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Der magische Gipfel Vor 50 Jahren bezwangen der Neuseeländer Edmund Hillary und der Sherpa Tensing Norgay als Erste den . Seither versuchen sich Tausende Hobby-Kraxler am höchsten Berg der Erde – das Abenteuer bezahlen viele mit dem Leben.

er Spuk beginnt abends zwischen tönt das leise Heulen des Windes und den weiß, dass die Musik des Everest nichts acht und neun, wenn die Sonne hellen Singsang der Sherpas. Gelegentlich Gutes verheißt: Im Eisbruch werden dann Dlängst untergegangen ist über dem rollen oberhalb des Gletschers Lawinen Pfade verschüttet, über die Bergsteiger sich Zeltdorf am Fuß des Mount Everest. Das dumpf donnernd talwärts, und ab und an ihren Weg nach oben bahnen müssen. schneeweiße Monstrum knirscht, knackt ist ein Krachen zu hören, als würden Ge- Vor drei Jahren war Brand schon einmal und poltert, als würde es erwachen. Die bäude einstürzen. Dann haben mächtige hier; damals irrte er auf der tibetischen Bergsteiger und ihre Träger aus dem Volk Séracs, haushohe Eisblöcke, ihren Halt ver- Nordseite zwei Tage orientierungslos im der Sherpas kriechen im 5400 Meter hoch loren und sind zur Seite gekippt. Schneesturm umher. Die Hand war nicht gelegenen Basislager noch tiefer in ihre Gebannt lauscht Roland Brand, 51, in mehr vor Augen zu sehen, „Whiteout“ Schlafsäcke. Die Temperatur ist auf 15 seinem Zelt dem Rumpeln des höchsten nennt sich das Phänomen. Der Schnee war Grad minus abgesackt. Berges der Welt. „Das ist die Musik des zu Eisgranulat erstarrt, und die pfeifenden Der unheimliche Lärm stammt aus dem Everest“, sagt der Bergsteiger aus dem Böen peitschten das Eis so hart auf Brands Eisbruch, einer Gletscherschlucht, die an fränkischen Uffenheim; er kennt die Körper, „dass ich da wie in einem Sand- das nepalesische Basislager grenzt. Er über- Tücken des Giganten im Himalaja, und er strahlgebläse kauerte“.

158 der spiegel 18/2003 Himalaja-Riese Mount Everest* so viele wie nie zuvor: Mehr als 40 Expe- ditionen mit gut 500 Alpinisten und Sher- pas warten derzeit auf der nepalesischen Süd- und der tibetischen Nordseite auf das Startsignal zum Gipfelsturm: eine günstige Wetterprognose. Die Bergsteiger wissen, dass sie ihr Le- ben riskieren, auch wenn das Wetter von Ende April bis Ende Mai als vergleichs- weise stabil gilt. Aber selbst jetzt kann es sich schnell ändern: blauer Himmel am Morgen, schlimmste Schneestürme am Nachmittag. Temperaturstürze von 40 Grad plus in der Mittagssonne auf 40 Grad ROYAL GEOGRAPHICAL SOCIETY GEOGRAPHICAL ROYAL Everest-Bezwinger Tensing Norgay, Hillary „Das hellste Juwel des Mutes“

minus in der Nacht – das ist die gefährliche Normalität am Everest. Selbst bei gutem Wetter ist der kurze Ausflug ans Ende der Troposphäre eine Tortur: Jenseits der 8000-Meter-Marke ge- hen die Bergsteiger am Limit. Sie quälen sich durch die dünne Luft, sie stapfen mit schmerzverzerrtem Gesicht durch den Schnee und versinken oft bis zur Hüfte. Sie ächzen und stöhnen und verfluchen den Berg. Und dennoch: „Das Einzige, was man da oben wirklich nicht will“, sagt der Augsburger Everest-Bezwinger Bernd Kull- mann, „ist irgendwo anders zu sein.“ Ein Theater der Triumphe und der Tragödien war der Everest seit den zwan-

WORLDWIDE PICTURE LIBRARY / ALAMY LIBRARY PICTURE WORLDWIDE ziger Jahren, als die Pioniere an ihm schei- terten. Zu einer Arena des Wahnsinns Knapp 8000 Meter hoch, nicht weit vom seeländer Edmund Hillary und der indi- verkam er, als Amateur-Kletterer in den Ziel, gab Brand mit zwei Leidensgefährten sche Sherpa Tensing Norgay als erste Men- achtziger und neunziger Jahren im Gänse- aus der Schweiz schließlich auf – und kam schen den höchsten Gipfel der Erde. marsch zum Gipfel stiegen. wohl deshalb mit dem Leben davon. Rund 1200 Bergsteiger, darunter 21 Schauspiele größter Selbstlosigkeit und In diesen Tagen wagt er seinen zweiten Deutsche, haben nach den beiden nun grenzenloser Rücksichtslosigkeit gaben Al- Versuch. Seit Mitte April haust er mit vier schon auf dem Gipfel gestanden – und pinisten auf der höchsten Bühne der Welt: weiteren Deutschen, drei Schweizern und trotzdem hat der nach neuester Messung Es traten die Sachsen Thomas Türpe und vier nepalesischen Hochträgern im Basis- 8850 Meter hohe Everest nichts von seinem Jörg Stingl auf, die 1996 auf den Gipfel ver- lager. Wenn das Wetter mitspielt, will die Mythos verloren. Ganze Heerscharen von zichteten, um einem Japaner das Leben zu Gruppe um den Hotelier Eckard Schmitt, Bergsteigern wagen sich inzwischen an ihn retten. Und es gab, zur selben Zeit, Szenen 55, aus dem oberbayerischen Bad Tölz am heran, und im Jahr des Jubiläums sind es kalter Skrupellosigkeit: Achtlos ließen ja- 29. Mai um 11.30 Uhr auf dem Gipfel ste- panische Bergsteiger auf dem Weg nach hen – an jenem Tag und zu jener Uhrzeit * Vom 5483 Meter hohen Berg Gokyo Ri in Nepal aus ge- oben drei Inder im Schnee sterben, ob- erreichten vor genau 50 Jahren der Neu- sehen. wohl sie die halb erfrorenen Höhenkran-

der spiegel 18/2003 159 Titel

Mount Everest 8850 m Hillary Step 8511 m 7879 m

Lager 4 7900 m Lager 3 Süd- 7200 m route

Lager 2 6400 m

CHINA Mount NEPAL Everest Eis- bruch Lager 1 INDIEN 6100 m 200 km Basislager 5400 m GERHARD SCHMATZ ken mit ihren Sauerstoffflaschen wohl am „Es ist die Höhe, allein die Höhe, die die Hunderte oder Tausende Meter in die Tie- Leben hätten halten können – Kollateral- Magie des Everest ausmacht“, sagt Kam- fe. 44 starben vor Erschöpfung, 28 ver- schäden beim Kampf um den Gipfel. merlander – und dieser Faszination erliegen schwanden auf unbekannte Weise. Der Everest ist zum Synonym für immer mehr Freizeitkletterer. 1980 schaff- Dutzende Gedenksteine mit gemeißel- Höchstleistung, Erfolg und Größe gewor- ten es 10, 1990 waren es schon 72. 1998 klet- ten Inschriften wie „Marty Hoeg 1951– den – aber auch für krankhaften Ehrgeiz. terten 121 Bergsteiger hoch, im vorigen Jahr 1982“ säumen den Weg, weiter unten. Und In einer Höhe, in der kaum noch eine Vo- waren es 159. Am 23. Mai 2001 kam es zum schwer fällt es vielen Bergsteigern – weiter gelart fliegen kann, weil die Luft zu dünn bisher größten Stau am Gipfel: 88 Berg- oben –, die Allee der gefrorenen Leichen ist, ziehen die Karawanen der Erschöpften steiger versuchten, einen Stehplatz auf den zu passieren, die in mancher Saison rechts benommen über eisglatte Pfade. Sich selbst und links der Spuren im Schnee und anderen wollen sie auf dem eisigen liegen. Die meisten Toten des Weg zum Himmel beweisen, dass sie stär- Everest werden nicht geborgen, ker sind als die Naturgewalten. weil Hubschrauber so hoch nicht Geradezu magisch scheint die Anzie- hungskraft des Berges zu sein, seit Briten Pioniere Mallory, Irvine (1924), den damals noch „Peak XV“ genannten Mallory-Leiche (1999) Gipfel im Norden ihrer Kolonie Indien als „Keine Gnade vom Everest“ höchste Erhebung der Welt orteten und ihn 1856 nach dem Chef-Vermesser Ihrer Majestät in Indien, George Everest, be- nannten. Als Sagarmatha verehren die Nepalesen den Berg; die Tibeter nennen

ihn Chomolungma, beides bedeutet Gott- BILDERDIENST AP / ULLSTEIN mutter der Welt. Dabei gibt es attraktivere Schneeriesen wenigen Quadratmetern über dem – wie den 8611 Meter hohen K2 im paki- Rest der Welt zu ergattern. stanischen Karakorum. Oder technisch Aber der Everest ist auch der anspruchsvollere – wie den 8463 Meter höchste Friedhof der Welt gewor- messenden Makalu in Nepal. „Aber der den. 175 Frauen und Männer sind K2 ist eben nur der zweithöchste, der an seinen Flanken ums Leben ge- Makalu der fünfthöchste Berg“, sagt der kommen: 59 Bergsteiger erstickten Südtiroler Profi-Bergsteiger Hans Kam- in Lawinen oder wurden von her- merlander, 46, der auf 13 der 14 Achttau- abfallenden Steinen oder Eis-

sender stand. brocken erschlagen. 44 stürzten X / STUDIO GAMMA

160 der spiegel 18/2003 fliegen können – und weil es nicht lohnt, ein Leben für eine Leiche zu riskieren. So gehören die Toten, die den Weg nach oben pflastern, zum Berg, seit Menschen versu- chen, ihn zu besteigen. Es war Ende Juni 1921, die Zeit der Ent- deckungen ging langsam zu Ende: Elf Jah- re zuvor hatten die Amerikaner Robert Peary und Frederick Cook darüber gestrit- ten, wer zuerst am Nordpol war; fast zehn Jahre war es her, dass der Norweger Roald Amundsen den Südpol betrat. Aber es galt noch, den dritten Pol zu erobern: den höchs- ten Berg der Erde. Eine britische Expedi- tion machte sich auf den Weg zum Everest. Mit dabei war der Lehrer George Mal- lory, 35, ein empfindsamer Mensch mit großen, wachen Augen. Er hatte seinen Dienst quittiert, um Aufregenderes als Schulstunden zu erleben. Er wollte am Everest Geschichte schreiben. Das tat er – nur anders, als er sich das vorgestellt hatte. Die Briten pirschten sich von der tibeti- schen Nordseite an ihr Ziel heran, weil Nepal bis 1949 keine Ausländer ins Land ließ und den Zugang vom Süden damit blockierte. Die Gruppe fand eine Auf- stiegsroute über den Nordsattel. Dann ga- ben die Männer erschöpft auf. Aber die Faszination des Berges ließ Mallory nicht mehr los. Er war wieder da- bei, als eine zweite britische Expedition 1922 die 8000-Meter-Marke überstieg. Mit Knickerbocker-Hosen, mehreren Pullovern übereinander und gewickelten Gamaschen. Die Clubkrawatten um die frierenden Häl- se gebunden, waren die Bergsteiger eher für eine nette Alpentour gerüstet als für das Eis des Himalaja. Und: Nylon war noch nicht erfunden, die dicken Kletterseile aus

Hanf saugten sich im Schnee voll, wurden ASCENTS / ALPINE PRITIE WILLIE unerträglich schwer und steif. Bergsteiger-Kolonne am Hillary Step: „Wie russisches Roulette“ Mit Nagelschuhen an den Füßen und Sau- erstoffflaschen auf dem Rücken stapften die Mitglieder stiegen auf 8321 Meter – das „Die Erfolgschance ist gering, größer ist Bergsteiger in die so genannte Todeszone hatte vor ihnen niemand geschafft. Der die Chance, dass es uns ziemlich übel er- des Everest – jene Höhenlage oberhalb von Preis dafür aber war hoch: Sieben Sherpas, geht“, schrieb er seiner Mutter. etwa 7500 Metern, in der Menschen ohne die ihnen halfen, Zelte, Sauerstoff und Pro- Am 8. Juni 1924 stiegen die beiden hoch. Sauerstoffgeräte nicht lange überleben kön- viant zu tragen, wurden am Nordsattel von Der Gipfelgrat war von Wolken umhüllt, nen. Ein Wetterumschwung brachte Sturm einer Lawine überrollt. gegen 12.50 Uhr riss die Wolkendecke kurz und Schnee, und in ihrem Lager auf knapp Für das Bergvolk der Sherpas, die in Ti- auf. Teamkollege Noel Odell sah aus einer 7800 Metern rissen Orkanböen „mit solcher bet und Nepal rund um den Everest leben, Höhe von 7925 Metern einen schwarzen Gewalt am Zelt, dass der Zeltboden mit sei- waren die Toten ein düsteres Zeichen der Punkt, der sich bewegte, und kurz darauf ner menschlichen Last mehr als einmal vom Götter. Nie hatten Sherpas versucht, die einen zweiten, beide über 8500 Meter Boden abgehoben wurde“, notierte Expedi- Gipfel zu besteigen – bis die „Sahibs“ ka- hoch. „Dann verschwand die ganze faszi- tionsmitglied George Finch. men, die verrückten Weißen. Berge waren nierende Vision“, so Odell. Mit aller Kraft versuchten die vier Män- für Sherpas keine sportliche Herausforde- Er war der Letzte, der Mallory und Ir- ner, ihr Zelt festzuhalten. In jeder Böe rung, eher lästige Hindernisse auf den Han- vine lebend sah. drohte es zu zerreißen und wegzufliegen. delswegen zwischen Nepal und Tibet. Zu- 1933 wurde, gut 8400 Meter hoch, Irvines „Das wilde Flattern der Zeltwände klang dem glauben die Sherpas, dass am Everest Eispickel gefunden, 1991 eine Sauerstoff- wie MG-Feuer“, schrieb Finch später. Götter residieren, die nicht gestört werden flasche aus der Zeit der beiden. Bis heute Durch die kleinsten Öffnungen trieb der dürfen. Und sie glauben, dass die Götter rätseln Experten, ob sie den Gipfel geschafft Wind winzige Eiskristalle ins Zelt. Vor Mit- Menschen bisweilen strafen, die ihnen zu haben könnten – lange vor Hillary und Ten- ternacht waren „alle dick mit gefrorenem nahe kommen. sing Norgay: „Ich weiß es wirklich nicht. Es Treibschnee bedeckt“(Finch), er drang in Doch Mallory ließ sich nicht abhalten: spricht wohl mehr dagegen als dafür. Aber die Schlafsäcke und in die Kleidung. 1924 machte sich die dritte britische Expe- niemand kann das definitiv wissen“, sagt Und wieder scheiterte die Expedition. dition auf den Weg. George Mallory und Bergsteiger-Legende Hillary im SPIEGEL- Die Briten kamen nicht bis zum Gipfel, der Student Andrew Irvine, 22, wollten Gespräch (siehe Seite 171). aber immerhin heil wieder hinunter ins Ba- zum Gipfel. „Wir erwarten keine Gnade Ein sensationeller Leichenfund vor vier sislager. Die Bilanz ihrer Expedition: Zwei vom Everest“, sagte Mallory. Jahren auf der Nordseite des Everest schien

der spiegel 18/2003 161 Titel Der Aufstieg der Schneetiger Ohne die zähen Sherpa-Träger käme keine Expedition auf den Everest – und der Berg brachte dem kleinen Volk Wohlstand.

ald 4000 Meter hoch und sanft ge- sich als Träger Geld für die Pilotenaus- wo die Notdurft vergraben wird. Der Ta- schwungen ist der Bergrücken von bildung, ein Amerikaner, den er zum geslohn beträgt ein paar Dollar. BSyangboche, und er ist einer der Everest geführt hatte, verschaffte ihm ei- Der Aufstieg der Sherpas begann zwar spektakulärsten Hochsitze im Himalaja: nen Job bei Boeing in Seattle. Inzwischen mit den Expeditionen, der wirtschaftli- Knapp 500 Meter tiefer liegt im Süden fliegt Ang Zangbu Jumbo-Jets für die tai- che Durchbruch aber kam erst mit den Namche Bazaar, der quirlige Hauptort wanische Fluggesellschaft EVA und lebt Trekking-Touristen, die den Extrem-Berg- des Sherpa-Landes am Mount Everest. mit seiner deutschen Frau Annette und steigern folgten: Mehr als 20000 Auslän- Die gut 120 Häuser schmiegen sich wie drei Kindern in Dielheim bei Heidelberg der sind es heute in einem guten Jahr. in einem Amphitheater an steile Fels- – weiter als er hat es kaum jemand ge- Die Sherpas bauten Lodges für die Wan- wände, und wenn Ang Zangbu als kleiner bracht aus dem Land der Sherpas. derer aus aller Welt und verkaufen ihnen Junge auf die blauen Dächer hinabsah, Der Berg hat den Sherpas Glück und Proviant, Schmuck und Kleidung. hörte der junge Sherpa die Glocken der Wohlstand gebracht. Denn ohne die Im Hotel Namche, dem ersten Platz in Yaks und das energische „Schuschschuss“ zähen Lastenträger wäre wohl keine Ex- Namche Bazaar, steht Ang Maya Sher- der Hirten, die schwer bepackte Karawa- pedition zum Gipfel möglich gewesen – pa, 36, im holzverkleideten Gastraum und nen den Berg hinauftrieben. dafür brachten die Bergsteiger das Völk- serviert Dal Bhat, das Nationalgericht der Ungeduldig wartete Ang Zangbu hier chen von ein paar tausend Menschen im Nepalesen aus Reis und Linsen. „Der immer auf das tiefe Brummen über dem Khumbu in die Neuzeit. Tourismus hat uns Wohlstand gebracht“, Tal, das die Landung einer Pilatus Porter Vor gut 500 Jahren waren die Sher- sagt die Frau, die mit ihrem Mann Ang auf dem höchstgelegenen Flugfeld des Hi- pas nach Kriegen und Hungersnöten von Dorje, 44, das Hotel und drei Bäckereien Tibet nach Nepal geflüch- betreibt. Sie ist stolz darauf, dass sie mo- tet. Im einzigen Hindu-Kö- natlich 130 Dollar für die Privatschule nigreich der Welt trieben aufbringen kann, die ihre beiden Kinder die buddhistischen Zuwan- in Nepals Hauptstadt Katmandu besu- derer Ackerbau, aber das chen. Zudem unterstützt sie noch Eltern war schwer in den zerklüf- und Schwiegereltern mit je 650 Dollar pro teten Tälern auf 3000 bis Jahr. 5000 Meter Höhe. Aber die Sherpas zahlen auch einen Der Aufstieg der Sher- Preis für den Fortschritt: Die Kochstellen pas begann, als in den der vielen hundert Lodges werden mit fünfziger Jahren immer Holz befeuert – die Hills ihres Landes, häufiger Sahibs nach Nepal wie Sherpas jene für sie kleinen Berge kamen, die weißen Berg- nennen, die nicht über 5000 Meter hoch steiger. ragen, sind inzwischen nahezu kahl. Die Bewundernd sprachen Erosion der Böden auf den Hügeln nimmt die Fremden von der un- zu, Hänge rutschen ab. geheuren Kraft der Sher- Die Zerstörung ihrer Umwelt nehmen pas, die sie „Schneetiger“ die meisten Sherpas achselzuckend zur nannten. Denn die schlepp- Kenntnis, und auch an die Seltsamkeiten

JOHN VAN HASSELT / CORBIS SYGMA HASSELT JOHN VAN ten Zelte und Proviant zu des Tourismus haben sie sich gewöhnt – Rekordhalter Apa Sherpa: „Der Job ist zu gefährlich“ den Schneeriesen – wäh- etwa daran, dass immer wieder Hub- rend die Bergtouristen ge- schrauberlärm die Stille zerreißt und vor malaja ankündigen würde. Der Junge hat- rade mal ihr Körpergewicht bewegen allem Japaner sich für 800 Dollar pro Kopf te einen Traum, der damals, in den sech- konnten. vor dem Portal des Everest View Hotel ziger Jahren, für jemanden aus dem bit- Tatsächlich sind die Sherpas in der oberhalb von Namche absetzen lassen. terarmen Volk der Sherpas unmöglich er- dünnen Höhenluft gegenüber den Sahibs Das bekommt zwar manchen der Heli- schien: Er wollte Pilot werden. im Vorteil: Ihr Blut enthält mehr Hämo- Touristen aus Katmandu schlecht, weil sie Doch als Ang Zangbu aufwuchs, brach globin und transportiert den Sauerstoff sich nicht allmählich an die Höhenluft ge- der Tourismus ein ins Khumbu, das ab- besser; sie atmen leichter, wenn er knapp wöhnen können. Aber in den 270 Dollar gelegene Hochland am Everest. Und die wird auf dem Weg nach oben. teuren Doppelzimmern werden Sauer- Fremden aus Amerika und Europa halfen Zudem sind Sherpas extrem ausdau- stoffflaschen bereitgehalten. mit, dass sein Traum Wirklichkeit wer- ernd – und waren sich auch für Drecks- Das meiste von dem, was die Touristen den konnte: Ang Zangbu besuchte eine arbeit nie zu schade. verbrauchen, wird von Trägern in den der 27 Schulen, die Edmund Hillary, der Im Basislager des Everest laden heut- Tälern verteilt. Ganze Heerscharen sind Erstbesteiger des Mount Everest, neben zutage etwa die Shit-Porters Plastiksäcke während der Trekking-Saison im Khum- zwei Krankenhäusern im Khumbu ge- mit Fäkalien auf ihren Rücken. Drei Stun- bu von März bis Mai und von Mitte Sep- gründet hatte. In den Ferien verdiente er den sind es bis zur Siedlung Gorak Shep, tember bis Dezember auf den schmalen,

162 der spiegel 18/2003 CARSTEN HOLM / DER SPIEGEL HOLM CARSTEN Sherpas auf dem Markt von Namche Bazaar: Ihr Blut transportiert Sauerstoff besser als das der Sahibs staubigen Pfaden unterwegs. Sie schlep- Monsunzeit, die Touristen ausbleiben. Die Licht ins Dunkel um den mysteriösen Tod pen Rucksäcke, kistenweise Dosenbier, Besitzer der Panoramic-Lodge in Lukla der Bergsteiger bringen zu können: Der Lammhälften, Käfige mit Hühnern oder etwa, dem Tor zur Everest-Region, fliegen Frankfurter Geologe Jochen Hemmleb, 31, Säcke voller Reis und Linsen von Sied- in die USA, um dort als Arbeiter in einem hatte zehn Jahre lang wie ein Detektiv an lung zu Siedlung. Rund zwei Dollar Ta- Pflanzenmarkt Dollar zu verdienen. Chi- dem Fall gearbeitet. Er verfasste eine Art geslohn bekommen die Träger heutzu- ri Nima Sherpa, 36, Chefin der Namaste Forschungsbericht, stellte ihn ins Internet tage, wenn sie sich für ihre Landsleute Lodge im Flecken Phakding, macht sich – und fand Gleichgesinnte, die mit ihm schinden. Trekking-Agenturen kassieren alljährlich im Juli auf den Weg ins italie- nach Mallorys Leiche suchen wollten. von den Touristen hingegen pro Tag 12 bis nische Cortina d’Ampezzo, um dort in Hemmleb rekonstruierte zunächst, wo 15 Dollar für einen Träger und geben einer Almhütte zu arbeiten. Mallory und Irvine 1924 abgestürzt und davon etwas weniger als die Hälfte an die Das Shangri-La liegt inzwischen auch wohin sie gefallen sein könnten. Im Früh- Sherpas weiter – viel Geld in einem Land, für die Kinder der Sherpas fern der höchs- jahr 1999 lenkte er von der Nordseite in dem Lehrer etwa 40 Dollar pro Monat ten Berge der Welt. Als Ang Maya Sher- des Everest aus eine Suchexpedition. Am verdienen. pa aufwuchs, besuchten fünf, allenfalls 1. Mai 1999 fanden die Bergsteiger Tap Ri- Trotz des Geldes, trotz der Touristen sieben Kinder aus Namche Bazaar ein pri- chards, 25, Conrad Anker, 36, und Jake halten sich im Khumbu viele Traditionen. vates Internat in Katmandu. „Heute sind Norton, 25, in etwa 8000 Meter Höhe zu- Die älteren Sherpas schreiten noch immer es beinahe 90“, sagt die Hotelchefin. Mehr nächst „einen regelrechten Friedhof voller am Morgen und am Nachmittag im Uhr- als ein Dutzend junge Leute studieren so- zerschmetterter, steif gefrorener Körper“ zeigersinn um Namche Bazaar und brin- gar in den USA oder in Kanada. (Hemmleb). Der Anblick habe ihn „umge- gen ihre Gebetsmühlen in Schwung. Und Es ist oft das Wohl der Kinder, das die hauen“, sagt Richards, es sei „unheimlich, noch immer ist es üblich am Everest, dass Sherpas antreibt, viel Geld zu verdienen. grausig und bedrückend“ gewesen. Eltern die Lebenspartner ihrer Töchter Mit jeder Expedition riskiert etwa Apa Nicht weit davon entdeckte die Crew und Söhne aussuchen – obwohl die Mo- Sherpa, 42, der Bergsteiger bis auf den dann Mallory, 75 Jahre nach dessen Tod: derne und mit ihr der Wunsch nach Gipfel des Mount Everest führt, sein Le- 8159 Meter hoch lag der Leichnam, der Selbständigkeit in die Köpfe vieler Her- ben. Er war so oft oben wie kein anderer, anwachsenden eingezogen ist. aber er mag seine Arbeit nicht, „der Job Noch immer praktizieren auch Lamas, ist zu gefährlich“. buddhistische Geistliche, als Medizin- Spitzen-Sherpas wie er können jedoch männer. Sie verbrennen Wacholder und pro Jahr 15000 Dollar und mehr verdie- sprechen Gebete, wenn der Rücken mar- nen, ein Vermögen in einem der ärmsten tert oder der Darm rebelliert. In schwie- Länder der Welt. „Ich würde nicht mehr rigeren Fällen mühen sich die Heiler auf den Everest steigen, wenn ich das auch, Kontakt zu verstorbenen Heiligen Geld nicht für die Ausbildung meiner vier herzustellen, deren Tipps zur Genesung Kinder brauchen würde.“ sie übermitteln. Aber: „Wenn es jeman- In diesen Tagen wartet Apa Sherpa dem richtig schlecht geht, sucht er den wieder im Basislager des Mount Everest Rat der Ärzte von Hillarys Krankenhaus auf gutes Wetter. Ein paar Amerikaner in Khunde“, sagt Ang Maya Sherpa. haben ihn angeheuert. Der Träger weiß, Immer mehr Sherpas zieht es inzwi- dass jeder Trip in die eisigen Höhen sein schen auch ins Ausland, wenn zwischen letzter sein könnte. Und für ihn soll dies

Juni und September, in der regenreichen der 13. Aufstieg werden. / CORBIS SYGMA HASSELT JOHN VAN Krankentransport am Everest Helikopter können so hoch nicht fliegen

der spiegel 18/2003 163 Länge nach ausgestreckt und gut erhalten. „Icefall-Doctors“, den Pfad durch den Eis- Die Haut schimmerte wie Marmor, das bruch gebahnt. Vier Eisdoktoren und zehn rechte Schien- und das Wadenbein waren Helfer drehten Schraube um Schraube ins gebrochen, der rechte Ellenbogen defor- Eis, sicherten besonders gefährliche Stellen miert. Das Kletterseil, das Mallory um- mit fünf Kilometer langen Fixseilen und spannte, hatte seinen Brustkorb ge- legten Dutzende Aluminiumleitern über quetscht. Gletscherspalten. 2375 Dollar Maut kostet Die Suchmannschaft fand neben dem dieser Service jede Expedition, aber der Toten einen Höhenmesser, eine Schnee- Preis wird gern gezahlt. Die Schnellstraße brille, einen Lederstiefel mit Nagelsohle, zum Everest, über die Profis lächeln, er- eine Dose Fleischpastillen. Der Hemdkra- spart den Bergsteigern Arbeit und Le- gen des Toten trug den Schriftzug „G. Mal- bensgefahr. lory“, ein blau-rotes Taschentuch sein Mo- Der Eisbruch, sagt Apa Sherpa, 42, der nogramm. In das Taschentuch waren Brie- zwölfmal auf dem Gipfel stand und damit fe eingewickelt, einer adressiert an den Rekord hält, sei dennoch „das gefähr- „George Leigh Mallory Esq., c/o British lichste Stück auf dem Weg“. Trade Agent, Yatung, Tibet“. Erst 1952 war es einer Gruppe von Identitätsbeweise genug, allein: Aus dem Schweizern gelungen, den brüchigen Glet- Fundort der Leiche konnten die Männer scher zu überwinden. Der „Sirdar“, der nicht schließen, ob der Brite auf dem Weg Chef der Sherpas einer Expedition, war ein zum Gipfel abgestürzt war – oder auf dem Mann namens Tensing Norgay, damals 38. Rückweg. Dann suchten sie nach Mallorys Während er sich durch die Eiswüste kämpf- Fotoapparat. Denn wäre er auf dem Gipfel te, trainierte wenige Kilometer weiter eine gewesen, hätte er wohl ein Bild gemacht. britische Expedition, die im kommenden Aber sie fanden nichts. Das größte Rätsel Jahr den Gipfel angehen wollte. Mit dabei am Everest bleibt ungelöst. der Neuseeländer Edmund Hillary.

Die Magie des Mount Everest zog schon (U.) GERHARD SCHMATZ (O.); / CORBIS SYGMA HASSELT JOHN VAN Gebannt verfolgte Hillary den Aufstieg zu Zeiten der Pioniere wie Mallory Ex- Gedenkstein*, Everest-Opfer Schmatz (r.) der Schweizer, erleichtert sah er, dass die zentriker zuhauf an – etwa den Engländer Der höchste Friedhof der Erde Alpinisten über dem Eisbruch erschöpft Maurice Wilson, der in den Annalen des aufgeben mussten. Im Frühjahr 1953 ka- Berges als „der verrückte Yorkshire-Mann“ Ende des Zweiten Weltkriegs gab es neue men die Briten mit Hillary wieder – und geführt wird: Überzeugt davon, ein Werk- Hoffnung: Nepal öffnete seine Grenzen. engagierten den Sherpa-Führer der zeug Gottes zu sein, kaufte Wilson sich ein Bergsteiger können den Aufstieg seither Schweizer, Tensing Norgay. Nun sollte es einmotoriges Flugzeug, taufte es auf den von Süden her über das Khumbu versu- gelten. Namen „Ever-Wrest“ („immer ringend“) – chen, das nepalesische Hochland. Charles Evans und Tom Bourdillon, und heckte den Plan aus, weit oben am Es gibt allerdings eine Hürde in geringer Teamkollegen der beiden, waren dafür vor- Everest auf Schnee notzulanden und von Höhe, die lange unüberwindbar schien: gesehen, den ersten Versuch zu wagen. Als dort zum Gipfel zu schreiten. den kilometerlangen Eisbruch, der auf gut sie am 26. Mai 1953 auf dem Weg nach Wilson kam, 1934 eine fliegerische 5400 Metern beginnt. „Das Steigen im Eis- oben hinter dem Südgipfel verschwanden, Glanzleistung, nach einem zweiwöchigen bruch ist wie russisches Roulette“, sagt der spürte Hillary, der zurückbleiben musste, Alleinflug bis nach Indien – wo ihm da- Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner. „ein leises Gefühl des Neides“. nach allerdings die Starterlaubnis verwei- Haushohe Eistürme stürzen unvermittelt Doch Evans und Bourdillon mussten gert wurde. Zweimal scheiterte er bei dem zusammen, Hunderte Meter lange und aufgeben. Ihre Sauerstoffgeräte hatten Versuch, dann eben zu Fuß auf den Everest Dutzende Meter tiefe Gletscherspalten tun nicht richtig funktioniert, zudem waren sie zu kommen. Vom dritten Anlauf kehrte er sich plötzlich auf, verschlucken jeden in beim Abstieg vom Südgipfel ins Rutschen nicht mehr zurück. ihrer Nähe. gekommen und einen Hang hinunterge- Ein Jahr später wurde sein Leichnam Heute haben es die Bergsteiger etwas stürzt. „Ein Wunder, dass sie am Leben gefunden, dazu sein Tagebuch. Die letzte einfacher: Im April haben, wie jetzt zu Be- blieben“, sagt Hillary. Das Scheitern seiner Eintragung: „Wieder geht’s los, herrlicher ginn jeder Saison, spezialisierte Sherpas, die Kletterfreunde war Hillarys Chance. Tag!“ Es war ein schöner Morgen, als Hillary Jahrzehntelang scheiterten alle Versu- * Für den 1996 verunglückten Expeditionsleiter Scott Fi- am 29. Mai 1953 das Zelt öffnete und hin- che, den Gipfel zu besteigen. Doch nach scher. aussah. 8500 Meter hoch hatte er mit Ten-

1953 Nepal hat ab 1950 seine Grenzen für 1978 Der Heidelberger Reinhard Meilensteine am Everest Ausländer geöffnet. Edmund Hillary und Tensing Karl erreicht den Gipfel als erster Norgay erreichen am 29. Mai den Gipfel von der Deutscher. Er kommt 1982 am 1921 Die erste britische Expedition nepalesischen Südseite aus. Cho Oyu um. erkundet den Zugang über den Rongbuk- Gletscher in Tibet. 1963 Einer US-Expedition glückt die erste Über- schreitung: Aufstieg über den Westgrat, Abstieg 1979 Die Ulmerin Hannelore 1922 Die zweite britische Expedition über den Südostgrat. Schmatz steht als erste deutsche kommt auf 8321 Meter. Frau auf dem Gipfel. Sie stirbt 1975 Die Japanerin Junko Tabei beim Abstieg. 1924 Die dritte britische Expedition er- steht als erste Frau auf dem Gipfel. reicht über 8500 Meter, die Bergsteiger 1978 Der Südtiroler Reinhold 1980 Erste Winterbesteigung Mallory und Irvine verschwinden am Berg. Messner und der Österreicher durch ein polnisches Team. 1934 Der Brite Maurice Wilson kommt Peter Habeler erreichen den Reinhold Messner macht den bei einem Alleinaufstieg um. Gipfel ohne Sauerstoffgerät. ersten Alleinaufstieg. TOPHAM PICTUREPOINTTOPHAM

164 1924: britische Expedition mit Irvine (oben links) und Mallory (oben, 2. von links) WORLDWIDE PICTURE LIBRARY / ALAMY Bergsteiger auf dem Gipfel des Mount Everest*: Vom Theater der Triumphe zur Arena des Wahnsinns sing Norgay unter dem Gipfel des Everest Tensing kam wieder zu Kräften. Dann Für die westliche Bergsteiger-Elite aber campiert, und jetzt, gegen vier Uhr früh, stand ein Steilstück bevor, ohne natürliche gab es nach Hillary und Tensing Norgay waren die Täler noch dunkel, während die Griffe und Tritte. Hillary fand, zwischen ei- erst mal nicht mehr viel zu gewinnen. vereisten Gipfel der Schneeriesen schon in ner Schneewechte und dem Fels, einen Neue Routen wurden entdeckt, aber das der Sonne glühten. Spalt. „Ich arbeitete mich mit aller Kraft bewegte nur Insider. Erst als ein schmaler Fast 5000 Meter tiefer war der Berg- von Knien, Schultern und Armen rück- Südtiroler mit zotteligen Haaren die Büh- rücken auszumachen, auf dem das bud- wärts den Spalt hinauf, wobei ich betete, ne betrat, änderte sich das: Als erster dhistische Kloster Tengboche liegt. Um dass die Wechte sich nicht vom Fels lösen Mensch bestieg Reinhold Messner alle 6.30 Uhr machten sich die Bergsteiger auf möge“, sagt Hillary. Achttausender und benutzte nicht einmal den Weg nach oben. Über sich sahen sie Es war der später nach ihm benannte ein Sauerstoffgerät. 1978 schaffte er zu- den Südgipfel, gut 8700 Meter hoch. Sie Hillary Step, die letzte große Hürde. Um sammen mit dem Österreicher Peter Ha- wechselten sich beim Spuren ab und quäl- 11.30 Uhr standen Hillary und Tensing auf beler den Everest, obwohl Experten ih- ten sich durch den weichen Schnee. Hillary dem höchsten Berg der Welt. nen prophezeit hatten, sie würden schwer fragte Tensing, ob die Gefahr nicht eigent- Schwülstig feierte ganz England die Erst- behindert zurückkommen – im günstigs- lich zu groß sei. Der stimmte zu. Dann gin- besteigung als nationalen Erfolg – er wur- ten Fall. gen die Männer weiter. Allmählich wurde de just zu dem Tag bekannt, als Königin Habeler gelang ein Rekord: Nachdem er der Schnee fester, um 9 Uhr erreichten sie Elizabeth II. den Thron bestieg. Hillary den Gipfel ohne Sauerstoff erreicht hatte, den Südgipfel. „Eindrucksvoll und furcht- habe „das hellste Juwel des Mutes und der entschied er sich „abzufahren“ – eine einflößend“ wirkte der Grat mit seinen Ausdauer der Krone britischer Anstren- Rutschpartie auf dem Hosenboden zu ris- überhängenden Schneefeldern, so Hillary. gung eingefügt“, schwelgte etwa der „News kieren. Insgesamt 400 Meter lang war die Plötzlich wurde der Sherpa langsamer. Chronicle“ – obwohl Hillary ein Neu- halsbrecherische Talfahrt. Pure Panik trieb Der Schlauch seiner Sauerstoffflasche war seeländer ist und der in Nepal aufgewach- den Österreicher dazu – er fürchtete, we- vereist, Hillary klopfte das Eis weg, und sene Tensing Norgay die indische Staats- gen Sauerstoffmangels in der Todeszone bürgerschaft angenommen hatte. „blöd“ zu werden. In den Jahren danach nahm der Natio- Grundlos war Habelers Angst nicht. 1988 Der Franzose Jean-Marc Boivin nalismus am Berg noch skurrilere Formen Seltsame psychische Phänomene wie Hal- stürzt sich mit einem Paraglider vom Gipfel. an: Als die Vorhut einer 214-köpfigen chi- luzinationen plagen Bergsteiger auf dem 1993 90 Alpinisten steigen im Frühjahr nesischen Expedition 1960 auf 8700 Meter Everest – Nährstoff für Märchen, Mythen zum Gipfel auf – es ist der Durchbruch des Höhe nicht mehr weiterwusste, hielt sie, und Parapsychologisches. So hält sich un- kommerziellen Bergsteigens am Everest. wie zwei Genossen notieren, ganz Mao- ter Everest-Kämpen bis heute der Glaube, treu „eine kritische Parteiversammlung“ tödlich verunglückte Bergsteiger würden 1996 Der Südtiroler Hans Kammerlander ab. Der einstimmige Beschluss: auf zum sie dort oben leibhaftig begleiten: Der Bri- steigt über die Nordseite in 16 Stunden Gipfel. Nach dem Erfolg schrieb Expedi- te Nick Estcourt etwa sah am Everest „je- und 45 Minuten zum Gipfel und fährt auf tionschef Shi Chan Chun die Leistung manden, der mich einholen wollte“ – just Skiern ab. „der Führerschaft der Kommunistischen an jener Stelle, an der Jahre zuvor ein 1999 Der Nepalese Babu Chiri Sherpa Partei und der unerreichten Überlegenheit Freund ums Leben gekommen war. Der bleibt über 21 Stunden auf dem Gipfel. des sozialistischen Systems unseres Lan- Brite Stephen Venables fühlte sich am 2001 Der US-Amerikaner Erik Weihenmayer des“ zu. Everest von einem alten Mann begleitet, erreicht als erster Blinder den Gipfel. der ihm zeitweise mit einem Cello folgte * Der Brite Dougal Haston am 24. September 1975. und vorschlug, im Eis zu biwakieren. „Ge-

der spiegel 18/2003 165 Titel gen 21 Uhr begaben wir uns zur Nacht- höhnt, es bleibe nur noch eine Möglichkeit, ruhe“, notierte Venables. am höchsten Berg Schlagzeilen zu machen: „Pinkel in die Hose, das hält warm“, „Nackt im Handstand auf einem Snow- trug der alte Cellist ihm auf. Entnervt board hinab – das wäre was.“ kommentierte der Brite in seinem Tage- Es waren andere Zeiten am Everest, die buch hernach das Ergebnis: „Alles nass da anbrachen. Zu entdecken gab es nichts jetzt.“ mehr, und es schlug die Stunde der Ego- Heldenmärchen und Gruselgeschichten manen. Wem der Thrill beim Bungee-Jum- – sie schreckten kaum jemanden ab, im ping, Canooing oder Free Climbing nicht Gegenteil. Ende der siebziger Jahre weck- genügte, der wollte sich an einem End- ten Profi-Bergsteiger, allen voran Messner, punkt der Welt versuchen – nach der De- das Interesse Abertausender am Dach der vise „Möglichst hoch, möglichst men- Welt. Messner allein füllte mit seinen schenfeindlich und möglichst nah am Tod“, Diaschauen große Säle, seine Bücher wur- wie der Dresdner Himalaja-Bergsteiger den Bestseller, er selbst wurde Millionär. Frank Meutzner zürnt. Vor 1978 waren kaum mehr als ein Dut- Wissenschaftler unterschiedlicher Diszi- zend Kletterer pro Jahr zum Gipfel gelangt plinen suchen nach Erklärungen für das, – nun begann der Ansturm. was Menschen wie Lemminge in die To- Plötzlich traten am Everest auch du- deszone zieht. Möglicherweise sei bei vie- biose Charaktere auf: Langfinger, Mogler len Extremsportlern nur die Chemie außer und Rekordsüchtige. Die Diebe greifen zu, Rand und Band geraten, glaubt der Göt- wenn die Zelte in den Hochlagern auf- tinger Neurologe Gerald Hüther. Er hat geschlagen und tagelang unbewacht sind. die körpereigenen Lustsubstanzen Cortisol „Da wird viel geklaut“, sagt der schweize- und Noradrenalin ausgemacht, die Sport- rische Expeditionsunternehmer Kari Kob- ler zu regelrechten Junkies machen kön- ler. Es verschwinden Hightech-An- züge, Schlafsäcke, Sauerstoffmas- ken. Im Verdacht stehen Sherpas, die Aufklärungsquote beträgt null Prozent. Die Mogler dagegen werden meist überführt. Manch einer, des- sen Kraft nicht für den Gipfel reicht, behauptet einfach, oben ge- wesen zu sein. Kommt aber der Chronistin aller Expeditionen, der in der nepalesischen Hauptstadt Katmandu lebenden US-Journa- listin Elizabeth Hawley, 79, etwas seltsam vor, nimmt sie Ermittlun- gen auf und stellt Fragen. Ein Nie- derländer etwa erklärte sich zum Gipfelstürmer, ein Zeuge wollte ihn vom Südgipfel aus gesehen haben. „Vom Südgipfel kann man den Gip- fel nicht sehen“, sagte Hawley. Die Miss Marple des Everest verwei- gerte dem Mann einen Strich in ih- rer Statistik. Manche Rekordjäger sehen den Berg auch als Weg ins Guinness-

Buch der Rekorde. 1988 stürzte sich HANS KAMMERLANDER (U.) MESSNER (O.); der Franzose Jean-Marc Boivin Everest-Bezwinger Messner, Kammerlander vom Gipfel hinab – als erster Para- Ohne Sauerstoffgerät in die Todeszone glider. 1989 verlor der beinampu- tierte Amerikaner Tom Whittaker beim nen. Wer sich häufig in Grenzbereiche wa- Aufstieg seinen Metallfuß, 1998 stand er ge, könne süchtig werden. mit einem Ersatzteil dann doch oben – als Gerade Büromenschen sehnen sich, ver- erster Behinderter. Im Mai 2001 häuften mutet der Kemptener Alpinist und Psy- sich die absurden Rekorde. Der später ver- chologe Ulrich Aufmuth hingegen, „nach unglückte Franzose Marco Siffredi rekla- einem urwüchsigen, elementaren Dasein, mierte die erste Snowboard-Abfahrt für in dem auch ihre sinnlichen und körper- sich, es erschienen der US-Amerikaner lichen Anlagen voll zum Zuge kommen“. Sherman Bull, mit 64 Jahren bis dahin Und etliche Indizien sprechen für Auf- ältester Bezwinger, und sein Landsmann muths Theorie über den Gipfeltrieb. So Erik Weihenmayer, 33, als erster Blinder. ist die Zahl der Akademiker bei Ex- Ralf Dujmovits, 41, Everest-Besteiger peditionen auffallend hoch. Allein durch und Chef des Expeditionsunternehmens den Preis von mehreren 10000 Euro für Amical Alpin im badischen Bühlertal, einen geführten Everest-Trip wird die

166 der spiegel 18/2003 Titel

Klientel gesiebt. Aber das allein erklärt Genets Sauerstoffflasche war auf 8500 für 200 US-Dollar angeboten: „Jemand hat nicht, warum oft neun von zehn Expediti- Metern plötzlich leer. Er fühlte sich zu sie ihr dort oben gestohlen.“ onsteilnehmern einen Hochschulabschluss schwach für den Abstieg. Die Bergsteiger Der Tod seiner Frau ist exemplarisch für haben. Auch die Eitelkeit spielt eine Rol- entschlossen sich zu einem Notbiwak. das Schicksal vieler Verunglückter: Oft er- le. Dem Karlsruher Siemens-Manager Aber das ist der helle Wahnsinn in die- reichen Bergsteiger den Gipfel, kommen Frank Everts, 42, der jetzt mit der Ju- ser Höhe: ohne Zelt, ohne Schlafsack und aber, am Ende ihrer Kraft, auf dem Rück- biläumsexpedition hinaufwill, ist es nicht ohne einen Kocher, mit dem Eis zu Trink- weg um. Niemand ist da, der helfen könn- peinlich zu erzählen, dass er im Kollegen- wasser geschmolzen werden könnte, um te – und Hubschrauber können gefahrlos kreis seit Monaten „oft im Mittelpunkt“ zu verhindern, dass der Körper austrock- nur im Basislager landen. Auch die größte stand, weil er auf den Everest will – und net. Schmatz und der Sherpa Sungdare Tragödie spielte sich, 1996, beim Abstieg dass er das Interesse genoss. hätten den Amerikaner zum Sterben ab: Fünf Menschen starben innerhalb von Mit der Zahl der Expeditionen stieg auch zurücklassen müssen. Aber sie blieben. Stunden. die Zahl derer, die noch nicht reif sind für Genet starb in der Nacht, Hannelore Es war der 10. Mai 1996, ein Freitag. 33 den Everest. Schmatz stieg auf 8300 Meter ab. Dort Frauen und Männer kletterten am Süd- „Ich wusste, dass es Tote am Weg gibt, starb auch sie, völlig ausgedörrt. „Water, ostgrat des Everest bergan. Der neusee- aber ich habe mich immer sehr erschreckt, water“, waren ihre letzten Worte. Das er- ländische Bergführer Rob Hall, 35, Chef wenn ich einen entdeckte“, sagt Bergprofi fuhr ihr Mann von dem einzigen Überle- des Expeditionsunternehmens Adventure Kammerlander. Er fand weiter oben drei benden der Gruppe, Sungdare. Consultants, stand gegen 16 Uhr am Gip- tote Inder. Einer trug noch seine Sauer- Von dem Schmerz konnte sich Schmatz fel und wartete auf seinen Kunden Doug stoffmaske und hielt die steif gefrorenen lange kaum erholen. Denn ab und an wur- Hansen, 46, einen Postangestellten aus Arme nach vorn ausgestreckt; ein anderer de ihm zugesteckt, dass seine Frau noch Renton bei Seattle. Hansen war erschöpft, hatte vor dem Erfrierungstod offenbar ei- immer am Everest sitze. Eines ihrer Seile aber er schaffte es. Gemeinsam mit Hall nen Hitzeschub verspürt und damit be- war festgefroren und hielt ihren Körper nahm er die letzten Meter. gonnen, sich zu entkleiden. Kammerlander aufrecht, selbst wenn Orkanböen an ihm Doch Hall leistete sich dabei einen töd- setzte sich eine Zeit lang neben einen der zerrten. Drei Jahre lang saß die Leiche dort lichen Fehler. Zwar kannte der baumlange Toten. „Ich wartete darauf, dass mir jeden oben. „Dann hat sich wohl jemand ein Kerl den Berg, viermal war er oben. Moment das Herz zum Halse heraussprin- Herz genommen und das Seil durch- Trotzdem ging er auf den Gipfel und ver- gen würde.“ trennt“, sagt Schmatz. In seinem Ulmer ließ ihn zwei Stunden nach der so genann- Die Inder verschwanden irgendwann, Haus hält er die Leica in den Händen, die ten Umkehrzeit: Wer bis 14 Uhr nicht oben denn oft spielt der Wind am Everest Be- er seiner Frau zum Gipfel mitgegeben hat- ist, sollte sich auf den Rückweg machen, statter. Böen schleudern die toten Körper in te. Als er ein Jahr nach ihrem Tod nach lautet ein ungeschriebenes Gesetz am Ever- die Tiefe: fast vier Kilometer steil hinab Katmandu reiste, wurde ihm die Kamera est. Wer später absteigt, läuft Gefahr, das nach Tibet oder gut drei Kilo- Lager auf dem Südsattel nicht meter in den nepalesischen Eisbruch des Everest: Das gefährlichste Stück auf dem Weg zum Gipfel mehr zu erreichen. Schnee. Vielleicht lag Hall so viel Ein solches Ende hätte daran, seinen Kunden auf der Ulmer Notar Gerhard den Gipfel zu bugsieren, weil Schmatz seiner Frau Hanne- er ihn nicht ein zweites Mal lore gewünscht – bald nach- enttäuschen wollte: Ein Jahr dem sie, 8300 Meter hoch, zuvor hatte er den Postler am vor Erschöpfung gestorben Südgipfel umkehren lassen. war: 1979 organisierten die Danach hatte Hall ihn dazu beiden erfahrenen Himalaja- überredet, es in einem ande- Bergsteiger eine Expedition ren Jahr noch einmal zu zum Everest. Strahlend um- versuchen. Und nun wollte armte Schmatz seine Frau am er dem Angestellten womög- 1. Oktober gegen 19 Uhr im lich die zweite Schmach er- Lager IV auf knapp 8000 Me- sparen, obwohl es wieder zu tern, als er vom Gipfel spät war. Dass Wolken auf- zurückkam. Seine Frau woll- zogen, die später Schnee- te am nächsten Tag hinauf, sturm mit Orkanböen brach- Schmatz riet ihr ab. Der ten, ignorierte Hall. Schnee sei „tief und weich Den Weg hinab schafften und schlecht zu gehen“. Am beide nicht, sie hatten keine Hillary Step seien die Stu- Reserven mehr. Hansen ging fen, die das Team hinein- zudem offenbar der Sauer- stampfte, immer wieder aus- stoff aus. Er verschwand ir- gebrochen – über einem Ab- gendwo am Gipfelgrat. grund von ein paar tausend Hall überlebte die Nacht. Meter Tiefe. Aber er war am Ende, konn- Doch Hannelore Schmatz te am Morgen nicht mehr auf- fühlte sich prächtig. Sie ging stehen. Bewegungslos lag er los, erreichte den Gipfel und in einer Mulde am Südgipfel, stieg mit dem US-Amerika- dem Tod geweiht. Gegen ner Ray Genet sowie dem 18.20 Uhr stellte das Basisla- Sherpa Sungdare wieder ab. ger noch einen Anruf seiner Dabei aber beging die Crew Frau Jan Arnold aus Neusee- knapp unter dem Gipfel ei- land auf sein Funkgerät

nen folgenreichen Fehler. / ALAMY LIBRARY PICTURE WORLDWIDE durch. Sie war drei Jahre zu- 168 vor mit ihm auf dem Gipfel gewesen, sie Wirbel im Höhenwind verdunkeln kannte die Verhältnisse. die Sonne am Everest Sie war jetzt im siebten Monat schwan- ger. Und sie ahnte, dass ihr Mann in weni- gen Stunden sterben würde. „Hi, mein Schatz. Ich hoffe, du liegst warm eingepackt im Bett. Wie geht’s dir?“, fragte Hall. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich an dich denke“, sagte seine Frau. „Du klingst ja viel besser, als ich er- wartet habe … Ist dir auch nicht zu kalt, Liebling?“ „Wenn man die Höhe und das ganze Drumherum bedenkt, geht’s mir eigentlich verhältnismäßig gut“, antwortete Hall. „Ich kann’s gar nicht erwarten, dich ganz gesund zu pflegen, wenn du wieder zu Hause bist. Ich weiß einfach, dass du ge- rettet wirst. Denk nicht, dass du allein und verlassen bist“, sagte die Frau. „Ich liebe dich. Schlaf gut, mein Schatz. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen“, so beendete Hall das Gespräch. Er erlebte den Morgen nicht mehr. Der US-Journalist Jon Krakauer gehör- te zu Halls Expeditionsteam, schaffte den Gipfel und kehrte rechtzeitig ins Lager zurück. In seinem Bestseller „In eisige Höhen“ rekonstruierte er nicht nur Halls letzte Stunden, sondern auch andere Tragödien, die sich an diesen Tagen rund um den Gipfel abspielten*. Scott Fischer, 40, Chef der mit Hall kon- kurrierenden US-Expeditionsfirma Moun- tain Madness, etwa starb auf 8300 Meter Höhe, knapp oberhalb des so genannten Balkons auf dem Gipfelgrat. Sein Sherpa Lobsang Jangbu konnte ihn nicht retten: „Ich bin sehr krank, Lobsang. Ich bin so gut wie tot“, sagte Fischer. Wie Hall hatte auch er den Wetterumschwung falsch einge- schätzt. Experten rätseln bis heute, warum die beiden Profis einige Klienten so spät auf den Gipfel führten. Vielleicht, weil jeder Kunde, der es schaffen würde, die beste Werbung für die nächste Expedition wäre? Andere starben weitaus tiefer, eine

Gruppe von elf Bergsteigern kam sogar auf GERHARD SCHMATZ knapp 8000 Meter herunter. Die rettenden Zelte des Lagers, in denen Schlafsäcke und lange mich meine Beine tragen und ich ste- lungskräftige Sonntagsbergsteiger“ und de- Sauerstoffflaschen lagen, wären bei klarer hen kann, bewege ich mich in Richtung ren „Eroberungssucht“ faucht der frühere Sicht nur noch eine Viertelstunde entfernt dieses Camps. Und wenn ich falle, stehe ich Extremsportler, mit Verve verurteilt er Ex- gewesen. Aber die Gruppe verirrte sich im wieder auf. Und wenn ich wieder falle, ste- peditionsunternehmen, weil die ihre Kun- Schneesturm. Verzweifelt kauerten sich die he ich wieder auf. Ich werde weitergehen, den „wie Pauschaltouristen“ auf das Dach Bergsteiger „auf blank poliertem Eis in den bis ich das Camp erreiche oder abstürze.“ der Welt bringen. Windschatten eines Felsblocks, kaum Weathers trug schwere Erfrierungen da- Den Südtiroler stört, dass die „Arena der größer als eine Waschmaschine“ (Krakau- von. Er verlor seine Nase, seine rechte Hand Einsamkeit“ (Messner), die er 1978 mit Pe- er). Einige warteten dort still auf den Tod. und einen großen Teil der linken Hand. ter Habeler und 1980 gar allein betrat, heu- Andere trommelten auf ihre Nachbarn ein, Nach der Tragödie von 1996 stieg die te „allgemein zugänglich, also banal“ ist. So um sie und sich selbst wach zu halten. Nachfrage nach Touren auf den Everest ge- banal, dass es üblich ist, Satellitentelefone Sie überlebte, ebenso wie der Patholo- waltig – als wäre das der ultimative Kick: zum Gipfel zu schleppen, um den Erfolg ge Beck Weathers, 56, aus dem texanischen überleben, wo so viele starben. kundzutun, und so gewöhnlich, dass jetzt, 50 Dallas. Er lag von Schnee bedeckt wie tot Das immense Interesse der Amateure Jahre nach der Erstbesteigung, ein Internet- in der Kälte. Aber er raffte sich auf. „Eines missfällt Reinhold Messner, nach seinem Café im Basislager eingerichtet wurde. war mir klar“, erinnert sich Weathers, „so- Selbstverständnis der Papst, wenn nicht Puristen wie Messner blicken auf das gar der Gott des Alpinismus. Er wettert ge- Heer der Amateure so verächtlich hinab * Jon Krakauer: „In eisige Höhen“. Malik Verlag, Mün- gen fast alle, die auch dort hinaufwollen, wie Golfer auf Minigolfer. Tatsächlich kann chen; 390 Seiten; 14,90 Euro. wo er selbst zweimal war. Gegen „zah- der Everest gebucht werden wie eine Fe-

der spiegel 18/2003 169 OLIVER HÄUßLER OLIVER Deutsche, Schweizer bei der Puja-Zeremonie*: Geweihte Eispickel und Opfergaben für die Götter des Himalaja rienreise nach Mallorca, nur ist der Trip einem Londoner Zivilgericht soll, ein No- leben“. Es gebe dann „kein Gefühl der teurer. Für 37 600 Schweizer Franken vum am Everest, noch in diesem Jahr ge- Angst, sondern nur die Suche nach einer nimmt der Berner Kari Kobler Himalaja- klärt werden, ob ein britisches Expedi- abschließenden Ruhe“. Hungrige mit, 35000 Dollar verlangt der tionsunternehmen für den Tod des Berg- Weil der Tod so nah ist am Everest, ver- in Frankreich lebende Expediteur Russel steigers Michael Matthews verantwortlich suchen die lamaistisch-buddhistischen Brice. 55000 Dollar muss hinblättern, wer ist. „Dieser Fall“, glaubt Dave Rodney, 38, Sherpas im Basislager, die Götter mit ei- mit den neuseeländischen Adventure Con- zweimaliger Everest-Besteiger aus dem ka- nem Ritual gnädig zu stimmen. Am vor- sultants hinauf, 59000 Dollar, wer mit dem nadischen Calgary, könne „über die Zu- vergangenen Donnerstag haben auch die US-Unternehmen Mountain Madness klet- kunft des kommerziellen Bergsteigens auf Deutschen und ihre Schweizer Teamkolle- tern möchte. Achttausendern entscheiden“ – falls das gen, die in den nächsten Tagen hinaufwol- Streicht ein Expeditionschef von sieben Gericht die Verantwortung von Expedi- len, an der so genannten Puja-Zeremonie Teilnehmern je 55000 Dollar ein, muss er tionsunternehmen für Kunden bejaht. teilgenommen. Die Sherpas sangen und von den verbuchten 385 000 Dollar in Matthews’ Eltern wollen die Umstände streuten Reis als Opfergabe in den Schnee, Nepal nur 70000 Dollar für das so genannte geklärt wissen, unter denen ihr Sohn, der Duft von brennenden Wacholderzwei- Permit, rund 80000 Dollar für die Träger damals 23, am 13. Mai 1999 beim Ab- gen stieg auf. Organisationsleiter Eckard und einen zweistelligen Betrag für Neben- stieg in einem Schneesturm auf Nimmer- Schmitt und seine Gefährten erhielten ein kosten aufwenden. „150000 Dollar bleiben wiedersehen verschwand. Schlüsselzeuge rotes „Sungdi“, ein schmales Halsband, beim Everest auf jeden Fall übrig“, sagt ist Rodney. Er hat den Aufstieg der Briten und weihten die wichtigsten Werkzeuge: ein Insider. beobachtet und will über schlimme Feh- die Eispickel**. Expediteur Kobler glaubt, die Verant- ler in der Vorbereitung und der Ausstat- Die Wirkung der buddhistischen Ritua- wortung für seine Kunden tragen zu kön- tung der Expedition berichten. Das Berg- le auf Bergsteiger aus den säkularen Indu- nen. „Wer da raufwill, weiß, dass er ein unternehmen hatte die Vorwürfe zurück- strienationen ist bemerkenswert. Der Sach- Risiko eingeht“, sagt er. Aber wer vorsich- gewiesen. se Götz Wiegand, 43, Leiter einer Everest- tig sei, „für den ist das Risiko minimal Doch die Hauptgefahr am Berg ist die Expedition von 2001, ist Atheist – aber höher als in den höchsten Bergen der Psychologie, das Ego der Bergsteiger: Wer nach der Zeremonie im tibetischen Basis- Schweiz“. am Everest unterwegs ist und jenseits der lager, hatte er „eine Heidenangst, das Hals- Doch der Summit Club des Deutschen 8000-Meter-Marke aufgibt, kehrt zumeist band zu verlieren“ – und die Götter zu Alpenvereins etwa bietet Touren auf den deprimiert ins Basislager zurück. Und es ist verstimmen. höchsten Berg nicht mehr an – weil sie, so schwierig, jenseits von 8000 Meter Höhe Expeditionsunternehmer Ralf Dujmo- Expeditionschef Michael Roepke, wegen vernünftige Entscheidungen zu treffen. vits erlebte, wie sich eine Lawine 3000 Me- der Wetterstürze „fast immer auf des Mes- Der Südtiroler Kammerlander, der 1996 ter über seinem Lager löste, hinabraste – sers Schneide stehen“. allein und ohne Sauerstoffgerät auf den und vor den Gebetsfahnen der Sherpas Kommen Kunden bei einer kommerziell Gipfel kletterte und als erster Mensch mit stoppte. „Durch so ein Erlebnis bekommt geführten Expedition ums Leben, sind die Skiern abfuhr, kennt eine weitere große man Respekt vor den Ritualen“, sagt er. Veranstalter kaum haftbar zu machen. Vor Gefahr, die am Everest droht: nach dem Indes: Fast alle der 175 Opfer des Everest Leichtsinn komme oft die Mutlosigkeit. hatten Gebetsfahnen um ihre Lager ge- * Am vorvergangenen Donnerstag im nepalesischen Dort oben, sagt Kammerlander, sei es „viel stellt, das Puja-Ritual gefeiert und sich mit Basislager des Mount Everest. ** Das Tagebuch der Expedition unter www.spiegel.de leichter, sich hinzusetzen, einzuschlafen geweihten Eispickeln auf den Weg zum im Internet. und unmerklich zu sterben, als weiterzu- Gipfel gemacht. Carsten Holm

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