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Musik in PC-Games

Musik in PC-Games

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63280 april–juni 2006___2 4. jahrgang

Musik leben und erleben in Deutschland. DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 7,40 m Musik im Stadion: Musik in PC-Games: Alles nur Gegröle? die ungenutzte Chance? König Fußball macht Töne – Unterhaltungssoftware als neues zur Funktion der Fangesänge Aktionsfeld für Komponisten

Probedruck EDITORIAL

KERNGESCHÄFT

Christian Höppner Interpretation Chefredakteur

TUSCH UND VORHANG AUF für den Blick auf einer jeden Interpretation ist der Schlüssel für das Pub- eine einzigartige Orchesterlandschaft Deutschland! likum von heute und morgen. Diesen Standortvorteil Aus der Vogelperspektive ergibt sich ein Bild blühender des Laienmusizierens gilt es durch entsprechende Landschaften, durchbrochen freilich von verdorrenden Bedingungen auch für die Berufsorchester zu erhalten Flecken. Bei näherer Betrachtung gibt es Wundersames bzw. wieder herzustellen. Denn: Wenn das immer zu entdecken: aufwändig renovierte oder neu gebaute wieder neugierige Fragen und Ringen um die Interpre- Konzerthäuser, aus denen – wenn überhaupt – nur tation einer Kopie von gestern oder dem designten vereinzelt Töne dringen. Die Tendenz, in die Hülle zu Klang eines Mainstreams weicht (weil der Jetset-Diri- investieren, ohne ernsthaft die Frage zu stellen, wie da- gentenbetrieb und die Dienste-Kumulation keine Zeit nach in diesen Gebäuden ein pulsierender Kulturbetrieb mehr für Entwicklungen lassen), dann verwischen zum Leben erweckt werden kann, wird hier sichtbar. individuelle Klangprofile – wie es sie glücklicherweise Die Vogelperspektive eröffnet aber auch den Blick immer noch gibt! – und der Reiz flaut ab, sie erleben auf größere Zusammenhänge im Musikland Deutsch- zu müssen. land: auf musikalische Bildung und Kreativität, auf Unser kulturelles Erbe und die immer noch beispiel- kulturelle Identität und interkulturellen Dialog, auf die lose kulturelle Infrastruktur sind der größte Standort- Krise des (klassischen) Tonträgermarkts und die Globa- vorteil Deutschlands im Zeitalter der Nivellierung. Weil lisierung der Klangästhetik. In diesen Zusammenhängen sie dem Individuum den Freiraum eröffnet, Neues zu wird mehr und mehr die Frage gestellt, welche Rolle suchen und zu finden. Diese Entwicklung ist Prämisse die Orchester spielen sollen und können. Schon gibt für die Freisetzung von Fantasie, die wir auf dem Weg es Auflagen, die die Orchesterfinanzierung mit der in eine Kreativgesellschaft brauchen. Denn sonst blei- Durchführung von musikalischen Bildungsprogrammen ben wir schon auf halber Strecke zur propagierten verknüpfen. Die Fähigkeit zur musikalischen Vermitt- (und leider nur PISA-orientierten) Wissensgesellschaft lung wird – ebenso wie der Nachweis interkultureller stecken. Kompetenz – in steigendem Maß zum Teil eines Die Orchester des Laienmusizierens (genauso wie steuerfinanzierten Trägerkonzepts. die Chöre und anderen Ensembles) stehen ebenso in Die Klage mancher Berufsorchester über die „Päda- der Mitverantwortung für die Entwicklung unserer gogisierung“ ihrer Arbeit unterstreicht die schwierige Gesellschaft wie die Berufsorchester. Gemeinsam stel- Balance zwischen der Wahrnehmung gesellschaftlicher len sie ein gewaltiges Kreativpotenzial dar, das Politik Verantwortung und dem notwendigen Freiraum künst- wie Zivilgesellschaft dazu herausfordert, im Interesse lerischer Arbeit. So wichtig das Engagement der Orches- unserer Zukunftsfähigkeit für bessere Rahmenbedin- ter in diesen Bereichen ist – das Kerngeschäft ist und gungen zu sorgen. bleibt die Interpretation. Die Klangkörper können nicht Das Orchesterstandort Deutschland ist ein Solitär das Pflaster auf der eitrigen Wunde einer in weiten mit ausbaufähiger Strahlkraft. Teilen desaströsen Bildungspolitik sein. Sie können aber wichtige Impulse zur Beförderung einer durchgängigen Infrastruktur im Bereich der musikalischen Bildung Ihr setzen. Die Kunst um der Kunst willen ermöglichen – da bedarf es auch des Engagements der Berufsorchester und ihrer Träger, für entsprechende Rahmenbedingun- gen zu sorgen. Authentizität im Sinne der Einmaligkeit Christian Höppner

 MUSIK ORUM 3 INHALT

IM FOKUS: ORCHESTER- STANDORT- DEUTSCH- Orchester in der Zerreißprobe 9 Zwischen Abnutzung und neuen Chancen: Eine Draufsicht von Ulrike Liedtke LAND Deutsche Orchester: Talfahrt zu stoppen? Gerald Mertens beschreibt einen dramatischen Umbruch 12 Mehr Marketing und Instrumentalunterricht Die Situation der Orchesterszene – analysiert von Thomas K. Hamann 16 Zu viel Kulturpessimismus? Klaus-Ernst Behne zur Hamann-Studie 18 Vom Konzertbetrieb zur Eventkultur: Veranstalter Michael Russ über das geänderte Rezeptionsverhalten des Klassik-Publikums 20 Jeder Schwester ihr Orchester: das geträumte Duell der ARD-Klangkörper 21 akzente wirtschaft porträt

Alles nur Gegröle? Musik in PC-Spielen – „Nach der Mode zu spielen, Wenn Stadien zu „Festivalplätzen“ der die ungenutzte Chance? ist ungesund“ Musik werden: Vor dem Anpfiff der Kein Gegensatz: Computer-Games und Im Interview: der weltweit gefragte Laute- Fußball-WM in Deutschland macht sich (klassische) Musik bilden in der Entwickler- nist und Repertoireforscher Joachim Held. Reinhard Kopiez Gedanken zur Funktion szene mehr und mehr eine Einheit. Wie in der neuen Zeit Alte Musik zu der Fangesänge 40 Wie sich Komponisten dem jungen, interpretieren ist und Laute, Theorbe und zukunftsträchtigen Medium nähern und Gambe mit ambitionierten Dirigenten in Freier Geist, freie Lieder Software-Unternehmer die Zukunfts- die Konzertsäle zurückfinden 54 chancen für spezialisierte Musikautoren Von Marketingstrategen und Buch- sehen. 46 autoren vereinnahmt: Jürgen Meier legt Missverständnisse um den Komponisten und Freiheitskämpfer Mozart offen 43

 4 MUSIK ORUM fokus

Konzert-Marketing 22 Zum Titel: Wie Dirigent Markus Stenz das Kölner Musikleben aufmöbelt „Klassisch anders“ „Musik ist kein Luxus“: eine Initiative der Berliner Philharmoniker 25 So lautet das Erfolgsrezept eines vielfach Spezialeinheit im Auftrag der Neuen Musik preisgekrönten Eliteklangkörpers. Das seit Das künstlerische Plädoyer des Ensemble Modern Orchestra 1995 unter der künstlerischen Leitung 26 von Christoph Poppen stehende Münche- 1,7 Uraufführungen pro Tag: eine Umfrage zur Neuen Musik 29 ner Kammerorchester hat eine einzigartige Programmatik zu seinem Markenzeichen Neue Ära für Jazzorchester? Bigbands in der Orchesterszene 30 gemacht und dafür weltweit Anerken- Kulturträger Laienorchester: Perspektiven für das Musikland Deutschland 33 nung gefunden: die geglückte konzeptio- nelle Zusammenführung und Präsentation Auswahlorchester: Repräsentanten des Laienmusizierens 36 zeitgenössischer und klassischer Werke.

Dirigieren ohne Worte: Cornelius Meister – die Kunst der Körpersprache 38 Foto: RTG/Vollmer neuetöne dokumentation Erlebte Geschichte 46-teilige SWR2-Sendereihe vermittelt Aufbrüche, Rückblicke und Zeitläufte zeitgenössischer Musik 52 bildung.forschung (K)eine Welt ohne Musik Eine Workshopreihe des Frauenmusik- zentrums Hamburg für gehörlose und hörgeschädigte Frauen 60 „Je mehr Kultur, umso besser die europäische Integration“ Die langjährige Referentin und Projektleiterin des Deutschen Musikrats, Hannelore präsentiert Thiemer, erinnert sich an 30 Jahre Tätigkeit in der inneren und auswärtigen Kulturarbeit. Zuständig für Projekte wie die „Edition Zeitgenössische Musik“, ebnete sie auch den Weg

Projekte im deutschen Musikleben: für das Engagement des Musikrats beim „Warschauer Herbst“, dem bedeutenden Festival S Karostar Musikhaus – eine Hamburger für Neue Musik 58 Initiative bietet Gründern aus der Musik- wirtschaft günstige Startkonditionen 63 rubriken MUSIKORUM Editorial 3 april– juni 2006___2 Nachrichten 6 Rezensionen: CDs und Bücher 64

Finale / Impressum 66 DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRAT

 MUSIK ORUM 5 NACHRICHTEN

„Shenaniganz“ siegten beim SchoolJam-Finale Shenaniganz aus Mühldorf am Inn wurden im Finale von „SchoolJam“ auf der Frank- furter Musikmesse „Schulband 2006“. Mit dem Projekt – einer Kooperation des MM Musik-Media-Verlags mit dem Deutschen Musikrat – wird gezielt die musikalische Nach- wuchsarbeit an Schulen gefördert. Die Sieger- gruppe (Bild unten), die durch außergewöhn- liches Talent und selbstbewusste Performance beeindruckte, gewann einen Auftritt bei „Rock am Ring“ und eine Videoproduktion. Das Schü- lerbandfestival wird neuerdings auch vom Bun- desministerium für Familie, Senioren, Frauen ˜ Weggefährten beim Geburtstagsfest: und Jugend unterstützt. Erhalt von Sende- Trompeter Manfred Schoof, Bassist Ali Hau- rand, Peter Herbolzheimer und Alfred Biolek frequenzen gefordert (von links). Der Bayerische Musikrat zeigt sich besorgt über Pläne des Bayerischen Rundfunks (BR), „Großer Bahnhof“ das Programm von Bayern4Klassik ab 2007 nur noch digital auszustrahlen, und fordert für BuJazzO-Chef den Erhalt der UKW-Frequenzen. „Bayern4Klassik muss auch weiterhin mit dem Peter Herbolzheimer herkömmlichen Antennen-Radio zu empfangen sein, um insbesondere die älteren der traditio- Anlässlich des 70. Geburtstags von Peter Her- nellen Stammhörer nicht auszugrenzen“, führ- bolzheimer gab der Deutsche Musikrat einen te der bayerische Musikratspräsident Wilfried Empfang in der Kunst- und Ausstellungshalle Hiller aus. Der BR will die bisherigen Sendefre- der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Her- quenzen für eine neue Jugendwelle nutzen. bolzheimer ist künstlerischer Leiter des von ihm 1987 mit gegründeten Bundesjazzorches- personalia ters (BuJazzO) und Ehrenmitglied des Deut- schen Musikrats. Patrick Dinslage (UdK Berlin) nach Zu den über 100 geladenen Gästen, da- vierjähriger Amtszeit ab. +++ Lawrence runter viele Musiker und Alfred Biolek („Bio’s Renes, Generalmusikdirektor der Bremer Bahnhof“), zählten Vertreter des Bundesbe- © ICMartists Philharmoniker und Operndirektor des Bre- auftragten für Kultur und Medien und des Bun- mer Theaters, wird im Einvernehmen mit desministeriums für Familie, Senioren, Frau- dem Senator für Kultur und dem Bremer en und Jugend sowie weitere Förderer des Theater seinen bis zum Ende der Spielzeit BuJazzO, so die DaimlerChrylser AG und die 2006/7 laufenden Vertrag vorzeitig auf- Yamaha Music Central Europe GmbH. Der lösen und seine Tätigkeit im August been- Westdeutsche Rundfunk, Deutschlandfunk den. Grund: zunehmende internationale und die waren ebenso ver- Jun Märkl Martin Pfeffer Verpflichtungen. treten wie die GEMA und die GVL. Mit Beginn der Saison 2007/08 wird Jun Märkl neuer Chefdirigent und künstleri- scher Leiter des Sinfonieorchesters des Mit- wir trauern teldeutschen Rundfunks. Der Vertrag wird Johannes Rau † lichen zur musikalischen Bildung. Johan- für die Dauer von drei Jahren abgeschlos- nes Rau hat gemeinsam mit dem Deut- sen. Der gebürtige Münchner tritt an die Mit großer Betroffenheit hat der Deutsche schen Musikrat, dessen Schirmherr er war, Stelle von Fabio Luisi, der nach zehnjäh- Musikrat die Nachricht vom Tod von Alt- die Initiative „Musik bewegt“ ins Leben riger Tätigkeit beim MDR-Sinfonieorchester Bundespräsident Johannes Rau aufgenom- gerufen und sich immer wieder an vielen als Generalmusikdirektor der Sächsischen men. Präsident Martin Maria Krüger: „Mit Stellen mit Nachdruck für eine Verbesse- Staatsoper und Chefdirigent der Dresdner seinem Tod verlieren wir einen großen rung der Rahmenbedingungen für musi- Staatskapelle nach Dresden wechselt. +++ Kenner und Förderer der Kultur. Ein be- kalische Bildung eingesetzt. Das Musik- Martin Pfeffer wird neuer Vorsitzender sonderes Anliegen war ihm der unmittel- land Deutschland hat ihm viel zu verdan- der Rektorenkonferenz der deutschen bare Zugang aller Kinder und Jugend- ken. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie.“ Musikhochschulen. Er löst ab 1. Oktober

 6 MUSIK ORUM Mit großer Betroffenheit hat der Deutsche Musikrat die Nachricht vom Tod von Bundespräsident Johannes Rau aufgenommen. Dazu der Präsident des Deutschen Musik- rates, Martin Maria Krüger: „Mit dem Tod von Johannes Rau verlieren wir einen großen Kenner und Förderer der ˜ Kultur. Ein besonderes Anliegen war ihm der unmittelbare Orchesterkonferenz: Zugang aller Kinder und Jugendlichen zur musikalischen regionale Musikkultur Bildung. Johannes Rau hat gemeinsam mit dem Deutschen Musikrat, dessen Schirmherr er war, die Initiative „Musik Die turnusmäßige Deutsche Orchesterkonfe- bewegt“ ins Leben gerufen und sich immer wieder an vie- renz (DOK) findet am 16. Mai im Kongress- len Stellen mit Nachdruck für eine Verbesserung der Rah- zentrum Bochum statt. Das Konferenzthema menbedingungen für musikalische Bildung eingesetzt. Das lautet: „Eine Vision? Orchester im Zentrum Musikland Deutschland hat ihm viel zu verdanken. Unser regionaler Musikkultur“. Mitgefühl gilt seiner Familie.“ In Präsentationen, Podiums- und Fachpubli- kumsdiskussionen geht es um die Vernetzung von Orchestern und Ensembles in der Region und in ihrem unmittelbaren Umfeld, um Edu- cation und Musikvermittlung sowie um spezi- elle Marketingfragen für Orchester. Moderiert wird die DOK von Christian Schruff (WDR und RBB). WDR 3 wird die gesamte Veranstaltung Kultur bedarf des besonderen Schutzes: mitschneiden und teilweise live bzw. zeitver- Christian Höppner (stellvertretender Kultur- setzt senden. Für die kostenfreie Teilnahme an Benefizkonzert nach Brand ratsvorsitzender), Bernd Neumann (Staats- der Konferenz ist eine Einladung erforderlich. minister für Kultur und Medien), Max Fuchs Information über: Deutsche Orchesterver- im „Konzert-Schloss“ Elmau (Vorsitzender des Deutschen Kulturrats), einigung, Stichwort Orchesterkonferenz, Post- Claudia Schwalfenberg (stellvertretende Nach dem verheerenden Großbrand in fach 021275, 10124 Berlin, Fax 030-82 79 0817, Vorsitzende), Olaf Zimmermann (Geschäfts- Schloss Elmau im vergangenen Sommer E-mail: [email protected]. führer) und Hermann Schäfer (Ministerial- erklärten sich hochkarätige Künstler, alle- direktor des BKM), von links. samt dem etablierten oberbayerischen ˜ Festivalhotel durch Auftritte verbunden, Stimmgewaltiges spontan bereit, in der Münchner Phil- Große Einigkeit: Flaggschiff: Kurs Kiel harmonie ein Benefizkonzert zugunsten Neumann trifft des Wiederaufbaus zu geben. Mit dabei Zum 7. Deutschen Chorwettbewerb (20. bis waren Weltstars wie Bariton Thomas Kulturratsvorstand 28. Mai) werden in Kiel 102 Chöre mit über Quasthoff (Bild), Gidon Kremer, Pianist 4 000 Teilnehmern erwartet. Martin Stadtfeld, Klarinettistin Sabine Große Übereinstimmung in der Bewertung Alle Formationen mussten sich in Landes- Meyer und das Münchener Kammer- der aktuellen kulturpolitischen Situation zeich- wettbewerben, die in sechzehn Bundesländern orchester. nete das Gespräch aus, zu dem sich Kultur- durchgeführt wurden, qualifizieren. Daran ha- staatsminister Bernd Neumann und der Vor- ben über 15 000 ambitionierte Sänger teilge- stand des Deutschen Kulturrats trafen. Vor nommen. Ziel des Deutschen Chorwettbewerbs dem Hintergrund anstehender Gesetzgebungs- ist es, die besten Chöre Deutschlands einer brei- verfahren (zweites Gesetz zur Regelung des ten Öffentlichkeit zu präsentieren und Chöre Urheberrechts, Reform des Gemeinnützigkeits- und Chorleiter miteinander in Kontakt zu brin- rechts) und Fragen der Verankerung des Staats- gen. ziels Kultur, des Arbeitsmarkts Kultur, der GATS-Verhandlungen sowie der kulturellen Bildung wurde eine intensivierte Zusammen- ˜ Öffentliche Kultur- arbeit vereinbart. ausgaben sinken rapide Jetzt bewerben: INVENTIO 2006 und „musik gewinnt“ Die öffentliche Kulturfinanzierung ist in den Jahren 2001 bis 2004 von rund 8,4 Milliar- ˜ Die Ausschreibung des INVENTIO 2006, der ˜ Der Verband Deutscher Schulmusiker (VDS) den auf etwa 7,88 Milliarden Euro gesunken. durch den Deutschen Musikrat und die Stiftung hat die Bewerbungsfrist zum 2. Bundeswett- Dabei sind vor allem Einbrüche bei den Kul- „100 Jahre Yamaha“ e. V. bereits zum dritten bewerb „musik gewinnt – Musikalisches Le- turausgaben der Länder und Gemeinden zu ver- Mal vergeben wird, wendet sich an alle, die be- ben in Schulen“ bis zum 30. November dieses zeichnen. Dies geht aus der nunmehr vorlie- sondere musikpädagogische Innovationen kon- Jahres verlängert. genden Antwort der Bundesregierung auf die zeptionieren, realisieren oder erforschen. Mit dem Preis soll der Öffentlichkeit gezeigt Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion Der INVENTIO 2006 wird in fünf Katego- werden, auf welche Weise die Musik das Le- („Kulturausgaben von Bund, Ländern und Ge- rien an mehrere Projekte vergeben, wobei drei ben in Schulen prägen und aktivieren kann. Die meinden“, Drucksache 16/815) hervor. Die FDP herausragende Projekte zusätzlich einen Geld- unerwartet hohe Beteiligung und das beacht- hatte die Bundesregierung unter anderem ge- preis in Höhe von jeweils 3 000 Euro erhalten. liche Niveau der Einsendungen hatte die Orga- fragt, wie sich die öffentlichen Kulturausgaben Einsendeschluss ist der 1. Juli 2006. Anmelde- nisatoren ermutigt, eine zweite Runde des Wett- des Bundes, der Länder und der Gemeinden in formular und Info: bewerbs auszuschreiben. Bewerbungen über: den vergangenen Jahren entwickelt haben. U www.birnkraut-partner.de U www.musik-gewinnt.de

 MUSIK ORUM 7 NACHRICHTEN

Offener Brief des Deutschen Musikrats zur Situation des Rundfunks

Foto: Kai-Uwe Nielsen Kulturelle Bedürfnisse von Minderheiten berücksichtigen An die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die Intendanten der Rund- funkanstalten und die Vorsitzenden der Rundfunkräte. Mit Sorge verfolgen das Präsidium des Deutschen Musikrats und die Kon- Bundesjugendorchester erhält Münchener Kammerorchester für ferenz der Landesmusikräte die zuneh- Förderpreis für Kunst und Kultur bestes Konzertprogramm geehrt mende Tendenz insbesondere der Euro- päischen Kommission, Rundfunk vor- Das Bundesjugendorchester ist Preisträger des Bereits zum zweiten Mal wird das Münchener nehmlich als Wirtschaftsgut zu betrach- 2005 erstmals ausgeschriebenen Förderpreises Kammerorchester unter der Leitung von Chris- ten und seine kulturelle und gesellschaft- für Kunst und Kultur der Beethoven-Stiftung toph Poppen vom Deutschen Musikverleger- liche Funktion zu vernachlässigen. Der Bonn. Die Stiftung wird im laufenden Jahr das Verband e. V. mit dem Preis für das „Beste Kon- öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutsch- Programm „SchoolSession“ des Bundesjugend- zertprogramm“ ausgezeichnet. Das Repertoire land steht in einer besonderen Verant- orchesters mit 8 500 Euro unterstützen. Im der Spielzeit 2005/2006 mit dem übergeord- wortung gegenüber dem Kulturleben Rahmen ihrer Tourneen geben die jungen Musi- neten Thema „Hellas – Griechenland und die und befriedigt die kulturellen Bedürf- ker pädagogisch aufbereitete Schulkonzerte. klassische Mythologie“ weiche vom Üblichen nisse auch von Minderheiten der Ge- Ergänzend dazu wird die Stiftung einen Kom- ab, begründete die Jury ihre Entscheidung. sellschaft (vgl. die Stellungnahme der positionsauftrag an einen jungen Musiker ver- Uraufführungen von Auftragskompositionen Bundesregierung gegenüber der EU- geben, dessen Werk im April 2007 vom Bun- und Porträtveranstaltungen über die Kompo- Kommission vom Mai 2005). desjugendorchester uraufgeführt und auf ei- nisten Frank Martin, Valentin Silvestroy und Die Vorgabe des Bundesverfassungs- ner Osteuropa-Tournee präsentiert werden Sofia Gubaidulina seien zudem Grund für die gerichts für das öffentlich-rechtliche Rund- wird. erneute Auszeichnung. funksystem sieht die „besondere Eigen- art“ des Rundfunks, „namentlich seine Finanzierung durch Gebühren“, darin begründet, „dass er neben massenattrak- ausgezeichnet tiven Sendungen auch anspruchvolle kulturelle Sendungen“ mit „hohem Kos- Der Herbert von Karajan Verdienste um die Gewinnung tenaufwand“ produziert und sendet, „die Musikpreis 2006 geht an den junger Menschen für die klassi- nur für eine geringe Zahl von Teilneh- russischen Dirigenten Valery sche Musik gewürdigt werden. mern von Interesse sind“. Gergiev (Bild). Gergiev wird +++ Bei der Hamburger Pre- Das Präsidium des Deutschen Mu- den mit 50 000 Euro dotierten miere des Live Entertainment sikrats und die Konferenz der Landes- Preis am 12. Juli im Festspiel- Award (LEA) ging der Preis für musikräte fordern auf dieser Grund- haus Baden-Baden in Empfang das herausragendste Festival lage, den audiovisuellen Sektor vom An- nehmen. Das Preisgeld ist 2005 an das „Classic Open Air“ wendungsbereich der geplanten Dienst- zweckgebunden für die musika- am Berliner Gendarmenmarkt, leistungsrichtlinien auszunehmen. Prä- lische Nachwuchsarbeit. +++ dessen künstlerischen Leiter sidium und Konferenz unterstreichen Daniel Barenboim erhält im Mai in Gerhard Kämpfe und Veranstalter vor diesem Hintergrund die Notwen- Wien den mit 150 000 Euro dotierten Mario Hempel, die Auszeichnung für die digkeit von Must-Carry-Verpflichtun- internationalen Ernst von Siemens Musik- erfolgreichste Livemusik-Tournee an den gen im Hinblick auf digitale Netze. Sie preis. 100 000 Euro will der Dirigent für Flensburger Veranstalter Bernd Hölcke verweisen nachdrücklich darauf, dass die Sanierung der Berliner Staatsoper spen- (Concert & Event) für die Gastspielreise dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk den und 50 000 Euro zugunsten der neuen mit Peter Maffay. +++ Den Sonderpreis in der digitalen Welt insbesondere auch Barenboim Stiftung für Musikbildung. +++ des schleswig-holsteinischen Ministerpräsi- alle erforderlichen terrestrischen Frequen- Der Dirigent Gerd Albrecht, Ehrenmit- denten Peter Harry Carstensen beim „John zen für die Erfüllung des Rundfunkauf- glied des Deutschen Musikrats, erhält den Lennon Talent Award“ erhielt die Punk- trags zur Verfügung stehen müssen. mit 5 000 Euro dotierten „Hermann-Voss- rockband No Thing aus Itzehoe. Der Martin Maria Krüger, Präsident des Kulturpreis der deutschen Orchester“. Mit Talentwettbewerb steht für die professio- Deutschen Musikrats der seit 1979 alle drei Jahre von der Deut- nelle Förderung von jungen deutschen Ernst Folz, Vorsitzender der Konferenz der schen Orchestervereinigung verliehenen Nachwuchsmusikern der Rock- und Pop- Landesmusikräte Auszeichnung sollen Albrechts langjährige musik. +++

 8 MUSIK ORUM Die Anzahl der öffentlich finanzierten Orchester verringerte sich von 168 im Jahr 1992 auf 135 zum Jahresanfang 2006. (Angaben: Deutsche Orchestervereinigung)

© Foto: Berliner Philharmoniker ORCHESTER IN DER

Eine Draufsicht von Ulrike Liedtke Zerreißprobe

o etwas vergeht, entsteht Die Kulturgeschichte lehrt uns, dass es den Der Aufschrei ist nötig, die Veränderung WNeues. Dachte ich bisher Untergang gibt: Wo Indianer einst die Uhr- erforderlich, denn: Die Orchester befinden auch. Bis ich von dem Indianer- zeit nach Sonneneinstrahlung auf ausgeklü- sich in einer Zerreißprobe. gelter Architektur ermitteln konnten, braten stamm las, der ausgestorben ist. sie jetzt ihr Fleisch unter freiem Himmel. Keiner 1. Individuum oder Masse Weil kein Regen floss, weil nichts hatte weitergesagt, wie die astronomischen mehr gedeihen wollte und die Berechnungen zu erfolgen haben. Der Fluss Sie leisten Schwerstarbeit, die Orchester- Menschen verzweifelten. Sie füt- an Wissen, Können und Erfahrung setzte ir- musiker. Spielen im Konzert, in der Oper, terten ihre Kinder nicht mehr und gendwann einfach aus. Ein krasser Vergleich der Operette und im Musical. Schüler- und die starben. zur Situation der so genannten klassischen Kinderkonzerte gehören zum üblichen Spiel- Musik von Orchestern? plan. Orchesterpartnerschaften verbinden sie

 MUSIK ORUM 9 FOKUS

Die Änderung mit Laienmusikern, Orchesterakademien er- möglichen den praktischen Einstieg von Stu- denten und jungen Kollegen. Kirchenmusik der Klangideale: ist eine Selbstverständlichkeit, in der Kam- Junge Soundbastler mermusik erproben sie ihr eigenes Können entwerfen ihren auf individuelle Weise. Reisen gehören zum Orchesterton am Laptop. Berufsbild, permanente eigene Vorbereitung, Bleibt der handgemachte, Disziplin und Pünktlichkeit – egal bei wel- individuelle Ensemble- chem Wetter – natürlich auch. klang auf der Strecke? Wer von Kindheit an lieber Geige übte, während andere Fußball spielten oder fern guckten, wer lange genug an der eigenen In- tonation bastelte und nach – sagen wir mal fünf Jahren – endlich ein Klangideal auf sei- nem Instrument erreichte, der ist nicht so leicht Uraufführungen von Chorsinfonik sind schon und Jugendzimmer sieht es anders aus. Da unterzukriegen. Von den Risiken des Berufs selten geworden, große spätromantische Be- hat der natürliche Trompetenklang nicht so weiß man natürlich: Haltungsprobleme, nerv- setzungen bleiben wenigen Orchestern vor- viel Prickelndes an sich wie der selbst gesam- liche Belastung, instrumentenspezifische Er- behalten. Das hat Dubletten zur Folge, Bear- pelte Klang aus dem Laptop. Die neue Haus- krankungen. Auch die Weltfremdheit durch beitungen großer Stücke für kleine Besetzun- musik findet am Computer statt: Ausprobie- tägliches Üben und Eingespannt-Sein in die gen – Prokofjews Peter und der Wolf für Blä- ren mit elektroakustischem Klang, Improvi- Mühle einer Endprobenphase. Nicht einmal serquintett im Musikclub des Konzerthauses sieren, Komponieren. Selbst gemachte Mu- Zeit für politische Nachrichten, Familie muss Berlin und der Aufschrei eines Kindes: „Aber sik, auch unter Verwendung vorgefertigter warten, das alles gehört dazu. der Peter muss doch Geige spielen!“ Bausteine selbst zusammengefügt. Aber: Irgendwie passt das Berufsbild nicht Die gefühlte Repertoiremenge eines Or- Klangideale ändern sich, zu beobachten mehr in die Individualisierung unserer Ge- chesters beträgt etwa 100 Stücke. Vielleicht in der Musikgeschichte wie im einzelnen Le- sellschaft. Autoritäre Strukturen sind out, dazu ist das gar nicht so schlimm, weil jüngere ben. Neben dem Trompetenkonzert gibt es gehören die Überbleibsel der Dirigentenhie- Generationen auch diese 100 Stücke nicht bereits die Musik für Laptoporchester. Für rarchie, ohne die Orchesterkunst nun mal nicht alle kennen. Wichtig bleibt: Repertoire steu- deren Ausübung wird das Wissen des Com- entstehen kann. Popsänger, Filmstars, Models, ert Rezeptionsverhalten. Auch wenn es museal puterspezialisten benötigt, für deren gute Kom- bildende Künstler und Schriftsteller hingegen erscheint: Die Dokumentation von Orches- position gelten die gleichen Überlegungen zur sind individualisierte Künstler. Die bürgerliche termusik als Weltkulturerbe bleibt Aufgabe horizontalen und vertikalen Tonhöhen- und Tradition ist einer Entbürgerlichung gewichen, der Orchester, also auch Gattungsvielfalt, stilis- -dauernorganisation wie in anderer Musik auch. Orchester als Masse von Menschen, die alle tische Vielfalt, Besetzungsvielfalt. Dafür spricht Wenn also der Individualisierung des Klangs „dasselbe“ tun, haben sich irgendwie abgenutzt. übrigens auch die Einseitigkeit von vermeint- so viel Bedeutung zukommt, muss es doch lich „klassischer“ Musikbeschallung im Fahr- gelingen, auch den individuellen Orchester- 2. Repertoire für Orchester stuhl, in der Parfümerie des Kaufhauses und klang anzubieten. Handgemachte Orchester- oder Spezis an so manch anderer Örtlichkeit. musik hat doch einen ganz eigenen „Sound“, zu Höchstformen entwickelt in der Klangäs- Szenen von Spezialensembles für Neue 3. Ventil oder Laptop thetik eines Gewandhausorchesters oder der Musik und Alte Musik sind entstanden und Dresdner Staatskapelle. haben sich entwickelt. Es gibt zahlreiche Kam- Die Hörerakteptanz gegenüber Orches- In der Musikverwaltung der Kinder fin- merensembles mit großen Namen, neben denen termusik hat sich verändert. Die Media-Ana- det sich auf der Festplatte nebeneinander, es das Streichquartett eines städtischen Or- lysen der Kulturradios weisen im Schnitt ein was ihnen gefällt, Mozart neben HipHop. Den- chesters ebenso schwer hat wie das junge freie älteres Stammpublikum um 60 Jahre aus, aber noch werden sie gut sortieren, wann sie was Ensemble von Hochschulabsolventen, das in die Konzertanalysen unterschiedlicher Städ- hören wollen. Das platte Nebeneinanderset- Ermangelung von Orchesterstellen den selbst- te spiegeln durchaus die Aktivitäten des je- zen etwa im Rundfunk gibt die Reihenfolge ständigen Weg wagt. Bachs Brandenburgische weiligen Orchesters wider. So lange es eine der Stücke vor. Interessanter ist da der Ver- Konzerte spielt das Spezialensemble nun mal generelle gesellschaftliche Akzeptanz für Or- such „Hip H’Opera© – Così fan tutti“, ein besser als das städtische Orchester, die Kon- chester gibt, wandert der Orchesterklang nicht Projekt der Berliner Komischen Oper zur zerte sind ja eigentlich auch solistisch besetzt. ins Museum historischer akustischer Ereig- Verknüpfung von Musiktheaterproduktion Heutige Komponisten schreiben selten für nisse ab. Denn – trotz aller kommunaler Ärger- und Jugendkulturarbeit – frei nach Mozart, Orchester, auch das hat mit Besetzungen zu nisse um die Größe der Orchester – so ein- mit drei Opernsängern, drei Rappern, einem tun, auch mit dem großen Engagement der fach dicht machen will sie ja doch keiner. Schuljugendorchester und DJ Sil Yan, unter mutigen Freien. Spezialisierung gehört zu un- Politik reagiert langsamer, Politiker sind nicht der Leitung des in Neuer Musik exzellenten serer Zeit, eine völlig normale Entwicklung. mehr ganz jung, nur leider oft erschreckend Geigers Chatchatur Kanajan. Die Proben der Aber wie ließe sich das gesamte Reper- unwissend in der Einschätzung von Beset- Darsteller fanden freitagabends im Schaufens- toire von der Klassik bis ins 20. Jahrhundert zungen, Spielfähigkeit und Repertoire. ter der Oper statt – zum Zugucken. Machbar, hinein ohne das Orchester spielen? Die Ant- Aber noch einmal: Eine breite gesellschaft- am besten vielleicht an ohnehin zu rekon- wort liegt klar auf der Hand: Einzelne Gat- liche Akzeptanz für Orchester – im Rathaus, struierenden Kompositionen (Monteverdi ver- tungen, stilistische Richtungen und schließlich unter Lehrern, im Rundfunk – ist vorhanden kraftet gerade verschiedene Versuche), nicht ganze Kompositionen würden verschwinden. und muss genutzt werden. Denn im Kinder- jedermanns Sache. Versuche dürfen aber nicht

 10 MUSIK ORUM zum Totschlagargument werden, nur so sei regional wichtige Aktivitäten von Orchestern. nötigt, Besonderes zu bieten – Feuerwerk, die Jugend an Musik heranzuführen. Gerade Das von der Deutschen Bank geförderte Edu- Elefanten, Springbrunnen. So neu ist das nicht. die offene Neutralität junger Menschen ge- cation-Programm „Zukunft@BPhil“ der Ber- Thematisch gebundene Konzerte finden genüber klassischer Musik gilt es zu nutzen. liner Philharmoniker (siehe Seite 24) ist toll, Publikum – gedankliche Verbindungen zu aber es kostet auch. Alle Orchester geben Klimawechsel, Hirnforschung und Genma- 4. Hochkultur oder Kinderkonzerte und müssen weiter darüber nipulation. Bio-Musik ist ein spannendes neues Kinderkonzert nachdenken, wie und wo sie das tun. Forschungsgebiet (der Karneval der Tiere so- Nun lernen wir aber gerade, dass die Über- zusagen nur eine späte Folge); hier geht es Zum gesicherten Wissen gehört: Nach dem alterung der Musiker, besonders in den Or- um Tierlaute und „Tiermusik“ im Vergleich elften Lebensjahr erfolgt keine Veränderung chestern der Neuen Länder, unaufhaltsam zu „Menschenmusik“ (Mozarts formale Klein- mehr in der Akzeptanz von Musik, sprich: scheint. Na und? Väter und Opas können gliedrigkeit spielt da übrigens eine wesent- Was bis dahin nicht gehört wurde, wird nicht auch sehr viel für Kinder tun. Dieses struktu- liche Rolle, Versuchsratten bevorzugen ihn!). mehr akzeptiert. Die klare Schlussfolgerung rell im Interesse junger Musiker dringend zu In Anbetracht der demografischen Situa- daraus: Ab in die Kindergärten und Grund- lösende Problem ist Teil der Baustelle, aber tion gibt es bald viele junggebliebene Alte – schulen! Es nützt nichts, die musikalischen die Statik der Orchesterperspektiven bestimmt der Wellness-Trend dürfte nur eine Richtung Kenntnisse und Fähigkeiten von Kindergärt- das junge Publikum, bestimmen die Kinder. sein, die uns zu Gesundheit und Klassik ein- nerinnen zu beklagen. Früher mussten sie noch Susanne Keuchel geht im „Jugend-KulturBa- fällt. Und da wir so viel Elektronik in unse- ein Instrument spielen können, heute nicht rometer 2004“ der Schlüsselfunktion von El- rem Leben haben und im Zeitalter der Re- mehr. Und überhaupt: Es gibt noch nicht einmal ternhaus und Schule bei der Akzeptanz von produzierbarkeit stecken: Schneiden wir doch an allen Grundschulen Musiklehrer! Musik nach. Sie fordert: „Auch die ‚Verlierer‘ das Konzert mit – wie es das Kölner Gürze- Traurige Fakten, Veränderungen sind not- in unserem Bildungssystem sollten eine Chance nich-Orchester vormacht (siehe Seite 22) – wendig. Korrekturen, die keinesfalls nur von erhalten, klassische Kulturgüter kennen zu und verkaufen anschließend sofort die CD Orchestermusikern kommen müssen, aber lernen, so auch klassische Musik.“* Und meint dazu (ohne Sorge um den einen falschen Ton auch von ihnen. Wer will, dass sich künftiges damit den Nachwuchs in Kindergärten und in Takt 365; es gibt mit Sicherheit längst viel Publikum nicht besonders legitimieren muss, Grundschulen, aber gerade auch die Kinder schlechtere CDs auf dem Markt)! weil es etwas anderes hören möchte als Pop, in Hauptschulen an sozialen Brennpunkten. Wir brauchen gute, andere Ideen. Die bes- der muss etwas anderes als Pop anbieten. sere Vermarktung von Orchestern funktio- Dem gesunden, neugierigen Druck des künf- 5. Schwarz-weiß oder anders niert nur, wenn das Produkt einmalig toll ist. tigen Publikums lässt sich doch besser ver- Perspektiven sind denkbar: Musik ist die Frei- trauen als der politisch-finanziellen Stellschrau- Es war der große philharmonische Gedan- zeitbeschäftigung Nr. 1 bei jungen Leuten. be. Und weil Kinder so wunderbar aufge- ke, der alle Musiker eines Orchesters einheitlich Popmusik und Elektroakustik bringen nicht schlossen reagieren, können die musikalischen schwarz-weiß in den Dienst des guten Werks viel Neues – eine Chance für handgemachte Aktivitäten mit und für Kinder weit über das stellte. Vorher legten die Hofkapell-Bediens- Musik und den unverwechselbaren Orches- Versuchsstadium hinausreichen. teten großen Wert auf goldene Knöpfe, Schnal- terklang. Jeder Bürgermeister braucht eine Dem Landesmusikrat Niedersachsen ge- len und Stickereien, in der Neuen Musik spielen soziologisch-ästhetische Lebensqualität in sei- lang 2005 das große Kinderchorfestival „Kleine auch wieder Selbstdarsteller. Einzelne Stars ner Region und kein Absinken des kulturel- Leute – bunte Lieder“, das 5 000 Kindergar- musizieren vielleicht nicht besser als mancher len Anspruchs in der Bevölkerung. Jeder Lehrer ten- und Grundschulkinder in 19 Regionen Orchestermusiker, aber sie „verkaufen“ sich möchte aus der PISA-Studie heil davon kom- des Landes zum Singen brachte. Der Lan- besser (Naserümpfen darüber, ich weiß schon). men. Jeder Ministerpräsident rollt sich gern desmusikrat Hamburg ließ 2006 einen Ka- Über neue Präsentationsformen muss nach- den roten Teppich mit Orchesterklängen aus. lender für Kindergärten und Grundschulen gedacht werden. Im Moment scheint jeder Individualisierung, Spezialisierung, demo- drucken – für jeden Monat ein neues Lied Konzertort außerhalb des Konzertsaals für grafische Veränderungen, neue musikpäda- zum Lernen. Da nun mal „das Singen das das Publikum interessanter zu sein als der gogische Ansätze, nicht zuletzt Sparmaßnah- Fundament zur Musik in allen Dingen“ ist, Konzertsaal selbst. Das hat doch Gründe. Eine men – wir befinden uns auf einer riesigen wie Telemann uns lehrt, kann im zweiten angemessene Präsentation von Musik in gen- Baustelle. Es gibt so viele neue Aufgaben für Bauabschnitt darauf aufgebaut werden: Mu- reübergreifenden Formen spricht an. Jeder Orchester, dass es gar nicht genug Orchester sik machen, nicht nur hören, Klassenmusi- kann sich aus dem Internet Literatur, Bilden- geben kann. zieren, das Spiel auf einem Instrument erler- de Kunst, Architektur, Kleidung oder Rezep- Am wichtigsten bleibt aber: Wir müssen nen, das Venezuela-Kinderorchester macht te aus der Zeit eines Musikstücks laden. His- die Kinder füttern. es vor. Orchester und Schule können ohne torisches Bewusstsein, Wertevorstellungen, Pädagogisierung einen gemeinsamen Weg ein- musisch-ästhetische Bildung finden nicht mehr * Susanne Keuchel: „Den Klassikdialog mit der Jugend schlagen, wie etwa bei den Initiativen „Netz- bei Kerzenschein statt. Wir sehen heute mehr. intensivieren“, in: Das Orchester 6/2005, S. 20. werk Orchester & Schulen“ der Deutschen Gerade wegen dieser Überflutung an Rei- Orchestervereinigung (DOV), „Tutti pro“ in zen freuen sich Zuhörer über Orientierung Die Autorin: Kooperation mit Jeunesses Musicales Deutsch- – das Festival, das Event, zum Glück hat Mozart Dr. Ulrike Liedtke , Leiterin der land oder „TUSCH“ (Theater und Schule), gerade Geburtstag. Es nützt nichts, dagegen Bundesmusikakademie Rheinsberg, einer Kooperation von 22 Berliner Bühnen zu wettern, es hilft nur, Prioritäten zu setzen. ist Rundfunkratsvorsitzende beim und 33 Schulen, gefördert vom Berliner Se- Die spezifische Akzeptanz von Mozart ist eine Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) nat und in Hamburg nachgemacht. Chance, die Gefahr des Über-Hörens an ihm und Präsidiumsmitglied des Deut- Weitere Projekte von Verbänden und Ver- gibt es doch nicht. Übrigens war Händel in schen Musikrats. einen verdienen die Aufzählung, auch viele einer Konkurrenzsituation auch immer ge-

 MUSIK ORUM 11 FOKUS

Die Landschaft an Klangkörpern für Oper, Konzert und Kammermusik befindet sich in einem dramatischen Umbruch. Gerald Mertens sorgt sich um unsere Musiktradition

DEUTSCHE ORCHESTER: Talfahrt ZU STOPPEN?

eutschland verfügt zahlen- Die professionelle Konzertsaal tätig sind. Die Spitzenposition neh- Dmäßig immer noch über die Orchesterlandschaft men hier unbestritten die Berliner Philhar- dichteste Orchesterlandschaft der moniker ein, gefolgt von vielen weiteren in- Die professionelle, öffentlich finanzierte ternational bedeutenden Orchestern, den Welt. Wobei nicht nur die Zahl Orchesterlandschaft Deutschlands mit gegen- Münchner Philharmonikern, der Sächsischen der zum Teil weltberühmten wärtig 135 Kulturorchestern beruht im We- Staatskapelle Dresden, der Staatskapelle Berlin Profiorchester beeindruckend ist. sentlichen auf vier Säulen: oder dem Gewandhausorchester Leipzig, um Da sind zum einen die 82 Opernorches- nur einige der größten zu benennen. Zur Musiklandschaft gehören auch zahl- ter, die überwiegend die Sparten Oper, Ope- Die dritte Säule bilden sieben Kammer- lose Liebhaber- und Laienorchester, Werks-, rette und Musical der Stadt- und Staatsthea- orchester, die in der Regel ohne eigene Blä- Ärzte- und Juristenorchester, Hochschul- und ter bedienen. Das Spektrum reicht von den serbesetzung als reine Streichorchester ebenfalls Universitätsorchester, Schul- und Musikschul- großen, international renommierten Opern- international Beachtung finden, z. B. das Stutt- orchester, Blasorchester und -kapellen. Und häusern in Berlin, Hamburg, Stuttgart oder garter Kammerorchester, das Württember- allein die Jeunesses Musicales Deutschland München bis hin zu den kleinen Bühnen in gische Kammerorchester Heilbronn oder das zählt etwa 220 Jugendorchester zu ihren Mit- Lüneburg, Annaberg oder Hildesheim. Münchner Kammerorchester. gliedern. Viele dieser Ensembles spielen un- Die zweite Säule bilden 32 Konzertor- Die vierte Säule schließlich besteht aus den ter professioneller Anleitung auf einem be- chester (darunter ein ziviles Blasorchester), Rundfunkklangkörpern der ARD-Anstal- achtlichen künstlerischen Niveau. die ganz überwiegend oder ausschließlich im ten und der Rundfunkorchester und Chöre GmbH (ROC) Berlin: 14 Rundfunk- und Rund- funksinfonieorchester sowie vier Bigbands und sieben Rundfunkchöre sind unverändert ein Standbein für hochwertige Musikproduktion, ambitionierte Programmpolitik und die För- derung der zeitgenössischen Musik in Deutsch- land. Als „Kulturorchester“ werden im Allge- meinen alle vorgenannten Konzert-, Rund- funk- und Opernorchester bezeichnet, da sie – so die etwas angestaubte tarifvertragliche und gesetzliche Definition – „überwiegend ernst zu wertende Musik“ spielen. Das ent- scheidende Kriterium dürfte jedoch sein, dass diese Orchester alle überwiegend öffentlich (aus Steuermitteln oder Rundfunkgebühren) finanziert werden und mit einem festen Per-

Stabiler Faktor: Ihr großes internationales Renommé garantiert den Münchner Philhar- monikern ein kontinuierliches Schaffen in schweren Orchesterzeiten.

 12 MUSIK ORUM Auflösung, Abwicklung, Insolvenz: Wenn Orchester sterben… sonalbestand ganzjährig keine reine Unter- stark an, so setzte alsbald eine Anpassungs- vergangenen 14 Jahren von der Landkarte haltungs- oder Marschmusik spielen. und Konsolidierungswelle ein, in deren Ver- verschwunden. Der Stellenabbau hat sich in Hinzuweisen ist auf weitere professionel- lauf vorrangig in den neuen Bundesländern jüngster Zeit wieder bedrohlich beschleunigt. le Ensembles und Kammerorchester, die ent- etliche Einrichtungen aus finanziellen Grün- Während von 2002 bis 2004 120 Orches- weder als Projektorchester (meist als Gesell- den miteinander fusioniert, verkleinert oder terstellen dauerhaft wegfielen, waren es von schaft bürgerlichen Rechts) mit einem Stamm ganz aufgelöst wurden. Dies betraf im Or- 2004 bis 2006 sogar 273 Stellen bundesweit. selbstständiger Musiker oder teilweise mit chesterbereich nicht etwa nur kleine Orchester Gegenwärtig gibt es in den 135 Orchestern stärkerer öffentlicher Finanzierung auch mit in einigen ländlichen Gebieten oder an den 10 052 Musikerstellen. 1992 waren es in 168 fest angestellten Musikern arbeiten. Professio- Schauspielbühnen im Ostteil Berlins, sondern Orchestern noch 12 159 Stellen. nelle Orchester bestehen auch in den Berei- auch größere Orchester in ehemaligen Be- Besonders betroffen sind die Orchester chen von Polizei, Bundesgrenzschutz und Bun- zirkshauptstädten, wie u. a. in Schwerin, Er- in Ostdeutschland: Hier betrug der Stellen- deswehr, sind aber überwiegend als Blasor- furt, Potsdam oder Suhl, sowie einzelne Rund- abbau seit 1992 durchschnittlich rund 33 chester- und Bigband-Formationen tätig. Ein- funkklangkörper des ehemaligen DDR-Rund- Prozent – in Thüringen fielen knapp 40, im zelne, immer wieder neu zusammengestell- funks in Berlin und Leipzig. Land Brandenburg sogar fast 50 Prozent der te Orchesterformationen spielen auf Produk- Musikerstellen weg. Außerdem verzichtet tionsdauer im Bereich der kommerziellen Musi- 33 Orchester von der schon rund die Hälfte aller 48 ostdeutschen calunternehmen, vorwiegend in Hamburg, Landkarte verschwunden Orchester auf Gehalt, um möglichst viele Ar- Berlin und Stuttgart. Die Zahl der Kurorchester beitsplätze vorläufig zu sichern. Den Orchestern schließlich, die bis in die 1970er Jahre immer Parallel zu dieser besonderen Entwicklung im Osten droht inzwischen aufgrund des Per- eine wichtige Durchgangsstation für Musik- in den neuen Bundesländern kam es allerdings sonalabbaus der letzten Jahre und der gerin- studenten und junge Berufsmusiker waren, auch in einzelnen alten Bundesländern zu gen Zahl von Neueinstellungen eine ernst- ist auf eine kaum noch wahrnehmbare Zahl Strukturanpassungen, angefangen von der Auf- hafte strukturelle Überalterung, mit allen ge- zurückgegangen. Aus Kostengründen enga- lösung des Musiktheaters in Oberhausen im sundheitlichen, künstlerischen und klanglichen gieren viele Kurbäder kleine Combo-Forma- Jahr 1992 über die Insolvenz der Philharmo- Folgen. Im Westen geht die Sonne nicht auf, tionen – vorwiegend aus Osteuropa – nur nia Hungarica (Marl) im Jahr 2001 und der aber im Osten geht sie langsam unter, so könnte noch für eine Saison. Abwicklung und Insolvenz der Berliner Sym- man die Situation auch beschreiben. phoniker im Jahr 2004. Strukturveränderungen seit Die Zahl der öffentlich finanzierten Kon- Rechtsformänderungen der Wiedervereinigung zert-, Opern-, Kammer- und Rundfunkorches- ter verringerte sich von ursprünglich 168 seit Der Umbruch in den 90er Jahren war auch Stieg im Jahr 1990 – als Folge der Wie- der ersten gesamtdeutschen Erfassung im Jahr durch einen wahren Privatisierungsboom – dervereinigung beider Teile Deutschlands – 1992 auf 135 Anfang 2006. 33 Orchester wiederum mit Schwerpunkt in den neuen die Zahl der Theater und Orchester zunächst sind also durch Auflösung oder Fusion in den Bundesländern – gekennzeichnet. Dies hing

 MUSIK ORUM 13 FOKUS

vor allem damit zusammen, dass vielfach staat- öffentliche Hand abhängig. In der Regel bis unabhängig von der privaten oder öffentli- liche Strukturen der DDR, so etwa die Bezir- zu fünfjährige Zuwendungsverträge geben aber chen Rechtsträgerform – nicht der so genann- ke, ersatzlos wegfielen. Insbesondere einige eine weitaus größere Planungssicherheit als ten Budgetierung unterliegt (und dies ist bisher neu gebildete Landkreise fühlten sich mit der dies gegenwärtig bei den meisten der ande- nur bei wenigen der Fall), können etwaige Alleinträgerschaft von Theatern und Orches- ren Rechts- und Betriebsformen der Fall ist. Mehreinnahmen und die eventuelle Bildung tern finanziell überfordert. Dies führte ver- von Rücklagen zu einer Verringerung des einzelt zur Bildung öffentlich-rechtlicher Zweck- Finanzierung und Spielräume öffentlichen Zuschusses für das kommende verbände oder eingetragener Vereine, ganz Haushalts- bzw. Geschäftsjahr führen, also überwiegend aber zur Gründung von GmbHs. Die deutschen Kulturorchester finanzie- letztlich zu einer „Bestrafung“ für mehr Akti- Seit 1990 hat es im Bereich der Kulturorches- ren sich überwiegend aus den Zuschüssen vität. Die nur ansatzweise Erfüllung der For- ter bundesweit 32 GmbH-Gründungen ge- der öffentlichen Hand, insbesondere den Län- derung nach der Erhöhung der Eigeneinnah- geben, 26 davon in den neuen Bundeslän- dern und Kommunen, bzw. aus Rundfunk- men würde also zwingend voraussetzen, dass dern. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhe- gebühren. Die Einspielergebnisse und Eigen- diese erstens zu keiner Anrechnung auf die punkt etwa Mitte der neunziger Jahre. Die einnahmen sind sowohl in den verschiedenen öffentlichen Zuschüsse führen, zweitens im allgemeinen Kostensteigerungen im Personal- Sparten (Musiktheater, Konzert usw.) als auch Orchesteretat frei verwend- und übertragbar und Sachkostenbereich konnten durch die- regional sehr unterschiedlich. Im Durchschnitt (auch für Rückstellungen und Rücklagen) blei- se Privatisierungen und Auslagerungen der liegen sie bei etwa 16,4 Prozent des Etats – ben und drittens die öffentlichen Zuschüsse Orchester aus den öffentlichen Haushalten oftmals darunter, vereinzelt darüber. Die Ei- mittelfristig rechtlich verbindlich zugesagt und nicht aufgefangen werden. geneinnahmen lassen sich nicht beliebig er- tatsächlich gezahlt werden. Eine fortlaufen- Daneben gab es seit 1990 auch zehn Ei- höhen. Begrenzte Saal- und Platzkapazitäten, de Fehlbetragsfinanzierung dämpft letztlich genbetriebsgründungen, bei denen die Or- kleinere Einzugsgebiete einzelner Orchester, jede realistische unternehmerische Aktivität. chesterbetriebe rechtlich zwar im unmittel- gewohnt bezahlbare Kartenpreise und das Im Vergleich zu anderen Ländern, z. B. baren Einflussbereich der öffentlichen Hand geschichtlich gewachsene Bewusstsein der Be- den USA, verhindern auch wettbewerbsrecht- verblieben, aber wirtschaftlich eine größere völkerung an der staatlichen Kulturförderung liche Beschränkungen mögliche weitergehende Eigenständigkeit und flexiblere Handlungs- lassen kurzfristige, nachhaltige Einnahmestei- Direktmarketing-Aktivitäten von Theater- und spielräume eingeräumt bekamen. Prominentes gerungen und eine zu starke Erhöhung von Orchesterträgern. Die vergleichsweise sehr Beispiel für diese Rechtsform sind Gewand- Eintrittspreisen nicht zu. viel geringere Personalstärke deutscher Or- haus und Gewandhausorchester Leipzig. In den meisten Orchestern wird die Frage chesterverwaltungen behindert gegenwärtig der Erhöhung der Eigeneinnahmen durch die den an sich dringend erforderlichen zusätzli- Stiftungen als Träger (haushalts-)rechtliche Situation zusätzlich kon- chen personellen Werbe- und Marketingauf- terkariert: Soweit das Orchester – und zwar wand zur Erreichung neuer Publikumsschich- Neuerdings wird häufiger auch die Rechts- form der Stiftung als Trägerinstitution (oder Vorstufe dazu) für Theater- und Orchester- betriebe verwendet, so bislang in Meiningen, Absicherung für große Ensembles: wo in die (privatrechtliche) Theater- und Or- chester-Stiftung allerdings auch die ehemals Deutsche Orchestervereinigung herzoglichen Museen einbezogen sind, bei der Württembergischen Philharmonie Reut- trotzt dem Trend lingen und seit 2002 bei den Berliner Phil- harmonikern (letztere zwei als öffentlich-recht- Der Erhalt von Orchestern und Theatern ist beitsbedingungen für ihre Mitglieder ver- liche Stiftungen). Seit 2004 werden die drei ein vorrangiges Ziel der Deutschen Orches- einbart, zum anderen aber ein Berufsverband, Berliner Opernhäuser (Deutsche Oper, Deut- tervereinigung (DOV). So beschäftigt das der sich für alle sonstigen Belange der pro- sche Staatsoper und Komische Oper) als „Stif- Thema auch die im dreijährigen Turnus von fessionellen Orchester und Rundfunkchöre tung Oper in Berlin“ geführt. Weitere Stif- der DOV einberufene Deutsche Orchester- engagiert. Als Mitgesellschafterin der Ge- tungsgründungen erfolgten 2004 beim Bran- konferenz am 16. Mai. Hier werden Beispie- sellschaft zur Verwertung von Leistungs- denburgischen Staatstheater in Cottbus, beim le präsentiert, wie über Vernetzung oder Ver- schutzrechten (GVL) kümmert sich die DOV Staatstheater Nürnberg und 2005 bei den bindung regionale Orchester abgesichert um den Schutz der Urheberrechte ausüben- Bamberger Symphonikern (Bayerische Staats- werden können. Diskutiert wird unter dem der Künstler. 2004 hat die DOV die „Deut- philharmonie). Motto „Orchester als Marke“ zudem die Fra- sche Orchester-Stiftung“ gegründet, durch Der Vorteil der zunehmend gewählten ge, wie viel Marketing deutsche Klangkör- die z. B. das Dirigentenforum und das Bun- Rechtsform der öffentlich-rechtlichen Stiftung per brauchen oder vertragen. Themen wie desjugendorchester unterstützt werden. In liegt zum einen darin, dass sie in der Regel Education, Musikvermittlung und Audience Zusammenarbeit mit den Schulmusikerver- nicht insolvenzfähig ist, also dauerhaft und Development stehen ebenfalls auf der Tages- bänden unterhält die DOV das Netzwerk Or- verlässlich öffentlich finanziert werden muss. ordnung der Orchesterkonferenz. chester & Schulen. In Kooperation mit der Da – anders als z. B. bei den millionenschweren Die 1952 von Berufsmusikern gegründete Jeunesses Musicales Deutschland fördert die nordamerikanischen Opern- und Orchester- DOV hat als eingetragener Verein ihren Sitz DOV unter dem Motto „tutti pro“ Orches- stiftungen – ein eigenes namhaftes Stiftungs- in Berlin und vertritt rund 13 500 Mitglieder terpatenschaften zwischen Berufs- und Ju- kapital nicht vorhanden ist, bleiben diese Ins- in über 150 Ensembles. Die DOV ist zum einen gendorchestern. titutionen als reine Zuwendungsstiftungen eine Gewerkschaft, die in Tarifverträgen Ar- U www.dov.org U www.orchesterstiftung.de unverändert von der Finanzierung durch die

 14 MUSIK ORUM Orchester brauchen mehr Eigenständig- keit und Planungs- sicherheit

Fusionen als „Auffangbecken“: In Halle ist derzeit die Zusammenlegung des Philharmonischen Staatsorchesters (Bild) mit dem Orchester des Opernhauses in vollem Gang.

ten. Beim Blick in die USA muss man allerdings konstatieren: Durch Wenn es den Orchestern gelingt, diese Kernfragen gegenüber die erheblichen Steuerprivilegien für private Geldgeber ist die dorti- Öffentlichkeit und Politik überzeugend zu beantworten, wird es für ge Kulturfinanzierung dem Grunde nach auch eine öffentliche, nur sie auch wieder leichter, eine auskömmlichere öffentliche Finanzie- eben indirekt. rung zu erhalten.

Perspektiven für Orchester Der Autor: Freiwilliges gesellschaftliches Engagement von Bürgern in der Gerald Mertens ist Geschäftsführer der Deutschen Orchester- Organisation professioneller Kulturorchester auf breiter Basis ist in vereinigung und Leitender Redakteur der bei Schott Music Deutschland bislang ebenso unüblich wie weitgehend noch unbe- erscheinenden Zeitschrift „Das Orchester“. kannt. Zu wenige Einrichtungen nutzen die bestehenden Möglich- keiten eines „Freiwilligen sozialen Jahres“ in der Kultur.

Fördervereine und Freundeskreise existieren zwar und sind auch ANZEIGE wichtig, zumal sie die Basis für ein regionales Kulturverständnis und -bewusstsein verbreitern, doch spielen sie ebenso wie das Sponso- ring wirtschaftlich keine wirklich bedeutsame Rolle für die Orches- terfinanzierung. Das deutsche Steuerrecht bietet immer noch keine ausreichenden Anreize für eine Verstärkung von Sponsoren-, Spen- der und Stifterleistungen, die bislang ohnehin nur zur Unterstützung einzelner Projekte oder „Events“ dienen konnten. Die angespannte Haushaltslage des Bundes lässt hier keine weiteren Erleichterungen durch den Gesetzgeber in naher Zukunft erwarten. Die personelle und finanzielle Situation für die deutschen Or- chester bleibt angespannt. Besonders große Probleme haben die Or- chester in den neuen Bundesländern. Weitere Orchesterfusionen in Halle (Opernhaus- und Staatsorchester) sowie bei den Rundfunk- orchestern in Saarbrücken und Kaiserslautern werden die Zahl der Orchester weiter sinken lassen.

Es geht nicht nur um Geld Die ganze Welt beneidet uns um unsere reiche Kultur- und Mu- siktradition, wir jedoch lassen sie langsam, aber stetig verkommen. Die finanzielle Talfahrt der Orchesteretats muss endlich ein Ende haben, sonst ist die einzigartige deutsche Orchesterlandschaft so nicht länger haltbar. Dabei geht es kurzfristig nicht unbedingt um mehr Geld; ein richtiger Schritt wäre es schon, den Orchestern mehr Ei- genständigkeit und vor allem eine verlässliche, bis zu fünfjährige Budgetgarantie und damit mehr Planungssicherheit zu geben. Weitere Fragen stellen sich ganz aktuell: Wie können sich profes- sionelle Orchester in ihrem Umfeld noch besser und stärker vernet- zen? Wie sieht innovatives Marketing aus, das neue Zuschauerschichten anspricht? Welche neuen Möglichkeiten haben und suchen die Or- chester im Bereich von Education, Outreach und Musikvermittlung? (siehe hierzu die Artikel ab Seite 20).

 MUSIK ORUM 15 FOKUS

Thomas K. Hamann in seiner wissenschaftlichen Studie: Wenn Orchester angesichts des Publikumsrückgangs eine Zukunft haben wollen, müssen Manager und Kulturpolitiker tätig werden Mehr... MARKETING, FÖRDERUNG, INSTRUMENTALUNTERRICHT

ür die Existenzsicherung fragern erheblich auf die generelle Nachfra- von Orchestern unerlässlich, Veränderungen bedeutende Entwicklungen ge durch. Selbst in der Kulturindustrie, die im Hinblick auf die (potenziellen) Nachfra- F durch eine relativ geringe Preiselastizität ge- ger, die beispielsweise in langsamen Präfe- wie langsame Präferenz- und kennzeichnet ist,3 lässt sich ein deutlicher Nach- renz- und Verhaltensänderungen in der Be- Verhaltensänderungen in der fragerückgang zur Stabilisierung des Umsat- völkerung begründet sein können, frühzeitig Bevölkerung kündigen sich oft zes nur in begrenztem Umfang durch Preis- zu erkennen. Darüber hinaus muss die Ursa- früh in schwachen oder wegen erhöhungen auffangen. chenstruktur eines sich eventuell abzeichnen- ihrer Komplexität schwer inter- Das heißt: Ab einem kritischen Ausmaß den Wandels hinsichtlich der Klassikhörer pretierbaren Signalen an, deren schwächt ein Nachfragerückgang den Eigen- genau verstanden werden, um einer Bedro- finanzierungsgrad von Orchestern. Zudem hung erfolgreich entgegenwirken bzw. sich Relevanz nur schwer erkennbar ist.1 geraten Orchester bei fallender Nachfrage un- ergebende Chancen nutzen zu können. ter einen zunehmenden Legitimationsdruck, Vielfach werden rückläufige Besucherzah- der zur Reduktion der öffentlichen Zuwen- Klassikliebhaber immer älter len mit einer zunehmenden Konsolidierung dungen führen kann. Immerhin machen öf- des Orchestersektors in Zusammenhang ge- fentliche Zuwendungen etwa 67 Prozent der Betrachtet man die Klassikhörer als (po- bracht. Daher stellt sich die Frage, ob „schwache Orchestereinnahmen aus.4 Orchester können tenzielle) Nachfrager nach den Marktleistungen Signale“ für einen nachhaltigen Publikums- jedoch aufgrund ihres hohen Personalkos- der Orchester, fällt eine im Vergleich zur Ge- rückgang und eine damit einhergehende exis- tenanteils Umsatzrückgänge nicht durch Maß- samtbevölkerung stark abweichende Alters- tenzielle Bedrohung der Orchester auszuma- nahmen zur Kostensenkung kompensieren.5 struktur auf: Die Altersklassen von 14 bis 49 chen sind. Eine Schwächung der eigenen Finanzkraft bei Jahren weisen durchweg geringere prozen- Zukünftige Realitäten sollten im Rahmen gleichzeitiger Reduktion der öffentlichen Zu- tuale Anteile an den Klassikhörern auf als an der strategischen Frühaufklärung von Unter- weisungen infolge eines starken Rückgangs der Gesamtbevölkerung, während die Über- nehmen möglichst gut und frühzeitig über der Anzahl von Nachfragern ist also für ein 49-jährigen unter den Liebhabern klassischer Vorboten externer Entwicklungen, so genannte Orchester existenzgefährdend. Deshalb ist es Musik gegenüber ihren Anteilen an der Be- „schwache Signale“, erfasst werden. Denn dies aus Sicht der langfristigen Existenzsicherung völkerung deutlich überrepräsentiert sind (siehe ist erfolgskritisch und kann mitunter sogar Abbildung 1). überlebenswichtig sein.2 Orchester sind pri- In Bezug auf die zukünftige mär darauf ausgerichtet, Live-Aufführungen Entwicklung der Klassikhörer sind und Tonträgereinspielungen von klassischer zwei Interpretationen dieser Al- Musik anzubieten. Ein massiver Rückgang der tersstruktur denkbar: Nachfrage nach diesen Marktleistungen käme 1. Der Mensch wird mit stei- einer existenzgefährdenden Bedrohung für gendem Alter zunehmend klas- die Orchester gleich. sikaffin (sog. „Alterseffekt“). Soll- Die Nachfrage nach diesen Marktleistun- te dies tatsächlich der Fall sein, gen ergibt sich aus der Anzahl von Nachfra- wäre die Altersstruktur der Klas- gern und deren durchschnittlichem Kauf von sikhörer über die Zeit recht kon- Eintrittskarten bzw. Tonträgern. Da eine sin- stant und die Anzahl an Klassik- kende Nachfrageranzahl nicht ad infinitum hörern dürfte stark wachsen, zu- durch eine Steigerung der durchschnittlichen mal die absolute Größe der Al- Kaufhäufigkeit über Marketingmaßnahmen tersklassen ab 50 Jahren in den ausgeglichen werden kann, schlagen starke Klassik-Flaute an der Konzertkasse? Die Nachfrage nach kommenden Jahrzehnten zuneh- Veränderungen bei der Anzahl von Nach- Orchesteraufführungen droht zukünftig zu sinken. men wird.6

 16 MUSIK ORUM in Prozent Klassikhörer * Gesamtbevölkerung **

Abbildung 1: Altersverteilung der Klassik- hörer im Vergleich zur Gesamt- bevölkerung in Deutschland 2004/05.

* Musikpräferenz bezüglich klassischer Musik (instrumental) mit „höre ich sehr gern“ oder „höre ich ziemlich gern“ angegeben (100 Prozent = 14 501 antwortende Personen); ** Stand: Ende 2004 (100 Prozent = 71 540 703 Personen). Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von MDS online (VerbraucherAnalyse 2005/2 Klassik-Märkte) und Statistisches Bundesamt Deutschland.

2. Der grundlegende Musikgeschmack wird vorstehenden massiven Nachfrageeinbruch ganzheitliche und konsistente Theorie bezüg- im Kindes- und Jugendalter ausgebildet und nach klassischer Musik zu werten. Die aktu- lich der Ausbildung des grundlegenden Mu- bleibt danach im weiteren Lebensverlauf ziem- elle Herausforderung der langfristigen Exis- sikgeschmacks entwickelt. Diese Theorie konn- lich stabil. Dann wäre davon auszugehen, dass tenzsicherung bzw. Vermeidung weiterer Or- te durch mathematische Formalisierung in die heute überwiegend älteren Klassikhörer chesterfusionen und -auflösungen ist daher ein valides Simulationsmodell überführt wer- sukzessive ableben und immer weniger jun- das Erarbeiten und die erfolgreiche Umset- den. Anhand dieses Modells lassen sich die ge Klassikliebhaber nachrücken werden (sog. zung geeigneter Maßnahmen zur nachhalti- langfristigen Auswirkungen möglicher unter- „Kohorteneffekt“). gen Sicherung einer ausreichend großen Klas- nehmensstrategischer und kulturpolitischer Die Analyse der zahlenmäßigen Entwick- sikhörerzahl. Maßnahmen unter der Annahme verschie- lung der Klassik- wie auch Popmusikhörer in Die grundlegenden Strukturen und Trieb- dener Szenarien simulieren. Ohne proaktive den vergangenen Jahren legt nahe, dass die kräfte des Kulturverhaltens sind wegen des Einflussnahme auf das Kulturverhalten lässt zweite Interpretation zutrifft: Die Anzahl der hohen Komplexitätsgrads (Anzahl relevan- das Modell einen Publikumsrückgang von Klassikhörer war zwischen 1994 und 2002 ter Einflussfaktoren, Vernetzung, Dynamik) insgesamt 36 Prozent innerhalb der nächs- insgesamt relativ stabil. Doch ist in dieser Zeit besonders schwierig zu erfassen und einzu- ten 30 Jahre erwarten. die Anzahl der Klassikhörer über 49 Jahren grenzen.7 Daher wurde mittels eines inter- Die spätere Klassikaffinität wird im We- stark gewachsen, während bei den Altersklas- disziplinären Forschungsansatzes zur Kom- sentlichen durch drei Faktoren beeinflusst: sen bis 49 Jahre ein Rückgang zu verzeich- plexitätsbewältigung (System Dynamics) eine wiederholtes Hören von klassischer Musik, nen war. Das heißt: Die altersstrukturelle Zu- sammensetzung der Klassikhörer ist bei weitem CAGR *** 1994-2002 nicht stabil, und die Anzahl der „nachwach- in Mio. Personen in Prozent senden“ jungen Klassikhörer ist tatsächlich gesunken. Hingegen ist die Anzahl an Pop- musikhörern von 1994 bis 2002 deutlich an- Klassik- gestiegen. Dabei hat die Altersklasse der 50- Hörer * Jährigen und Älteren – die bei den Klassik- hörern aktuell bedeutendste Altersgruppe – den stärksten Zuwachs erfahren (siehe Ab- bildung 2). Dies spricht klar gegen die Hypothese ei- ner mit zunehmendem Alter ansteigenden Pop- Klassikaffinität. Vielmehr deuten die Daten musik- darauf hin, dass mit dem Aufkommen der Hörer ** Pop-/Rockmusik in den 50er und 60er Jah- ren sowie deren massenhafter Verbreitung ab Anfang der 70er Jahre die Kinder und Jugendlichen zunehmend pop-/rockmusika- * Item „klassische Musik hören“ mit „mache ich häufig“ oder „mache ich ab und zu“ beantwortet lisch geprägt wurden und ein entsprechen- ** Item „Popmusik hören“ mit „mache ich häufig“ oder „mache ich ab und zu“ beantwortet des Rezeptionsverhalten beibehalten haben. *** Compound Annual Growth Rate (durchschnittliche Wachstumsrate pro Jahr) Die Verschiebung der relativen Anteile der Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Daten des Instituts für Demoskopie Allensbach (Allensbacher Markt- und verschiedenen Altersklassen unter den Klas- Werbeträgeranalyse). sikhörern zugunsten der Über-49-jährigen ist Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl von Klassik- und Popmusikhörern nach Altersklassen in daher als „schwaches Signal“ für einen be- Deutschland 1994-2002.

 MUSIK ORUM 17 FOKUS

formeller Musikunterricht und vor allem das Klaus-Ernst Behne bewertet die Hamann-Studie – Erlernen und Spielen eines Musikinstruments. Die Instrumentalaktivität ist der Schlüssel für und bezweifelt, dass der Nachfrageeinbruch von Klassik die Entwicklung eines an klassischer Musik so einfach und linear verläuft interessierten Publikums in den kommenden Jahrzehnten, während ein Fokus auf Rezep- tion und Unterricht nicht ausreichend sein wird, um den prognostizierten Trend aufzu- heben – genausowenig wie die Education- ZU VIEL Programme der Orchester allein. Das heißt, Orchestermanager und politi- sche Entscheidungsträger müssen zusammen- Kulturpessimismus? arbeiten: Die Orchester müssen ihre Marke- tingaktivitäten intensivieren, bis die Maßnah- men zur Steigerung des Interesses an klassi- scher Musik bei den „nachwachsenden“ Ge- nerationen überhaupt Wirkung zeigen kön- usik bewegt Geld, Geld Welches Gewicht ist nun der prognosti- nen. Die Kulturpolitiker müssen die Orchester Mbewegt Musik! Das stimmt schen Aussage von Hamann anhand eines während dieser „Durststrecke“ unterstützen. nicht immer, aber oft genug. ökonomischen Vorhersagemodells beizumes- Und: Bildungspolitische Maßnahmen müs- sen? Da in dem relativ kurzen Text nur die sen das frühzeitige Erlernen eines Musikin- Die „bewegende Wechselbeziehung“ mag Ergebnisse beschrieben werden, nicht jedoch struments fördern. mancher nicht wahrhaben, obwohl es doch der lange Weg dorthin, muss sich mein Kom- selbstverständlich ist, dass man die Musicbox mentar zwangsläufig ein wenig an der Ober- 1 Wilhelm Rall / Birgit König: „Aktuelle Herausforderun- mit Münzen füllt, dass man den Orchester- fläche bewegen. gen an das strategische Management“, in: Harald Hun- musiker, tariflich geregelt, entlohnt und neu- Hamann unterscheidet zwischen Alters- genberg / Jürgen Meffert (Hg.): Handbuch Strategisches Management, Wiesbaden 2005. erdings eine Straftat begeht, wenn man Mu- und Kohorteneffekt. Dies ist zweifellos eine 2 Igor Ansoff: „Managing Strategic Surprise by Response sik aus dem Internet „zapft“. Deshalb ist es wichtige und grundsätzliche Trennung, um to Weak Signals“, in: California Management Review 2, auch keineswegs abwegig, die Entwicklung haltbare Aussagen – d. h. Aussagen über die 18. Jahrg. (1975), S. 21-33 sowie Ulrich Krystek / Günter des musikalischen Geschmacks mit den Werk- Zukunft des Klassikpublikums – zu rechtfer- Müller-Stewens: „Grundzüge einer strategischen Frühauf- klärung“, in: Dieter Hahn / Bernard Taylor (Hg.): Strategi- zeugen der Betriebswirtschaftslehre zu un- tigen. Hamanns zentrale Aussage ist wohl die, sche Unternehmensplanung – strategische Unternehmens- tersuchen. So ließe sich demonstrieren, wie dass in dem Wandel des Klassikpublikums führung: Stand der Entwicklungstendenzen, Heidelberg sich einerseits die pekuniären Rahmenbedin- lediglich ein Kohorteneffekt zu erkennen sei. 1990, S. 337-364. gungen und andererseits die bekannten sozio- Die in Abb. 1 und 2 (Seite 17) aufbereiteten 3 Marianne V. Felton: „On the Assumed Inelasticity of De- demografischen Kategorien eignen, sowohl Daten erlauben jedoch eher die Aussage, dass mand for the Performing Arts“, in: Journal of Cultural Eco- nomics, 16. Jahrg. (1992), Nr. 1, S.1-12. das Musikleben als Ganzes wie auch spezifi- die Entwicklung dieses Publikums sowohl auf 4 Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik 2000/2001, Köln sche Aspekte (Berufsorchester) zu analysieren. einen Kohorten- wie (wenngleich in schwä- 2002, 36. Heft. So einleuchtend die Wahl dieser Metho- cherer Form) auch auf einen Alterseffekt zu- 5 William J. Baumol: „Macroeconomics of Unbalanced de erscheint, so verblüffend ist die Tatsache, rückzuführen ist. Es handelt sich hier ganz Growth: The Anatomy of Urban Crisis“, in: American Eco- nomic Review, 57. Jahrg. (1967), Nr. 3, S. 415-426. dass dies bisher noch niemand getan hat! Tho- zweifellos um einen relativ komplexen Mix 6 Statistisches Bundesamt Deutschland: Bevölkerung mas Hamann, der Autor des voranstehen- konkurrierender Prinzipien (Variablen). Wenn Deutschlands bis 2050, 10. koordinierte Bevölkerungs- den Artikels, hat diesen Weg in seiner Dis- gegenwärtig der silbergraue Schimmer des vorausberechnung, Wiesbaden 2003. sertation mit großer Konsequenz beschritten. Klassikpublikums beklagt wird, so unterstellt 7 Herbert Szirota: Strategische Existenzsicherung öffentli- cher Kulturbetriebe, Wiesbaden 1999. Die Lage der Berufsorchester in Deutsch- man gleichzeitig, dass sich früher die Freun- land ist seit gut einem Jahrzehnt außerordent- de der „gehobenen“ Musikkultur etwa gleich lich prekär. In den 90er Jahren waren es vor stark über die Altersstufen verteilt hätten. Das Der Autor: allem die neuen Bundesländer, in denen Orches- lässt sich für die weiter zurückliegende Ver- Dr. Thomas K. Hamann studierte ter aufgelöst oder „nur“ fusioniert wurden. Zwar gangenheit nur schwierig belegen, weil ver- Betriebswirtschaftslehre an der Uni- ist es in den vergangenen Jahren etwas ruhi- gleichbare Befragungen wohl erst nach dem versität St. Gallen. Von 1999 bis 2005 ger geworden (Ausnahme: München), aber Zweiten Weltkrieg existieren. war er in einer internationalen Unter- die Finanzierung der Berufsorchester, insbeson- Dass auch schon um 1900 eine in heuti- nehmensberatung, u. a. im Kultursek- dere an den Opernhäusern (mit den Gehalts- ger Begrifflichkeit als Klassikpublikum zu be- tor, tätig. Im Jahr 2005 wurde er auf- empfängern Orchester, Solisten, Chor, Tanz, zeichnende Gruppe deutlich älter war, be- grund seiner Dissertation zum Thema Bühnentechnik, Verwaltung), ist vielen Poli- legt exemplarisch das folgende Zitat, in dem „Cultural Dynamics – Zur langfristigen tikern, egal ob auf kommunaler, Landes- oder Hans Fallada (Damals bei uns daheim) die Zu- Existenzsicherung von Kulturorches- Bundesebene, ein schmerzhafter Dorn im Auge. sammensetzung des Publikums der freitag- tern in Deutschland und der Schweiz“ Musikschaffende, aber vor allem Abiturien- abendlichen Bach-Motetten in Leipzig be- promoviert. Er ist Vice President des ten, die ein Musikstudium ins Auge fassen, schrieb: „…aber kaum Jugend. Fast alles waren Swiss Chapter der System Dynamics haben ein vitales und legitimes Interesse zu alte Leute, und das männliche Element über- Society und Mitglied der Deutschen erfahren, wie die Situation der deutschen wog.“ Gesellschaft für Musikpsychologie e.V. Orchesterszene zukünftig wahrscheinlich (!) Das sei hier nicht als Beleg für eine be- beschaffen sein wird. stimmte Altersverteilung verstanden, wohl aber

 18 MUSIK ORUM Publikum im Wandel: Klassikhörer dürften sich in der Zukunft zusehends in Altersstruktur und Sozialstatus durchmischen.

weniger zwingend von einem anderen Pub- likum abgrenzen lassen. Das wiederum wür- de bedeuten, dass der Kohorteneffekt schwä- cher ausfällt als in dem Modell von Hamann, dem Alterseffekt jedoch mehr Bedeutung zu- kommen würde. Damit sei in knapper Form skizziert, wie als Hinweis, dass sich kulturelle Verhaltens- nigstens zwei Jahrzehnten ist nun jedoch zu schwierig das Geschäft der Vorhersage ist, formen in der Geschichte einer erheblichen beobachten, dass diese Status-Variable zuneh- dass man im vorliegenden Beispiel (Klassik- Vielfalt erfreuen und deshalb vieles, was uns mend an Gewicht verliert. Neuere Untersu- Hörer) mit Variablen rechnen muss, für die heute neu oder sogar – mit kulturpessimisti- chungen (Neuhoff 2004, Behne i. V.) zum ambivalente Effekte zumindestens denkbar schem Einschlag – als defizitär erscheint, keines- Musikgeschmack bestätigen diesen Trend und sind, und sich in Folge dessen Zuhörer eher wegs so ungewöhnlich ist, wie es mitunter damit eine Entwicklung, die in der Soziolo- schlecht durch vertraute soziodemografische dargestellt wird. gie auch bei gänzlich andersartigen Themen- Variablen beschreiben lassen – zum Kum- Hamann lenkt die Aufmerksamkeit zu Recht feldern zu beobachten ist. Wenn sich der in mer der Musikbranche. auf „schwache Signale“. Ob man daraus aber der Vergangenheit oft übermächtige Einfluss Der abschließende Verweis auf „Klassik- ableiten kann, dass es einen „bevorstehenden des Sozialstatus auf den Zugang zur Hoch- Affinität“-fördernde Maßnahmen beinhaltet massiven Nachfrageeinbruch nach klassischer kultur zunehmend abschwächt, so muss man Instrumentalaktivitäten und formellen Mu- Musik“ gäbe, erscheint ein wenig riskant an- fragen: Was wären die Folgen einer solchen sikunterricht. Die Notwendigkeit solcher An- gesichts der Tatsache, dass in der wichtigen Entwicklung? regungspotenziale kann nicht oft genug her- Altersgruppe der 20- bis 49-Jährigen von 1994 Es gäbe dann wohl keinen Grund mehr, vorgehoben werden.* Es müsste aber ebenso bis 2002 nur ein Rückgang von 17,6 auf 16 nur deshalb ins Konzert zu gehen, weil „man“ betont werden, dass auch Singen in der Kind- Prozent zu beobachten war (Abb. 2). dort hingeht, weil Hochkultur demonstrativ heit diesbezüglich fundamental wichtige Er- zu genießen die eigene Arriviertheit unter- fahrungspotenziale beinhaltet. Ambivalente Senioreneffekte streicht. Das Publikum würde sich etwas ver- So wichtig prognostische Forschungsan- kleinern, es würden die prestige-süchtigen Kon- sätze sind, so wichtig ist es, sich der Komple- An dem Modell und seiner zentralen Aus- zertgänger zu Hause bleiben, es kämen am xität und Multi-Dimensionalität der das Musik- sage (Publikumsrückgang von 36 Prozent über Ende nur noch jene, die an der Musik wirk- leben konstituierenden Prozesse zu verge- drei Jahrzehnte) hätte ich, soweit mir der Text lich interessiert sind. Wäre das aber nicht von genwärtigen. Das sollten Autoren aus beiden davon Kenntnis gibt, nichts auszusetzen, es Vorteil, würde man die Klassik-Hörer nicht „Lagern“ gleichermaßen beherzigen bzw. sich sei denn, dass es sich zu sehr auf betriebs- ernster nehmen, würde ihr Engagement für um fachübergreifende Ansätze zwischen Be- wirtschaftliche Variablen stützt. Schließlich gibt die Klassische Musik nicht stärker überzeu- triebswirtschaftslehre und Musikpsychologie es eine ganze Reihe von (sozial-)psychologi- gen? Würden dann die Opernfreunde nicht bemühen. schen und soziologischen Variablen, die eben- von dem Vorwurf entlastet, sich auf Kosten falls Einfluss darauf ausüben, wie sich das des Steuerzahlers mit einem hohlen, verlo- * Das „wiederholte Hören von klassischer Musik“ wirkt Klassikpublikum etwa im Jahr 2036 zusam- genen Bildungsstatus zu schmücken? Wäre hier etwas deplatziert, da dies eine Aktivität ist, die von der Logik her bereits Ausdruck einer Klassik-Affinität ist mensetzen wird. Wenn sich das Image der unter Umständen nicht zu erwarten, dass eher und damit als abhängige Variable zu betrachten ist. Senioren in unserer ausgeprägt juvenilen Ge- stille Klassikfreunde angesichts der trüben Sicht sellschaft weiterhin verschlechtert, so wird in der Orchesterlandschaft in Deutschland sich Literatur: sich dies zweifellos auch auf die den „Alten“ verstärkt für die Sache Musik zu Wort mel- Behne, Klaus-Ernst: Entwicklung des Musikgeschmacks im zugewiesene Musik auswirken. Umgekehrt, den, die „wahren Musikliebhaber“ endlich be- Jugendalter – eine Längsschnittstudie, i. V. lässt sich auch ein entgegen gerichteter Ef- greifen, dass man sich engagieren muss, um Neuhoff, Hans: Konzertbesuch und Sozialstruktur – Die fekt denken: Wenn der Anteil der Senioren zumindest Teile unserer über Jahrhunderte Musikpublika der Gegenwartskultur aus kultursoziologi- in der Gesellschaft weiter wächst, sie in der gewachsenen Musikkultur zu bewahren? scher Perspektive (Habilschr. TU Berlin), 2004 Werbung stärker berücksichtigt werden, wenn In diesen Gedanken schlummern etliche diese Lebensspanne immer stärker als Frei- Fragezeichen und Zweifel. Wohl aber wird Der Autor: raum für neuartige Erfahrungen wahrgenom- deutlich, dass wir zukünftig möglicherweise Prof. Klaus-Ernst Behne war zwi- men wird, dann könnte auch die damit asso- eine stärkere Altersmischung erwarten kön- schen 1977 und 1997 Professor für ziierte Musik positiver eingestuft werden. nen und deshalb eine einfach-lineare Korre- Musikpsychologie an der Musikhoch- Der „gehobene“ Sozialstatus der Klassik- lation zwischen Alter und Klassik-Wertschät- schule Hannover, von 1997 bis 2003 freunde lässt sich am überzeugendsten im zung eher unwahrscheinlich ist. Das Publikum Präsident der Hochschule. 19. und 20. Jahrhundert belegen. Seit we- wird generell stärker durchmischt sein, sich

 MUSIK ORUM 19 FOKUS

Veranstalter Michael Russ zum veränderten Rezeptionsverhalten der Konzertgänger und zu seinen Folgen

VOM KONZERTBETRIEB ZUR Eventkultur

andelt sich aktuell das sischer Musik in den nächsten 30 Jahren um lichkeit sein, dass diese Bildung schon im Kin- WRezeptionsverhalten der etwa 30 Prozent (siehe Artikel auf Seite 16) desalter einsetzt, vom Elternhaus über die Kitas Konzertbesucher? „Die Verände- zurückgehen wird? bis hin zu einer intensiveren Form in den „Dieser Prozentsatz muss meines Erachtens Schulen.“ rung findet schleichend statt“, mit Vorsicht betrachtet werden. Es gibt Abon- weiß Michael Russ, Konzertveran- nementbereiche, die leicht steigende Zahlen Verschwinden Konzertzyklen? stalter und Inhaber der Südwest- aufweisen“, kontert Russ. „Eine Überalterung deutschen Konzertdirektion (SKS) ist jedoch allgemein festzustellen.“ Die demo- Gerade aber in den Schulen herrschten in Stuttgart. „Wir verzeichnen grafischen Zahlen zeigten aber auch, dass eine die größten Defizite, bemängelt Russ. Die Fol- eine Abkehr vom traditionellen solche Entwicklung nicht unbedingt drama- gen verfehlter Kulturpolitik und nicht mehr tische Formen annimmt, zumal ein Publikum stattfindenden Musikunterrichts träfen uns nun Konzertbetrieb hin zu Veranstal- im Alter ab 60 Jahren das Gros der heutigen mit aller Härte. „Um diese Talsohle zu durch- tungen mit Eventcharakter.“ Konzertgänger ausmache. „Unabhängig davon wandern, brauchen wir langen Atem. Hoff- müssen wir natürlich bemüht sein, junge Men- nung geben einige Organisationen und zahl- Große Namen würden gnadenlos vermark- schen wieder an uns zu binden und sie davon reiche Orchester, die vermehrt Schüler- und tet. Man übersehe aber, dass „der Star von zu überzeugen, dass es sich bei einem Kon- Jugendkonzerte geben, die in die Schulen ge- heute der Vergessene von morgen ist“, sagt zert nicht um eine elitäre Veranstaltung han- hen und vor Ort Interesse wecken. Diese und Russ, der seit 1982 als Präsident des Ver- delt, sondern um eine Möglichkeit, Genera- ähnliche Initiativen müssen von uns weiter bands der Deutschen Konzertdirektionen am- tionen überschreitende Kontakte zu knüpfen.“ gefördert und unterstützt werden. Finden wir tiert. Programmatisch ginge der Trend bei den Fragt man Michael Russ, welche „Stell- in absehbarer Zeit hierzu keine Lösungen, etablierten Abonnementkonzerten noch mehr schrauben“ in unserer Gesellschaft neu jus- wird der eine oder andere Konzertzyklus ver- hin zur klassisch-romantischen Musik, als es tiert werden müssten, damit sich die Pers- schwinden. Dass dies auch für Künstler, Di- bisher der Fall gewesen sei; dies zum Nach- pektiven grundlegend verbesserten, kommt rigenten und Orchester verheerende Auswir- teil der moderneren Musikrichtung. „Die Kam- sofort die Forderung nach verstärkter musi- kungen hat, muss nicht betont werden.“ mermusik, die gewissermaßen eine aus der scher Bildung: „Es müsste eine Selbstverständ- Mit Michael Russ sprach Christian Höppner. Hausmusik hervorgehende Tradition ist, fin- det nicht mehr statt und hat sich zur Nischen- kultur entwickelt.“ Wie ist es zu den Veränderungen gekom- men? Für den Stuttgarter Konzertdirektor Michael Russ, 1945 geboren, trat nach seiner Ausbildung als orientiert sich unsere Freizeitgesellschaft immer Musikalienhändler 1967 in die 1945 von seinem Vater Erwin Russ mehr an anderen Werten, wobei die Kultur gegründete Südwestdeutsche Konzertdirektion Stuttgart (SKS) allgemein in den Hintergrund rückt. Russ: ein. Die SKS veranstaltet zahlreiche Mieteserien im Raum Stutt- „Flapsig gesagt: PISA lässt grüßen.“ Die För- gart wie die Meisterkonzerte, den Konzertanten Querschnitt, dermechanismen der Länder und Kommu- die Reihe Meisterpianisten, die Kammermusikabende und zahl- nen griffen nicht mehr in genügender Weise reiche Sonderkonzerte, aber auch große Rock- und Popkonzer- auf Grund fehlender Ressourcen. Dadurch te bzw. Open Airs. Die in Personalunion betriebene Künstler- werde die wirtschaftliche Unterstützung ent- agentur vertritt rund 65 Orchester, Chöre und Solisten im In- und weder knapper oder gar gänzlich gestrichen. Ausland. 1969 übernahm Russ außerdem die Württemberg-Bayerische Konzertdirektion in Wie verhält sich ein Veranstalter, der über Ulm. Neben seinem Amt als Präsident des Verbands der Deutschen Konzertdirektionen ist er Jahrzehnte Meisterkonzerte und Kammermu- stellvertretender Vorsitzender der Anne-Sophie Mutter Stiftung mit Sitz in München sowie sikabende organisiert hat, zu Studienergeb- der Rudolf-Eberle-Stiftung. nissen, wonach die Live-Aufführung von klas-

 20 MUSIK ORUM Sportlicher Spott: Stephan Frucht über das Sportprogramm einer Kulturnation

Jeder Schwester ihr Orchester…

Traum vom Duell der ARD-Klangkörper

Thomas Mann wusste vermutlich, ARD-Klangkörper. Die Bögen springen Heute Nacht treten im Super-Barock- wie aktuell sein Werk „Joseph und seine über die Saiten, das Kolofonium glitzert gewicht gegeneinander an: Thüringer Brüder“ für die Rundfunkorchester der wie Schnee auf dem Griffbrett, die Bläser Rundfunk gegen Radio Rheinland-Pfalz. ARD sein würde. Bei Joseph und seinen kommen kaum zum Durchatmen, das Parallel dazu läuft der Grand Slam der Brüdern geht es kaum anders zu als bei Tempo ist olympiareif und am Schluss ist klassischen Moderne. Mit dabei: Rund- jedem Rundfunkensemble und seinen der Dirigent nach vier Runden k.o. funk Schleswig-Holstein gegen Radio insgesamt 21 Schwestern. Die biblischen Mecklenburg-Vorpommern. Wie einst sieben fetten Jahre, gemeint sind die fet- Die Realität: Skispringen, bei Stefan Raab sitzen die Kids an ihren ten Siebziger, sind längst vorbei. Die Dürre Fernsehgeräten und stimmen per SMS ist angebrochen. Kein Geld mehr für den soweit das Auge reicht ab: Welcher Bartók war mitreißender? Klangkörper Joseph. Eine Händlergruppe, Haben wir uns im Traum noch darüber Jeder, der weiß, dass der „Wunderbare auch Kommission zur Ermittlung des gefreut, dass sich die ARD-Klangkörper Mandarin“ keine Vitamin-C-reiche Finanzbedarfs (KEF) genannt, verschleppt so fleißig zu dem Zwecke betätigen, zu Südfrucht ist, bekommt zusätzlich ein Joseph und bringt ihn fast um seine Exis- dem sie einst eingerichtet wurden, so Cello geschenkt. tenz. Doch zum Glück weiß Joseph, den wachen wir ernüchtert in der Realität auf: Traum eines Pharaos – nennen wir ihn: Statt der Sibelius-Symphonie sehen wir Die Realität: Klangkörper Programmdirektor – zu deuten. Joseph im Ersten: Skispringen. Zum Glück bietet werden zweckentfremdet rät dem Herrscher, in den fetten Jahren uns das ZDF etwas anderes: Skifliegen. für die mageren zu sparen. Auf diese Bei diesem spärlichen Basisangebot an Es ist wieder Tag und die ARD-Klang- Weise leidet das Volk der Ägypter – Wintersport sind wir froh, dass es die besser gesagt: der Gebührenzahler – auch körper duellieren sich nicht mehr konzer- Privaten gibt: Auf RTL sehen wir die Nor- tant. Sie sind wieder reine Subvention und bei geistiger Dürre und schlechten Quoten dische Kombination und auf Sat1 Biath- niemals Not. verteuern das „Mehrheitenprogramm“. lon. Zum Glück läuft auf Pro7 Eisschnell- Führende Programmmacher dürfen wie- Die Sache hat nur einen Haken: Ein laufen. solch weitsichtiger Pharao ist nicht in der Sendeplätze zweckentfremden und Bei so viel Wettbewerb um die Gunst anschließend sagen: „Heute sind die Bei- Sicht. Die 14 Rundfunkorchester, sieben der Zuschauer scheint der so genannten professionellen Chöre und vier Bigbands träge der Klangkörper zum Programm „Hochkultur“ etwas zu fehlen: das sport- eher marginal.“ hingegen sind Realität. Gottlob. liche Duell! Vergessen wir also die Realität und So unsinnig Träume auch sein mögen, bleiben wir zunächst beim Traum. Machen dazu hätte es nie kommen dürfen. Die wir es wie beim Sport, hier werden immer Ein Traum: SWR-Orchester ARD-Klangkörper sind für das Programm wieder Träume wahr. gegen MDR-Chor da. Über ihren Einsatz aber bestimmt der Programmdirektor. Es ist ein Traum aus 1001 Nacht. Wie Im vierten Buch seines Romanzyklus Nordische Komposition statt immer ist es Nacht, wenn die großen schildert Thomas Mann schließlich die Nordische Kombination Orchester der deutschen Föderation über Versöhnung Josephs mit seinen Brüdern. den Sender rauschen. Aber: Der Rund- Analog hierzu würden die Propheten Träumen wir von einem schönen funkstaatsvertrag schenkt jedem der 16 und Programm-Herrscher ihre Orchester Sonntagmorgen. Wir wachen auf und Bundesländer seine eigene ARD-Anstalt also wieder als Kernbestandteil in ihre sehen beim Frühstück im Ersten Programm und seinen eigenen Klangkörper. Pro Senderfamilie aufnehmen. eine richtig verschneite Sibelius-Sympho- Land besitzt also jede ARD-Schwester ihr Und schon sind wir wieder beim nie, vorgetragen von einem waschechten Orchester. Traum gelandet…

 MUSIK ORUM 21 FOKUS

Neugierig machen auf Musik: In Köln setzt Kapellmeister Markus Stenz ganz neue Impulse –

ls Gürzenich-Kapellmeister Ahat er nicht nur künstlerische KONZERT- Akzente gesetzt, sondern auch mit unkonventionellen Marketing- Strategien auf sich aufmerksam machen können: Markus Stenz, ein innovativer Geist am Dirigen- tenpult.

Unter anderem mit seiner Konzeption des Wie gehen Sie bei der Auswahl der Es ist ein wunderbares Instrument, mit dem „3. Akts“, einer geheim gehaltenen Konzert- Musik vor? wir spielen können. Wenn neue Stücke er- zugabe, hat Stenz, seit 2001 Leiter des Gür- Stenz: Häufig sind es Kontrastprogramme. scheinen, können wir sie schnell nach Köln zenich-Orchesters und seit 2003 Kölner Die Auswahl der Stücke kann sich aber auch holen, und wir sind nicht abhängig von dem Generalmusikdirektor, eine „neue Therapie ergänzen. Es handelt sich um ganz unter- bereits veröffentlichten Jahresprogramm. für die bettlägerige Klassik“* entwickelt. schiedliche Sachen, ganz vielfältig, teilweise Mit dem Dirigenten sprach Torsten Mos- sehr modern. Zum Beispiel sind wir nach Seit Herbst des vergangenen Jahres graber über neue Impulse im Kölner Musik- einer Eroica ganz zurückgegangen und haben kann man bei Ihnen gleich nach dem Konzert leben. den ältesten Cluster der Musikgeschichte die Live-CD erwerben. Das ist eine Sensation. von Rebel (1637) gespielt und über diesen Wie sind Sie denn auf diese außergewöhnliche Was verbirgt sich hinter Ihrer Kon- Weg eine Möglichkeit gefunden, noch eine Idee gekommen? zeption des 3. Akts? Neugier machende Musik anzuschließen. Stenz: In gewisser Hinsicht lag das auf Markus Stenz: Der 3. Akt spielt mit Auch war es mir damals möglich, fünf der Hand. Wir haben uns einfach gedacht: der Neugierde des Publikums. Wir spielen Wochen nach der Kölner Uraufführung die Wir leben im 21. Jahrhundert, wir sind am Ende des Programms – wenn alle Leute Schlussszene von [Henzes] L’Upupa als umgeben von diesen ganzen technischen sowieso in der Philharmonie sind und nur überraschenden 3. Akt zu machen, die da noch entscheiden müssen, ob sie bleiben heißt: „Die blaue Stunde“. Wir haben dann wollen oder nicht – einen Programmteil, tatsächlich die Kölner Philharmonie zu einer der erst am Tag selbst bekannt gegeben blauen Lichtstunde herrichten können. wird. Meistens mache ich es so, dass ich vor der Pause ansage, dass der 3. Akt zwölf, 15 oder 21 Minuten dauert, damit die Kon- zertbesucher wissen, welche Bahn nach Hause sie kriegen, und gebe einen kleinen Hinweis, dass der 3. Akt heute beispiels- weise mit Raumschiff Enterprise zu tun hat. Ich mache also neugierig.

Wie reagiert das Publikum auf Ihren 3. Akt, wird er von den Zuschauern ange- nommen? Stenz: Ja, fast alle bleiben. Er ist längst etabliert. Ich habe die Konzeption zuerst mit dem Melbourne Symphony Orchestra entwickelt. Damals habe ich eigentlich die größte Angst gehabt, weil noch niemand das Format kannte. Ich wusste einfach noch nicht: Gehen da 50 oder 500 Leute nach Hause? Und die Erfahrung zeigt, dass all jene im Konzert bleiben, die nicht wirklich ganz dringend nach Hause müssen. Mehr als 20 Leute gehen nicht vor dem 3. Akt.

* aus: DIE ZEIT, Nr. 42/2004.

 22 MUSIK ORUM und möbelt mit innovativen Ideen und Projekten ein gleichförmig verlaufendes Musikleben auf

MARKETING AUS DER Wundertüte

Möglichkeiten – was hindert uns eigentlich toll reagiert. Der Tenor war nicht etwa: hatten. Momentan ist es noch ein Zuschuss- daran, sie zu nutzen? Wir spielen den „Da kann man ja jede falsche Note mit geschäft, das wir allerdings für sehr wichtig Schlussakkord und vier Minuten später nach Hause nehmen.“ Die überwiegende erachten. Das zusätzliche Highlight, das wir liegt die CD vor. Technisch ist das gar kein Meinung war: „Wir sind wirklich wieder Künstler erleben, ist, dass wir unmittelbar so großes Problem. Der Schlüssel für das beim Live-Konzert angelangt.“ Die Musiker nach dem Konzert eben auch diese CDs Puzzle ist die Schnelligkeit der CD-Brenner, waren selbstbewusst und souverän genug signieren, nicht irgendeine CD, sondern die wir gekauft haben. Wir waren die ersten, zu sagen: „Ja, selbstverständlich, wenn wir die von dem Konzert, das man gerade ge- die diese schnellen Brenner nach Europa das Konzert vor dem und für das Publi- spielt hat. Und die Leute können dort ihre geholt haben. Sie schaffen es, in vier Minu- kum spielen, dann ist es auch vollkommen Kommentare loswerden. Es ist ein richtig ten die gesamte Datenmenge des zweiten in Ordnung, wenn das Publikum dieses belebendes und sehr kommunikatives Ele- Teils zu brennen, den ersten Teil kann man Konzert danach nach Hause tragen kann.“ ment. Aus einem Datensatz von vier Live- ja schon ab der Pause vorbereiten. Mitschnitten stellen wir außerdem eine Wie reagiert das Publikum? Und: Fassung her, die wir als „The Best of“ be- Wie haben Sie denn Ihre Musiker Wie viele Besucher zeigen Interesse an der zeichnen. Diese bereinigte Fassung wird an- von der Idee überzeugen können? Oder war Doppel-CD? schließend beim Marktführer iTunes ins das gar nicht nötig? Stenz: Man kann sagen, dass zwischen Stenz: Die Musiker – das war für mich acht und zehn Prozent der Besucher eine persönlich der schönste Moment in der CD kaufen, das sind 150 bis 250 CDs pro ganzen Projektentwicklung – haben ganz Konzert. Deutlich mehr als wir erwartet

Konzerte mit Clou: Markus Stenz tauscht vorhersehbare Programme gegen eine ausgefeilte Dramaturgie mit Überraschungen. FOKUS

Dirigent Markus Stenz Mit der Initiative „Zukunft @BPhil“ machen die Berliner Philharmoniker die Arbeit des Orchesters und seine Musik Global Player einem möglichst breiten Publikum zu- gänglich. Menschen aller Altersstufen, am Pult unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und Begabung sollen für eine Seit der Spielzeit 2003/2004 ist er aktive und schöpferische Auseinander- Generalmusikdirektor der Stadt Köln setzung mit Musik begeistert werden. und leitet das Gürzenich-Orchester. „Zukunft@BPhil“ unterstützt die Teil- Nach Abschluss seines Studiums an nehmer in ihrer eigenen Kreativität, ver- der Hochschule für Musik in Köln über- mittelt selbstständiges Denken und fördert nahm Markus Stenz die musikalische ein kritisches Urteilsvermögen. Für den Leitung des Cantiere Internazionale Mentor der Initiative, Sir Simon Rattle, d’Arte in Montepulciano (1989 bis Chef der Berliner Philharmoniker, soll das 1995) und bekleidete von 1994 bis 1998 Programm daran erinnern, dass Musik kein die Position des Chefdirigenten der Luxus sei, sondern ein Grundbedürfnis: Signierstunde mit der schnellsten CD der London Sinfonietta. 1998 wurde er „Musik muss ein vitaler und essenzieller Welt: Stenz und seine Musiker schreiben zum Künstlerischen Leiter und Chef- Bestandteil im Leben aller Menschen sein.“ gerne eine Widmung auf die frisch gepressten dirigenten des Melbourne Sympho- Die Musikvermittlungsarbeit basiert auf Konzert-CDs. Die Besucher sind begeistert und ny Orchestra berufen. Nach intensi- nutzen die Gelegenheit zum Gespräch mit den unterschiedlichen Projekten, die alle in ver künstlerischer Arbeit in den USA

Fotos: Gürzenich- Orchestermitgliedern. Orchester / Vielz das laufende Programm der Berliner Phil- und Australien verlagerte der welt- harmoniker eingebunden sind. Jedes Pro- weit gefragte Dirigent seinen Lebens- jekt ist individuell auf das entsprechende und Arbeitsmittelpunkt in der jünge- Repertoire abgestimmt und fördert auf ren Vergangenheit wieder nach Eu- kreative Weise einen Zugang zur Welt ropa. der Musik. Die Kunstform übergreifen- Stenz führte u. a. so renommierte den Projekte richten sich überwiegend internationale und deutsche Klangkör- an Schüler und werden von Musikver- per wie das Concertgebouw Orchester mittlern, Mitgliedern der Berliner Philhar- Amsterdam, das Gewandhausorches- moniker und Künstlern aus verschiede- ter Leipzig, das Tonhalle Orchester nen Bereichen angeleitet. Zürich, die Münchner Philharmoniker, Um nachhaltig wirken zu können, ar- die Staatskapelle Berlin, die Sinfonie- beitet die Education-Abteilung mit eini- orchester des Bayerischen, des West- gen Schulen sowie kulturellen und sozia- deutschen und des Norddeutschen len Institutionen in Berlin auch über ei- Rundfunks, das Ensemble Modern und nen längeren Zeitraum zusammen und das Ensemble Intercontemporain. bietet regelmäßig Workshops für Multi- Der Künstler hat sich auch als Diri- plikatoren an. Ziel ist es, durch musikbe- Internet gestellt. Man kann also, zumeist gent internationaler Opernproduktionen einen zogene Projekte Verbindungen auf ver- zehn bis 14 Tage nach dem letzten Konzert, Namen gemacht, darunter Mozarts Le nozze schiedenen Ebenen zu schaffen: zwischen die Konzerte nachträglich herunterladen. di Figaro in Los Angeles, Hans Zenders Stephen der Philharmonie, unterschiedlichen Be- Climax, Alexander von Zemlinskys Der Zwerg zirken und sozialen Gruppen Berlins so- Wird man auch Ihren ersten „Ring und Eine florentinische Tragödie am Théatre wie auch zwischen den Generationen. des Nibelungen“ aus der Kölner Oper mit Royal de la Monnaie in Brüssel sowie Igor Stra- nach Hause tragen können? winskys The Rake’s Progress an der San Fran- Aktuelle Projekte und Stenz: In der Oper machen wir das cisco Opera. Im Sommer 2004 debütiert Mar- Education-Angebote nicht. Ich finde, es ist eine wesentlich kom- kus Stenz mit Leosˇ Janácˇeks Jenufa beim Festival plexere Materie und immer noch eine ganz in Glyndebourne. Ein Jahr zuvor, im Sommer ˇ Der Einfluss türkischer Musik auf besondere Herausforderung, Oper erfolg- 2003, hatte er bei den Salzburger Festspielen das Musikschaffen im 18. Jahrhundert am reich aufzunehmen. Deshalb haben wir die Uraufführung von Henzes L’Upupa und der Beispiel von Mozart war zentrales The- erst einmal gesagt: Konzentrieren wir uns Triumph der Sohnesliebe mit den Wiener Phil- ma des Philharmonischen Salons Édition als Sinfonieorchester auf unsere Aktivitäten harmonikern zur Aufführung gebracht. jeune im Februar dieses Jahres. Cellist Götz in der Philharmonie. Das Medium Oper ist Der Dirigent und sein Kölner Orchester wur- Teutsch untersuchte gemeinsam mit Kreuz- wesentlich schwerer zu beherrschen und den in der ersten gemeinsamen Saison mit dem berger Jugendlichen überwiegend türki- anfälliger. Da muss alles optimal stimmen, Preis des Bundesverbands der deutschen scher Herkunft und unterstützt von Schau- und es muss wirklich eine echte Dokumen- Musikverleger für die beste Konzertprogramm- spielern die wechselseitigen Einflüsse mu- tation unserer Arbeit sein – sonst ist es nur gestaltung ausgezeichnet. sikalischer Traditionen. ein Marketing-Gag.

 24 MUSIK ORUM Viele deutsche Orchester bieten Education-Programme – Seele des Education-Projekts: Sir Simon Rattle erarbeitet beim alljährlichen und dem Trend die Stirn: Ein breites Publikum und vor allem Schulorchestertreffen ein Stück nach Wahl die Jugend sollen wieder an klassische Musik und die Arbeit der jungen Musiker. © Peter Adamik / Berliner Philharmoniker der Klangkörper herangeführt werden. Exemplarisch hier die Initiative „Zukunft@BPhil“ der Berliner Philharmoniker einstudieren. Höhepunkt bildet die gemein- same Aufführung mit den Berliner Philhar- monikern unter Leitung von Sir Simon Rattle »MUSIK IST am 13. und 14. Mai. ˇ In einem zweiten Projekt mit Berliner Strafgefangenen wird Wagners Musikdrama Das Rheingold den Bezugspunkt bilden. Mu- kein Luxus« siker der Berliner Philharmoniker und Künstler anderer Ausdrucksformen werden im Juni intensiv mit einer Gruppe von Häftlingen arbeiten und eine Parallelversion zu Wag- ˇ Die Eigenschaften von Planeten und ners Rheingold entwickeln. Asteroiden in musikalische Bilder umzuset- ˇ Erstmals wollen die Education-Programm- zen – diese Aufgabe ging in vier Komposi- macher in dieser Saison regelmäßige Besu- tionsaufträgen an Berliner Grund- und Ober- che von Mitgliedern der Berliner Philhar- stufenklassen. Unterstützt von Musikern der moniker in Kindergärten und Vorschulen Berliner Philharmoniker, Komponisten und anbieten. Dem Alter entsprechend spiele- Künstlern, erkundeten die Schüler die Ge- risch soll Musik in Bewegung umgesetzt und heimnisse der Astrologie musikalisch und nach und nach mit der Welt der Töne, der visuell und verwandelten im März dieses Rhythmik und der Instrumente verbunden Jahres das Foyer der Philharmonie für ei- werden. Ein wesentlicher Aspekt wird dabei nen Tag in einen kosmischen Raum. die positive Wirkung der Musik auf das so- ˇ Mit Carl Orffs Carmina Burana wird ziale Verhalten und die sprachliche Entwick- die Education-Abteilung auch in dieser Sai- lung der Kinder sein. son an die Tradition einer jährlichen Tanz- ˇ Während der gesamten Saison kön- aufführung in der Treptower Arena anknüp- nen Oberschulklassen ausgewählte Gene- fen. Dabei werden einerseits 200 jugendliche ralproben besuchen und die Berliner Phil- Zugang zur Welt der Musik: Mitglieder der harmoniker live bei der Arbeit erleben. Dieses Tänzer eine Choreografie unter Leitung von Berliner Philharmoniker bringen Kindern und Royston Maldoom entwickeln und ande- Jugendlichen auf kreative und erforschende Angebot richtet sich an Schüler ab der 10. rerseits zeitgleich Schüler gemeinsam mit dem Weise die klassische Tonkunst nahe. Klasse der Berliner Oberschulen. Rundfunkchor Berlin Passagen des Werks © Akinbode Akinbiyi U www.berliner-philharmoniker.de

 MUSIK ORUM 25 FOKUS

Künstlerisches Plädoyer für die zeitgenössische Orchestermusik: das Ensemble Modern Orchestra

Spezialeinheit IM AUFTRAG DER NEUEN MUSIK

m Jahr 1998 gründete das Den Kern des Orchesters bilden die 18 nen auch die Konfrontation neuer Kompo- Ensemble Modern in Frankfurt Solisten des Ensemble Modern. Sie werden sitionen mit Schlüsselwerken der Moderne I unterstützt durch Musiker aus der ganzen Welt, innerhalb ambitionierter Konzertprogramme. das weltweit erste Orchester, das zu denen das Ensemble im Laufe seiner 25- So stand im vergangenen Jahr das Werk ausschließlich Musik des 20. und jährigen Tätigkeit Kontakt gewonnen hat. Dazu des 1935 geborenen Helmut Lachenmann 21. Jahrhunderts zur Aufführung zählen gleichermaßen junge Instrumentalis- im Mittelpunkt der Konzertaktivität: Auf sei- bringt: das „Ensemble Modern ten wie Spezialisten auf dem Gebiet der Neuen nen ausdrücklichen Wunsch hin stellte das Orchestra“, kurz: EMO. Musik. EMO Lachenmanns Ausklang und Richard Die Gründung des Ensemble Modern Or- Strauss’ Eine Alpensinfonie gegenüber. chestra ist ein künstlerisches Plädoyer für die Im folgenden Beitrag veranschaulicht der zeitgenössische Orchestermusik. Dazu zählt Komponist den besonderen Status des Or- neben der Vergabe von Auftragskompositio- chesters in der deutschen Musiklandschaft.

Helmut Lachenmann über das EMO: Ort aufgeklärter musikalischer Spielpraxis

Die Idee eines „Ensemble Modern Orchestra“: Erweiterung der ursprünglichen solisti- schen Besetzung auf Orchesterstärke mit den flexibelsten Varianten, gerade auch solchen, die mit den üblicherweise vorgegebenen, an der per Nachfrage allenthalben dominierenden symphonischen Tradition orientierten Strukturen nicht ohne Weiteres kompatibel sind, be- deutet einen genialen, für Komponisten nachgerade befreienden Sprung in eine Welt der bisher zur Utopie verurteilten, jetzt realisierbaren Möglichkeiten von Klang- und Ausdrucks- vielfalt. Nicht mehr muss hier der alte ehrwürdige Apparat „verbogen“ werden, weder in „logistischer“ noch in spielpraktischer und psychologischer Hinsicht. Die Schaffensutopien der Komponisten, dort, wo sie orchestral geprägt sind: Sie gerieten in der Vergangenheit immer wieder in den Konflikt mit den real vorhandenen Strukturen sowohl des organisierten Alltags eines Orchesters als auch der spielpraktischen und menta- len Vorprägungen der Orchestermusiker. Das Orchester – auf der einen Seite ein unglaub-

 26 MUSIK ORUM liches Potenzial von ungeahnten Gestaltungs- und Entdeckungsmöglichkeiten: Organismus Im Interview: Dietmar Wiesner (EMO) im Zusammenwirken von aus bis zu hundert hochkarätig gebildeten und ausgebildeten Individuen, von denen jedes seine eigene Verantwortung und Gestaltungskunst in ein zu realisierendes klingendes Ganzes einbringen und koordinieren könnte; auf der anderen Seite Orchester als zugleich dem standardisierenden Zwang und lähmenden Sog einer Tradition fetischisieren- den – und diese so schon wieder verfälschenden – Spielpraxis und Routine unterworfen, insofern immer wieder unsicher, befangen, gar allergisch reagierend, psychisch und technisch tönend-beweg- überfordert gegenüber gestalterischen Herausforderungen, bei denen jene spielpraktischen Traditionen nicht zementiert, sondern ins Ungewohnte-Unbekannte vorstoßend weiterent- liche Großform wickelt wurden. So war es immer wieder das Los von Orchesterwerken unserer Zeit, dass sie, trotz bestem „Die Gründung des Ensemble Modern Willen, allenfalls „korrekt“, d. h. gleichgültig und eher approximativ daherbuchstabiert als Orchestra und die Kennzeichnung seiner begeistert musiziert wurden. Ohne die Identifikation des Musikers mit der sich ihm stellen- Projekte mit dem Label EMO war nur eine den Aufgabe wird aber Gesellschaft und Komponist um die authentische Begegnung mit logische Konsequenz“, erzählt Mitbegrün- dem Werk betrogen. Die Idee des Ensemble Modern Orchestra setzt hier für das Schaffen der Dietmar Wiesner im MUSIKFORUM- der Gegenwart gültige Maßstäbe. Interview. Es habe bereits vor der Gründung des EMO Werke aus dem Dornröschen-Halbschlaf erlöst eine Vielzahl an Projekten gegeben, in de- nen das Ensemble Modern mit Musikern, die Höchste Präzision, technische Brillanz, gestalterische Abenteuerbereitschaft, auch und gerade mit der Arbeitsweise des Ensembles bestens bei unkonventionellen Aufgaben – all dies längst inzwischen weltbekannte Gütezeichen des vertraut waren, orchestral zusammengearbeitet „Ensemble Modern“ –, gelten nun für den orchestral erweiterten Apparat bis in die „hinters- hat. „Man denke nur an Prometeo und Cami- ten Reihen“ (die es dann im hierarchischen Sinne nicht mehr gibt!). Sie „erlösen“ bereits nantes... Ayacucho von Luigi Nono unter der existierende Werke aus einem Dornröschen-Halbschlaf, die unter den sonst geltenden „han- Leitung von Ingo Metzmacher, Mixturen von delsüblichen” Bedingungen für letztlich unaufführ- beziehungsweise nur begrenzt realisierbar Karlheinz Stockhausen und die 5. Sinfonie von gehalten und mitsamt der oft resigniert hingenommenen approximativen Unschärfe ihrer Ludwig van Beethoven unter der Leitung von vorläufigen Realisierung als in diesem Sinne „interessante Monstren“ bestenfalls zurecht ver- Peter Eötvös.“ ehrt wurden. Nonos Prometeo gehört dazu, Die Soldaten von Zimmermann und ganz be- Mit Wiesner, Flötist des Ensembles, sprach stimmt meine Schwankungen am Rand. Michael Bölter. Welche Ermutigung und Ermunterung die Existenz und das Beispiel dieser Einrichtung darüber hinaus für das gegenwärtige und zukünftige Orchesterschaffen und für die Kreativi- Die zahlreichen Konzertprojekte las- tät und die künstlerischen Visionen der Jungen überhaupt bedeutet, braucht kaum betont zu sen vermuten, dass es Bedarf für das EMO werden und lässt sich kaum ermessen. An solchem Gewinn für die Erfahrbarkeit von unge- gibt. Woran ist dieser Bedarf abzulesen? wöhnlichen Klangentwürfen soll aber eben nicht nur die strukturelle und klangtechnische Dietmar Wiesner: Primär am beson- Fantasie der Komponisten heute teilhaben. Dies bedeutet auch die Chance, historische Musik, deren Interesse der Veranstalter, die ihre scheinbar längst vertraut, neu zu entdecken. Und auch in dieser Hinsicht ist das Ensemble Festivalprogramme ja immer mehr nach Modern dabei, in jeder Hinsichtbestimmten Themenschwerpunkten„aufregende“ aus- Zeichen zu setzen. richten. Uns erreichen viele Anfragen nach unkonventionellen Projektideen, die in der- artige Programme passen könnten. Dazu kommt, dass bei den Musikern großes Interesse herrscht, selbst mit den Veranstal- tern und Programmdramaturgen zusam- menzuarbeiten, gemeinsam Ideen zu ent- wickeln und vor allen Dingen logistisch ein für die Veranstalter rundum komplettes Paket abzuliefern.

Die Erfordernis eines Orchesters wie des EMO ist also nicht ausschließlich im Wesen des derzeitigen Komponierens begründet? Wiesner: Ich denke nicht, denn auch Zwischen in Programmkonstellationen, die schon Präzision und länger existierende Kompositionen einbin- Abenteuer- den, gäbe es noch sehr viel Neuland zu bereitschaft: entdecken. Für die Komponisten von heute das Ensemble könnte es – was die angebotene Flexibilität, Modern Orchestra. die Besetzung, den Einsatz von Elektronik und theatralischen Mitteln etc. angeht – Foto: Arne Reimer natürlich von Reiz sein, den Klangkörper Orchester neu für sich zu entdecken, ihn

 MUSIK ORUM 27 FOKUS

vielleicht sogar neu zu erfinden. Letzteres Wiesner: Ja, vor allem die enge und sondern dass Dinge, wie z. B. auch Schärfe kann man in Bezug auf Benedict Masons unbedingte Zusammenarbeit mit dem oder Schmutz, gemeinsam und bewusst Komposition felt/ebb/thus/brink/here/array/ Komponisten. Wir versuchen aber auch, umgesetzt werden können. telling, die 2004 in Donaueschingen urauf- die Probenprozesse – z. B. Einzelproben, geführt wurde, durchaus feststellen. Gruppenproben, flexible Besetzungs- und Neben Werken von Boulez, Lachen- Aufteilungsstrukturen im Raum – auf ein mann und vielen anderen lebenden Kompo- Wie viele Arbeitsphasen konnte bzw. orchestrales Klanggebilde zu übertragen. nisten haben Sie Beethovens 5. und im ver- kann das EMO jährlich ansetzen? Außerdem gibt es beim Ensemble Modern gangenen Jahr Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ Wiesner: Durchschnittlich zwei. keinen Chefdirigenten, also auch nicht beim zur Aufführung gebracht. Verfügt das EMO EMO. Die Zusammenarbeit erfolgt projekt- also auch über die traditionelle, orchestrale Durch welche Musiker wird das En- gebunden und auf Einladung. So ist zu Klangkultur? semble während dieser Phasen „aufgestockt“, einem hohen Maße gewährleistet, dass alle Wiesner: Das sollten die Leute entschei- um volle Orchestergröße zu erreichen? Beteiligten sich gleichermaßen mit einem den, die im Publikum saßen. Reizvoll und Wiesner: Grundsätzlich verfügt das Projekt identifizieren. Darüber hinaus sind äußerst lehrreich waren auf jeden Fall die Ensemble Modern über einen immens viele unserer Dirigenten selbst anerkannte jeweiligen Gegenüberstellungen mit Stock- großen Pool an Gastmusikern, die bestens Komponisten. In jedem Fall ist die Arbeits- hausens Mixturen und Lachenmanns Aus- mit den Arbeitsstrukturen des Ensembles weise – ähnlich wie beim Ensemble Modern klang. vertraut sind. – an der Lösung von künstlerischen Prob- lemstellungen interessiert. Ist das EMO in Zeiten der Schrump- fung und Zusammenlegung von Orchestern Zeitgenössische Orchestermusik ist möglicherweise ein Modell dafür, wie man sehr oft kammermusikalisch angelegt, d. h. aus einer kleinen Besetzung je nach Bedarf der volle Orchesterapparat kommt nur selten ein Orchester wachsen lässt, das flexibel an zum vollen Einsatz und jedes einzelne Pult den Aufwand des jeweiligen Konzerts ange- steht gewissermaßen vor einem Solisten. passt werden kann? Trotzdem wird der Einzelne in einem Orches- Wiesner: Wir haben uns bestimmt ter Teil einer Instrumentengruppe. Entstehen nicht gegründet, um ein Modell im Zusam- im EMO Hierarchien, die dem Solisten- menhang mit der Schrumpfung und Schlie- Ensemble unbekannt sind? ßung von Kulturorchestern zu sein. Tatsache Wiesner: Nein, es können keine Hierar- ist, dass wir nicht nur beim EMO, sondern chien entstehen, weil fast jedes Werk eine auch beim Ensemble Modern für jedes neue Konstellation herausfordert, zu denen einzelne Projekt bei unseren Geldgebern auch Pultwechsel innerhalb eines Konzert- werben müssen, um es durchführen zu programms gehören. können.

Foto: Schwörer/SHURE Europe Besteht die Gefahr, dass die viel Wer sind diese Geldgeber? Die inten- Orchester und Instrumente neu erfinden: gelobte klangliche Schärfe des Ensemble sive Erarbeitung der Werke und Konzertpro- Musiker des Ensemble Modern und der Modern im Orchester „aufgeweicht“ wird? gramme sind ja nur mit hohem Zeit- und Jungen Deutschen Philharmonie bei den Wiesner: Es ist uns – auch mit dem Arbeitsaufwand möglich und dadurch sehr Proben zu Benedict Masons felt/ebb/thus/ vergrößerten Klangkörper des EMO – ein kostenintensiv. brink/here/array/telling. sehr großes Anliegen, auf dem Schlag des Wiesner: Das EMO wird zurzeit von Dirigenten zu spielen. Ich glaube, hoch- der Kulturstiftung des Bundes und der komplexe, virtuose Werke wie z. B. Notations Deutschen Bank Stiftung gefördert sowie Worin unterscheiden sich die Arbeits- von Pierre Boulez wären sonst nicht reali- projektbezogen von der Aventis Foundation strukturen gegenüber jenen der Kulturorchester? sierbar. Ein Klangkörper – ob Ensemble und der Ernst von Siemens Musikstiftung. Helmut Lachenmann erwähnt ja den Konflikt oder Orchester – zeichnet sich immer Finanziell kommen da selbstverständlich zwischen den Schaffensutopien der Komponis- durch Homogenität aus. Das muss nicht noch die Honorare hinzu, die die Veran- ten und den real vorhandenen Strukturen. bedeuten, dass alles weich gespült wird, stalter zahlen. Wiesner: In der Regel ist ein Komponist vom Kaliber Helmut Lachenmanns dem Klangkörper, für den er schreibt, in vielerlei Dietmar Wiesner… Hinsicht voraus; das gilt bis hin zu Solower- lebt und arbeitet in Frankfurt. Er ist als Komponist regelmäßig für Installationen und Musik- ken. Es liegt am Klangkörper, gleich welcher theaterproduktionen tätig. 1994 gründete er zusammen mit Hermann Kretzschmar und Ca- Größe, sich der Utopie des Komponisten thy Milliken die Komponistenformation „HCD-Productions“, die u. a. eine CD mit den Kam- nicht nur technisch, sondern auch geistig so mermusikwerken des amerikanischen Schriftstellers und Komponisten Paul Bowles heraus- nah wie möglich anzunähern. Das bedingt gab und für ihre Hörspielproduktionen Denotation Babel mit dem Prix Italia sowie für Cos- zwangsläufig, dass bestehende Strukturen mic Memos mit dem Preis der Fachjury des Literaturbüros NRW für beste Regie ausge- in Frage gestellt werden können müssen. zeichnet wurde. Zusammen mit dem Musiker und Komponisten Rainer Römer und dem bildenden Künstler Ottmar Hörl erhielt er für die Produktion Staubmarsch für den Hessi- Gibt es Prinzipien, die von der Arbeit im schen Rundfunk den Preis der Intermedium II. Ensemble aufs Orchester übertragen werden?

 28 MUSIK ORUM Wie offen stehen diese Partner denn der zeitgenössischen Musik gegenüber? Lassen Sie dem Orchester trotz der Zuschüsse freie Nach einer Umfrage des Instituts für kulturelle Innovations- Hand? forschung sind Ensembles für Neue Musik die Basis zeit- Wiesner: Sehr offen, da sie in der genössischen Komponierens Regel in die Programmkonzeptionen ein- gebunden sind.

Da Sie von Programmkonzeptionen sprechen – sind schon neue Projekte in Planung? 1,7 Uraufführungen pro Tag Wiesner: Wir werden 2007 das große Glück haben, noch einmal mit Pierre Boulez In den vergangenen beiden Jahren haben 168 Ensembles für Neue Musik 1224 Werke arbeiten zu können. Unter seiner Leitung zeitgenössischer Musik in öffentlichen Konzerten uraufgeführt. Das sind im Schnitt 1,7 sollen Varèses Amériques (in großer Beset- Uraufführungen pro Tag von ca. 1500 Musikern, die aus Überzeugung Neue Musik spie- zung), Boulez’ Notations sowie zwei bis drei len, obwohl nur acht Prozent von ihnen davon leben können. Werke der jungen europäischen Komponis- tengeneration (darunter von Matthias Pint- Diese Zahlen entstammen einer Stu- 168 der 184 beim MIZ gemeldeten scher und Mark André) aufgeführt werden. die zu den Themen Organisation, Finan- Ensembles – ein Rücklauf von 91 Pro- zierung und Repertoire der Ensembles für zent – haben an der Studie teilgenommen. Neue Musik in Deutschland, die das Deut- Die ersten Ensembles für Neue Musik in sche Musikinformationszentrum (MIZ) in Deutschland wurden 1965 (Vocalensemble Kooperation mit dem Institut für kultu- Kassel) und 1968 (ars nova ensemble nürn- relle Innovationsforschung (IKI), dem Kon- berg) gegründet. In den 90er Jahren stieg zert des Deutschen Musikrats und der Ge- die Zahl der Neugründungen im Schnitt sellschaft für Neue Musik durchgeführt hat. auf sieben Ensembles pro Jahr an. Seit 2000 Die detaillierte Auswertung wird Ende des hat das MIZ bereits 38 weitere Neugrün- Jahres vom IKI veröffentlicht. dungen zu verzeichnen. !

Das Deutsche Musikinformationszentrum (MIZ), ein Projekt des Deutschen Musikrats, ver- zeichnet derzeit 184 Ensembles für zeitgenössische Musik in Deutschland. Diese Ensembles widmen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu über 50 Prozent der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts und setzen sich mindestens zur Hälfte aus Berufsmusikern zusam- men. Zur Definition des Begriffs „Zeitgenössische/Neue Musik“ siehe Stefan Fricke: Zeit- genössische Musik in der Bundesrepublik Deutschland (www.miz.org).

Annäherung an die Utopie des Kompo- nisten: Dirigent John Adams mit Musikern des EMO. Foto: Arne Reimer

Ein Hauptmotiv der Mitglieder des Ensemble Modern für die einstige Gründung war, nicht in einem Orchester spielen zu müssen. Jetzt gibt es das EMO. Wolfgang Rihm schrieb einmal, dass „Ensemble Modern“ und „Akademie“ zunächst als einander fremde Welten erscheinen. Dies geschah zur Gründung der Internationalen Ensemble Modern Akademie. Die Oper wurde von der Avantgarde lange Zeit als träge musikalische Dienstleis- tungsinstitution für das Bürgertum betrachtet. Wann gibt es die Ensemble Modern Opera? Wiesner: Es gibt sie schon, wenn Sie nur an unsere Produktionen von Heiner Goebbels' Werken Schwarz auf Weiss und Landschaft mit entfernten Verwandten den- ken. Die Entwicklung der Ensemblegründung seit 1965. (Institut für kulturelle Innovationsforschung Hamburg 2006)

 MUSIK ORUM 29 FOKUS

Ensembles für Neue Musik in Deutschland – ein Überblick in Zahlen

! Auch wenn die überwiegend freien Schulkonzerte. Demnach leisten Ensembles Ensembles mittlerweile zur treibenden Kraft für Neue Musik Basisarbeit, um dem Pub- des aktuellen Musiklebens geworden sind likum die oft als schwierig empfundene – – 49 Prozent der hier genannten Urauf- weil ungewohnte – zeitgenössische Mu- führungen kommen auf Initiative der En- sik näher zu bringen. sembles zustande – so wurden doch die Angesichts dieser Leistung ist es bemer- verfügbaren Mittel insgesamt reduziert. Nur kenswert, dass nur drei Prozent der En- 10 Prozent der Ensembles beurteilen ihre sembles Personal in Vollzeit und 13 Pro- Zukunftsperspektive als „sehr gut“, 61 Pro- zent in Teilzeit beschäftigen. Knappe 80 zent geben „schwierig“ bis „sehr schwie- Prozent der Ensembles geben an, sich selbst rig“ an. Häufig genannte Wünsche in der zu organisieren; das sind 175 ehrenamt- offenen Bewertung der derzeitigen Kul- liche oder mit kleinem Honorar beschäf- turpolitik sind: weniger Leuchtturmpoli- tigte Personen. tik, mehr gezielte Förderung von Quali- Im größten Bundesland sind auch die tät, mehr Transparenz in der Mittelvertei- meisten Ensembles angesiedelt: NRW hat lung und natürlich insgesamt mehr Mit- 42 Ensembles für Neue Musik aufzuwei- tel. sen, davon allein 16 in Köln. In Berlin, der Stadt mit der größten Dichte aktuel- ler Kunstformen, haben sich mittlerweile 28 freie Ensembles angesiedelt. Die bei- den Stadtstaaten Hamburg (4) und Bre- men (3) sind gut positioniert, auch Sach- sen (7) und Thüringen (5) liegen im Mit- telfeld. Nach Berlin und Köln sind Stutt- NEUE gart (11) und Freiburg (9) die Städte mit der höchsten Ensembledichte. Bei der Zusammenarbeit mit den Me- er von der deutschen dien geben 58 Prozent der Ensembles an, Orchesterlandschaft mindestens einmal im Jahr mit Rundfunk- W spricht, denkt vor allem an die anstalten zusammenzuarbeiten. Nur sie- ben Prozent der Ensembles für Neue Mu- subventionierten Klangkörper der Basisarbeiter der Neuen Musik: sik bemerken, dass die Zusammenarbeit klassischen Musik mit ihren ange- musikFabrik NRW. Foto: Klaus Rudolph mit den Rundfunkanstalten in ihrer Quan- stellten und tariflich abgesicherten tität zunimmt, 38 Prozent meinen, die Zu- Musikern. Die Bigbands – oder Trotzdem werden pro Jahr 2145 Kon- sammenarbeit ist gleich bleibend, und 32 allgemeiner: Jazzorchester – zerte durch die freie Szene auf die Beine Prozent konstatieren einen Rückgang. werden darüber meist vergessen, gestellt. Allerdings können nur acht Pro- Diese und weitere Zahlen erarbeitet zent der Ensembles den Lebensunterhalt derzeit das Hamburger Institut für kultu- da deren Dirigenten und Musiker zu mehr als 50 Prozent mit dieser Tätig- relle Innovationsforschung im Rahmen ei- freischaffend agieren und keine keit verdienen. Der überwiegende Teil der ner Studie, deren Erscheinen zum Ende Lobby für sie das Wort erhebt. Ensemblemitglieder sind Profimusiker, die des Jahres geplant ist. Die hier veröffent- sich aus Idealismus zusätzlich für die zeit- lichten Stichproben der Ergebnisse dieser Der Musikmarkt greift hier in seiner gan- genössische Musik einsetzen. Ensembles bisher einmaligen Untersuchung zeigen das zen Realität: Es geht um Angebot und Nach- an Musikhochschulen und freie Ensembles Bild einer freien und florierenden Szene. frage, Honorarvereinbarungen werden ungern kämpfen oft ums Überleben, wenn die Pro- Die Veröffentlichung des Handbuchs hat kommuniziert, niemand will seine vermeint- jektmittel knapp werden. Und doch ha- zum Ziel, anhand detaillierter statistischer lich günstige Position preisgeben. Die Gagen ben immerhin 35 Prozent eine eigene Kon- Analysen die Gesamtleistung der Szene für die Musiker sind aber zumeist erbärmlich zertreihe in ihrer Heimatstadt veranstaltet. für die zeitgenössische Musik zu evaluie- niedrig – von wenigen Ausnahmen abgese- Von den über 2000 Konzerten pro Jahr ren. hen. werden 40 Prozent mit Elementen der Mu- Patricia Gläfcke Demgegenüber ist es eigentlich erstaun- Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut sikvermittlung (Einführungen, Gesprächs- lich, wie viele professionelle Jazzorchester es für kulturelle Innovationsforschung an der gibt – oder sollte man besser sagen: Jazzor- konzerte etc.) verknüpft. Dazu kommen Hochschule für Musik und Theater Hamburg chester, die sich aus professionellen Musikern noch 15 Prozent Kinder- und 17 Prozent U www.iki-hamburg.de zusammensetzen. Denn in vielen Fällen ist es die musikalische Herausforderung, das inte-

 30 MUSIK ORUM Musikalische Herausforderung: In der Frontline des Bundesjazzorchesters bewähren sich Jung-Profis wie Peter Weniger, Frederik Köster und Matthias Strucken, angetrieben von Bandleader Peter Herbolzheimer. Foto: Sprenger

ÄRA FÜR Jazzorchester?

Klangkörper ohne Lobby: Peter Ortmann über Bigbands in der Orchesterszene

ressante musikalische Material von Kompo- Rückblick auf goldene Epoche ten vergleichsweise schnell zum Ende dieser nisten und Arrangeuren, der Trainingscha- Situation; das hatten die USA schon in den rakter und die Erprobungsmöglichkeiten, die Ob die 50er und 60er Jahre des vorigen vierziger Jahren erlebt. Vermutlich war Bio’s die Mitwirkung in einem Jazzorchester als reiz- Jahrhunderts für Bigbands und ihre Musiker Bahnhof eine der letzten Fernsehshows, in voll erscheinen lassen. wirklich golden waren, hängt nicht zuletzt der sich die Rhythm& Brass Combination eines Dadurch sind sogar in etablierten Kon- von der Einkommenssituation ab, die jedoch Peter Herbolzheimer live mit ihrem ganzen zertstätten feste Bigbandtermine entstanden, im Dunkeln bleibt. Erst mit den statistischen Können entfalten konnte. sozusagen Freiräume für neue Jazzorchester- Untersuchungen zur Lage der Künstler durch Heute ist man als betroffener Förderer schon techniken. Frei aber auch von jeglicher finan- das Zentrum für Kulturforschung ab 1970 froh, vereinzelte Absolventen des Bundes- ziellen Absicherung. hat sich die Lage erhellt und man kann mit jazzorchesters (BuJazzO) in den Bands bei So erstaunen immer wieder Versuche von den Informationen Kulturpolitik betreiben. Stefan Raab („TV total“), in der Bigband-Pflicht nachwachsenden Talenten, Bigbands mit ei- Das Ergebnis ist mehr als düster: In der bei „Deutschland sucht den Superstar“ oder gener „Handschrift“ auf die Beine zu stellen Jazzszene wird – wie im Showgeschäft – viel auch bei Harald Schmidt zu entdecken. und dafür sogar musikalische Mitstreiter zu Schaum geschlagen. Die tatsächlichen Ver- finden. Da geht so mancher Musiker nicht hältnisse sind nicht für große Sprünge geeig- Die Nachkriegsgeneration mit mehr als 50 Euro von der Bühne. Wer net. Das Fernsehen war zwar anfangs vielen macht Platz da von einer lebendigen Szene spricht, lie- Tanz- und Unterhaltungsorchestern ein gu- fert den faden monetären Beigeschmack gleich ter Partner – so z. B. für die Orchester von Hugo Strasser, Max Greger und Paul Kuhn mit. Willy Berking (), Horst gehen immer noch – oder schon wieder – Dennoch: Ob etabliert oder noch im Ver- Jankowsky (RIAS Berlin), Paul Kuhn (SFB), erfolgreich auf Tournee, begleitet von den suchsstadium, unter www.bigbands.de sind von Peter Herbolzheimer (Südwestfunk), Er- vergleichsweise jungen Profis der SWR-Big- allein 400 Bigbands verzeichnet, die zumeist win Lehn (Süddeutscher Rundfunk) und nicht band. Großensembles wie das United Jazz mit sehr viel Idealismus und Engagement, mit zuletzt von Kurt Edelhagen (WDR). Aber: und Rock Ensemble machen seit Jahren ihre und ohne privater und öffentlicher Förde- Die Playbackentwicklung und die Hinwen- jeweils allerletzte Tournee, Ali Haurands Euro- rung das aktuelle Musikleben bereichern. dung zum einzelnen Star und Sternchen führ- pean Jazz Ensemble feiert 30-jähriges Beste-

 MUSIK ORUM 31 FOKUS

hen mit einer (letzten?) Tournee. Peter Her- Feste Größe: Die Orchester der bolzheimer holt im Herbst noch einmal sei- Rundfunkanstalten, ne berühmte Rhythm Combination & Brass wie die NDR Big- zusammen. Das lässt die Herzen der älteren band (Bild), sind Generation höher schlagen. An einem jun- wertvolle Auffang- gen Publikum gehen solche Angebote vorbei, becken für Talente. denn da greift die Nostalgie nicht. Die silber- Foto: Haberland graue Generation dominiert den Saal. Leider wird erst jetzt allmählich wahrge- ist aufgerufen, das Problem wahrzunehmen sich eine real vorhandene Bigband-Lobby vor- nommen, welche Komponisten- und Arran- und ihrem kulturellen und gesellschaftlich zustellen? Der Zeitpunkt hierzu ist einerseits geurbegabungen, Bigbandleiter und Organi- ausgleichenden Auftrag gerecht zu werden. denkbar ungünstig, andererseits aber auch sationstalente die zunehmende Förderung seit Ende der 50er und zum Anfang der 60er wieder günstig – weil die Idee einfach not- den Siebzigern hervorgebracht hat. Viele haben Jahre des vergangenen Jahrhunderts nahmen wendig ist. Zunächst müsste die ganze Zah- sich bereits einen Namen gemacht und Preise engagierte Jazzpädagogen und Fürsprecher len-Wahrheit auf den Tisch, gefolgt von der verdient: Joachim Ernst Keller als neuer Lei- einer offenen musikalischen Jugendbildung Definition einer solidarischen Gemeinschaft. ter der HR-Bigband, die Wahl-Kölner Frank das bisher verdeckte Interesse junger Jazzbe- Und überhaupt: Vielleicht sind die Betrof- Reinshagen, Marko Lackner, Steffen Schorn geisterter auf. Sie boten ihnen über ihre Insti- fenen ja bereits organisiert – nur an verschie- und Claudio Puntin als Empfänger des WDR- tutionen Betätigungsfelder und Fortbildungs- denen Stellen? Immerhin bieten sich der Deut- Jazzpreises, des Weiteren Bernd Lechtenfeld möglichkeiten an. Stellvertretend erwähnt seien sche Komponistenverband, die Deutsche Or- und Ansgar Striepens als Arrangeure der WDR- der Saxofonist Joe Viera, der das malerische chestervereinigung, der Deutsche Tonkünst- Bigband, Florian Ross, Jürgen Friedrich, Rai- oberbayerische Burghausen zu einem Zent- lerverband, die Union Deutscher Jazz-Musi- ner Tempel und Karsten Gorzel mit span- rum von Sommer- und Winterjazzkursen ker, aber auch GEMA und GVL sowie nicht nenden zeitgenössischen Orchesterprojekten. machte, und Bruno Tetzner, der in der Aka- zuletzt die Arbeitsgemeinschaft Jugendorches- demie Remscheid eine langjährige Tradition ter in der Jeunesses Musicales als organisier- Chancengleichheit gefährdet von Sommerjazzprogrammen ins Leben rief. te Heimstatt an. Das Jazzseminar an der Kölner Musikhoch- Staatsminister Neumann, dem neuen Bun- Feste Größen in der Bigbandlandschaft schule existierte da bereits und die Nachah- desbeauftragten für Kultur und Medien, wird bilden weiterhin die Bigbands von WDR, NDR, mer warteten nur auf ihre Chance. Inzwischen Nähe zum Jazz nachgesagt. Ebenso seinem frisch HR und SWR. Die drei ersten sind in die schmücken sich alle Musikhochschulen mit gekürten Staatssekretär Hermann Schäfer, der jeweilige Sendeanstalt integriert, Letztere hat Jazzstudiengängen und die Zahl der Jazzkur- als früherer Direktor des Hauses der Geschichte sich als GmbH eingerichtet. Frei werdende se geht in die Hunderte. Überall wurden und in Bonn regelmäßig das BuJazzO zu besonde- Stellen werden tendenziell eher gestrichen werden – als Teil des Unterrichtsprogramms ren Anlässen spielen ließ. Das scheint eine und durch Honorarkräfte und Gäste ersetzt. – Bigbands eingerichtet, weil gleichsam na- viel versprechende Konstellation zu sein, um Nun sind wenigstens diese Orchester ide- turgegeben alle Instrumente vertreten sind, z. B. die Gründung eines German Jazz Or- ale Auffangbecken für die besten der gut aus- die nur zusammengeführt werden müssen. chestra für nachwachsende Profis vorzuschla- gebildeten Musiker von den Hochschulen. Daraus ist die weltweit dichteste Bigband- gen – als spannende und sprudelnde Quelle Allein zwischen drei und fünf erfolgreiche Szene entstanden: Allein das Bundesjazzor- für Jazzorchester, als subventioniertes Beispiel Absolventen des BuJazzO gehören zu den chester hat inzwischen über 300 erfolgrei- für die kreative Gegenwärtigkeit von Bigband- festen Besetzungen der Rundfunkbigbands. che Absolventen hervorgebracht, beim Deut- musik, als attraktiver Mitbewerber gegenüber Mit Aushilfen und Ersatz sind es noch mehr. schen Orchesterwettbewerb hat die Bigband- den Rundfunkbigbands und nicht zuletzt als Das ist die gute Nachricht. Nun die schlech- Sparte mit 550 Musikern in 27 Orchestern deutsches Aushängeschild vergleichbar dem te: Die Anforderungen und Aufgaben der mit den beiden stärksten Sparten (Blasmusik französischen Orchestre National de Jazz oder Rundfunkbigbands haben sich verlagert – weg und Akkordeon) gleich gezogen. An den Vor- dem Swiss Jazz Orchestra. von den Studioaufnahmen für den gekürz- ausscheidungen auf Länderebene waren es Hier könnten junge, bereits profilierte Kom- ten Sendebedarf hin zum Werbeträger im Sen- sogar über 60 Jazzorchester. An Gymnasien ponisten, Arrangeure und Dirigenten ihr Kön- degebiet und darüber hinaus. Und spätestens wird in Hunderten von Schülerbigbands musi- nen auch international unter Beweis stellen. an den Konzertorten treten kuriose Wider- ziert. Topmanager mit oder ohne Job grün- An hochqualifizierten und kreativen Musikern sprüche auf: Müssen die freien Jazzorchester den ihre eigenen Bands. In Bayern gibt es besteht jedenfalls kein Mangel. Der Deutsche zumindest ihr Kosten einspielen, bleiben bei seit vielen Jahren zu Fortbildungszwecken eine Musikrat jedenfalls muss sich langfristig um den Rundfunkbigbands mindestens die Per- landesweite Lehrerbigband. Natürlich verfü- die künstlerische Leitung seines BuJazzO keine sonalkosten außen vor. Sie laufen in der Sen- gen alle Bundesländer inzwischen über eige- Sorgen machen: Die Kandidaten sind alle deanstalt als Gehälter weiter und belasten ne Landesjugendjazzorchester, die für ihr Land schon da und stehen in den Startlöchern. den Konzertveranstalter nicht. kräftig Werbung, auch im Ausland, machen Allein das Bundesjazzorchester muss für – im Übrigen einer der Anlässe zur Grün- einen Konzertauftritt ungefähr das Doppelte dung des Bundesjazzorchesters 1988. Der Autor: der Summe an Kosten abdecken, zu der sich Dr. Peter Ortmann ist Projektleiter eine Rundfunkbigband bei Veranstaltern an- Neue Ära am Horizont? des Bundesjazzorchesters bei der bieten kann. Hier ist eine Schieflage entstan- Projektgesellschaft des Deutschen den, die die Ausbildung an den Musikhoch- Ständische und tarifliche Orchestervertre- Musikrats und Vorstandsmitglied der schulen und im Bundesjazzorchester zumindest tung sind heute wahrlich kein leichtes Ge- Union Deutscher Jazz-Musiker e.V. in diesem Sektor ad absurdum führt. Die ARD schäft. Wie idealistisch muss man sein, um

 32 MUSIK ORUM Laienmusik: Garant für musikalische Bildung In kaum einem anderen Land wird die kulturelle Bil- dern die musikalische Praxis für viele Millionen Menschen dung so unterschiedlich weit verzweigt wahrgenom- in Deutschland zu einem entscheidenden, lebensprägen- men wie in Deutschland. Garant dafür sind nicht zuletzt den Inhalt geworden ist. die vielen Laienorchester. Gerade an dieser einmaligen Laienbewegung kann Weder die allgemein bildenden Schulen noch die staat- man deutlich erkennen, dass Bildungsprozesse nicht von lichen Musikschulen, weder die Instrumentallehrer in freien unmittelbarer praktischer Erfahrung abgekoppelt wer- Berufsverhältnissen noch die privaten Musikschulanbie- den sollten. Und dort erfährt man, was es heißt, alters- ter allein tragen zur musikalischen Bildung bei – was sehr übergreifend erfahrend zu lernen. Dort, wo dieser Pro- häufig übersehen wird. Es sind gerade die Laienorches- zess eines „Lernens im Kontext“ funktioniert (und das ter, die zahllosen Chöre und Musikvereine, die für das gilt für die Laienmusik), braucht man sich auch keine Sor- stehen, was gegenwärtig als „Musikland Deutschland“ gen mehr um die Akzeptanz der Profimusik zu machen. bezeichnet wird. Mehr noch: Vor allem die Laienmusik Denn sie ist „nur“ der Sonderfall innerhalb eines Ganzen, sorgt heute mehr denn je dafür, dass nicht nur ein allge- das aufgehoben ist in dem Gedanken eines Musiklands, meines, musikorientiertes Interesse geweckt wird, son- das Breite wie Spitze in sich vereinigt.

Das Blasorchester Altenmittlau. Foto: Karow Das Blasorchester Altenmittlau.

Erik Hörenberg über die Perspektiven, die Laien- ensembles dem „Musikland Deutschland“ eröffnen

Kulturträger LAIENORCHESTER

ie große Bedeutung der In den rund 30000 Orchester- Hinzu kommen die Orchester der öffent- nicht-professionellen gemeinschaften musizieren über lichen Musikschulen und die der allgemein D bildenden Schulen. Doch nicht nur eine quan- 730 000 Menschen, die von wei- Orchesterszene in Deutschland titative Betrachtung lassen die Laienorches- lässt sich schon beim Studium des teren 900 000 passiven Förderern ter zu einem wichtigen Bestandteil des Mu- bloßen Zahlenmaterials erahnen: unterstützt werden.1 siklandes Deutschland werden.!

 MUSIK ORUM 33 FOKUS

beobachten waren, sind vorrangig auf das Engagement der Orchester und Verbände in diesem Bereich zurückzuführen. Das Bild von musikalischer Bildung in Laienorchestern, nach dem Kinder und Jugendliche von erwachse- nen Orchestermitgliedern kurz in der Spiel- weise eines Instruments unterrichtet und dann umgehend ins Tongewühl der Orchesterpro- ben entlassen werden, gibt es kaum noch. Die Praxis in den Laienorchestern zeich- net heute ein anderes Bild: Viele Orchester verfügen über eine gut funktionierende Or- ganisationsstruktur, die von ehrenamtlichen Orchestermitgliedern aufgebaut wurde. In- nerhalb dieser Struktur wird ein großer Teil des Instrumentalunterrichts sowie der Orches- ter- und Ensemblearbeit über Fachkräfte ab- gedeckt. Die äußerst ökonomische Bereitstellung der organisatorischen Infrastruktur für die mu- sikalische Bildung durch ehrenamtlich tätige Personen wird ergänzt durch finanzielle Zu- Miteinander der Generationen: Wie in kaum einem anderen Bereich des gesellschaftlichen zahlungen durch die Orchester. Auf diese Lebens verbringen junge und ältere Menschen in selbstverständlicher Weise gemeinsam ihre Weise kann ein flächendeckendes Angebot Freizeit in Laienorchestern. an außerschulischer musikalischer Bildung er- möglicht werden, das in finanzieller Hinsicht einem großen Teil der Bevölkerung zugäng- ! Neben den Sinfonie- und Blasorchestern, schaften das gemeindliche kulturelle Leben. lich ist – auch abseits von Städten und unab- die im Bewusstsein vieler Menschen besonders Dies reicht von der musikalischen Umrah- hängig von kommunalpolitischen Entschei- verankert sind, gibt es zahlreiche Akkordeon- mung öffentlicher Veranstaltungen bis zur Mit- dungen. orchester, Spielmannszüge, Zupforchester, Big- gestaltung von Gottesdiensten. bands, Zithermusikgruppen und Posaunen- Darüber hinaus veranstalten die Laienor- 3. Laienorchester sorgen für chöre. Viele der Laienorchester sind in Ver- chester eigene Konzerte und Auftritte, die einen organisiert, von denen einige bereits zumeist auf große Resonanz stoßen. Man darf soziale Verankerung auf eine über einhundertjährige Tradition zu- vermuten, dass die Laienorchester dabei ei- Laienorchester bieten ihren Mitgliedern rückblicken können. Andere werden getra- nem nicht unerheblichen Teil des Konzert- durch die sozialen Beziehungen eine gesell- gen von kommunalen Musikschulen, allge- publikums die einzigen unmittelbaren mu- schaftliche Verankerung: Eine wichtige Mo- mein bildenden Schulen oder Verbänden. sikkulturellen Kontakte vermitteln. tivation, in einem Laienorchester zu spielen, Auffällig sind zwei Gesichtspunkte: Die Der eigene künstlerische Anspruch, mit ist der Wunsch, die Gemeinschaft mit ande- nicht-professionelle Orchesterlandschaft in dem ein großer Teil der Orchester diese Kon- ren Musikern zu erleben. Eltern ist es wich- Deutschland setzt sich zu einem großen Teil zerttätigkeit bestreitet, ist in den vergange- tig, dass ihre Kinder im Rahmen der Freizeit- aus jungen Menschen zusammen: Über 60 nen Jahrzehnten deutlich gestiegen. Heute gestaltung sozial in einer Gruppe integriert Prozent der Musiker sind im Durchschnitt gibt es zahlreiche Orchester in allen Sparten, sind. Dieser Aufgabe und diesem Anspruch aller Orchestertypen unter 27 Jahre alt. 2 die über ein hervorragendes musikalisches werden viele Laienorchester in besonderem Daraus abgeleitet der zweite Gesichtspunkt: Niveau verfügen. Der Deutsche Orchester- Maße gerecht, da bei vielen Laienorchestern Das aktive Musizieren breiter Bevölkerungs- wettbewerb des Deutschen Musikrats beweist neben der musikalischen Ausbildung ganz schichten in einer Orchestergemeinschaft konn- dies, wie auch der von der Bundesvereini- besonders auch der betreuende Aspekt in te sich gegen verschiedene Trends in unse- gung Deutscher Orchesterverbände ausge- den Mittelpunkt gerückt wird. rer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehn- richtete Wettbewerb für Auswahlorchester.3 ten behaupten. Auch in Zukunft eröffnen die 4. Laienorchester helfen bei Laienorchester dem Musikland Deutschland 2. Laienorchester dienen der kultureller Identitätsbildung besonders in fünf Bereichen zahlreiche Pers- musikalischen Bildung pektiven. Auch zukünftig wird Deutschland mit der Neben den allgemein bildenden Schulen, Frage nach Formen der Integration von Men- 1. Laienorchester sichern den öffentlichen wie privaten Musikschulen schen ausländischer Herkunft befasst sein. Bei kulturelle Grundversorgung sowie dem großen Bereich der selbstständig dieser Integration sind stets zwei Seiten ge- tätigen Musikpädagogen sind die Laienorches- fordert: Einserseits die Personen, die aus ei- Laienorchester sind wichtige Träger kul- ter ein weiterer wesentlicher Ort musikali- nem anderen Kulturkreis zu uns gekommen tureller Aktivitäten im jeweiligen lokalen und scher Bildung in Deutschland. Die musikali- sind, auf der anderen Seite die deutschen regionalen Umfeld. Insbesondere im länd- schen Fortschritte, die bei Laienorchestern Mitbürger, die sich im alltäglichen Leben der lichen Raum gestalten die Orchestergemein- in den vergangenen rund dreißig Jahren zu Integration von Migranten zuwenden sollen.

 34 MUSIK ORUM Abbau von Bürokratie, Haftungsschutz und Um sich dieser Aufgabe widmen zu können, steuerrechtliche Verbesserungen: Ehrenamtliche Arbeit ist es unabdingbar, dass man sich seiner eige- nen kulturellen Identität bewusst ist. Wer sich in Orchestern muss erleichtert werden dieser nicht sicher ist, kann sich auch Men- schen anderer Kulturen nicht hilfreich anneh- men. tern stehen, aber auch die Fachverbände wer- Fazit: Die kultur-, gesellschafts- und bil- Die große Zahl von Laienorchestern ist den wie bisher mit großem Engagement die- dungspolitische Bedeutung der 30000 Laien- vor diesem Hintergrund in doppelter Hin- sem Bedürfnis breiter Bevölkerungsteile ent- orchester in Deutschland rechtfertigen eine sicht von Bedeutung: Zum einen leistet sie sprechen wollen. Hierfür sind jedoch deut- hinreichende finanzielle Unterstützung von bei der kulturellen Identitätsbildung vieler jun- liche Verbesserungen der Rahmenbedingun- öffentlicher Seite. Dies scheint auch aus der ger Bürger schon heute einen wichtigen Bei- gen für die Arbeit der Laienorchester wichtig. Sicht anderer Bereiche des deutschen Mu- trag. Zum anderen steckt in den gesellschaft- Hier exemplarisch einige dringliche Not- siklebens wichtig und wünschenswert. lich tief verwurzelten Orchestergemeinschaften wendigkeiten, die teilweise bereits in den Hand- ein großes Potenzial, Menschen aus anderen lungsempfehlungen der Enquete-Kommission 1 Kulturkreisen zu integrieren. „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engage- Nach einer Zusammenstellung des Deutschen Musikin- ments“ Berücksichtigung fanden:4 formationszentrums in Kooperation mit den Verbänden des instrumentalen Laienmusizierens, Stand: 2.2.2005. Die Laienorchester sind abhängig vom bür- 2 5. Laienorchester fragen Güter Quelle: vgl. Fußnote 1. gerschaftlichen Engagement einer Vielzahl von 3 Siehe hierzu den Beitrag von Hans-Walter Berg auf Sei- und Dienstleistungen nach Menschen. Die meisten organisatorischen Tä- te 36. tigkeiten in den Laienorchestern werden auf 4 Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger- Die nicht-professionellen Orchester sind schaftlichen Engagements“, Bundestagsdrucksache 14/ auch für andere Bereiche des Musiklandes ehrenamtlicher Basis durchgeführt. Es ist drin- 8900. Deutschland von erheblicher Bedeutung. Sie gend erforderlich, dass diesen Personen durch stellen einen großen Teil des Arbeitsmarkts eine möglichst umfassende Entbürokratisie- für die Absolventen deutscher Musikhoch- rung deutliche Erleichterungen in ihrem eh- Der Autor: schulen dar. So haben viele Orchester in den renamtlichen Tun zuteil werden. Ebenso müs- Erik Hörenberg ist Geschäftsführer vergangenen Jahrzehnten erkannt, dass ein sen bürgerschaftlich engagierte Menschen in der Bundesvereinigung Deutscher wesentliches und nachhaltiges Kriterium für Haftungsfragen zureichend geschützt werden. Orchesterverbände und musikalischer die Zukunft die professionalisierte musikali- Anzustreben sind ferner Verbesserungen der und kaufmännischer Leiter des Hoh- sche Bildung des eigenen Nachwuchses ist. steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für ner-Konservatoriums Trossingen. Seit Aus dieser Erkenntnis heraus ergab sich eine Vereine. Die derzeitigen Bestrebungen hin- Ende des vergangenen Jahres ist er bis heute steigende Nachfrage nach qualifi- sichtlich einer grundlegenden Reform des Ge- Präsidiumsmitglied des Deutschen zierten Musikpädagogen. meinnützigkeits- und Spendenrechts sind ein Musikrats. Relevant ist auch die Nachfrage der Laien- wichtiger Schritt in die richtige Richtung. orchester nach Gütern und Dienstleistungen der Musikwirtschaft und anderer Wirtschafts- zweige. Musikinstrumente, Noten, Unifor- Sozial verankert: Wer in einem Laienorchester spielt, hat meist die Motivation, die Gemein- men und Busreisen werden jährlich in gro- schaft mit anderen Musikern zu erleben. Fotos: Karow ßem Umfang von Laienorchestern beschafft bzw. in Anspruch genommen. Für die öffentliche Hand ergibt sich aus diesem Sachverhalt ein weiterer wichtiger As- pekt: Im Zuge einer Umwegrentabilität spü- len die auf nachgefragte Güter und Dienst- leistungen erhobenen Steuern nicht unbe- trächtliche Gelder zurück in die öffentlichen Kassen. Damit erhalten die öffentlichen För- dergelder für den Bereich der Laienmusik eine bedeutende Komponente: Im Sinne einer nach- frageorientierten Finanzpolitik lösen die öf- fentlichen Mittel enorme Multiplikationsef- fekte aus, die auch volkswirtschaftlich spür- bare Auswirkungen haben.

Stärkung der Laienorchester- kultur notwendig Auch in Zukunft wird eine Vielzahl von Menschen das Bedürfnis haben, sich in einer Orchestergemeinschaft musikalisch auszudrü- cken. Die vielen Institutionen und Musikver- eine, die hinter den einzelnen Laienorches-

 MUSIK ORUM 35 FOKUS

Bessere Ausbildung für ambitionierte Musiker: Hans-Walter Berg beschreibt ein bewährtes System Auswahlorchester REPRÄSENTANTEN DES LAIENMUSIZIERENS

ie Bilanz ist erfreulich: DDie Qualität des instrumen- talen Musizierens hat sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten deutlich verbessert.

Mehrere Gründe sind dafür entscheidend: æ Der jugendliche Nachwuchs wird länger und besser durch bundeseinheitliche Anfor- derungen der Musikverbände ausgebildet. æ Dirigenten finden verstärkt Möglichkeiten qualifizierter Schulung. æ Wertungsspiele der Verbände mit anspruchs- vollen Pflichtstücken und Beratung der Diri- genten wirken sich positiv aus. æ Auswahlorchester fördern talentierte Mu- siker und wirken fruchtbar zurück auf die musikalische Arbeit der Musikvereine. Auswahlorchester in Deutschland Auswahlorchester sind vereinsübergreifen- de, überregionale Orchester mit überdurch- Sparte Anzahl der darin Auswahlorchester schnittlich fähigen Instrumentalisten. Sie set- Musikvereine Orchester je Sparte zen sich nicht wie Projektchöre für einzelne Auftritte zusammen, sondern haben eine feste Blasorchester 7.500 11.000 103 Struktur mit Vorstand, eigenem Budget und Spielleutekorps 3.000 3.500 34 längerfristigen Zielen. Auswahlorchester fin- Zupforchester 500 500 29 den sich in allen Sparten des vereinsgebun- Streich-/Sinfonieorchester 600 600 27 denen Musizierens. Die jüngste Erhebung der Akkordeonorchester 1.100 1.900 17 Bundesvereinigung Deutscher Orchesterver- Jazzorchester ––20 bände förderte 230 Auswahlorchester auf Bundes-, Landes- und Kreisebene zutage. Diese gesamt 12.700 17.500 230 unerwartet hohe Anzahl spiegelt die reich- haltige deutsche Landschaft nichtprofessio- Quelle: Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände neller Orchester (siehe Tabelle rechts).

Spielgruppen der Musikvereine sind in der Die Verteilung der Auswahlorchester auf Aufstellung oben nicht enthalten. Ebenfalls den Bund und die Bundesländer weist Ba- unberücksichtigt bleiben Orchester an allge- den-Württemberg als das musikfreundlichs- mein bildenden Schulen, Musikschulen und te Land aus. Etwa jedes vierte Auswahlorches- Volkshochschulen und in Kirchen, weil es in ter ist hier beheimatet. Es folgen die Länder diesen Institutionen Auswahlorchester nicht Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder nur selten gibt. und Rheinland-Pfalz. Auf Bundesebene exis-

 36 MUSIK ORUM ANZEIGE

tieren neun Auswahlorchester. Die Hälfte herausfordern. Der Organisationsleiter bzw. aller Auswahlorchester sind Jugendorchester. Geschäftsführer oder Referent kümmert sich Im Jazz und bei den Streichern existieren aus- um die einzelnen Orchestermitglieder, um schließlich Jugendauswahlorchester. die Finanzierung, die Probenorte und -ter- Bis 1980 waren in Deutschland erst zwölf mine, die Konzerte und die Öffentlichkeits- Auswahlorchester gebildet worden. Dann setz- arbeit. Er hält persönliche Kontakte zu Kon- te ein Gründungsboom ein, der noch immer zertveranstaltern, Förderern, Prominenten und nicht abgeschlossen ist. Die anfängliche Skepsis zur Presse. Träger der Auswahlorchester sind von Musikvereinen, Auswahlorchester könn- überwiegend die Musikverbände. In Baden- ten profilierte Musiker abziehen, hat sich als Württemberg und in Nordbayern unterhal- unbegründet herausgestellt. Vielmehr erken- ten fast alle Kreisverbände der Blasmusik ein nen die Vereinsorchester den Nutzen von Auswahljugendorchester. Oftmals fungieren Auswahlorchestern für ihre eigene positive diese als musikalische Botschafter des Land- Weiterentwicklung. In fast allen Auswahl- kreises. Träger von Landesjugendorchestern orchestern werden Multiplikatoren wie Diri- der Streicher und Jazzer sind die Landesmu- genten, Registerführer und Instrumentalaus- sikräte. bilder für die Arbeit der Musikvereine geför- Der Deutsche Musikrat veranstaltet im dert. Ein Ansporn für ambitionierte Musiker, Vierjahresturnus einen Wettbewerb für sol- in einem Auswahlorchester mitzuwirken, liegt che Orchester, die sich vorher bereits auf auch darin, dass anspruchsvolle sinfonische Landesebene qualifiziert haben. Auswahlor- Musikstücke erarbeitet werden, die einem chester können sich aufgrund ihrer beson- durchschnittlichen Vereinsorchester meist deren Struktur daran nicht beteiligen. Des- nicht zugänglich sind. Konzerte der Auswahl- halb fördert der Beauftragte der Bundesre- orchester heben das Ansehen einer ganzen gierung für Kultur und Medien die Bundes- Musiksparte. Vorurteile gegen Spielleutekorps, vereinigung Deutscher Orchesterverbände Blas- und Akkordeonorchester als Stätten bier- als Veranstalterin eines Wettbewerbs aus- seliger Unterhaltung werden abgebaut. Kon- schließlich für Auswahlorchester. Dieser zerte der Auswahlorchester ändern die Sicht- Motivationsschub findet in den Nischen weise auf das Laienmusizieren im positiven zwischen den Wettbewerben des Deutschen Sinne. Musikrats statt. Die Vorbereitungen für den nächsten Wettbewerb für Auswahlorchester Neue Erlebnisregionen vom 10. bis12. November in der Musikstadt Trossingen sind in vollem Gange. Ein zeit- Wer in ein Auswahlorchester aufgenom- gleiches Forum der Begegnung für Verant- men werden möchte, hat sich einem Vor- wortungsträger der Orchester soll der gegen- spiel zu unterziehen. Bläser, Spielleute, Ak- seitigen Anregung dienen. Schon im Voraus kordeonisten und Zupfer haben zusätzlich lässt sich eine Rekordbeteiligung von Aus- Verbandsprüfungen nachzuweisen. Auch wird wahlorchestern absehen. Einfühlungsvermögen in sozialer Hinsicht er- wartet, denn arrogante und überhebliche In- strumentalisten können das Gemeinschafts- gefühl der Orchestermitglieder empfindlich Der Autor: stören. Auf der anderen Seite profitieren die Prof. Dr. Hans-Walter Berg studierte Mitglieder im Auswahlorchester, denn sie in Freiburg i. Br. Schulmusik, Musik- arbeiten in der Regel unter qualifizierten Diri- wissenschaft, Pädagogik und Philo- genten, sie werden in Erlebnisregionen hi- sophie. 1970 wurde er Gründungs- naufgezogen, die sich im üblichen Proben- direktor der Bundesakademie für alltag seltener erschließen. Die Orchestermit- musikalische Jugendbildung in Tros- glieder spüren die Anerkennung, bei Auf- singen. Sein pädagogischer Schwer- tritten Besonderes zu leisten. Manche Kon- punkt lag in der Aus- und Fortbildung zerte finden auf Bühnen statt, die in aller von Dirigenten und Chorleitern. In Regel Berufsensembles vorbehalten sind. Aus- zahlreichen Veröffentlichungen hat er wahlorchester auf Landesebene vermitteln sich mit Fragen der Musikpraxis von einen besonderen Kick durch attraktive Aus- Kindern und Jugendlichen befasst. landsreisen. Berg ist bis heute als Orchesterdirigent, Die Qualität eines jeden Orchesters steht Chorleiter, Pianist und Publizist aktiv und fällt mit der künstlerischen Kompetenz und leitet in der Bundesvereinigung und dem pädagogischen Gespür des Diri- Deutscher Orchesterverbände das genten und dem Kommunikationstalent des Projekt „Wettbewerb für Auswahlor- Organisationsleiters. Der Dirigent sucht Werke chester“. aus, die das Orchester auf hohem Niveau FOKUS

Cornelius Meister: Orchesterführung und die Kunst der Körpersprache

DIRIGIEREN ohne Worte

tille ist ein Geschenk“, Mit dem Grazer Philharmonischen Orches- mit meiner Körpersprache dementspre- sagt Cornelius Meister, ter debütierte er im April im Wiener Musik- chend deutlich mache, dann kann ich den „S verein. In Heidelberg dirigiert er in dieser Sai- Redeanteil sehr gering halten. Deutschlands jüngster General- son Lortzings Wildschütz und Massenets Wer- musikdirektor. Und spricht damit ther sowie zwei Konzerte im Rahmen des Es gibt also keinen Streit zwischen auch bedingt seine Sichtweise internationalen Festivals „Heidelberger Früh- Cornelius Meister und Cornelius Meister zum vom Dirigieren und nonverbaler ling“. Verhältnis von Wort und Zeigen? Orchesterführung an. Für das MUSIKFORUM sprach Christian Meister: Als Dirigent versucht man Höppner mit dem Dirigenten. immer, die Probenarbeit noch effizienter Seit September 2005 hat der 25-jährige zu gestalten. Nachdem ich das gleiche Werk Meister die musikalische Leitung am Thea- mit verschiedenen Orchestern einstudiert ter und Philharmonischen Orchester der Stadt Als Dirigent sind Sie es gewohnt, habe, weiß ich genauer, mit welchen Wor- Heidelberg. Er studierte Klavier und Dirigie- Menschen zu führen. Welche Rolle, welches ten ich an einzelnen Stellen möglichst ren in seiner Geburtsstadt Hannover bei Kon- Gewicht hat dabei das Wort? schnell den gewünschten Effekt erziele. rad Meister, Zvi Meniker, Martin Brauß und Meister: Während der Vorstellung hat Natürlich ist dies auch das Ziel beim gleich- Eiji Oue sowie in Salzburg bei Dennis Rus- das Wort natürlich gar keine Rolle (lacht). zeitigen Anspruch einer möglichst geringen sell Davies und Karl Kamper. Im Endeffekt ist die Aufführung, das Kon- Probezeit. Das unterscheidet einen jungen 1996 gewann er den 1. Preis beim Süd- zert das Wichtigste. Bei aller Freude und Dirigenten wie mich von einem erfahrene- westdeutschen Kammermusikwettbewerb, Wichtigkeit, die ich für die Proben emp- ren Dirigenten, der für das gleiche Ergeb- 1998 den Radeberger Förderpreis und den finde, ist das Ziel immer die Aufführung. nis viel weniger Zeit braucht. Publikumspreis des Schleswig-Holstein Mu- Deswegen ist das Wort für einen Dirigen- sik Festivals und 2000 den Preis der Deut- ten immer nur ein Teil seiner Arbeit. Lässt sich das nonverbale Führen – schen Stiftung Musikleben beim Deutschen auch im Dirigierstudium – trainieren oder ist Musikwettbewerb. Der Deutsche Musikrat Gibt es bei Ihnen selbst einen das eher ein Erfahrungswert, der in der Aus- nahm ihn 2003 in die Bundesauswahl „Diri- permanenten Wettstreit zwischen Wort und bildung keine große Rolle spielt? gentenforum“ auf. dem weiten Feld nonverbaler Vermittlung? Meister: Ich denke, dass die praktische Als Assistent von Pierre Boulez wirkte er Meister: Meine Arbeit als Dirigent lässt Ausbildung immer die bessere sein wird, bei der Parsifal-Neuproduktion der Bayreuther sich in drei Bereiche unterteilen: Das in der man bei vielen Berufsorchestern Festspiele 2004 mit und assistierte Gianandrea Wichtigste ist natürlich die Bewegung, die hospitiert. Ich weiß gar nicht, ob man Noseda bei Proben mit den Göteborger Phil- Haltung. Was ich ausstrahle – so wird die sagen kann: Je weniger man redet, desto harmonikern. In der Spielzeit 2005/06 ist Musik klingen! Der zweite Bereich umfasst besser. Man muss einfach angemessen viel Cornelius Meister zu Opernvorstellungen und alle Dinge, die man in Worte fassen kann reden. Und ich merke ja selbst sehr schnell, Konzerten an die Hamburgische Staatsoper und manchmal auch muss. Manches kann wenn das Orchester auch nach der dritten und die Bayerische Staatsoper sowie zu den man nur begrenzt zeigen. Zum Beispiel Ansage für die gleiche Stelle immer noch Nürnberger Philharmonikern und dem Phil- eine bestimmte Artikulation. Ich würde nicht das gewünschte Ergebnis bringt. harmonischen Orchester Erfurt eingeladen. aber nach Möglichkeit niemals über ein Dann habe ich noch nicht die richtigen bestimmtes Tempo reden. Das würde ich Worte gefunden oder umgekehrt schon zu zeigen. Und der dritte Bereich, den ich viele Informationen gegeben. zunehmend wichtiger nehme, ist das Ein- richten des Notenmaterials. Das spart wahn- Ein Mitglied der Berliner Philharmo- sinnig viel Zeit. Wenn ich das Material gut niker erzählte, dass die Orchestermusiker – eingerichtet habe und das eine oder andere vereinfacht gesagt – sehr froh über Dirigenten

 38 MUSIK ORUM Ist im Zeitalter des multimedialen Informations-Overkills die Idee nonverbaler Führung auch auf andere Berufsebenen zu übertragen – zum Beispiel auf das Manage- ment in der Wirtschaft? Meister: Ich denke schon, dass im Gegensatz zu Videokonferenzen und E-mails das persönliche Gespräch völlig andere Möglichkeiten eröffnet. Man kann dabei über das Wort hinausgehen. Ich könnte es mir nicht so recht vorstellen, eine Orchesterprobe zu leiten, ohne direkt bei meinen Musikern zu sein. Allerdings habe ich in der letzten Spiel- zeit eine besondere Erfahrung in Hamburg bei der deutschen Erstaufführung von Peter Eötvös’ Angels in Amerika gemacht. In der Partitur ist vorgesehen, dass das Orchester nicht im selben Raum wie der Dirigent sitzt. Das Orchester war nur über Video und Akustikboxen mit mir verbun- den. Natürlich total wirklichkeitsgetreu (lacht). Das Orchester war scheinbar hin- ter einer Wand versteckt, spielte aber tat- sächlich irgendwo im siebten Stock. Das war schon extrem komisch. sind, die möglichst viel zeigen, viel ausstrahlen hatte ich bisher immer großes Glück. Ich (Beide lachen). und nicht so viel reden. Wie ist Ihre Erfah- mag es sehr zu proben und eigene Ein- rung? Sind Bereitschaft und auch die Fähig- studierungen zu machen. Das ist ein be- Abschließende Frage: Welchen keit, nonverbale Führung aufzunehmen, sonderes Erlebnis. Ich freue mich aber Stellenwert hat für Sie Stille? tendenziell im Schwinden begriffen? auch immer, wenn ich irgendwo hinkom- Meister: Ich bin einer der wenigen Meister: Ob ein Schwinden oder ein me und tatsächlich ohne Proben eine Pro- Menschen, die sehr dankbar sind, wenn es Ansteigen vorliegt, kann ich nicht sagen, duktion übernehme. Vor einigen Monaten im Restaurant, im Fahrstuhl, auf den Toi- weil ich einfach zu kurz dabei bin. Aber habe ich an der Staatsoper in München letten still ist. Im Taxi beispielsweise bitte ich bin sehr glücklich, dass die Orchester Hänsel und Gretel dirigiert – natürlich hat- ich immer den Fahrer, ob er das Radio durchgehend sehr aufmerksam und auch ten wir für diese Spielzeit nicht geprobt. ausschalten könne. Ich kann eben nicht sehr flexibel sind. Ich bin gewohnt, eine Und ich wusste, dass meine Interpretation eine Musik hören und mich im Kopf mit Oper beim zehnten oder 15. Mal in ein eine ganz andere sein würde als in den einer anderen Musik befassen – so wie und derselben Spielzeit durchaus verschie- Vorstellungen, die die Musiker vorher das Max Reger nachgesagt wurde. Stille ist den zu dirigieren. Das kann nur funktio- gespielt hatten. Aber alle waren hochkon- ein Geschenk, was noch viel mehr Men- nieren, wenn jeder extrem aufpasst. Da zentriert. Das war sehr schön. schen erfahren sollten.

»Was ich ausstrahle – so wird die Musik klingen«

Cornelius Meister (Foto: Steiner)

 MUSIK ORUM 39 AKZENTE

Die Fußball-WM steht bevor. Stadien werden einmal mehr zu „Festivalplätzen“ der Musik – polyfon intoniert von frenetisch krakeelenden Stimmen, Tröten, Trommeln und Rasseln. Noch rechtzeitig vor dem Anpfiff macht sich Reinhard Kopiez Gedanken zur Funktion von Fangesängen

o singen die Deutschen? WIn einer 1974 veröffentlich- ALLES NUR ten Umfrage des Volkskundlers Ernst Klusen wurden Vereine am häufigsten genannt, die Familie rangierte weiter hinten, knapp vor Kirche und Chor. Fußballstadien Gegröle? wurden von den Befragten hin- gegen gar nicht genannt.

Das Stadion war vor 30 Jahren also eher es ist Teil des Phänomens Fußball. Wissen- Bundesliga verfügen über ein Repertoire von ein Ort der Urlaute: nur Klatschen und Pfei- schaftliches Interesse fand das Phänomen je- 30 bis 50 Liedern, das sie ständig pflegen fen, Johlen und Buhen beherrschten den Schall- doch erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten. und nur langsam durch neue Melodien er- raum. Gesungen wurde allenfalls am Ende Außer der frühen und allgemein gehaltenen gänzen. Insofern wohnt dieser Subkultur – der Partie, wenn die Anhänger des siegrei- Verhaltensstudie der Fußballfans von Des- wie allen mündlich überlieferten Kulturen – chen Clubs ein Karnevalslied aus dem Jahr mond Morris aus dem Jahr 1981 gibt es bis ein konservativ-bewahrender Zug inne. Fan 1954 anstimmten: „So ein Tag, so wunder- heute nur eine einzige Feldstudie zum Sing- zu sein, stellt dabei erhebliche Ansprüche an schön wie heute.“ verhalten der Fans (Kopiez & Brink, 1998). die sängerische Kondition: Während eines Inzwischen hat sich das Bild grundlegend gewöhnlichen Bundesligaspiels kommt man gewandelt und englischen Verhältnissen an- Repertoire erfordert Kondition in den 150 Stadionminuten (90 Minuten Spiel, genähert. In England steht nämlich die Wie- je 30 Minuten Einsing- und Aussingphase) ge des Fangesangs und bereits in den 1960er Wodurch zeichnen sich nun die Gesänge auf gut 100 gesangliche Aktivitäten bei einer Jahren wurden vor Cup-Finalspielen Erbau- aus? Das Repertoire der Fans beschränkt sich Mannschaft. ungshymnen wie „Abide with me“ gesungen. nicht nur auf die drei, vier Lieder, die man Fußballspiele der oberen Spielklassen sind Heute ist das Singen der Fans aus europäi- grundsätzlich während der Fußballübertragun- immer auch Open-Air-Konzerte. Tausende schen Stadien nicht mehr wegzudenken und gen hört, sondern ist weit größer. Fans der von Zuschauern finden im Kollektivgesang

 40 MUSIK ORUM und rhythmischen Klatschen zu einer Fange- Wichtige Fußballspiele sind immer meinde zusammen, die Einfluss auf das Spiel- geschehen nehmen möchte. Vier Funktionen des Kollektivgesangs kann man beobachten: auch Open-Air-Konzerte ˇ Anfeuerung der eigenen Mannschaft, ˇ Huldigung einzelner Spieler-Idole bzw. Treuegelöbnisse an den Verein, ˇ Schmähung und Verhöhnung des Labbadia zur Melodie von „Vamos a la Pla- sangs stark gewandelt. Hat man sich früher Gegners, ya“. Als der Nigerianer Sunday Oliseh noch mehr am Volksliedgut und an Traditionals ˇ Ventil für die starke emotionale Anspan- beim 1. FC Köln spielte, ließen ihn die Fans orientiert, so sind es heute Schlager oder Er- nung eines jeden Fans. zur Melodie des Karnevalsliedes „Humba kennungsmelodien von Fernsehserien (sehr Fußball-Lieder sind dabei spontane Lie- humba tätärä!“ hochleben: „Sunday, Sunday, beliebt z. B. die „Flipper“-Melodie: „Wir sin- der. Daher sind wohl auch alle Versuche, den Sunday, Oliseh- Oliseh-Oliseh“. In der Regel gen Bochum, Bochum, Zweite Liga, wie ist Fangesang mit „verordneten“ und in „Lieder- sind die Gesänge jedoch kurz und gereimt. das schön, euch nie mehr zu sehn!“). Der büchern“ festgehaltenen Songs auszustatten, Folgender Klassiker, ursprünglich von Doris 1993 von den Pet Shop Boys populär ge- gescheitert. Nur in ganz wenigen Ausnahme- Day 1955 zum ersten Mal gesungen, gilt schon machte Song „Go west!“ fand binnen kur- fällen übernehmen die Fans ein komplettes als langes Lied: „Que sera, sera / what ever zem in allen Stadien Verbreitung und erfuhr Lied in Text und Melodie, so bei der Urhym- will be, will be, / the champions are we, are so viele Textvarianten wie es Vereine gibt. ne „You’ll Never Walk Alone“, zuerst 1963 we / que sera, sera.“ Wer diesen Text mani- Den Anfang machten die Fans von Schalke von Gary and the Pacemakers vorgetragen. puliert bzw. neu erfunden hat, ist beim Fan- 04: „Steht auf, wenn ihr Schalker seid!“ Allerdings sind in jüngerer Zeit (z. B. die Samm- gesang ebenso unbekannt wie beim Volks- lung „Lieder aus der Kurve“) Entwicklungen lied. Fangesänge bedienen sich ungeniert be- Einfache Endlosschleifen zu beobachten, die Liedertexte durch Ver- reits vorhandener Melodien und Lieder und schriftlichung auch über den Kreis der har- die Fans betätigen sich als „musikalische Al- Welche Eigenschaften muss eine Melo- ten Fans hinaus Stadionbesuchern bekannt lesfresser“: Oper, Pop und Karneval sind die die aufweisen, um Eingang ins Repertoire der zu machen. Ob diese angenommen werden, nie versiegenden Quellen neuer Gesänge. Das singenden Fans zu finden? Die Wahl der Sup- bleibt abzuwarten. Hauptgewicht der Fangesänge liegt dabei auf porter fällt stets auf klare, einfach struktu- dem Text, die Melodie ist sekundär. In der rierte Melodien oder auf Melodien, die sich Musikalische „Allesfresser“ Regel werden auf die gleiche Melodie meh- auf einfache Prinzipien reduzieren lassen. Bei- rere Texte gesungen. Das können wechsel- des ist wichtig für die mündliche Überliefe- Die Entstehung eines Fangesangs kann wie seitige Schmählieder zwischen rivalisierenden rung, durch die die Fansongs tradiert wer- folgt beschrieben werden: Um Texte auf be- Fangruppen sein oder auch wechselnde Kom- den. kannte Melodien zu singen, genügen oft schon mentare zum Spielverlauf. Vorteilhaft ist es auch, wenn die Melodie einzelne Spielernamen. Eine besonders schöne Die melodischen Vorbilder haben sich im bereits eine einkomponierte „Endlosschlei- Variante ist das Feiern des Stürmers Bruno Verlauf der 30 Jahre deutschen Stadionge- fe“ besitzt, wie dies beispielsweise bei „Gu-

 MUSIK ORUM 41 AKZENTE

antanamera“ der Fall ist. Dann eignet sich basiert aber nur auf rationalen Überlegun- die Melodie besonders für beliebige Wieder- gen und ist in dieser Konsequenz nicht an holungen. die Fans kommunizierbar. Letztendlich muss Fangesänge sind zwar spontane Lieder und dieser Widerspruch auch gar nicht aufgelöst die Massen singen ohne einen Dirigenten, werden, denn er ist Teil der Faszination des aber einen Animateur gibt es in der Regel Spiels. doch. Fast überall finden sich Anstimmer (so genannte „Chant-Leader“), die ihre Aufgabe rein stimmlich oder instrumental (z. B. mit wird nur für dieses Turnier zusammengestellt Literatur: einer Trompete) erfüllen. Dabei haben sich und hat keinen lokalen Bezug. Diese fehlen- Gumpp, Sebastian / Kohlhaas, Niels / Kurth, Sascha (Hg.): echte Stars in der Szene profiliert wie RWE- de Identifikation kann auch nicht durch Na- Lieder aus der Kurve. Gesangbuch für Fussballfans, Ham- Lothar, der Anstimmer von Rot-Weiß Essen, tionalstolz, etwa auf die „deutsche“ Mann- burg 2005 der vom Stadion im Chor („Lothar, wir bit- schaft, ersetzt werden. Beim Nationalstolz lie- Klusen, Ernst: Zur Situation des Singens in der Bundesre- ten dich!“) aufgefordert wird, mit seinem ge- gen wir nämlich nach den jüngsten Ergeb- publik Deutschland (2 Bände), Köln 1974-1975 waltigen Organ ein Lied anzustimmen. In Gel- nissen der European Values Study von 2003 Klusen, Ernst: Singen: Materialien zu einer Theorie, Re- gensburg 1989 senkirchen ist es „Schalke-Willi“, ein Dach- auf dem drittletzten Platz aller europäischen Kopiez, Reinhard / Brink, Guido: Fußball-Fangesänge. Eine deckermeister, der mit seiner Trompete die Länder. Zusätzlich sind auch die Fans zusam- FANomenologie, Würzburg 1998 Gesänge startet und begleitet. mengewürfelt und können nur den kleins- Morris, Desmond: Das Spiel. Faszination und Ritual des ten gemeinsamen Nenner des Repertoires Fußballs, München 1981 singen. Die Reaktionsprodukte aus den Kon- Strauß, Bernd: Wenn Fans ihre Mannschaft zur Niederla- takten zwischen Fans verschiedener Grup- ge klatschen, Lengerich 1999 pen sind das eigentlich Interessante. Die Über- nahme von Liedimporten aus anderen Län- Internet-Links: • Plattform zum Tausch und zur Dokumentation von Fan- dern wird sich jedoch erst mittelfristig in den U deutschen Stadien zeigen. gesängen: www.fangesaenge.de • Kostproben von Fans europäischer Mannschaften an- lässlich der Europameisterschaft 2004 in Portugal: Kontraproduktive Gesänge? U http://euro2004.ard.de/em2004/teams/fangesaenge Bleibt abschließend die Frage, ob ausrei- chende Fangesänge einen fußballerischen Er- folg garantieren. Hierauf hat die Sportpsy- Der Autor: chologie eine ernüchternde Antwort gefunden: Reinhard Kopiez studierte zunächst Wie Bernd Strauß von der Universität Müns- Gitarre (Konzertexamen) und promo- ter aufzeigen konnte, wirken sich lautstarke vierte 1990 mit einer Studie zu Übe- Publikumsreaktionen nur bei konditionellen methoden. Zwischen 1995 und 1998 Fußball-Karneval in Brasilien: Je südlicher die Standorte der Fußballarenen, desto Aufgaben positiv auf die Leistung von Sport- war er Professor für Systematische turbulenter und lauter das Fanverhalten. lern aus, jedoch negativ bei koordinativen Musikwissenschaft an der HfM Würz- Anforderungen, wie sie z. B. für komplexe burg. Seit 1998 lehrt er an der Hoch- Spielsituationen typisch sind. Fangesänge könn- schule für Musik und Theater in Han- Warum finden die Massenchöre gerade ten also im Sinne von Störschall mitunter sogar nover. Hauptforschungsgebiete: Musik im Fußball-Stadion zusammen? Hier spielen kontraproduktiv sein. und Emotion, musikalische Performance die Popularität der Sportart und die Größe Die Konsequenz daraus wäre ein für eine und musikalische Alltagskulturen. der Versammlungsorte eine Rolle. Vor allem gewisse Zeit stummes Stadion. Diese Einsicht ist es aber auch die zeitliche Dynamik des Fußballspiels mit seinem ausgewogenen Ver- hältnis von Höhepunkten und vorbereiten- den Abschnitten, die ideale Voraussetzung ist für die Freisetzung vokal geäußerter Emo- tionen; im Handball und beim Basketball gibt es einfach zu viele Höhepunkte (Tor- und Korberfolge), so dass sich Gesänge gar nicht erst aufbauen können. Im Fußball hingegen sind die Höhepunkte (Tore) eher rar. Was wird nun bei der kommenden WM an akustischen „Produkten“ der Fans zu er- warten sein? Aus Sicht der Fangesangsfor- schung wird die WM vermutlich eher ent- täuschend verlaufen. Eine wichtige Voraus- setzung für die Freisetzung zahlreicher Ge- sänge, die Identifikation mit der Mannschaft und dem Verein, entfällt: Die Mannschaft

 42 MUSIK ORUM Alle vereinnahmen den Jubilar: Marketingstrategen, Verleger und Buchautoren. Alle glauben, „ihren“ Mozart zu kennen. Jürgen Meier legt Missverständnisse um einen Komponisten offen, der sich immer auch als Freiheitskämpfer verstand Freier Geist, freie Lieder

DER »WAHRE KERN DER MOZARTKUGEL«

a stürzt sich nun, wer kann, gegründete „Mozart AG“ zu nutzen. Ob gar: „Mozart als Freimaurer ist viel ideali- Dauf diesen weltberühmten für Rasierklingen, Stahlschneider, Äpfel, siert worden.“ Konsequent hält Hildeshei- Jubilar, der bereits vor seinem Möbel, Pralinen, Hotelbetten oder für Bör- mer die Oper Zauberflöte, die ausführlich sengänge – Mozarts Name bürgt für Um- die Rituale und ethischen Grundsätze der 250. Geburtstag am 27. Januar satz, Seriosität und hohe Renditen. Freimaurer zeigt, für „überschätzt“. Zwar auf mehr als 20 000 Buchtitel Dabei stellt Mozarts Musik, wie Ador- folgt Melograni ihm nicht in dieser Einschät- blicken konnte, die über ihn ver- no schreibt, von sich aus nicht „die markt- zung, aber auch er erkennt nicht, wie diese öffentlicht worden sind. gängigen Emotionen bei, noch verhält sie Oper an die Vernunft und die Liebe der durch Pomp, Macht und rhythmische Be- Menschen appelliert, um die Erde mensch- Hunderte von neuen Büchern über fehlsgewalt den Konsumenten zu jener Art licher zu gestalten. „Wir wollen uns der Liebe Wolfgang Amadeus Mozart sind allein im von Gehorsam, die er sich wünscht. Trotz- freu’n, wir leben durch die Lieb allein“, sin- Jubiläumsjahr zusätzlich erschienen. Doch dem hat Salzburg seinen Touristenwert. gen Pamina und Papageno in einem Du- nicht die Buch- und Musikverlage hoffen Mozart wird durch mehrfache Fälschun- ett, der hohe Zweck der Liebe zeige „deut- auf ein gutes Geschäft. Seine Geburtsstadt gen adaptiert. Zunächst datiert man ihn lich an, nichts edlers sei als Weib und Mann. Salzburg hat Mozart zwar gehasst, dennoch zurück ins Rokoko, das er gerade sprengt. Mann und Weib, und Weib und Mann, rei- wirbt die Stadtverwaltung zugunsten der Es ist ein Rokoko, das von den Pralinéschach- chen an die Götter an.“ Hoteliers jetzt mit ihrem „Genius Loci“. Auch teln auf stilisierte Cembaloweiber mit Haar- Melograni banalisiert diese wunderschö- Wien will 30 Millionen Euro für Mozart- knoten, Kerzenlicht und Silhouette herun- ne Botschaft. Die Moral der Zauberflöte sei, Events ausgeben. Mozart-Briefmarken in Ös- tergekommen ist.“ 1 „dass man nur durch Leiden zum Glück terreich und Deutschland dürfen bei die- findet und edle Taten stets belohnt wer- ser Show natürlich nicht fehlen. Nicht nur den“. Die Zauberflöte, deren Libretto der die bekannten Schokokugeln mit Marzipan, Mozarts Werk: undenkbar Freimaurer Schikaneder schrieb, fordert die die „echten“ und die von Aldi, auch die ohne die Einbindung in Menschen auf zu Tugend, Verschwiegen- Äpfel aus der Steiermark sollen mit Mo- heit und Wohltätigkeit. Eigenschaften, die zarts Namen schneller ihre Käufer finden. den Kampf um Gleichheit damals wie heute nicht dem gesellschaft- „Mit Mozart sind wir auf der richtigen Spur,“ lichen Zeitgeist entsprechen. Mozarts Werk dozierte der Vorsitzende der Obstpartner und Brüderlichkeit ist nicht nur ein Geschenk seines Talents Steiermark (OPST), Gerhard Meixner, „mit an uns, sondern wäre sicher ohne die en- dieser Premium-Marke können wir insbe- An Adornos Fähigkeit, Mozart historisch gagierte Einbindung Mozarts in den dama- sondere in Italien, Spanien, Griechenland, zu begreifen und zu analysieren, reicht kei- ligen Kampf um Freiheit, Gleichheit und Deutschland, aber auch in Österreich Ni- nes der neu erschienenen Bücher heran. Brüderlichkeit nicht entstanden. schenmärkte bedienen.“ Mozarts Schaffenskraft kann eigentlich nur Ohne den aufklärerischen Geist des Re- Mozart ist von cleveren Marketingstra- begriffen werden, wenn man die Bedeu- genten von Wien, Joseph II., der die Frei- tegen zu einer Marke entfremdet worden. tung seines Engagements für die Freimau- maurerei gegen den Widerstand von Papst Mit „Mozart-Technik der Schärfe“ wurde rerei richtig einzuordnen versteht. Sie war Pius VI. verteidigte, hätte wohl keine der die Solinger Metallfirma „Steinbrück & seine ideologische Triebfeder. Wolfgang Hil- drei Opern Figaros Hochzeit, Don Giovanni Drucks GmbH“ so bekannt, dass man sich desheimer, an dessen Text sich Piero Me- und Così fan tutte entstehen können. Die entschloss die Marke „Mozart“ für die neu lograni geflissentlich orientiert, behauptet Opernkomposition gab Mozart am ehes-

 MUSIK ORUM 43 AKZENTE

ten die Möglichkeit, musikalisches Talent Mozart sei ein „nüchtern und aufgeklärt den- Logenbrüder so glanzvoll huldigten, wenn mit Einmischung in die Lebensgestaltung kender Mensch“ gewesen. Modebewusstsein er nicht die Botschaft der damaligen Frei- der Menschen zu verbinden. „Dies Moment sei nicht im Spiel gewesen, als er der Loge maurer in sich aufgesogen hätte. Nur aus ist es,“ schreibt Adorno, „wodurch selbst in beigetreten sei. Denn „als die Logen schließ- großartigem Talent kann Kunst nicht ge- der Musik, trotz ihrer Ungegenständlich- lich von der Geheimpolizei überwacht wur- deihen. „Reicht euch der ew’gen Freund- keit, die Unterscheidung des Formalismus den, hat sich Mozart besonders deutlich auch schaft Bruderhand“, heißt es in einem die- als eines leeren Spiels und dessen anwendbar in der Öffentlichkeit als Freimaurer bekannt, ser Texte, „die nur ein Wahn, nie Wahrheit ist, wofür kein besserer Terminus zur Ver- obschon er daraus eher Nachteile befürchten euch so lang entzog. Zerbrechet dieses Wah- fügung steht als der anrüchige von der Tie- musste“. nes Bande! Zerreißet dieses Vorurteiles fe.“2 Mozart wurde am 14. Dezember 1784 Schleier! Enthüllt euch vom Gewand, das Mozart lernte den Librettisten seiner aus Überzeugung Freimaurer. Wie sonst hätte Menschheit in Sektiererei verkleidet!“ 3 Opern Figaros Hochzeit, Don Giovanni und er Lieder und Kantaten komponieren kön- Mozarts Musik ist in diesem Sinne tief ge- Così fan tutte, Da Ponte, in der Freimaurer- nen, die den Geist und die Aufgabe der spürte gattungsmäßige Emotionalität, die loge kennen, jenem Bund, in dem sich sei- sich gegen eitle Sektiererei der Aristokratie nerzeit die revolutionären Geister trafen. zur Wehr setzte. „Tugend tut die Mensch- Joseph II. akzeptierte einen in Frankreich Auklärung im Don Giovanni: heit ehren; sich und andern Liebe lehren von Ludwig XVI. verbotenen Text von Beau- Liebe allein garantiert nicht sei nun stets die erste Pflicht“, heißt es in marchais für die Oper Figaros Hochzeit. Am den Fortschritt der Mensch- einem anderen Mozartlied. 4 1. Mai 1786 wurde diese Oper in Wien heit, wenn dieser mit sozialer Unterwürfigkeit uraufgeführt, was drei Jahre später viele Mozart folgte seinem Herzen Revolutionäre als „vorgezogene Französi- einhergeht. (Szenenbild aus einer sche Revolution“ bewerteten. In dieser Oper Aufführung der Opera In keiner der Buch-Neuerscheinungen erfährt Figaro von seiner künftigen Frau Vest, Bergen, Norwegen) werden diese Lieder, komponiert für die Susanna, dass der Graf, dem beide zu Diens- Festlichkeiten in der Loge, ernsthaft mit der ten stehen, von ihr das „Recht auf die erste Schaffenskraft des gefeierten Komponisten Nacht“ fordert. Figaro ersinnt nun ein tol- in Verbindung gebracht. Aber gerade in die- les Verwirrspiel. Das einfache Volk, in Gestalt ser gattungsmäßigen Emotionalität liegt Mo- des Dieners Figaro, zeigt sich als schlauer, zarts Aktualität noch immer begründet. Denn dabei aber stets menschlicher Gegenspie- noch immer halten wir die Konkurrenz- ler des Aristokraten. kämpfe von Konzernen und Menschen für Martin Geck behauptet gar, die Freimau- ein Naturgesetz. Mozart komponierte, un- rerloge sei für Mozart nur eine Art Vater- ter historisch sicher anderen Bedingungen, ersatz gewesen. Damit verkennt er die welt- gegen diese falsche Ideologie. Er sang mit anschauliche Basis der Schaffenskraft Mo- seinen „Brüdern“: „Süß der Gedanke, dass zarts völlig. Volkmar Braunbehrens schreibt, nun die Menschheit wieder Stätte, wo je- des Bruderherz ihm, was er war, und was er ist, und was er werden kann, so ganz be- stimmt, wo Beispiel ihn belehrt, wo echte Bruderliebe seiner pflegt und wo aller Tu- genden heiligste, erste, aller Tugenden Köni- gin, Wohltätigkeit in stillem Glanze thront. Dieser Gottheit Allmacht ruhet nicht auf Lärmen, Pracht und Saus, nein, im Stillen wiegt und spendet sie der Menschheit Se- gen aus.“5 Wenn das keine Botschaft an jene Mar- ketingexperten ist, die aus Mozart eine Marke für ihre bornierten Geschäftserfolge machen wollen! Aber auch für jene sollten diese Zeilen ein Signal sein, die nicht bereit sind, gegen die Sektiererei zu kämpfen, die den einzelnen Erfolg höher wertet als den gat- tungsmäßigen Fortschritt. Mozart folgte in vielerlei Hinsicht seinem „Herzen“. Im Don Giovanni wird deutlich, dass die Liebe allein nicht den Fortschritt der Mensch- heit garantiert, wenn dieser sich mit sozia- ler Unterwürfigkeit paart. „Hab’s verstan- den, gnädiger Herr!“ singt Masetto, der zu „lichten Höhn“ der Erkennt- Geliebte des Bauernmädchens Zerlina, die nis und Lebensumstellung füh- seinen „Herrn Giovanni“ für sich begehrt, ren wird, ist natürlich eine Fra- „höflich dankend geh ich fort. Weil es so ge des Bewusstseins, das sich an denn euch beliebt, sag ich nicht ein einzig den konkreten Klassenverhält- Wort!“ Masetto ist ein Feigling, er kämpft nissen einer Gesellschaft orien- nicht um die Liebe seiner Zerlina, die aller- tieren muss. Was in der Zauber- dings ebenfalls vom Reichtum und Char- flöte noch auf die „heiligen Hallen“ me ihres Herren so geblendet ist, dass sie der Freimaurer beschränkt blieb, dessen Anmache fast mit offenen Armen sollte allgemein gelebtes Leben empfängt. Beide Eigenschaften sind dem der Menschen werden, so jeden- modernen untergebenen Arbeiter und An- falls stand Mozart der Sinn. gestellten nicht so fremd. Zwar haben sich Dass die Zauberflöte auch die die Anzüge der Herren stark verändert, auch Herzen der modernen Menschen ihr Charme hat sich längst auf die Vorstel- bewegt, macht die Sehnsucht lung reduziert, dass Geld erotisch mache, deutlich, mit der wir noch immer doch die Beziehung von „oben“ und „unten“ versuchen, unser Leben nach gat- gibt es noch immer. tungsmäßigen, also nach mensch- Auch im Diener des Giovanni, Lepo- heitlichen Gesichtspunkten zu rello, kann sich der moderne Mensch durch- ordnen. Wir wollen nicht Räd- aus erkennen, wenn dieser singt: „Keine chen in einem objektivierten Ruh’ bei Tag und Nacht, nichts, was mir Marktmechanismus sein, der al- Mozart lebte und gestaltete Vergnügen macht, schmale Kost und we- lein Kapitalinteressen folgt, son- nig Geld, das ertrage, wem’s gefällt! Ich will dern wollen als Menschen zu Sub- seine Utopie vom besseren, selbst den Herren machen, mag nicht län- jekten wachsen, die die abstrak- ger Diener sein. Gnäd’ger Herr, Ihr habt ten Kategorien der Ökonomie vom menschlicheren Leben – gut lachen! Tändelt Ihr mit einer Schönen, bewusst und demokratisch prä- ohne Romantiker zu sein dann muss ich als Wache fröhnen. Ich will gen. Die „Tiefe“ Mozarts gefällt selbst den Herren machen, mag nicht län- allerdings den Marketingexper- ger Diener sein.“ Mozart bietet Orientie- ten nicht. Die vielen Entfremdungen in un- rung in eine Richtung, die jenen Herrschaften serem Leben bewusst zu machen und zu Literatur: allerdings gegen den Strich geht, die den fühlen, ist deren Sache nicht, leben sie doch Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bände 7 Meister heute nur deshalb lauthals umju- gerade von diesen unseren Entfremdun- /14 /16, Frankfurt am Main 2003 beln, weil sein Name ihr Geschäft oder An- gen. Barz, Paul: Mozart, München 2005 sehen zu heben verspricht. Doch warum sollten wir eigentlich nicht Braunbehrens, Volkmar/Jürgens, Karl-Heinz: Mozart – „Nur gewaltsam, oder gelegentlich, wird der Botschaft des Sarastros in der Zauber- Lebensbilder, Bergisch Gladbach 2005 man bei Mozart, in dessen Musik so deut- flöte folgen wollen, in dessen Arie es heißt: Hildesheimer, Wolfgang: Mozart, Frankfurt/M. 2005 lich der Einstand zwischen spätem aufge- „In diesen heil’gen Hallen kennt man die Melograni, Piero: Wolfgang Amadeus Mozart, München 2005 klärten Absolutismus und Bürgerlichkeit – Rache nicht, und ist ein Mensch gefallen, Goethe tief verwandt – widerhallt, antago- führt Liebe hin zur Pflicht. Dann wandelt Geck, Martin: Mozart, Reinbek 2005 nistische Momente musikalisch identifizie- er an Freundes Hand vergnügt und froh ren können. Vielmehr ist gesellschaftlich ins bessre Land. In diesen heil’gen Mau- bei ihm die Gewalt, mit der seine Musik in ern, wo Mensch den Menschen liebt, kann Der Autor: sich selbst zurückgeht.“ 6 Mozart lebte und kein Verräter lauern, weil man dem Feind Jürgen Meier studierte Film, Foto, gestaltete seine Utopie vom besseren, vom vergibt. Wen solche Lehren nicht erfreun, Grafik, Psychologie, Philosophie menschlicheren Leben. Er war aber kein verdienet nicht, ein Mensch zu sein.“ und Kunstgeschichte und drehte Romantiker, sondern ein wahrhafter Künst- Sicher ist der Weg in dieses „bessre Land“ Dokumentarfilme u. a. für den MDR ler, der den Menschen mit den Mitteln seiner noch ein langer und dornenreicher. Aber und den NDR. Seit 1997 arbeitet er Kunst das eigene entfremdete Leben ins er klingt mit Mozarts Noten nicht nur schön, als freier Autor und Publizist u. a. für Selbstbewusstsein zauberte, um eine Ka- er ist auch möglich! Deutschlandradio Kultur, Deutsch- tharsis der eigenen Seele zu ermöglichen. landfunk Köln, SWR 2, NDR Kultur, Wem beim Hören und Sehen der Zauber- Rheinischer Merkur, Frankfurter flöte die Tränen rollen, der ist deutlich sicht- 1 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 16, Rundschau, taz und Psychologie bar im Begriff, seine Seele zu reinigen. Mit Frankfurt am Main 2003, S. 291. Heute. 2005 erschien sein Buch kitschiger Sentimentalität, wie sie manch 2 ebd., Band 7, S. 455. „Eiszeit in Deutschland“. 3 zarte Seele bei Pilcher-Filmen überkommt, KV 619. 4 KV 623a. haben Zauberflötentränen nichts gemein- 5 KV 623. sam. Ob diese Tränenkur im Alltag allerdings 6 Adorno, a. a. O., Band 14, S. 252-253.

 MUSIK ORUM 45 WIRTSCHAFT

Computerspiele wären eigentlich ein ideales Umfeld, um Klassik oder auch Neue Musik bei den jüngeren Hörern bekannter zu machen, sagt Johannes Ulbricht Musik in PC-Spielen

omputerspiele und Musik, erst recht klassische Musik – Dass Computerspiele längst kein Ni- das klingt zunächst nach einem krassen Gegensatz. schenprodukt mehr für Freaks sind, sieht C man bereits daran, dass die Branche sich Computerspiele gelten in der öffentlichen Wahrnehmung nach anschickt, die Filmwirtschaft umsatzmä- wie vor nicht als Kunst oder Kultur, sondern als eine Art mentale ßig zu überholen. Für eine ganze Gene- Schmuddelecke für tendenziell gewaltbereite Einzelgänger. ration sind die Computerspiele und nicht mehr Film und Fernsehen zum Leitme- Dieses Vorurteil gibt es zwar nicht ganz ler betritt man nicht nur in technischer, dium geworden. grundlos, aber es ist eben – wie andere sondern auch in künstlerischer Hinsicht Zudem stehen Computerspiele auch Vorurteile auch – in seiner Pauschalität ständig Neuland. Auch insoweit passt der in einem Kontext, in dem ungewöhnli- unwahr: Natürlich sind viele Computer- Vergleich zum Kinofilm Anfang des 20. che Musik, aber auch klassische Musik spiele brutal und geschmacklos, aber eben Jahrhunderts. vom Publikum positiv nachgefragt wird. nicht alle. Computerspiele sind – ähn- Und natürlich gibt es auch Compu- Damit wären die Spiele eigentlich ein ide- lich wie der Kinofilm Anfang des 20. Jahr- terspiele, die künstlerisch besonders an- ales Umfeld, um Klassik oder auch Neue hunderts – ein neues Massenmedium und spruchsvoll sind. Bei fast allen Spielen Musik bei den jüngeren Hörern bekann- eine neue Kunstform mit eigener ästhe- hört man im Spiel Musik. Die Gestal- ter zu machen. Es ist eigentlich schade, tischer Formensprache, die von Außen- tung eines Computerspiel-Soundtracks dass diese Chance derzeit noch nicht stär- stehenden leicht missverstanden wird. kann für den Komponisten mindestens ker genutzt wird. In künstlerischer Hinsicht sind Com- ebenso anspruchsvoll sein wie die Ge- Für deutsche Musikverlage, Label oder puterspiele allein schon deswegen span- staltung einer Filmmusik. Anders als bei Künstlermanager ist der Kontakt zur nend, weil durch die rasante technische einem linearen Film muss man bei ei- Gamesbranche allerdings schon deswe- Weiterentwicklung tagtäglich Dinge mög- nem interaktiven Spiel berücksichtigen, gen schwer zu finden, weil ein Großteil lich werden, die gestern noch unmög- dass die Dramaturgie der Handlung vom der Spiele nicht in Europa, sondern in lich waren. Als Computerspielentwick- Spielerverhalten abhängt, muss die Mu- den USA oder in Asien produziert wird. sik hieran anpassen. Außerdem ist zu be- Deutschland ist aus Sicht der Branche in denken, dass ein Computerspieler viel erster Linie ein Absatzmarkt; deutsche unmittelbarer am Geschehen teilnimmt Computerspielentwickler spielen weltweit als ein Filmzuschauer. nur eine marginale Rolle – vielleicht auch

 46 MUSIK ORUM Spiele und „Spielemusiker“: Für PC-Games wie The Fall und Everlight (Abb.: Silver Style Entertainment) Musik zu komponieren heißt, Sound-Ideen dynamisch auf Spielsituationen hin anzupassen. Christopher Dierks (oben links am Tonpult) und Marph, Musiker im Berliner Techno-Duo „Electrixx“ (Bild rechts mit Gitarrist Erik Venhues), schaffen Atmosphäre für Entertainment-Software.

– DIE UNGENUTZTE CHANCE?

eine Folge des „Schmuddel-Images“, das der Diese verbesserte Möglichkeit, Musik in Gamesbranche hier lange Zeit anhaftete. Den- Games zu präsentieren und zu promoten, Wie PC-Games noch: Auch in Deutschland gibt es gute Spie- sollte man aus Sicht der Musikwirtschaft unbe- leentwickler. Und: Diese dynamische Bran- dingt nutzen: Es gibt kaum ein anderes Um- entstanden, che hat Luft für Veränderungen, ein zukünftiger feld, in dem man die jugendlichen Hörer so welche soziale und Aufschwung der deutschen Spieleentwick- direkt und unmittelbar erreichen kann. Der lung ist keineswegs ausgeschlossen. weltweit größte Computerspielhersteller Elect- ökonomische Rolle ronic Arts (EA) hat das Potenzial der Verbin- Tarifreform der GEMA dung von Musik und Games schon längst sie spielen und befördert Games-Musik erkannt und ist den umgekehrten Weg ge- gangen: Er hat einen eigenen Musikverlag wie sie heute Bis vor kurzem noch gab es ein Problem, gegründet, um das Repertoire, das er durch entwickelt werden das die Nutzung von anspruchsvoller Musik seine Spiele bekannt gemacht hat, langfristig in Computerspielen behinderte: Die GEMA auszuwerten. Von Werner Bohl hatte zwar Tarife für Musik in Computer- spielen, doch waren die objektiv überteuert Tennis for two, 1958 von dem Amerika- und trugen auch ansonsten vielen praktischen Der Autor: ner William Higinbotham konstruiert, war Bedürfnissen der Gamesbranche nicht Rech- Dr. Johannes Ulbricht ist als Anwalt in vermutlich interaktive Computer- nung, etwa der Notwendigkeit, ein Compu- der Hamburger Musik- und Medien- spiel, das es einem oder mehreren Benut- terspiel mit einem spielbaren Demo zu be- kanzlei Michow Rechtsanwälte tätig. zern ermöglichte, ein durch implementier- werben. Die GEMA hat nun aber in aner- Seine Schwerpunkte: IT-/Internetrecht, te Regeln vorgegebenes Spiel zu spielen. kenneswerter Weise ihren Tarif für den Games- Wettbewerbs- und Namensrecht sowie Was ursprünglich mit technischen Hoch- bereich (den Tarif VR-AV DT-H 3) reformiert. Computerspielrecht. Privat arbeitet er schul-Experimenten begann, entwickelte Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass diese als Drehbuchautor für PC-Games. sich seit den 50er Jahren des vergange- Reform erfolgreich war, denn die Einnahmen nen Jahrhunderts zu einer der bedeutends- aus diesem Bereich sind spürbar gestiegen ten Formen der Freizeitgestaltung in un- (auch wenn sie noch immer vergleichsweise serer heutigen Zeit. Beschleunigt wurde die gering sind). Entwicklung der PC-Games mit den ersten

 MUSIK ORUM 47 WIRTSCHAFT

Heimcomputern in den späten 80ern, als freilich noch weitgehend getrennte Me- dien für PC und spezielle Spielkonsolen (Videospiele) angeboten wurden. Vermark- tungsstrategien führten in der Mitte der 90er wieder zu einer Synthese der beiden Bereiche. Einheitliche Speichermedien und kompatible Hardware machten Spiele für PCs und Konsolen gleichermaßen nutzbar und ermöglichten konstengünstigere Ent- wicklung und den Aufbau eines Massen- markts. Heute sind Games nicht mehr al- lein die Domäne von Konsolen und PCs, sondern auch fester Bestandteil von Han- dys und PDAs. Entscheidend für die Ent- wicklung ist schließlich auch die weltwei- te Vernetzung der Computerspiele, die nicht mehr nur auf einem PC gespielt wer- den, sondern bei denen mehrere Spieler und ganze Teams über zentrale Game- server via Internet mit- oder gegeneinander spielen. Gefahr„Gaming“? Obwohl Computerspiele heute Teil un- serer Kultur sind und ihr Einfluss auf mo- derne Gesellschaften durchaus schon ver- gleichbar ist mit dem anderer Massen- medien, werden sie gerade in Deutsch- land oft skeptisch und kritisch beurteilt. Eine Akeptanz als Kunstgattung wie Film, Musik, Literatur oder Malerei findet das »In Spielen kann ich mich PC-Game hierzulande kaum. Gründe mö- gen die kurze, mit dem technologischen Fortschritt verknüpfte Geschichte des Computerspiels sein, auf bloßen Konsum in Filmkomponist als War es nicht eine Umstellung, Musik und Zeitvertreib ausgelegte Inhalte und E „Computerkomponist“? für ein Computerspiel zu komponieren? die oft kontrovers diskutierte Gewaltdar- Warum nicht, sagte sich der Christopher Dierks: Schon, genau wie stellung und -anwendung in den Games. beim Film kann man bei Spielen zwar für Hamburger Christopher Dierks. Erst im November des vergangenen verschiedene Charaktere sich entwickeln- Jahres hat eine Studie der Berliner Chari- de Leitmotive schreiben, aber die lineare Nach jahrelangem Geigenunterricht am té festgestellt, dass jeder zehnte Spieler Abfolge ist – zumindest in den meisten Hamburger Konservatorium und als Mitglied Symptome von Abhängigkeit entwickele, Fällen – nicht mehr gegeben. Der Spieler verschiedener Hardrock-Bands, studierte die durchaus mit solchen von Alkoholikern entscheidet selbst, wann er sich in welche Dierks von 1998 bis 2001 bei Eric Reasoner und Rauschmittelabhängigen vergleichbar Situationen begibt und wie lange er darin (Music Editor bei Robin Hood, Lethal Weapon seien. Dass über Computerspiele, auch wenn verweilt. Die Musik muss in der Lage sein, 3/4, Swing Kids), Richards Davis (Autor von sie Gewaltaktionen beinhalteten, Aggres- das dynamisch zu unterstützen. Gleichzeitig „Complete Guide to Film Scoring“) und Mi- sionen herangezüchtet würden, wurde frei- darf sie natürlich in „Ruhephasen“ weder zu chael Rendish am renommierten Berklee lich nicht bestätigt. eintönig noch zu aufdringlich sein, denn College of Music in Boston Filmkomposition. Die Beurteilung des Computerspiels, das führt dazu, dass der Spieler sie abschal- Seitdem schreibt er Musik für Werbung und hierzulande oft sehr emotional vorgetra- tet, und damit auch einen relativ großen Filme. gen, spaltet die Gesellschaft weiter. „Ga- Aspekt dessen, was die Entwickler benut- Dann, 2003, begab sich Dierks (30) auf ming“ wird durch Politiker in der Öffent- zen, um Atmosphäre zu schaffen. neues Terrain: Für die Firma Duplex Systems lichkeit vielfach als Gefahr und selten als komponierte er die Musik für das Compu- Chance dargestellt. Und offensichtlich ist Worum geht es in dem Game? terspiel Face of Mankind. Für das es ein „Generationenthema“: Jüngere Men- MUSIK- Dierks: Das Spiel ist ein „MMORPG“ sprach Kristin Bäßler mit dem Kom- schen gehen vorbehaltloser und unkom- FORUM (Massively Multiplayer Online Role Playing ponisten. plizierter mit dem Medium um, erkennen Game). Das heißt: Tausende von Menschen vielleicht auch Chancen, es für sich indivi- können gleichzeitig online miteinander duell und kreativ zu entwickeln. ! agieren. Das Spiel ist angesiedelt in der

 48 MUSIK ORUM Vom Film- zum Computerspiel- Spielebranche über- komponisten: Christopher Dierks flügelt Filmwirtschaft schrieb die Musik zu „Face Of In vielen Ländern bilden heute Com- Mankind“ und machte positive puterspiele die wichtigste Art der Unter- Erfahrungen haltung, haben sich um sie herum eigene Industrien aufgebaut, die umsatzmäßig die Filmbranche überholt haben. Asien zeigt, dass nicht nur durch unmittelbare Absät- ze der Spielewirtschaft, sondern insbeson- dere durch die damit verknüpften Märkte und Branchen ein unglaublicher wirtschaft- licher Motor angekurbelt werden kann. Aber auch in Deutschland sind PC-Spiele bemerkenswert erfolgreich: 2004 wurden ca. 60 Mio. Stück Unterhaltungssoftware mit einem Marktwert von 1,3 Mrd. Euro umgesetzt. Dazu kommen noch mehr als drei Milliarden für Hardware. Ohnehin kön- nen PC-Hersteller dem Spieltrieb dankbar

© Duplex Systems sein: Anspruchsvolle Games verlangen nach hoher Rechenleistung und sind Triebfeder für technische Entwicklung. Der allgemei- ne Multimedia-Hype basierte nicht auf Text- verarbeitung und Tabellenkalkulation, die Leistung der Grafik- und Soundkarten wur- de allein durch die Herausforderungen auf- wändiger PC-Spiele forciert. ˇ Mittlerweile hat die erste deutsche Universität eine Professur geschaffen, die sich „explizit der Erforschung von Compu- musikalisch ausleben« ter- und Videospielen in ihrer Gesamtheit“ widmet. In Ilmenau sollen die Konzeption, Nutzung, Vermarktung und Wirkung von digitalen Spielen erforscht werden. Zukunft, aber eigentlich gar nicht so reali- Wie sah die Arbeit konkret aus? tätsfremd; es geht nicht um Drachen und Dierks: Ich schrieb diverse Themen für Feen. Figuren und Atmosphären, bis wir uns da- Spieleentwicklung Jeder spielt sich selber, oder den, der er rüber einig waren, die richtigen gefunden gerne sein möchte. In einem Setting, das zu haben. Viele Layouts sind als mp3-Video- ist Teamwork der Entwickler ihm zur Verfügung stellt. In daten zwischen uns hin- und hergegangen. Die Zeiten, in denen kreative „Solokünst- diesem Fall eine Welt, etwa 400 Jahre in Dann probierten wir verschiedene Ansätze ler“ Computerspiele entwickelten, sind weit- der Zukunft. Ansonsten ver walten sich die aus, die Musik sinnvoll unterzubringen – im gehend vorbei. Heute werden kommer- Spieler – Polizei, Armee, Händler, Mafia – Sinne von verschiedenen Überleitungen, zielle Games zumeist in Developer-Studios weitestgehend selbst. (www.fomportal.com) Loops etc., die alle miteinander funktionie- von umfangreichen Teams erarbeitet. Hier ren können, um das dynamische Reagieren finden sich Produzenten, Autoren, Game- Welche Auflagen mussten Sie berück- auf Situationen im Spiel zu gewährleisten. und Grafik-Designer, Programmierer, Le- sichtigen im Hinblick auf die Zielgruppe und Am Schluss ging es natürlich noch da- vel-Entwickler, Tongestalter und Musiker das Thema des Spiels? rum, die Musik fertig zu produzieren und zusammen. Die Anzahl der Beteiligten und Dierks: Eigentlich war ich dabei relativ in das richtige Format zu bringen. Das pas- auch die Entwicklungsdauer sind mit der frei. Wie mit einem Filmregisseur auch, sierte in meinem Studio in Hamburg und immer komplexer werdenden Technolo- besprach ich mich mit Marko Diekmann aus Budgetgründen weitestgehend mit gie und dem gewachsenen Anspruch an (Geschäftsführer und Haupt-Programmie- virtuellen Instrumenten. das multimediale Ergebnis angestiegen. rer von Duplex Systems, die Red.) und wir Die Produktion eines zeitgemäßen, kom- entwickelten zusammen die musikalische Wie geht ein Filmkomponist damit merziellen Spiels dauert etwa ein bis drei Atmosphäre im Spiel. Ehrlich gesagt, haben um, sich auf ein völlig anderes Niveau „run- Jahre und kostet zwischen einer bis 15 Mil- wir eher auf unseren eigenen Geschmack terzuschrauben“, sofern dies überhaupt der lionen US-Dollar. Die Produktionskosten gehört, als uns darüber den Kopf zu zer- Fall ist? werden oftmals von so genannten Publi- brechen, was wohl die Zielgruppe gerne Dierks: Das ist nicht der Fall. Das Tolle shern getragen, die später das fertige Pro- hören würde. an vielen Spielen ist, dass man sich dort dukt vertreiben und vermarkten.

 MUSIK ORUM 49 WIRTSCHAFT

musikalisch ausleben und abstruse Dinge Berlins Musikproduzent Marph cherplatz, der heutigen Spielen zur Verfügung ausprobieren kann. Vieles von dem, was im sieht die Chancen deutscher steht.“ Die Spieleentwickler hätten zudem er- deutschen Fernsehen läuft, ist – auch was kannt, dass die „50/50-Regel“ – 50 Prozent die Musik angeht – ziemlicher Einheitsbrei. Game-Komponisten realistisch: Musik, 50 Prozent Film – ihre Wirkung hat. Mir kommt es so vor, als könne man im Immer mehr setzten sie auf komplexes Mu- Moment bei den Spielen mutiger sein. Und sikmaterial, das Hollywood-Filmen in nichts merkwürdigerweise wird der Musik von nachstehen soll. Seiten der Entwickler und auch der Kritiker »Nur Qualität Der 27-jährige Soundbastler – er betreibt oft ein höherer Stellenwert zugeschrieben, die Firma „Virtual-Game-Music“ und das als das bei TV-Produktionen der Fall ist. Musiklabel „Electrixx-Media“ – sieht prinzi- überzeugt« piell durchaus Zukunftschancen für Kompo- Teilen Sie die Auffassung, dass nisten in der Games-Branche: „In heutigen Computerspiele ein „Nischenprodukt für Spielen sind viele Movie-Szenen enthalten, schmuddelige Freaks“ sind, oder muss man „Die Chance, als Musiker einen Auftrag als auf die der Spieler keinen Einfluss mehr hat mit diesem Vorurteil aufräumen? Sounddesigner oder Komponist für Compu- und die ohne gute Musik natürlich nicht wirken Dierks: Wenn man sieht, welch einen terspiele zu bekommen, ist momentan eher würden. Von klassischen Ouvertüren bis hin großen Teil der Freizeit Jugendliche (und gering.“ Der Berliner Mediengestalter und zu brettharten Gitarrenriffs ist da alles vertre- auch viele Erwachsene) mit Spielen verbrin- Musikproduzent Marph (Martin Liedtke) ist ten.“ gen, kann man sicherlich sagen, dass dies Realist: „Die Macher der Spiele sitzen haupt- Angesichts der noch „unterbelichteten“ deut- ein Vorurteil ist. Computerspiele sind ein sächlich in den USA oder Asien und die ha- schen Entwicklerszene und der geringen Ent- Teil der Jugendkultur geworden. Davon ben ihre eigenen Leute.“ faltungsmöglichkeit für Komponisten, ist der kann man halten, was man will. Es ist so. Doch der Komponist des Electro-Techno- ehemalige Sänger des Leipziger Thomaner- Projekts „Electrixx“, „Jamba!“-Sounddesigner chors sicher: „Überzeugen kann man nur durch Sehen Sie die Zukunft des Filmkom- und Radiospot-Macher hat als freier Mitar- Qualität.“ Die technischen Voraussetzungen ponisten auch in der Nische der Computer- beiter selbst schon am „Klangbild“ von er- müssten ohnehin vorhanden sein: „Ein gutes spiele? Gibt es hier eine echte Chance? folgreichen Games wie Hidden Stroke oder Sequenzer-Programm mit Timecode und Film- Dierks: Sicherlich. Die großen Themen Galaxy 2010 mitgewirkt. „Der musikalische Import und jede Menge Soft-Synths oder Hard- und Leitmotive sind ja grundsätzlich nicht Anspruch bei Computerspielen ist in den ware, um einen zeitgemäßen und qualitati- anders als in Filmen. Wenn man es schafft, vergangenen Jahren extrem gestiegen“, weiß ven Sound zu fahren.“ die Umstellung auf einen nicht-linearen Ab- Marph. „Wo noch vor kurzem monofone Me- Ansonsten müsse man viele Hürden über- lauf sinnvoll zu verwirklichen, und wenn man lodien, 8-Bit-Sound oder der reine GM-Stan- winden, wenn man sich zum Job des Game- spezielle Anforderungen wie technisches dard herrschte, sind heute komplexe Szenen- Komponisten berufen fühle. „Da helfen nur Verständnis und eine gewisse Leidenschaft Musiken und zum Teil auch Songs gefragt, besondere Attribute wie Qualität, Quantität für Computer mitbringt – warum nicht? die man aus dem Radio kennt. Das liegt na- und Nerven…“ U www.christopherdierks.de türlich hauptsächlich an dem größeren Spei- U www.electrixx.de

Entwickler Carsten Strehse über Soundtracks für PC-Spiele: »Anspruch ist sehr hoch«

„Ähnlich wie beim Film ist die Musik in Games beim Film bestimmten Spielgenres und ein entscheidender Träger von Emotionen“, Themen musikalische Stilrichtungen zuge- betont Carsten Strehse, Inhaber von Silver ordnet. Der Spieler erwartet in einem Fan- Style Entertainment, einer der wichtigsten tasy-Rollenspiel einfach einen orchestralen Entwicklungs- und Vermarktungsfirmen von Soundtrack. Innovative Musik hat in dem Entertainment-Software in Deutschland. Moment eine Chance, in dem sie zum Ein professioneller und passender Sound- Spiel passt. track, so Strehse (32), sei für ein Computer- spiel in den vergangenen Jahren unabding- Zu welchem Prozentsatz werden bar geworden. Das MUSIKFORUM sprach Spiele mit speziell für das Game produzierter mit dem Games-Entwickler. Musik ausgestattet? Woher werden die übrigen Musiken bezogen? Welche Genres und Stilformen von In der Regel wird für jedes Spiel eigens Musik kommen für Games in Frage? Hat Musik produziert. Auf vorhandene Daten- Carsten auch innovative Musik eine Chance? banken wird nur selten und für eher preis- Strehse Grundsätzlich sind nahezu alle Musik- günstige und qualitativ weniger hochwertige richtungen vertreten. Allerdings sind wie Games zurückgegriffen.

 50 MUSIK ORUM „Spiel-Wiese“

Seit fünf Jahren ist Leipzig mit der „Games Convention“ das Mekka der Computerspiel- Branche. 2005 informierten sich dort 134 000 Besucher über aktuelle Games, Hardware und Info- und Edutainment. In diesem Jahr findet die Messe vom 24. bis 27. August statt – Gelegenheit für ein meist junges Publikum, in einer der vielen „Gamer Zones“ (Bild) die Neuerscheinungen auf dem Spielemarkt „auf Bits und Bytes“zu testen. Die Spielemacher treffen sich am Rande der Messe auf der Entwicklerkonferenz (GCDC, 22.–24. August).

Bild: Leipziger Messe GmbH/Frauendorf

Muss sich stets die Komposition an der Designer eingeht, denn sie wissen na- wirklich stark verbreitet ist. Gewisse Vorur- die Erfordernisse des Spiels anpassen oder gibt türlich am besten, was den Spieler bewegt. teile gibt es natürlich, gerade in den älteren es auch Freiräume für den Komponisten? Generationen. Aber jeder, der sich mal Es gibt genügend kreativen Freiraum für Wie verläuft die Zusammenarbeit ernsthaft mit einem guten Computerspiel den Komponisten. Entscheidend ist die zwischen dem Software-Hersteller und dem auseinander gesetzt hat, versteht, dass es enge Zusammenarbeit zwischen den Desig- Komponisten? sich um ein sehr schönes und vielschichti- nern des Spiels und dem Musiker. Erst In der Regel geht ein Softwarehaus auf ges Hobby handelt, das von allen Alters- wenn klar ist, welcher spielerische Schwer- einen Komponisten zu und bietet die Zu- gruppen betrieben werden kann. punkt in einer bestimmten Situation vor- sammenarbeit an. Allerdings gibt es auch herrscht, ist der Komponist in der Lage, sie Initiativbewerbungen von Musikern. An- Finden Filmkomponisten in der passend musikalisch zu untermalen. schließend werden das Spiel selbst, die Nische der Computerspiele eine realistische musikalische Stilrichtung, der Umfang des Zukunft? Wie sehen die wirtschaftlichen und Auftrags, die zur Verfügung stehende Zeit Computerspiele sind bereits seit Jahren rechtlichen Aspekte von Games-Musik aus? und das Budget besprochen. Oft folgt dann keine Nischenprodukte mehr. Die Games- Stichwort: GEMA? noch eine eigens angefertigte Arbeitsprobe branche schreibt weltweit wesentlich höhere Der Großteil der Musiken in Games ist des Musikers, damit sich beide Parteien Umsätze als die Film- und Musikindustrie. aufgrund des Kostenfaktors GEMA-frei. Ich auch wirklich sicher sind, thematisch über- Die Wachstumsraten liegen ebenfalls weit- sehe hier auch kurzfristig keine Änderung. einzustimmen. Anschließend nimmt der aus höher. Leider wissen das die Wenigsten. Zwar gab es zwischen der Games-Industrie Komponist seine Arbeit auf, wobei er stets Aber natürlich liegt hier auch eine Chance und der GEMA bereits einen regen und eng mit den Designern des Spiels kommu- für Filmkomponisten. Die Konkurrenz ist auch nicht völlig ergebnislosen Austausch, niziert und regelmäßig den aktuellen Status allerdings groß und der Anspruch sehr hoch, doch im Kern änderte sich nichts. Grund- präsentiert. So können eventuelle Ände- da sich viele Musiker bereits auf Games sätzlich ist der wirtschaftliche Aspekt von rungswünsche frühzeitig geäußert werden. spezialisiert haben. Gamesmusik bei Weitem nicht ausgereizt Ist die Arbeit des Musikers getan, werden und die Industrien täten gut daran, sich die Stücke in das Spiel eingebaut und man Die Berliner Software-Entwicklungsfirma Silver Style enger zu verzahnen. kann die Gesamtwirkung beurteilen. Entertainment, bereits 1993 gegründet und heute 21 Mitarbeiter stark, gehört mittlerweile umsatzmäßig zu Inwiefern bedeutet es eine Umstellung, Was ist von der verbreiteten Sicht- den Top-Ten in Europa. Erfolgreichste Produkte des Musik für ein Computerspiel zu komponieren? weise zu halten, die Computerspiele in einer Unternehmens sind die 3D-Rollenspiele The Fall, Soldiers of Anarchy und Gorasul, das Adventure-Game Ein guter und flexibler Komponist hat „Schmuddelecke“ ansiedelt und als Hobby zur TV-Serie Der Clown und die Sportsimulation RTL damit keine Probleme. Entscheidend ist, gewaltverherrlichender Freaks betrachtet? Fußballmanager Anpfiff. dass er auf die Wünsche und Vorstellungen Ich denke nicht, dass diese Auffassung U www.silver-style.com

 MUSIK ORUM 51 NEUE TÖNE

Eine 46-teilige SWR2-Sendereihe vermittelt Aufbrüche, Rückblicke und Zeitläufte zeitgenössischer Musik

Erlebte

Armin Köhler GESCHICHTE

er schreibt eigentlich Ausgewählt wurden 33 Autoren aus 17 dies gab die Möglichkeit, im Nachhinein vir- Musikgeschichte? Nationen, u. a. Louis Andriessen, Juan Allen- tuelle Gesprächsrunden zusammenzusetzen, W de-Blin, Konrad Boehmer, Pierre Boulez, El- thematisch zu ordnen und zu sortieren“, sagt Sind es nicht zunächst jene liot Carter, Mauricio Kagel, Georg Katzer, Gott- Köhler. Dabei sitzen die „Unvereinbaren“ um Zeitgenossen, die tönende fried Michael Koenig, Wilhelm Killmayer, Hel- einen virtuellen radiofonen Tisch und „dis- Gebilde in die Welt setzen? mut Lachenmann, György Ligeti, Younghi kutieren“ über die vorgegebenen Themen. Eine Frage, die nur im ersten Pagh-Paan, Krzysztof Penderecki, Henri Pous- „Die Komponisten, die ja jeweils an einem Moment als selbstverständlich seur, Wolfgang Rihm, Frederik Rzewski und anderen Ort gefragt wurden, kommen so im erscheint. Karlheinz Stockhausen. Die Gespräche fan- Radio an einem scheinbar gemeinsamen run- den zwischen Januar 2003 und Sommer 2005 den Tisch zusammen und verhandeln die gro- an verschiedenen Orten Europas statt. ßen Themen der jüngeren Musikgeschich- Für Armin Köhler, Redakteur beim Süd- Dazu Armin Köhler: „Die Erlebte Geschichte te“, berichtet Köhler. Eine besondere Brisanz westrundfunk (SWR) und Leiter der Donau- ist zwar eine musikgeschichtliche Sendereihe, erhalten diese Runden durch die Tatsache, eschinger Musiktage, Anlass genug, um am nicht zuletzt geht es aber auch um zeitge- dass von Elliot Carter, Jahrgang 1908, bis zu Beginn eines neuen Jahrhunderts all jene Kom- schichtliche Phänomene. Die Personen sind Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, Künstler aus ponisten zu befragen, die nach 1950 aus un- die Befragten und die Auslöser für bestimm- verschiedenen Generationen in einen imagi- terschiedlichen Kulturen und Sozialisationen te Phänomene.“ nären Dialog treten. heraus maßgeblich in das „Rad der Geschichte“ Zweites Formprinzip sind Hörbilder mit eingegriffen haben. Gepräche und Hörbilder Musik, historischem O-Ton-Material und an- deren zeitgeschichtlichen Elementen, in de- Die Sendereihe des SWR unterteilt sich nen die einzelnen Komponisten an Hand in zwei Gruppen von Sendungen, die unter- persönlicher Erlebnisse ihre Perspektive auf schiedliche Herangehensweisen und vielleicht die hinterfragten Phänomene schildern. Das auch unterschiedliche Hörweisen verlangen: Hörbild Mauricio Kagel konzentriert sich zum die virtuellen Gesprächsrunden und die um Beispiel auf dessen Ausbildungssituation in jeweils eine Person zentrierten Hörbilder. Argentinien und Karlheinz Stockhausen be- Bei den virtuellen Gesprächsrunden wur- leuchtet seine frühe kompositorische Tätig- den alle Künstler mit den gleichen Fragen keit im elektronischen Studio und seine frü- konfrontiert. Dies war auch notwendig, „denn hen Prägungen unter anderem durch sein

 52 MUSIK ORUM Elternhaus. Die Erlebte Geschichte ist mithin ˜ auch eine Geschichte in Geschichten. Sie doku- Die neue Sendereihe Erlebte Geschichte läuft im „Klangraum“ des mentiert vornehmlich Zeitgeschichte. SWR2 vom 3. April bis 28. Mai Musikgeschichte entsteht aber auch ver- (jeweils zwischen 23 und 24 Uhr). mittels der Fragen, die an die tönenden Ge- Warfen in der „Hörgeschichte der bilde gerichtet werden. So wird Geschichte Musik des 20. Jahrhunderts“, die SWR2 immer wieder neu geschrieben. Die Fragen vor einigen Jahren sendete, Publizisten, der Sendereihe konzentrieren sich sowohl auf Musikwissenschaftler und Feuilletonisten kompositionstechnische als auch auf zeitge- einen Blick auf diese aufregende Zeit, sind schichtliche und soziale Komplexe: Gab es es in der Erlebten Geschichte die Kompo- sie wirklich, die „heroischen“ Lagerkämpfe nisten selbst, deren Aussagen zu neuen Einsichten in die Musik dieser spannen- oder sind sie reine Legende des Feuilletons? den Jahrzehnte verführen wollen. Wie war das mit der Kategorie des Neuen in Die Sendereihe möchte nachspüren, der Musik und war die serielle Kompositi- wie von Protagonisten einer Zeit, in die- onsmethode tatsächlich eine Sackgasse der sem Falle von Komponisten aus unter- Geschichte, wie von vielen Publizisten nach schiedlichen Ländern und Kulturen sowie wie vor behauptet? Gab es ihn, den Fortschritts- unterschiedlichen Sozialisationen, heraus- wahn in der Kunst? Woher rührt die zentra- ragende, tief in das gesellschaftliche le Bedeutung der zwölftönigen Kompositi- Bewusstsein eingebrannte künstlerische Erscheinungen eines bestimmten Zeitab- onsmethode im europäischen Musikdenken? einen Seite kommt es in der Musikentwick- schnitts wahrgenommen und aus welchen Stand im Zent-rum des Denkens eher das lung zu einer permanenten Ausdifferenzie- gesellschaftlichen, künstlerischen und Abschaffen denn das Schaffen neuer Formen rung und auf der anderen Seite wächst in sozialen Quellen diese gespeist wurden. und Werte? War Cage ein Komponist oder der Gesellschaft der musikalische Analpha- Ergänzt wird die Sendereihe durch ein doch nur Scharlatan? Wo liegen die künstle- betismus. Für uns wird es immer schwieri- umfangreiches Internetangebot. Dort gibt rischen, politischen und sozialen Wurzeln der ger, musikalische Probleme an den Mann oder es Audiofiles mit Hörbeispielen aller Sen- einzelnen Lebensläufe? Und wie prägte die an die Frau zu bringen. Deshalb suchen wir dungen, Komponistenbiografien, eine Erfindung der Elektrizität das Musikdenken auch nach neuen Sendeformen. Zum einen Chronik der Ereignisse, ein Glossar zu Be- griffen der zeitgenössischen Musik u. v. m. in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- soll die Reihe für den Spezialisten interes- U www.SWR2.de/erlebte-geschichte hunderts? sant sein, der dieses und jenes gewiss schon weiß, obwohl zwei, drei Aspekte neue Wer- Journalistischer Spagat tungen einbringen werden. Andererseits geht es um den Neugierigen, der die Namen Stock- Zielgruppe der Erlebten Geschichte sollen hausen oder Boulez vielleicht schon einmal nicht nur Musikspezialisten sein. Im Gegen- gehört hat und als historisch Interessierter nun teil. „Wir Rundfunkjournalisten haben es mit einen weiteren Schritt in diesen Kontext hi- einem permanenten Spagat zu tun. Auf der nein tun kann.“ „Komponieren ist immer ein Wagnis“: Postermotive zur Sendereihe Erlebte Geschichte.

 MUSIK ORUM 53 »NACH

ie Alte Musik in Europa ist in „Dden letzten 15 Jahren unge- heuer farbig geworden“, freut sich Joachim Held, einer der bedeu- tendsten deutschen Lautenisten. „Farbig, weil europäische Künstler mit vielen unterschiedlichen Grund- mentalitäten und Aspekten an die Musik herangehen.“

Gerade ist Held von einer Tournee mit der italienischen Mezzosopranistin Cecilia Bar- toli zurückgekehrt und bereitet nun eine Serie von Einzelkonzerten vor. Im MUSIKFORUM- Gespräch, das Hans Bäßler führte, nimmt er zu den Fragen Stellung, wie Alte Musik in einer Zeit, in der alles „irgendwie“ verfügbar und nichts wirklich bekannt ist, zu interpre- tieren ist, was das Publikum erwartet und wie man sich trotz zahlreicher Konzerte eine ei- gene Unbekümmertheit bewahren kann.

Wie kann man die gegenwärtige Situation der „Alten Musik“ insgesamt in Europa beschreiben? Joachim Held: Wir haben hervorragen- de Zentren für Alte Musik, sowohl in Deutschland, in den Niederlanden, Frank- reich und Spanien als auch nach wie vor in England, sodass die verschiedenen He- rangehensweisen an so reiche Musikkultur eben auch mit unterschiedlichsten Aspek- ten bedient wird. Wenn wir z. B. die Heran- gehensweise eines italienischen Ensembles mit der eines englischen Ensembles verglei- chen, dann werden dort ganz unterschied- liche Aspekte betont: sehr temperamentvoll, kräftig, solistisch oder in einem schönen war- men polyfonen Ensembleklang eingebettet. Oder in Frankreich, wo sehr viel leichter, sehr zivilisiert, genau überlegt, ästhetisch mit den Verzierungen arbeitend interpretiert wird. Das sind Grundmentalitäten.

 54 MUSIK ORUM PORTRÄT

Lautenist Joachim Held: Wie in der neuen Zeit Alte Musik zu interpretieren ist

DER MODE ZU SPIELEN, IST ungesund«

Kann man sagen, dass es so etwas ter rekrutieren kann. Das heißt, die Musiker Held: Für die Stimmung bedeutet das wie einen bestimmten Aufführungsstandard spielen alle Barockinstrumente und tun dies 442 bis 445 Hertz. im Umgang mit „Alter Musik“ gibt, hinter neben ihrem normalen Dienst. Zudem wer- den man nicht mehr zurückgehen kann – den für das barocke Repertoire ausgewiese- Kann eine Zusammenarbeit mit und zwar unabhängig von individuell ausge- ne Fachleute als Dirigenten angefragt. Wo- Sängern bei Opernproduktionen tatsächlich prägter Stilistik? mit zwei viel versprechende Elemente be- möglich sein, die am Vorabend z. B. „Othello“ Held: Ein wichtiger Standard ist die stehen, die für andere Häuser oder andere gesungen haben und dann Händel oder gar Beherrschung des jeweiligen Instrumenta- Orchester zukunftsweisend sind: einerseits Monteverdi singen sollen? riums und die Kenntnis der Quellen. die klanglichen Grundlagen, zum anderen Held: Ich glaube, dass gute Sänger diese die Kompetenz eines Dirigenten. Flexibilität haben. So habe ich das auch er- Kann man denn Alte Musik auch lebt. Es hängt davon ab, wer dirigiert. In der ohne Quellenkenntnis interpretieren? Ist die Arbeit für jemanden, der wie Oper hat man als Instrumentalist nicht so Held: Sie wird ja nach wie vor ohne Sie ausschließlich Alte Musik macht, eigentlich viele Einflussmöglichkeiten, mit denen man Quellenkenntnis gemacht und dafür gibt es anstrengend in einem Haus, das aufgrund des den Sängern helfen kann. Es ist entscheidend, auch sehr prominente Beispiele. Aber ich Repertoirealltags stilistisch vielseitig arbeiten dass der Dirigent die richtigen Impulse gibt. glaube die Zeiten sind vorbei, in denen man muss? unreflektiert ein Repertoire spielen kann. Dies Held: Aus professioneller Sicht würde Nun ist die Laute eines der leisesten gilt nicht nur für die Alte Musik, sondern ich das nicht anstrengend nennen. Es ist Instrumente in einem Ensemble. Kann sie das auch für das späte Repertoire. Übrigens gilt mühsam, z. B. mit einem Cellisten Rezitative musikalische Geschehen überhaupt voran- das auch für die verwendeten Instrumente, bringen oder ist das ein Irrglaube? denn man kann durchaus auf modernen In- Held: In der Oper benutzt man mög- s-trumenten reflektiert und fundiert spielen lichst kräftig klingende Instrumente und die wie auf alten Instrumenten unreflektiert. »Morgens Erfahrung zeigt, dass eine Theorbe [tief gestimmte Laute des 16. bis 18. Jahrhun- Wie wird mit alten Instrumenten, derts, d. Red.] in der Oper durchaus lauter speziell Blas- und Streichinstrumenten, umge- aufwachen und sein kann als ein Cembalo. So kann man gangen? Bei der Laute stellt sich das Problem dann doch das musikalische Geschehen ja nicht, weil die Laute immer ein Nachbau ist. Laute üben. beeinflussen und in diesem Sinn das Ganze Held: Auf den authentischen Gebrauch voranbringen. In der Rolle des Continuo- wird immer mehr Wert gelegt. Zum Beispiel Wunderbar!« spielers ist man in einer spannenden Situa- sehe ich, dass in einigen modernen Orches- tion. Einerseits sollte man selbstbewusst tern barocke Bögen oder Darmsaiten be- und geradezu solistisch Impulse setzen, nutzt werden, wenn entsprechendes Reper- zu spielen, der eigentlich gar nicht weiß, andererseits darf man den Mitspielern nicht toire gespielt wird. Man versucht, mit den wie man Rezitative spielt und diese Art der etwas mit einem Übermaß an Selbstdarstel- notwendigen Elementen eine stilgerechte Spielweise gar nicht gewohnt ist. Darum lung aufzwingen. und klanglich adäquate Wiedergabe zu er- haben Häuser wie München eine Continuo- reichen. gruppe plus Barock-Violoncello besetzt. Das Nun ist ja über viele Jahre die Laute hat sich auch bewährt. München ist durch fast ganz aus dem Bewusstsein verschwunden. Sie spielen in Halle immer wieder mit Ivor Bolton zu einem Trendsetter geworden: Inzwischen freut man sich über jede Inszenie- einem normalen Opernorchester. Was ändert Für Händel- oder Monteverdi-Opern nimmt rung einer Oper, in der Lauten besetzt sind. sich dabei im Hinblick auf die Aufführungs- man das Orchester des Theaters und holt Wem ist es zu verdanken, dass die Laute oder praxis? für die Fachinstrumente Spezialisten. die Theorbe eine Renaissance erleben? Held: Halle ist das einzige Haus in Held: Da muss man vor allem Nikolaus Deutschland, das ein ganzes Barockorches- Was bedeutet das für die Stimmung? Harnoncourt nennen. Seit den 60er Jahren

 MUSIK ORUM 55 PORTRÄT

beträchtliche Anzahl herausragender Kom- Wenn man es quantifiziert: Wie viele positionen für die Laute. In diesem Zusam- professionelle Lautenisten wird es etwa in menhang möchte ich so bekannte Namen Deutschland geben? wie Vincenzo Capriola und Albert de Rippe Held: Ich sage jetzt einfach mal zehn, (der Hoflautenist von Francois I.) nennen. die wirklich professionell tätig sind. Um das Jahr 1600 gaben in England die berühmten Komponisten John Dowland, Und kann man davon leben? John Johnson und Francis Cutting den Ton Held: Als ich 1983 meine Aufnahme- an, in Frankreich Lautenisten wie Francois prüfung in Basel bestand, fragte mich der Du Faut, die Familie Gautier oder Charles damalige Rektor der Musikakademie, Mouton. Im Deutschland des 18. Jahrhun- Rudolf Kelterborn, was ich nach dem Stu- derts taten sich der berühmte Sylvius Leo- dium machen wolle. Ich antwortete naiv, pold Weiss und Joachim Bernhard Hagen dass ich selbstverständlich vom Konzertie- hervor. Glücklicherweise kann man immer ren leben wolle. Seine Antwort, dass ich noch hervorragende Musik finden, die mir da viel vorgenommen hätte, wurde mir gänzlich unbekannt ist. So wurde z. B. im sinngemäß erst später klar, als ich merkte, Schloss Harrach in Österreich gerade ein dass die Tätigkeit als Spieler sehr wohl nicht Manuskript gefunden, das viele unbekannte nur Höhen, sondern auch Tiefen kennt. Suiten von Weiss enthält. Doch: Wenn man sich der Herausforderung wirklich stellen will, dann gibt es durchaus Und was die Editionen angeht? die Möglichkeit, gut davon zu leben. „Die Laute ist ein heikles und diffiziles Held: Da wird viel getan. Man muss Instrument“: Joachim Held. immer bedenken, dass die Auflagen von Zurück zum Repertoire: Kann man Faksimiles oder anderen Ausgaben unge- als Lautenist stilistisch die Zeit von 1530 bis heuer klein sind. Das heißt, die einzelne 1780 mit ihren einzelnen europäischen schuf er wichtige Produktionen für die Ausgabe ist sehr aufwändig und relativ Schulen wirklich überschauen oder muss man Alte Musik. Durch sein weltweites Renom- teuer. Glücklicherweise schreckt das aber sich spezialisieren? mé haben dann immer mehr Dirigenten die wahrhaften Enthusiasten nicht ab, sich Held: Bei der ungeheuren Menge an nach so seltenen Instrumenten wie Gambe in diesen Bereich zu engagieren. Repertoire und den damit verbundenen oder Laute gefragt. Es hat sich gezeigt, dass vielen Instrumenten, muss man sich ein- diese ungewöhnlichen Instrumente sehr Muss man eigentlich als konzertieren- schränken. Ich versuche, mich phasenweise wohl in einem größeren Kontext sinnvoll der Künstler selbst auch versuchen, Dinge in auf ein bestimmtes zeitlich begrenztes Re- eingesetzt werden können. Nur dadurch ist Bibliotheken zu entdecken? pertoire zu konzentrieren. Für meine Arbeit es Spielern möglich geworden, von ihrer Held: Unbedingt. Für mich persönlich spielen die Renaissance- und Barocklaute Kunst auch leben zu können. war es ein glücklicher Umstand, an der sowie die Theorbe eine entscheidende Rolle. Schola Cantorum in Basel studiert zu haben. Barockgitarre und Romantische Gitarre Momentan gibt es nur wenige Solo- Dort wurde einem das differenzierte Umge- abende auf der Laute, obwohl sie ohne Zweifel hen mit den Quellen und das Repertoire, ein aufregendes Konzertinstrument ist. Ist der das noch vielfach in den Bibliotheken Eindruck richtig, dass es ein Ungleichgewicht schlummert, so nah gelegt, dass man kaum im Vergleich zu anderen Instrumenten gibt, anders konnte als weiterzuschauen, um noch etwa zum Cembalo? nicht veröffentlichtes Repertoire differenziert Held: Vom Gefühl her würde ich sagen: kennen zu lernen. Ein Beispiel ist meine Dem ist so, obwohl ich es zahlenmäßig nicht Beschäftigung mit dem Hamburger Schele- so verfolgen kann. Die Zahl der internatio- Manuskript. Das habe ich jetzt nal konzertierenden Solocembalisten ist für Hänssler Classic aufge- natürlich größer als die der Sololautenisten. nommen. Meines Erachtens ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es sich weiter herumspricht, Hat man auf einem dass die Laute auch als Soloinstrument zu solchen Fachgebiet den Kontakt beglückenden Konzertergebnissen führt. zu Musikwissenschaftlern, die sich ebenso spezialisiert haben? Wie ist denn die Situation bezüglich Held: Sicher. Der Aus- der Literatur? Für das Cembalo scheint es ein tausch zwischen den Lauten- Meer von Kompositionen zu geben, was für musikforschern und -spielern die Laute vermutlich nicht gilt. Ist dies richtig ist sehr wohl da. Man unter- oder gibt es nur ein editorisches Problem? hält sich. Und es wird inner- Held: Die Bandbreite der Lautenliteratur halb dieser kleinen Zirkel ist geradezu fantastisch und übersteigt sogar publiziert, was es an Neuigkei- die Breite des Repertoires des Cembalos. ten gibt. Es ist ein befruchtendes Schon seit dem Jahr 1500 haben wir eine Miteinander im Gespräch.

 56 MUSIK ORUM »Mein Wunsch?

Nicht weniger Von anderen Interpreten Alter Musik Moden und dem Zeitgeschmack richten. weiß man, dass sie unter der permanenten Das ist ungesund. arbeiten, aber Beschleunigung des Lebens leiden, weil sie kein richtiges Tempogefühl entwickeln können. Wenn ein 20-Jähriger, der schon konzentrierter!« Empfinden Sie das auch so? vier, fünf Jahre Laute spielt, gerne Lautenist Held: Ja, aber dem muss man sich viel- werden möchte – welchen Rat sollte man ihm leicht nicht immer aussetzen. Jeder hat so geben? Kann es eine Lebensperspektive sein seine Art. Ich habe viel mit Italienern ge- und wie ist die Ausbildungssituation? spiele ich auch ein wenig, aber aus zeitlichen spielt. Eine wunderbare Erfahrung, diese Held: Ich glaube sehr wohl, dass das Gründen eher nebenbei. Art von Temperament und Geschwindig- Lautenspiel eine gute Perspektive sein keit zu erfahren. Und doch erkennt man, kann. Die Anerkennung für Lautenisten Welche Wünsche haben Sie als dass man selber anders ist. Die Erkenntnis ist in den vergangenen 15 Jahre enorm Musiker? Als 45-Jähriger kann man ja noch der eigenen Langsamkeit ist vielleicht für gestiegen, und sie werden immer mehr nicht sagen: Ich habe schon alles gespielt. die heutige Zeit nicht unbedingt typisch. gefragt. Noch ist es so, dass relativ wenige Held: Nach den vielen Jahren mit lan- Ich glaube aber, für den Interpret ist es relativ viel zu tun haben. Aber wenn es gen Reisen wäre ich dankbar, für die Erar- ganz wichtig, sich selber treu zu bleiben. regional mehr fundiert ausgebildete Spieler beitung neuer Projekte mehr Zeit zu haben, gibt, kann natürlich ein Teil des „Lauten- und würde gerne die Gewichtung mehr Auf Ihrer jüngsten CD fällt eine sel- Tourismus“ entfallen. Die Ausbildungssitua- auf Kammermusik und Solokonzerte legen. tene Sicherheit des Zeitempfindens auf. tion ist immer noch recht gut. An den be- Die Arbeit soll nicht weniger werden, da- Das Instrument, so der Eindruck, sträubt sich rühmten Akademien in London, Den Haag, für ist es viel zu früh, aber konzentrierter. einfach in bestimmter Form gegen eine Basel oder Amsterdam kann man hervor- Extrovertiertheit. Man hat das Gefühl, dass ragend Laute studieren. In einem Umfeld, Ein gerade verstorbener Organist Sie ein anderes Zeitempfinden haben und fast in dem man viel Kontakt mit Ensembles erzählte stolz, das Schöne sei, dass er immer außerhalb des Alltags stehen. Die Musik Alter Musik und entsprechenden Instru- improvisiere, denn da brauche man ja nicht kommt aus einer ganz tiefen, inneren Ruhe. menten hat. Bei der Auswahl des Studien- zu üben. Ist Üben eine Qual? Ist das so etwas wie ein Ziel Ihres Musizie- orts würde ich die Konzentration auf Alte Held: Ich finde das überhaupt nicht. rens, dass es aus Ruhe heraus entsteht? Musik an die erste Stelle setzen. Also, wer die Gnade hat, wie Horowitz Held: Für meine Persönlichkeit ist das oder Rubinstein mit einer umwerfenden so sicher richtig. Im Übrigen ist es ein Was ist Ihr nächstes Projekt? Begabung geboren zu sein, sodass Üben spannender Aspekt unseres Berufs, die Held: Ich werde eine Solo-CD für wirklich nicht nötig ist – dem sei es zugebil- Eigenheiten der eigenen Persönlichkeit mit Hänssler Classic in Zusammenarbeit mit ligt. Aber ich glaube, unter den Lautenisten den passenden Ausdrucksmöglichkeiten dem Deutschlandfunk in Köln aufnehmen. gibt es noch nicht so viele Genies. Es ist und Stilkenntnissen zu verbinden. Aus Dort werde ich Lautenmusik des deutschen ein diffiziles und heikles Instrument, und dieser Kombination kann ein individueller Barock spielen. Danach steht eine längere ich finde es wunderbar, morgens aufzuwa- Ausdruck entstehen. Man sollte meines Tournee mit dem Freiburger Barockorches- chen und Laute üben zu können. Erachtens seine Spielweise nicht nach den ter und Cecilia Bartoli auf dem Plan.

Der „umtriebige“ Lautenist Joachim Held, geboren 1963 in Hamburg, erhielt seine musikalische Ausbil- dung an der Schola Cantorum Basiliensis bei Eugen Dombois und Hopkinson Smith. 1988 schloss er das Studium mit dem „Diplom für Alte Musik“ ab. Von 1988 bis 1990 studierte er bei Jürgen Hübscher an der Musikhochschule Karlsruhe und legte dort die künstlerische Abschlussprüfung ab. 1990 gewann Held den 2. Preis beim Concours Musica Antiqua des Flandern-Festivals in Brügge. Von 1990 bis 1997 hatte er einen Lehrauftrag für Laute an der Musikhoch- schule Heidelberg-Mannheim inne. Seit 1997 unterrichtet er am Konservato- rium in Hamburg. Seit 1992 spielte Joachim Held bei mehreren Produktionen unter der Leitung von René Jacobs u. a. in Berlin, Paris, Lissabon, Montpellier und Tokio. 1993 wirkte er unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt bei L‘incoro- nazione di Poppea im Rahmen der Salzburger Festspiele mit, in den folgenden Jahren unter dessen Leitung u. a. in Madrid, Toulouse, Lissabon, Wien und Graz (Styriarte), 2004 bei der Produktion des King Arthur von Henry Purcell in Salz- burg. Mit Giardino Armonico arbeitet Held seit 1992 regelmäßig bei Konzer- ten und Aufnahmen zusammen, 2005 auch beim Monteverdi-Zyklus in Genf. 1996 erschien Helds erste Solo-CD I grandi liutisti milanesi del Cinquecen- to. 2005 spielte er eine Auswahl des Schele-Manuskripts aus dem Jahr 1619 für Hänssler Classic ein. 2006 soll für dasselbe Label eine CD mit Werken österreichischer Komponisten des Barock für Barocklaute erscheinen.

 MUSIK ORUM 57 DOKUMENTATION

Ein Gespräch mit Hannelore Thiemer

JE MEHR KULTUR, UMSO BESSER DIE europäische Integration

unächst war sie Referentin für Die langjährige Referentin und Projektleiterin des Deutschen Zinnerdeutsche Beziehungen Musikrats über 30 Jahre innere und auswärtige Kulturarbeit und Referentin des Generalsekre- tärs des Deutschen Musikrats. Viele Jahre später, dann zuständig für die lesen und dann daraus vierteljährliche Gut- Künstleragentur der DDR für beide Seiten neuen Bundesländer, kümmerte sie achten für das Innerdeutsche Ministerium offizielle Projekte durchführen. sich um den Aufbau der Landes- zu erarbeiten. Ab 1978 wurde es dann et- musikräte und die Akquise der was offizieller. Da bekam ich Kontakte zu Haben Sie etwas von dem bevorste- nötigen Mittel: Hannelore Thiemer den Ständigen Vertretungen in Ost-Berlin henden Umbruch von 1989 geahnt? geht am 1. Juli – nach 30 Jahren und Bonn und über die Europäische Regio- Thiemer: Über die bestehenden Prob- nalgruppe – das ist heute der Europäische leme wurde schon gesprochen, natürlich Tätigkeit für den Deutschen Musik- Musikrat – Kontakte zum Musikrat der nur hinter vorgehaltener Hand. Unsere rat – in den Ruhestand. DDR. Der DDR-Musikrat war für die Kon- Kontaktpartner waren ja alle Offizielle. So takte nach außen zuständig. Für Innen- wurde auch viel über die Probleme der Etappen ihrer Arbeit: 1991 übernahm sie Kontakte war der Komponistenverband SED und ihres Zentralkomitees diskutiert. das Projekt „Edition Zeitgenössische Musik“ verantwortlich, der daher sehr viel Einfluss und die Vorbereitung des Projekts „Musik in besaß. Die alte Stärke der Komponisten- Wie stark hat Politik Ihre Arbeit in Deutschland“. 2001 wurde Hannelore Thie- verbände ist übrigens in allen osteuropäi- der damaligen Zeit beeinflusst? mer Geschäftsführerin des Projekts „Konzert schen Staaten auch heute noch spürbar. Thiemer: Wer es damals mit einem des Deutschen Musikrats“. Ebenfalls 2001 sozialistischen Land zu tun hatte, spürte begann für sie die intensive Zusammenar- Ist damals ein Vertrauensverhältnis fast in jedem Moment die Politik. Aber beit mit dem „Warschauer Herbst“, aus der gewachsen, das auch in krisenhafter Zeit darüber hinaus hatten wir doch einen u. a. die Projekte „Polnisch-deutsche Ensemble- Bestand hatte? geschützten Rahmen, geschützt durch das werkstatt für Neue Musik“, das Festival „Tur- Thiemer: Ja. Wir haben mit Vera Reiner, Ministerium hier und durch die Ständige ning Sounds“ sowie ein Förderprojekt für junge der Generalsekretärin des DDR-Musikrats, Vertretung in Berlin. Auch durch die Stän- polnische Journalisten entstanden sind. sehr eng und vertrauensvoll zusammenge- dige Vertretung in Bonn. Mit Hannelore Thiemer sprach Christian arbeitet. Wir sind auch heute noch befreun- Höppner. det. Vera Reiner hat sich für Musikwissen- Wenn man Ihre Biografie verfolgt, schaftler, die noch keine Reisekader waren, dann fällt auf, dass Sie eine Affinität zu Ost- Zu Beginn Ihrer Tätigkeit waren die eingesetzt. Für die haben wir dann Vortrags- europa haben. Hat dies mit Ihren innerdeut- innerdeutschen Beziehungen das große Thema. reisen in der Bundesrepublik organisiert. schen Erfahrungen zu tun? War das so etwas wie auswärtige Kulturpolitik? Zu den Aufgaben unseres Referats gehörten Thiemer: Natürlich gab und gibt es die- Hannelore Thiemer: Ja, aber eine, die aber auch der Versand von Notenmaterial se Affinität, allein deshalb, weil ich bis zum es eigentlich nicht geben konnte. Denn aus oder Instrumentenzubehör an Kirchenge- 17. Lebensjahr in Cottbus aufgewachsen politischer und rechtlicher Sicht war es ja meinden Übrigens: Diesen Mangel an Noten bin. 1960 mussten wir bei Nacht und Nebel innerdeutsche Politik. Wir waren dem Minis- und Instrumenten können wir auch heute die DDR verlassen, weil meinem Vater die terium für innerdeutsche Beziehungen zu- noch selbst bei einem so renommierten Verhaftung drohte. Aber meine Sozialisation geordnet und haben es beraten – vor allem Festival wie dem „Warschauer Herbst“ fest- in der DDR habe ich natürlich zum großen musikpolitisch. Aber das Referat gab es – stellen. Für diese Versandaktionen gab es Teil mitgenommen und bis heute nicht zumindest am Anfang – offiziell nicht. einen Extra-Fond beim Gesamtdeutschen ganz verloren. Zudem bin ich in einem poli- Institut. Zu unseren Aufgaben gehörte auch tischen Elterhaus groß geworden. Meine Wie offen konnten Sie da kommuni- die Betreuung ausgereister Musiker, Musik- Großeltern und Eltern waren in der Beken- zieren – nur über verabredete Codes? wissenschafter und Komponisten Wir haben nenden Kirche und haben Juden geholfen, Thiemer: Nein, am Anfang mussten wir also in kleinen, vor allem auch in mensch- Deutschland zu verlassen. In der DDR hat- nur beobachten und analysieren. Meine Auf- lichen Bereichen gearbeitet – bis das Kultur- ten wir politische Probleme. So bin ich groß gabe war es, „Das Neue Deutschland“, den abkommen kam. Ab diesem Zeitpunkt geworden. Allerdings, so sagten meine „Sonntag“, die Zeitschriften wie „Musik und nahm alles eine andere Dimension an. Der Eltern, immer politisch auf der falschen Gesellschaft“ und „Politik in der Schule“ zu Deutsche Musikrat konnte nun mit der Seite (lacht).

 58 MUSIK ORUM Spüren Sie auch Ressentiments? Fragt man: Warum gerade Polen? Thiemer: Ressentiments sind mir nicht begegnet. Und warum Polen? In der EU ist Polen einfach das größte osteuropäische Land mit etwa 40 Millionen Einwohnern. Das ist so viel, wie alle anderen neun Bei- Hannelore trittsländer vom 1. Mai 2004 zusammen Thiemer haben. Außerdem ist Polen unser Nachbar, ein Land mit großartiger, lebendiger Musik- tradition.

Ein europäisches Land im Zuge der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft? Thiemer: Ja, natürlich – aber auch wegen der deutsch-polnischen Geschichte, die eine große, nicht immer schmerzfreie Und dann haben Sie es umgedreht städter Ferienkursen“ entstanden; außerdem Rolle spielte. Da sehe ich Parallelen zu den und auf der richtigen Seite gestanden.? wurde die „Polnisch-deutsche Ensemble- deutsch-französischen Beziehungen, die Thiemer: Gesellschaftspolitisch gesehen, werkstatt für Neue Musik“ geschaffen, aus auch langsam zum Guten gewachsen sind ja. der jetzt auch wieder kleine Kammermusik- – auch wenn noch immer nicht ganz unbe- gruppen entstanden sind. Es ist das Journa- schwert und geklärt. Konrad Adenauer hat Was Sie mit Polen initiiert haben, listenprojekt mit jungen polnischen Musik- damals die Kontakte zu Israel, Frankreich ist ja schon richtungsweisend, lange bevor die wissenschaftlern geboren worden, das sehr und Polen als die notwendigsten für uns Politik es als ein besonderes Feld erkannt gut läuft: Eine Volontärin aus dem Projekt Deutsche erachtet. hat… hat jetzt eine eigene wöchentliche Kolumne Thiemer: Alles begann für uns konkret in der Gazeta Wyborcza und berichtet regel- Mit dem neuen polnischen Staatsprä- mit einem Interview von Joschka Fischer, mäßig über Kultur aus Berlin. sidenten Lech Kaczynski ist jetzt ein äußerst das ich im Sommer 2000 gehört habe. Zu Wunderbar ist: Unsere Projekte gehen kritischer Geist angekommen. Sehen Sie hier dieser Zeit hatte er eine seiner ersten Reisen inzwischen über das Bilaterale hinaus und eine neue oder gewachsene Rolle für die Kultur, nach Warschau gemacht. Fischer sagte sinn- werden zunehmend europäischer. Ich was den Grad der Verständigung betrifft? gemäß, dass das Verhältnis mit Polen kom- möchte die Arbeit mit einem Stein verglei- Thiemer: Ich glaube, dass jetzt die pliziert sei und man eigentlich mit der Kultur chen, den wir ins Wasser werfen – es ent- Kultur umso mehr gefragt ist, weil der beginnen müsse. Am nächsten Tag habe stehen Wellen und Kreise, im übertragenen polnische Staatspräsident ja sehr auf die ich die deutsche Botschaft angerufen. Der kulturelle Identität Polens bedacht ist. Aus „Warschauer Herbst“ war mir als großes der polnischen Geschichte heraus ist die Festival der Neuen Musik ein Begriff. Mit Haltung nur verständlich. In den Zeiten unserem Interesse haben wir offene Türen »Mitverantwortung der Teilungen und des völligen Verschwin- eingerannt. Die Botschaft rief zurück, und dens von der Landkarte war die Kultur die so wurde ein Treffen mit Wielecki, dem bei der Gestaltung Rettung Polens. Dass im europäischen jungen Festivaldirektor arrangiert. Ein Jahr Integrationsprozess diese Ängste und später schon, beim „Warschauer Herbst“ der Zukunft – für Bedürfnisse wieder hochkommen, finde 2001, kam es zur ersten Zusammenarbeit ich normal. mit dem Deutschen Musikrat. Das ging voll- kommen unproblematisch über die Bühne. mich der inhaltliche Was würden Sie den Regierungchefs raten, wo sie investieren sollten, gerade jetzt in Wie haben sich denn, im Rückblick Schwerpunkt« einer Zeit, in der man Probleme nicht einfach betrachtet, die Kontakte entwickelt? Gab es wegwischen kann? besondere Stärken oder auch Defizite? Thiemer: Das Wichtigste ist, viel Ge- Thiemer: Wahrscheinlich beruht das Sinn Netzwerke, die sich selbstständig wei- meinsames zu schaffen und die Zukunft Geheimnis im beiderseitigen persönlichen terentwickeln. Defizite bestehen vielleicht gemeinsam zu erleben. Das beseitigt Ängste Engagement für die Sache und den gemein- darin, dass wir insgesamt noch zu allein sind. und Vorbehalte und schafft Vertrauen. samen Erfolg – wie auch früher bei den Gemeinsame Musikerlebnisse sind dafür DDR-Kontakten. Aus den Tagungen, die Wie ist das Engagement von Seiten geradezu prädestiniert. Denn die sprachliche wir schon seit fünf Jahren während des der Landesmusikräte? Barriere ist ein Problem. Polnisch ist und „Warschauer Herbstes“ mit vorwiegend Thiemer: Das ist ein offenes Feld, auf bleibt für Deutsche eine schwer erlernbare polnischen Künstlerin und Musikschaffen- dem die Landesmusikräte noch sehr viel Sprache. Das haben wir auch bei der Durch- den veranstalten, entstehen so viele Ideen tun könnten. Ich glaube aber, das größte führung der deutsch-polnischen Werkstatt und großartige Projekte. Aus dieser Anfangs- Hindernis sind derzeit die Finanzen. Es gibt gemerkt. Beim ersten Treffen waren durch- phase ist z. B. die Zusammenarbeit zwischen vielfach keine finanziellen Möglichkeiten aus Ressentiments und Berührungsängste dem „Warschauer Herbst“ und den „Darm- zu reisen oder auch Gäste einzuladen. spürbar. Fremdheitsgefühle waren schon

 MUSIK ORUM 59 durch die Sprache bestimmt, aber auch ständigen können. Deshalb sehe ich auch durch die Musikliteratur. Die polnischen eine wachsende Rolle und Verantwortung Komponisten und Stücke waren den jun- auf den Musikrat zukommen. Mit Fantasie, gen deutschen Musikern völlig unbe- Intelligenz und natürlich auch mit Geld kannt. kann der Deutsche Musikrat in Europa viel bewegen, noch mehr anstoßen. So Wenn wir von Polen den Blick in die wird er in Kürze ein elektronisches Portal EU weiten, passieren ja rasante Dinge: EU- für Musik eröffnen. Ich bin mir sicher, dass Erweiterung, EU-Verfassung usw. Gilt für wir damit eine regionale Verknüpfung in Sie die These, dass Europa nur zusammen- Europa herbeiführen, die jetzt noch gar wachsen kann, wenn es sich über die Kultur nicht vorstellbar ist. Wenn man, wie der definiert. Deutsche Musikrat, im größten Land Euro- Thiemer: Das hat ja auch schon Jean pas eine führende Rolle in der Musik Monet gesagt: „Wenn ich Europa noch spielt, so ist das eine Verpflichtung, aktiv einmal aufbauen sollte, würde ich mit der und kreativ den europäischen Prozess Kultur beginnen.“ Es ist auch meine Über- mitzugestalten. Mitverantwortung bei der zeugung: Je mehr Kultur, umso besser Gestaltung der Zukunft – das ist für mich die europäische Integration. der inhaltliche Schwerpunkt. in Musik-Workshop für Gehör- lose und Hörgeschädigte, in Dies passiert ja definitiv nicht. Es Sie verabschieden sich bald in den E dem Instrumente erkundet und läuft ja zuerst über Wirtschaftsbeziehungen Ruhestand. Was passiert nach dem Musikrat? und Wirtschaftsfragen… Thiemer: Ich habe noch keine Pläne. auch das Zusammenspiel im Band- Thiemer: Deshalb haben wir auch Rückblickend darf ich aber sagen: Die kontext geübt wird? Musizieren immer wieder von Seiten des Musikrats Arbeit beim Deutschen Musikrat war ein ohne Gehör – kann das funktio- versucht, Modelle und Projekte mit Polen Ringeltäubchen, eine wunderbare Arbeit. nieren? Das Frauenmusikzentrum und anderen europäischen Staaten, wie Ich bin jetzt 30 Jahre dabei. Bis auf ein Hamburg hat mit dem Projekt z. B. das Modell der „Europäischen Musik- paar Ausnahmen war ich hier sehr gerne „(K)eine Welt ohne Musik“ den bürgschaft“, zur Diskussion zu stellen, um tätig. Vor allem: Es gab immer sehr viele Stein ins Rollen gebracht. auf den ökonomischen Aspekt der Kultur Möglichkeiten, etwas zu tun. hinzuweisen. In diesem Zusammenhang finde ich es wichtig, dass man die Kultur Sie sind eine begnadete Netzwerkerin Nach dem gängigen Vorurteil sollen be- auch als Wirtschaft begreift. Ein Opern- und haben, obwohl exponiert, viel im Hinter- sonders prälingual Hörgeschädigte unmusi- haus schafft Arbeitsplätze, es ist Anzie- grund gewirkt. Was bedeutet Ihnen Macht? kalisch sein und das Heranführen an Musik hungspunkt für eine ganze Region, Thiemer: Gar nichts. Macht ist ein hauptsächlich im therapeutischen Rahmen Besucher oder Touristen bringen Geld flüchtiges, vergängliches Gut. Die Netz- Sinn machen. Hält man das Beispiel von Evelyn mit und gehen z. B. in Restaurants. werke beziehen sich nur auf meine Arbeit, Glennie dagegen, verblassen solche Klischees. nicht auf meine persönliche Situation. Die 40-jährige taube Schottin ist die erfolg- Stichwort: auswärtige Kulturpolitik reichste klassische Solo-Perkussionistin welt- bzw. auswärtige Musikpolitik. Ein Feld, auf Ist Macht nicht auch etwas Positives, weit. Neben eigenen Kompositionen hat sie dem sich der Musikrat neu aufstellen muss weil man etwas machen kann? mit so gut wie allen bedeutenden Philhar- und schon aufgestellt hat. Immerhin ist uns Thiemer: Ich habe es nie als Macht monie- und Kammerorchestern konzertiert. mit der Verbindungsstelle für Internationale empfunden. Allenfalls als Chance, etwas Sie selbst hat über hundert Stücke kommis- Beziehungen, die jetzt zum Goethe-Institut zu bewegen. Und das Netzwerk – das sioniert und komponiert und spielte mit Künst- abgewandert ist, rein strukturell etwas weg- waren alles Menschen, die genauso von lern wie Bobby McFerrin, Björk und Sting. gebrochen. Gibt es aus Ihrer Berufserfah- der Sache begeistert waren wie ich. Es hat Für ihr Debüt-Album, eine Aufnahme von rung heraus einen Rat, wo sich der Musikrat sich immer so ergeben, ohne dass ich es Bartóks Sonata für zwei Klaviere und Percus- besser aufstellen kann? Würden Sie Empfeh- gesucht hätte. Dies beziehe ich auch auf sion, erntete sie 1988 einen Grammy. Und lungen für inhaltliche Schwerpunktsetzungen meine Mitarbeiter. Dort ist die Begeiste- bewies damit: Das vermeintlich Unmögliche geben? rung für Inhalte genauso groß. ist möglich. Thiemer: Ich würde zunächst einmal in Ähnlich furchtlos ging das Frauenmusik- Europa bleiben. Dass sich jetzt mit China Was machen Sie am 1. Juli? zentrum (fm:z) in Hamburg zu Werke, als im eine Zusammenarbeit ergibt, ist wunderbar Thiemer: Was ich dann privat mache? vergangenen Jahr zwei hörgeschädigte Frau- und passt ja auch zum Deutsch-Chinesi- Ich habe mit meiner Mutter im Jahr vor en aus Berlin nach Möglichkeiten des Musi- schen Jahr. Aber allein das Zusammenspiel ihrem Tod viele Gespräche geführt und zierens fragten. Warum nicht? „Das fm:z ist innerhalb Europas zu bewältigen, ist schon auf Band aufgenommen. Sie ist fast 95 bekannt dafür, auch über Grenzen hinaus neue eine große Aufgabe. Und die kulturellen Jahre alt geworden, somit also eine Jahr- Wege zu gehen,“ erklärt die Projektleiterin Grenzen sind noch längst nicht erreicht. hundertzeugin. Daraus möchte ich für von „(K)eine Welt ohne Musik“, Corinna Hoff- Im Gegenteil: Wir stehen erst am Anfang. meine Familie etwas machen. Das ist mein mann. 1987 von Hamburger Musikerinnen Innerhalb der Kultur nimmt die Musik eine persönliches großes Projekt. gegründet, bietet das fm:z eben nicht nur voll herausragende Rolle ein, weil sie Menschen ausgestattete Proberäume und Kontakte zu verbinden kann, die sich nicht verbal ver- Profis aus dem gesamten Musikbereich, son-

 60 MUSIK ORUM BILDUNG.FORSCHUNG

(K)EINE WELTohne Musik

Über Grenzen hinaus neue Wege gehen: Ulrike Krahnert beschreibt eine Workshop-Reihe des Frauenmusikzentrums Hamburg für gehörlose und hörgeschädigte Frauen dern im Rahmen von Workshops auch die Projekte wie „SISTARS“ (einem bundeswei- sätzen und Strategien, Gender Politics und Möglichkeit zur Erprobung musikalischen Po- ten Mädchenband-Coaching), der Etablierung Popkultur diskutiert und in die Öffentlichkeit tenzials und der Professionalisierung in Be- des Netzwerks „VerStärkerHamburg“ für Musik- getragen. Da war die Motivation des fm:z groß, reichen wie Tontechnik und Musiksoftware. aktivistinnen oder mit Symposien zum The- auch musikneugierigen, gehörlosen Frauen Darüber hinaus hat das fm:z in den vergan- ma „Musikerinnen und Öffentlichkeit“ auch einen Raum zu schaffen und sie in ihrem genen Jahren durch zahlreiche Festivals, durch kontinuierlich Fragen zu feministischen An- Entdeckergeist und Mut zu unterstützen. Das Konzept zum „(K)eine Welt ohne Musik“- Projekt wurde geschrieben, Kontakte zu Ge- hörlosenverbänden geknüpft und die Finan- zierung des Projekts mit Hilfe von „Aktion Mensch“ und dem Fonds Soziokultur gesi- chert. Nachdem schließlich sowohl die Pro- jektleitung als auch die Dozentinnen einige Taub, aber als Musikerin erfolgreich: Stunden Einführung in Gebärdensprache be- Die Schottin Evelyn Glennie, die als weltweit erfolgreichste klassische kommen hatten, Gebärdensprachdolmetsche- Solo-Perkussionistin gilt, ist ein Beispiel rinnen und ausreichend Hörschutz für die dafür, dass Gehörlose ambitioniert Hörenden organisiert waren, war es Ende Musik machen können. Oktober 2005 soweit: Die erste Workshop- Reihe für gehörlose und hörgeschädigte Frauen wurde an zwei Wochenenden realisiert.

Workshops in drei Phasen In Phase 1 beschäftigten sich die Teilneh- merinnen in ganztägigen Schnupperworkshops mit den Instrumenten Keyboards, Gitarre und Schlagzeug. Die Workshops der Phase 2 folgten im November mit einem Wochenende vol- ler Spielen einfacher Grooves und betreu- tem Zusammenspiel. Darüber hinaus erhiel- ten die Teilnehmerinnen danach zwölf Wo-

 MUSIK ORUM 61 BILDUNG.FORSCHUNG

chen lang die Möglichkeit, unentgeltlich die Musikerin und Musikjournalistin, berichtet det man miteinander über die Instrumente. Proberäume des fm:z zu nutzen, um das Er- begeistert: „ Es war ganz fabelhaft! Quer durch Das alles kann auf sehr unterschiedliche Art lernte zu proben und musikalisch zu experi- die Bank gingen die Teilnehmerinnen ohne realisiert werden. Ein festes Konzept oder Re- mentieren. Phase 3 der Workshopreihe wird Scheu ans Instrument.“ Die Dozentin zeigte zept, Musik zu machen – das gibt es nicht.“ dieses Jahr vollzogen: mit einem Bandtraining im Schnelldurchlauf Grundlagen wie Sitz- und in Begleitung von hörenden Musikerinnen Stickhaltung, wo Füße und Arme hingehören Eine neue Art von Musik und – falls Interesse bei den Teilnehmerinnen und einige Grundschlagfiguren. Sie bemerk- besteht – mit einer Präsentation der Arbeit te jedoch auch, dass Becken für die meisten Das Zusammenspiel im Bandkontext be- in einem Konzert. Gehörlosen oder Hörgeschädigten kaum reitete den Teilnehmerinnen die größten Prob- Da im fm:z vor dem geplanten Umbau spürbar waren, umso mehr jedoch die Schläge leme. Teilnehmerin Bettina Hermann: „Eine hölzerne Schwingböden fehlen, wurden die auf der Snare-Drum und den tiefklingenden große Schwierigkeit für den Bass besteht da- Workshops in die farbenfrohen und hellen Stand- und Hänge-Toms. Daraufhin wurden rin, den richtigen Einsatz zu finden. Im Vier- Räume der Baladin-Tanzschule verlagert. Da einige Übungen auf den besser wahrnehm- Viertel-Takt ist sein Einsatz immer auf der Gehörlose Töne und Musik in Form von baren Teil des Schlagzeugs verlagert. Eins, aber welcher Schlag des Schlagzeugs ist Schwingungen über den Körper wahrnehmen, Die hörgeschädigte Teilnehmerin Bettina die Eins? Wenn man über kein musikalisches sind diese Böden unerlässlich, um die vom Herrmann fühlte sich an den Drums am wohls- Grundgefühl verfügt und daher von Anfang Instrument erzeugten tiefen Frequenzen „fühl- ten: „Am Schlagzeug hatte ich am ehesten an mitzählt, ist es überhaupt nicht klar, bei barer“ zu machen. Aus demselben Grund wur- den Eindruck, ‚hineinzukommen‘ in das, was welchem der Schläge der Bass einsetzen muss.“ den auch elektronische Verstärker eingesetzt. Musik so erfüllend macht. Nach ein bisschen Die Abschlussrunde, in denen die Teil- Das Keyboard wurde darüber hinaus mit einem Übung gelang es mir eher intuitiv aus dem nehmerinnen gemeinsam spielten, zeigte je- Audio-Interface versehen, das Töne und Ton- Bauch zu spielen, den Rhythmus quasi kör- doch, dass es funktionieren kann. Das Feed- folgen in Wellenform darstellt und eine hilf- perlich aufzunehmen und wiederzugeben. Das back zu den Workshops war rundum positiv. reiche Visualisierung des Gespielten ermög- hatte geradezu etwas Berauschendes, Eksta- Dozentin Sternel: „Ganz großes Kompliment licht. tisches und machte unglaublich viel Spaß!“ an die Teilnehmerinnen. Es ist wirklich nicht Die Auswahl der Dozentinnen, alle Profi- Interessant sei gewesen, dass die Instrumen- einfach für Gehörlose, das technisch umzu- musikerinnen, erfolgte bewusst: Steph Klin- te für sie ohne Hörgerät zugänglicher waren. setzen und gemeinsam eine Form zu finden. kenborg, Leiterin des fm:z, betont: „Es war Insbesondere beim Bass habe das Hörgerät Aber ich fand es großartig, was sie sich aus- uns sehr wichtig, dass diese Workshops nicht ihre Wahrnehmung eher verzerrt, ohne Ge- gedacht und wie sie zusammen gespielt ha- ins therapeutische oder sozialpädagogische rät seien die Saiten und ihr Klang besser er- ben. Ich finde das Resultat sehr spannend. Es abdriften. Der Fokus sollte ganz klar auf dem fahrbar gewesen. Auch die Drums hätten ohne ist eine neue Art von Musik.“ Musikmachen liegen.“ Hörhilfe voller und vielfältiger geklungen. U www.KeineWeltohneMusik.de U www.Frauenmusikzentrum.de U Gibt es nur eine Art, sich Musik zu nähern? www.VerStaerkerHamburg.de

(K)eine Welt ohne Musik sagt: Nein – Die Autorin: Ulrike Krahnert (35) lebt und arbeitet und ermutigt dazu, bekannte Regeln umzustoßen und in Hamburg und schreibt als freie Journalistin über Musik, Kultur und eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln Gesellschaft. Darüber hinaus co-produ- ziert und moderiert sie die monatliche Radiosendung „SISTARS! Frauen in Die Dozentin am Bass, Elena Lange, Ham- Die Einführung und das Spielen am Key- Musik – lokal und international“ beim burger Sängerin und Gitarristin bei den Bands board leitete die Musikerin, Tontechnikerin Hamburger Sender FSK 93.0 Mhz. Stella und TGV, übte zunächst Rhythmus- und HipHop-Produzentin Maya Consuelo Als Dozentin gibt sie aufstrebenden Basics mit den Teilnehmerinnen: Klatschen, Sternel (35), Betreiberin des Hamburger La- Musikern mit ihren Workshops „Erfolg- Stampfen, einfache Patterns. Mit Samthand- bels Rudel Records. Neben der Einführung reich gehört werden“ praktische Anlei- schuhen wurde niemand angefasst, erzählt in das Handling des Instruments und die Vari- tung zum professionellen Selfmarketing. die 23-jährige Teilnehmerin Jana Bigger: „Elena ationsmöglichkeiten vorprogrammierter Sound- Seit neuestem ist sie auch mit eigenen war ziemlich streng und fordernd. Aber ich und Rhythmuspatterns erklärte sie den Teil- Texten als Spoken Word-Künstlerin auf fand das gut, weil sie sagte: ‚Ihr schafft das, nehmerinnen auch, was Harmonien und Me- Hamburger Bühnen zu hören. habt den Mut, macht das einfach mal, geht lodien sind und wieso manche Tonkombi- da nicht so zögerlich ran!‘ Das war ein wich- nationen für Hörende harmonisch klingen. tiger Impuls.“ Dann ging es an die Instrumente: Sie ermutigte die Frauen jedoch, diese Re- Redaktioneller Hinweis Der technische und körperliche Umgang mit geln umzustoßen: „Dies ist nur eine Idee, wie Die im MUSIKFORUM 1/2006 zum Beitrag von Schlagzeug, Bass und Keyboards, lautes und man Musik machen kann. Es gibt Gruppen, Winfried Pape („Musik ist Kopfsache“) abgedruck- leises, langsameres und schnelleres, rhythmi- die das komplett missachten. Musik machen, ten Bilder wurden im Institut für Musikphysiologie sches Spielen. bedeutet vielmehr, eine eigene Sprache zu und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik Schlagzeug-Dozentin Barbara Schulz (37), entwickeln: Das sind unsere Wörter, unsere und Theater Hannover aufgenommen und der Re- studierte Musikwissenschaftlerin, Phonetikerin, Buchstaben, unsere Zeichen, und dann re- daktion zur Verfügung gestellt.

 62 MUSIK ORUM PRÄSENTIERT

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündig Initiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor: ˜ Das Projekt KAROSTAR MUSIKHAUS in Hamburg bietet Gründern aus der Musikwirtschaft günstige Startkonditionen und will ein Knotenpunkt in der Musikszene der Hansestadt werden. Stellen Sie Ihr Musikprojekt in dieser Rubrik vor! Mail an: [email protected]

tet Gründern aus dem gesamten Musikbe- des Hauses die „Hanseplatte – Musik von hier“ reich günstige Startkonditionen (niedrige Mie- ein, Hamburgs erster lokaler Musikladen, der Karostar ten, die Imagewirkung einer gemeinsamen ausschließlich Tonträger, Printmedien, Filme Musikhaus St. Pauli, Adresse, eine gemeinsam genutzte Infrastruk- und Merchandise-Produkte von Hamburger tur) und soll sich mit der Konzentration von Musikschaffenden anbietet. Hamburg neuen Ideen und Konzepten an einem szene- Vom Karostar Musikhaus erwartet man al- nahen Standort zu einem Knotenpunkt in lerdings nicht nur wichtige Impulse für die Hamburgs Musikszene entwickeln. Zu diesem Hamburger Musikwirtschaft, sondern auch ei- Im Februar wurde in Hamburg das Karo- Zweck wurden auf 2500 Quadratmetern 33 nen Beitrag zur städtebaulichen und wirtschaft- star Musikhaus St. Pauli eröffnet. Dieses neue Büros, ein Konferenzraum sowie ein Gemein- lichen Erneuerung des einst benachteiligten Zentrum für junge Unternehmen und Grün- schaftsraum mit Küche und Tresen errichtet. Karolinenviertels, das sich dank städtischer der aus der Musikbranche wurde von der Im Erdgeschoss befinden sich drei Tonstu- Revitalisierungsbemühungen zum beliebten Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungs- dios und vier Läden. Wohnviertel und Trendquartier in Sachen gesellschaft Hamburg mbH (steg) errichtet. Der Mieter-Mix des Karostars liest sich wie Mode, Medien und Musik entwickelt. Das Projekt soll den Wandel der Hambur- ein „Who is Who“ der jungen Hamburger Alenka Barber-Kersovan ger Musikwirtschaft hin zu kleineren flexible- Musikszene und deckt alle Sparten der Bran- ren Unternehmen unterstützen und wurde mit che ab: von Plattenlabeln (Rudel Records, Devil Kontakt: Kurt Reinken, Stadterneuerungs- je einer Million Euro durch die Europäische Duck, Grand Hotel van Cleef) über den Ver- und Stadtentwicklungsgesellschaft, Union (EFRE-Programm) sowie durch die Ham- trieb (MConnexion), Studios (sonoa Tonstu- Hamburg mbH (steg), Schulterblatt 26-36, burgische Behörde für Wirtschaft und Arbeit dios, hitspot music) und Promotion-Agentu- 20357 Hamburg gefördert. ren (Oktoberpromotion) bis hin zu TV- und Fon 040/431393-42, Fax 040/4313 9313 Das Musikhaus, dessen Gestaltung gemein- DVD-Musikproduktionsfirmen (Goldkanal, The E-mail: [email protected], sam mit den Nutzern entwickelt wurde, bie- Sponsor People). Ferner zieht ins Erdgeschoss U www.karostar.de

 MUSIK ORUM 63 REZENSIONEN kammermusik klaviermusik

Beethoven, Schubert, Spohr u. a. Günter Bergmann Der Arpeggione Musikalisches Gesamtwerk Gerhart Darmstadt (Arpeggione), Egino Klepper (Hammerklavier), Björn Colell (ro- Sabine Roderburg und Noriko Kitano (Klavier), Andrea Bärenfänger (Orgel) mantische Gitarre) 3 CDs – Gen 03011 Cavalli Records CCD 242

Schuberts Arpeggione-Sonate a-Moll terscheidet diese Aufnahme von al- Günter Bergmann gehört nicht in er sich dem einfachen musikalischen ist allgemein bekannt – doch wird len anderen vorliegenden. Kammer- die Reihe der bekannten Komponis- Genuss hingeben.“ sie lieber in einer Version für das Vio- musik, die in der Kammer oder im ten des 20. Jahrhunderts. Sein musi- Dieser unmittelbare musikalische loncello, für die Viola, aber auch für Salon bleibt und nicht krampfhaft ins kalisch-künstlerisches Schaffen ist Zusammenhang ist durchaus nach- die Flöte oder für zwei Gitarren mu- Rampenlicht des Podiums gezogen durchaus überschaubar: Neben dem erfahrbar – nicht zuletzt wegen der siziert. Das Instrument, zwischen Vio- wird – das vermitteln Gerhart Darm- Orgelzyklus Harmonice Mundi Iovis ausgesprochen differenzierten Spiel- loncello und Gitarre anzusiedeln, spiel- stadt, Egino Klepper und Björn Co- gibt es für das Klavier ein Musikali- weise Andrea Bärenfängers, die die- te in der Instrumentengeschichte kaum lell eindrücklich, ohne mit den sonst sches Tagebuch (1936-39) und 8 Stu- ser tonal-freitonalen Tonsprache eine eine Rolle. Als der Wiener Instrumen- so beliebten „Drückern“ zu operie- dien für Klavier sowie einige weitere neobarocke Registrierung der Mari- tenbauer Johann Georg Staufer zu ren, die so typisch für aufgeladene Werke. Er ist letztlich ein Unzeitge- enkirche in Dortmund zuweist. Beginn der 1820er Jahre eine Bogen- „romantische“ Interpretationen sind. mäßer, der tonal denkt und klare for- Die Klavierwerke sind stilistisch Gitarre, auch Guitarre d’amour oder Die Rückführung in die Balance be- malstrukturelle Vorgaben als Aus- teilweise noch an Johannes Brahms Guitarre-Violoncell genannt, entwi- kommt der Musik ausgesprochen gut, gangspunkt für seine Kompositionen orientiert, von innerer Logik und doch ckelte, veröffentlichte die Allgemeine denn sie selbst ist ja eher eine an der sucht – sieht man einmal von seiner ganz unzeitgemäß – ein Kriterium, Musikalische Zeitung einen Beitrag über Grenze mit der entsprechenden Sehn- letzten Komposition, dem Orgelzyk- das seine ausschließende Bedeutung dieses Instrument, das „der Form nach sucht. Das Instrument, das der Sona- lus Harmonice Mundi Iovis ab. Diese inzwischen verloren hat, zumal es sich den gewöhnlichen Guitarren ähnlich, te den eigentlichen Reiz gibt, findet Komposition orientiert sich entspre- um einen Komponisten handelt, der nur von größerem Umfange, mit be- sich in Berlin im Musikinstrumenten- chend der barocken Denkweise ganz sich zwischen den kompositorischen sponnenen und Darmsaiten bezogen, museum und stammt aus der ersten an der Weltharmonik Johannes Kepp- Fronten befindet. Sein Ziel war und welches aber nicht mit den Fingern Hälfte des 19. Jahrhunderts. lers. Der kompositorische Aufwand ist es, als Mensch ein subjektives Be- gegriffen, sondern mittelst eines Bo- In der vorliegenden Aufnahme wer- scheint dabei ausgesprochen groß zu kenntnis abzulegen. Und dies spürt gens gestrichen wird, an Schönheit, den ausschließlich Raritäten dargebo- sein, auch wenn er sich dem Hörer man bei dieser Aufnahme. Fülle und Lieblichkeit des Thones in ten. Dies gilt auch für die ausgewähl- nicht direkt erschließt. Hans Bäßler der Höhe der Hoboe, in der Tiefe te Literatur: Vinzenz Schusters Bear- Dazu heißt es im Booklet: „Wer dem Bassethone sich nähert, zur vor- beitungen für „Guitarre-Violoncell und den Schlüssel kennt, vermag beim züglich erleichterten Ausführung der Guitarre“ (Wien 1825), das Lied der Hören der Musik den Lauf der vier chromatischen Passagen selbst in Dop- Mignon (Nur wer die Sehnsucht kennt) Monde um den Jupiter zu verfolgen. pelgriffen ganz besonders geeignet ist, von Schubert als „Lied ohne Worte“ Im 2. Satz wird eine Musik für die und welches von allen Sachverstän- mit Gitarrenbegleitung oder die be- Monde III und IV geliefert auf fol- digen als eine wünschenswerte Kunst- kannten Variationen über ein russisches gende Weise: Die Bahn der Monde bereicherung angerühmt wird“. Bereits Volkslied op. 107,7 von Beethoven. denkt man sich in sechs gleiche Teile im Jahr nach Erscheinen dieses Be- Vertrautes wird zu Fremdem und zerlegt, die nummeriert werden. Je- richts schrieb Schubert seine große gleichzeitig bei mehrmaligem Hören des Mal, wenn Mond III das 4. Bahn- Sonate in a-Moll für dieses Instrument, wieder vertraut. sechstel durchläuft, hält die Melodie das er „Arpeggione“ nannte; sie bil- Während man immer wieder neu sich an den Rhythmus. So wie für det auch den Schwerpunkt der CD. fragen muss, ob sich die CD in je- das 4. Bahnsechstel erfüllt die Melo- Dem Hamburger Cellisten Ger- dem Fall als Medium eignet, stellt sich die eine bestimmte rhythmische For- hart Darmstadt ist es zu verdanken, diese Frage bei dieser auch technisch derung für jedes Bahnsechstel. Das dass der Arpeggione seit einigen Jah- brillanten Aufnahme nicht: Darmstadt, Gleiche gilt für Mond I. Wer die ren wieder ins Bewusstsein gerückt Klepper und Colell haben bewiesen, Rhythmen kennt, sieht den Lauf der wird (siehe Porträt im MUSIKFORUM dass man Räume suggerieren kann Monde auch vor seinem geistigen 4/05). Nicht der satte Cello-Ton, wie – und zwar mit Musik. Das gelingt Auge. Jeder Satz der Komposition hat wir ihn heute als selbstverständlich ihnen besonders dadurch, dass sie auf seinen Schlüssel mit Ausnahme des erwarten und doch stilistisch erst für jede Tempoübertreibung verzichten, 3., der eine freie Komposition zur Kompositionen der Spätromantik gel- dass sie Details ausspielen und Um- Vorbereitung des 5. Satzes darstellt. ten kann, sondern eine ätherische spielungen hörbar machen – gelas- Der Hörer dieser Musik braucht sich Durchsichtigkeit, die sich mit dem sen und konsequent zugleich. andererseits nicht zu mühen, den Lauf Pianoforte von Josef Brodmann (Wien Hans Bäßler der Sterne in Gedanken zu verfol- 1810) aufs Trefflichste verbindet, un- gen. Wie bisher bei Musik üblich, kann

 64 MUSIK ORUM TONTRÄGER BUCH experiment

Siegrid Ernst Clubräume – Freiräume Facetten Musikalische Lebensentwürfe in den Jugendkulturen Berlins Para / Trio / Spirale / Zwiefach versatil / Sabine Vogt Damit es anders anfängt zwischen uns al- Bärenreiter, Kassel 2005; 344 Seiten, 34,95 Euro, ISBN: 3-7618-1363-5 len Anna Maria Dur (Mezzo), Carl Levine (Flö- Sabine Vogt untersucht die Berli- kalischen Milieus im einstigen Ost- Diese einfühlsame Studie zeich- te), Michael Flaksman (Violoncello), Ru- ner Clubszene vor dem Hintergrund berlin und im einstigen West-Berlin net sich durch den ständigen Wech- dolf Meister (Klavier), Stefanie Golisch der Wiedervereinigung. Sie begrenzt sowie die Schilderung der Verände- sel der Betrachtungsperspektiven aus, (Sopran) u. a. ihre Untersuchung zeitlich und ört- rungen nach dem Mauerfall. Einerseits die die komplexen Zusammenhän- Hastedt HT 5326 lich auf einige Ostberliner Bezirke. Als ist im Osten der Stadt sozusagen über ge begreifbar machen, sowie die un- methodologische Herangehensweise Nacht die bisherige Unterhaltungs- verhüllte Sympathie für die Angehö- Siegrid Ernst ist eine vielseitige Mu- wählt sie die Feldforschung als theo- struktur zusammengebrochen. Ande- rigen der Clubszene, die uns nicht sikerin: als Pianistin, Musikpädagogin riegeleiteten Prozess, dessen Axiome rerseits begünstigten aber die unge- als „behandelte Forschungs-Objekte“, und Komponistin trat sie an die Öf- sich aus den empirischen Befunden klärten Eigentumsverhältnisse und sondern als handelnde Individuen fentlichkeit und setzte zudem als lang- generieren. Diese Herangehenswei- niedrigen Mietpreise das Entstehen begegnen. Einen zusätzlichen Mehr- jährige Vorsitzende des „Internatio- se ermöglicht vielfältigen Perspekti- einer neuen Clublandschaft, in der wert stellen die zahlreichen Abbildun- nalen Arbeitskreises Frau und Musik“ venwechsel und fördert faszinieren- teilweise all das, „was von der DDR gen dar, die anschaulich belegen, dass Akzente. Überwiegend im vergange- de Einblicke zutage – nicht nur in die stehen geblieben war […] nun als DDR- das musikalische Universum eines nen Jahrzehnt, als für sie das Kom- Lebensentwürfe der an der Clubkul- Deko verwendet“ (S. 190) wurde – Clubs stets räumlich verankert ist. ponieren wieder in den Vordergrund tur beteiligten Individuen, sondern wie etwa in der „WMF“, vor der Grün- Die Arbeit selbst ist zwar an eine trat, sind die Werke entstanden, die auch in die Funktionsmechanismen dung der DDR Geschäftssitz der Würt- scientific community gerichtet, ange- auf der vorliegenden CD ihr Schaf- der Clubs als Knotenpunkte musika- tembergischen Metallwarenfabrik und siedelt auf einem breiten Spektrum fen porträtieren. lischer Kommunikation und deren anschließend von einer Gruppe von von der (Systematischen) Musikwis- In einem Uraufführungsmitschnitt Beitrag zur lebendigen Stadtkultur. Musikern, Künstlern und Kunststu- senschaft über die (Jugend-)Soziolo- erklingt Para, das fantasievoll den Klang Den Ausgangspunkt bilden leb- denten besetzte Location. gie bis zur Ethnologie, (Kultur-)An- von Flöte, Violoncello und Klavier mit hafte Schilderungen musikalischer Le- Auf einer weiteren Ebene der Ana- thropologie und den Cultural Studies. einer textlosen Mezzosopranpartie ver- benswelten von „Menschen im Transit- lyse untersucht Sabine Vogt, wie in Trotzdem möchte sie die Rezensen- netzt. Vom Geräusch zum Klang führt raum“, dem Zeitraum der Postadoles- derartigen Nischen für „Experimen- tin auch den Musikpädagogen wärms- der Entwicklungsbogen im Trio, das zenz zwischen Jugend und Erwach- tierfreudige und Querdenker“ die tens empfehlen, die in diesem span- die unterschiedlichen Klangfarben von sensein. Der Vergleich der individu- Selbstsozialisation durch Musik zur nenden Buch zahlreiche neue und Flöte, Gitarre und Viola miteinander ellen Lebensentwürfe zeigt, dass „die- Selbstprofessionalisierung führen kann. ihnen möglicherweise bislang noch kombiniert und dabei moderne Spiel- selbe Musik […] auf ungleiche Weise Und da in einem Club „nicht der Ton unbekannte musikalische Welten ent- techniken einbezieht. Ähnlich expe- erlebt [wird], ebenso wie dieselben allein die Musik macht“, sondern auch decken werden. rimentell verfährt Zwiefach versatil, bei Medien verschiedenartig genutzt das gesamte Ambiente, bildet die Club- Alenka Barber-Kersovan dem zwei Spieler die Vielfalt der Klang- [werden]“ und führt zur Erkenntnis: kultur neben einem „selbst gebaute[n] möglichkeiten von Block- und Quer- „Den Umgang mit DER Musik und Laboratorium für moderne Lebens- flöten unter behutsamer Einbeziehung DEN Medien durch DIE Jugendlichen entwürfe“ (S. 12) auch die ökonomi- des Tamtam erkunden. gibt es nicht“ (S. 279). sche Basis für eine ganze Reihe von So eindringlich, wie Siegrid Ernst Eine wichtige Rolle spielt dabei der weiteren „creative industries“, sodass in Damit es anders anfängt die Verto- Tanz als „nach außen gerichtetes Musik- insbesondere an die professionell be- nung einer mahnenden Dichtung Hil- Erleben“. Die körperbezogene Mu- triebenen Clubs eine Vielzahl kleiner de Domins für Chor und Orgel ge- sikerfahrung kann sich zwar auch auf Unternehmen (DJ- und VJ-Kollekti- lingt, so vergnüglich erweisen sich ihre die Solitude des stillen Kämmerleins ve, bildende Künstler, Grafiker, Ar- mit Spirale überschriebenen Humo- beschränken, sie erfährt allerdings ihre chitekten, Raumausstatter, Fotogra- resken für Sopransolo: zwischen Spre- volle Entfaltung erst im Club, wo sich fen, Labelbetreiber, Mode- und Plat- chen und Gesang changierende „Stil- „das eigene Musikerleben in dem Tanz tenläden; S. 268) angeschlossen ist. übungen“ nach Raymond Queneau, der anderen Menschen widerspiegelt“. Hier schließt sich der Kreis. Es ent- in denen ein banales Alltagsereignis Hierzu Sabine Vogts Gesprächspart- stehen kreative Milieus und Netzwerke variiert wird. nerin Trixi: „[Wenn ich] merke, dass mit entsprechender ökonomischer Gerhard Dietel alle Leute so auf diese Musik reagie- Basis, getragen von einer Neo-Bohe- ren, wie ich es auch tue, dann ist es me, die bestimmten Stadtteilen nicht wie eine Familie“ (S. 67). nur ein neueres, moderneres Image Eine zusätzliche Dimension erfährt verleiht, sondern maßgeblich auch an die Erforschung der Berliner Clubkul- der Erweiterung ihrer ökonomischen tur in der Gegenüberstellung der musi- Potenziale beteiligt ist.

 MUSIK ORUM 65 Geld, Geld… Kultur und mithin auch die Musik entstehen berater auf den Hals. Aufgabe: „Durchkäm- MUSIKORUM nicht durch Geld. Künstlerische Imagination men Sie den Orchestergraben, McKinsey!“ DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS bringt sie hervor. Dumm nur, dass die Pro- Und so kolportiert man in der Szene die duktion dessen, was kreative Köpfe imagi- (fast) wahrhaftige Geschichte, wonach ein Die Herausgeber nieren, nun einmal Geld kostet. Dass dieses bedeutendes deutsches philharmonisches Deutscher Musikrat in den öffentlichen Kassen fehlt, müssen nicht Orchester von einer noch bedeutenderen Gemeinnützige Projektgesellschaft mbH, nur deutsche Orchester schmerzvoll zur Consulting-Company nach Rationalisierungs- Weberstr. 59, 53113 Bonn Kenntnis nehmen. Wo der Rubel nicht mehr möglichkeiten durchforstet wurde. Deren ([email protected]) in Zusammenarbeit mit rollt, wird nun Vorhandenes (mutwillig) ge- Analyse hatte „Erfolg“, der Bericht gab nach Schott Music, opfert. Das Schlimmste: Klare Perspektiven, Begutachtung eines Konzerts u. a. folgende Postfach 3640, 55026 Mainz wie der schleichenden Durchrodung und Empfehlungen: „Da die vorhandenen 24 ([email protected]) Flurbereinigung in der Orchesterlandschaft Geigen alle dasselbe spielen und unnötige Koordination: Rolf W. Stoll Einhalt geboten werden kann, sind nicht so Mehrfacharbeit verrichtet wird, sollte die Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes: Christian Höppner recht erkennbar. Solitäre Warnungen, Ideen Gruppe drastisch verkleinert werden. Eine und Kampagnen haben wir in diesem Heft etwaig gewünschte größere Lautstärke lässt Die Redaktion kennen gelernt, allein: Wo ist die große „kon- sich mit elektronischer Hilfe erzielen. Das Chefredakteur: Christian Höppner, zertierte Aktion“ zugunsten sich regenerie- Spielen von Zweiunddreißigstel-Noten er- Oranienburger Str. 67/68, 10117 Berlin ([email protected]) render „blühender Musiklandschaften“? fordert nicht nur zu hohen Arbeitsaufwand, Fon 030–308810-10, Fax 030–30 8810-11 Früher war alles besser. Oder doch nicht? sondern auch zu viele hochqualifizierte Musi- Dr. Alenka Barber-Kersovan ([email protected]) Schon Fürst Esterhazy, bei dem Joseph ker. Eine Zusammenfassung der Noten in Prof. Dr. Hans Bäßler ([email protected]) Haydn Kapellmeister war, betrachtete einst den nächstliegenden Sechzehntel-Noten Michael Bölter ([email protected]) Werner Bohl ([email protected]) finster seine Fürstenkasse und trug sich mit würde den Einsatz von preisgünstigeren Susanne Fließ ([email protected]) dem Gedanken, das fürstliche Orchester Musikschülern oder weniger qualifizierten Prof. Dr. Birgit Jank ([email protected]) aufzulösen. Als Haydn davon erfuhr, kom- Kräften ermöglichen.“ Dr. Ulrike Liedtke ([email protected]) Torsten Mosgraber ([email protected]) ponierte er augenblicklich seine „Abschieds- Man möchte lachen, wäre es nicht – Dr. Peter Ortmann ([email protected]) sinfonie“. Bekanntermaßen fügte er dem angesichts der Realität – so traurig! Würde Margot Wallscheid ([email protected]) sich nicht durch unkoordinierte Sparpolitik Redaktionsassistenz: Kristin Bäßler der Aderlass an künstlerischem und kultur- politischem Potenzial so besorgniserregend Die Produktion und Schlussredaktion BWM: Bohl e-Publishing fortsetzen. Würde die Liste der Opfer ([email protected]) dieser Politik nicht monatlich länger. Und würde die ganze Ahnungslosigkeit, mit der Die Anzeigen das Thema behandelt wird, nicht auch noch Leitung: Dieter Schwarz zu Sarkasmus dieser Art Anlass geben: Service: Almuth Willing Schott Music, Der oben zitierte Unternehmensberater ist Postfach 3640, 55026 Mainz gerade unterwegs, um sich „die Sixtinische Fon 06131–24 6852, Fax 0 6131– 2468 44 Kapelle vorzuknöpfen“ und Rationalisierungs- ([email protected]) optionen für das Orchester aufzuspüren! Der Vertrieb Werner Bohl Leserservice: Nicolas Toporski, Verena Runde Sinfonie und Botschaft verstanden: Schott Music, Fürst Esterhazy rettete Haydns Orchester. Postfach 3640, 55026 Mainz Ganz ohne Geld… Fon 06131–24 6857, Fax 0 6131– 2464 83 ([email protected]) Finale einen langsamen Satz an, in dem ein geht es auch in der Kichenmusik nicht, Musiker nach dem anderen sein Spiel be- deren Stellenwert in Deutschland die Die Erscheinungsweise endet, das Licht löscht und sich samt Instru- Redaktion im kommenden MUSIKFORUM vierteljährlich: Oktober, Januar, April, Juli Einzelheftpreis: m 7,40 ment davonschleicht. Zwei einsame Geigen klärt. Wir sprechen mit Kantoren über die spielen noch einige melancholische Takte, finanzielle Situation der Kirchenmusiker und ehe auch sie verstummen. Als Haydn beim das Thema „(Neue) Musik in der Kirche“, nächsten Konzert die Sinfonie unprogramm- beleuchten das Verhältnis zwischen Knaben- Die in den namentlich gezeichneten Beiträgen ver- tretenen Meinungen decken sich nicht notwendiger- gemäß dem Fürsten präsentierte, war der chören und Neuer Musik und nähern uns weise mit der Auffassung des Herausgebers und der – er hatte den tieferen Sinn verstanden – dem Phänomen „Pop im Gotteshaus“. Redaktion. gerührt… und beließ alle Musiker im Dienst. Wichtig auch der Blick auf die Ausbildungs- Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Unter- situation in der Kirchenmusik. lagen wird keine Haftung übernommen. Dieses und vieles mehr… Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch …und noch mehr Geld auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Herausgebers. So viel Gunst kann man von heutigen Hütern ISSN 0935–2562 des Geld-Grals nicht erwarten. Kultur- und Das nächste MUSIKFORUM © 2006 Schott Music, Mainz Finanzpolitiker hetzen den Orchesterverant- erscheint am 15. Juli 2006 Printed in Germany wortlichen eher noch einen Unternehmens-

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