Hugo Niebeling

Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk. : Johannes-Passion BRD 1991 im Zeughauskino am 12.3.2013 um 20h Regie Hugo Niebeling Tanz: Randy Diamond, Terry Edlefsen, und am 29.3.2013 um 18:30h Drehbuch Hugo Niebeling Steffen Scheibner, Michel Steininger, Kamera Franz Rath Corinna D´Angelo, Eleonora Gori, Tuija Johann Sebastian Bachs Johannespassion Thomas Schwan Steininger, Elisabeth Tuvey sowie Studie- (Passio Secundum Johannem) wurde am Schnitt Hugo Niebeling rende der Akademie des Tanzes der Staatli- Karfreitag, dem 7. April 1724 in der Leipzi- Ton Rolf W. Hapke chen Hochschule für Musik Heidelberg- ger Nikolaikirche uraufgeführt. Die letzte Musik Johan Sebastian Bach Mannheim zu Bachs Lebzeiten aufgeführte Variante (Johannes-Passion - stammt von 1749. Sie entspricht im We- Passio Secundum Gesang Ernst Haefliger (Tenor, Evange- sentlichen wieder der Struktur von 1724, ist Johannem), BWV 245 list), Hermann Prey (Bariton, Jesus), Hertha jedoch im instrumentalen Bereich deutlich Dirigat Töpper (Alt), Evelyn Lear (Sopran), Kieth erweitert. Orchester Münchner Bach Engen (, Pilatus) und der Münchner Sie beschreibt den Leidensweg Jesu Christi Orchester Bach-Chor – formal streng, inhaltlich hochdramatisch. Chor Münchner Bach Chor Das Textbuch folgt im Wesentlichen den Musikalische James Schar Karl Richter gewidmet Kapiteln 18 und 29 des Johannes-Evangeli- Einstudierung der ums, in die an zwei Stellen Verse aus dem Playback-Chor- Matthäus-Evangelium eingeschoben sind, Einsätze Produktion Provobis (Berlin) und integriert Kirchenliedstrophen und Choreographische Rosemary Helliwell SWF, WDR madrigale Dichtungen, wie. z.B. die Texte Mitarbeit Produzent Jürgen Haase für die Arien, Ariosi. Choreographie Hugo Niebeling Herstellungsleitung Peter Hahne Im Zentrum von Bachs Oratorium – wie Ausstattung Gerd Staub Redaktion Jose Montes-Baquer auch im Film – steht die Konfrontation Kostüme Gerd Staub Dietrich Mack zwischen Jesus und Pilatus. Entrückt, Maske Paul Schmidt Verleih und Filmverlag der angstfrei, bereit zur Passion, noch tri- Iris Müller Weltvertrieb Autoren umphierend am Kreuz mit den Worten: Verena Effenberg Uraufführung 1. November 1991, „Es ist vollbracht“ – der Sieger ist Jesus ! Requisite Kristine Steinhilber Köln (Filmtheater) Von ihm, dem menschenfreundlichen Ingrid Galonska Erstsendung 17. April 1992, ARD Gottessohn, ist der römische Machtmensch Gewandmeisterin Ganriele Reumer Format 35mm Pilatus so fasziniert, daß er es nicht einmal Regie-Asistenz Gabriele Faust Länge 125 min wagt, ihn mit seinen eigenen Händen zu Kamera-Assistenz Nicolas Hüther Drehorte Dom zu Speyer berühren... Lisa von Treskow Kloster Maulbronn Der Regisseur Hugo Niebeling hat seinen Drehzeit 32 Tage Film streng nach Bachs Partitur inszeniert. Rolle Darsteller Auszeichnungen keine Benutzt hat er dafür die legendäre „Ar- Jesus Christoph Quest chiv“-Produktion der Deutschen Grammo- Pilatus Klaus Barner phon, die 1964 von dem (inzwischen ver- Evangelist Ernst Haefliger Kopie Bundesarchiv storbenen) Bach-Dirigenten und -Interpre- Petrus Ralf Richter Filmarchiv ten Karl Richter mit dem Münchner Bach- Frau des Pilatus Isolde Barth Hugo Niebeling Chor und -Orchester aufgenommen wurde. Maria Magdalena Renée Morloc 35mm / Blu-ray Zwei Solisten dieser Aufnahme, Ernst Judas Eric P. Caspar Haefliger und Kieth Engen, sind im Film Hohepriester Eric P. Caspar nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Narr Karl-Heinz Tittelbach

Verleihmitteilung Bass Kieth Engen

Sopran Daniela Obermeir

Gambespielerin Monika

Schwamberger

Lautenspieler Ulrich Wedemeier

sowie Jonathan Madigan

Jan Reckmann

Stefan Sigmund

Marget Taylor

Richard Weber

Hugo Niebeling

Aus einem Interview mit Hugo Eine wunderbare Erinnerung, die gleich- Ebene. Für die optische Übersetzung der Niebeling zeitig einen großen künstlerischen Schub Arien habe ich stumme Spielszenen und für Was hat Sie an Bachs Werk so fasziniert, daß Sie für mein Film-Vorhaben bedeutete. Es war die Volkschöre choreographische Tanz- sich davon zu einem Film inspirieren ließen? 1960 in München, als ich dort mit der End- und Massenszenen eingesetzt. Die Tänzer Bachs Musik hat mich sehr früh begeistert. fertigung eines Films beschäftigt war, – da tragen Masken wie der Chor der Antike. Schon als Kind, im Musikgeschäft meines habe ich zum ersten Mal die Johannes- Um die antijüdische Tendenz des Vaters, hockte ich neben den damals übli- Passion in der Münchner Markus-Kirche Johannes-Evangeliums, die zeitbedingte chen Vorführkabinen für Plattenkunden, unter Karl Richter erlebt. Ich weiß noch politische Hintergründe hat, zumindest zu die sich Bachs Passionsmusiken vorspielen ganz genau, ich war tief erschüttert von schwächen, wird aus der „gläubigen Ge- ließen. Später, als Gymnasiast, hatte ich das dieser Aufführung, von der dramatischen meinde“, die die Choräle singt, unversehens große Glück, bei einer Aufnahme der Wucht, Inbrunst und Glaubensseligkeit, die der Pöbel, der „kreuzige“ schreit, und um- Matthäus-Passion unter Carl Schuricht im Karl Richter aus Bachs Partitur herausgele- gekehrt. Damit soll deutlich werden, daß Chor mitwirken zu dürfen. Und seit ich sen hat. Seitdem stand für mich fest: Wenn diese gegensätzlichen Verhaltensweisen Filme machen konnte, hatte ich den ich je meinen Bach-Film realisieren werde, Eigenschaften oft derselben Menschen Wunsch, Bachs Johannes-Passion in einen dann nur mit Karl Richter. Nach seinem sind, der Menschen schlechthin, quasi das Film umzusetzen. Jeder Schritt in Richtung frühen Tod konnte ich das nur tun mit „Janusköpfige“ ihres Wesens. Film, von einem frühen für einen Konzert- einer Plattenaufnahme, und zwar mit der Daß Jesus äußerlich wenig der überlieferten film bis zu dem Film, den ich schließlich seiner frühen Version, die mich vor 30 Vorstellung entspricht, war meine Absicht. machen konnte, war zugleich ein Schritt Jahren so bewegt hatte. (...) Bedanken Die Darstellung seines Schmerzes sollte näher zu der Vorstellung: Die Johannes- möchte ich mich bei Ernst Haefliger und jede gewohnte Dimension sprengen. Passion als Tragödie mit Musik nach anti- Kieth Engen, den großen Solisten für die Die Deutung der Pilatus-Figur ist modern, die kem Vorbild, – ein Anspruch, der in Bachs Partien des Evangelisten und des Bass aus Tragik der inneren Schwäche ist eine zweite Werk geben ist. Mit meinem Film will ich Karl Richters Aufnahme der Johannes- „menschliche“ Passion, sie kann sich nicht auf nur einlösen, was – wie ich meine – diese Passion, daß sie bereit waren, ihre Partien historische Grundlagen stützen, die weitgehend Musik seit 250 Jahren fordert. noch einmal vor der Kamera zu singen und unbekannt sind. Wie ist die Johannes-Passion musikalisch aufge- zu spielen. Die Einleitung meines Films mag zunächst baut? Wer hat das Textbuch verfaßt? Sie haben Ihren Film im romanischen Kaiserdom befremden. Ich wollte zeigen, wie Alltags- Bach läßt in seiner Partitur der Johannes- zu Speyer gedreht. Warum Bachs barocke Musik menschen wie Du und ich sich allmählich Passion die unterschiedlichsten musikali- auf romanisch-römischem Schauplatz? in Figuren verwandeln, deren Anspruch schen Gestaltungsmittel aufeinandertreffen. Als ich zum ersten Mal den Dom in Speyer außergewöhnlich, ja eigentlich vermessen Gleichzeitig bändigt er sie durch strenge betreten habe, da dachte ich spontan: Mein ist. Wer aufmerksam registriert, sieht, daß Form und durch kluge dramaturgische Gott, – Bach hier !!! Die strenge, „römisch“ bereits hier die Handlung beginnt. Zusam- Disposition. Am Anfang und gegen Schluß geprägte Architektur läßt keine Idylle ent- menfassend kann man sagen: Agieren, stehen große Chöre, dazwischen gibt es stehen, die der Passion und der Musik Tanzen, Singen, Sprechen – Elemente, wie ausführliche, von der italienischen Oper Bachs nur schaden kann. Die imperiale sie auch das Musical kennzeichnen, sind inspirierte Barock-Arien, heftige Volks- Weite des Raums schien mir der geeignete hier nur auf ein ganz anderes Genre ange- chöre, "Turbae" genannt, innige, geradezu Ort für den Kosmos der Töne. Nie wurde wandt. volksliedhafte Choräle und teils hoch- ein größerer romanischer Dom, nie eine Wie haben Sie es geschafft, Bachs Partitur mit dramatische Rezitative, die einen großen größere, schönere Krypta gebaut. Der ihren optischen und dramaturgischen Vorstellungen Raum in der Partitur einnehmen. In diesen Kaiserdom war für mehr als hundert Jahre und mit der Film-Technik vor und hinter der Berichten und Dialogen geht es um die das Zentrum des Abendlandes. Hier ist der Kamera in Einklang zu bringen? Auseinandersetzung zwischen Jesus und Platz für eine antike Tragödie mit Musik. Durch ausführliche und genaue Vorberei- Pilatus, zwischen göttlicher Botschaft und Mit welchem Konzept für Ihre filmische Umset- tungen war dies möglich, denn ich hatte nur irdischer Macht. Dies so dramatische Kern- zung sind Sie angetreten? 32 Drehtage im Dom. Die Tanz- und Mas- stück der Johannes-Passion steht auch im Es gab ein präzises Drehbuch mit Plänen senszenen waren von der Choreographin Zentrum meiner Filmgestaltung. Die stilis- für die Choreographie lange vor dem ersten Rosemary Helliwell mit Solisten, auch vom tischen Gegensätze stoßen auch im Film Drehtag. Bei der optischen Umsetzung Stuttgarter Ballett, und mit Studierenden unvermittelt aufeinander. habe ich mich im Wesentlichen – bis auf der Mannheimer Tanz-Akademie nach Das Textbuch der Johannes-Passion basiert einige Veränderungen im Bild am Anfang meinen Entwürfen und unter meiner Lei- auf zwei Kapiteln des Johannes-Evangeli- und vorsichtige Kürzungen, z.B. der letzten tung vier Wochen vor Drehbeginn einstu- ums, aber es enthält auch freie, lyrische Sopran-Arie und des Schluß-Chors, eng an diert worden. Die musikalische Einstudie- Passagen, z.B. die Texte der Arien. Ob Bachs Partitur gehalten. Das Textbuch rung der Chor-Einsätze dieses Ensembles – Bach das Textbuch allein oder mit einem habe ich nur insofern ausgeweitet, als ich nach Playback – wurde von James Schar oder sogar mehreren Textdichtern verfaßt die in den Rezitativen enthaltenen Dialog- geleitet, der auch einmal im Bild diese hat, ist nicht bekannt. zitate herausgelöst und leicht modernisiert Funktion als Agitator hat. Für mich be- Sie haben Ihren Film dem Andenken des großen habe, um sie dann in Spielszenen von deutete die Regie auch immer ein Kampf Bach-Interpreten Karl Richter gewidmet. Was Schauspielern sprechen zu lassen. Darüber gegen die Zeit. Wenn ein Bach-Rezitativ verbindet Sie mit Karl Richter und seiner Bach- erklingen dann Bachs Rezitative, leicht nur 57 Sekunden dauert, darf meine Spiel- Interpretation? versetzt, auf einer zweiten akustischen Szene nicht einen Sekundenbruchteil länger

Hugo Niebeling

oder kürzer sein. Bach war sozusagen unser Wie haben Sie für die Johannes-Passion einen vor dieser Aufgabe. Als dann – nach vielen rigoroser Metronom. Und obwohl die Produzenten gefunden? ups and downs – der erste Drehtag kam, da Schauspieler ihre Einsätze genau kannten, Ich habe einen gefunden, und das ist wirk- war plötzlich der Bann gebrochen. Vieles obwohl wir alle, auch die Kameraleute lich ein Wunder, auch für mich. Jahrelang lief erstaunlicherweise wie von selbst, fast Franz Rath und Thomas Schwan, mit habe ich um die Mittel gekämpft, - wie wie in Trance. Die Anstrengung aber kennt Bachs Musik und auch der Partitur vertraut wahrscheinlich alle Regisseure, die ein Pro- keinen Vergleich. Franz Rath und ich waren, war die Arbeit für alle äußerst jekt außerhalb der Kinonormen realisieren kämpften oft gegen den toten Punkt bei schwierig, denn nur ich selbst konnte wäh- wollen. Letztlich habe ich es dem Produ- Nachtaufnahmen. Zum Schlafen zog ich rend des Drehs der Dialogszenen, wo kein zenten Jürgen Haase zu verdanken, daß ich mich ins Kloster zurück. Playback mehr hörbar sein durfte, das meinen Film machen konnte. Er hatte von Warum haben Sie für Ihren Film den Titel Es genau geprobte Timing über Kopfhörer Anfang an ein unerschütterliches Ver- wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht kontrollieren... trauen. Zwischendurch, wenn das Projekt für das Volk gewählt? dennoch zusammenbrach, war ich merk- Der Titel ist ein Zitat aus der Passion. Ich würdig erleichtert, denn ich fürchtete mich habe ihn gewählt, um auch nicht entfernt den Eindruck aufkommen zu lassen, es handele sich um eine konzertante Auffüh- rung oder um eine Filmfassung mit freien, eher beliebigen Bildern zur Musik. Beides, unter dem Titel Johannespassion, gibt es schon mehrfach. Außerdem wollte ich nicht, daß mein Film zu einem Insider-Fest für Honoratioren, Bildungsbürger oder der Society verkommt. Ich will junge Menschen erreichen, die außerhalb der Kirche stehen. Ich habe meinen Film ohne jeden kirchlichen Ein- fluß gemacht. Dafür bin ich auch dem Bischof von Speyer – (Dr. Anton Schlem- bach, A.d.R.) – und dem Domkapitel besonders dankbar. Sie haben mich im leergeräumten Dom wirken lassen, ohne das Ergebnis zu kennen. Ein Verkündungscharakter, der dem Film innewohnen soll, muß sich weit nach außen richten. Dies will ich mit besonderem Nachdruck sagen, weil bisher meist von formalen Problemen die Rede war. Nicht zuletzt deshalb habe ich das Klischee des Jesus-Bildes zerbrochen. Sollte sich erwei- sen, daß seine Darstellung zu Herzen geht, wie auch die des Pilatus und des Petrus, so wäre das für uns alle sicher der schönste Lohn. Glauben Sie, daß Sie mit Ihrem Film die Ak- zeptanz für Bachs Werk bereichern? Alles, was ich über Bach weiß, bestärkt meine Auffassung, daß er nichts gegen unsere Arbeit einzuwenden hätte, im Ge- genteil. Er soll ja ab und zu nach Dresden geflohen sein, um sich eine Opernauffüh- rung anzusehen. Zur Empörung seiner Leipziger Gemeinde hat er – als Kantor der Thomaskirche – die Solisten seiner „Matthäuspassion“ bei der Uraufführung in Kostümen auftreten lassen! Ich gehe nur einen Schritt weiter und lasse sie agieren. Und die Volkschöre – Albert Schweitzer zufolge die eigentlichen Träger der Hand- lung1 – sind die packendsten Volksszenen,

Hugo Niebeling

die je für das Musiktheater geschrieben Vorbemerkungen zur Verfilmung der für eine abwechslungsreiche Handlung wurden. Ich sehe Bachs muntere Geste, sie Johannespassion aus dem zweiten Ent- dienen, die sich hier frei von Fesseln jeder endlich vom Podium mit seinen Interpreta- wurf vom 19.8.1987 von Hugo Niebeling Art optisch besonders intensiv entfalten tionsängsten herunterzuholen. kann. Sie vermitteln eine Stimmung aus Eine Frage, die ich mir selber stelle: Seit langem habe ich den Plan, die dem Hintergrund. Die Arien werden so Schränke ich die Phantasie der Bach-Hörer Johannespassion dramatisch im Film darzu- (ohne ihnen Gewalt anzutun) optisch zum durch meine Bilder ein? Phantasie ist zu- stellen – so wie es nur mit dieser Passion Gegenteil dessen, was sie musikalisch- nächst immer grenzenlos, weil sie unscharf möglich ist – ohne daraus ein opulentes dramaturgisch darstellen. (Daß ich daraus ist. Den schwierigen Prozeß der Konkreti- Opernspektakel zu machen. Die Zeit hat keine Regel gemacht habe, wird man mir sierung habe ich selbst erlebt. Mögen die bewirkt, daß sich mein Vorhaben inzwi- eher zugute halten.) Bachfreunde meine Bilder als Provokation schen konsequent und kompromißlos Ähnliches gilt für den Evangelisten. Statt im wörtlichen Sinne verstehen. Möge der entwickelt hat. seiner ist meist das Geschehen selbst, zeit- Film der Musik Bachs neue Freunde ge- Profan gesprochen gibt uns die Bach-Pas- lich oft etwas versetzt, im Bild. winnen! sion eine Ahnung davon, wie die antike Was ich von den Arien sagte, gilt nicht für Tragödie mit Musik einmal gewesen sein die Choräle. Aus: Filmheft des Filmverlags der Autoren, 1991 mag. Die Johannespassion besonders, denn Wie ich an meine Arbeit nie aus theoreti- A.d.R. ihr dramatisches Zentrum ist fast frei von schen Überlegungen herangehe und mir 1 „Der Passionsbericht des Johannes ist in der Arien. Bach-Arien sind dramaturgische erst nachher Rechenschaft gebe, so frage Hauptsache nur eine Schilderung der großen Schreckgespenster, oft schier endlos, ähn- ich mich jetzt, warum ich die Unterbre- Gerichtsszenen vor dem Hohepriester und lich wie die sich zu einer großartigen chungen durch die Choräle so besonders Pilatus. Er hat etwas Aufgeregtes und Leiden- Klangarchitektur auftürmenden Eingangs- reizvoll, so wichtig finde. Wie hier die schaftliches an sich. Diese Eigenart hat Bach und Schlußchöre. Unser Standpunkt ist hier Handlung immer wieder ´eingefroren´ wird, erfaßt und in seiner Musik wiedergegeben. Die einseitig, der Blickwinkel eng: Es geht um das hat durch den extremen Kontrast Priester- und Volkschöre werden bei ihm die einen spannenden Film. Und dabei stören schon etwas Ungewöhnliches. (Der junge Träger der Handlung. (...) Eine Steigerung des die Arien ganz besonders. Nietzsche würde es vielleicht den diony- dramatischen Lebens sucht der Meister in diesen Volkschören nicht. Er stellt die Menge gleich als Trotzdem habe ich nicht eine einzige ge- sisch-appollonischen Gegensatz nennen.) fanatisch dar.“ kürzt oder gar weggelassen. Ich habe mir Es sind Momente der Besinnung, der Läu- Albert Schweitzer: Joh. Seb. Bach, Leipzig viele Male den Bildablauf zur Musik genau terung (Katharsis im antiken Sinne), die 1908/1947, S. 560 f vorgestellt, und zwar die ganze Passion immer dann gut gelingen, wenn vorher ohne Unterbrechnung. Es wird auffallen, Handlung und Ausdruck große Dichte daß die Solisten der Arien im Bild kaum erlangen. Das Janusköpfige der Situation erscheinen, daß gerade die Arien als Folien spielt außerdem eine Rolle. Für die optisch- filmische Darstellung eine Bereicherung.

Im Ganzen: Der Film erzählt eine alte Ge- schichte neu, spontan, unbelastet von Vor- bildern, unbelastet auch vom modischen Druck zur regielichen Gewalttat.

Vor allem aber eins: Er setzt in Szene, was die Musik seit 250 Jahren vergeblich fordert. Ich kenne in der Musikliteratur keine pa- ckenderen Volksszenen, die zugleich zu musikadäquater Choreographie herausfor- dern. Wenn Mendelssohn im 19. Jh. die Bach-Passion musikalisch für die Auffüh- rung ´wiederentdeckt´ hat, so ist es an unserer bildüberfütterten Zeit, den viel- leicht ebenso wichtigen zweiten Schritt zu tun: dem Werk zu seiner ganzen Verwirkli- chung zu verhelfen, Film (auch einmal) dort zu ermöglichen, wo es kulturell um eine große Herausforderung geht. Wohlgemerkt im Sinne Bachs – der unter Protest des puritanischen Leipzig seine Interpreten in Kostümen auftreten ließ. Wir endlich ha- ben die Mittel, weit über die Möglichkeiten des Theaters hinaus.

Hugo Niebeling

Drehort und Szene wäre der Speyrer Dom, Eckchöre und einige andere Stellen, wo Dramaturgische Bemerkung: und zwar vor allem die Krypta (11. Jh., Masken fehlen. Alle Haupt- und Kleindar- Im Vordergrund das Gegenüber von Jesus größte und schönste Unterkirche der Welt), steller tragen keine Masken, auch die Jünger und Pilatus – Glaubens- und Weltmann. und als Kontrast dazu (vor allem für Ein- nicht. Beider Verkettung in einem schicksalhaften gangs- und Schlußchor/Choral) das riesige Kostüme: Chor/Volk sehr schlicht, knö- Augenblick wird zum eigentlich Tragischen Schiff (größte romanische Kirche), mit dem chellange sackartige Gewänder, helles dieser Passion. Nach dem geschichtlichen Standort des Chors auf den Stufen unter Graubraun (evtl. Jute) mit Strick gegürtet, Kern dieser Begegnung zu forschen käme dem Triumphbogen (dort Anschluß für 600 Frauen mit gewundenen Kopftüchern der Pilatus-Frage nach der Wahrheit gleich. KW vorhanden). Die Chormitglieder müs- (nach Art der orthodoxen Gemeinde). Sie hat hier allgemein menschliche Symbo- sen deshalb nicht optisch vermehrt werden, Männer mit Kapuzen (die hin und wieder lik. Die Namen sind historisch, man kann oder zumindest kaum. Es geht um die abgestreift werden). Bei den Chorälen der sie nicht ändern. befreiende Raumwirkung gegenüber den gläubigen Gemeinde dazu ein kurzer, Jesus ist nicht tragisch. Er befindet sich in Gewölben der Krypta. Auch ist nie an eine transparenter Schleierüberwurf, fast weiß, innerster Übereinstimmung mit seinem komplette Ausleuchtung gedacht. Das Licht auch schwarz, über Kopf und Oberkörper, Schicksal. Tragisch wird er allein durch das ist aber hier – wie im ganzen Film – ein der, wenn Übergänge dies erfordern (bei Unrecht. wichtiger Gestaltungsfaktor. Die formklare der Verwandlung in die bewegten Turbae), Pilatus ist der Mensch, den im Innersten Kargheit der restaurierten salischen Archi- blitzschnell abgeworfen werden kann. nichts tangiert, für den Verurteilungen in tektur lenkt nicht ab, fordert Lichtgestal- Zumindest einmal, beim Schlußchoral, einem unruhigen, aufständischen Land so tung heraus. Der angemessene Ort für eine strahlend weiße Überwürfe (körperlang), nebenbei zum Tagesgeschäft gehören, um ´antike Tragödie mit Musik´. Er läßt keine die im dunklen Raum allmählich aufgeblen- den Preis der Menschenverachtung. Der (Kulturfilm-)Idylle entstehen. (...) det werden. aber hier – man muß es paradox sagen – Der Film wurzelt ganz und gar in der In- Die Jünger (im Gegensatz zum Chor) tra- der geradezu kindlichen Gewalt einer be- terpretation von Karl Richter von 1964. gen originale traditionelle Kleidung aus dingungslosen Reinheit und Selbstgewiß- Dramatik, aber auch Glaubensseligkeit und dem Orient, wie sie noch heute auf den heit, eben dem Göttlichen, aller eigenen Inbrunst, Wucht und Präzision des Chors Dörfern dort seit der Zeitenwende kaum Widerstände zum Trotz, schließlich hilflos sind staunenerregend, mitreißend und ohne verändert üblich ist, original, abgetragen ausgeliefert ist. Der dazu fähig wird, dieser Parallele. (...) und dort besorgt. Abgetragen auch die Gewalt zu erliegen. Der fähig wäre zur Zimmermannsjacke von Jesus, die er über Wandlung seines Wesens von Grund auf, Technisch sei angemerkt: weißem Gewand und grauem Rock trägt wenn nicht der Rausch des blutgierigen Playback, ca. 6 Wochen (zzgl. 8 Tage für und ihm später abgenommen wird. Petrus Pöbels und der Mangel eigener Kraft ihn Einzelaufnahmen) Drehzeit. Kein Orches- mit abgenutztem Wetterzeug der Fischer. letztlich daran hindern würden: das ist das ter im Bild, auch Dirigent nicht sichtbar. Dieser Realismus und die geradezu doku- Tragische seiner Person. Tragisch aber Kaum Bauten, außer Kreuz, Martersäule mentarische Glaubwürdigkeit der Hand- auch, daß Jesus dieses Opfer braucht, mag und einige Podeste. Auch der Originalchor lungsträger vertragen sich durchaus mit der er auch die Schuld dieses Menschen relati- der Aufnahme kann ersetzt werden durch Stilisierung des Chors (Masken, einheitliche vieren. Statisten, handlungsgewohnten Opernchor, Jutekleidung etc.), stoßen doch auch bei Von den Solisten Jesus und Pilatus wird Corps de ballet oder Domchor am Ort. Die Bach derartige Stilkontraste hart aufeinan- zweifellos ein hohes Maß an darstellerischer sehr bewegten Szenen der Turbae müssen der ! Ja, die Passion bezieht ihren Reiz nicht Intensität gefordert. Intensive Personen- choreographisch gestaltet werden (Mitarbeit zuletzt aus dem scharfen Gegeneinander und Charakterregie. eines Choreographen erforderlich), unter der verschiedenen Stilmittel, die ich im Mitwirkung einer Gruppe von 12 Tän- Optischen aufs Ganze gesehen beibehalten Einige Einzelheiten noch in Ergänzung: zern/Tänzerinnen, die in die Volksszenen möchte. Die Verleugnung durch Petrus soll anders möglichst unauffällig integriert werden Die übrigen Solisten (alle ohne Noten) im als gewohnt motiviert werden. Petrus will sollen (evtl. aus dem nahen Mannheim). Prinzip ähnlich wie der Chor, nur farbliche, nicht das Schwert in die Scheide stecken, Zum formalen Charakter der Volksszenen z.T. kontrastreiche Unterschiede. Evange- Jesus den Kelch nicht trinken lassen. Er gehört also, daß im scheinbaren Chaos list mit Heiliger Schrift. Pilatus historisch wehrt sich gegen Jesus, lehnt sich auf. Wie immer die ordnende Hand des Choreogra- (römische Architektur der Krypta) mit er die Lampe zu Boden schlägt, die Jesus phen zu spüren ist, die Musikstruktur stets Tunika und Toga, weißgrau, Purpursaum. anleuchtet, will er kämpfen. Das ist ihm ihre (mühsam zu erarbeitende (= 3 Wochen Seine Leibwächter/Gehilfen mit hautenger verboten. So ist es die Verbitterung, die Probenbühne) optische Entsprechung fin- Kleidung, evtl. freiem Oberkörper, Peit- schmerzliche Wut über seine Ohnmacht, det. schen. aus der heraus er trotzig leugnet, sein Wei- Wenige originalgetreue Requisiten: römi- nen nicht allein Beschämung, sondern Masken, Kostüme: sches Tintenfaß (Ton), Schreibfeder Verzweiflung. Chor / gläubige Gemeinde einerseits, gei- (Bronze), Papyri, Schriftrollen der Juden, Eine Figur will ich zusätzlich einfügen, die fernder Pöbel andererseits. Zwei Seiten der Schüssel, Waffen, Lampen, Fackeln, Trans- bei jeder Gelegenheit ihr boshaftes Possen- gleichen Münze. Dem antiken Vorbild parente. spiel treibt: einen kleinwüchsigen Kobold, nachspürend soll er Halbmasken tragen, die Tische (Bretter auf Böcken), Leinentücher, mit Halbmaske, einem verblichen-bunten über Nasenrücken und Wangenansatz rei- zusammenklappbare Sitze. Einfaches Ge- Patchworkkostüm, das an alles: an Ar- chen. Es gibt Ausnahmen, wie die großen schirr (Glas, Holz, Metall). lecchino, Narr, Hanswurst oder Beelzebub

Hugo Niebeling

erinnern kann. Er äfft die geifernde Menge Einspruch (1988) von Hugo Niebeling Massenszenen müssen musikalisch gebaut nach, gibt ihr Einsätze, treibt sie an, ko- Zunächst möchte ich zum Vorwurf der sein, ähnlich wie bei der Prügelfuge der bolzt zwischen die Füße der tanzenden ´Herabwürdigung der Musik´ als ´Beiwerk´ Meistersinger. Dann wird sich endlich Meute, trägt Transparente, zerrt an den Stellung nehmen. Der Vorwurf ist natürlich erweisen, daß in der Musikliteratur keine Stricken des gebundenen Jesus, versucht hart für einen Autor, der aus musikalischem packenderen Volksszenen je geschrieben ihn zu schlagen, kann sich wunderbar ver- Hause stammt und schon als Sextaner im wurden, achtzehn an der Zahl. mehren etc. Knabenchor der Matthäus-Passion bei Wie mir einmal ein französischer Kritiker einer Aufnahme unter Carl Schuricht mit- zu meiner Pastorale schriebe: „...Monsieur, Obwohl mich bisher niemand darauf ange- gewirkt hat. Bachmusik hat mein ganzes aujourd´hui j´ai VU de la musique“, so soll sprochen hat, will ich auf ein Problem und bisheriges Leben begleitet. es auch hier sein: optisch-musikalisch dessen einfache, angemessene Lösung Nun gibt es gerade aus jüngster Zeit Ver- nachvollziehen, was Bach in seiner Phanta- hinweisen: filmungen der Johannespassion und h- sie sah und in seiner Musik ´schilderte´. Der Pöbel, ´die Juden´, das sind wir alle – Moll-Messe (Düggelin, Kirchner)1, die ich (Was kontrapunktische Gegensätze nicht die gläubige, christliche Gemeinde, das sind als Herabwürdigung ansehe, weil sie die ausschließt.) wir alle. Und eins wandelt sich jäh, janus- privaten, weithergeholten und willkürlichen Hat Bach das nötig? Nein. Ich will nicht köpfig, ins andere. Vorstellungen von Regisseuren der Musik mit dem Konzertpodium konkurrieren. Ich Läuterung und Auflösung der fatalen Ge- aufpropfen und sie in meinen Augen desa- will Bach auch nicht illustrieren. gensätze kann nur der optisch-akustische vouieren. Gerade angesichts dieser Pro- Nie würde mir einfallen „Sind Blitze, sind Prozess bewirken. Pseudorealistischer Hin- duktionen gelang es mir, auch gegenüber Donner...“ aus der Matthäus-Passion tau- weise und Assoziationen bedarf es weiter den dafür zuständigen Fernsehanstalten, tologisch ins Bild zu setzen. (In der frühen nicht. den wesentlichen Unterschied meiner Ab- Johannes-Passion fehlen weitgehend Na- sicht deutlich zu machen, nämlich das Werk turmalereien.) Zum Verständnis des Anfangs (Nr. 1, aus seiner Mitte heraus szenisch zu ver- Was ich will, ist dies: Das rückhaltlos Eingangschor): wirklichen, indem ich mich als Gestalter Eruptive der Szenen soll die ganze dramati- Am Anfang des Films verzahnen sich zu- dem Werk unterordne. sche Wucht im Schauen Bachs offenbaren, nächst zwei Bahnen: Albert Schweitzer unterstreicht das Leiden- wie das museale Podium mit seinen Inter- a) die dokumentarische Verfremdung mit schaftliche im Passionsbericht des Jo- pretationsängsten es nie vermag. Es soll ihrer Herleitung aus dem Alltag und dessen hannes, das Bach „in seiner Musik erfaßt den Atem verschlagen. Modern im besten schrittweiser Demontage und Wandlung in und wiedergegeben hat“. Weiter schreibt er: Sinne soll es den Staub eines jahrhunderte- jeden einzelnen Mitwirkenden (mitten in „Die Volkschöre werden bei ihm zum langen ästhetischen Genusses von sich den Turbulenzen der Drehvorbereitungen). Träger der Handlung.“ Wir sind gewohnt, schütteln. b) die scheinbar konventionelle Doku- sie in Schlips, Kragen und Abendkleid auf Natürlich wird es den erlesenen Bachken- mentation einer Aufführung der Passion - dem Konzertpodium zu sehen. Nicht so ner geben, der das alles noch viel reichhalti- bis beides in die Handlung mündet. nach dem Wunsche Bachs ! Bach ließ sie ger in seiner unscharfen, d.h. grenzenlosen bei der Uraufführung in Kostümen auftre- Phantasie nachvollzieht. Aber es wird hof- ten. Ein wichtiges Indiz ! Im puritanischen fentlich noch viel mehr Bachverehrer Leipzig damals ganz unerhört. Ich gehe nur geben, die nach diesem ´Schock´ zu ganz folgerichtig einen Schritt weiter und lasse neuem (kritischem) Hören zur nächsten sie szenisch agieren. Aufführung gehen oder zur Platte greifen. Während Klassik und Romantik in der Es wird hoffentlich auch Leute geben, die Musik gern dichten, schaut Bach. Während Bach gar nicht kannten und dasselbe tun. sie Gefühle ausdrücken, malt Bach, formt Es ist das alte Problem des Gegensatzes: seine Szenen plastisch, wie es kein anderer Bildersturm und Bilderfreude. Hätte Bach Musiker je vermocht hätte. Er ´sah´ in wirklich die Askese gewollt (Hören und seiner Phantasie Bilder, die er in Töne Augen schließen), dann hätte er seine Leute umsetzte, realistisch, unsentimental, wie nicht in Kostüme gesteckt. Man muß sich Albert Schweitzer immer wieder feststellt. daran gewöhnen, daß die griechischen Aber weit entfernt von jeder Programm- Tempel farbig waren, daß Bach, der Bilder musik sind sie durch eine strenge musikali- so intensiv schauen konnte, ein rundum sche Form gebändigt. Besonders bei der sinnlicher Mensch war (nicht nur Tonkon- frühen Johannespassion. strukteur) und darunter litt, daß er nicht die Bei meiner szenischen Umsetzung soll das ganze von ihm geformte Wirklichkeit le- gleiche Formbewußtsein zur Geltung bendig liefern konnte, in Bild und Ton. kommen. Wer die Einleitung zu meinem Albert Schweitzer weist nach, daß es in Manuskript gelesen hat, wird das bestätigt seiner verzweigten Familie angesehene finden. Die szenische Realisierung der Maler gab. Volkschöre (Turbae) ist eine choreographi- Alles, was ich will, hat Bach nicht nötig, sche Aufgabe ersten Ranges. Ohne daß aber – und darauf beharre ich: es ist in dabei immer getanzt werden muß. Die seinem Sinne.

Hugo Niebeling

Daß ein solcher Film auch im ´Filmtheater´ Erläuterung zur Form (2004) von Hugo 2. Der Evangelist (Berichterstatter) und die seinen Platz haben wird, und gerade hier, Niebeling vier Kommentarstimmen der Seele: Sopran, versteht sich von selbst. Zunächst scheint durch die Verwendung Alt, Tenor und Bass treten leibhaftig auf (in Noch einmal Albert Schweitzer: „...Auch in von Bach der Interessentenkreis eng be- zeitlos asketischen Gewändern). Nur die dem ´Kreuzige´ wirkt die Vorstellung lang- grenzt. Mit dieser Annahme muß man Damen sind nicht die Interpretinnen der gezogener, heulender Rufe, wie sie eine vorsichtig sein. In den bisherigen 34 Aus- Einspielung von 1964. Alle singen ihren erregte Menge ertönen läßt, bestimmend strahlungen seit 1992 in Deutschland hat Part, ohne dass man merkt, dass ein auf die Fassung des Themas ein. Dazwi- der zweistündige Film, abhängig von unter- Playback zugrunde liegt. Aber das Schema schen wird das ´Kreuzige´ in wilden Sech- schiedlichen Sendezeiten und Anstalten, für den Auftritt der Solisten ist nicht starr, zehnteln wiederholt und in aufsteigender weit über 4 Millionen Zuschauer erreicht. auch sie nehmen hin und wieder am Bewegung hinaufgetrieben, als recke das Soweit das Quantitative, das jede Qualität Geschehen teil, bzw. die Arien in ihrer wütende Volk tausend Arme gen Himmel.“ heute legitimiert. Länge werden von meist erfundener Ich las dies nach dem Entwurf meiner Handlung teilweise überlagert, oft nur Szene (Nr. 36). Meine Choreographin, Frau Der Film hat drei Ebenen: bildlich. Diese barocke Länge der Arien Helliwell, will hier von einem Teil der hatte bisher die Umsetzung der Passion in Masse (Studenten) einen wüsten Rock 1. Bach, Musik und Gesang, ungekürzt eine dramatische Szene oder einen Film tanzen lassen. Jungen Menschen, die sonst (Playback, Karl Richter 1964) als Fun- verhindert. nur mit Frust den Namen Bach hören, dament. Dabei ist zu bemerken, dass schon sollen diese und andere Szenen eine überra- bei Bach die unterschiedlichen Stile und 3. Im Vordergrund stehen Schauspiel und schende Alternative zum Einerlei der Musikformen hart aufeinandertreffen: Rezi- Tanz als Handlung. Schauspieler, in teils Show- und Discowelt sein. Von dem mo- tative, Choräle, wilde Volkschöre (Turbae), verschlissenen Kostümen der Zeit, dernen Konflikt der beiden Hauptfiguren fromme Betrachtungen der Seele (ital- gestalten die Passion, sprechen ihren leicht ganz zu schweigen. ienisch beeinflusste, stimmungsvolle Arien). veränderten Text, oft versetzt, in die Musik Diese krassen Gegensätze machen die und den Gesang hinein, die dann wie eine Hugo Niebeling, 10. Februar 1988 Passion bereits viel lebendiger und inte- mystische Ebene darüber liegen. Zweifellos A.d.R. ressanter, ja moderner, als alle Oratorien. das waghalsigste Unterfangen des ganzen 1 Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion. Fernseh- Immanent ist hier schon die Forderung Projekts. Von allen Musikern und film von Werner Düggelin. Buch: Maja nach Szene und Film, insbesondere durch Musikwissenschaftlern aber gutgeheißen. Hoffmann und Werner Düggelin. Produktion: die Interpretation. Denn die Musik trägt es. In den wilden Schweizer Fernsehen DRS, WDR Köln, SFB Volkschören führen Tänzer die Handlung. Berlin 1985. Die Turbae sind choreografisch struk- Alfred Kirchner, Theater- & Filmregisseur turiert, im Einklang mit der Partitur. Tanz und Schauspiel, Chorgesang und Sprache stehen schroff einander gegenüber, was steigert und nicht stört. Wo nötig, fehlt keine Radikalität des Geschehens. Beson- deren Wert wurde auf die psychologische Ausdeutung des Verhältnisses von Jesus und Pilatus gelegt. Auch Pilatus erlebt seine Passion. Im Ganzen eine Form, deren Wesen die Kontraste sind. – Nichts läuft dem Sinne Bachs zuwider.

Wie aber ist es mit dem Zuschauer, kapitu- liert er vor der undurchschaubaren Kom- plexität des Ganzen? Nein, er erlebt alles homogen. Denn das Wichtigste bleibt noch nachzu- tragen: Die oben geschilderten Kompo- nenten (wozu noch die Architektur, Krypta und Schiff des Speyerer Doms gehören) sind fast identisch mit denen der antiken Tragödie, von der wir nur die Texte besit- zen (Sophokles war studierter Choreograf), fast könnte man sagen: nur die kümmerli- chen Texte. Mit Bach ist die Wiedererwe- ckung der antiken griechischen Tragödie möglich. Sie ist mit diesem Film Wirklich-

Hugo Niebeling

keit. Der Gedanke verfolgte mich über zwei So oder gar nicht war wahrscheinlich der Aus jeder Szene und Einstellung läßt sich Jahrzehnte. Film nur zu machen, immer ganz dicht am auch die Erfahrung lesen, die einer haben Wie in der Tragödie trägt auch der Chor feierlichsten Pathos, fast melodramatisch, muß, um nicht nur den Einfall zu haben, des Films Masken, die aus dem Hopliten- und dann immer wieder als Darstellung sondern auch zu wissen oder wenigstens zu helm der griechischen Schwerbewaffneten seiner Mittel und Mittelbarkeit. Wo das vermuten und zu probieren, wie er sich entwickelt sind. Damit löst sich alles auch Bedeutende und Bedeutsame schwer und umsetzen läßt. Da ist auch manches verrä- aus dem engen jüdischen Umfeld, wird zum belastend werden, wo der hohe Ton zu terisch. Niebeling will zum Beispiel auch Problem des Menschen. Der Chor ist gei- irritieren droht, interveniert schiere Artistik optisch verdeutlichen, daß seine Bildkom- fernder Pöbel und gläubige Gemeinde und macht aus der Passionsgeschichte, was position selbstverständlich nur der musika- zugleich. – Außerdem ist Jesus, aus der auch Bach daraus gemacht hat: ein Arte- lischen Komposition folgt. Er will die Glie- Erstarrung des schönen Mannes mit fakt. Es ist aus Musik und Mathematik, derung in der Einheit ohne Zwischen- Christusbart befreit. Er ist kahlköpfig, was Stimmen und Gestalten, Kostümen und schnitt zeigen, wenn er von dem in Grup- nach wenigen Minuten vergessen ist. Bewegungen, Licht und Kamerafahrten, pen wie zum Kanon aufgestellten Chor Die Verwirklichung des ganzen Projekts Kalkül und Choreographie, Drive und Be- abschwenkt, statt zum Mittel der Montage war technisch äußerst kompliziert und geisterung eine begnadete Kopfgeburt. zu greifen. Dabei handhabt er die schwere schwierig und blieb ohne Nachahmung. „Es wäre gut, daß ein Mensch würde um- und für solche Operationen kaum geeignete Fachleute, die diesen Spielfilm analysieren, bracht für das Volk“ ist ein Zitat aus dem 35-mm-Kamera wie ein elektronisches müssen musikalisch sein, möglichst Musik- Johannes-Evangelium und aus der Gerät, was zu störenden Bildverzerrungen verständnis und –kenntnis haben. Andern- Johannes-Passion von Johann Sebastian führt. falls werden sie ihn sich vom Leibe halten Bach, und unter diesem Titel hat Hugo Der Film bedient sich der fulminanten und als bloßen ´Musikfilm´ abtun. Denn Niebeling seinen Film daraus gemacht. Vor historischen Aufnahme der Johannes-Pas- alles im Bild unterliegt dem Sekundendiktat allem im Dom von Speyer gedreht, ist er sion durch den Münchner Bach-Chor und der Partitur. Da alles Gesprochene, alle immer beides zugleich: konzertante Auf- das Bach-Orchester unter Leitung von Karl Geräusche O-Töne sind, also ohne Musik führung und Inszenierung. Spielfilmszenen Richter. Doch daß wir es mit einer Musik- (ohne Playback) aufgenommen, musste ein sind vor allem die Rezitative, ist die Hand- Aufnahme von 1964 und im Film folglich peinlich genaues Timing geprobt werden. lung, das sogenannte Passionsgeschehen, in mit Playback-Technik zu tun haben, wirkt Keine Szene durfte eine Sekunde kürzer dessen Mittelpunkt die Begegnung zwi- in keinem Augenblick störend. So präzis ist oder länger sein. Kontrolle setzt geteiltes schen Jesus und Pilatus steht. Das der Film gearbeitet und so sehr hat sich die Hören voraus. Der normale Spielfilm ist Johannes-Evangelium und dann Bach und ungebrochene Dynamik von Richters In- dagegen fast ein Kinderspiel. dann Niebeling, in dieser Reihenfolge und terpretation auf die Inszenierung übertra- mit zunehmender Verschärfung, machen gen. Sie behandelt Bachs Werk kühn und Hugo Niebeling, 17. April 2004 daraus ein nahezu klassisches Drama, das kühl, kalkuliert und emphatisch zugleich als Drama einer unmöglichen Freundschaft. hochdramatisches Musiktheater, als Tragö- So oder gar nicht: Hugo Niebelings Das Oratorium und seine szenische Dar- die mit Musik, Handlung und Tanz, die aus Film Es wäre gut, daß ein Mensch stellung, das ist ein heikles ästhetisches dem Oratorium glatt ein Musical machen. Unterfangen, wenn aus der Einheit des würde umbracht für das Volk macht aus Peter W. Jansen, in: TIP Magazin, Berlin, 15.- Bachs Johannes-Passion ein hinreißen- Musikwerks Aktion und Dialog herausge- 31.12.1991 des Musical schält werden und für sich zu stehen be- Der Verkehr einer Stadt mittlerer Größen- haupten. Niebeling hat das Problem gelöst, ordnung, es ist Sommer. Menschen laufen indem er sich zur Gleichzeitigkeit von Die Filmbewertung ließ Hugo Niebelings über die Straßen, gehen durch eine der Musik und Inszenierung, Oratorium und Johannes-Passion 1990 glatt durchfallen. "Wa- modernen Fußgängerzonen, die die Städte Szene bekennt und nur durch sekunden- rum muss um Jesus herumgetanzt weren?", so ununterscheidbar machen. Es ist eine kurze Verschiebungen in der Montage das hieß es in der Begründung. Man habe sich Stadt wie jede andere auch. Nebeneinander im Gleichzeitigen kenntlich mit dem Werk nicht anfreunden" können. Zu den Bildern von Anfang an - macht, nicht nur durch den Wechsel der Das Publikum sah das ganz anders. musik, und die Bilder werden allmählich Räume, sondern auch durch akustische Niebelings im Speyerer Dom gedrehte zielstrebiger, einzelne Personen lösen sich Überlagerungen und Überlappungen, die Johannes-Passion ist mit 34 Ausstrahlungen aus der Menge; sie gehen in eine Kirche, den Raum zu einer Funktion der Synkope sein meistgezeigter Film. "Nur Dinner for aber man sieht sofort, daß sie zur Arbeit machen. One wird häufiger ausgestrahlt", scherzt gehen. In der Garderobe, sie scheint in der Hugo Niebeling (...) kommt vom Theater, der Regisseur. Krypta oder der Sakristei installiert zu sein, hat als Filmregisseur mit Industriefilmen vergleicht einer der Darsteller seine Maske begonnen und dann nach Kunst- und mit einer Darstellung des Jesus von Dokumentarfilmen hauptsächlich Musik- Nazareth. Dann sagt er: „Das bin ich und Ballettfilme gemacht, zum Beispiel mit nicht“, und sagt es um eine winzige Nuance den Berliner Philharmonikern und Herbert zu bedeutungsvoll. Doch dann nimmt er von Karajan, zum Beispiel mit dem New die Perücke ab und enthüllt einen breiten, York City Ballet. (...) Ich vermute, daß erst kahlgeschorenen Schädel: „So oder gar sie Niebeling instand gesetzt haben, diesen nicht.“ Passionsfilm zu drehen.

Hugo Niebeling

Hinweggespült von der Gewalt der dem Ernst Haefliger hier nicht nur seine Musikpuristen herausfordern. Man kann Masse Stimme, sondern auch seine Gestalt und die sie aber auch als ein legitimes dra- Niebeling gibt uns einen Bach, der offenbar Erfahrung seines Alters leiht. Diese Ver- maturgisches Mittel der filmischen Ada- seinen Canetti gründlich studiert hat. Er knüpfung der verschiedenen Zeiten, die ption von Bachs Partitur sehen, die durch gibt ihn uns in der Form eines Mysterien- auch mit (knappen) Dialogen und Verdop- sie in ihrer majestätischen Größe keinerlei spiels, das aus der Gegenwart und der pelungen der musikalischen und gespro- ernsthafte Einbuße erleidet. (...) Probe unmerklich hinübergleitet in den chenen Texte mittels Überblendungen des Im allgemeinen eignet dieser Verfilmung, Gottesdienst und in das Dokumentarspiel, musikalischen Geschehens sowie mit zu- die weitgehend das Kunststück fertigbringt, um zum Schluß in eine Apotheose der sätzlichen Geräuschen (stampfenden historische Dokumentation und moderne Architektur einzumünden. Die Verknüp- Schritten etc.) arbeitet, ist der problema- Psychologie miteinander zu versöhnen, fung der verschiedenen Ebenen geschieht tischste Teil des ehrgeizigen Unternehmens freilich eine große Ernsthaftigkeit, die nicht durch die Figur des Evangelisten, dem und wird sicher den Widerspruch der zuletzt durch die Eindringlichkeit der dar- stellerischen Leistungen von Quest und Barner sowie durch die monumentale Strenge der Architektur die Bachsche Pas- sion in die Nähe einer antiken Tragödie rückt. oe (d.i. Horst Koegler), in: Stuttgarter Zeitung, 4.1.1992

Regisseur Hugo Niebeling siegte über seine katholische Filmproduktionsfirma - J.S. Bachs Johannespassions bleibt werbefrei Ein Kulturskandal, der sich absurderweise zwischen der katholischen Kirche – ver- treten durch deren Film-Produktionsfirma Provobis – und ihren Auftragnehmer, Re- gisseur Hugo Niebeling – entspann, wurde nun vor Gericht in Berlin beigelegt. In zweiter Instanz. Ist es nicht eine Schande, daß es überhaupt dazu kam? (...) Die Verfilmung wurde im Kino angemes- sen, im Fernsehen außerordentlich erfolg- reich und gehört auf den Mattscheiben zum festen Karfreitags-Repertoire. Da wandelte sich Provobis angesichts des Erfolgs offenbar zurück vom Paulus in den Saulus. Die Firma wollte dem Regisseur (übrigens selber katholisch) die Zerstücke- lung von Bachs Passion und seiner Arbeit durch Werbe-Unterbrechungen aufzwin- gen. Wie das aussehen könnte, kann sich jeder billige Kabarettist vorstellen. „Mich dürs- tet“: Bier-Reklame. „Es ist vollbracht“: Lebensversicherung. Das ist gewiss uner- träglich; dem wird gewiss jeder kultivierte Mensch zustimmen. Von der rhythmischen Unterbrechung eines musikalisch-filmi- schen Gesamtkunstwerks abgesehen. Die katholischen Filmproduzenten aller- dings hatten keine Bedenken, sich unter die Wechsler im Tempel zu mischen, den evangelischen Johann Sebastian Bach für 30 Silberlinge an die Werbequotenbringer zu verkaufen. Wenigstens obsiegte Niebeling nun in zweiter Instanz zu Berlin nach zwei Jahren

Hugo Niebeling

gegen seine potentiellen Werks-Verhunzer. tert. Neben der in Rezitativen und Dialog- ein ganz normaler Alltagsmensch ist, ein Er konnte auf seinen eindeutigen Vertrag passagen vermittelten Handlung finden sich Mann im besten Alter, mit Glatze und hinweisen, der Bearbeitung und Aus- in der Vorlage aber auch lange Barock- Bartstoppeln, ein Mann, der sanft, aber schnittsverwertung ausschließt. Die Unge- Arien und Choräle, die als Meditationen auch bestimmt sein kann und den ihm heuerlichkeit, dass es zu einer derartigen über das Leiden Christi oder als Ausdruck vorgezeichneten Weg ohne inneren Zweifel Konfrontation überhaupt kam, bleibt be- innig empfundener Frömmigkeit ihren geht. Dank Christoph Quests intensiver stehen. Stellenwert gewinnen und musikalische Darstellung gewinnt die Figur Jesu eine Dass Niebeling zugestehen musste, dass Höhepunkte darstellen. Niebeling präsen- eindringliche Aktualität und bewegende sein Film im außerdeutschsprachigen Be- tiert hier Sänger und Chor in wechselnden Momente, auch wenn die Darstellung im reich dennoch werbeunterbrochen werden Tableaus, wobei die Choreografie unter- Verlauf der Handlung dann doch den darf, ist dennoch Ekel erregend. Und: Dass stützt wird durch eine gezielte Farbdrama- traditionellen Bild-Erwartungen entspricht. er zwei Drittel der fünfstelligen Prozess- turgie und Lichtregie, die den Raum gut zur Deutlich schwächer kommt Klaus Barner kosten zur nackten Verteidigung seiner Geltung bringen. Indem Niebeling eng an als Pilatus zur Geltung, was jedoch filmischen Leistung tragen muss, ist be- der Partitur zu bleiben versucht, ergeben Niebelings Rolleninterpretation entspricht. denklich. (...) sich aber auch Probleme. Die Orientierung Sein Pilatus ist ein Beamtentyp, ein der Schnitt-Technik an der Musik geht Schreibtischtäter, der die Tauglichkeit der Sebastian Feldmann, in: Rheinische Post, 2001 beispielsweise nicht immer auf. Schnelle Folterwerkzeuge penibel prüft, aber für die Ein außergewöhnliches Projekt Reißschwenks, die den wechselnden Ge- zerschundenen Körper der Opfer kaum Im deutschen Kinofilm hat es seit Jahr- sangseinsatz der einzelnen Gruppen inner- einen Blick hat. Vollkommen gegen den zehnten keinen ähnlich anspruchsvollen halb des Chores markieren sollen, wirken Strich besetzt ist die Rolle des Petrus, den Versuch einer Darstellung der Passionsge- eher unangemessen hektisch als unterstüt- der auf Schlägertypen abonnierte Ralf schichte gegeben. Niebeling, der für seine zend. Ein anderes Beispiel macht das Prin- Richter als Tatmenschen darstelllt, den die Dokumentar- und Ballettfilme zwischen zip und die Problematik der Inszenierung Ohnmacht angesichts der Verhaftung Jesu 1957 und 1974 viermal den Bundesfilm- im Hinblick auf die Umsetzung der kom- innerlich zerreißt. Eine neue Dimension preis erhielt, weicht von der üblichen kon- mentierenden Arien deutlich: den Weg Jesu eröffnet Niebeling auch in der Deutung der zertanten Aufführungspraxis ab und insze- nach Golgatha begleitet die Baßarie, die Rolle des Volkes. Der Chor, der in einer niert Bachs Johannes-Passion im Speyrer inhaltlich eine mehrfach wiederholte Auf- Szene als gläubige Gemeinde erscheint, Dom als Musikdrama, in dem der eigentli- forderung an die verlorenen Seelen, nach wird in der nächsten zum Pöbel, was allein che Handlungskern, die Konfrontation Jesu Golgatha zu eilen, enthält. Niebeling setzt durch Masken verdeutlicht wird. Selbst der mit Pilatus, durch die kommentierenden dies direkt in Szene, indem er weiß geklei- Evangelist erscheint mit einer Maske beim und meditierenden Gesangspartien des dete Tänzer in vollem Lauf kreuz und quer gegeißelten Jesus. Von Schuld ist niemand Chors und Einzelarien nach Art einer anti- durch das Kirchenschiff eilen läßt. So ergibt frei, auch wir nicht, lautet die Botschaft. ken Tragödie ergänzt wird. Die musikali- sich allenfalls eine dekorative Wirkung, aber Niebeling zeigt eine höchst beachtenswerte sche Basis des Films bildet die bekannte keine Vertiefung der Musik oder des ge- künstlerische Leistung, wobei man bei der Interpretation von Karl Richter, die 1964 sungenen Textes. Niebeling ordnet sich Bewertung der erkennbaren Schwächen des mit dem Münchner Bach-Chor und -Or- zwar dem Bachschen Meisterwerk deutlich Films, die vor allem im letzten Teil nach chester aufgenommen wurde. Neben der unter, aber er strebt eine Aktualisierung an. der Kreuzigung sichtbar werden, dem Bachschen Musik bildet die grandiose Dem Pseudo-Realismus der Hollywood- Künstler zugute halten muß, daß er seine Architektur des Speyrer Doms ein wesentli- Bibelfilme wird eine eindeutige Absage Ziele hoch gesteckt hat. Der Film kann ches Wirkungselement des Films. Aus der erteilt. Zu den ersten Takten der Bachschen durchaus nicht nur bei Bach-Kennern, Kombination von Musik, Architektur, Musik sieht man die Schauspieler auf den sondern auch bei einem breiteren Publikum Schauspiel und Tanz versucht Niebeling ein Straßen Speyers, wie sie zum Dom eilen seine Wirkung entfalten, selbst wenn er den Gesamtkunstwerk zu schaffen, und sein und sich allmählich in die Rollen verwan- Erwartungen der vorwiegend jugendlichen Ansatz ist in vieler Hinsicht überzeugend. deln, die sie in dem geistlichen Schauspiel Kinogänger kaum entsprechen wird. übernehmen. Wenn der Christus-Darsteller Die gesungenen Rezitative und Dialogpas- P.H. (d.i. Peter Hasenberg), in: film-dienst, hg. sagen, dazu die packenden rhythmischen in der Garderobe sitzt und eine Perücke von der Katholischen Filmkommission, o.J. Ausbrüche in den Volkschören legen eine probiert, um dem Bild Christi, wie es im dramatische Umsetzung geradezu zwingend Turiner Grabtuch überliefert ist, nahezu- nahe. Die erzählte Handlung umfaßt in der kommen, erkennt er sehr schnell "Das bin Bachschen Vorlage im wesentlichen die ich nicht!" und spielt die Rolle dann konse- Kapitel 18 und 19 des Johannes-Evangeli- quent ohne Maske und Perücke. So wird ums, sie beginnt mit der Verhaftung Jesu das Jesus-Bild auf den ersten Blick geradezu und endet mit der Grablegung und dem revolutionär. Dem traditionellen Bild des Ausblick auf die Auferstehung. Im Film langhaarigen schönen Jünglings, dem selbst Herausgeber: wird dieser Handlungskern durch weitere ambitionierte Filme wie die von Pasolini Zeughauskino – Deutsches Historisches Szenen aus den Evangelien wie die Vertrei- (Das erste Evangelium Matthäus) oder Arcand Museum www.dhm.de/kino Redaktion: Helma Schleif bung der Wechsler aus dem Tempel oder (Jesus von Montreal) noch gefolgt sind, stellt Niebeling einen Jesus gegenüber, der ohne Mit Dank an Hugo Niebeling neu erfundene Szenen wie ein Fest, das Quellen: Archiv Hugo Niebeling Pilatus mit seinen Freunden feiert, erwei- jeden Zug einer heldenhaften Verklärung