Von Leonardo fasziniert Giuseppe Bossi und Goethe

I m Blickfeld der Goethezeit

VI Hermann Mildenberger Serena Zanaboni

Fernando Mazzocca Francesca Tasso Reinhard Wegner

Von Leonardo fasziniert Giuseppe Bossi und Goethe

Im Blickfeld der Goethezeit VI

Antonio Canova, Porträtbüste Giuseppe Bossi, um 1816, Gips, Höhe 70 cm, Daniel Katz Gallery, London SANDSTEIN lm Blickfeld Kuratoren der Ausstellung Die Deutsche Nationalbibliothek 6 Vorwort der Goethezeit VI Hermann Mildenberger, ­verzeichnet diese Publikation in der Serena Zanaboni Deutschen Nationalbibliographie; Klassik Stiftung Weimar detaillierte bibliographische Daten 9 essays 76 Schiller-Museum Konzeption und Betreuung der Reihe sind im Internet über katalog »Im Blickfeld der Goethezeit« 26.8. – 13.11.2016 http://dnb.ddb.de abrufbar. Hermann Mildenberger 11 Serena Zanaboni 85 Gemälde von Giuseppe Bossi »Seine Schönheit erinnert Katalog Dieses Werk einschließlich seiner Teile an diejenige der römisch-­ Viola Geyersbach, Jochen Klauß, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver- 95 Großherzog Carl August Domenico Laurenza, Fernando wertung außerhalb der engen Grenzen hellenischen Antike« Die Reise nach Mailand und ­Mazzocca, Christof Metzger, ­Hermann des Urheberrechts­gesetzes ist ohne Giuseppe Bossi und die seine Erwerbungen Mildenberger, Margarete Oppel, Zustimmung des Verlages unzulässig Erwerbungen von und strafbar. Das gilt insbesondere für ­Francesca Tasso, Reinhard Wegner, Carl August in Mailand 98 Serena Zanaboni Serena Zanaboni die ­Vervielfältigung, Übersetzungen, 1817 – 1818: Goethe und Giuseppe Bossi: seine Mit freundlichem Dank an ­Mikro­verfilmungen und die Ein­ die spätklassizistische­ unsere Kooperationspartner. Redaktion speicherung und Verarbeitung in elek­ Arbeit am »Abendmahl« ­Rezeption in Weimar Max Pommer, Serena Zanaboni, tronischen Systemen. ­Hermann Mildenberger, 207 Spätklassizismus Svenja Gerndt, Margarete Oppel, 29 Hermann Mildenberger Inspiration und Nachfolge Viola Geyersbach, Dorothee Proft Goethe zwischen Leonardo in Weimar und Bossi Buchhandelsausgabe Sandstein Verlag 47 Francesca Tasso 245 anhang Gaetano Cattaneo als inter- Lektorat Christine Jäger-Ulbricht und kultureller Brückenbauer­ 246 Serena Zanaboni Sina Volk, Sandstein Verlag zwischen der Lombardei, Rekonstruktion der Gabriele Drews ­Deutschland und Erwerbungen 1817 – 1818 Ungarn zu Beginn des Reihenentwurf 19. Jahrhunderts 269 Nicolaus Ott + Bernard Stein Literatur 283 Bildnachweis Die Klassik Stiftung Weimar wird ­gefördert 55 Fernando Mazzocca von der Beauftragten der Bundesregierung­ für Satz und Gestaltung 284 Dank Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses­ Annett Stoy, Sandstein Verlag Abbildungen auf dem Umschlag Giuseppe Bossi – ein des deutschen Bundestages­ sowie dem Vorderseite: Kat. 7, Giuseppe Bossi, Freistaat Thüringen und der Stadt Weimar. Kopie der Kopfstudie zum Christus rastloser Wegbereiter Reprographie aus dem Abendmahl, um 1807 des Neoklassizismus Jana Neumann, Sandstein Verlag Rückseite: Kat. 4, Giuseppe Bossi, zwischen Mailand und Selbstporträt mit Gaetano Cattaneo, Giuseppe Taverna und Rom (Cameretta Portiana), 1809 – 1810, © Klassik Stiftung Weimar Öl auf Leinwand, , und Sandstein Verlag Mailand 65 Reinhard Wegner Mailand und die Folgen Abbildungen Schmutztitel Printed in Europe für das klassizistische Bild Porträtbüste Giuseppe Bossi, um 1816, ISBN Gips, Höhe 70 cm, Daniel Katz 978-3-95498-242-4 Gallery, London Serena Zanaboni

»Seine Schönheit erinnerte an diejenige der römisch-hellenischen Antike«

giuseppe bossi und die erwerbungen von carl august in mailand 1817 – 1818: goethe und die spätklassizistische rezeption in weimar

»Die Frauen schätzten ihn; so sehr, dass sobald er einen Raum betrat, die Ehe- männer knurrten wie argwöhnische Hunde. Er war schön, seine Schönheit erin- nerte an diejenige der römisch-hellenischen Antike […]. Seine langen, dichten, dunkelbraunen Haare [waren] […] lockig und legten sich malerisch in Strähnen um seine Stirn […], als ob Phidias daran gearbeitet hätte. Seine außergewöhnliche Schönheit wurde von der – vielleicht bewussten – Nachlässigkeit, die er seiner Frisur entgegenbrachte, noch betont. [...] Sein Geist und seine Haltungen waren so außerordentlich wandelbar, dass sie einen Großteil seiner vornehmen Individu-

alität ausmachten. Nach nahm er [...] seinen Platz im Kreis Mein herzlicher Dank gilt meinen Kolleginnen und der exzellentesten und berühmtesten Italiener ein.« 1 ­Kollegen der Klassik Stiftung Weimar und des Thüringi- schen Staatsarchivs für die Unterstützung und für die fachlichen Anregungen, vor allem Prof. Hermann Giuseppe Bossi war ein genialer und rastloser Künstler, ein revolutionärer ­Mildenberger, Margarete Oppel, Dorothee Proft, Viola Kunsttheoretiker, Museumsleiter und Autor (Abb. 1). Er vernachlässigte seine Geyersbach, Svenja Gerndt und Max Pommer sowie Dr. Bernhard Post, Volker Graupner, Dr. Ingrid Arnhold, Gesundheit, um sich seiner Leidenschaft zu widmen: dem theoretischen und Cornelia Feldermann, Petra Krause, Matthias Hage- praktischen Studium und dem aufopfernden Forschen in allen Kunst- und Kultur­ böck, Uwe Golle und Thomas Degner. Danken möchte ich auch Dr. Sandra Sicoli und Anna Torterolo für ihre bereichen. Selbst als sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechterte, Unterstützung. Für ihre konstruktive Kritik und die wis- setzte er eifrig seine Studien fort. Als er mit nur 37 Jahren an Schwindsucht senschaftlichen Anregungen möchte ich mich herzlich starb, gehörte er zu einem der europaweit bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. bei Dr. Markus Schwerin, Prof. Dr. Martin Büchsel und vor allem Andreas Rausch bedanken. Mein persönlicher Er lebte ein äußerst intensives Leben: Sein Geist vereinte in sich die wider- Dank gilt Fritz Grandi, Tom Wirkus, Diana di Maria und sprüchlichsten Extreme. Mutig und rebellisch war er auch: Er wagte es, sich Dr. Karl Philipp Ellerbrock für die Anregungen sowie für die Bereitschaft zur Diskussion, mit denen sie meine öffentlich gegen die damalsvon der napoleonischen Regierung verfochtenen kul- Studie bereichert haben. turellen Ideologien und gegen Napoléons absolutistisches Regime zu stellen. Zugleich war er der Star der mondänen Salons und Feste in Mailand, das damals 1 Rovani 1868, S. 276 – 277. Von der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt. die Hauptstadt Italiens war. Bossi war schön, groß und charmant. Die Frauen 2 Vgl. zu Bossis Biographie: Bossi-Nenci 2004, liebten ihn und er erwiderte leidenschaftlich diese Liebe. Er heiratete nie, statt- S. IX – XX; Tosi Brunetto 1983. Bossis erster Biograph war Gaetano Cattaneo, vgl. Bossi-Casati 1885. dessen sammelte er Liebhaberinnen, unter denen sich zahlreiche der schönsten Ein großer Teil von Bossis Korrespondenz wurde von Frauen seiner Zeit fanden.2 ­Roberto Paolo Ciardi veröffentlicht, vgl. Ciardi, 1982, Sein unruhiger, rastloser Geist war und ist extrem modern – dennoch ist Bd. 1 – 2. Weitere Briefe von Bossi finden sich in: Nenci 1997, S. 401 – 465; Cassanelli 1995, S. 105 – 121. Bossi Giuseppe Bossi ein Name, der heute zu Unrecht dem breiten Publikum unbe- schrieb zwischen 1807 und 1815 ein Tagebuch; es kannt ist und selbst in der Forschung ein Nischendasein fristet. Wenn man sich wurde 1925 von Giorgio Nicodemi veröffentlicht und Abb. 1 kürzlich von Chiara Nenci in einer revidierten Auflage Giuseppe Bossi, Selbstporträt, um 1814, mit dieser höchst komplexen Figur auseinandersetzt, wird deutlich, was ihn im publiziert. Vgl. Bossi-Nenci 2004; Bossi-Nicodemi Öl auf Leinwand, Florenz, Uffizien 21. Jahrhundert noch relevant macht. 1925.

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Giuseppe Bossi wurde 1777 in Busto Arsizio, nahe Mailand, in eine wohlhabende Familie geboren. Er studierte Malerei an der Accademia di Brera, der Brera-­ Kunstakademie in Mailand. Sein Talent wurde von seinen Lehrern früh erkannt: 1795 bekam er ein dreijähriges Stipendium von der Akademie, um seine Fertig- keiten in Rom perfektionieren zu können. Dort entwickelte er sein Talent als Kopist, indem er antike Skulpturen nach Vorlagekopien im Museum Pio Clemen- tino und nach Werken Buonarrotis (1475 – 1564) und Raffaello Santis (1483 – 1520) in den Vatikanischen Museen anfertigte. Um die Menschen und deren Anatomie in seiner Kunst realistisch darzustellen, führte er Natur- studien durch; hierzu gehörte insbesondere das Sezieren von Leichen. In diesen Jahren begann er auch, Kunst zu sammeln. Er knüpfte Kontakte und Freund- schaften zu einigen der einflussreichsten Künstler, Sammler und Intellektuellen seiner Zeit und baute damit ein Netzwerk auf, das ihm persönlich und professi- onell lebenslang von Nutzen war.3 Nach seiner Rückkehr nach Mailand arbeitete er weiter als Künstler – in einer Zeit der politischen Unruhen in Italien. Oberitalien war seit 1706 der österreichi- schen Herrschaft der Habsburger unterworfen, 1796 eroberte Napoléon Bonaparte (1769 – 1821) Oberitalien blitzschnell im Laufe der Italienischen Kampagnen (1796 – 1797) und beendete das bestehende fast 100-jährige österreichische monar- chische Regime in Italien. Die Cispadanische Republik wurde in den eroberten Gebieten gegründet und im Juni 1797 in Cisalpinische Republik (1797 – 1799) umbenannt. 1799 marschierte das österreichische Regiment wieder in Oberitalien ein, die französischen beziehungsweise napoleonischen Truppen mussten Italien 4 Pillepich 2001, S. 128; Melzi d’Eril 1991, S. 95. Vgl. zum Italienfeldzug und zu den verschiedenen Schlach- verlassen und die habsburgische Regierung wurde wieder eingesetzt; dennoch ten: Ellis 2003; Rimoldi 1983. Vgl. zur Herrschaft der gaben Napoléon und das französische Regime ihre Pläne, Italien zu erobern, nicht Habsburger in Oberitalien: Ingrao 2000. Vgl. zur Cispa- danischen Republik: Rombaldi 1997. Vgl. zur Ersten 3 Bossis Lehrer waren Giuliano Traballesi (1728 – 1812), auf. Die Schlacht bei Marengo am 14. Juni 1800 ermöglichte Napoléons Rückkehr und zur Zweiten Cisalpinischen Republik: Zaghi 1992. Martino Knoller (1725 – 1804), und die österreichische Herrschaft wurde erneut vom italienischen Territorium Vgl. zur Italienischen Republik: Mailand 2002; Guerri (1754 – 1817) und Giuseppe Franchi (1731 – 1806). Vgl. 2001, S. 21 – 30. Vgl. zu Napoléon: Roberts 2014. Vgl. zu verbannt. Ein großer Teil der Bevölkerung feierte die französische Regierung als Abb. 2 Samek Ludovici 1971, S. 314 – 319. Vgl. zu Bossis in den napoleonischen Jahren in Mailand: Pillepich 2001. Leonardo da Vinci, Vitruvianischer Mensch, um 1490, Feder und Tinte auf Papier, Rom geknüpften Freundschaften mit Künstlern, darun- Befreier vom Joch der Österreicher, der veralteten Staatsform des Kaisertums und 5 Mazzocca 1999, S. 63 – 83. Vgl. zur napoleonischen Venedig, Gallerie dell’ Accademia, Gabinetto­ dei Disegni, aus Bossis Besitz ter mit Angelica Kauffmann (1741 – 1807), Gaetano als Überbringer der Republik. Die Cisalpinische Republik wurde provisorisch wie- Propaganda: Schmid 2010. Vgl. zur Geschichte der Cattaneo (1771 – 1841), Felice Giani (1759 – 1823), Brera-Pinakothek: Lauber 2012; Bandera 2009; Sicoli Vincenzo Camuccini (1771 – 1844): Tosi Brunetto dererrichtet, bekannt zunächst als Zweite Cisalpinische Republik (1800 – 1802), 2000 a. Vgl. zu Bossis museologischer Arbeit für die 1983, S. 14 – 15. Besonders wichtig war die Freund- die 1802 in die Italienische Republik (1802 – 1805) umbenannt wurde; Bonaparte Brera: Sicoli 2010 a; Mailand 2009 a, S. 12 – 21; Bram- schaft, die ihn mit dem Bildhauer Antonio Canova trat seit 1802 als Präsident der Republik in Erscheinung. billa 2008, S. 46 – 61; Valli 2000, S. 59 – 64; Istituto (1758 – 1822) verband: Sie hielt bis zu Bossis Tod an, Lombardo 1999; Cassanelli 1999, S. 221 – 250; Sicoli 5 und die zwei bereicherten sich gegenseitig in ihrer Giuseppe Bossi war ein begeisterter Anhänger republikanischer und jako- (Direktor) der Brera ein. Während seiner gesamten Amtszeit als Sekretär der 1989, S. 71 – 90. Kunsttätigkeit durch Meinungsaustausch und Rat- binischer Ideen: Damit war er der rechte Mann am rechten Ort in der republi- Brera reüssierte er zugleich in weiteren Bereichen, dichtete, verfasste Kunst- 6 Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Künstler den Aufsatz von schläge, die ihr jeweiliges Œuvre fruchtbar beeinfluss- Fernando Mazzocca in diesem Katalog. Vgl. zu Bossis 4 ten und prägten (ebenda). Vgl. zu Bossis Naturstudien kanischen Phase. traktate und widmete sich zudem tiefgründigen Studien der verschiedensten literarischer Tätigkeit: Bezzola 1999, S. 139 – 149; Farina an Leichen: Salvi 1996, S. 41 – 47, hier S. 45. Vgl. hier- Die Kunst wurde von den Herrschern durch Aufträge gefördert – vor allem, Themen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Er sammelte Bücher und wertvolle 1983, S. 570 – 621; Ciardi 1982, Bd. 2, S. 783 – 831. zu auch: Carli 2004, S. 73. Während seiner römischen um sie für Regierungspropaganda zu nutzen und einen Konsens herzustellen. Manuskripte für seine persönliche Bibliothek und Kunst für seine Kunstsamm- Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Kunstsammler: Nenci 2012, Studienzeit fing er an, Kunst zu sammeln, die er von S. 320 – 331; Mara 2012, S. 57 – 98; Antonelli 2010, den dort kennengelernten etablierten Sammlern er- Die napoleonische Obrigkeit in Mailand schrieb am 28. März 1801 einen Kunst- lung. Die von ihm angeschafften Kunstwerke waren so zahlreich und so ansehn- S. 509 – 544, 579; Sciolla 1992, S. 208 – 216. Vgl. zur werben konnte. Vgl. zu Bossis Kontakt mit Sammlern wettbewerb für das beste Gemälde zum Thema »Die Dankbarkeit der Cisalpi- lich, dass sie den Kernbestand von zwei verschiedenen Museen bildeten: des Geschichte des archäologischen Museums in Mailand: in Rom und zum Anfang seiner Sammlertätigkeit: La Guardia 1995; La Guardia 1993, S. 237 – 243. Vgl. Sciolla 1992, S. 208 – 216; vgl. zu diesem Thema auch nischen Republik gegenüber Napoléon« aus. Bossi wurde als Preisträger gekrönt archäologischen Museums in Mailand und der Graphischen Sammlungen der zur Geschichte der Gallerie dell’Accademia in Venedig: die Lugt–Nummer 281 zu Giuseppe Bossi, vgl. Lugt 281. und dieser Sieg trug ihm am 21. Mai 1801 die Ernennung zum dritten Sekretär Venezianer Gallerie dell’Accademia (Abb. 2).6 Nepi Sciré 1982.

12 13 Unter der Leitung Bossis wurden Rolle und Struktur der Brera modernisiert. Seinen republikanischen Idealen folgend, stellte er den didaktischen Wert und den politischen und sozialen Nutzen der Kunst in den Vordergrund: Die Aka- demie und die Sammlung sollten dazu dienen, die Bürger zu erziehen.7 Bossi kümmerte sich um die akademische Neugestaltung der Brera.8 Er realisierte eine Reform, die der Institution Autonomie gegenüber der Politik verschaffte.9 Seine museologische Tätigkeit war innovativ und bahnbrechend in Italien: Bossi setzte die Brera auf gleiche Ebene mit den modernsten europäischen Sammlun- gen seiner Epoche. Zunächst bestand die Brera-Sammlung aus nur wenigen Werken. Die Regierung stellte ihm Andrea Appiani (1754 – 1817) zur Seite, der 1802 zum Commissario delle Belle Arti (Kommissar der Schönen Künste) ernannt wurde, um die Lücken in der Mailänder Sammlung zu füllen. Bossi und Appiani folgten gegensätzlichen Methoden, um dieses Ziel zu erreichen.10 Bossi war bemüht, die Bestandsvermehrung vor allem durch gezielte Ankäufe11 und durch eine ausgefallene Auswahl der Werke12 zu realisieren. Seine Aufgeschlossen­ heit und sein Engagement für die Brera wurden von den regierenden Kräften kritisch gesehen und viele verfeindeten sich mit ihm, denn sein Ansatz, eine Institution für die Öffentlichkeit zu gründen, richtete sich gegen die laufende Politik. Diese wurde durch Appianis Arbeit am besten verkörpert: Die Bestands- vermehrung der napoleonischen Museen basierte auf massiven Requirierungen von Kunstwerken aus den Territorien, die Napoléon erobert hatte,13 und genau das war Appianis Aufgabe als Kommissar der Schönen Künste.

Bossi stand den skrupellosen und umfangreichen Requirierungen Appianis 12 Bossis Auswahl der Werke spiegelte seine feine für die Brera in den verschiedenen oberitalienischen Departements ablehnend Kennerschaft wider; er folgte keinem traditionellen gegenüber.14 Trotz dieser kulturpolitischen Divergenzen mit der Regierung und konservativen Sammlungsansatz. Er überwand den Geschmack der Epoche, der auf die Kunst der besaß Bossi während der republikanischen Phase den stärksten Einfluss im Renaissance und des 17. Jahrhunderts fokussiert war, Kunstbereich und konnte Appianis Handeln eingrenzen.15 und erwarb Gegenstände aus allen Perioden und Kunstschulen, wie es zugleich in den innovativsten 1805 allerdings fand ein politischer Wandel statt: Nach einem triumphalen ­europäischen Museen geschah. Auch zeitgenössische 7 Vgl. Nenci 2000, S. 1032 – 1033; Bossi 1806, Einzug in Mailand ließ sich Napoléon am 26. Mai zum König Italiens krönen Kunstwerke wurden in die Sammlung aufgenommen S. 3 – 11. (Abb. 3). Damit endete die republikanische Phase und eine monarchische, impe- und Bossi zeigte ein starkes Interesse an der mittel­ 8 Bossi schrieb den neuen Disziplinarplan, alterlichen Kunst, was bahnbrechend in seiner Zeit 16 die »Statuti«, für die Brera-Akademie, die 1802 riale Phase begann, in der sich eine absolutistische Politik durchsetzte. Im war. Vgl. Bertelli 1984b, S. 8 – 9 und Nenci 1999, zusammen mit der Kunstakademie in Kunstbereich wuchs die Macht von Andrea Appiani in schwindelerregende S. 413. zu Staatsakademien der Italienischen Republik 13 Savoy 2009, S. 29; Hubert 1996, S. 265 – 275; 17 ernannt wurden. Vgl. Arrigoni 1998, S. 10. Höhe und Bossis Einfluss schwand zusehends. Nach dieser Wende der politi- ­Wescher 1976, S. 139. Vgl. zur Entwicklung der Brera-­ Die »Statuti« sind in: Tea 1941, S. 284 – 289, Abb. 3 schen Verhältnisse wurde Bossi der napoleonischen Herrschaft unbequem, da Sammlung: Sicoli 2010a; Mailand 2009 a. Giuseppe Bossi, Napoléon, Privatsammlung, Nr. IX publiziert worden. er mit den absolutistischen Ideologien Bonapartes und dessen Kulturpolitik 14 Bossi beklagte, dass die Unmenge an Werken, die 9 Er schaffte die Stelle des Präsidenten der bereits Sammlung Orsi, Mailand durch Requirierungen in die Brera-Pinakothek kamen Brera ab, dessen Funktion die Vertretung der nicht einverstanden war und dies auch öffentlich kundtat. Vor allem war er nicht und dort präsentiert wurden, in erster Linie der Propa- ­Interessen der Politik in der Brera mit voller bereit, sich der neuen Regierungspolitik anzupassen, nur um an der Macht zu ganda des Regimes­ und nicht den Bürgern nutzten. ­Entscheidungsbefugnis war. Die Leitung der Man wollte die Kunst nicht schützen, sondern vielmehr Akademie wurde dem Sekretär und einem Pro- bleiben. Seine Ideen waren ihm wichtiger und er verfolgte sie weiter, obwohl als Trophäe präsentieren. Vgl. Sicoli 1989, S. 77 und fessorenkolleg anvertraut. Vgl. Tardito 1986, ihm und seinen Entscheidungen von allen Seiten starker Widerstand entgegen- 82; Ciardi 1983, S. 376 – 378. Vgl. zu Appianis Requi- S. 31; Bertelli 1984 b, S. 8 – 9. schlug.18 Eine Kontroverse mit dem Innenminister Ludovico G. A. di Breme rierungen und zu seiner Tätigkeit als Kommissar: 10 Sicoli 2000 a, S. 262 – 266. Vgl. zu Appiani: ­Zanaboni 2014b, S. 153 – 193. Leone 2008, S. 580 – 597; Mazzocca 2002, (1754 – 1827) war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Bossi 15 Mazzocca 2002, S. 27. S. 159 – 190; Garberi 1990; Mailand 1975 a. reichte am 31. Januar 1807 im Anschluss an dieses Ereignis seinen Rücktritt als 16 Emiliani 2010, S. 24. Vgl. zum Königreich Italien Vgl. zu Appianis Ernennung zum Kommissar der (1805 – 1814): Cannella 2009; Schneid 2002. Schönen Künste: Sicoli 2000 a, S. 263. Sekretär der Brera ein. Hinter seiner Demission stand auch der Schatten von 17 Menichella 1999, S. 227. 11 Nenci 1999, S. 410; Scotti 1979, S. 52. Appiani: Er hatte sich im Hintergrund viel Mühe gegeben und strategisch 18 Bora 1975, S. 31.

14 15 gespielt, um Bossi in den Rücken zu fallen. Die Manipulationen von Appiani führen. Bossis Ideen wirkten jedoch über seinen Tod hinaus und verbreiteten sich verfehlten ihre Wirkung nicht.19 unter den Eliten: Deshalb war er tot gefährlicher als lebendig. Es galt für die Bossis Popularität unter einem großen Teil der Mailänder Elite, seine Kon- Obrigkeit daher, die Erinnerung an seine Verdienste und all das, was er aufge- takte mit den Mächtigen und vor allem seine Freundschaft mit Eugène de Beau- baut hatte, soweit wie möglich zunichte zu machen. Daher weigerten sich die harnais (1781 – 1824), dem Vizekönig Italiens, ermöglichten es ihm dennoch, Leiter der Brera, Bossis Nachlass für ihre Institution zu erwerben, wie es die seine führende Position in Mailand und in Italien zu halten.20 Nach seinem Rück- Erben Bossis ihnen zuerst angeboten hatten.25 tritt durfte er weiter als Kunstprofessor tätig sein: Der Vizekönig bewilligte mit einem offiziellen Dekret die Gründung einer privaten Kunsthochschule mit Son-

19 Di Breme ordnete die erneute Ernennung eines derstatus (Scuola Speciale di Pittura), die in Konkurrenz zur Brera-Akademie II Präsidenten der Brera an – die Stelle, die Bossi vor stand. Sie wurde von Bossi geleitet und hatte ihren Sitz in Bossis Wohnung in ­einigen Jahren abgeschafft hatte. Die Wiederher­ Mailand, wo sich ebenfalls sein Atelier und seine reiche Kunstsammlung befan- Nach der kategorischen Absage der Leiter der Brera kümmerte sich Bossis 28 Diese erste Mailänder Erwerbung Carl Augusts stellung dieser Position in der Brera untergrub die wurde bisher in wenigen Studien untersucht. Zu den 21 Grundlagen der demokratischen Wende, welche der den. Am 24. April 1807 beauftragte ihn der Vizekönig damit, eine Gemäldekopie Freund und Testamentsvollstrecker, Gaetano Cattaneo (1771 – 1854), im Auftrag Erwerbungen und deren Folgen sind als unentbehrli- Sekretär geschaffen hatte. Vgl. Lauber 2012, S. 15; von Leonardo da Vincis »Abendmahl« im Refektorium des Dominikanerklosters der Erben um die Verwaltung des Nachlasses des Künstlers und ehemaligen che Grundlagen die Forschungen von Katharina Menichella 1999, S. 228, Anm. 21; Ricci 1907, S. 34. 26 Mommsen und Hugo Blank zu nennen. Vgl. Mommsen, Vgl. zu di Breme: Locorotondo 1972. Santa Maria delle Grazie in Mailand anzufertigen. Zugleich gab der Vizekönig Sekretärs. 1, S. 403 – 427; Blank 1992. Vgl. dazu auch: Zanaboni 20 Vgl. zu Bossis guter Beziehung mit de Beauhar- bei Giacomo Raffaelli (1753 – 1836) ein Mosaik von Leonardos Meisterwerk in Mailand, wo Bossi die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, sowie 2014a, S. 109 – 188. Vgl. zu Cattaneo: Savio 1990, nais: Nenci-Bossi 2004, S. 144, Anm. 383. Auftrag.22 Um die Gemäldekopie und das Mosaik anzufertigen, musste Bossi Italien und ganz Europa befanden sich nach Napoléons Sturz und den Beschlüs- S. 547 – 574; Ghisalberti 1967, S. 762 – 782. Cattaneo 21 Bossis Schule war mehr auf die Lehre der Kunst- hatte an der Brera-Akademie in Mailand Kunst stu- theorie als auf die Praxis orientiert. Vgl. zu Bossis zunächst einen Karton in Originalgröße herstellen, der sowohl seiner Kopie in Öl sen des Wiener Kongresses in einer Phase der Neuregelung. diert. Ab 1803 leitete er das numismatische Kabinett Scuola Speciale di Pittura: Scotti 2008, S. 51; Antonelli als auch Raffaellis Mosaik als Vorlage dienen sollte. Dafür musste Bossizuerst Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757 – 1828), ein in Mailand bis seinem Tod 1841. Vgl. zu Mylius: Lier- 2007, S. 184 und S. 187 Anm. 14. Das Dekret von de 27 mann 2004, S. 65 – 67; Moioli 1999, S. 29 – 39. Der Beauharnais ist enthalten in: Ciardi, 1982, Bd. 2, das Original des »Abendmahls« rekonstruieren; also fertigte er Durchzeichnun- überzeugter Gegner von Napoléon und dessen Politik, entschied sich im Som- Kontakt zwischen Heinrich Mylius, Carl Augusts zwei- S. 889 – 891. gen des »Abendmahls« – die sogenannten »Lucidi« – an, die ihm als Basis für mer 1817, eine Reise in die Schweiz und nach Oberitalien zu unternehmen. Eines tem Mailänder Begleiter, und Weimar bestand bereits. 22 Vgl. zu Leonardos »Abendmahl« und zu Leonardo die Rekonstruktion dienten (Kat. 7 – 49). der wichtigsten Ziele seiner Tour war Mailand. Die Dokumente über diese Reise Als junger Mann ging Mylius nach Mailand, um dort die Anm. 2, Kat. 7 – 49 (»Abendmahl«-Arbeit), die Interessen des Familienunternehmens – eines S. 98 – 105. Bossi litt an einer Tuberkuloseerkrankung, die sich durch diese Arbeit wei- sind verschollen, weshalb man nicht rekonstruieren kann, was genau Carl Handels– und Speditionshauses – zu vertreten. Mit 23 Vgl. zur Schlacht von Waterloo: Waterloo 2008. ter verschlechterte. Aber das gebot seinem unruhigen Geist keinen Einhalt: Er August dazu bewegte, nach Mailand zu fahren. Es ist gut denkbar, dass der Weimar und dem dortigen Hof war Mylius durch seine Vgl. zum Sturz des napoleonischen Regimes: Zamoyski Frau Friederike geb. Schnauss (1771 – 1851) verbun- 2014. Vgl. zum Königreich Lombardo-Venetien: arbeitete und studierte rastlos weiter. Bossi konnte die endgültige Niederlage Anlass für seinen Halt in der ehemaligen napoleonischen Hauptstadt die den. Durch sie war der gute Kontakt zu Carl August ­Mazohl-Wallnig 1993. Vgl. zum Wiener Kongress: der Franzosen in Waterloo und die Wiedererrichtung der österreichischen Vor- Bekanntschaft mit dem Frankfurter Bankier Heinrich Mylius (1769 – 1854) war. und Goethe zustande gekommen. ­Laven 2000. herrschaft in Oberitalien (Königreich Lombardo-Venetien) am 9. Juni 1815 als Mylius wiederum, der Cattaneo gut kannte, muss ihn dem Großherzog vorge- 29 Die Zeichnung von Appiani konnte allerdings in der 24 Porta 1956, S. 189; Giordani 1856, S. 50; Visconti Sammlung bisher noch nicht nachgewiesen werden. 23 1818; De Cristoforis 1818; Alla memoria 1818; Calvi Ergebnis des Wiener Kongresses noch erleben. Kurz darauf starb er im Alter stellt haben. Cattaneo, Leiter des Mailänder Münzkabinetts, bot dem Großher- Es gibt vier verschiedene Varianten dieser Zeichnung. 1816; Bellotti 1816; Anesi 1815; Cattaneo 1815. von 37 Jahren, umgeben von seinen Freunden, die ihm immer nahe geblieben zog die erste Auswahl aus Bossis Nachlass an.28 Es fehlen leider auch hier die Eine Entwurfsvariante ist in der Albertina in Wien (Inv. 25 Vgl. Bertelli 1984b, S. 8 – 9. Die Absage der Brera Nr. 2980, S. 459. B 491), eine in einer Privatsammlung führte zum Unmut der Mailänder Elite gegenüber den waren. Quellen, anhand derer man nachvollziehen könnte, welche Gegenstände aus in Wolvertem (Belgien), eine weitere ausgeführte leitenden Funktionären der Brera. Vgl. Cattaneos Brief Sein Tod wurde sehr bedauert: Die zahlreichen Trauerreden und die Errich- Bossis Sammlung von Cattaneo angeboten wurden. Fakt ist, dass Carl August Zeichnung im Pariser Louvre (Inv. Nr. MI 754), eine an Canova vom 17. Oktober 1817, in: Antonio Canova­ tung eines Denkmals für ihn legen noch heute ein berührendes Zeugnis der in Mailand von den Erben Bossis einen Karton und ein Konvolut ankaufte: Für ­Detailstudie für die Figur Napoléons ist in der Galleria 2003, S. 1076 – 1077. Vgl. dazu auch den Brief von Ma- d‘Arte Moderna in Mailand zu finden (Inv. Nr. 3890). rietta Frappolli Londonio an Antonio Canova vom 25. Freundschaft und der Sympathie ab, die ein großer Teil der Mailänder Kunst- die Summe von 6 000 italienischen Lire (entsprechend 1587 Sächsischen Reichs- Die Version, die für die von Carl August 1817 erworbe- September 1817, in: Canova-Honour 2003, welt und der Eliten für den ebenso rebellischen wie herzlichen und multitalen- thalern, 7 Groschen und 3 Pfennigen) erwarb er den Karton vom »Parnass« von ne Zeichnung infrage kommen könnte, ist diejenige S. 1031 – 1032. 24 aus der belgischen Sammlung: Auf der Mailänder Ver- 26 Vgl. zu Bossis Freundschaft mit Cattaneo: Pasztory-­ tierten Künstler empfand. Giuseppe Bossi (Kat. 50 – 59) und für 1000 italienische Lire (entsprechend 264 sion wird nur ein Detail Napoléons dargestellt und die Pedroni 1981, S. 75 – 81. Die Erben Bossis waren die Selbst nach seinem Tod und der veränderten politischen Situation stellte Sächsischen Reichsthalern, 13 Groschen und 4 Pfennigen) kaufte er das Kon- Varianten im Louvre und in der Albertina kommen auf- Kinder seines Bruders Luigi und der zweite Bruder des Bossi in Mailand noch eine große Gefahr für die Leiter der Brera dar. Die neuen volut mit Bossis 1807 für den Stiefsohn Napoléons, Eugène de Beauharnais, grund der Provenienz nicht infrage. Vgl. Birke/Kertész Malers, Benigno. Carlo Andrea Locatelli kümmerte 1995. Vgl. zum Ankauf dieser Zeichnung von Carl August: sich mit Cattaneo um die Verwaltung der Erbschaft österreichischen Regenten in Mailand hatten die alten napoleonischen Beamten angefertigten Durchzeichnungen (»Lucidi«) nach drei Kopien des »Abend- Zanaboni 2014a, S. 129 – 131. In Mailand konnte Carl der Kinder von Luigi. Für Weimar spielte er keine Rolle. im Amt belassen, sodass kein politischer Wechsel in den Machtpositionen der mahls« von Leonardo (Kat. 8 – 49) (Anh. Nr. 1: Nr. 1.1.2). Cattaneo vermittelte August auch Bücher vom Buchhändler Ferdinando Vgl. zu den Brüdern von Bossi: Mara 2012, S. 89. Bossi Artaria und Karten von den Geographen des Astrono- hatte Cattaneo und Carlo Porta als Testamentsvollstre- Brera stattgefunden hatte. Die ehemaligen Funktionäre, die Bossi als gefährli- dem Großherzog zudem weitere Kontakte. In der Folge konnte Carl August von mischen Instituts in der Brera sichten. Vgl. Zanaboni cker ernannt, vgl. Rizzi 2008, S. 43. Vgl. zu Cattaneos chen Einzelkämpfer wahrgenommen hatten und gegen ihn und die von ihm Costanza Appiani, geborene Barnabei (1771 – 1831), der Witwe des Künstlers 2014a, S. 131 und die Nr. 1 und 2, S. 139 – 140. Von Biographie: Savio 1990, S. 347 – 374; Ghisalberti, durchgeführten Innovationen in der Brera im Hintergrund strategisch gehandelt Andrea Appiani, dessen Zeichnung »Apotheose Napoléons« für 85 Zecchini Herinrich Mylius kaufte Carl August unterschiedliche 1967. Kunstobjekte und Gemälde für die Summe von 956,60 29 27 Vgl. zu Carl Augusts Biographie: Schlegel 2007, hatten, um dem Sekretär in den Rücken zu fallen, bekleideten nach 1815 immer erwerben (Anh. Nr. 1: Nr. 1.2.). italienischen Lire. Vgl. die Quittung von Mylius, datiert S.132 – 164. Vgl. zu Carl Augusts Engagement gegen noch dieselben Ämter. Die Ideen, die Bossi für die Brera und für den Kunstschutz Wieso entschied sich Carl August dazu, diese Gegenstände für die Weimarer 5. November 1817, in: [ThHStAW, Fürstenhaus A 1339, Napoléon: Günzel 2001, S. 56. Vgl. zum Sturz Fol. 619 r, Beleg 1]. Vgl. dazu auch die Beilage zu dieser Napoléons und zum Wiener Kongress Anm. 23 in die- verfolgt hatte, wurden nach Napoléons Sturz populärer, aber die Beamten woll- Sammlungen zu erwerben? Welche Kriterien leiteten ihn bei seiner Auswahl? Quittung: [ThHStAW, Fürstenhaus A 1339, Fol. 620 r, sem Text. ten ihren konservativen Ansatz weiterverfolgen und keine Veränderungen durch- Goethe, sein vertrauter Kunstberater, war auf dieser Reise nicht dabei. Die Beleg 2].

16 17 Hermann Mildenberger

goethe zwischen leonardo und bossi

Für Harald F. Kocheise, Vence

I

Goethe schätzte den Schriftsteller, Dandy und Lebemann Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Dessen exzentrischer Reisebericht über Großbritannien, »Briefe eines Verstorbenen« (1830), den er angeregt rezensierte, enthält eine beiläufige Beschreibung anlässlich des Besuchs von Warwick Castle mit seinen splendiden Kunstschätzen, die ihn vielleicht bei der Lektüre kurz innehalten ließ: »Es wurde mir als eine Merkwürdigkeit der genauen und festen Bauart des Schlosses gezeigt, daß ungeachtet seines Alters, wenn alle Türen der Enfilade geschlossen sind, man aus dem letzten Kabinett die ganze Weite von 350 Fuß entlang durch die Schlüssellöcher eine am anderen Ende gerade in der Mitte ste- hende Büste erblicken kann! In der Tat eine merkwürdige Genauigkeit […].«1 Ähnlich verblüffende Perspektiven verrät das »musée imaginaire« in Goethes Kopf, das vielleicht noch mehr italienische Kunst und Antiken beher- bergte als seinerzeit der pittoreske Landsitz. Die immer länger werdenden Enfi- laden, die Goethe von der dinglichen Substanz seines italienischen Aufenthalts (1786/88) entfernten, gerieten zur perspektivischen Herausforderung. Goethes »Die Italienische Reise, Erster und Zweiter Teil« wurde 1816 beendet. Unter dem Datum »Rom, den 25. Januar« (1787) hielt er fest: »Wir sahen bei einem Geistlichen, der ohne großes angebornes Talent sein Leben der Kunst widmete, sehr interessante Kopien trefflicher Gemälde, die er in Miniatur nachge- bildet hat. Sein vorzüglichstes nach dem Abendmahl des Leonardo da Vinci in Mailand. Der Moment ist genommen, da Christus den Jüngern, mit denen er vergnügt und freundschaftlich zu Tische sitzt, erklärt und sagt: ›Aber doch ist einer unter euch, der mich verrät‹. Man hofft einen Kupferstich entweder nach dieser Kopie oder nach andern, mit denen man sich beschäftigt. Es wird das größte Geschenk sein, wenn eine treue Nachbildung im großen Publikum erscheint.«2 Mit dem Desiderat der guten Reproduktion ist man wohl näher am Zeit- punkt der Niederschrift als dem der realen Begegnung. Authentische Gemälde von Leonardo – zumindest hinsichtlich von Zuschrei- bungen der Zeit – sah er auch gemeinsam mit Angelika Kauffmann, ohne mehr als allgemeine Einschätzungen zu notieren (22. Juli, 18. August 1787). Waren Abb. 1 die Ausfahrten in angenehmer Begleitung zur Besichtigung der Sammlungen Caroline Lose nach Friedrich Lose, Sammelvedute mit Mailänder Ansichten, noch schemenhaft präsent? Ausschnitt »S. Maria delle Grazie«, Am 23. Mai 1788, auf der Rückreise in Mailand angekommen, besuchte er um 1800/1810, Radierung, Klassik Stiftung Weimar, Graphische das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie (Abb. 1). Im Refektorium sah 1 Ohff 2006, S. 534. Sammlungen (aus Goethes Besitz) er das von etwa 1495 bis 1497/98 gemalte, mittlerweile in seiner Substanz stark 2 WA-I, 30, S. 267.

28 29 beeinträchtigte »Abendmahl«. Noch auf denselben Tag ist sein Brief an Herzog Carl August datiert. Die Erwähnung der Besichtigung des Meisterwerks von Leonardo wird zu einem Synonym des Abschieds von der sinnlich-unmittelbaren Begegnungsebene mit den Höchstleistungen der italienischen Kunst: »Der Abschied von Rom hat mich mehr gekostet als es für meine Jahre recht und billig ist, indessen habe ich mein Gemüth nicht zwingen können und habe mir auf der Reise völlig Freyheit gelaßen […]. Dagegen ist das Abendmahl des Leonard da Vinci noch ein rechter Schlußstein in das Gewölbe der Kunstbegriffe. Es ist in seiner Art ein einzig Bild und man kann nichts mit vergleichen.«3 Der »Schlußstein in das Gewölbe der Kunstbegriffe« ist auch biographisch verstanden die letzte Möglichkeit gewesen, ein derartiges Werk in natura zu sehen. Wie die Gemälde Mantegnas, Raffaels und entschwand Leonardo in transalpine Entrücktheit. Lediglich die kurze zweite italienische Reise (1790) – unternommen, um Herzogin Anna Amalia über Venedig aus Italien abzuholen – gab nochmals Chancen, zumindest die venezianische Kunst intensiv zu studieren. Die im Brief an Herzog Carl August summarisch doch klar geäußerte Ergriffenheit vor der solitären Schöpfung des »Abendmahls« hinterließ feste  Abb. 2 Vorstellungen in Goethes »musée imaginaire« – immer wieder galt es nun, sich Gerard Edelinck nach Peter Paul Rubens nach Leonardo da Vinci, der Form zu vergewissern, sie in ihrer Bedeutung als »Schlußstein« in der retro­ Die Schlacht von Anghiari, um 1665, spektiven Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen, zu ana- Kupferstich, Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlungen lysieren und in gültiger literarischer Prägung dem Publikum zu überantworten. (aus Goethes Besitz) Goethe entzog sich dem bei Zeitgenossen beliebten Spiel, sich in allzu par- teiische Debatten zu verstricken, ob Raffael größer als Michelangelo oder Leo- Abb. 3  nardo sei, ja wer von den Dreien das Supremat behaupten dürfe. Bei aller Vor- Agostino de Musi nach liebe Goethes für Raffael wollte er der Komplexität der italienischen Renaissance Michelangelo Buonarroti, Figurengruppe aus der gerecht werden: »[…] und wir stritten über den Vorzug von Michel Angelo und Schlacht von Cascina, Raphael; ich hielt die Partei des ersten, er des andern, und wir schlossen zuletzt 1524, Kupferstich, 4 Klassik Stiftung Weimar, mit einem gemeinschaftlichen Lob auf Leonardo da Vinci.« Graphische Sammlungen Goethe näherte sich Leonardo im Rahmen seiner Übersetzung und extensiven (aus Goethes Besitz) Kommentierung von »Benvenuto Cellini« – im Kontext von Reiseplanungen nach Italien (1796), die nicht realisiert wurden und lediglich in die Schweiz führten. Erste Fragmente erschienen 1796 und 1797, das gesamte zweibändige Werk bei Cotta 1803. Tatsächlich zeigen die energische Diktion der Übersetzung, die Intensität der Forschungen zum Thema, kaum retrospektiv-elegische Züge. Die Erwartung eines Reiseantritts, einer neuen haptischen Erfahrung, erzeugt Spannung. Leonardo tritt mit seinem Entwurf zur »Anghiari-Schlacht« (Abb. 2) auf, gemeinsam mit dem komplementären Werk Michelangelos, der »Schlacht von Cascina« (Abb. 3). Im Anhang vergewissert sich Goethe anhand schematischer Notizen zur italienischen Kunst: »Endlich treten die großen Meister auf, Leo- nardo da Vinci, Fra Bartolomeo, Michelangelo und Raffael.«5 Im »Benvenuto Cellini« werden die beiden untergegangenen Werke von Michelangelo und Leonardo durch einen Bildhauer gewürdigt: »Der treffliche Leo- nardo da Vinci hatte ein Treffen der Reiterei unternommen, dabei einige Fahnen 3 Wahl 1915 – 1918, I, S. 128 – 129. 4 WA-I, 32, S. 40 – 41. erobert werden, so göttlich gemacht, als man sich’s nur vorstellen kann; Michelangelo 5 WA-I, 44, S. 305. dagegen hatte eine Menge Fußvolk vorgestellt, die bei dem heißen Wetter sich im

30 31 Arno badeten; der Augenblick war gewählt, wie unverhofft das Zeichen zur Schlacht gegeben wird, und diese nackten Völker schnell nach den Waffen rennen: so schön und vortrefflich waren die Stellungen und Gebärden, daß man weder von Alten noch Neuen ein Werk gesehen hatte, das auf diesen hohen und herrlichen Grad gelangt wäre; so war auch die Arbeit des großen Leonardo höchst schön und wunderbar.«6 Goethe kommentierte und beschrieb anhand einer Reproduktionsgraphik Leonardos untergegangenen Karton der »Anghiari-Schlacht«. Die Kampfepisode von vier Reitern, die auf den siegerischen Höhepunkt einer Partei hin angelegt ist, analysierte Goethe in Hinsicht auf die Kunst und Ausdrucksweite der Figu- rendarstellungen: »So zeigte diese geschlossene, in allen ihren Teilen aufs künst- lichste angeordnete Handlung den dringenden, letzten Moment eines unaufhalt- samen Sieges. […] Genug, alle Figuren, Menschen und Tiere waren von gleicher Tätigkeit und Wut belebt, so daß sie ein Ganzes von der größten Natürlichkeit und der höchsten Meisterschaft darstellten.«7 Hier äußert sich eine Grunderkenntnis Goethes zur Malerei von Leonardo: die unübertreffliche Verschmelzung perfekter anatomischer Wiedergabe mit Abb. 4 psychologisch stimmigem Ausdruck. Pierre-Michel Alix nach Andrea Appiani, Der Grundtenor von Goethes Würdigung der Persönlichkeit Leonardo da Bildnis des ­Generals Napoléon Buonaparte, 1798, Farbradierung, Klassik Stiftung Weimar, Vincis ist die Verbindung malerischer Kunstfertigkeit mit souveräner, analyti- ­Graphische Sammlungen scher Intelligenz. Klarsichtige Wissenschaft und hohe Kunst verschmelzen auf höchster Ebene.

Diese gedankliche Summa zieht Goethe auch nach einer Lektüre von Leo- Abb. 5 nardos naturwissenschaftlichen Forschungen: »Der Aufsatz Leonardo da Vinci’s Pierre Adam nach Francois Gérard, Joséphine Bonaparte, erste Gemahlin von Napoléon über die Ursache der blauen Farbenerscheinung an fernen Bergen und Gegenstän- ­Bonaparte, 1829, Radierung, Klassik Stiftung den, machte mir wiederholt große Freude. Er hatte als ein die Natur unmittelbar Weimar, Graphische Sammlungen anschauend auffassender, an der Erscheinung selbst denkender, sie durchdringen- der Künstler ohne weiters das Rechte getroffen.«8 Natürlich öffnen sich bei Goethe hier weite Horizonte in Richtung seiner »Farbenlehre«, heißen die unbestech- liche Autorität Leonardo da Vincis mit leichtem Augenzwinkern als idealen Zwischen 1788 und 1817 hatten sich indessen auch ganz andere Bilder mit Mai- Verbündeten gegen Mittelmaß und Irrglauben willkommen. land assoziiert. Die französischen Revolutionstruppen, die Oberitalien erobert hatten, bereiteten republikanischen Emotionen und der Errichtung der Cisal- pinischen Republik mit der Hauptstadt Mailand (1797) den Weg. 1802 wurde II sie in Italienische Republik umbenannt und 1805 in das neu geschaffenenapo - leonische Königreich Italien eingegliedert. Napoléon (Abb. 4), seit Dezember 1817 war Großherzog Carl August über die Schweiz nach Mailand gereist. Aus 1804 französischer Kaiser, hatte im März 1805 die Krone des neuen Königreichs Mailand hatte Goethe an Carl August (23. Mai 1788) als letzter bedeutender Italien mit der Hauptstadt Mailand angenommen. Station seiner italienischen Reise geschrieben und von der Besichtigung des Eugène-Rose de Beauharnais (1781 – 1824), Sohn von Alexandre Vicomte de »Abendmahls« berichtet – sachlich, ohne Exkurse. Den Schmerz der Trennung Beauharnais und der Marie Josephe Rose de Tascher de la Pagerie (späteren von Hesperien artikulierte Goethe im selben Brief paradigmatisch als »Abschied Kaiserin Joséphine (Abb. 5) durch ihren zweiten Gemahl Napoléon), hatte seinen aus Rom«. Auch bei der literarischen Edition der »Italienischen Reise« (1816/17) Vater während der »Terreur« verloren. Dieser adlige Revolutionär, Präsident wurde der ergreifende Abschied als großes Panorama vor einem römischen Büh- der Nationalversammlung (1790 und 1791), Generalmajor der Revolutionstrup- nenbild inszeniert. Das Fresko von Leonardo da Vinci als »Scheideblick« mag pen, Oberstkommandierender der Rheinarmee, wurde am 2. Juli 1794, nach 6 WA-I, 43, S. 37. 7 WA-I, 44, S. 311. Goethe gefesselt haben – Gegenstand literarischer Produktion wurde es erst seiner Verhaftung im März 1794, in den letzten Tagen der Terrorherrschaft 8 WA-I, 36,S. 123. unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner »Italienischen Reise«. hingerichtet. Die Gemahlin entging durch den Sturz Robespierres gerade noch

32 33 grossherzog carl august die reise nach mailand und seine erwerbungen Leonardo da Vinci (Anchiano bei Vinci 1452 – 1519 Schloss Clos Lucé, Amboise) das abendmahl 1495 – 1498 Nordwand des Speisesaals des Dominikanerklosters S. Maria delle Grazie in Mailand

96 97 giuseppe bossi: lutistischen Ideologien Bonapartes und mit Bossis Ölgemälde, sollten, dem Auftrag des nicht vergleichbar mit dem heutigen, nach rung in den Originalzustand zu versetzen.7 dos Bild Durchzeichnungen für seine Kopie seine arbeit der Kulturpolitik, die von Appiani verkörpert Vizekönigs entsprechend, auch in der Größe der Restaurierung 1980 – 1999.4 Leonardos In diesem Kontext wird das Ziel der Regie- anzufertigen.9 Wie sollte er eine maßstabs- wurde, nicht einverstanden war. Eine Kont- am »abendmahl« von Leonardos »Abendmahl« (422 × 904 cm) Wandbild hatte seit seiner Entstehung zahl- rung klar, das sie mit Bossis und Raffaellis gerechte Kopie herstellen, wenn dem stark roverse mit Innenminister Ludovico G. A. de nachgebildet werden (Abb. 2).3 Um die Ge- reiche Ereignisse zu überstehen, die beina- Beauftragung von 1807 erreichen wollte: verdorbenen Original Leonardos so wenig Breme (1754 – 1827) war der Tropfen, der mäldekopie und das Mosaik anzufertigen, he zu seinem Totalverlust führten.5 Die Ge- Das nicht restaurierungsfähige »Abendmahl« Authentisches zu entnehmen war? das Fass zum Überlaufen brachte. In der waren rein technisch betrachtet mehrere schehnisse der napoleonischen Jahre in sollte für zukünftige Generationen wenigs- Das einzige, womit man sich ein detaillierte- Giuseppe Bossi bekleidete in den Jahren Folge reichte Bossi am 31. Januar 1807 sei- Schritte notwendig: Zunächst musste Bossi Mailand hatten dessen Zustand nochmals tens als Kopie überliefert werden. Die Arbei- res Bild von dem Werk machen konnte, waren 1801 bis 1807 das Amt des Sekretärs der nen Rücktritt von der Stelle als Sekretär der einen Karton (Abb. 3) in Originalgröße an- dramatisch verschlechtert. 1796 war das ten der beiden Künstler gewannen dadurch bereits vorhandene Kopien des »Abend- Brera-Akademie; gemeinsam mit seinem Brera ein. Seine guten Kontakte und vor allem fertigen, der sowohl seiner Kopie in Öl als Refektorium, in dem sich Leonardos Werk eine enorme soziale und didaktische Be- mahls«. Daher bestand Bossis erster Arbeits- Lehrer Andrea Appiani (1754 – 1817) war er seine Freundschaft mit Eugène de Beauhar- auch Raffaellis Mosaik als Vorlage dienen befindet, von den napoleonischen Truppen deutung, und de Beauharnais war der pro- schritt aus der ausführlichen Untersuchung federführend beim Aufbau des Bestands, nais (1781 – 1824), dem Vizekönig Italiens, sollte. Raffaelli konnte sich auf Bossis Far- – trotz Napoléons Order, das Refektorium pagandistische Wert der Rekonstruktion und Auflistung der existierenden Kopien.10 obwohl die beiden Männer zwei entgegen- ermöglichten es ihm, eine führende Position ben in der Kopie stützen. Um den Karton zu schonen – als Pferdestall eingerichtet und Verewigung von Leonardos »Abend- Um Bossis Arbeit nachzuvollziehen, sollte gesetzte museologische Konzepte verfolg- in Mailand und in Italien zu behalten.1 Nach und anschließend die Gemäldekopie anfer- worden und im November 1801 wurde es mahl«, das damals als Gipfel der komposito- man als Erstes in den kulturellen und histo- ten. Nach der Krönung Napoléons zum Kö- seinem Rücktritt wurde er am 24. April vom tigen zu können, musste Bossi zunächst das durch eine Überschwemmung weiter stark rischen und formalen Vollkommenheit galt, rischen Kontext eintauchen, da eine Kopie nig von Italien in Mailand am 26. Mai 1805 Vizekönig damit beauftragt, eine Gemälde- Original rekonstruieren; dies tat er durch beschädigt.6 Nach diesen Geschehnissen ebenso bewusst wie wichtig.8 damals eine ganz andere Bedeutung besaß wurde die Republik Italien (1802 – 1805) in kopie von Leonardo da Vincis »Abendmahl« die Anfertigung von Durchzeichnungen des unternahm die napoleonische Regierung in Um Bossi die Arbeit zu erleichtern, wurde als heute. Heute werden Kopien gegenüber das Königreich Italien umgewandelt (1805 – (Farbtafel 1 und Abb. 1) auf der Nordwand »Abendmahls«, die ihm als Basis für die Mailand einen Rettungsversuch: Sie beauf- 1807 im Refektorium ein Gerüst errichtet, einem Original in der Regel als weniger 1815). Die republikanische Phase war damit des Refektoriums des Dominikanerklosters ­Rekonstruktion dienten. Die theoretischen tragte Bossi und Appiani 1801, über den womit Bossi seine Untersuchungen nah an wertvoll angesehen, zu Bossis Zeit war beendet und eine neue monarchische und Santa Maria delle Grazie in Mailand anzufer- Schriften Leonardos boten zusätzliche Zustand des »Abendmahls« zu berichten, dem Bild durchführen konnte. Hier jedoch eine Kopie aber nicht unbedingt negativ absolutistische Politik setzte sich durch. tigen.2 Zugleich gab der Vizekönig bei Gia- nützliche Informationen. Dennoch war die um eventuell mögliche Schritte für dessen zeigt sich, dass die technischen Herausfor- konnotiert. Kopien waren unentbehrlich, Nach dieser Wende der politischen Verhält- como Raffaelli (1753 – 1836) ein Mosaik von Ausführung des Auftrags nicht einfach. Schutz einzuleiten. Beide mussten mit derungen nicht die größten Hürden waren: um überhaupt Kenntnisse über das Ausse- nisse wurde Bossi der napoleonischen Leonardos Meisterwerk in Auftrag, das er Als Bossi den Auftrag für die Kopie des größtem Bedauern die Unmöglichkeit fest- Bossi musste trotz des Gerüsts erneut die hen eines Originals zu haben. Wie Walter Herrschaft unbequem, da er mit den abso- 1810 – 1818 anfertigte. Das Mosaik, wie auch »Abendmahls« bekam, war dessen Zustand stellen, das Wandbild durch eine Restaurie- Unmöglichkeit feststellen, direkt von Leonar- Benjamin in »Das Kunstwerk im Zeitalter

Abb. 1 Abb. 2 Leonardo da Vinci, Das Abendmahl, 1495 – 1498, Seccomalerei, 422 × 904 cm, Giacomo Raffaelli nach Giuseppe Bossi, Das Abendmahl, 1810 – 1818, Mailand, Nordwand des Speisesaals des Dominikanerklosters S. Maria delle Grazie Mosaik, 447 × 918 cm, Wien, Minoritenkirche

98 99 Abb. 3 Giuseppe Bossi nach Leonardo da Vinci, Das Abendmahl, 1807, Karton auf vier Tafeln zum ­Gemälde, St. Petersburg, Museum der Russischen Kaiserlichen­ Kunstakademie

seiner technischen Reproduzierbarkeit« begreifen können. Daher musste auch Bossi ge bieten, die keinen Raum für Interpretati- ner in der Ambrosianischen Bibliothek wa- brogio in Ponte Capriasca befindliche Kopie, »Es ist keine Kopie, sondern eine ›Erneue­ klarstellte, verfügt man seit der Entstehung für seine Rekonstruktion­ auf Kopien zurück- onen lässt.12 ren keine Kopien direkt vor dem Original damals Pietro Luini zugeschrieben (Kat. 23 – rung‹ dieses Werks, die auf würdigen Auto­ der Massenmedien ohne Probleme über greifen, die ­möglichst in zeitlicher Nähe zu Vor der Zeit des Klassizismus war eine Ko- von Leonardo angefertigt worden, da die 27), und die oben genannte von Andrea ritäten [damit sind für Bossi die seiner Kopien, die eine getreue Darstellung des Leonardos »Abendmahl« entstanden waren, pie eine Neuinterpretation einer Vorlage Dominikaner in S. Maria delle Grazie das ­Bianchi, genannt Vespino, im Bestand der ­Meinung nach angesehensten Kopien des Originals wiedergeben, was zu einem Ver- als das Werk noch nicht so stark beschädigt durch einen Kopisten, eine genaue Wieder- Kopieren in ihrem Refektorium nicht erlaub- Pinacoteca Ambrosiana in Mailand (Kat. Nr. Abendmahles gemeint] basiere.«16 lust der Aura des Originals führt. Und im war. Nur wenn die Kopien sich vom Bild gabe war nicht gefordert, vielmehr, so ten; dies führte automatisch zu einer weite- 28 – 47). Daher arbeitete er mit den Kopien auf eine 21. Jahrhundert ist es noch einfacher und oder vom Duktus Leonardos entfernten, Richard Hüttel, »eine künstlerische Ver­ ren Entfernung vom Original.15 Bossi wählte Von diesen drei Kopien zeichnete er 71 Pau- höchst kreative Art: Er wählte für seine Re- schneller möglich, getreue Reproduktionen musste er versuchen, doch anhand des be- wandlung des Originals, die man als eine die drei seiner Ansicht nach besten Kopien sen – »Lucidi«. Sie dienten ihm als Grund­ konstruktion des oberen Teiles des »Abend- von Originalen (durch das Internet und die schädigten Originals weiterzukommen.11 Geschichte der permanenten Variation und des »Abendmahls« von da Vinci, angefertigt lage für die folgenden Schritte der Rekonst- mahls« von jeder Kopie nur die Teile aus, die weiteren technischen Mittel) zu bekommen. Mit der Verwendung von Kopien stand Bossi Berichtigung der Vorlage« beschreiben kann.13 von Künstlern aus dem Umfeld Leonardos ruktion des »Abendmahls«. seiner Ansicht nach getreu bzw. für ihn be- Zu Bossis Zeit verhielt es sich anders: Um allerdings vor einem weiteren großen Prob- Bossi musste also Kopien für seine Rekons- und späterer Meister. Dabei handelte es Die Vorgehensweise bei seiner Rekonstruk- friedigend getreu dem Original Leonardos zu wissen, wie das »Abendmahl« aussah, lem: Erst seit dem Klassizismus dienen Ko­ truktion verwenden, die sich häufig in vielen sich neben einer originalen Zeichnung von tionsarbeit schildert Bossi in seinem Buch entsprachen. Allein diese von ihm als au- hätte man in Mailand sein oder dorthin rei- pien dazu, ein nicht erreichbares Original Teilen vom Original entfernten und arbiträre ­Leonardo in der Brera-Pinakothek (Kat. 7) »Del Cenacolo«. Er hatte vor, Leonardos thentisch beurteilten Teile übernahm er für sen müssen. Und selbst dort hätte man, wie einem breiten Publikum zugänglich zu ma- Änderungen im Bild einführten; dies beklag- um folgende Kopien: die Kopie in Castellazzo, Original wieder zusammenzusetzen, und er seine Arbeit. Viele Partien entfernten sich vorher erwähnt, das Aussehen des Originals chen, und erst seitdem sollen sie eine präzi- te er mehrfach.14 Außer einer wenig sorgfäl- damals Marco d’Oggiono zugeschrieben gab in einem Brief an Canova an, was er von willkürlich vom Original. Die Teile, bei denen aufgrund seines Zustands nur begrenzt se und authentische Wiedergabe der Vorla- tig gearbeiteten Kopie in S. Barnaba und ei- (Kat. 8 – 22); die in der Pfarrkirche San Am- seiner Arbeit über das »Abendmahl« hielt: er in keiner der drei ausgewählten Kopien

100 101 Kat. 73 wurde erkannt, dass auch mit falschen Ha- Das veredelnde Kopieren von Altmeister- Jacob Hoefnagel sen ein Bestseller zu platzieren war und bis zeichnungen genoss gerade in der Zeit der (Antwerpen 1573 – 1633/32) weit ins 17. Jahrhundert hinein kamen gleich Dürer-Renaissance hohes Ansehen. So hatte nach Albrecht Dürer (1471 – 1528) mehrere Exemplare der vermeintlichen Rari- sich der spätere Prager Hofmaler Hans Hoff- tät auf den Markt. mann (um 1530 – 1592) seit den mittleren feldhase Hier kommt nun auch der Weimarer Mümm- 1570er Jahren mit Kopien nach Dürer und Aquarell und Deckfarben auf Kalbs­ ler ins Spiel, den Großherzog Carl August namentlich mit dem Hasen einen Namen ge- pergament, gespannt auf Buchenholz 1817 als Bonusmaterial von den Bossi’schen macht, und auch der am kaiserlichen Hof tätige 221 × 216 mm Erben erhielt (Anh. Nr. 1: Nr. 2). Oben rechts Joris Hoefnagel (1542 – 1601) beweist durch Bez. oben rechts mit Feder in Braun: zeigt er als stolze Bestätigung seines Erfin- miniaturhaft ausgeführte Vignetten seine per- »AD« [Dürer-Monogramm] ders die Initialen des Meisters, »AD«, und so sönliche Vertrautheit mit dem Tier. Beide Inv. Nr. G 1721 glaubte man anfangs, ein echtes Werk Alb- wurden in der Vergangenheit auch als Urhe- recht Dürers vor Augen zu haben. Sein Zu- ber der Weimarer Hasen genannt,3 doch wirk- stand indessen heischt Mitleid: Berieben, lich überzeugend ist keine der beiden Zu- Albrecht Dürers falsche Hasen verschmutzt, beraubt um all die feinen De- schreibungen. Als unbekannten Dritten möch- Der wahrscheinlich berühmteste Hase der tails, als ein Schatten früherer Schönheit ist te ich Joris’ Sohn Jacob (1573 – 1632/1633) Welt hatte mit Kaisern und Königen berühm- er auf uns gekommen. Gemalt ist das Ganze vorschlagen, ein dritter als Altmeisterkopist­ te Besitzer, wurde im Nürnberg des späten auf Pergament, das, auf Eichenholz kaschiert talentierter Künstler am Prager Hof Rudolfs II. 16. Jahrhunderts von Jägern und Sammlern und ursprünglich sicher gerahmt, wie ein Ta- Jacob Hoefnagel profiliert sichauch in ande- verfolgt, und dort nahm sein Dasein auch felbild eine Kunstkammer schmückte. ren Blättern als ein versierter Kopist von seinen Anfang. Im Jahr 1502 nämlich ergriff Aus dem gleichen Wurf stammt ein Hase in Zeichnungen alter Meister, und es fällt auf, dass Albrecht D., ein ehrgeiziger junger Künstler, Paris.1 Studiert man den Aufbau dieses weit- sich sämtliche kopierte Originale zumindest einen Bogen Papier, nahm Farben, Federn aus besser erhaltenen Nagers, dann wird er- zeitweise in Rudolfs Besitz befanden.4 Mit der- und Pinsel und porträtierte mit geschicktes- sichtlich, wie gekonnt sich der Künstler an artigen Kopien, die für die Begehrlichkeiten ter Hand das mümmelnde Häschen, so Dürers Manier orientierte, wie er durch Lasu- früher Sammler gedacht waren, hatte Hoefna- kunstvoll und lebendig, dass jedes Härchen ren den Grundton bestimmt, um dann mit gel nicht nur sein eigenes Talent trefflich -be des flauschigen Fells tastbar, dass Ruhe und dem spitzesten Pinsel jedes noch so feine wiesen, sondern zugleich auch den Ruhm Dü- Wachsamkeit des kauernden Tieres spürbar Härchen zu differenzieren. Die Gemeinsam- rers und seines Werkes multipliziert. C. M. werden, kurzum: den Dürer-Hasen. So wun- keiten beider Kopien gehen so weit, dass dert es kaum, dass kein Jahrhundert nach sogar die borstigen Härchen entlang der Dürers Tod gerade sein »Häßlein« die glanz- Konturen sich präzise entsprechen. Freilich Anmerkungen vollste Karriere machen sollte. Bald nämlich zeigen sich in der Struktur des Fells und dem Der vorliegende Beitrag gründet im Wesentlichen auf ­meinem Essay: Christof Metzger, »Lieben, Lächeln und Bau des zartgliedrigen Tieres gewisse Sche- Sich erinnern«: Albrecht Dürers Hase, Metzger 2014. matismen, die beide dann doch vom Original unterscheidbar machen. 1 Nach Albrecht Dürer, »Feldhase«, Papier, 20,3 × 24,3 cm; u. M. Reste des Monogramms »AD«; Paris, Louvre, Inv. Konfrontiert man diese miteinander, dann RF 29072; Prov.: Stiftung Matilda Gay 1938 – aus der wird man gewahr, wie komplett sich das Trio Sammlung des Malers Walter Gay (1856 – 1937); in Form, Umriss, Proportion, Abmessung und ­München 1985, S. 132, Liste, Nr. 7, S. 140 – 141, Kat. 45. schließlich der eben beschriebenen Ausfüh- 2 Carsten Wintermann, prd (Papier Restaurierung Dresden), Untersuchungsergebnis zum sogenannten rung entspricht. Für den Weimeraner ist nun »Dürerhasen«, 2014. erwiesen, dass wir es mit einer präzisen 3 Für Hans Hoffmann spricht: Barth 1986, S. 75, Nr. 64; Pause zu tun haben, die dadurch gewonnen für Georg Hoefnagel: Koreny 1985, S. 132, ­Liste, Nr. 6, Abb. 45.2. wurde, dass der Künstler das Pergament zu- 4 Z. B. nach Albrecht Dürer, »Auferstehung Christi« erst transparent machte und, nachdem die (Kopie nach dem Entwurf zum Epitaph des Ulrich Fug- Vorlage übertragen war, mittels flächigem ger); Wien, Albertina Inv. 3126; siehe Gábor Endro˝di, ­Dürers Entwürfe für die Augsburger Fuggerepitaphe und Abb. 1 Deckweißauftrag wieder tönte.2 Vorausset- die Umwege der autonomen Zeichenkunst, unpublizier- Jacob Hoefnagel nach Albrecht Dürer, Feldhase, Papier, zung war also der Zugriff auf das Dürer’sche ter Vortrag zum 33. Internationalen Kunsthistoriker­ 20,3 × 24,3 cm; u. M. l. Reste des Monogramms »AD«; kongress Nürnberg 2012, Sektion 14: Dürers Leben Paris, Louvre, Inv. RF 29072; Prov.: Stiftung Matilda Original, was den Kreis seiner möglichen Ur- und Werk – Das Objekt als Schlüssel zum Subjekt? Gay 1938 – aus der Sammlung des Malers Walter Gay heber ganz erheblich begrenzt. ­(Zuschreibung an Jacob Hoefnagel). (1856 – 1937)

194 195 Kat. 74 stich des Gemäldes: Von Scottos Vorzeich- und eine spannende Dynamik in der Kompo- Emanuele Francesco Scotto nung für die Anfertigung des Stiches war sition hervorzubringen. Die Gesichter der Fi- (Genua 1756 – 1826) Bossi so beeindruckt, dass er sie in seine guren sind vom Leiden zerrissen, es gibt nach Andrea Mantegna Sammlung aufgenommen hat.3 keine Idealisierung in der Darstellung. Daher (1431 Isola Mantegna, früher Isola Scotto war in Mailand 20 Jahre als klassizisti- ist es verständlich, dass Bossi von dieser di Carturo – 1506 Mantua) scher Maler, aber vor allem als Miniaturmaler Zeichnung so entzückt war, dass er sie für und Stecher tätig. Dank seiner künstlerischen seine Sammlung aufbewahrt hat. beweinung christi Begabung hatte er sich zum Rivalen des bei Nicht zuletzt trugen auch die komplizierten Um 1807 der Mailänder Elite beliebten Hofmininiatur- Erwerbungsumstände von Mantegnas Origi- Schwarze Kreide, 215 × 243 mm malers von Vizekönig Eugène de Beauhar- nal zu Bossis großer Wertschätzung für das Inv. Nr. KK 8751 nais, Giovanni Battista Gigola (1767 – 1841), Bild bei. Noch immer sind diese Umstände emporgearbeitet und sich mit seinen exqui- von Bossis Ankauf des Gemäldes Diskussions­ Literatur siten Arbeiten durchgesetzt.4 gegenstand in der Forschung. Der Künstler Mara 2012, S. 58 und Anm. 9; Auch Bossis Auftrag an Scotto, den Stich an- soll 1802 die »Beweinung Christi« in Rom Fischer Pace 2008, S. 193 zufertigen, war ein großes Zeichen der Wert- gekauft haben, er durfte sie aber nicht nach schätzung seiner künstlerischen Begabung. Mailand exportieren. Dank der Hilfe seines Die Auseinandersetzung mit Mantegnas »Be- Freundes Antonio Canova konnte das Bild Gaetano Cattaneo schenkte Carl August aus weinung Christi« stellte eine Herausforderung 1807 nach Mailand gebracht werden. So ge- Bossis Nachlass fünf Kunstgegenstände, dar. Der komplexe künstlerische Ausdruck langte es in Bossis Sammlung. Im Jahr 1824 darunter war Francesco Emanuele Scottos des Originals mit seiner emotionalen Tiefe ist wurde es dann von seinen Erben für 3000 Kopie nach Andrea Mantegnas »Beweinung schwer in das Medium des Reproduktions- Lire an die Brera-Pinakothek verkauft, wo es Christi« (Abb. 1).1 Während seiner Amtszeit stichs umzusetzen: Mantegna evoziert beim seither zu den Hauptwerken der Galerie zählt.5 an der Mailänder Brera-Kunstakademie ver- Betrachten seines Bildes Ergriffenheit vor der Dass Bossis Nachlassverwalter Gaetano mehrte Bossi nicht nur deren Gemäldesamm- Trauer der beiden Marien und des Johannes Cattaneo Scottos Zeichnung der »Beweinung lung, sondern auch seine eigene Sammlung.2 um den toten Christus. Dies gelingt durch die Christi« dem Großherzog Carl August als Ge- Diese umfasste am Ende seines Lebens 188 Anwendung einer experimentellen, schwindel­ schenk nach Weimar sandte, kann als Zeichen Bilder. Bossis Kennerschaft und Feingefühl ­erregenden perspektivischen Verkürzung, die der besonderen persönlichen Wertschätzung für Qualität spiegelte sich in der Auswahl der die »Beweinung« zu einem der bekanntesten des Beschenkten gesehen werden. S. Z. Werke: Unter anderen waren Meister wie Renaissance-Bilder macht. Die Komposition wird in der Bildmitte von dem toten Christus Andrea Mantegna, Guercino (1591 – 1666), Anmerkungen Pinturicchio (1454 – 1513) und Jacopo Bassa- dominiert. Seine Glieder sind von der Lei- 1 Vgl. zu den Erwerbungen von Carl August in Mailand no (1510 – 1592) vertreten. In seiner Samm- chenstarre verkrampft und die offenen Wund­ 1817 und zu den fünf Gegenständen, die als Zulage von Cattaneo geschenkt wurden, den Aufsatz von der Ver- lung legte Bossi besonderen Wert auf Man- male sind sichtbar. Durch den im Dunkel ge- fasserin in diesem Katalog und den Anhang Nr. 1: Nr. 2. tegnas »Beweinung Christi«, deshalb gab er haltenen Bildhintergrund steigert der Maler 2 Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Sammler: Nenci 2012, Scotto den Auftrag für einen Reproduktions- die Dramatik seiner Lichtführung. S. 320 – 331; Mara 2012, S. 57 – 98; Antonelli 2011, S. 87 – 94; Antonelli 2010, S. 509 – 544, 579; Bossi-­ Vergleicht man Scottos Zeichnung mit Man- Nenci 2004, S. 34 – 35; Sciolla 1992, S. 208 – 216. tegnas Original, so sieht man eine perfekt 3 Mara 2012, S. 58, Anm. 9; Agosti 2005, S. 468. Vgl. zu Bossis Gemäldesammlung auch den Auktionskata- gelungene Reproduktion, die eine ähnlich log der Gemälde aus seiner Sammlung, dazu: Catalogo emotionale Wirkung wie der Renaissance-­ delle pitture 1818. Vgl. zu Mantegnas »Beweinung Künstler zu erreichen versucht. Scotto näher- Christi«: Bandera Bistoletti 2013; Frangi 1996. Dass Bossi einige seiner Favoritenwerke aus seiner Samm- te sich mit seinem Duktus Mantegna an. lung von Scotto und Rosaspina stechen ließ, wird auch Hervorzuheben ist Scottos elegante Präzisi- von Rudolph Wiegel bestätigt. Vgl. Wiegel 1865, S. 9 – 10. on des Striches und seine intensive, feinfüh- Vgl. auch Bossis Tagebucheinträge vom 3. Mai 1810, in: Bossi-Nenci 2004, S. 36 und Anm. 268. Die Art der lige psychologische Charakterisierung der Drucktechnik von Scottos Stich nach Mantegna, des- Figuren. Offenkundig wird in der akkuraten sen Verbleib nicht bekannt ist, wird in der Literatur nicht behandelt. Wiedergabe aller Details nicht zuletzt auch 4 Vgl. zu Scotto: Parisio 2009. Vgl. zu Gigola: Falconi seine Tätigkeit als Miniaturmaler und Repro- 2008; Parisio 2002. Vgl. zur Geschichte Mailands in den duktionsstecher. Wie beim Original gelang napoleonischen Jahren: Pillepich 2001. Vgl. zu de Beau- Abb. 1 harnais: Paris 1999. Andrea Mantegna, Beweinung Christi, 1475 – 1478, es ihm, durch geschickte Anwendung von 5 Mara 2012, S. 58, Anm. 9; Agosti 2005, S. 468. Vgl. 68 × 81 cm, Tempera auf Leinwand, Mailand, Pinaco- Licht und Schatten ein dramatisches Pathos auch Anm. 3 in diesem Text. teca di Brera

196 197 Kat. 75 Giuseppe Bossi war während seiner kurzen Tab. 1 bis Tab. 8).3 Die Handschrift »Libro Anmerkungen der Weimarer Bibliothek durchzusehen, stieß ich dann Lebenszeit von 1801 bis 1807 als Maler und Originale Della Natura, peso, e moto dell’ 1 Von Giegler fehlen noch ausführliche biographische schließlich – auch dank der tatkräftigen Hilfe des libro originale Auskünfte in der Forschung. Erwähnt wird er in: Calle- ­Bibliotheksleiters – in dem handschriftlichen Katalog Museumsdirektor der Mailänder Brera-Aka- Acque« (Originales Buch über die Natur, die gari 2012, S. 150; Rizzi 2008, S. 43. Zu Bossis Tätigkeit von Ludwig Preller [19. Jahrhundert; Loc A, 121, 3, A, della ­natura, peso, demie und von 1807 bis zu seinem Tod an Eigenschaften und die Bewegung der Ge- als Bücherfreund und -sammler sind kaum Studien S. 158] auf den nur teilweise aufgenommenen langen e moto ­dell’acque, der Scuola Speciale di Pittura tätig. Zu sei- wässer) sticht unter den Erwerbungen her- vorhanden. Titel des Werkes (»Libro originale della natura, peso e ­composto, scritto, 2 Signatur: Dd 8: 680. moto dell’acque, composto, scritto e figurato di nen Leidenschaften während dieser Zeit vor (Anh. Nr. 2: Tab. 1, Nr. 66, Abb. 1). Es ist 3 Vgl. den Brief von Carl August an Goethe vom 2. Ja- ­proprio carattere alla mancina dall’insigne Pittore, e e figurato di proprio zählte das Sammeln von Büchern und Kunst- eine der drei existierenden handschriftli- nuar 1818, in: GH, 2, S. 204. Vgl. dazu auch Cattaneos Geometra Leonardo da Vinci«) und die entsprechende ­carattere alla werken. Anfang 1818 erwarb der Buchhänd- chen Kopien des originalen Manuskripts Brief an Carl August vom 14. Januar 1818, in: Momm- Signatur: f. 326, also Fol. 326. Dieselbe Signatur sen, 1, S. 416. Vgl. zum Erwerb von Büchern aus Bossis ­findet sich auch in dem neueren getippten Katalog aus ler Giovanni Pietro Giegler von den Erben »Codex Leicester« von Leonardo da Vinci, mancina dall’insigne Bibliothek den Aufsatzder Verfasserin, S. 10 – 27, und dem Jahr 1972 (Folio-Handschriften, 1972; im Nach­ ­pittore, e geometra Bossis sämtliche Bücher aus dessen per- die seine Studien über Hydraulik sowie den Anh. Nr. 2 in diesem Katalog. Vgl. zur Geschichte hinein konnte ich dann feststellen, dass auch bei ­leonardo da vinci sönlicher umfangreicher Bibliothek und Studien zur Astronomie, zur Gesteins- und der Weimarer Herzoglichen Bibliothek: Knoche 2013, ­Vezzosi 1983/84, S. 138, ein »fol. 326« erwähnt wird, verauktionierte sie bereits am 12. Februar Gebirgsbildung, zur Luft und zum Licht ent- S. 14 – 18. jedoch nicht als Signatur). Ich kann mir gut vorstellen, 18. Jahrhundert 4 Vgl. Klein 2008, S. 221 – 224. Vgl. zum Codex dass der lange, zudem in einem wortreichen, pom­ desselben Jahres.1 Vor der Auktion wurde hält, die Leonardo zwischen 1504 und 1506 Handschrift Leicester: Dickens 2006; Düsseldorf 1999 und hier pösen Barockstil gehaltene Titel nicht nur Preller zur ein Auktionskatalog erstellt, der alle Bücher niedergeschrieben hatte.4 Bossi beschäftig- insb. Kemp 1999, S. 33 – 45; Zeri 1995; New York ­Verzweiflung brachte, der ihn tatsächlich nur zum Teil Herzogin Anna Amalia Bibliothek, aus Bossis Bibliothek enthielt und aus te sich seit 1807, dem Jahr, in dem Italiens 1994; Pedretti 1987. Vgl. zu diesem Thema auch: wiedergab, sondern auch seine Nachfolger. Tatsächlich Signatur Fol. 326 ­Laurenza 2001; Laurenza 2000. Bossi schrieb in eige- handelt es sich dabei um eine Kopie des derzeitigen dem potentielle Käufer ihre Auswahl treffen Vizekönig Eugène de Beauharnais bei ihm ner Handschrift auf dem vorderen Spiegel des Weima- Frontispizes des Codex Leicester, das dem Original konnten: der »Catalogo della libreria del fu eine Gemäldekopie von da Vincis »Abend- rer Codex eine kurze Notiz über die drei existierenden Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts hinzugefügt Literatur Cavaliere Giuseppe Bossi«. Wie sich aus mahl« in Auftrag gab, fast ausschließlich mit Kopien des Originals: Eine sei in London aufbewahrt. wurde, als sich das Manuskript im Besitz des Malers Laurenza 2013, S. 256 – 268; Laurenza Eine sei im Besitz des Herrn Benedetto Ciurini Giuseppe Ghezzi befand. Durch die eindeutige Klärung ihm ersehen lässt, umfasste Bossis Biblio- Leonardos Werken (Kat. 7 – 49). Neben der 2005, S. 99 – 108; Pedretti 1996, (1695 – 1752) in Florenz gewesen. Die dritte sei des Standorts und der Signatur ist diese Kopie des thek mehr als 10 000 Bände aus der Zeit Anfertigung seiner Arbeit für de Beauhar- ­die­jenige, die der Mailänder Maler besaß (Anh. 2: ­Kodex Leicester nun für alle Leonardo-Spezialisten S. 121 – 135, insb. S. 122; Pedretti 1982, vom 15. bis zum 19. Jahrhundert; sie bestand nais begann er, Originalzeichnungen und Tab. 1 Nr. 66). verfügbar. Für eine eingehendere Behandlung des S. 11; Uzielli 1884, S. 325; Jordan 1873, unter anderem aus Werken der Kunst-, Kul- -manuskripte von Leonardo zu sammeln. Zu 5 Vgl. Bossis Reisebericht über seine Aufenthalt in ­Themas verweise ich auf die Neuedition des Codex S. 367 – 369; Vasari-Schorn­ 1843, Neapel im Jahr 1810, veröffentlicht in: Ciardi, Bd. 2, Leicester (Oxford University Press, im Druck), und tur- und Militärgeschichte sowie aus klassi- diesem Zweck reiste er 1810 nach Neapel, S. 7, Anm. 4 1982. S. 737. Vgl. dazu auch ebenda S. 888 – 889 Nr. möchte hier nur vorab erwähnen, dass die Kopie fast scher antiker Lektüre. Neben Erstausgaben, um den »Codex Leicester«, damals in Besitz LXXVI und S. 733. Vgl. dazu auch Bossis Provenienz- mit Sicherheit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun- bibliophilen Ausgaben, Manuskripten, In- des Herzogs von Cassano Luigi Serra (1747 – vermerk auf dem Verso des zweiten fliegenden Blattes derts in Florenz angefertigt wurde und ein wichtiges im Weimarer Codex (Anh. Nr. 2: Tab. 1, Nr. 66). Vgl. Mosaiksteinchen in der Wirkungsgeschichte des­ kunabeln und Codizes waren auch Briefe 1825), zu untersuchen. Er besuchte den zum Herzog von Cassano: Podestà 1999. Vgl. zu ­Wissenschaftlers Leonardo darstellt. vorhanden. Der Verkauf von Bossis Biblio- Herzog und bot ihm an, die Handschrift ge- ­Bossis Beschäftigung mit Leonardos Werk den Aufsatz 7 Vgl. zu Bossis Sammlung von Leonardo-Manuskrip- thek an Giegler muss von Gaetano Cattaneo, gen andere Kunstobjekte zu tauschen. Bos- von Serena Zanaboni in diesem Katalog und die Texte ten den Brief von Bossi an Eugène de Beauharnais am zu Kat. 7 – 49 und 60 – 69. 8. Januar 1811, veröffentlicht in: Ciardi, Bd. 1, 1982, Bossis Nachlassverwalter und Testaments- sis Ruhm als Leonardo-Forscher war ihm 6 Anm. von D. L.: Seit dem 19. Jahrhundert ist unter S. 437 – 439. Bossi konnte u. a. mit der Unterstützung vollstrecker, verhandelt worden sein. Es ist jedoch vorausgeeilt und der Herzog schenk- Leonardo-Experten allgemein bekannt, dass die Groß- vom Abt Luigi Marini, dem Kustos der Vatikanischen gut denkbar, dass er sich mit dem Buch- te sie ihm am 6. Juli 1810, ohne eine Gegen- herzogliche Sammlung in Weimar eine handschriftliche Bibliothek, eine Kopie von Leonardos originalem »Trak- händler dahingehend einigte, dass der Wei- leistung zu verlangen; dies geht aus Bossis Kopie des »Codex Leicester« von Leonardo (Seattle, tat über die Malerei« in der Vatikanischen Bibliothek, ­Collection of Bill and Melinda Gates) besitzt. Doch als den »Codex Urbinus Latinus« 1270, erwerben. Vgl. marer Großherzog eine Vorzugsbehandlung Provenienzvermerk auf dem Codex und aus ich 2013 im Rahmen einer neuen Edition des »Codex Bossi-Nenci 2004, S. 126 Anm. 245; Galbiati 1920, bei der Auktion erhalten sollte. Zu diesem seinem Reisebericht hervor (Abb. 2 und Leicester«, an der ich gemeinsam mit Martin Kemp als S. 18 – 22. Darüber hinaus besaß Bossi eine hand- Zweck sandte Cattaneo am 2. Januar 1818 Anh. 2: Tab. 1 Nr. 66).5 Sämtliche von Bossi Herausgeber arbeitete, zur Wirkungsgeschichte des schriftliche Kopie vom »Traktat über die Malerei« aus Codex nach Leonardo recherchieren wollte, sah ich dem17. Jahrhundert. Er selbst hatte den »Codex ein Exemplar des Auktionskatalogs an Carl gesammelten Codices von Leonardo, mit mich mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Codex in ­Trivulzianus« (heute in der Trivulzianischen Bibliothek August; dieser ist noch im Bestand der Ausnahme des von Carl August für Weimar den Weimarer Sammlungen aufzufinden. Tatsächlich des Schloss Sforzesco in Mailand) und die Kopie des Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar angekauften Exemplars, das erst vor kur- wird das Manuskript von allen Leonardo-Spezialisten­ »Traktats über die Malerei« in Neapel (heute in der kurz erwähnt, jedoch stets ohne Signatur. Deshalb ­Nationalen Bibliothek in Neapel) kopiert. Vgl. Ciardi, vorhanden.2 Wie schon im Fall der Ankäufe zem wieder ans Licht kam,6 werden in der habe ich den Eindruck, dass keiner von ihnen die Wei- Bd. 2, 1982, S. 888 – 889. aus Bossis Kunstsammlung durfte Carl Au- Ambrosianischen Bibliothek in Mailand auf- marer Kopie je mit eigenen Augen gesehen hat, oder gust als Erster eine Auswahl aus den zu bewahrt.7 S. Z. wenn überhaupt, dann nur äußerst flüchtig. Das ist verauktionierenden Büchern treffen. Mit nicht weiter überraschend, sondern eher bezeichnend. Denn bis vor Kurzem war die Fachwissenschaft vor­ dieser Aufgabe betraute der Großherzog wiegend damit beschäftigt, Leonardos Originalhand- Goethe, der 314 Werke auswählte: Am schriften philologisch exakt zu erfassen, sodass man 21. Juli 1818 traf eine große Zahl davon mit sich erst in jüngster Zeit der Rezeptionsgeschichte und damit den Kopien zuwandte. Nachdem ich mehrere einer Sendung in Weimar ein (Anh. Nr. 2: Tage damit verbracht hatte, alte und neue Kataloge

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