Les Deux Océans. Coquet, Michael (2002): Linga. Le Signe de Shiva, Paris: Les Deux Océans. Religion Compass Vol. 3, No. 3, 440-458. Symbols. Hinduism and Migration: Contemporary Communities outside South Asia. Some Modern Religious Groups and Teachers, Leiden/Boston: Brill, 72-81. Jansen, Eva Rudy (2009): Die Bildersprache des Hinduismus. Göttinnen und Götter, Erscheinungsformen und Bedeutungen, Haarlem: Binkey Kok Publications. Marshall, John: (1931): Mohenjo Daro and the Indus Civilization, Vol. 1, London: Arthur Probsthain. Religious Specialists. Religious Traditions. Philosophy, Leiden/Boston: Brill, 378-392. - Symposium on the Nature of Religious Imagery, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 12-31. Mudaliyar, S. Sabaratna (1913): Shiva Linga, in: Light of Truth, Vol. 13, No.10. = in: Webseite von Malayisa Hindudharma Mamandram (http://www.mamandram.org/shiva/lecture-on-shiva-linga.html [05.11.2013]). Princeton/New Jersey: Princeton University Press. Sivananda, Swami (1996): Lord Siva and His Worship, Shivanandanagar: The Divine Life Society. = in: Webseite von The Divine Life Society (http://www.dlshq.org/download/lordsiva.htm [05.11.2013]).

Internetquellen Sri Ramana Maharishi Webpage: http://www.sriramanamaharshi.org/de/ (Stand: 01.04.2014).

Abbildungsverzeichnis 3, 450. Places. Lingas and Rituals in Benares, Uenzen: Verlag Peter Hess, 98. 88

stellung der Stadt wird durch eine Viel- Ein unvergleichliches Beispiel früher zahl bedeutsamer Tempel Ausdruck verliehen. Ihre Ursprünge reichen vom Höhepunkt der Pallava-Bauzeit bis ins Beitrag von Patricia Kurt 17. Jahrhundert, wo die Ausschmückung - len (typisch für Vijayanagar-Könige) am grössten waren (vgl. Abram 2002: „Stadt der tausend Tempel“ auch Stadt der tausend Tempel genannt. - 4. Jh. n. Chr. 500 Jahre lang könig- liche Hauptstadt, und gilt bis heu- 1 2 als eine der sieben heiligsten Städte des Westende der Stadt, auf den ich mich Subkontinents. Zudem stellt sie eines der in meinen weiteren Ausführungen kon- wenigen verbliebenen Zentren des Göt- zentrieren werde, aber auch der grosse Ekambareshvara-Tempel im nordöstli- - chen Stadtteil. Im südöstlichen Stadtteil, der, den Pallava-Königen, welche als Wegbereiter der südindischen Tempel- grosse Tempel aus der Vijayanagar-Zeit, architektur und Skulptur-Baukunst gel- z.B. der Vadaraja-Tempel und der Vaik- ten. Auch vom 10. bis zum 17. Jh. - der untha-Perumal-Tempel im Stadtzent- Chola-, Pandya- und Vijayanagar-Zeit - war die Stadt nicht unbedeutend, wobei 2002: 408). immer wieder neue Tempel entstanden und bereits bestehende umgebaut oder Zum Baustil der Pallava – Herrscher erweitert wurden. Mit dem Einzug der Frühe Zeugnisse des zu Pallava-Zeiten Engländer, v.a. aber durch den Krieg entstandenen Baustils (genannt dravida) zwischen Haidar Ali und den Briten am sind die sogenannten mandapas. Das ein- Ende des 18. Jh. nahmen einige Tempel malige Flachrelief von , erheblichen Schaden (vgl. Michell 1993: Arjuna’s Penance, ist ein hervorragen- 20). des Beispiel solcher aus einem einzigen Der andauernden politischen Vormacht- Felsen gehauener Schreine. Diese Bild- haukunst wurde dann auf freistehende Tempel, sogenannte ráthas, übertragen, 89

die ebenfalls aus einem einzigen Stein rückzuführen (vgl. Abram 2002: 557). gehauen wurden. Diese ráthas vereinten die wesentlichen Elemente der Hindu- Tempel: Ein mit sich wiederholenden Tempel nach dem Vorbild des heiligen architektonischen Motiven ausgestatte- Berges Kailas zu bauen, der im Hinduis- ter Spitzturm krönt ein inneres, dunkles Heiligtum. An Stelle der hohen Dächer erinnert die grobe Struktur der Aussen- der ráthas traten später des öfteren Tem- wände des Sanktuariums an die Mulden und Höcker des Berges Kaila (vgl. Nara- - yanaswamy 1999: 63). pischster und populärster Pallava-Tem- Allgemein sind die Bauwerke der Palla- pel gilt, wird von einer solchen pyra- va-Könige dadurch gekennzeichnet, dass sich verschiedene Teile durch sorgfältige Abram 2002: 139-159). Planung repetitiver Ideen und Formen zu einem Ganzen zusammenfügen. Ein zentrales Motiv in den Skulptu- Entstehungsgeschichte und allgemei- ren und Paneelen des Tempels ist das ne Situierung Der sich etwa 1 km westlich vom - mahlin Uma und seinem Sohn Skanda Tempel gilt als schönstes Beispiel der zeigt. Das sich ständig wiederholende Pallava-Architektur. Er wurde bereits Sujet bestätigt, dass sich der Erbauer am Anfang des 8. Jh. vom Pallava-Kö- - da, einem mit Krieg assoziierten Gott sich durch seine bescheidene Grösse - und seine schlichten Bildhauereien von numentale Bauwerk als Demonstration den später erbauten Tempeln der Stadt. der königlichen Grösse des Monarchen gesehen werden (vgl. Michell 1993: 23). im März, das den Schrein jeweils zum Mittelpunkt ausgelassenen Feierns wer- Zum Aufbau der Tempelanlage den lässt, ist es hier eher ruhiger als Das Sanktuarium wird von einer recht- eckigen Mauer, bestehend aus über - fünfzig aneinandergereihten Subschrei- chem Sandstein errichtet, ist aber trotz- nen, umfasst, einem typischen Element dem bemerkenswert intakt geblieben. früher südindischer Tempelbaukunst. Dies ist vermutlich auf seine vor Wind- Am Fussende dieser Umfassungsmauer und Sanderosion geschützte Lage zu- wurden in drei verschiedenen Schrif- 90

ten über dreihundert Titel des Erbauers - - - ser Subschreine sind in Grösse und Form über, auf dem südlichen Aussenschrein identisch; sie sind zweistöckig und wei- - sen einen Hohlraum mit (bereits erwähn- Kardinalschrein am Nordabschnitt der (Uma) und ihren Söhnen auf (vgl. Abram 2002: 557). Sie werden von einer runden Shridevi und Bhudevi (Göttinnen, wel- oder achteckigen Dachvorkehrung be- Reichtum und Erde) sowie Trivikrama. Diejenigen Schreine der Umfassungs- Sie korrespondieren wiederum mit der mauer, welche sich in einer Linie mit - dem Zentrum des Sanktuariums, dem gishvara), der sich auf dem nördlichen - wertere Form auf als die restlichen Sub- Diese Paarbildungen werden als Aus- schreine der Mauer. Diese Schreine sind nach den Kardinallinien ausgerichtet, - weshalb ich sie ab jetzt Kardinalschreine pretiert, und können somit auch als eine nennen werde. Ihre Frontsäulen basieren verschlüsselte Repräsentation theologi- scher, liturgischer und sozialer Begeben- während jene der übrigen Mauerschreine yali-Motive (mythische Löwe) zeigen. werden (vgl. Michell 1993: 23-24). Der Der Kardinalschrein im Südabschnitt dritte Kardinalschrein auf der Westseite der Mauer (also gegen Norden blickend) der Mauer ähnelt den beiden bereits er-

Abbildung 1: Grundriss der Tempelanlage 91

Abbildung 2: Abschnitt der Umfassungsmauer

liegt im Osten, von wo man ein typisches jedoch darauf hin, dass es sich hierbei - um einen früheren Zugang zum Tem- pelareal handelt, der aber schon lange zugemauert wurde. Reliefs der Flüsse Ganga und Yamuna. Der bei weitem auffälligste Kardinal- Die westliche Aussenseite des Schreins schrein ist jedoch eindeutig das von ziert ein grosses Relief eines Königs- - - baute Heiligtum an der Ostseite der Um- ne Gemahlin), die in Richtung Tempel fassungsmauer. Die östliche Ausrichtung blicken (vgl. Surendar 2010: 85). Der des Tempels lässt vermuten, dass es sich Mahendravarman-Schrein wird von ei- hierbei um den Haupteingang zum Tem- ner Mauer umzogen, die etwas tiefer pelareal handeln muss. Die Tatsache, ist als die Hauptumfassungsmauer, und dass an diesen Eintrittsstellen üblicher- weitere kleine Schreine aufweist. Durch Öffnungen links und rechts des Schreins betritt man den eigentlichen Tempelhof Tempel zu einer Ausnahme. Der Ein- (vgl. Harle 1995: 14-15). gang zum Mahendravarman-Schrein Die ursprüngliche Säulenhalle (manda- 92

(Göttinnen) Skulpturen bildet die Haupt- säulenhalle das feminine Gegengewicht - rendar 2010: 85).

dem Mittelpunkt und Hauptsanktuarium der Anlage: vierstöckige, nach Osten ausgerichtete Konstruktion, die von einem achtecki- Abbildung 3: Südseite des Mahendravarman - Schreins wird. Sieben aneinandergrenzende Sub- pa) war dem Sanktuarium am Ostende schreine mit je eigenen Eingängen um- der Plattform gegenübergestellt. Manda- runden das Sanktuarium. Sie werden pa und Tempel wurden aber im 16. Jh. von krokodilförmigen makaratoranas durch eine zweite mandapa verbunden. überdacht. Im Inneren dieser Nischen Die ältere mandapa hat Torwächter; die

93

- den Subschreine, die den Eingang zum - der Lehrer) an der Südaussenseite der Ebenso der Yogishvara an der Nordseite des Tempelturmes, den ich auch bereits genannt habe. Die anderen Schreine zei- - - ges (vgl. Surendar 2010: 85). Das innere des Sanktuariums ist dunkel: Die angebrachten Öllampen spenden nur wenig Licht. Das zentrale Heilig- der Mitte des Tempels: ein schwarzglän- zender shodasakona (sechzehn-eckiger) bemalt gewesen sein mussten. Heute beim Mahendravarman-Schrein, ein Rückstände (vgl. Narayanaswamy 1999: 63-67). Von den sich ausserhalb der Tempel- - ben. Zwischen dieser und der äusseren weiteren mandapa haben lediglich ein zirkulärer Wandelraum (vgl. Michell 1993: 25). Die Wände des Tempelin- neren gehören zu den am reichsten ge- in Richtung Tempelareal gerichtet, mit schmückten in Indien überhaupt. Sie zei- unmittelbarem Blick auf das Sanktuari- um. Offenbar kommt ihm dort die Rolle aber auch Mythen und verschiedenste eines aufmerksamen Überwachers zu. Götterformationen. Die innere und äus- sere Wand weist Zellen mit grossen und kleinen Bildern auf. Man geht davon Herrscher nachfolgender Dynastien in aus, dass diese alle ursprünglich farbig 94

vor den architektonischen Leistungen mandapa und dem Hauptschrein wurde der Pallava-Könige. Als der Chalukya- durch Restaurationsarbeit nur wenig ver- ändert (vgl. Surendar 2010: 67-68). so beeindruckt, dass es weder zu Plün- derungen noch Verwüstungen am Kunst- werk kam. Um einen Teil der Grossar- tigkeit des Tempels abzubekommen, hinterliess er Inschriften auf den Säulen der mandapa, in denen er stolz seinen Auch keine der nachfolgenden Herr- scher (z.B. Chola-Könige) wagten es, den angesehenen Tempel in grossem Stil zu verändern, was wesentlich zu seinem heute noch sehr ursprünglichen Zustand beitrug. Abgesehen von der Verbin- dungshalle zwischen der ursprünglichen

95

Bibliographie Abram, David u.a. (2002): Indien. Der Süden, Köln: DuMont Reiseverlag, 149-150, 555-557. Asher, Frederick (Hg.) (2002): Art of India. Prehistory to the Present, Chicago: Endyclopedia Britannica, 408. Harle, James (1995): Temple Gateways in South India. The Architecture and Iconography of the Cidambaram Gopuras, Neu- Michell, George (Hg.) (1993): Temple Towns of Tamil Nadu, Mumbai: Marg Publications, 18-25. Narayanaswamy, S. (Hg.) (1999): Kanchi. The city of Temples, Chennai: Manivasagar Pathippagam, 63-68. Surendar, Sahai (2010): Temples of South India, Neu-Delhi: Prakash Books India Pvt. Ltd., 81-88.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Grundriss der Tempelanlage Harle, James (1995): Temple Gateways in South India. The Architecture and Iconography of the Cidambaram Gopuras, Neu- Abbildung 2: Abschnitt der Umfassungsmauer http://scriptures.ru/india/tamilnadu/kanchipuram/kailasanatha006.jpg (Stand: 10.11.2013) http://scriptures.ru/india/tamilnadu/kanchipuram/kanchipuram118.jpg (Stand: 10.11.2013) http://users.unimi.it/india/gallery/kailasanatha/kailasanatha.html (Stand: 10.11.1013) http://scriptures.ru/india/tamilnadu/kanchipuram/kanchipuram128.jpg (Stand: 10.11.2013) 96

Abb. 1: Sicht auf den Arunachaleshvara-Tempel bzw. Annamalaiyar-Tempel

Arunachaleshvara Tempel Tempel ist der Hauptgottheit Shiva ge (oder Annamalaiyar Tempel) widmet und ist einer der Tempel, die den in Tiruvannamalai fünf Elementen Erde (in Kanchipuram), Luft (in Kalahasti), Wasser (in Tiruvan- Beitrag von Judith Stutz naikoil), Äther (in Chidambaram) und Feuer (in Tiruvannamalai) zugeordnet werden (Michell 2008: 42). Lord Shiva wird hier im Element des Feuers (agni), Allgemeine Fakten zum Tempel genauer als Feuersäule (jyoti) verehrt und in Form des lingam (Phallussymbol) am Fusse des heiligen Berges Arunacha- dargestellt. Shivas Frau Parvati wird un- la (800 m hoch) der Arunachaleshvara ter dem Namen Unnamulai Amman im Tempel, der einer der grössten hinduis- Tempel mitverehrt. tischen Tempelkomplexe in ganz Indien Diese zwei ikonographische Darstellun- ist (erstreckt sich über ca. 10 ha.) Der gen von Shiva illustrieren auch seine Name des Tempels Arunachaleshvara zwei göttlichen Aspekte: Shiva als Yogi ist eine Sanskrit-Transliteration des vor (lingam) und Shiva (in menschlicher Ort gebräuchlichen tamilischen Namens Form) mit seiner Shakti Parvati (Michell Annamalaiyar, wie auch der Berg auf Ta- 2008: 42). 1 milisch Annamalai genannt wird. Der tamilische Name, in der wissenschaftlichen 1 Dies gilt es zu beachten, wenn man im Literatur hingegen eher der Sanskrit Begriff Internet Recherche treibt, da dort v.a. der gebräuchlich ist. Arunachaleshvara Tempel 97

Abb. 2: Agni lingam

Entstehung des Tempels liche Präsenz empfunden hat, ist nicht In der folgenden Darstellung wird der bekannt; man nimmt jedoch an, noch chronologische Ablauf der Entwicklung bevor im 7. Jh. Shivaitische Heilige den zu Tempel-und Stadtbau ersichtlich: Ort priesen. Der Heilige Berg Arunach- Interessanterweise entstand der Tempel ala bzw. Annamalai wurde mit der ritu- nicht innerhalb der Stadt Tiruvannama- ellen Umschreitung im Uhrzeigersinn, lai, sondern gerade umgekehrt: Eine Be- der pradakshina, von den Gläubigen als siedlung und Stadt entstand wegen des Repräsentation von Shiva verehrt. (Die heiligen Ortes! Die genaue Datierung, Umschreitungsroute ist 14 km lang und seit wann man an diesem Ort eine gött- ist gesäumt von verschiedenen Statio- nen, bei denen sich je nach dem Was- serbassins, Ausruhorte der Gottheit(en), Ende des 9. Jh. anfangs des 10. Jh. wurde am Fuss des Berges der Tempel bzw. der älteste Zentralschrein errichtet, um den herum eine Ansiedlung und mit der Zeit eine Stadt mit Strassen entstand. Der karge Boden des Umlandes konnte mit Hilfe von dem in Tanks gesammelten Abb. 3: Shiva und Parvati bzw. Annamalaiyar Bergwasser bewässert werden (Michell und Unnamulai Amman 2008: 42). Arunachaleshvara Tempel 98

Abb. 4: Entstehung des Tempels und der Stadt

Der Tempel wurde in späteren Jahr- sehen ist. hunderten immer wieder ausgebaut und Heute gibt es in- und ausserhalb der mit neuen Umfassungsmauern ergänzt. Stadt etwa 150 Tempel und viele ver- Auch die Stadt selbst wuchs von 10‘000 schiedene Wasser-bassins für die rituel- Einwohner im 19. Jh. zu 100‘000 Ein- len Waschungen. Der Arunachalashve- wohner im Jahre 1996 an. Positiv für das Stadtwachstum war die Lage an ei- traditionelle Pilgerrouten mit anderen nem Kreuzungspunkt zweier wichtiger Tempeln in Tamil Nadu verbunden. Strassen, welche ab dem 15. Jh. auch Religiöse Gründungslegenden eine militärische Bedeutung spielten. Natürlich gibt es auch eine religiöse Unter der pax britannica der Britischen Geschichte, welche die Entstehung des Kolonialzeit hat die Stadt diese strategi- heiligen Berges - und daher auch des sche Funktion verloren und beschränkt Tempels als dessen Abbild - erklärt. Fol- sich nun auf ihre religiöse Rolle und als gende Geschichte ist aus einem in Bom- Marktzentrum (L’Hérnault 1990: 2 des bay im Jahre 1964 publizierten Buch entnommen (neu aufgelegt 1991), das ich die Feststellung, dass die angelegten für das indische Publikum alle Legen- Verkehrsstrassen wie auch die Eisen- den rund um die Tempeln in Tamil Nadu bahnlinie die religiöse pradakshina-Rou- sammelt und erzählt. te nie kreuzen - wie auf der Graphik zu Arunachaleshvara Tempel 99

Abb. 5: Pradakshina-Route um den Berg Arunachala

Die Legende geht folgendermassen: „Once Brahma and Vishnu quar- relled for ascertaining the superio- - Arunachala Hill. This is origin of the Hill.“ (Das 1991: 205) Arunachaleshvara Tempel 100

Die Legende erzählt nicht nur, dass Shiva (nimisha) geschlossen. Da nimisha als sozusagen „lachender Dritte“ bei die- sem Streit um Überlegenheit hervorgeht, - sondern auch, dass er in verschiedenen Formen und Repräsentationen wie Feu- ersäule (jyoti), sthavara linga und Aruna- irdischen Ort manifestiert hat. Eine andere Version der Gründungsle- gende bringt Shivas Gemahlin Parvati mit ins Spiel und erklärt auch den Ur- - sprung des religiösen Hauptfestes in Ti- ruvannamalai. - - - te den lingam aus Sand retten und auf den lingam hinterliess. Eine un- - nun in der Nähe des Arunachala Berg - nach Das 1991: 205 f.)

An Erinnerung an die Repräsentation Shivas als Feuersäule (jyoti) wird in Ti- ruvannamalai als wichtigstes Hauptfest Karthigai Deepam 10 Tage lang gefei- Abb. 6: Parvati drückt den lingam an ihr Herz ert. Dabei wird auf der Höhe des Berges Arunachaleshvara Tempel 101

Abb. 7: Shiva und Parvati mit der Jyoti auf der Bergspitze im Hintergrund ein riesiges Feuer - eine Art Lampe mit sodass der Eingang und die glücksbrin- einem Kessel, der 3 Tonnen Butterfett ghee enthält - entzündet. Der Schein Westen und Süden sind die gefährlichen davon sei, so meint Das, kilometerweit Gottheiten angesiedelt. zu sehen. Die Festgottheit Annamalai- Zweites Prinzip ist eine konzentrische yar wird in einem Tempelwagen auf der Anordnung, die im Mikrokosmos der pradakshina-Route um den Berg herum- Tempelanlage das Universum als Mak- geführt. rokosmos abbilden soll. In der Mitte des Kosmos ist das innerste Heiligtum, die Aufbau des Tempelkomplexes sogenannte „Schosskammer“ (garbhag- Wie üblich bei den hinduistischen Tem- rih) (Michell 1991: 76), und beherbergt peln orientiert sich der Arunachaleshva- die Hauptgottheit Shiva. Konzentrisch ra-Tempel auch an zwei Hauptprinzipi- darum herum sind die Umfassungsmau- en: ern (prakara) angelegt. Erstens an den Himmelsrichtungen mit Der Arunachaleshvara-Tempel ist dem- ihren zugeschriebenen Werten: Der gemäss ostwärts ausgerichtet und die Norden und Osten gelten als wohltätig, äussersten Mauern bilden ein grosses Arunachaleshvara Tempel 102

Viereck mit einer Länge von 465 m fünfte prakara verstanden und wenn man und einer Breite von 225 m (L’Hérnault die Autostrasse um den Tempelkomplex 1991: 2 des Vorworts). Die Längsachse und die Pilgerroute um den Berg mit- ist von der West-Ost Ausrichtungslinie rechnet, kann man auf die ideale Zahl aber um 13° verschoben. Es wird an- sieben kommen. Die erste prakara ist genommen, dass dies bewusst gemacht wegen Umbauten während den Jahrhun- wurde, um sich am Tag des Tempelbaus derten nicht klar ersichtlich, wird heute an der aufgehenden Sonne auszurichten. von den Priestern aber als die niedrige Das wäre dann nach Berechnungen ent- Plattform um den Shiva-Schrein herum weder der 16. Februar oder der 24. Okto- verstanden (ebd.). ber gewesen (ebd.). Innerhalb der Tempelanlage sind Was- An jeder Mauerseite steht ein Ein- serbecken für die rituelle Waschung, gangsturm, genannt gopura. Der östliche Hallen und verschieden Schreine für gopura, durch den der Tempel betreten wird, ist mit elf reich verzierten Stock- zum innersten Heiligtum praktiziert man werken und einer Höhe von 66 m der wiederum pradakshina und umwandelt grösste. Weitere Umfassungsmauern mit entlang der prakara im Uhrzeigersinn oder ohne gopura folgen. Üblicherweise die verschiedenen Bereiche und begeg- zählt man diese prakara vom innersten net dabei den verschiedenen Gottheiten Heiligtum her nach aussen und sollte der in den Schreinen. Im Zentrum ist der Tradition folgend eine ungerade Zahl darstellen. Hier beim Arunachaleshvara- mit einem verhältnismässig kleinem Tempel wird die äusserste Mauer als Turm, der im typischen südindischen,

Abb. 8: Der Arunachaleshvara-Tempel aus der Vogelperspektive Arunachaleshvara Tempel 103

dravidischen Stil gebaut ist. Hier wird dies architektonisch nachgebildet. Diese die Gleichsetzung von Tempel und Berg architektonische Gegebenheit kann aber besonders augenfällig und wird auch auch als persönlicher innerer Weg des wörtlich als shikhara (Bergspitze oder Gläubigen verstanden werden, der durch Gipfel) bezeichnet (Michell 1991: 86. hohe Tore und viele Mauern, die immer paraphr.). Vor dem Hauptschrein in ei- weniger werden, sich der Gottheit nähert und im innersten dunklen zentralen Hei- Reittier von Shiva, der Bulle Nandi, so- ligtum anlangt und ihr begegnet. zusagen mit Blickkontakt zu Shiva. - vom Haupttempel zu den Eingangstür- men gopuras gut zu sehen. Mit dem Ver- - ständnis, dass die göttliche Energie vom Tempel als Zentrum der Welt den Raum - in seiner Intensität zunimmt - im Gegen- satz zur menschlichen Wahrnehmung, dass mit der zunehmenden Distanz attained“ Sicht, Stimme, Kraft etc. abnimmt - wird (L’Hérnault 1990: 2A des Vorworts)

Abb. 9: Vor dem Eingang in den Tempelbezirk: der östliche gopura Arunachaleshvara Tempel 104

Im Folgenden soll noch eine Art „religi- der Sikhs, Kopftuch der Musliminnen, öser Knigge“ aufgeführt werden, den ich christlicher Nonnenschleier etc.) als sehr hilfreich für die Tempelbesuche auf unserer Studienreise erachte. kurzen Hosen für beide Geschlechter, Frauen sollten Beine möglichst bedeckt Religiöser Knigge für den halten, Arme dürfen frei sein, westliche Tempelbesuch Frauen dürfen Hosen tragen, Bluse und (Baumann 2011: 164-170 paraphrasiert) T-Shirt sollten über dem Rock oder der Wir betreten den Tempel: Hose getragen werden, bauchfreie Tops sind nicht angebracht. aus. InderInnen dies nicht machen). werden. (Am Einfachsten werden die Zigaretten Empfehlungen für die zusätzliche ritu- in die Schuhe gesteckt.) elle Reinheit, nach der man aber nicht gefragt wird: getragen werden . - - schen Gründen). ckungen z.B. jüdische Kippa, Turbane

Abb. 10: Südfassade des Hauptschreins mit dem dravidischen vimana-Turm Arunachaleshvara Tempel 105

- das Bleiben bis zum Schluss gilt als besuch verschieben. Wie verhalten wir uns im Tempel? - auf der linken, die Männer auf der rech- heit und seinem zugeordneten Reittier ten Seite (dasselbe beim Sitzen auf dem sollte man nicht stehen. (Blickkontakt Boden). und Atemstrom zwischen Gott und Tier soll nicht unterbrochen werden. Ver- nicht herumgehen. gleich: Zwischen zwei miteinander spre- chenden Menschen geht man auch nicht vollziehen, darf aber, wenn man möchte. hindurch.) Sonst hinten im Tempel stehen bleiben (nicht mit Rücken zu Gottheiten). Schreine werden nur von den Priestern betreten. Puja-Rituale: Der Priester bringt der Gottheit Wohlgerüche und Licht (Öllampen, Lampen Nicht darauf stehen oder sitzen. mit brennendem weissen Kampfer), Blumen, Wasser, Früchte (Bananen, Kokosnüsse) und - Klänge (Musik, Glocken) dar. Dazu rezitiert schreiten. er Mantren, heilige Texte in Sanskrit. Als - Abschluss der jeweiligen Zeremonie, die in ne/Fusssohlen gegen eine Gottheit rich- oder vor jedem Schrein wiederholt wird, op- ten! fert der Priester karpura mit einer Lampe, d. Gilt übrigens auch gegenüber Menschen h. er bewegt die Lampe vor der Bildgestalt. Anschliessend wird sie den Gläubigen ge- reicht (erhalten so einen Segen). Beide Hän- Gottesdienst - die Puja: de werden kurz über die Flammen gehalten - und dann die Augen und das Gesicht berührt handlung ist nicht unbedingt nötig, aber (Brille abnehmen). Priester gibt den Gläubi- Arunachaleshvara Tempel 106

gen verschiedene Pulver in die rechte geöff- wie z. B. im Brill’s Encyclopedia of Hin- nete Hand, darunter liegt die linke. Das Pulver duism unter dem Titel „Temple: Form wird in die linke Hand umgeschüttet und da- and Function“. mit mit der rechten Hand je nach Pulver einen Leslie C. Orr, die diesen Artikel schreibt, Strich an der Stirn und am Hals gemacht, oder beginnt mit der „Architectural History“ einen Punkt an der Stirn. Möglicher Pulver- und stellt die wichtigsten und auch neu- rest in den Händen verreiben und niemals auf esten Werke und Forschungen in Bezug den Boden streuen. Ausgeteilte Blütenblätter auf hinduistische Tempel vor. Darin (puspam) werden über das rechte Ohr ge- kritisiert sie aber auch die aus dem 19. steckt. Der Priester (bzw. Helfer) teilt auch Jh. stammende zu starke Fokussierung gesüsste Milch (ditam) in die rechte Hand auf die Chronologie, um ein religiöses aus, diese wird direkt aus der Hand getrunken. - Baustilen, religiösen Traditionen (hin- dam (=gesegnete Opferspeise) genom- duistisch, jainistisch, buddhistisch etc.) men zu haben, gilt als Sakrileg und sollte oder nach den königlichen Herrschern deshalb nur im Notfall getan werden. dieser Zeit. Leslie selbst wählt für ihre Ausführungen Kapitelüberschriften wie Diskussion der Literatur „The Temple as a Site or a Shrine“, „The Das Werk von George Michell „Der Hin- Temple Complex and the Lives of Temp- du Tempel. Baukunst einer Weltreligion“ les“, „The Performance of Worship and ist ein Einführungsbuch, sehr informativ the Uses of Space“, Symbolisme and und gut zu lesen, und im Dumont Ta- schenbuchverlag erschienen. Das Buch allein, sondern immer das Phänomen des „Temple Towns of Tamil Nadu“ ist ein „Hindu-Tempel“ im allgemeinen vorge- wunderschöner Bildband, in dem sechs stellt wird, ist die Lektüre eher dicht. Tempelstädte in Tamil Nadu von ver- Als Glücksfall erwies sich das fünfbän- schiedenen Autoren vorgestellt werden, dige Werk „Tiruvannamalai. Un lieu und Michell als Herausgeber nur das saint sivaite du sud de l’Inde“ von den Vorwort schrieb. Michell, ursprünglich Herausgebern L’Hervault, Pichard und Architekt aus Melbourne, promovierte Deloche erschienen im 1990. Es ist vom an der London School of Oriental and Institut français de Pondichéry / Ecole African Studies in indischer Archäolo- française d’Extrême-Orient ein Teamp- gie und gilt als einer der weltweit bes- ten Kenner der Hindu-Architektur. Seine eher religionsethnologischen Blick auf Unterscheidung in ‚Bedeutung des Tem- diesen Tempel im Kontext all seiner re- pel’ und ‚Formen des Tempels’ zieht sich ligionsgeschichtlichen, archäologischen, in der wissenschaftlichen Literatur durch soziologisch, ökonomischen etc. Aspek- Arunachaleshvara Tempel 107

ten. (Das Werk war im Völkerkundemu- suches der Tempelanlage im Januar 2014 ergänzt und die dabei getätigten Beob- analysieren alle Inschriften, die auf und achtungen und Erlebnisse der Autorin zur Sprache gebracht werden. dann folgt ein Band „L’Archéologie du site“ (aus dem ich viel zitiert und Gra- Wenn man den Tempel frühmorgens phiken übernommen habe), ein Band besucht, sieht man in der Vorhalle (sie- mit allen soziologischen Implikationen he weiter oben Abb. 9) noch einige wie Priesterschaft, Tempelpatronage etc. Menschen am Schlafen, die scheinbar und zuletzt, der fünfte Band „La Ville“ die Nacht dort verbracht haben. Rund- behandelt die geo-ökonomische Aspekte herum regt sich lebhaftes Markttreiben. der Stadt, ihren Einbezug in der Region, Viele Frauen und Männer verkaufen Pilgerströme usw. Opfergaben: Blumengirlanden, Kokos- Das indische Werk von Das über nüsse, Bananen etc. Von allen Seiten „Temples of Tamilnad“ ist an gläubige wird man gefragt, ob man nicht etwas Hindus gerichtet als Legendensammlung kaufen möchte, so dass man kaum Zeit zu allen heiligen Tempelorten. Im Buch - folgt nach dem Vorwort eine Meditation ten Sandalen deponiert werden können. und auch bezüglich Wortwahl wird viel Diese in der Tasche zu verstauen und religiöses Vokabular vorausgesetzt. Als sehr praktisch und empfehlenswert - gionen“ von Baumann, aus dem ich die für unsere Bedürfnisse beim künftigen Tempelbesuch in Tiruvannamalai Ver- haltenstipps entnommen habe. Christoph Peter Baumann selbst ist Religionswis- senschaftler und Indologe, lebt in Basel und ist auch Gründer und Betreiber der Inforel.ch-Seite auf dem Internet. (Nicht zu verwechseln mit Martin Baumann, der Professor für Religionswissenschaft an der Universität in Luzern ist.)

Besuch vor Ort Im Folgenden soll das Vorhergehende mit dem Bericht eines persönlichen Be- Abb. 12: Schlafender Sadhu Arunachaleshvara Tempel 108

Abb. 13: Opfergaben wie Blumengirlanden werden verkauft mit in den Tempel zu nehmen, wird vom In einem Teil der Säulenhalle ist eine Sicherheitsbeamten am Eingangstor, der Gedenkstätte für Ramana Maharishi alle Besucher und deren Taschen kont- (1879-1950) eingerichtet, dem berühmte rolliert, nicht toleriert. Die Schuhe bei Guru, der immer an dieser bestimmten einem Absperrgitter zu hinterlassen, Säule meditiert haben soll. (Sein Ash- scheint etwas riskant. Umstehende Leute ram, das sich auch in Tiruvannamalai Schuhdepot’. Dieses besteht darin, dass grossen Strom an Besuchern, Inder wie zwei Frauen, die am Boden einen Karton auch viele Leute aus dem Westen.) ausgebreitet haben, die Schuhe zu einem Nach der Tausend-Säulen-Halle kann Preis von drei Rupien bewachen. Nach- man durch eine Galerie schreitend in dem man die eindrucksvolle östliche einen Garten gehen, indem für Ganapi - nen grossen Innenhof mit verschiedenen Schreinen und linkerhand dem grossen tirtha (Wasserbecken). Innerhalb dieser - hand die grosse Tausend-Säulen-Halle, deren Treppenaufgang mit steinernen aus Reismehl geschmückt ist. Abb. 14: Treppe zur Tausend-Säulen-Halle Arunachaleshvara Tempel 109

(Ganesha) ein kleiner Schrein mit sei- nem zugehörigen Reittier (Ratte) steht und mehrere, farbig geschmückte Stein- zu sehen sind. Nach dem Durchschreiten der nächsten nächsten prakara. Linkerhand ist wieder- um eine tirtha zu sehen, die aber mit Git- ter so abgesperrt ist, dass die Gläubigen ihre rituelle Waschung nicht durchführen können. Rechterhand liegt die Hundert- Säulen-Halle. In Blickrichtung vor ei- nem ist die nächste und letzte gopura mit mehreren kleineren Schreinen auf im Schnittpunkt des Tempelbezirks und könnte die Anlage durch die je zwei seit- lich gelegenen gopuras wieder verlassen. Im nächsten Innenhof stehen wir nun vor Abb. 15: Sadhu auf der Treppe dem Heiligtum Shivas und davor liegt

Abb.16: Tempelplan: gopuras (schwarze Felder), prakaras (dicke Linien), thirtas (Vierecke) u. Säulen (Punkte) Arunachaleshvara Tempel 110

Abb. 17: Ganapi (Ganesha) - Schrein Abb. 17: Ganapi (Ganesha) - Schrein sein Reittier nandi unter einem Balda- wird. Hier in diesem letzten Innenhof chin. Dieses Heiligtum zu Betreten ist sind viele Menschen: eine Frauen-Pil- gergruppe, die gemeinsam Lieder singt, Zudem könnte man mit diesem Preis spielende Kinder, Sadhus und Brahma- von zwanzig Rupien sich eine günstige nen, Männer und Frauen, die am Boden Mahlzeit kaufen. oder auf den Stufen sitzen, sich ausruhen oder auch einfach den Sozialkontakt sich die Küche, wo die Opferspeisen, - welche für die Gottheiten zubereitet wer- schen, die sich auf den Boden knien und den. Rechts gibt es eine Anzahl mehrerer mit der Stirn die Steinplatten berühren kleiner Schreine verschiedener Gotthei- - ten, bei denen öfters einige Menschen gen, um ihrer Verehrung Ausdruck zu davor stehen, um an einer puja beizu- verleihen. wohnen. Etwas zurückversetzt, quasi zur Wenn man das Hauptheiligtum betritt, linken Seite Shivas bzw. Annamalaiyars das mit dem farbenprächtigen vimana Heiligtum seiner Gefährtin Parvati bzw. hat man sozusagen die zweite prakara Unnamulai Amman, wie sie hier genannt hinter sich gelassen. Dies realisiert man Arunachaleshvara Tempel 111

Abb. 19: Frauen-Pilgergruppe aber nicht, da alles überdacht wurde und von Absperrgitter in die verschiedenen daher als ein einziger Gebäudekomplex Kolonnen gewiesen. Auch hier wird wie- erscheint. der eine ökonomische Aufteilung vorge- Im Innern ist es düster, voll von Men- nommen: Es gibt eine Anstehkolonne, schen, eher stickig und man wird anhand um ‚gewöhnliches’ darshan zu erhalten -

Abb. 20: Frauen am Ausruhen Arunachaleshvara Tempel 112

distanzmässig etwas weiter von der Göt- terstatue entfernt - und eine für special darshan, die bis genau vor die Schoss- kammer (garbhagrih) führt. (Die in der Literatur beschriebene pradakshina um die Schosskammer herum ist gar nicht möglich, da die Leute durch die Gitter direkt ins Innerste geleitet werden.) Die Leute warten geduldig, schwatzen mit- einander, mit den vorderen und hinteren Personen, und halten ihre Opfergaben und das Geld für den Priester bereit. Es ist keine besinnliche, ruhige Stimmung, sondern eher aktiv und geschäftig. Nach längerem Warten ist man endlich zuvor- derst. Die Frau vor mir steht nun vor der garbhagrih, direkt vor der Statue der Gottheit, und erhält darshan. Plötzlich Abb. 21: Spielende Kinder taumelt sie und ist nicht einmal mehr

Abb. 22: Dravidischer vimana-Turm des Hauptheiligtums Arunachaleshvara Tempel 113

fähig, dem Priester die Opfergaben zu Er lebte in Mumbai, hat Frau und Kind, übergeben. Ich fange sie auf, damit sie und arbeitete als Banker. Seit dreizehn nicht zu Boden stürzt. Ich vermute, dass Jahren lebe er nun als Sannyasin, als sie in eine Art Trancezustand gefallen „Entsagender“, so wie es die letzte Stufe ist. Die dabeistehenden Töchter helfen - ihr und nehmen sie mir ab. Ich gebe dem model (Ashrama-System) vorsieht, um Priester mein Rupien, er rezitiert und sich intensiv dem Studium der religiö- hantiert geschäftig mit der Lichtlampe sen Schriften und der eigenen Erlösung (karpura). Ich strecke meine Hände über zu widmen. (Diese vier Stufen sind die die Flammen und streiche mir den Se- Schülerjahre (Brahmacharya), die Fami- gen übers Gesicht, erhalte von ihm das liengründung (Grihastha), das Einsied- Pulver in die Hand und mache mir damit lertum (Vanaprastha) und das wandernde einen Punkt auf die Stirn. Da ich keine Asketentum (Sannyasa))2 . Nach einem Opferspeisen oder Blumen mitgebracht längerem interessanten Gespräch mit habe, erhalte ich auch kein prasadam ihm, getätigten Fotos und dem Geben (gesegnete Opferspeise) oder puspam eines kleinen Trinkgeldes und dem eige- (Blumenblüte). Alles geht so schnell - die nächste Person hinter mir ist schon noch besser zukünftige Touristen durch dran -, dass ich kaum Zeit habe, einen Blick auf Shiva zu werfen. Dann bin ich ich den Annamalaiyar-Tempel durch die auch schon aus dem innersten Bereich prachtvolle östliche gopura. des Heiligtums wieder draussen und stehe im überdachten Gang, der für die pradakshina gedacht ist. Von der Frau und ihren Töchtern erhalte ich als Dank für die Unterstützung Blumenblüten, die sie mir in mein Haar stecken. Sie wün- schen ein Foto mit mir, aber mit dem kann ich nicht dienen. Ein sehr grosser und schlanker Brahma- ne, erkennbar an seiner weissen Schnur quer über dem blossen Oberkörper, nä- hert sich und beginnt den Tempel zu er- klären. Er zeigt alle möglichen Statuen in den Nischen und auch das Heiligtum der Parvati. Anschliessend erzählt er in 2 http://hinduism.about.com/od/basics/p/ groben Zügen seine Lebensgeschichte. fourstages.htm (12.4.2014). Arunachaleshvara Tempel 114

Abb. 23: Brahmane mit Autorin Abb. 24: Östliche gopura mit ihren elf Stockwerken

Bibliographie Baumann, Christoph Peter: Der Knigge der Weltreligionen. Feste, Brauchtum und richtiges Verhalten auf einen Blick, Freiburg/ Basel/Wien: Herder, 2011. Das, R. K.: Temples of Tamilnad, Bombay: Bharatiya Vidya Bhavan, 1991. L‘Hernault, Françoise/Pichard, Pierre /Deloche, Jean: Tiruvannamalai, un lieu saint sivaite du sud de l‘Inde. Vol. 2. L‘archéologie du site, Paris, Ecole Française d‘Extrême-Orient, 1990. Michell, George: Der Hindu-Tempel. Baukunst einer Weltreligion, Köln: Du-Mont, 1991. Michell, George (Hg.): Temple Towns of Tamil Nadu, Mumbai: Marg Publications 1993, reprinted 2003, 2008, 40-57. Orr, Leslie C.: Art. Temple: Form and Function, in: Jacobsen, Knut A. (Hg. u.a.): Brill’s Encyclopedia of Hinduism, Volume II: Sacred Texts and Languages, Ritual Traditions, Arts, Concepts, Leiden/Boston: Brill, 2010: S. 495-510.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: http://en.wikipedia.org/wiki/Annamalaiyar_Temple (Stand: 21.11.13). Abb. 2: http://arunachala-girivalam.blogspot.ch/ (Stand: 21.11.13). Abb. 3: http://picasaweb.google.com/lh/photo/3tjK-3ZiKRfLVEy4C-MUtA (Stand: 21.11.13). Abb. 4: L’Hernault 1990: 9. Abb. 5: L’Hernault 1990: 20. Abb. 6: Foto von Judith Stutz Abb. 7: http://lh5.ggpht.com/al_pS4AwNY0/TUKBhwpDyI/AAAAAAAACJg/pLwdnm6uU9g/s512/587.jpg (Stand: 21.11.13). Abb. 8: L’Hérnault 1990: Planche 4; als Zusatzblatt hinten im Buch dazugelegt. Abb. 9: http://www.traving.com/S-India/CIMG0201.JPG (Stand: 21.11.13). Abb. 10: L’Hérnault 1990: 80. Abb.11: ebd.: 94. Abb.12: Foto von Vanessa Gächter Abb.13: Foto von Judith Stutz Abb. 14: Foto von Judith Stutz Abb. 15: Foto von Judith Stutz Abb. 16: L’Hérnault 1990: Planche 3; als Zusatzblatt hinten im Buch dazugelegt. Abb. 17: Foto von Vanessa Gächter Abb. 18: Foto von Vanessa Gächter Abb. 19: Foto von Judith Stutz Abb. 20: Foto von Vanessa Gächter Abb. 21: Foto von Vanessa Gächter Abb. 22: Foto von Vanessa Gächter Abb. 23: Foto von Judith Stutz (eine andere Person betätigte den Auslöser) Abb. 24: Foto von Vanessa Gächter 115

in den Upanishaden wird mit diesem Wort jemand bezeichnet, der die höchste Befreiung, moksha, erreicht hat (Cornille: 2005). Heutzutage wird dieser als Lehrer verstanden mit dem Ziel, auch andere durch sein Beispiel und seine Lehren zur Befreiung zu führen. Obwohl seine zentrale Lehre eine esoterische Dimension hat, ist sein Wirkungsbereich überhaupt nicht auf die Religion beschränkt: Gurus können unter anderem in Politik, Wirtschaft und in persönlichen Fragen zu Heirat, Krankheit etc. wirken und zu Rate stehen (Copeman/Ikegame 2012). Keine andere Figur der Hindu Gesellschaft hat gleich Abb.1: Amma sitzend viel Autorität und Prestige: „Disciples generally recognize the teachings of Der weibliche Guru a guru as the ultimate truth“ (Cornille Sri Siva Sakhti Ammaiyar1 2005: 3713). Der Guru repräsentiert die höchste spirituelle Verwirklichung

Beitrag von Beatrice Büchi und kann als Verkörperung eines oder des Gottes gelten. Mehr als auf seinem traditionellen Wissen basiert die Autorität 2 des Gurus auf seiner persönlichen Der Guru, allgemein Erfahrung. „There is no higher authority Während der weibliche Guru in Indien in Hinduism than the one who attained ein eher modernes Phänomen ist und the knowledge of brahman“ es weibliche Gurus in der Geschichte (Cornille 2005: 3713). Genauso hat beim Indiens nur höchst ausnahmsweise Anhänger die Hingabe zum Guru oder zu gab, handelt es sich beim männlichen Gott einen grösseren Stellenwert als das Guru um eine sehr alte Grösse: Schon durch intellektuelles Lernen gesammelte Wissen. Die affektive Beziehung 1 Ich übernehme die Schreibweise der Inter- netseite http://www.sivasakthiammaiyar.com. zwischen Anhänger und Guru ist von 2 Obwohl die weibliche Form von Guru, zentraler Bedeutung: “For the attainment kaum gebraucht wird. Aus praktischen Grün- den verwende ich sie hier trotzdem. guru is most often more important than Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 116

knowledge through learning” (Jacobsen Der weibliche Guru 2005: 229). Die alleinige Präsenz des Es gibt ein paar wenige Beispiele Gurus, seine Berührung oder sein Blick weiblicher Gurus in der Geschichte können den Schüler weiterbringen: Indiens, vor allem in den esoterischen Traditionen des Tantra. So zum Beispiel of religious truth by other means than gibt es ein paar Geschichten über verbal teaching such as touch or glance, Frauen aus dem Mittelalter, die ihren as well as by the disciple simply thinking Ehemännern ein Guru waren (Pechilis about the guru or his grace. The guru can 2004). Pechilis (2004: 15) bemerkt: remove moral impurity of the disciple by „This period was an important era in the his own power...” (Jacobsen 2005: 229). development of paradigms of women’s Der Guru hat auch die Aufgabe, seine religious leadership, with the religious Anhänger einzuweihen (diksa). In sehr perspectives of tantra and bhakti being vielen Fällen, aber nicht zwingend, particularly important in promoting wurde er selbst ebenfalls durch einen authoritative images of women adepts Guru eingeweiht und steht somit in einer and goddesses“. Aus dieser Zeit sind zudem einige Biographien und Gedichte Im anderen Fall begründet er eine neue von Bhakti-Frauen und Trantra-Heiligen Im Grunde kann jeder Guru werden. Oder anders ausgedrückt: Die Anhänger Lieber wollten diese Frauen ihr Leben machen jemanden zum Guru. Als Gott widmen und spirituellen Fragen „Gütesiegel“ gelten in der Regel sein beispielhaftes, moralisches, oft gerecht zu werden (Pechilis 2004: 15). asketisches Leben oder auch seine Diese Heiligen haben den Haushalt Wundertaten. Er repräsentiert die verlassen und werden als Heilige, höchsten religiösen Ideale, ist frei von nicht Gurus erinnert: Im Unterschied Hass, Egoismus und (sexueller) Lust zum Guru, welcher eine soziale Rolle (aber es gibt auch verheiratete Gurus). einnimmt, streben jene eher den Bruch mit der sozialen Welt an. posses superhuman powers, and these Ab dem 18.Jahrhundert gibt es weitere powers are interpreted to mean that they transcend normal human existence” Kreise ausserhalb ihrer Familie (Jacobsen 2005: 230). erreichte. Das Auftauchen weiblicher, öffentlich wirkender Gurus brachte Die Tradition sah für die Frau einzig Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 117

ein Leben als Haushälterin, im Dienste ihres Ehemannes vor (stridharma). Mit spend our time in the study of the der Autorität und Macht eines Gurus nimmt die Frau aber eine sehr starke Führungsposition ein, und mit dem Beharren auf ein Leben im Dienste Gottes anstelle des Ehemannes stellt sie auf revolutionäre Weise ihre traditionelle Rolle in Frage. Bei den Vorreiterinnen der heutigen Erst im 20.Jahrhundert hat sich die Idee des weiblichen Gurus wirklich etabliert Auseinandersetzungen geführt: so und wurde stark ausgebreitet. Diese erzählt Bahinabai (1628-1700) in ihrer Entwicklung spiegelt möglicherweise die Autobiographie, wie sie trotz vielen gesellschaftlichen Veränderungen und Hindernissen, vor allem verbunden mit eine Umdeutung der Frauenrechte seit der ihrem Ehemann, ihren Überzeugungen Mitte des 19. Jahrhunderts (Clémentin- treu blieb (Pechilis 2012: 119). Schon als Kind habe sie sich für das Pilgern, stridharma, der traditionellen Rolle für Bilder von Gott und Lieder und der Frau, und ihrer Rolle als religiöse Geschichten über Heilige interessiert. Führerin blieb jedoch zum Teil bestehen. Mit elf Jahren wurde sie in einer Vision So wird in den Biographien der heutigen vom lebenden Heiligen Tukaram (1608- 1649) eingeweiht und erhielt von ihm heftig gegen die Zwangsheirat wehrten. ein mantra. Bald wurde sie von Leuten Anderen hingegen wurde der Gurustatus aufgesucht: zugesprochen und von einer Heirat abgesehen, im Falle von Anandamayi Ma „The people thought all this [her (Pechilis 2004) wurde ihr Ehemann ihr scheint die Tatsache beigetragen haben, wird, sondern davon ausgegangen wird, not endure seeing the people coming dass „sie“ das Geschlecht transzendiert habe: sie gilt nicht als Mensch oder Frau, sondern „female gurus are understood to be manifestations of the Goddess“ (Pechilis 2004: 9). Die Ideale, welche die Rolle sowohl der Haushälterin als Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 118

auch der des weiblichen Gurus prägen, für die Autorität des weiblichen sind dieselben: Beide dienen mit Gurus. Ihre Präsenz gilt als besonders bedingungsloser Selbstlosigkeit den heilvoll: „The guru is able to inspire the anderen (seva) und ihr Dasein ist stark experience of the real in others, for the geprägt durch das „Muttersein“: Mataji purpose of spiritual advancement, total self-realization, or evolution as a human being” (Pechilis 2004: 5). spirituelle Kraft zum Ausdruck bringt, welche ihnen zugesprochen wird. Sri Siva Sakhti Ammaiyar Einen grossen Unterschied zwischen Quellen der Rolle eines männlichen und eines Die folgende Darstellung basiert weiblichen Gurus gibt es allerdings einerseits auf einem Besuch im Amma- Ashram während einer Studienreise im sehr ähnlich wie die Gurus. Ihre Februar 2014, anderseits auf Quellen Hauptaufgabe besteht darin, Schüler aus dem Internet: auf Amma’s eigenen, zu belehren und zu initiieren. Ein sehr einfachen Internetseite, zwei Unterschied mag darin bestehen, dass kurzen Youtube-Filmen und einer Facebookseite, die vermutlich von einem gelten und nicht von einem Guru initiiert Ashrammitglied eingerichtet wurde und worden sind und somit auch nicht in der auf welcher die aktuellen Daten des Tradition einer Gurulinie stehen. darshans bekannt gegeben werden. Auf meine elektronische Anfrage hin Konzept von Shakti („sovereign active wurde mir unter Verweis auf die Website power, which controls the universe für jegliche Information bestätigt, dass and is associated with the feminine keine Bücher oder sonstiges Material principle“(Clémentin-Ojha 2011)) über sie erhältlich sind. verbunden: “all the female gurus are associated with the Goddess through the Biographie concept of shakti” (Pechilis 2004: 8). Amma war einst Haushälterin und hatte Zudem betonen die weiblichen Gurus drei Kinder. Ihr jüngster Sohn spielt noch mehr die persönliche Erfahrung für heutzutage eine zentrale Rolle in der den spirituellen Fortschritt. Dabei sind Führung ihres ashrams. Zu jener Zeit sie äusserst pragmatisch: die Erfahrung war sie «leidenschaftliche» Anhängerin in der Welt wird mit dem spirituellem von Gott Shiva. Es wird betont, dass Wissen und Verstehen verbunden sie ihn «Tag und Nacht» voller Hingabe (Pechilis 2012: 114). Die persönliche verehrte und dabei Weltliches vergass. Erfahrung ist die wichtigste Grundlage Ihr Wunsch, mit dem Göttlichen zu Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 119

Abb. 2: Amma und Arunachala verschmelzen wurde immer grösser. benannt (Chennai-Talk, Mysore-Talk). In einem Zustand tiefer Meditation Daraus wird ersichtlich, dass Amma sich offenbarte sich ihr das Selbst. Danach in Südindien bewegt und durch ihren verbrachte sie einige Jahre beim Ruf und relativen Bekanntheitsgrad Perumal Hill in Schweigen. 2003 ging einige Male zu Veranstaltungen sie nach Tiruvannamalai, wo sie fortan eingeladen wurde, um dort darshan zu Ammaiyar, Mutter, genannt wurde. Dort geben und zu sprechen. Ihre Anhänger entstand ihr ashram, der bis heute besteht. sind sowohl Inder als auch Westler. Täglich empfängt Amma dort ihre Wobei am Tag unseres Besuches Besucher zum darshan (Begegnung mit hauptsächlich westliche Leute anwesend dem Guru). Dieser verläuft in kompletter waren. Die sehr einfache Internetseite Stille. Am 15.Oktober 2008 hat sie ihr wird auf tamilisch und englisch geführt. Schweigen gebrochen: seither spricht sie Verglichen mit ihren zeitgenössischen vereinzelt zu ihren Anhängern, aber die „Mega-Gurus“ (Copeman/Ikegame meiste Zeit verbringt sie schweigend in 2012) scheint ihr Kreis (bis jetzt) eher ihrem ashram. klein und bescheiden zu sein. Die auf dem Internet veröffentlichten und im Ashram aufgelegten Reden sind nach dem Ort, wo sie gehalten wurden, Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 120

Was Amma zu ihren Anhängern zum Beispiel sowohl für die Arbeit spricht (das Geldverdienen) als auch für die Nur selten bricht Amma ihr Schweigen spirituelle Praxis dasselbe Wort „work“ für „das Wohl aller“. Die Reden verwendet. In der Originalsprache werden in kurzen, einfachen, jedem werden wahrscheinlich zwei verständlichen Sätzen gehalten. Sie verschiedene Wörter verwendet. folgen keinem logischen Aufbau, Immer wieder drückt Amma ihre Liebe, Amma springt von einem Thema zum Empathie und Zuneigung zu «ihren anderen. Diese Beobachtung, als auch Kindern», ihren Anhängern aus, und die Seltenheit der Reden, bestätigen dass sie dazu da ist, für diese zu beten mich in der Annahme, dass die wörtliche und sie zu beschützen: Belehrung in der Wichtigkeit weit hinter der stillen Begegnung mit dem - Guru steht. Dennoch habe ich versucht, ren. You are my children. ’t worry. die wichtigsten Themen ihrer Reden You need not fear anything. Be happy. zusammenzufassen und zu deuten. Eine wichtige Hürde zum vollen Verständnis ist die englische Übersetzung: so wird

Abb. 3: Der Ashram von aussen Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 121

- sie. Aber eigentlich macht sie zwischen sich und Gott nur einen Unterschied, damit es für die Leute verständlicher Als vollständig erleuchtetes Wesen wird. Eigentlich gäbe es zwischen ihr beschreibt sie sich selbst als allwissend: und Gott keinen Unterschied (Chennai „My eyes are God’s eyes“ (Chennai Talk, 11.2011). Talk). Deshalb weiss sie um den Zentralster Punkt der spirituellen Zustand und spirituellen Fortschritt “Arbeit” (“work”) ist die Verehrung, ihrer „Kinder“, um das Weltgeschehen, bhakti: Diese ist die Quelle des Heils. klimatische Veränderungen etc. Als eine Durch bhakti und durch Meditation kann von Millionen Unerleuchteten sei sie das karma verringert und die Befreiung, glücklich, vollständig erleuchtet zu sein. erreicht werden: Im folgenden Zitat spricht sie über ihre Erleuchtung: - - - - - me in my Spiritual journey; they all Immer wieder betont Amma, dass Gott, „das Licht“ („the Light“) nur eines sei aber verschiedene Namen habe. Dadurch öffnet sie den Zugang zu ihrer Lehre auch Anhängern anderer Religionen. Im November 2011 prophezeit Amma to experience this.” schwere Umweltkatastrophen, welche sich bis zum Ende des Jahres 2012 Einige Male weist sie darauf hin, dass ereignen werden, und dass grosse nicht sie spricht, sondern Gott in ihr durch Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 122

werde zum Beispiel die Erdumdrehung schneller, und dieselbe habe sich etwas Pausen täglich morgens um 10Uhr statt nach links verschoben (die fehlende und dauert etwa fünfzehn Minuten. Logik dieser Aussage ist ein weiterer Am Tag unseres Besuches ist die kleine Hinweis auf die Unantastbarkeit der Darshan-Halle um 9.15 bereits halbvoll. Aussage eines Gurus. Womöglich meinte Die meisten anwesenden Leute sind sie die Erdachse). Dies gründet im schätzungsweise zwischen 40 und 55 karma der Menschen und ist Grund für Jahre alt, und circa zwei Drittel sind die kommenden Umweltkatastrophen. Frauen. Es ist nicht erlaubt im Raum zu sprechen und so haben sich die meisten anwesenden Leute in ihrer - Meditationshaltung, mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend und mit geschlossenen Augen, eingefunden. Die Stille prägt die andächtige Stimmung, you do meditation and hold onto the den ankommenden Leuten wird von zwei älteren Frauen ein Platz zugewiesen. Um 11.2011) 9.45h ist die Halle mit etwa hundert Leuten voll und die weiteren Besucher Amma betont, dass sie ihre Kinder können ausserhalb des Raumes stehen beschützen wird. Im Dezember beruhigt und durch das Gitter schauen. sie ihre Anhänger, in deren Herzen sie grosse Angst «sieht»: Die Erde brauche Raum, in dem vorne in der Mitte nur noch eine geringe Änderung im ein Sessel aus Bambus steht, einige Prozess der Beruhigung um „das Licht“ Besucher legen Blumen davor auf den (Jyoti) zu empfangen. Um dieses Unheil Boden. Über den Türen und hinter dem abzumildern sollen die Menschen gute Stuhl sind Bilder von Amma aufgehängt, handeln. Mit diesen Themen (auch Der Raum ist sehr schlicht mit einigen spricht sie davon, dass auf dem Mars Sitzkissen ausgestattet. keine Menschen leben können) drückt Dann steht Amma plötzlich im Raum, sie ihr Allwissen aus, zu dem sie als und ich bin überrascht und auch ein gewöhnlichen Menschen keinen Zugang bisschen entzückt darüber, wie klein und hätte. Als Verkörperung Gottes sind fein ihr Körper sie ist. Sie ist barfuss und ihrem Wissen keine Grenzen gesetzt. in ein blass orangefarbenes Tuch gehüllt. Der darshan-Besuch Langsam, es scheint mir, dass sie Der darshan, die Begegnung mit dem schwebt, geht sie mit kleinen Schritten Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 123

Abb. 4: Darshanbesucher Abb. 4: Darshanbesucher zum Bambusstuhl und sitzt auf das die Berührtheit der Leute und die Kissen ab. Ab und zu schliesst sie kurz Wichtigkeit, die sie der Begegnung mit die Augen, dann lässt sie die Augen einen Moment geschlossen. Einige Besucher Nach etwa einer Viertelstunde geht schauen zu ihr, andere scheinen ihre Amma durch die Tür auf der linken Seite Anwesenheit nicht bemerkt zu haben. hinaus und steigt die Treppe hoch in die Ein sehr leichtes Lächeln schmückt oberen Bereiche des Ashrams. Die Stille ihr Gesicht. Dann steht sie auf, geht im Raum bleibt. Einige bleiben sitzen langsam zur rechten Seite des Raumes und es vergeht mehr als eine Stunde, bis und schaut jeden einzelnen Besucher ein die Letzten gegangen sind. paar Sekunden lang an. Manchmal nickt sie leicht, manchmal Die Darshan-Besucher schliess sie wieder kurz die Augen, Nach dem darshan habe ich mit der und während ihr Körper mehrheitlich Dame gesprochen, die anfangs an der reglos bleibt, bewegt sie fortan ihre Tür stand und den Leuten den Platz bot. Finger. Sehr langsam geht sie dann in Sie beantwortete eher widerwillig meine Richtung linke Seite des Raumes. Einige Fragen. Doch als noch zwei Bekannte Besucher halten ihre Augen geschlossen, von ihr dazu kamen wurde das Gespräch andere schauen mit verklärtem oder etwas ergiebiger. sehnsüchtigem Blick zu ihr. Diese Alle drei Frauen leben seit mehreren Blicke und auch ein paar Tränen verraten Jahren in Tiruvannamalai und kommen Der weibliche Guru - Sri Siva Sakhti Ammaiyar 124

ursprünglich aus Europa. Sie beschreiben Besuchszeit und das Schweigen ihre Reise hierher als „Fügung“. Sie geschaffen wird. Anscheinend gibt sagen, dass sie keine persönliche es keine Möglichkeit, Shiva Shakthi Beziehung zu Siva Shakhti haben. Hier „näher“ zu kommen. Und so nutzen die sei alles unpersönlich, und sie kommen Besucher dieses Angebot als eines von vor allem, weil hier das „sitting in vielen. silence“ besonders gut gelinge. Sie Eine Dame aus England beschreibt ihr wisse nicht, was Shiva Shakthi mache, intensives Gefühl im Herz beim darshan aber es funktioniere. Die Beziehung und meint: „she’s just divine“. Und als sei auf einer anderen Ebene als der Abschied, mit den besten Wünschen für persönlichen, eher auf der „Herzebene“. meinen spirituellen Weg, schenkte sie Es gibt keine engere Schülerschaft. Alles was im Ashram angeboten wird, ist der fünfzehnminütige Darshan morgens und Schlussfolgerung der anschliessende private darshan. Dort Viele der im theoretischen Teil kann man Amma allein sehen und ihr dargestellten Eigenschaften eines auch eine Frage stellen. Während ersteres Gurus sind am Beispiel von Sri Siva Angebot gratis sei, koste das zweite Sakhti Ammaiyar deutlich zu erkennen. 3000 Ruppies. Diese Einnahmen dienen Zweifellos gilt sie als eine Verkörperung laut Aussage meiner Informantinnen Gottes, belehrt ihre Schüler sowohl dem Unterhalt des Ashrams, ausserdem durch Worte als auch durch ihre Präsenz, werde eine Schule geführt, aber diese mit der sie im darshan ihren Anhängern Aussage wurde von der zweiten Frau tiefere Einblicke in „die Wahrheit“ wieder verneint. Aber Siva Shakhti habe ermöglichen soll. Dabei bleiben durch ein Haus dort wo sie herkomme, und die Knappheit des vorhandenen Materials wohin sie sich eines Tages auch wieder viele Fragen offen: wir erfahren nichts zurückziehen wolle. über ihre familiären Verhältnisse und die Es fällt mir im Gespräch auf, dass die Rolle ihres Ehemannes im Prozess der drei Frauen anscheinend sehr wenig „spirituellen Reise“ (spiritual voyage). über die Organisation des Ashrams oder Ob und inwiefern ihre Neigung zum die „Lehre“ von Amma wissen und Spirituellen soziale Probleme ausgelöst sich dafür auch nicht sehr interessieren. hat. Es bleibt zu erfahren, ob Amma Sie nutzen einfach das Angebot, hier selbst einen Guru hatte und durch ihn meditieren zu können, und haben an der oder sie initiiert wurde. Auch über die Tür geholfen weil „dies nötig war“. Mir Organisation des Ashrams und über ihre fällt die grosse Distanz auf, die zwischen Anhänger gilt es noch mehr zu erfahren. 125

Bibliographie Boston: Brill, 2011, 60-67. Copeman, Jacob/Ikegame, Aya: The multifarious Guru: an introduction, in: ders. (Hrsg.): The Guru in South Asia. New inter- Cornille, Catherine: Art. Guru, in: Encyclopedia of Religion, 2005, 3712-3715. 227-234. Pechilis, Karen: The female guru. Guru, gender, and the path of personal experience, in: Copeman, Jacob/Ikegame, Aya Pechilis, Karen: The Graceful Guru. Hindu Female Gurus in India and the United States. Oxford: Oxford University Press, 2004.

Quellen aus dem Internet http://www.sivasakthiammaiyar.com (Stand: 29.10.2013). http://www.youtube.com/watch?v=dZYHIWJl_Fc (Stand: 29.10.2013). http://www.youtube.com/watch?v=4JVvczMyQ78 (Stand: 29.10.2013). https://www.facebook.com/pages/Sri-Siva-Sakthi-Ammaiyar/163582139818 (Stand: 15.11.2013).

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Amma sitzend. http://www.sivasakthiammaiyar.com/about_amma.html (Stand: 29.10.2013). Abb. 2: Amma und Arunachala: http://www.sivasakthiammaiyar.com/index.html (Stand: 29.10.2013). Abb. 3: Der Ashram von aussen. http://www.sivasakthiammaiyar.com/darshan%20photos.html (Stand: 29.10.2013). Abb. 4: Darshanbesucher. http://www.sivasakthiammaiyar.com/darshan%20photos.html (Stand: 29.10.2013). 126

Sri Aurobindos integraler Yoga nach Indien tritt er der Politik und Unabhängigkeitsbewegung bei. Ihm wird durch seine Aktivitäten ein Beitrag von Yves Bachmann Gerichtsprozess gemacht und aus welchem er als einziger freigesprochen wird. In der einjährigen Gefangenschaft erfährt sein Leben die wichtige Wende, Zur Person welche Aurobindo mit einem „Aufruf Sri Aurobindo wurde am 15. August von oben her“, als einen „Eingriff 1872 in Kalkutta geboren. Bereits in Gottes“, bezeichnet (vgl. Aurobindo Indien wird er in einer christlichen 1993: 141). Die Yoga Übungen, seine Klosterschule erzogen, bevor er mit Religion und Spiritualität, welche er bis sieben Jahren nach England zur weiteren anhin als Mittel sah um seine politischen Ausbildung kommt. Dort nimmt sich Ziele zu erreichen, werden fortan zum ihm ein englischer Geistlichen an. Lebensinhalt (vgl. Aurobindo 1993: 141). In Pondicherry verbringt er die Latein, Griechisch, Französisch und restlichen vierzig Jahre seines Lebens Deutsch. Eine innige Verbundenheit und entwickelt und lebt seinen integralen zur abendländischen Geistigkeit bleiben Yoga. ihm, gemäss eigener Aussage, für sein ganzes Leben lang (vgl. Aurobindo Philosophie 1993: 139). Nach seiner Rückkehr Sri Aurobindo formuliert in seinen 127

Tierleben zu der Stufe menschlicher Lebensmacht aufgestiegen, wo sie nun gegen Unwissenheit und Begrenzung kämpft, um schlussendlich „ihr unendliches Königreich in Besitz zu nehmen“ (vgl. Aurobindo 1993: 52). Sri Aurobindo beschreibt die Seele als Mittler, eingesetzt, um in der Natur den Geist zu entfalten. Eine Seele, welche sich in einer spirituellen Evolution bewusst weiterformt:

Abb. 2: Sir Aurobindo in jungen Jahren Schriften die Idee einer Evolution. Er beschreibt dabei die Natur in drei Stufen: 1. Was sich bereits entwickelt hat; 2. Was sich dauernd im Zustand erst entwickelt werden muss (vgl. Aurobindo 1968: 7). Die natürliche 1968: 47) hin zum Menschen und brachte diesen Die Evolution, wie sie in der Natur als höchstes entwickeltes Lebewesen verläuft, ist ein träger Prozess, welcher hervor. Durch das durch diesen Prozess nur sehr langsam bleibende Resultate erlangte Bewusstsein des Menschen, hervorbringt. Im Gegensatz dazu, soll ergibt sich für Sri Aurobindo die die bewusste spirituelle Evolution, wie Möglichkeit der Weiterentwicklung sie Sir Aurobindo lehrt, eine schnelle bis zum Übermenschen, welcher die Transformation nach der anderen Evolution auf spirituell-mentaler Ebene einleiten (vgl. Aurobindo 1968: 101). Eine aktiv vollzogen hat. Die Seele ist, so solche Evolution wird nicht mehr durch schreibt Aurobindo, „aus dem Schlaf die Natur, sondern durch den einzelnen Menschen selber herbeigeführt, um 128

dann durch das Göttliche die endgültige kann das „nicht die einzige Lehre Verwandlung zu erhalten. Dieser sein“ (vgl. Aurobindo 1993: 23), da durch den Supermind transformierte er sein zentrales spirituelles Erlebnis, Mensch stellt für Aurobindo den Gipfel als „Aufruf von oben her” erlebte. der Evolution dar. Die Natur habe Daraus formuliert er die beiden Stufen jeher auf eine solche Vollendung hin des Vollzugs in seinem Yoga: a. das gearbeitet (vgl. Feuerstein 2008: 121). persönliche Streben und b. eine höhere Das menschliche Wesen wird dabei als Macht, welche zur Vollendung des „eine Seele des transzendenten Geistes Menschen wirkt (Aurobindo 1993: 59). und Selbstes“ beschrieben, welche sich In seinem Evolutionsgedanken spielt „in ständiger Entwicklung begriffenen die Vorstellung der Wiedergeburt eine Verkörperung im Kosmos entfaltet“ und zentrale Rolle. Er unterzieht sie einer deren physische Seite, der Körper in eigenen Analyse und legt sie dem dem sie sich manifestiert, nur „die Basis Leser entsprechend aus. So weist er die einer Form ist, die in ihrer Evolution karman-Idee2 als „eine Konstruktion des den aufsteigenden Stufen des Geistes niederen Teils des menschlich vitalen entspricht“ (vgl. Aurobindo 1993: 53). Geistes, der mit seinen kleinlichen Dieses spirituelle Wachstum ist nach Lebensregeln und seinen Wünschen Aurobindo der wahre Sinn des Daseins: und Freuden und Leiden befasst ist“, zurück (vgl. Aurobindo 1993: 45). Diese Regel der Belohnung und Bestrafung, sieht Aurobindo als eine vom Menschen erschaffene soziale Notwendigkeit, um schädliches Handeln an der Gesellschaft zu verhindern. Für Aurobindo ist dies eine menschliche Ordnung, welche nicht Man erkennt hier Aurobindos auf die höhere Ebene des komsischen dualistischen Ansatz, welcher zwar Gesetz zu stellen ist und zu einer den göttlichen Funken in Allem sieht, verkehrten Tugend der Selbstsucht jedoch dem Menschen eine höhere verleite (vgl. Aurobindo 1993: 45). Macht gegenüberstellt, der er sich öffnen Dieser Karmagedanken und die muss um, eine endgültige spirituelle darauf bezogene Wiedergeburt sieht Transformation zu erlangen. Diese der monistischen Deutung, der sog. Advaita- Vorstellung bricht mit dem Konzept der Vendanta (vgl. Malinar 2009: 70). Zweiheitslosigkeit.1 Nach Aurobindos 2 Karman bezeichnet die Qualität der in frü- heren Leben begangenen Taten, welches das 1 Der proklamierte Vertreter der Lehre der Durchwandern verschiedener Körper beein- Zweiheitslosigkeit ist Shankara, Philosoph 129

er gewachsen aus der Sorge um das und auf die Erde herabzubringen, persönliche Heil und missbraucht stellt eine weitere Abweichung zu für den religiösen Nutzen, wobei er hinduistischem Gedankengut dar. „Er einräumt, dass „in gewissem Grade die sucht das traditionelle Paradigma zu Regel (Gleiches schafft Gleiches) ihrer überwinden, das den Geist wider die Tendenz nach wahr ist“ (Aurobindo 1993: 45). Persönlichkeit sei jedoch Aurobindo zufolge etwa vor 2500 eine nur „zeitweilig mentale, vitale und Jahren mit dem Buddhismus aufkam“ physische Formation, die das Wesen, (Feuerstein 2009: 120). Aurobindo die wahre Person, die physische Entität sieht sich selbst und seine angestrebte spiritualisierte Gesellschaft als religiöse Aurobindo 1993: 48). Persönlichkeit Anarchisten, wo alle Menschen zutiefst erkennt er insofern als keine bleibende frei sein werden (vgl. Aurobindo 1993: Realität an: 132). Die Methode zu seiner Philosophie liefert er anhand seinem integralen Yoga, welcher auf der alten psychologischen Disziplin und Praxis von klasssichen Yoga-Systemen3 beruht. Ein Yoga für das Erdbewusstsein, wie er es nennt. Methode und Technik Die Evolution der Seele ist „die wahre Der Begriff Yoga kommt aus der Grundlage der Wiedergeburt“, die Sanskrit Wurzel yuj und meint Persönlichkeit wird dabei von der anspannen, anschirren, oder anjochen (Feuerstein, 2009, 45). Er bezeichnet die Mannigfaltigkeit der Formationen den Willenseinsatz des Menschen, ist, die in der Vergangenheit bestanden der ihn aus der Gebundenheit der haben, um so grösser und vermögender Daseinsmächte befreit und damit zur wird diese Persönlichkeit sein“ (vgl. Aurobindo 1993: 51). Aurobindos Ansicht, ist Yoga an keine Wiederum bezieht sich Aurobindo 3 Mit klassische Yoga-Systeme bezieht sich auf die Natur, „welche keine ethische der Text einerseits auf die in den hier beige- zogenen Quellen beschriebenen Systemen, Unterscheidung, sondern nur das welche durch Aurobindo explizit untersucht nackte Gesetz der Energie kennt“ (vgl. Aurobindo 1993: 47). Sein Ziel, das Yoga, Bhakti-Yoga, Karma-Yoga und Tantra- - göttliche Bewusstsein in den Menschen 130

Seine metaphysische Rechtfertigung von eine psychologisch geistige Disziplin Individualität und Personsein liegt darin, dass sie der Universalisierung fähig Aurobindo 1993: 143). ist, jedoch nur durch Gott; 5. Aufgrund Viele Yoga-Schulen neigen zu einer dessen tritt weiterhin das Problem der “vertikalistischen” Vorgehensweise, wahren Personwerdung in das Zentrum um über die Welt hinauszugelangen, seines Yogas. Der östlichen Flucht aus als Pfad zur transzendenten Realität, der Sinneswelt, stellt Aurobindo jedoch zur spirituellen Dimension, zum Selbst ein göttliches Leben in der Welt entgegen oder zu Gott. Sie kehren sich so von (vgl. Aurobindo 1993: 145). der materiellen Welt ab und wenden Sri Aurobindo hat klassische Yoga- sich zu einer höheren Realität zu (vgl. Systeme auf ihre Praktiken und Feuerstein 2009: 119). Wirkungsweisen untersucht um Vergleicht man Aurobindos Philosophie sein integrales Yoga zu formieren. 4, Er beabsichtigte hierbei sowohl lassen sich fünf markante Unterschiede die Kontinuität der Yoga-Tradition aufzeigen: 1. Es geht nicht um den zu bewahren, sie aber auch an die Aufstieg, ausgelöst durch eine autonome Gegebenheiten der seiner Zeit Leistung, sondern um die Herabkunft anzupassen (Feuerstein 2009: 119). des Überbewussten auf die Erde. Der Für seine Synthese suchte er ein Autonomie tritt die schöpferische zentrales Prinzip aller Systeme Transzendenz gegenüber; 2. Es geht nicht herauszugreifen und dabei die Formen um subjektives Heilsstreben anhand und Äusserlichkeiten wegzulassen Praktiken wie Philosophie, Religion (vgl. Aurobindo 1968: 39). Besonders oder Yoga. Es geht um die Erfüllung die Loslösung aus dem gewöhnlichen des Zieles Gottes mit der Welt. Anstelle Leben, auf welches die meisten Yoga- der subjektiven Heilserfüllung tritt das Systeme anhand komplizierter und Heil der Welt; 3. Dem Impersonalismus aufwendiger Praktiken hinzielen, Indiens stellt Aurobindo eine Über- kritisiert er. Weiter sind ihm der Fokus Person, die Gott ist, entgegen; 4. auf nur einzelne Teile eines Menschen, Aurobindo verzichtet jedoch nicht auf wie zum Beispiel beim Hatha-Yoga auf einen metaphysischen Universalismus, Körper und Geist oder beim Bhakti- der Gott in allem und alles in Gott sieht.

ästhetische Erfahrungen, zu wenig Texte der Yoga Schule, wobei die Datierung umfassend. Er sucht nach einem integralen Yoga, welcher alles am nicht genau geklärt sind (vgl. Companion en- cyclopedia of Asian philosophy, 1997). Menschen spiritualisiert und formuliert 131

die möglichen Ziele folgendermassen: auf eines gerichtete Zielstrebigkeit entwickeln (vgl. Aurobindo 1993: 7). Aurobindo formuliert weiter drei Grundfunktionen: 1. Das sich überantworten. Entschieden sich selbst hingeben wollen: „Es ist das erste man der niederen ’Natur entsagt Prinzip unserer religiösen Disziplin, das Sich-Selbst-überantworten das Mittel der Erfüllung ist, und solange Egoität oder vitales Verlangen und Wünsche gehegt werden, ein völliges das Sich- Selbst-überantworten unmöglich ist, denn das Sich-Selbst-Geben ist dann noch unvollständig“ (Aurobindo 1993: Die höhere Natur handelt Aurobindo 62); 2. Das sich öffnende Vertrauen: „Es zufolge nicht nach einem festgelegten gibt kein menschliches Wesen, dessen System und in einer bestimmten physisches äusseres Bewusstsein für den Reihenfolge. Sie wirke frei, einmal hier Yoga befähigt wäre. Es geschieht durch und einmal dort, und doch stufenweise die Gnade und ein Licht von oben her, immer intensiver und zielvoller. Sie dass dasselbe befähigt werden kann, und wird durch das Temperament des das Notwendige dafür ist: auszuharren einzelnen Menschen bestimmt, in dem und sich dem Licht öffnen“ (Aurobindo sie wirkt (vgl. Aurobindo 1968: 44). 1993: 66); 3. Beiseite treten und Gott Im integralen Yoga hat deshalb jeder wirken lassen: „Er (der Adept des Yoga) Mensch gewissermassen seine eigene muss es lernen, ganz ruhig im Geist und Yoga-Methode. Trotzdem gäbe es im Vitalen zu werden und sich selbst zu gewisse Grundzüge des Wirkens, die für weihen, sodass er sowohl bewusst wird alle gelten und es Aurobindo möglich wie empfängt“ (Aurobindo 1993: 67). machen eine wissenschaftliche Methode Diesen drei Grundfunktionen werden des synthetischen Yoga zu konstruieren drei Transformationen zur Seite gestellt: (vgl. Aurobindo 1968: 44). 1. Die physische Transformation Als Voraussetzung für den Integralen (vgl. Aurobindo 1993: 70ff.). Eine Yoga muss eine Entscheidung und vom mentalen zum psychischen Einsicht des Adepten da sein, dass eine Bewusstsein gehende Wandlung. umfassende spirituelle Existenz notwenig Eine sich bewusst zum Göttlichen ist. Diese Existenz soll das einzige Ziel hinwendende Funktion (vgl. Aurobindo des Suchenden sein und er soll eine 1993: 147f.). Dabei sei eine psychische 132

ins kosmisch Universale geschieht (vgl. Aurobindo 1993: 147f.). Hierbei beginnt die Intuition als Bindeglied oder Übergang zwischen dem gegenwärtigen menschlichen Geist und dem Übergeist zu wirken (vgl. Aurobindo 1993: 112); 3. Die supramentale Transformation (vgl. Aurobindo 1993: 100ff.). Der Übergeist kommt auf den Menschen herab. Es erfolgt ein Übergang von der Natur zur Übernatur, welcher für jede Bemühung des menschlichen Geistes unmöglich selbst zu erschaffen sei (vgl. Aurobindo 1993: 113). Die Technik zu seinem Integralen Yoga ist, wie weiter oben bereits erwähnt, Abb. 3: Sri Aurobindo (1872-1950)

Selbstkontrolle wünschenswert wobei alles zu vermeiden ist, was andere verletzt oder verwunden könnte (vgl. Aurobindo 1993: 81); 2. Die spirituelle Transformation (vgl. Aurobindo 1993: 85ff.). Ein neues Bewusstsein beginnt sich zu formen, oder wie Aurobindo es Da eine Transformation durch die nennt, „[...] ein erleuchtetes, intuitives, göttliche Kraft selbst bewirkt wird, sind übermentales Bewusstsein mit neuen keine Rituale, Mantra-Rezitationen, Kräften des Denkens und der Schau und Stellungen oder Atemübungen mit einer grösseren Fähigkeit direkter vorgegeben (vgl. Feuerstein 2009: spiritueller Realisation, die mehr ist 121). Jeder Suchende muss sich jedoch als blosses Denken und Sehen, ein für die höhere Kraft öffnen, was grösseres Werden in der spirituellen durch die Meditation oder das Gebete Substanz unseres gegenwärtigen Seins eingeleitet wird. Aurobindo empfahl den hebt an“ (vgl. Aurobindo 1993: 86). Suchenden, ihre Aufmerksamkeit auf das Eine vom psychischen zum spirituellen Herz zu richten, wobei weitere wichtige Bewusstsein gehende Wandlung, wobei Aspekte des Integralen Yoga Keuschheit eine Ausweitung des Bewusstseins (brahmacary), Wahrhaftigkeit (satya) 133

und tief verwurzelte Friedfertigkeit 121).

Abb. 4: Sri Aurobindo (1872-1950)

Bibliographie Sri Aurobindo und Der Mutter, Heft 1, Karlsruhe: Deutscher Zweig der Internationalen Sri-Aurobindo-Gesellschaft, 1968. Sri Aurobindo und Der Mutter, Heft 4, Karlsruhe: Deutscher Zweig der Internationalen Sri-Aurobindo-Gesellschaft, 1969. - gensbach: Yoga Verlag, 2009. Companion encyclopedia of Asian philosophy, London/ New York: Routledge, 1997. Encyclopedia of new religious movements, London/ New York: Routledge, 2006.

Abbildungsverzeichnis von Sri Aurobindo und Der Mutter, Heft 4, Karlsruhe: Deutscher Zweig der Internationalen Sri-Aurobindo-Gesellschaft, 1969. 134

Der Austausch „östlicher“ Der Ashram und seine Bewohner – und „westlicher“ Konzepte im eine kurze Beschreibung Der Ashram wird auf der Homepage Ashram von Sri Vast der Gemeinschaft als „Center for Evolutionary Consciousness India“ Beitrag von Patricia Kurt bezeichnet und liegt etwa 160 km südlich von Chennai in der Nähe von Pondicherry. Einleitung Homepage als „an Inspiration for a New In diesem Abschlussbericht werde ich mich auf Daten beziehen, die wir auf das wir während unseres Ashram Aufenthalts mehrmals gestossen sind (vgl. www.srivast.org). Seine Lehre der teilnehmenden Beobachtung lässt sich, unserer Beobachtung und erhoben haben. Mit Einbezug der im meiner Beurteilung zufolge, an zwei vorangegangenen Seminar besprochenen Hauptaspekten aufhängen: Zum einen Literatur verfolge ich zwei Ziele: geht es Sri Vast um die Demontierung Erstens will ich aufzeigen, wo und wie wir im Ashram den Austausch von sozial konstruierter Aspekte vom westlichen und östlichen Konzepten eigenen Ich, wodurch dem Individuum beobachtet haben. Zweitens geht es ein „wahrer“ Zugang zur eigenen Person mir darum, einige Schwierigkeiten der und der Welt ermöglicht werden soll. systematischen Beobachtung fremder In diesem Zusammenhang griff Sri Kulturen aufzuzeigen, auf die wir Vast mehrmals die Gegenüberstellung während unserer kurzen Feldstudie von Mann und Frau als gesellschaftlich aufmerksam wurden. konstruierte Konzeptionen auf, über die Mit diesem kurzen Bericht erhebe es hinauszuwachsen gilt. Zum anderen ich nicht den Anspruch, umfassende betonte er in den Satsangs mehrmals die und bis ins letzte Detail geprüfte Zentralität von Naturverbundenheit und Zusammenhänge aufzuzeigen. Dazu war die Wichtigkeit, diese durch ökologisches unser Aufenthalt im Ashram um einiges Bewusstsein zu schützen. Diese zu kurz. Nichtsdestotrotz möchte ich versuchen, die zentralen Beobachtungen erwähnten „new Humanity“ Konzept vom Sri Vast Ashram mit der Leitidee zusammen, das auf der Gleichwertigkeit aller Lebewesen beruht. Durch Konzepte unterwegs in Tamil Nadu“ zu „praktische Spiritualität“ soll eine solche verknüpfen. neue Menschheit zustande kommen Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 135

und „der menschlichen Evolution eine Dazu kommen Besucher, die - wie wir neue Richtung geben“, hin zu einem nur einmalig oder zum ersten Mal - zu natürlichen Seinszustand von innerem Gast sind. Hierbei sollte noch erwähnt Wissen und Übereinstimmung mit der werden, dass Sri Vast einen zweiten gesamten Existenz. Ashram in Schweden und ein weiteres Im Ashram leben, abgesehen von Zentrum in Italien besitzt. Zudem geht Sri Vast selbst, ausschliesslich Leute er regelmässig auf Satsang-Tour. Eine „westlicher“ Herkunft, wobei neben genaue Mitgliederzahl zu nennen, ist den Nord- und Südamerikanern vor deshalb schwierig. Der Ashram in allem der europäische Anteil überragend Indien, um das es hier hauptsächlich war. Die Gemeinschaft, auf die wir gehen soll, beherbergte während in Indien getroffen sind, besteht aus unseres Aufenthalts schätzungsweise fünfzig Leute, unsere Gruppe von und dauerhaft im Ashram wohnhaften fünfzehn Personen inbegriffen. Es hatte „inner-Circle“ von etwa 12 Personen etwa gleich viele Männer und Frauen, sowie normalen Mitgliedern, die nur die Altersgruppen waren bei einem für eine jeweils begrenzte Zeit ein- oder Spektrum von Ende zwanzig bis Anfang mehrmals im Jahr im Ashram sind. achtzig relativ durchmischt, wobei ich die

Abb. 1: Sri Vast während einem Satsang Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 136

Gruppe der vierzig bis sechzigjährigen vielmehr Differenz ausgedrückt wird als dominierend aufzuführen wage. (vgl. Bhabha 2011). Der Neohinduismus ist als Beispiel eines solchen „kulturellen Der Neohinduismus als Produkt der Hybrides“ zu betrachten. indisch-europäischen Begegnung Was genau ist nun aber „hybrid“ Welche historischen Begebenheiten am Neohinduismus? Wilhelm führten zu solch einer Gemeinschaft, Halbfass sieht die beiden Konzepte in der sich Westler um einen indischen Inklusivismus und Universalismus als die zentralen Strategien Indiens, europäischen Kolonialmächten brachte mit denen es sich gegen die von den eine asymmetrische Beziehung zweier Europäern „aufgepfropfte“ Kultur und völlig unterschiedlicher Kulturen Religion durch das Hervorbringen von mit sich (vgl. Halbfass 1981: 429). Hybriden Formen behaupten kann. Das kolonialisierte Indien musste Der Inklusivismus war schon vor der deshalb Strategien entwickeln, um mit Kolonialzeit eine typisch indische Form der dominanten Kultur des Westens des Eingehens auf andere Religionen. umgehen und weiter bestehen zu können. Dabei wird einem fremden System Homi K. Bhabha zufolge kommt es in relative Gültigkeit zuerkannt, wobei es einem solchen Fall zur Kulturbildung auf einer niedereren Stufe ins eigene in sich permanent wandelnden System eingeschlossen und ins Licht Zwischenräumen, wobei Bedeutung und des eigenen, besseren Standpunktes Symbole nichts Festes sind, sondern gerückt wird (vgl. Halbfass 1981: 430). den jeweiligen Bedingungen angepasst Ein frühes Beispiel für hinduistischen neu entstehen. Die untergeordnete Inklusivismus ist die Einordnung Kultur kann dabei aktiv Konzepte Buddhas in den eigenen Götterpantheon. der dominanten Kultur aufnehmen, Damit wird der Buddhismus nicht umformen und sie so zu etwas Eigenem explizit abgewertet, sondern gezielt machen. Bhabha bezeichnet diesen ins eigene Religionssystem integriert, Prozess, bei dem mit dem Wertesystem womit er als Ansatz oder Vorstufe des einer übergeordneten Kultur performativ Eigenen, nicht aber als gleichwertige umgegangen wird als „mimicry“. Diese religiöse Wahrheit, toleriert wird. kann im Fall Indien als Strategie des Im Gegensatz zum Inklusivismus Umgangs mit der westlichen Kultur sind universalistische Ansprüche gesehen werden. Das Resultat davon ist neohinduistischer Bewegungen nach ein „kulturelles Hybrid“, eine Mischform Halbfass insbesondere als Reaktion kultureller Elemente, mit der nicht etwa auf die europäischen Kolonialherren Unterordnung oder Ergebenheit, sondern zu sehen. Dabei geht es um das Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 137

Prinzip der Einheitslehre: Alle anderen kulturellen Systeme werden in die mehrheitlich entgegengestreckt und auf eigene Lehre eingeordnet, wodurch ein seine Antworten folgten nicht selten universalistischer Wahrheitsanspruch (z.T. kritische) Rückfragen. Andererseits entsteht. Universalismus und sass er während des Satsangs immer Inklusivismus sind nach Halbfass etwas oben, auf einem Art Thron, wo er die beiden Hauptkomponenten des von seinem „inner circle“ hinsichtlich Neohinduismus und die Antwort auf das, Trinkwünschen und anderen Anliegen was von den Kolonialmächten und deren mit grosser Selbstverständlichkeit Missionaren angeboten wurde (vgl. bedient wurde. Ausserdem ging dem Halbfass 1981). Beginn des Satsangs immer eine längere, mit live-Musik begleitete Wartezeit Inklusivismus, Universalismus und voraus, die die Wichtigkeit des bald andere kulturelle Hybride bei Sri Vast Eintretenden bestärkte. Hinter dem Während unseres Aufenthalts im Sri Vast Thron hing, wie auch an anderen Orten Ashram sind wir einigen Situationen, im Ashram, ein lebensgrosses Portrait Ideen und Konzepten begegnet, die nur aus der Begegnung zwischen Ende jedes Satsangs verneigte. „dem Westen“ und Indien entstehen Auf der einen Seite lässt sich hier konnten. Ein auffallendes Beispiel für eine Begegnung auf gleicher Ebene ein eine hybride Form ist die Person beobachten, während auf der anderen Gemeinschaft einnimmt. Die Art und Seite gewisse Konventionen und Weise, mit der er seine Gefolgsleute Bräuche wie z.B. das lange Warten vor behandelt, aber auch die Verhaltensform Satsangbeginn oder der Diensteifer des der Leute ihm gegenüber, weisen inner-Circle eine klare hierarchische indische wie auch „westliche“ Aspekte Struktur und Distanz aufrechterhalten. auf: Bei einem Satsang begrüsste Sri Ich sehe hier insofern ein kulturelles Vast seine Zuhörer jedes Mal mit der in Indien übliche Namaste-Grussformel, fügte dem aber immer ein schlichtes Schüler Begegnungsstrukturen integriert „how are you“ hinzu. Nicht selten riss werden. Sie werden nicht einfach kopiert, er ausgelassen (mitunter selbstironische) Witze und suchte immer wieder Kontext eingebunden, wodurch sie Teil kumpelhaft Körperkontakt. Zudem lag des neuen kulturellen Zwischenraumes dem Verhalten der „Devotees“ nicht werden (vgl. Bhabha 2011): Das „how der übliche indische Respekt zugrunde; are you“ erfolgt nicht auf der Strasse, als Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 138

Vorwand für einen Smalltalk, sondern er sich mit dieser Aussage metaphorisch als Einstiegsformel zu einem Satsang an die gesamte Menschheit wenden und Ergänzung zum indischen Namaste- wollte). Nationalität und Geschlecht Gruss. Liedtexte mit spirituellen bilden dabei völlig unwichtige Faktoren, Inhalten und Auszügen aus Sri Vasts da sie, so Sri Vast, sozial konstruiert Hinduismus-inspirierter Philosophie sind und somit nicht unser „wahres“ werden von einem E-Piano und einem Wesen ausmachen. Auch im Gespräch modernen E-Drum begleitet, womit die mit einigen Ashram Bewohnern trafen Atmosphäre für das baldige Auftreten wir bei der Herkunftsfrage oft auf des spirituellen Meisters geschaffen Zögern und den freundlichen Hinweis, wird, welchem alsbald hemmungslos die dass das hier nicht von Bedeutung Fusssohlen entgegengestreckt werden. sei. Sri Vast stellte klar, dass durch Die Auswirkung der interkulturellen die von ihm propagierte Spiritualität „Ost-West“ Begegnung werden auch in jedem Menschen das Potential zur beim Selbstverständnis der „Devotees“ Demontierung solcher Konstruktionen und an der breiten Zielgruppe, die Sri ausgeschöpft werden kann. Diese Vast mit seiner Lehre adressieren will, Begebenheit ist meiner Ansicht nach sichtbar: Mehrmals sprach er von der dem bereits erwähnten Phänomen totalen Gleichwertigkeit all seiner des Universalismus zuzuordnen: Die Schüler (wobei ich nicht sicher bin, ob eigene Lehre ist für alle gedacht. Seine

Abb. 2: Vor Statsangbeginn - Das warten auf den Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 139

Philosophie beschränkt sich nicht auf So that I can rest in this restless world ein lokal beschränktes Problem, sondern Let the Christ share his love ist eine globale Angelegenheit und geht So that I can love you the way you are im Prinzip alle etwas an. Herkunft und sozialer Status werden damit unwichtig. So that I can play in this beautiful Life Das Konzept der neuen Menschheit sieht eine fundamentale Strukturänderung Let the Angels und ein Wandel der menschlichen Let the Buddha Bedürfnisse und Werte vor. Wendet sich Let the Christ die Menschheit nicht bald wieder mehr Let the Krishna der Natur zu, kann die ökologische Let them all be part of my life Bedrohung, vor der wir alle stehen, nicht Let me share your Grace gelöst werden. Es lässt sich also ein universalistischer Anspruch erkennen, Dieses Lied bringt die Inkludierung von bei dem ein Appell an alle formuliert Figuren aus verschiedenen Religionen wird. Man könnte diesen Universalismus in Sri Vasts Philosophie schön zum vielleicht insofern einschränken, als dass er sich hauptsächlich an die Menschen der „westlichen“ Welt Jesus und Krishna. Ich habe bereits richtet. Dies würde auch die fehlenden erwähnt, dass die Einordnung Buddhas Inder im Ashram erklären. Zudem in den hinduistischen Götterpantheon sind Ökologie und sozial konstruierte ein frühes Beispiel für Inklusivismus Persönlichkeitsmerkmale schon eher darstellt. Ebenfalls verbreitet ist die Angelegenheiten, mit denen die erste Anerkennung Christus als beliebige Welt etwas anfangen kann. Inkarnation neben anderen, womit Die bereits erwähnten Lieder, die am Anfangs und Ende von jedem eine inklusivistische Strategie, die Satsang gespielt und von den meisten den Missionaren das Leben schwer Anwesenden gesungen wurden, liefern macht (vgl. Halbfass 1981: 432). mir den Anhaltspunkt für eine letzte, Interessanterweise wird Krishna im Lied hier behandelte, hybride Form. Hier der jeweils als letzte von den vier Figuren Originaltext aus dem Songbook: aufgeführt. Zudem kommt es im Stück immer bei seiner Erwähnung zu einer LET ME SHARE YOUR GRACE beachtlichen Erhöhung der Tonlage, Let the Angels share their wings die als Steigerung betrachtet werden kann. Diese Beobachtung würde auch Let the Buddha share his mind hinsichtlich der integrierenden, nicht Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 140

aber gleichsetzenden Eigenschaft des stammt meine Vorstellung von einem Inklusivismus Sinn ergeben. Ashram?“ oder „Inwiefern widerspricht das Beobachtete meinem vorgefassten Der eigene kulturelle Hintergrund als Bild?“ wurde mir im Sri Vast Ashram, Schwierigkeit beim Beobachten aber auch während der restlichen Die Kombination von Einfachheits- Studienreise, sehr bewusst. Intellektuelle betonung und Meditation mit einem für indische Verhältnisse hohem Überprüfung der eigenen Meinung und materiellen Standard und feinem des eigenen kulturellen Hintergrundes Anwesen wurde von vielen von uns sind in der Feldforschung das A und O. als paradox empfunden. Zudem habe Schliessen möchte ich mit einem Zitat ich bemerkt, dass ich zu Anfang Mühe aus einem Text von James Clifford, hatte, Sri Vast mit meiner vorgefassten der unserem Seminar als Grundpfeiler Vorstellung eines spirituellen Meisters gedient hat: in Einklang zu bringen. Eine solche nicht wissenschaftliche Sichtweise kann die Qualität der Beobachtungsresultate arg einschränken. Die Wichtigkeit von Fragen wie „Woraus leitet sich mein of human experiences? Practices Massstab für „typisch“ ab?“ „Woher of displacement might emerge as

Abb. 3: Die Band Der Austausch „östlicher“ und „westlicher“ Konzepte im Ashram von Sri Vast 141

mir immer wieder geholfen, die oben rather than as their simple transfer formulierten Probleme der vorgefassten Konzeptionen zu überwinden. Wenn man Kultur als interaktiven Prozess Clifford plädiert für ein dynamisches versteht, erübrigt sich die Frage nach Verständnis von Kultur. Im Gegensatz der Berechtigung oder „Echtheit“ eines zu Abgeschlossenheit, Reinheit und kulturellen Systems.. Lokalität betont er die Zentralität von Bewegung, Reisen und Austausch, die für die Konstitution von Kultur ausschlaggebend ist. In der indisch- europäischen Kontaktzone kommt Rückgriff auf reisende Vorstellungen, Werte und Konzepte neue Kulturen bilden, wobei die aufeinandertreffenden indischen und europäischen Kulturen entstanden sind. Damit sind Begriffe wie „indisch“, „europäisch“ oder „christlich“ keine festen Objekte mit klaren Grenzen, sondern Prozesse und das Produkt einer komplexen Bewegung (vgl. Clifford 1997). Diese Vorstellung von Kultur hat

Bibliographie Clifford, James (1997): Prologue: In Medias Res, in: ders.: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge u. a.: Harvard University Press, 1-13. Bhabha, Homi (2011): Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg Verlag, Einleitung 1-28. Halbfass, Wilhelm (1981): Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart: Schwabe, 429-436. Internetquelle: www.srivast.org (Stand: 20.03.2014)

Weitere Quellen Auftritt von Sri Vast in Zürich vom 27. November 2013. Aufenthalt im Sri Vast Ashram in Tamil Nadu vom 19. Bis 22. Januar 2014. Diskussion und Austausch in der Studienreisegruppe.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Sri Vast während einem Satsang: Foto von Aninia Frieden, Januar 2014. Abbildung 3: Die Band: Foto von Aninia Frieden, Januar 2014. 142

Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung Sri Aurobindo (vgl. Klimkeit 1981) und Auroville (vgl. Shinn 1984) besprochen. Beitrag von Yves Bachmann Weiter habe ich eine Arbeit über den integralen Yoga von Sri Aurobindo erstellt und anhand eines Vortrags der Studiengruppe vermittelt. Die aus Einleitung diesem Seminar und dem Arbeitsprozess Im Folgenden soll die Station zum Dossier ins Feld getragenen Auroville der Studienreise «Routes Fragen sollen hier jedoch nicht and Roots» bezüglich der angewandten besprochen werden. Auch hätte sich Forschungsmethode untersucht werden. ein Vergleich der Forschungsmethoden Unsere Gruppe ist hierzu am 22. Januar der Studienreise und der Zeit während 2014 in Auroville eingetroffen und meiner Freiwilligenarbeit auf der wurde für die vier Tage Aufenthalt im Farm angeboten. Beides hätte den «Tibeten Pavillon», auf dem Gelände vorgegebenen Rahmen der Arbeit von Auroville, einquartiert. Während gesprengt. dieser Zeit haben wir verschiedene Bedingt durch die kurze Zeit im Stationen gesehen und Personen Feld, war die Forschung in Auroville gesprochen. Diesem Besuch im eher breit angelegt und somit ist das Rahmen der Universität Zürich, ist gesammelte Wissen zu den einzelnen eine dreiwöchige Zeit als «Volontier» Themen nicht sehr profund. Jedoch habe (Freiwilligenarbeiter) auf der Solitude ich nach einem Forschungsgegenstand Farm in Auroville gefolgt. Erkenntnisse gesucht, welcher sich im vorgegebenen aus dieser Zeit, besonders bezüglich der Rahmen einigermassen umfassend Zusammensetzung der Gemeinschaft, sind ebenfalls in den Bericht Methodik hat sich hier meiner Meinung nach gut angeboten. Um den Kontext und die Rolle im Feld wird jedoch dieser wiederzugeben, werden im ausschliesslich für die Studienreise nächsten Abschnitt neun Stationen untersucht und entsprechende Einzelfall- sowie Einzelfälle, auf welche sich der und Stationendarstellungen werden aus Text bezieht, kurz beschrieben. In einem dieser Zeit aufgeführt. zweiten Teil soll die Zusammensetzung Zur Vorbereitung auf das Feld ist der der Gemeinschaft erläutert werden, Reise ein Seminar zum Austausch um anschliessend die eigene Rolle im zwischen Indien und dem Westen Feld und die Form der Methode, den vorausgegangen. In diesem wurden verschiedenen Stationen entsprechend Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 143

differenziert, verorten zu können. zur Analyse der Methodik einen Beitrag leisten. Stationen- und Einzelfalldarstellungen Begleitet wurden wir über die gesamte 1. Visitor Centre: Neben anderen Zeit durch Shivaya, einem Mitglied Besuchern konnten wir uns hier einen der Gemeinschaft mittleren Alters mit ersten Eindruck zum Ort und der Schweizer Wurzeln. Sie wurde uns von Gemeinschaft verschaffen. In Gebäuden Auroville als interne Reisebegleiterin und Aussenräumen sind Ausstellungen zugeteilt. Shivaya war unsere erste zum Konzept, dem Aufbau, Bezugsperson vor Ort, sie stellte Herausforderungen an Ort und Umwelt, Kontakte zu den verschiedenen Stationen der demographischen Entwicklung etc., her und beantwortet uns viele Fragen. In unserer Gruppe reisten zwei wurden wir zusätzlich informiert. Wir Spezialisten bezüglich Auroville mit. Einerseits Nina Rageth, 28 Jahre alt, Besucherzone. mit einer Assistenzstelle bei Frau 2. Townhall: Am ersten Tag haben wir im Prof. Dr. Dorothea Lüddeckens am Erdgeschoss des Verwaltungsgebäudes religions-wissenschaftlichen Seminar unsere Registrierung als Besucher der Universität Zürich. Sie hat ihre vollzogen und wurden anschliessend im Sommer 2013 eingereichte und durch das Haus geführt. Neben dem honorierte Masterarbeit über Auroville Finanzbereich ist unter anderem die verfasst und bereits viel Zeit im Feld Stadtplanung darin untergebracht, verbracht (zuerst als Volontier und später in welcher uns der aktuelle Stand als Forscherin). der Entwicklung erklärt wurde. Wir Mit ihr, ihr Lebensgefährte Satyam, bewegten uns in der öffentlichen Zone 36 Jahre alt, welcher in Auroville von Auroville, zusammen mit Besuchern geboren wurde. Er lebt nun bereits und Mitgliedern der Gemeinschaft. seit einigen Jahren in der Schweiz und Angestellten in der Gemeinschaft, der Gemeinschaft mehr. Bei seinen wurde bei dieser Gelegenheit leider nicht Besuchen funktioniert er als Volontier, nachgefragt. wobei er jedoch noch Zugang zu seiner Community «Miracle» hat. 3. Matrimandir: Der Ort ist das Im weiteren werden die neun ausgesuchten Stationen und Einzelfälle Er dient für stille Zusammenkünfte beschrieben. Ich gehe dabei nur auf bei Feiertagen oder zur persönlichen inhaltliche Einzelheiten ein, sofern sie Meditation. Für viele Mitglieder kann Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 144

er auch als das spirituelle Zentrum von Auroville bezeichnet werden. durch die Solar Kitchen, sind einige von In einem Garten eingebettet liegt uns im Restaurant durch das indischen der goldene Kugelbau und bietet Mitglied der Gemeinschaft Seven verschiedene Räumlichkeiten zur angesprochen und auf interne Probleme Meditation. Für unseren Besuch und politische Machenschaften in wurde wir in drei Gruppen aufgeteilt Auroville aufmerksam gemacht worden. und durch Sivaya und zwei weiteren Der Herr, welcher meiner Schätzung Gemeinschaftsmitgliedern, während der nach um die sechzig Jahre alt war, hat speziellen Öffnungszeit für Besucher, uns, seiner Aussage zufolge, die «andere auf dem Gelände geführt. Wir hatten die Seite» von Auroville erläutern wollen. Möglichkeit, mit anderen Besuchern in Für unsere Fragen, war während diesem viertelstündigen Monolog, wenig Platz. sowie die Aussenanlage zu besichtigen. Seven wollte sich spürbar seinen Frust von der Seele reden. 4. Solar Kitchen: Beim Besuch wurde uns das Konzept des Restaurants als 6. Solitude Farm: Anhand einer «Mensa» und Treffpunkt für Auroville, Führung durch Krishna, dem Initianten sowie die Technik der Termosolaranlage der Farm, wurde uns die Arbeit und zur Dampferzeugung für die Küche, Technik von Natural Farming und erklärt. Anschliessend haben wir unser Permaculture, näher gebracht. Er stellte uns dabei einige Volontiers vor und Öffnungszeiten eingenommen. erklärte ihre Aufgaben. Während der Durch den Ingenieur und Designer Mittagszeit erhielten wir im Café am des Gebäudes erhielten wir eine Ort einen Lunch. Die Farm beschäftigt philosophische Einführung zum Ort und drei Köchinnen für das Café, zwei konnten Fragen stellen. Wir bewegten Vorarbeiter für die Feldarbeit und drei uns hier hauptsächlich zusammen weitere Feldarbeiterinnen aus den mit Mitgliedern und Volontiers der benachbarten Dörfern, im Angestellten- Gemeinschaft. Besucher haben nur verhältnis. Weiter sind momentan über Freunde aus Aurovile, welche zwischen 10 bis 18 Freiwilligenarbeiter eine entsprechende Aurocard besitzen, beschäftigt. Diese leisten einen Beitrag die Möglichkeit hier zu essen. Die Anforderungen und Rechte bezüglich indischen Rupien pro Tag und arbeiten dieser Karte, werden im nächsten täglich 7 Stunden und 6 Tage in der Abschnitt über die Zusammensetzung Woche. der Gemeinschaft ausführlicher erklärt. Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 145

7. Sadhana Forest: Das Projekt ist etwas Powerpoint Präsentation und einer weiter ausserhalb von Auroville gelegen Frage- Antwortrunde mit der Initiantin und widmet sich der Aufforstung des informiert worden. Waldes. Wir haben mit vielen anderen Besuchern an einer öffentlichen 9. Wellpaper: Durch das israelische Besichtigung teilgenommen und sind, Initianten-Paar sind wir in ihrem nach einer kurzen Einführung im öffentlichen Café und Shop empfangen Gemeinschaftshaus, auf dem Gelände und durch ein kurzes Referat zur Firma und im angrenzenden Wald herum informiert worden. Die beiden sind mit geführt worden. Die Organisation der bestehenden Unternehmung nach beschäftigt am Ort oft über hundert Auroville umgezogen und produzieren Volontiers, welche sich für die nun ihre Papierfabrikate ausschliesslich Mindestzeit von drei Monaten oder in Indien. Es sind mehrheitlich gewobene oder gekleisterte, aus Altpapier wir durch einen langfristigen Volontier, hergestellte Alltagsprodukte wie der Öffentlichkeitsarbeiten und Körbe, Becher und Kinderspielzeuge. koordinierende Aufgaben ausführt. Die Produkte werden von indischen Arbeitern, welche in den umliegenden 8. Upasana: Das Projekt wurde durch Dörfern wohnen, hergestellt. Die Firma die ehemalige Designstudentin Uma leistet diesbezüglich einen Beitrag zur Prajapati aus Delhi, in Auroville ins Entwicklungshilfe und funktioniert als Leben gerufen. Sie hat sich nach einer Arbeitgeber in der näheren Umgebung. Zeit als Volontier in Auroville für die Gemeinschaft entschieden und ihre Zusammensetzung der Gemeinschaft Firma am Ort ins Leben gerufen. Die Um die eigene Rolle bestimmen zu Unternehmensbereiche sind vielfältig können, scheint es mir sinnvoll zuerst und gehen von eigenen Kleider- und die Zusammensetzung der Gemeinschaft Accessoire-Labels, über Consultingjobs in Auroville genauer zu beschreiben. Es Unterstützungsprojekten von Armen Gruppierungen, welche ich grob in und Katastrophen-geschädigten. Sie einen inneren Kern, den Mitgliedern und arbeitet diesbezüglich stark ausserhalb einem, in unterschiedlichen zeitlichen der Gemeinschaft mit Firmen in ganz Frequenzen wechselnden, äusseren Indien. Inwiefern ihre Mitarbeiter aus Mantel, den Angestellten, Volontiers Volontiers und externen Arbeitskräften (Freiwilligenarbeiter) und Besuchern bestehen, wurde leider nicht gefragt. abgrenze. Ich fasse im folgenden Unsere Studiengruppe ist durch eine einen Teil dieses äusseren Mantels Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 146

in Teilnehmer zusammen. Sie stehen nach Indien und Auroville eingereist in einem besonderen Verhältnis zur sind. Sie besitzen wie oben beschrieben Gemeinschaft und bieten sich für eine die Savi- und Aurocard. Eine zweite Forschung, anhand der teilnehmenden Gruppe bilden die mittelfristigen Beobachtung besonders an. Volontiers, welche nur eine Aurocard Die Mitglieder setzten sich zusammen erhalten und lediglich mit einem durch die erste Generation, der daraus Touristenvisum nach Indien gereist folgenden weiteren Generationen, sind. Und schliesslich die Mitglieder den Wiedereingegliederten, den der dritten Gruppe, die ebenfalls mit «Newcomers» und den Anwärtern zur einem Touristenvisum eingereist Wieder- oder Neueingliederung. Sie sind. Ich nenne sie die kurzfristigen alle leben die meiste Zeit des Jahres in Volontiers (bis ca. zwei Wochen). Diese Auroville. Bei längerer Abwesenheit erhalten keine der beiden Karten. Für vom Ort (mehreren Jahren), wird einem die drei Untergruppen ergeben sich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft unterschiedliche Möglichkeiten, an der abgesprochen und man durchgeht, bei Gemeinschaft teilzunehmen. einem gewünschten Wiedereintritt, Die zweite Teilgruppe der Teilnehmer ein entsprechendes Wiederaufnahme- kommt aus der Gruppe der Besucher. verfahren. Die Gruppe der Mitglieder Ich unterteile sie in aktive und passive bildet die eigentliche Gemeinschaft im Besucher, wobei nur die ersten in die ordentlichen Sinne. Sie geniesst alle Teilnehmer der Gemeinschaft eingehen. Chancen sowie trägt alle Konsequenzen Aktive Besucher sind solche, welche mit (vgl. Weber 1872: 25). punktuell Freiwilligenarbeit leisten, Die Teilnehmer hingegen setzten sich an Workshops teilnehmen oder sich aus den Volontiers und einem Teil der sonst irgendwie an der Gemeinschaft Besucher zusammen. Die Ersteren sind und deren Angeboten beteiligen. Sie regulär mit einer «Savicard», welche unterscheiden sich zu den kurzfristigen die Teilnahme an allen Anlässen mit Volontiers dadurch, dass sie nicht den selben Vergünstigungen wie für Aurovillianer ermöglicht und einer irgendwo um Auroville in einem privaten «Aurocard», welche als Zahlungsmittel Gästehaus leben und unabhängig ihren vor Ort benötigt wird, ausgerüstet. Alltag planen. Die passiven Besucher Bei den Volontiers gibt es wiederum im Vergleich dazu, sehen oft nur das verschiedene Untergruppen, welche ich Matrimandir, machen vielleicht eine in drei zusammenfasse. Eine Erste bilden weitere Führungen mit, halten sich die regulären, langfristigen Volontiers, sonst im Visitorcenter auf und bleiben welche mit einem entsprechenden Visum meistens nur ein oder zwei Tage. Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 147

Auch wenn ich die passiven Besucher Teil der Werte, respektieren die Regeln weder zu den Mitgliedern noch zu den und fügen sich in die Lebensweise der Teilnehmern zähle, prägen sie das Bild Gemeinschaft ein. Weiter ist ihre Anzahl von Auroville erheblich mit. bemerkenswert und viele Institutionen, Eine letzte Gruppe bilden die indischen wie die Solitude Farm oder Sadhana Arbeiter aus der umliegenden Region, Forest, wären ohne Freiwilligenarbeit welche in Auroville oder ausserhalb, durch Teilnehmer ökonomisch kaum für Firmen aus Auroville arbeiten. tragbar. Sie bleiben oft für Wochen Auroville als Arbeitgeber ist keine zu oder Monate und nehmen an einem vernachlässigende Komponente, wie elementaren Grundsatz, der entgeltlosen die Besichtigung der Solitude Farm und Arbeit (Karma Yoga oder Yoga der die Firma Wellpaper zeigte. Für unsere Arbeit) zum Aufbau und Unterhalt der Betrachtung fällt diese Gruppe jedoch Gemeinde, teil. weg, da sie nicht in dem Masse an der Der Vorschlag, dass Teilnehmer Gemeinschaft teilnimmt, wie es für und Mitglieder die Gesamtheit der unsere Forschung interessant wäre. Gemeinschaft bilden, müsste jedoch Zu der mir, nach der obigen weiter anhand Interviews zum Gruppierungsarbeit evident erscheinenden Zusammengehörigkeitsgefühl gefestigt Anschlussfrage, wie und in welchem werden. Auch wäre es interessant, die Verhältnis die Teilnehmer zur Mitglieder zu ihrer Meinung bezüglich Gemeinschaft stehen, oder anders der Teilnehmer zu befragen. ausgedrückt, in welchem Mass Teilnehmer zur Gemeinschaft Methodik gezählt werden dürfen, möchte ich Während der gesamten Forschungsphase folgende Hypothese vorschlagen: Die wurde anhand der teilnehmenden Teilnehmer gehören in unserem Fall zur Beobachtung das Feld untersucht. Ihre Gemeinschaft, da sie, wenn auch nur Form hat sich jedoch entsprechend den für eine begrenzte Zeit, die subjektive, besuchten Stationen und gesprochenen wohl meistens affektuelle (aber auch Personen verändert. traditionale, wie durch das Beispiel von Satyam weiter oben beschrieben) Edith Franke und Verena Maske, stufe Zusammengehörigkeit fühlen (vgl. ich die Untersuchung als tendenziell Weber 1972: 21). Meine Erfahrung unstrukturiert ein (vgl. Franke-Maske zeigte, dass sie sich aus Interesse an 2011: 111). Es bestand meines Erachtens den Idealen und der Lebensweise für über die gesamte Zeit der Beobachtung eine Zeit in Auroville entscheiden. Sie ein hoher Grad an Offenheit für Neues und zur Hypothesenbildung. Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 148

Durch das vorausgegangene Seminar Seite jedoch kaum möglich, oder wenig und meine Vorarbeit zu Aurobindos sinnvoll. Das Gegenüber interessierte Integralem Yoga, bestand zwar sehr sich schlichtweg nicht dafür. Ebenso wohl ein gewisser Überblick über das beim Besuch von «Sadhana Forest» Feld, jedoch war, auch wenn Fragen ins war von der Forschungsseite her die Feld hinein getragen wurden, keine klar Kommunikation des Auftrags gegeben. Eingebettet in eine grösseren Gruppe Weiter haben wir in einer letzten Phase von Besuchern, stiess diese Art von Information auf kein Interesse. zu Themen wie der institutionellen und Bezüglich dem Grad der teilnehmenden räumlichen Organisation, der Struktur Beobachtung (vgl. Franke-Maske und der Gemeinschaft generell, zur Mitgliederschaft, dem Individuum, werden, an was effektiv teilgenommen den Idealen und Konzepten und zur wurde. In den meisten Fällen kann Frage, wo und in welcher Form sich in von einer teilnehmenden Beobachtung Auroville religiöse Züge und Formen als passiver Besucher ausgegangen einer Strukturierung gesprochen werden, Führungen (vgl. Stationendarstellung welche jedoch nachträglich erfolgt ist. Solitude Farm und Sadhana Forest) Wir haben aus dem bereits beobachteten oder an speziellen Führungen und Fundus geschöpft und nur auf eventuelle Präsentationen für unserer Gruppe Lücken mit weiteren kleinen Recherchen (vgl. Stationendarstellung Townhall reagiert. und Upasana) teilgenommen. Von einer Bezüglich der Einstufung einer teilnehmenden Beobachtung in der offenen oder verdeckten Beobachtung Gemeinschaft kann höchstens beim (vgl. Franke-Maske 2011: 111 f.), Besuch der Solar Kitchen gesprochen war von unserer Seite her der Wille werden. Dort haben wir zusammen mit zur offenen Forschung ausnahmslos Mitgliedern und Teilnehmern unser gegeben. Absicht und Zweck des Mittagessen eingenommen. Trotzdem Besuchs wurde, wo immer möglich, würde ich die Rolle für die gesamte Zeit kommuniziert. Je näher die Personen eher als «vollständiger Beobachter» der Studiengruppe standen und je länger man Zeit an einer Station verbrachte, die teilnehmende Beobachtung als eine umso offener wurde die Methode. längere Teilnahme an der (religiösen) Bei spontanen Bekanntschaften (vgl. Alltagspraxis verstanden werden kann Einzelfalldarstellung «Seven») war eine (vgl. Franke-Maske 2011: 105), was in Kommunikation der Absicht von unserer unserem Fall bis auf das Mittagessen Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 149

in der Solar Kitchen nicht der Fall war. Fazit Wir haben uns im Rahmen der Besucher Nach dem Besuch von Auroville haben bewegt und dort Informationen von sich ungemein viele Themen für einen der Gemeinschaft abgeholt, aber nicht möglichen Bericht aufgetan. Erst die wirklich am Alltag teilgenommen. drei Wochen auf der Farm und das Franke und Maske erwähnen bei dieser dabei gesammelte Wissen über die Art von Beobachtung, die Gefahr eines Zusammensetzung der Gemeinschaft, Eurozentrismus (vgl. Franke-Maske haben das Interesse auf die Methodik 2011: 122). In unserem Fall erscheint gelenkt. Weiter wurde durch die, mir diese jedoch eher gering, da wir uns hier zwar nicht am praktischen mit der Tiefe unserer Forschung an der Beispiel gezeigte, Verschiedenheit der Beobachtungen meiner beiden bewegen. Phasen im Feld (Studienreise und Zeit Abschliessend und zusammenfassend als Volontier), das Spannungsfeld der würde ich die Methodik als eine unterschiedlichen Beobachtungsgrade tendenziell unstrukturierte und eher der Methode eröffnet. Das so gesammelte offene teilnehmende Beobachtung, in der Wissen konnte auf die Studienreise Rolle eines vollständigen Beobachters angewandt und die möglichen Grade beschreiben. einer teilnehmenden Beobachtung über Wie die kurze Übersicht zur die vorgefundenen Rollen im Feld, Zusammensetzung der Gemeinschaft erläutert werden. Speziell diese Grade zeigte, bieten sich einige interessante scheinen mir das Qualitätsvolle an der Rollen für eine teilnehmende Methode. Beobachtung in der Gruppe der Auroville bietet, anhand den in der Teilnehmer an. Es sind gewissermassen Gemeinschaft bereits etablierten bereits durch die Gemeinschaft Teilnehmern, besondere Möglichkeiten geschaffene Rollen vorhanden, welche für die besprochene Forschungsmethode. von interessierten Aussenstehenden Eine solche Konstellation scheint mir eingenommen werden können, um ausserordentlich und ist wohl selten bei an der Gemeinschaft teil zu nehmen. Anhand der Auswahl von verschiedenen In Bezug auf die Absicht des Berichts ist Rollen, kann der Grad der teilnehmenden es jedoch ein Glücksfall. Beobachtung gut durch den Beobachter gesteuert werden. Auroville: Formen einer teilnehmenden Beobachtung 150

Bibliographie Jugend in Deutschland e.V.’, in: Religionen erforschen - Kulturwissenschaftliche Methoden in der Religionswissenschaft, - Klimkeit, Hans-Joachim: Der politische Hinduismus: indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen, Wiesbaden, Harrassowitz, Sammlung Harrassowitz, 1981, 117-142. Shinn, Larry D.: Auroville: Visionary Images and Social Concequences in a South Indien Utopian Comunity, in: Religious Studies, Vol. 20, No. 2 (Jun., 1994), 239-253.