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"Nicht ob, sondern wie?" Oder: Schrittchen für Schrittchen ins Paradies Völker, Wolfgang

Veröffentlichungsversion / Published Version Rezension / review

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Völker, W. (2013). "Nicht ob, sondern wie?" Oder: Schrittchen für Schrittchen ins Paradies. [Rezension des Buches Wege zum Grundeinkommen: Zukunft des Sozialen, hrsg. von D. Jacobi, & W. Strengmann-Kuhn]. Widersprüche : Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 33(130), 121-129. https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48368-7

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Statt das Für und Wider ein weiteres Mal über: Jacobi, Dirk/Strengmann-Kuhn, zu erörtern wollen die Herausgeber des Wolfgang (Hg): Wege zum Grundein­ Bandes die Frage beantworten, wie denn kommen. Bildungswerk Berlin der Hein­ ein Grundeinkommen eingeführt wer­ rich-Böll-Stifiung, Berlin 2012, ISS S., den könnte. Aus dieser Debatte wollen sie ISBN 978-3-92799S-02-4 auch „Schlussfolgerungen für die Einfüh­ rung anderer gesellschaftlicher Reform­ Dass die Herstellung dieses Sammelban­ projekte ziehen“ (8). Unter realpolitischen des aus der den Grünen nahestehenden Gesichtspunkten der Weiterentwicklung Heinrich-Böll-Stiltung von der Stiftung des Sozialstaats in einer ökologisch-sozi­ der Deutschen Klassenlotterie unterstützt alen Reformperspektive sind das sicher worden ist, mag manche Leserinnen und notwendige Fragestellungen. Aber auch Leser zum Schmunzeln bringen. Schließ­ die hier ausgebreitete Debatte leidet dar­ lich nährt sich die Lotterie-Stiftung aus unter, letztlich ein gemeinsames Konzept dem Geld, dass Menschen ausgeben, um des В GE oder zumindest die realpolitische das große Los zu ziehen und unabhängig Vereinbarkeit disparater BGE-Ansätze von der Lohnarbeit zu werden oder um zu unterstellen. Schließlich gibt es, wie sich zumindest mit mehr Geld auch mehr auch der vorliegende Band zum Ausdruck Muße und soziale Sicherheit für ihr wei­ bringt, sehr unterschiedliche Konkretisie­ teres Leben leisten zu können. Ein Lotte­ rungen des В GE, die sich sowohl in ihren riegewinn wird wohl von kaum jemandem Gesellschaftsanalysen und Begründun­ unter normativen Aspekten der Gerech­ gen als auch in ihren Zielen und in ihrer tigkeit diskutiert werden, denn er gilt als konkreten Ausgestaltung unterscheiden. Produkt zufälligen Glücks. Die Idee eines Hier von politischen Vereinbarkeiten und bedingungslosen Grundeinkommens für Gemeinsamkeiten auszugehen oder diese alle ist dagegen heftig umstritten. Ja, selbst anzustreben ist wenig überzeugend. die unzulänglichen und an reichliche Bedingungen geknüpften Regelsätze der Den Herausgebern zufolge sind „drei aus Grundsicherungen werden immer wieder strategischer Sicht grundlegende Ent­ mit dem Vorwurf konfrontiert. Normen scheidungen“ (9) zu treffen. Die erste der Leistungsgerechtigkeit zu verletzen. lautet. „Soll ein Grundeinkommen in Dirk Jacobi weist in der Einleitung einem Schritt eingeführt werden“, um des vorliegenden Buches zu Recht darauf die vorhandenen sozialen Sicherungssys­ hin, dass die Diskussionen um ein (bedin­ teme „auf einen Schlag“ umzugestalten, gungsloses) Grundeinkommen (im Fol­ oder soll es „mittels einer schrittweisen genden: В GE) nicht nur in Deutschland Reform [...] angestrebt werden?“ (9). Die immer wieder um die zwei Fragen kreisen, zweite Frage ist, ob ein Grundeinkom­ ob ein bedingungsloses Grundeinkom­ men auf lokaler, nationaler oder internati­ 122 onaler Ebene eingeführt werden soll (10), sich ergänzen) zum BGE und schließ­ und die dritte Entscheidung betrifft die lich „die Artikulation und Organisation Frage, „ob in einer Ein-Themen-Bewegung der Grundeinkommensbewegung selbst“ Unterstützung für das Grundeinkommen (14). In diesen Hindernissen tauchen die gesucht werden sollte oder ob eine Ein­ eingangs genannten politisch-normativen bettung und eine Verknüpfung mit ande­ Konflikte um Gerechtigkeits- und Nor- ren sozial- und gesellschaftspolitischen malitätsvorstellungen wieder auf Was Reformprojekten mehr Erfolg verspricht“ auch kein Wunder ist, denn solche Kon­ (10). Auch diese Fragestellungen sind in flikte sind ein nicht wegzudenkender einer realpolitischen Reformperspektive Bestandteil der (sozial)politischen Ver­ zweifellos richtig, selbst wenn sie ange­ ständigung, egal ob man über das Betreu­ sichts der realen gesellschaftlichen Kräfte­ ungsgeld, die Praxisgebühr, einen Min­ verhältnisse hierzulande jenen fdauch von destlohn oder BGE-Konzepte diskutiert. gänzlicher Andersartigkeit und Utopie Deswegen treten sie auch in vielen der verspüren lassen, der auch Texte zum BGE Texte dieses Sammelbandes wieder her­ z.B. aus dem politischen Spektrum der vor, auch wenn er sich „Wege zum Grund­ Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen einkommen“ betitelt. kennzeichnet. Diese politische Wahrneh­ Unter der Überschrift „Reformpfade“ mung oder dieser Eindruck beim Rezen­ sind Aufsätze von Stephan Eessenich, von senten rührt wohl daher, dass solche Pro­ PhÜippe Van Parijs und Yannick Vander- jekte, egal ob realpolitisch oder radikal borght (auf Englisch), Sebastian Duwe/ reformerisch gedacht, nur auf der Basis MÜena Büchs/Nicholas Bardsley, Ulrike starker sozialer und politischer Bewegun­ Herrmann und Katja Kipprng versam­ gen wachsen können. Das ist auch den melt. Stephan Eessenich (Professor an der Eierausgebern klar, denn sie benennen Uni Jena, Mitglied der Prokla-Redaktion offen die „Eiindernisse“, die auf dem Weg und Kuratoriums-Sprecher des Instituts zum Grundeinkommen auftauchen wer­ Solidarische Moderne) führt in seinem den: die widerstreitenden Gerechtigkeits­ Text „gute Gründe für ein Grundeinkom­ vorstellungen in der Bevölkerung und men plus“ vor (17-33). Dieser äußerst die - trotz des weit verbreiteten Traums lesenswerte Beitrag - eine Kurzfassung vom Eotterie-GIück - mehrheitliche der Expertise zum BGE für die Fried- Befürwortung von Eeistungsgerechtig- rich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2009 - keit. Elinzu kommt: die mögliche Beein­ besticht dadurch, dass er das Grundem- trächtigung der wirtschaftlichen Voraus­ kommen als „unverzichtbaren Baustein bei setzungen, der Ausschluss von Teilen der der politischen Konstruktion eines neuen, Bevölkerung aus der Teilhabe an Erwerbs­ den gesellschaftlichen Herausforderungen arbeit, die Pfadabhängigkeit sozialstaat- gewachsenen Sozialstaats“ begreift und licher Umbauprozesse, die der BGE-Idee „begründet (...), warum das Grundein­ unzuträglichen politisch-institutionellen kommen eben nur ein Baustein einer weit­ Entscheidungsstrukturen, die Position aus umfassenderen gesellschaftspolitischen der Gewerkschaften (und anderer gesell­ Reformstrategie sein kann“ (17). Eesse- schaftlicher Großorganisationen, so ließe nichs Argumentation passt übrigens gut Rezensionen 123 mit der aus der linken emanzipatorischen senich ein „Dreh- und Angelpunkt“ künf­ BGE-Diskussion bekannten „Triadenfor­ tiger sozialpolitischer Konflikte. Denn bei derung“ zusammen (BGE + Mindestlohn der Frage des „freien und gleichen Zugangs + Arbeitszeitverkürzung) und ist auch ver­ zu öffentlichen Leistungen“ geht es darum, knüpfbar mit grundlegenden Debatten wie universell die Partizipation wirklich um einen „demokratischen Sozialstaat“ ist: Ist sie „geschlechtergerecht und her- (vgl. Lessenich/Möhring-Hesse 2004) kunlfsneutral“? W ie steht es um die „wirt- oder eine „Sozialpolitik als Infrastruk­ schalfsdemokratischen Ansprüche“, also tur“, wie sie in der Redaktion des links­ die Demokratie hinter den Unternehmens­ netz und der Zeitschrilf Widersprüche seit türen? (23). An die Frage der Universa­ etwa 2004 geführt wird. Er beschreibt das lität unmittelbar anknüpfend steht die BGE als „materielle Fundierung“ solcher Anforderung an zukünftige sozialstaatli­ Reformprojekte. Das BGE steht bei ihm che Regulierungen, „individuelle A utono­ für die „Freiheit von...“ und Elementen m ie“ zu gewähren im Sinne von „indivi­ für eine „Freiheit zu ...“ (28). Lessenichs duellen Optionen des selbstbestimmten Text begibt sich zunächst erst einmal ein Ausstiegs aus beziehungsweise effekti­ paar Schritte zurück in die sozialpoliti­ ven Widerspruchs in sozialen Abhängig­ sche Diskussion des letzten Jahrhunderts, keitsbeziehungen“ (23). Der fünfte Riese wenn er mit den „five giants“, den zentra­ schließlich, die M uße, ist jener, der von der len sozialpolitischen Herausforderungen aktivierenden, „neosozialen“ Politik der „Bedarf Unwissenheit, Krankheit, Elend letzten Jahrzehnte am stärksten aufs Korn und Müßiggang“ beginnt, die der Sozi­ genommen wurde, obwohl der beschleu­ alökonom WÜliam Henry Beveridge im nigte und flexibilisierte Kapitalismus sei­ Nachkriegsengland benannt hatte. Diese nen Arbeitenden die Muße - als Moment formuliert er angesichts der unter der Chif­ der Reproduktion der Arbeitskraft - zuge­ fre der Prekarität wiedergekehrten sozialen stehen müsste, wÜl er sie nicht als ausbeut­ Fragen als die „fünf Riesen der Gegenwart“ bare und verwertbare Ressource verlieren. um: „Arbeit, BÜdung, Partizipation, Auto­ Hier sieht Lessenich das größte Konflikt­ nomie, Muße“ (21).Urfeirbleibt für Lesse­ potenzial der Zukunft: „Denn erst mit nich trotz aller Kritik der Lohnarbeit, trotz einem Sozialstaat, der sich einem Recht „Erosion der Normalarbeit“ und des Wan­ seiner Bürgerinnen und Bürger auf Muße dels von Ansprüchen an und Verständnis­ zur Arbeit und BÜdung, gesellschalflicher sen von - dann besser im Plural zu benen­ Partizipation und kollektiver Autonomie nenden - Arbeiten erste Bezugsgröße eines verschreibt, wäre die Idee einer umfassen­ zukünftigen Sozialstaats (21/22). Die den öffentlichen Verantwortung für das Bedeutung von B ild u n g als „ZuteÜungs- Soziale im 21. Jahrhundert angekommen - mechanismus gesellschalflicher Lebens­ und Sir WÜliam Beveridge gleichsam vom chancen“ (22) werde zunehmen und auch Kopf auf die Füße gestellt“ (24). Gleichzei­ bei einer Ausweitung von BÜdungschan- tig sieht Lessenich mit der Grundeinkom­ cen zu mehr Konkurrenz im Erwerbsleben mensidee das hierarchische, sozial selektive führen. Die Partizipation an sozialstaatli­ lohnarbeitsbezogene Sozialversicherungs­ chen, öffentlichen Leistungen ist für Les­ prinzip „auf den Kopf“ gestellt (24) - was 124 auch die Heftigkeit der politischen Debat­ aus den Theorien der funktionalen Dif­ ten zum BGE erklären könnte. Der Rede ferenzierung und definiert eine moderne von der „Entkopplung von Arbeit und Sozialpolitik mit einem „Grundeinkom­ Einkommen“ mag Lessenich nicht fol­ men plus“ als „Instrument institutiona­ gen, sieht er doch zurecht in einem BGE lisierter ‘Interdepedenzunterbrechung’ nichts anderes als die „Lockerung des zwischen Wirtschaft und Gesellschaft Nexus von Erwerbsarbeitsleistung und einerseits und Existenzsicherung von Indi­ Transfereinkommensanspruch auf Indi­ viduen in Gesellschaft andererseits“ (31). vidualebene“ (25). Auch dem Gedanken, Aus den weiteren Texten im Kapitel dass ein BGE den Kapitalismus überwin­ „Reformpfade“ fällt der von Duwe, Büchs den könnte, erteÜt er mit guten Argumen­ und Bardsley (57-70) ziemlich heraus, weÜ ten eine Absage: „Produktions-, Macht-, er explizit nicht von sozialstaatlichen Pfad­ Herrschaftsverhältnisse [...]“ werden nicht entwicklungen ausgeht, sondern fragt, ob überwunden, die kapitalistische Repro­ und wie sich klimapolitische Regulierungs- duktion sozialer Ungleichheit könne von Verfahren mit Finanzierungsmöglichkeiten einem BGE alleine nicht aufgelöst wer­ eines Grundeinkommens verbinden lassen. den, ebenso wenig die Geschlechterhierar­ Die Autorinnen diskutieren dabei markt­ chien (27). Das „Grundeinkommen plus“ wirtschaftliche Varianten der Bewältigung verlangt, soll es tatsächlich eine emanzi- von klimaschädlichen Emissionen, Vor­ patorische Wirkung entfalten, „umfas­ schläge zu Pro-Kopf-Klimapauschalen (als sende, nicht allein auf die Geschlechter­ verhaltenssteuernde Abgaben) und einem differenz zentrierte, sondern etwa auch auf so genannten Pro-Kopf-Klimaeinkommen die gesellschaftliche UngleichverteÜung und gelangen zu dem Ergebnis, dass solche von Zeitreichtum und Zeitarmut zielende Vorschläge mit den BGE-Konzepten eher gleichstellungspolitische Anstrengungen“ nicht Zusammengehen. (25). Auf die von allen politischen Seiten Die anderen Beiträge hingegen passen vorgebrachten Argumente der fehlenden zur Überschrift. Van Parijs und Vander- Leistungsgerechtigkeit und des befürchte­ borght stellen nochmals die Grundprinzi­ ten Müßigganges hat Lessenich - u.a. im pien eines BGE vor und diskutieren, mit Rückgriff auf - ebenfalls eine welchen Herausforderungen die weltweite kluge Antwort. In diesem Diskurs erkennt Migration die Grundeinkommensmodelle er eine „kulturelle Distanz gegenüber dem konfrontiert. Wie können Grundeinkom­ ‘Anderen’ der Erwerbsgesellschaft“, ein menskonzepte den bisherigen (sozial) mangelndes Vertrauen in eine „grund­ staatlichen Logiken einer beschränkten, sätzliche Tätigkeitsbereitschaft“ (30) und weÜ auf den (National-) Staatsbürger zent­ die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass rierten Universalität und jener der Grenz­ auch die sogenannten Leistungsträger der abschottung entkommen? Eine suprana­ Gesellschaft von „Hintergrundsbedingun­ tionale Perspektive, auch wenn sie noch gen“ profitieren, deren Herstellung nicht auf den Raum der EU beschränkt wäre, ihrer individuellen Arbeit zugerechnet ist für sie unabdingbar. Dafür wäre aber werden kann (31). Ganz defensiv und „gut wieder die Voraussetzung, „die bestehen­ soziologisch“ schließt er mit Argumenten den Wohlfahrtsstaaten so zu reformieren. Rezensionen 125 dass ein universelles und bedingungslo­ für eine Stärkung der Universalität gegen ses Grundeinkommen zu ihrem innersten die „Stoßtrupps der bürgerlichen Exklusi­ Bestandteil wird“ („to reform existing wel­ vität“ (76) und sieht im BGE die „Vollen­ fare states so that they incorporate at their dung eines alten Projektes: der Trennung very core a universal and unconditional von Recht und Moral“, weÜ in modernen basic individual income “) (53). Gesellschaften nicht mehr ein verbind­ Die Texte von Ulrike Herrmann (71- liches Konzept des „richtigen Eebens“ 73) und (75-79) sind kurz, unterstellt werden könne (76). Kipping aber politisch zugespitzt. Die taz-Redak- geht also davon aus, dass ein BGE eine teurin Herrmann sieht im wachsenden finanzielle Absicherung darsteUt, die frei AnteÜ der Alten an der Bevölkerung und von moralischen Ab- oder Aufwertungen der zunehmenden Gefahr der Altersarmut von Eebenskonzepten ist. Gegenüber der eine gesellschaftliche Konstellation, die „Äquivalenzlogik“ der lohnarbeitsfixierten ein Grundeinkommen als Mindestrente Sicherungssysteme und der „Marktlogik“ durchsetzbar machen wird. Ihre Hoff­ sieht sie ein emanzipatorisches Grundein­ nung, damit auch die klassische sozial­ kommen als „vielleicht konsequentesten politische Trennung von „würdigen“ und Ausdruck einer egalitären Inklusionslogik“ „unwürdigen Armen“ auf dem Müllhaufen (77) und als „materielle Unterfütterung der Geschichte zu finden, kann der Rezen­ der demokratischen Grundrechte“ (78). sent nicht teÜen. Klassischerweise gehören Als Zeugen für diese Position benennt sie die Alten zu den würdigen Armen, zweifel­ Pierre Bourdieu: „Es bedarf eines Mini­ los. Aber Ulrike Herrmann übersieht eine mums an Gestaltungsmacht über die Konfliktlinie, die zur Debatte um Alters­ Gegenwart, um [...] überhaupt die Idee armut einfach dazugehört: Der jüngere in Betracht zu ziehen, die Gegenwart in Sozialstaat hat die Pflicht zur Privatvor­ Bezugnahme auf eine erhoffte Zukunft sorge und Eigenverantwortung doch recht umzugestalten“ (78). Die Argumentation wirkungsvoll zum Bestand geteilter und Kippings kann gut anschließen an die Aus­ umstrittener Gerechtigkeitsvorstellungen sagen Eessenichs zu den aktuellen fünf Rie­ gemacht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sen Arbeit, Bildung, Partizipation, Auto­ viele künftige Alte doch zu den „unwürdi­ nomie und Muße. gen“ Armen gezählt werden, weÜ sie nicht Auf das Kapitel „Reformpfade“ folgen hinreichend privat vorgesorgt haben. Ob unter der Überschrift „Reformschritte“ die zur eigenverantwortlichen Risikovor­ vier Texte, die danach fragen, wo im gegen­ sorge Aufgeforderten sich diese wirklich wärtigen Sicherungs- oder Steuersystem leisten können, spielt in der Moral neoso­ und in aktuellen Veränderungsdiskussio­ zialer wie neoliberaler Politik keine Rolle. nen Anknüpfungspunkte für ein Grund- Katja Kipping (Parteivorsitzende der einkommen zu finden sind. Diese Beiträge Einken und Mitglied im Vorstand des „Ins­ illustrieren eindrucksvoll, wie unterschied­ tituts Solidarische Moderne“) geht davon lich die gesellschaftspolitischen Positionen aus, dass Befürworterinnen eines BGE sich der BGE-BefüworterInnen sein können. erklären müssen, „welche Ziele mit einem So wÜl Wolfgang Strengmann-Kuhn BGE verfolgt werden“ (75). Sie plädiert (rentenpolitischer Sprecher der grünen 126

Bundestagsfraktion) mit Ton Steine Scher­ Einkommenssteuer vor, in der ein „par­ ben „Schritt für Schritt ins Paradies“ und tielles Grundeinkommen in Höhe des steUt zugleich klar, dass es ihm darum geht, Regelsatzes der Grundsicherung in die mit diesen Schritten das bestehende sozi­ Einkommenssteuer integriert ist“ (86). ale Sicherungssystem zu ergänzen. Es wäre Ein weiterer Vorschlag ist ein „Garantie- auch wirklich schon viel gewonnen, wenn einkommen für Erwerbstätige“, das mehr es „im Sinne einer Sockelung ein garan­ Menschen den Gang zum Jobcenter erspa­ tiertes Mindestniveau“ (82) im Bestehen­ ren würde als ein Mindestlohn für allein­ den gäbe. Dass es dabei auf die Höhe des stehende Völlzeiterwerbstätige, selbst Mindestniveaus entscheidend ankommt, wenn dieser die Bedürftigkeitsgrenze über­ weiß der Bundestagsabgeordnete der Grü­ schreiten würde. Das Garantieeinkommen nen. Sicher auch in Differenz zu vielen soll nämlich auch Teilzeitbeschältigte über seiner Parteifreundinnen nennt er nicht die Bedürftigkeitsgrenze heben. Finanziert nur einen Regelsatz zwischen 430 und werden soll es über einen Steuerzuschuss, 500 Euro als wahrscheinlich angemessen, der sowohl ein Einkommen in Höhe des sondern spricht sich auch für ein Sankti­ Regelsatzes sichert, als auch Erwerbsein- onsmoratorium und die Abschaffung der kommen darüber hinaus „stärker belohnt“ Bedarfsgemeinschalt im SGB II aus. Etwas (88). Als gruppenspezifische Variante verwirrend ist jedoch seine Argumenta­ wird eine Kindergrundsicherung gefor­ tion, dass Verbesserungen in der Grundsi­ dert, die für die Kinder komplett bedarfs­ cherung ohne Schritte in Richtung BGE deckend und armutsfest ist (88). Für alte in eine Sackgasse führen würden. Ver­ Menschen umreißt er sein Konzept einer wirrend deswegen, weil er die Sackgasse „Bürgerrente“, die auf einer umfassenden darin sieht, dass sich durch eine Verbesse­ Bürgerversicherung beruht, die für alle rung der Grundsicherung der Personen­ Versicherten eigenständige Ansprüche kreis der Leistungsberechtigten ausweiten aufbaut und ein Mindestniveau garantiert würde (u.a. wegen nicht bedarfsdeckender (90). Für Erwerbslose wÜl er ein reformier­ Erwerbseinkommen). Dem ist entgegen­ tes Arbeitslosengeld, das sich weiterhin zuhalten, dass es auch bei einem Grund- an der Lebensstandardsicherung orien­ einkommen zu einer Ausweitung kom­ tiert und ein Mindestniveau hat, welches men würde, denn hier wären schließlich ergänzende Leistungen des Jobcenters ver­ alle leistungsberechtigt. Als Varianten der meidet. Im Grunde geht es dabei um eine schrittweisen Einführung eines Grundein­ „erweiterte Sozialversicherung“, die auch kommens sieht er einmal Sockelungen im Krankengeld, Elterngeld und Leistungen bestehenden System, zum anderen nicht­ für Pflegende mit einbezieht (91). Für Per­ universelle, gruppenspezifische oder an sonen in Aus- und WeiterbÜdung wird die besonderen Lebenslagen oder Phasen des Öffnung der bestehenden Grundsicherung Lebenslaufs orientierte Grundeinkom­ als pragmatisches Ziel formuliert (91/92). men und schließlich die Einführung einer Die Reformschritte des Theologen und Sozialdividende über eine negative Ein­ Professors für Sozialethrk Franz Segbers kommenssteuer oder „tax credits“. Zur führen über ähnliche Baustellen, wobei er Konkretisierung stellt er eine Reform der in seinem Text (95-107) zunächst noch Rezensionen 127 einmal Begründungen für ein BGE for­ sondern auch zur Etablierung eines Ver­ muliert. Ihm ist es wichtig, die Forderun­ ständnisses „der ganzen Arbeit“ beitragen gen nach einem BGE und die möglichen (103). Die Thematisierung der Kinder­ „Anknüpfungspunkte in den Sozialverfas­ grundsicherung gehört ebenfalls zu sei­ sungen des deutschen Sozialversicherungs­ ner Beschreibung von Potenzialen, „beste­ systems oder sozialpolitischer Debatten“ hende sozialstaatliche Arrangements [...] als „Politisierungsprozess“ zu sehen (97). im Sinne eines emanzipatorischen Projek­ In seinen Argumenten für ein BGE ist der tes perspektivisch auf ein BGE weiterzu­ schon von Lessenich benannte Zweiklang entwickeln“ (107). „Freiheit von“ und „Freiheit zu“ wich­ Andere ‘schrittweise’ Vorschläge tig. Im Unterschied zu Lessenich hat Seg- machen Götz W. Wernerund Andre Presse bers aber die Hoffnung, dass die „gesell­ (109-117), denen es im Wesentlichen schaftsverpflichtete Selbstaktivierung“ darum geht, die Besteuerung von Erwerbs­ zu einer Wende beitragen könnte, in der arbeit durch die Besteuerung des Konsums, sich „selbsttätige und selbstaktive Bürger also eine Erhöhung der Mehrwertsteuer [...] von einem [...] auch immer entmün­ abzulösen und einen Freibetrag dieser, digenden Staat“ befreien (98). Ansätze dann massiv erhöhten Mehrwertsteuer für Übergänge zu einem alternativen als Grundeinkommen zu deklarieren. Das Reformpfad sieht Segbers in einer sank­ halten sie für zwingend geboten, sind es tionsfreien Grundsicherung an Stelle des ihres Erachtens doch „die Konsumenten“, aktuellen SGB II. Er zitiert die Position die jede Steuer im Wirtschaftsleben tragen der Juristin Anne Lenze aus ihrer Expertise (111). Gerahmt ist dieser Vorschlag von für die Friedrich-Ebert-Stiftung, nach der einer Politikkritik, die aus der Perspektive das UrteÜ des Bundesverfassungsgerichts des Bürgers als .Unternehmer des Staates’ vom Februar 2010 ein neues unverfügbares formuliert ist (109) und der Hoffnung, Grundrecht auf ein soziokulturelles Exis­ dass ein BGE „zu einem vermehrten Inte­ tenzminimum etabliert habe (99). Des­ resse am Gemeinwesen beitragen und Ini­ halb stehe einem Verzicht auf Sanktionen tiativen wecken“ kann (110), sowie von der und der Aufgabe des Prinzips „Fördern Feststellung, dass die einzelnen Schritte und Fordern“ nichts mehr im Wege (100). „in der Realität selbstverständlich von Ethisch sei das Regime des Forderns und der wirtschaftlichen Entwicklung“ abhän- der Sanktionen ohnehin nicht zu rechtfer­ gen, „die durch Grundeinkommen und tigen. Neben Veränderungen der Grundsi­ Konsumbesteuerung zugleich ganz neue cherung sieht der Autor auch Übergänge Impulse erhalten wird“ (116). Von Politik, im Bereich des Elterngeldes und der Pfle­ gar emanzipatorischer, ist hier nicht die gezeiten: „Ein dem Elterngeld nachgebil­ Rede. Statt vom Universalismus der Par­ detes und weiter entwickeltes Pflegegeld“ tizipation und Autonomie hören wir den könne die materielle Basis für Gare-Arbei­ Verweis auf die Ökonomie als maßgebli­ ten verbessern und in Kombination mit che Größe. der Verkürzung von Arbeitszeiten nicht Susanne Wiest wiederum, die Initiato­ nur zu einer gerechteren Aufteilung der rin der Grundeinkommenspetition an den Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern, Deutschen Bundestag, sieht im BGE einen 128

„Kulturimpuls“, der sich mit den Begriffen sagekraft aufkommen, sei es doch höchst „Frei, eigenverantwortlich und zusammen“ wahrscheinlich, dass sich Menschen in fassen lässt. Ihr Weg dahin bleibt bewusst befristeten Situationen anders verhielten nebulös, vielspurig und offen. Neben der als in dauerhaften (128). Untersuchun­ selbstgestellten Aufgabe, möglichst viele gen, die sich im Sinne des Autors als sozi­ andere Menschen über die Idee des BGE ale Experimente bezeichnen ließen, gab es zu informieren, sieht sie schon eine „Bür­ vor allem in den 1970er-Jahren zur Umset­ gerbewegung Grundeinkommen als losen zung der „negativen Einkommenssteuer“ Zusammenschluss“ im Entstehen (120). in Kanada und den USA. Ein wesentliches Und der Weg? „Wir gehen nebeneinan­ Ergebnis dieser Untersuchungen bestand der. Keine Führung, die voran geht, keinen darin, dass die Beteiligten ihre Arbeits­ Weg, den andere, ohne selbst zu prüfen zeit nur in geringem Umfang reduziert oder zu denken, gehen können. W ir gehen haben. Dies belege, „dass Menschen trotz nebeneinander. Jeder seinen eigenen Weg. eines garantierten Einkommensniveaus die Ich habe freies Vertrauen“ (120). Erwerbsarbeit nicht einfach ruhen lassen“ Den Abschluss des Bandes bÜden zwei (130). Dennoch beherrschte die Aussage, Beiträge zu Modellprojekten und Sozial­ dass durch garantierte Einkommen das experimenten. Johannes Terwitte (121- Arbeitsangebot zurückgehe, die öffentli­ 132) fragt nach den „Möglichkeiten und che Debatte über die Ergebnisse. Grenzen des Beitrags (...), den Grundein­ Trotz aller Nachdenklichkeit gibt kommensexperimente zur Behebung von Johannes Terwitte dem rationalen wissen­ bislang vorhandenen Wissenslücken“ über schaftlichen Argument in der Sozialpoli­ Folgen eines BGE leisten können (122). tik einen überhöhten Stellenwert, wenn Aus seiner Sicht ist derlei empirisches Wis­ er abschließend behauptet, dass „soziale sen nötig, um die Idee eines BGE umfas­ Grundeinkommensexperimente (...) einen send „fiskalisch und moralisch“ beurtei­ wichtigen Beitrag leisten“ können, Unge­ len zu können (125). Eaborexperimente wissheiten über die Folgen von Politikvor- und ökonometrische Methoden dürften schlägen abzubauen (131). Hier wird aus seines Erachtens am Strukturbruch schei­ Sicht des Rezensenten die Kraft des ver­ tern, die ein BGE darstellt (126). Sozi­ nünftigen Arguments im Streit von sozi­ ale Experimente (begrenzter Rahmen, alen Interessen, politischen Eobbies und Programmgruppe und Kontrollgruppe) Populismen überschätzt. scheinen ihm hier besser geeignet. Das oft Der englischsprachige Beitrag von als positives Beispiel zitierte namibische befasst sich mit einer ähn­ Experiment in Otjivero-, in dem lichen Fragestellung. Ihm geht es um die den Dorfbewohnerinnen für ein Jahr ein Voraussetzungen möglicher BGE-PÜot- Grundeinkommen von 100 namibischen modelle. Für deren Design und die Eva­ Dollar gezahlt wurde, bietet aus der Pers­ luation benennt er siebzehn Imperative. pektive Terwittes nur begrenzte Erkennt­ Diese reichen von der Barauszahlung bis nisse, da eine Kontrollgruppe fehle (127). zum Anspruch, nicht zeitgleich mit der Doch auch die zeitliche Befristung solcher Einführung des BGE konkurrierende Pro­ Modellprojekte lasse Zweifel an der Aus­ jekte zu etablieren. Im Zusammenhang mit Rezensionen 129 den Hauptkritikpunkten am BGE und den patorische Perspektiven eines BGE (plus) wichtigsten Argumenten der Befürwor­ von anderen zu unterscheiden. Die Frage terinnen wird die Forderung nach klaren nach der problematischen Rolle eines BGE Hypothesen vor Beginn des Modellver­ als Lohn für gesellschaftlich und politisch suchs formuliert (144/145). Guy Standing als gut, sinnvoll oder gewünscht definierte jedenfalls hält die Zeiten für günstig, sol­ Tätigkeiten kommt wahrscheinlich wegen che Experimente weltweit durchzuführen. der Fixierung auf die „Wege zum...“ zu Überall erkenne man die wachsende wirt­ kurz. Wie in den meisten Publikationen schaftliche Unsicherheit - einfache Geld­ zum BGE hätte auch die Diskussion, wer transfers seien ein gangbarer Weg, diesen denn die sozialen und politischen Träger Unsicherheiten zu begegnen (152). Auch von Schritten in Richtung BGE sein könn­ er verspricht sich von solchen Experimen­ ten und in welchen Kämpfen und Kon­ ten den Einzug des BGE in den Main­ flikten Schritte dahin überhaupt auftau- stream des sozial- und entwicklungspoliti­ chen, einen prominenteren Platz und mehr schen Denkens (152). Raum verdient. Das sympathische Zitat Der Band ist als Bestandteil politischer von Ton Steine Scherben „und du weißt, Bildungsarbeit angelegt. In der Unter­ das wird passieren, wenn wir uns organisie­ schiedlichkeit der Beiträge finden sich ren“ vor dem Text von Stephan Lessenich Argumentationen zwischen dem Glau­ wirft die dazu passenden Unmengen an ben an einen herrschaftsfreien wissen­ Fragen auf: Das? W ir? Organisieren? schaftlichen Diskurs über die künftige Entwicklung des Sozialstaats genauso wie W olfgang Völker die Darstellung der zugrunde liegenden Diakonisches Werk Hamburg normativen Konflikte und unterscheid­ Königsstr. 54 bare politische Vorschläge zu Gestalt und 22767Hamburg Zweck eines BGE. Aus einigen Texten E-Mail: wvoelker-hamburg(a)t-online. de kann man Kriterien ableiten, um emanzi­