Jahre der Souveränität

"Österreich geht es nicht so schlecht, daß ich das Kanzleramt übernehmen müßte, aber auch nicht so gut, daß ich es ablehnen dürfte" I , meinte Ignaz Seipel treffend, als er am 16. Oktober 1926 mit seiner zweiten Regierung die Nachfolge des glücklosen Kabinetts RudolfRamek antrat. Diese zweite, zwei­ einhalb Jahre währende Regierungsperiode Seipels stellte nicht nur den Hö• hepunkt der persönlichen Macht des "Prälaten ohne Milde" dar, sondern sie umfaßte im wesentlichen auch jene kurze Zeitspanne, in der es der Ersten Republik vergönnt war, sich von den krisengeschüttelten Gründungsjahren wirtschaftlich und politisch einigermaßen zu erholen, bevor der junge Staat in die autoritären und von den katastrophalen Auswirkungen der Weltwirt­ schaftskrise geprägten Verhältnisse der 30er Jahre taumelte. Das Genfer Sanie­ rungswerk war praktisch abgeschlossen - am 30. Juni 1926 hatte der vom Völ• kerbund bestellte niederländische Generalkomrnissär Alfred Zimmerman seine Tätigkeit beendet -, der Staatshaushalt präsentierte sich relativ konsolidiert, die Genesung der Wirtschaft ließ leise Hoffnungen zu, und die Wiener Regierung fand zwischen den vorläufig an Aktualität in den Hintergrund getretenen Anschlußbestrebungen an Deutschland2 und den vielfaltig kursierenden Mit­ teleuropa- bzw. Donauföderationsplänen einen bescheidenen außenpolitischen Handlungs- und Gestaltungsspielraum vor - "Jahre der Souveränität" eben. Trotzdem oder gerade deshalb bestand für Seipel keine Notwendigkeit, be­ sondere neue Akzente in der österreichischen Außenpolitik zu setzen: "Da ich, so wie in der letzten Zeit mein Vorgänger, die Verantwortung für die Außenpolitik persönlich zu tragen haben werde, gestatten Sie mir die Be-

I Zit. nach Walter Goldinger und Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918-1938 (Wien-München 1992) 134. Biographisches zu Seipel bei Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit (Graz-Wien-Köln 1976). 2 Noch bevor Seil?el am 3. Juni 1926 bei einem Vortrag in Paris deutlich ausgespro­ chen hatte, daß Osterreich an der durch die Gleichheit der Sprache und Kultur zum Ausdruck kommenden Bluts- und Schicksalsgemeinschaft mit Deutschland festhalten wolle, dabei aber für die große Idee der Völkerverständigung eintreten werde, ohne sich vor dem Tag der Reife auf eine bestimmte Formel festzulegen (ebd. 126), hatte Bundeskanzler Ramek schon im März 1926 in die gleiche Kerbe geschlagen, als er die Anschlußängste seines tschechischen Amtskollegen Edvard Benes durch die mündliche Versicherung auszuräumen versuchte, daß die österreichische Regierung keine Anschlußpolitik mache und machen werde. "Jeder müsse es aber verstehen", führte er weiter aus, "daß wir Kulturpolitik machen müssen. Dazu führe die Gemein­ samkeit in der Kultur und vielen anderen Dingen. Festzuhalten sei aber, daß die österreichische Regierung sich aus Realpolitikern zusammensetze. Die Grundlagen dieser Politik sind die Friedensverträge und das Genfer Protokoll." (ADÖ 5/826), außerdem zit. bei Walter Rauscher, Ignaz Seipel, Edvard Benes und der Mitteleuropa­ Gedanke in den österreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen 1927-1929. In: MÖStA 43 (1993) 342-365, hier 342. 12 Jahre der Souveränität merkung, daß jene Grundsätze, an die sich die erste Regierung Seipel und das Kabinett Ramek immer gehalten haben, für die praktische Behandlung aller außenpolitischen Fragen maßgebend bleiben werden", versicherte Seipel in seiner Regierungserklärung im Parlament. "Unsere Politik ist und bleibt eine Politik der Offenheit in den Verhandlungen, der Verständigung mit al­ len, mit denen es einer Verständigung bedarf, der Vertragstreue, der Siche­ rung des Friedens mit allen" (ADÖ 6/848). Unbestritten blieb allerdings auch weiterhin die außenpolitische Maxime Wiens, "keine (Bündnis-) Kombina­ tion ohne Deutschland" einzugehen.3 In der österreichischen Historiographie wurde bisher eine intensivere Ausei­ nandersetzung mit der Außenpolitik der Regierung Seipel rr angesichts der dramatischen innenpolitischen Ereignisse rund um Schattendorf und den Justizpalastbrand im Juli 1927 weitgehend vernachlässigt. Während sich Seipel in dieser Phase einer tragischen Eskalation der Gewalt in der österreichischen Innenpolitik als kompromißloser Hardliner des bürgerlichen Lagers präsentierte, genoß er im Ausland den Ruf eines gemäßigten diplo­ matischen Staatsmannes von wahrhaft europäischem Format. In guter Erin­ nerung war und blieb die bedächtige und souveräne Art und Weise, wie er seinerzeit die Völkerbundaktion für Österreich in Genf initiiert hatte. Aner­ kennung zollte ihm das Ausland außerdem wegen seines ausgewogenen au­ ßenpolitischen Kurses, der im wesentlichen darin bestand, Österreich schadlos durch sämtliche europäische Bündnisspekulationen zu manövrieren, ohne sich dabei allzu enge Freunde und erst recht allzu entschiedene Feinde zu schaffen. Kritiker mögen vielleicht einwenden, daß dieser Erfolg um den Preis einer weitgehend defensiven Außenpolitik errungen wurde. Sicher ist, daß Seipel etwa eine Lösung der Anschlußfrage nur im gesamteuropäischen Kontext für möglich hielt. Dementsprechend wichtig erschien ihm auch die von Wien ausgehende Paneuropa-Bewegung, in deren Präsidium er sich en­ gagierte. Ungeachtet dessen erteilte er Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi im Juni 1928 eine freundlich knappe Absage (ADÖ 6/931), als dieser mit der Idee der Einberufung einer umfassenden europäischen Sicherheits­ konferenz an den Bundeskanzler herangetreten war. Im Gegensatz zur Mehr­ zahl seiner späteren Epigonen ließ Coudenhove eine deutliche antideutsche Note vermissen, wie wohl sich kein einziger expliziter Hinweis auf die Anschlußbewegung findet. Wesentlich mehr Bedeutung räumte Coudenhove dem Völkerbund ein, obwohl er dessen weltumspannende Pläne schlichtweg als gescheitert ansah. Natürlich spekulierte auch Coudenhove zur Realisie­ rung seiner Sicherheitskonferenzpläne mit der damals häufig diskutierten Verlegung des Völkerbundes nach Wien (ADÖ 6/915). "Der Gedanke, die 1920 versäumte Verlegung des Völkerbundes nach Wien nachträglich durchzuführen, war niemals ganz ausgestorben", resümiert der österreichische Gesandte Egon Pflügl. "Die in letzter Zeit auch in Wien ver­ suchten Schritte stellen ein letztes Aufflackern des Gedankens dar, bevor durch Baubeginn [des Völkerbund-Palais] der Sitz in Genf unabänderlich

3 Zit. nach Goldinger und Binder, Geschichte der Republik 125. Jahre der Souveränität 13 wird. In letzter Stunde zur öffentlichen Diskussion gestellt, würde die Frage der Verlegung in Österreich hitzige Parteinahme für aber auch gegen diese hervorrufen, sobald sie einmal ernst genommen wird. Woher der Widerstand im Auslande käme, ist bekannt. Das übrige Ausland würde sich kaum sehr echauffieren4 und schließlich der die Oberhand bekommenden Richtung fol­ gen .... Das gewisse, oft gehörte ,der Völkerbund gehört eigentlich nach Wien' trug den Charakter eines platonischen Wunsches, so lange die Kriegs­ psychose bei den Gegnern, die Zustände im Nachkriegs-Europa und die Unsicherheit unserer eigenen Entwicklung währten. Diese Hindernisse be­ stehen Ende 1927 nicht mehr" (ADÖ 6/893). Ein bezeichnendes Licht auf die Außenpolitik Seipels wirft die prompte Antwort des Bundeskanzlers an seinen Vertreter in Genf: "Wahr ist, daß für den Völkerbund und seine Büro• kratie eine Großstadt ein Bedürfnis ist und daß keine andere Großstadt hiefür so geeignet wäre als Wien. Der definitive Sitz des Völkerbundes dürfte aber niemals eine deutsche, d.h. zum Deutschen Reich gehörende Stadt und niemals die Hauptstadt einer wiedererstandenen österreichisch-ungarischen Monarchie, eines mitteleuropäischen Kaiserreiches sein können, daher be­ deutet jede Aktion zur Verlegung des Völkerbundes nach Wien den Entschluß, daß Österreich auf jede der bei den vorgenannten Möglichkeiten verzichtet. ... Lesen Sie aus diesen Darlegungen nicht eine völlige Ablehnung heraus. Sollte ich zur Überzeugung kommen, daß die Entwicklung Europas für ein Großösterreich und für ein Großdeutschland keine Zeit mehr läßt, dann könnte es sein, daß ich selbst die Frage der Konstruktion Europas aufwerfe" (ADÖ 6/ 894). Anfang März 1928 fiel sodann die endgültige Entscheidung zugunsten Genfs, wo man das geplante neue Völkerbund-Palais errichten wollte (ADÖ 6/912).5 "Mithin ist die Frage der Verlegung des Völkerbundsitzes wohl als erledigt anzusehen", notierte Markus Leitmaier für den hausinternen Gebrauch am Ballhausplatz (ADÖ 6/914). Zweifellos hatte Seipel Recht, wenn er die Frage einer Verlegung des Völkerbund• sitzes nach Wien mit der Anschlußproblematik oder den zahlreich durch die europäischen Kabinette geisternden Mitteleuropa- bzw. Donauföderationsplänen in Zusammenhang brachte, ohne eine bestimmte außenpolitische Variante besonders zu forcieren. "Wir befinden uns auf dem Wege zur Schaffung größe• rer Einheiten. Ob es irgendein Paneuropa sein wird, eine mitteleuropäische Kon­ stellation oder eine europäische Sektion des Völkerbundes, kann heute noch kein Mensch voraussehen. Und Tatsache ist die Notwendigkeit, Österreich in eine derartige größere Einheit einzubeziehen. Heute allerdings ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen, zu entscheiden, welche die endgültige Lösung sein wird . . .. Wie ich zum Anschluß stehe? Ich will ganz aufrichtig antworten: Heute schon sind wir mit Deutschland in einem viel höheren als dem rein staatsrechtlichen

4 Positive Signale im Hinblick auf eine Verlegung des Völkerbundsitzes von Genf nach Wien kamen etwa aus der Tschechoslowakei oder aus Italien, vgl. dazu ADÖ 6/890 und ADÖ 6/895. 5 Zur Diskussion um die Verlegung des Völkerbundsitzes von Genf nach Wien siehe außerdem ADÖ 6/893, ADÖ 6/897, ADÖ 6/900, ADÖ 6/901, ADÖ 6/903, ADÖ 6/ 904, ADÖ 6/905, ADÖ 6/907, ADÖ 6/909, ADÖ 6/911 und ADÖ 6/913. 14 Jahre der Souveränität

Sinn verbunden, unlösbar verbunden. Irgendeine Kombination, die Deutsch­ land ausschlösse, kommt für uns in alle Zukunft nicht in Frage. Aus wirtschaft­ lichen und gefühlsmäßigen und tausend anderen Gründen. Der Kreis der Mög• lichkeiten, die dann noch bleiben, ist allerdings ein viel größerer, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Wir denken diese Probleme durch, wenn es auch zu irgendeiner Aktion noch viel zu früh ist. ... Übrigens weiß alle Welt, daß wir unsere Arbeiten zur Angleichung unserer beiden Staaten energisch fort­ setzen werden. "6 Während sich Seipel also in der Anschlußfrage maßvolle Zurückhaltung auferlegte, was ihm auf internationaler Ebene Anerkennung und Reputation verschaffte, wurde diese Politik von seinem großdeutschen Koalitionspartner konterkariert. So erregte etwa Vizekanzler und Justizminister Franz Ding­ hofer mit seinen öffentlichen Äußerungen über den Anschluß den Ärger Frankreichs, Englands und Italiens (ADÖ 6/849)1. Eine deutlichere Akzen­ tuierung des Anschlußgedankens in der Konzeption der österreichischen Außenpolitik forderten die großdeutschen Regierungspartner von Seipel nach den für die Koalition ungünstig verlaufenen Wahlen im April 1927.8 Auf die Unterstützung der Großdeutschen angewiesen, trug der Bundeskanzler die­ ser Forderung in seiner Regierungserklärung zurnindestens verbal Rechnung, indem er zwar neuerlich bekräftigte, daß sich die österreichische Außenpoli• tik auch im neuen Nationalrat nicht ändere, daß aber die Ausgestaltung der Beziehungen "zu unseren Brüdern im Deutschen Reich" uns ganz besonders am Herzen liegt. "Auf allen geistigen Gebieten kann das Verhältnis nicht mehr enger werden", fuhr Seipel fort, "es ist in unserer gemeinsamen Ab­ stammung, Kultur und Geschichte begründet. Daß wir darüber hinaus auch jede wirtschaftliche und sonstige Annäherung der beiden Staaten fördern und wünschen, die je nach der Zeitlage möglich und zulässig ist, weiß alle Welt" (ADÖ 6/871). Es ist nicht verwunderlich, daß solche Äußerungen nicht gerade zur Beruhigung des Auslandes beitrugen, wo man die wachsende Anschlußstimmung in Österreich mit Skepsis und Sorge beobachtete. Praktisch kein Thema war dagegen die Anschlußpolitik, als der reichsdeut­ sche Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, earl von Schubert, Ende Mai 1927 zu Gesprächen mit Bundeskanzler Seipel eintraf. Vielmehr standen die Mitteleuropapläne "durch rührige italienische Außenpolitik und durch wirt­ schaftliche Not aller wieder im Zentrum des Interesses" (ADÖ 6/873). Die

6 Ignaz Seipel, Österreich und Deutschland. In: Neue Freie Presse v. 9. Juni 1928 (Abendausgabe), zit. nach Harro Malt, " ... Wie ein Klotz inmitten Europas". "Anschluß" und "Mitteleuropa" während der Weimarer Republik 1925-1931 (= Studien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte 4, Frankfurt a. M. - Bem - New York 1986) 21. 7 Vgl. dazu auch ADÖ 6/859, ADÖ 6/870 und zu Jugoslawien und der Kleinen En­ tente ADÖ 6/872 sowie Amold Suppan, Jugoslawien und Österreich 1918-1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld (= Veröffentlichungen des Österreichi• schen Ost- und Südosteuropa-Instituts 14, Wien - München 1996) 1150. 8 Zu den Wahlen vom 24. April 1927 im Vorfeld der dramatischen Juliereignisse siehe etwa Friedrich Rennhafer, Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation (Wien-Köln-Graz 1978) 497-521. Jahre der Souveränität 15

Vorgabe Österreichs im Zusammenhang damit war klar und knapp: Wirt­ schaftliche Vorteile zu suchen, soweit es möglich war, ohne strikte Neutrali­ tät aufzugeben und ohne allzu starke Bindungen einzugehen. Daraus ergab sich für die österreichische Außenpolitik nahezu zwingend, daß "unsere Rolle dabei eher eine passive sei", wie Seipel gegenüber Schubert folgerte. "Sooft in Österreich Klagen wegen der Schwierigkeiten auf handelspolitischem Gebiete erhoben werden, rufen alle an der Selbständigkeit unseres Staates interessierten Mächte einmütig hinaus, es müsse etwas geschehen, damit Österreich nicht in den Anschluß geradezu hineingetrieben werde. Bei uns werde jetzt von dem Anschluß viel geredet, was sich auch daraus erklärt, daß die wirtschaftspolitischen Beschwerden, die bei uns immer lauter wer­ den, eine Erhöhung der Anschlußtätigkeit hervorrufen. Bei aller Sucht nach einer Verbesserung der handelspolitischen Lage herrsche aber eine allge­ meine Ideenlosigkeit, denn alles, was da gesprochen wird von Donaukonfö• deration, Zollunionen etc. - es sind nur Schlagworte und das Kennzeichen dafür, daß man etwas tun wolle. Aber kaum denkt man an eine Realisierung irgend eines dieser Schlagworte, zeigen sich sofort unüberbrückbare Diffe­ renzen. Frankreich möchte eine Gestaltung, bei der Polen dabei ist; die Tschechoslowakei wieder mag Polen in einer solchen Organisation nicht darin haben, um es sich nicht mit Deutschland zu verderben. Italien ist überhaupt gegen alles, wo es nicht selbst dabei ist" (ADÖ 6/874). Die wesentliche treibende Kraft im Sinne einer mitteleuropäischen Bündnis• konzeption war die stets von Anschlußängsten geprägte Prager Führung un­ ter Staatspräsident Tomas G. Masaryk und dem Außenminister und Führer der Kleinen Entente, Edvard Benes.9 Anläßlich der Märztagung des Völker• bundes in Genf 1927 hatte Masaryk dem reichsdeutschen Außenminister Gustav Stresemann gegenüber den Plan entwickelt, "daß die früheren Staa­ ten, die zur österreichischen Monarchie gehörten, sich untereinander wirt­ schaftlich verbänden, so wie es früher gewesen sei. Sie gehörten zueinander und müßten wieder miteinander verbunden sein [sic!]. Dabei könnten ja . Vereinbarungen getroffen werden zwischen Österreich und dem Deutschen Reiche, die, ohne Deutschland die politische Oberhoheit zu geben, ihm den kulturellen Einfluß in Österreich sicherten und ihm eine so starke Befesti­ gung schüfen, daß Österreich gewissermaßen die Avantgarde Deutschlands darstelle." 10 In der Tat mutet dieses neue Zusammengehörigkeitsgefühl selt­ sam an, zumal diese Töne aus der Prager Burg nach Wien drangen, wo man nie um die Eigenstaatlichkeit des kleinen Österreich, dafür aber um so ent­ schiedener um die Erhaltung der Donaumonarchie gerungen hatte. Natür-

9 Vgl. dazu etwa Paul E. Zinner, Czechoslovakia. The Diplomacy ofEduard Benes. In: The Diplomats 1919-1939, ed. GordonA. Craig und Felix Gilbert (Princeton 1955) 102; außerdem Ferdinand Seibt, T. G. Masaryk und Edvard Benes. Die "Burgherren" im politischen Profil. In: Die "Burg". Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Benes, Bd. 1, ed. Kar! Bosl (München - Wien 1973) 46. 10 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945 (= ADAP). Aus dem Archiv des Auswärtigen Amts. Serie B, Bd. 3 (Götti~.gen 1970) 538; vgl. dazu auch die münd• liche Mitteilung Schuberts an Seipel in ADO 6/874 und weiters Rauscher, Mitteleu­ ropa-Gedanke 352. 16 Jahre der Souveränität lieh erschienen jetzt vor allem die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des "Völkerkerkers" attraktiver als die drohende politische Dominanz eines groß• deutschen Reiches, das die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie allen­ falls ergänzungswirtschaftlich einbezog. So verständlich die Anschlußphobien der Prager Regierung waren, so wenig aktuell war die praktische Realisierung des staatlichen Zusammenschlusses Österreichs mit Deutschland gerade im Sommer 1927: So sah Stresemann­ offensichtlich unter dem frischen Eindruck der dramatischen Ereignisse in Wien - im Anschluß ein "Opfer, das vielleicht einmal gebracht werden müs• se". Vorderhand gelte es jedoch nur die bei den Staaten auf allen möglichen Gebieten anzugleichen und "aneinander zu ketten", mit dem Ziel, daß "Ös• terreich eben als Staat selbständig erhalten bleibe und nicht an Deutschland angegliedert würde". II In eine ähnliche Richtung ging der ausdrückliche Wunsch Berlins an die Wiener Regierung, momentan keine "demonstrative Anschlußpolitik" zu betreiben und "in dieser Frage offiziell möglichst we­ nig hervorzutreten" (ADÖ 6/885). "Am besten sei es", mahnte Stresemann, "die Sache jetzt ruhen zu lassen. Vorläufig sei der Anschluß ein cauchemar für die anderen" (ADÖ 6/886). Kein Problem hatte man dagegen auf bei den Seiten mit konkreten Angleichungsmaßnahmen etwa auf wirtschaftspoliti­ schem Gebiet. So äußerte Stresemann bereits im Frühherbst 1927, "es sei nun höchste Zeit, daß es zur Zollunion zwischen Deutschland und Öster• reich komme" (ADÖ 6/879). Als der deutsche Außenminister bei seinem Wienbesuch gemeinsam mit Reichskanzler Wilhelm Marx im November 192712 das Zollunionsprojekt erneut zur Sprache brachte, lenkte Seipel die Aufmerksamkeit seiner deutschen Gäste zunächst auf die Prager Mittel­ europapläne, wobei er das Konzept des tschechischen Ministerpräsidenten Antonin Svehla, wonach Österreich mit der CSR und Deutschland wirtschaft­ lich zusammengehen sollte, interessanter fand, als die alte Idee eines Zu­ sammenschlusses Österreichs mit der CSR, Ungarn und Jugoslawien (ADÖ 6/ 886). "Was das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich anbelangt", hielt Stresemann fest, "daß die zwecks Herbeiführung einer wirtschaftlichen Annäherung der beiden Staaten unbedingt erforderlichen Arbeiten in An­ griff genommen werden" müßten. Seiner Information nach hätten die österreichischen Industriellen gegen eine Zoll- und Wirtschaftsunion zwi­ schen Österreich und Deutschland keine Einwände mehr (ADÖ 6/886). Sehr wohl Einwände dagegen hatte natürlich die tschechische Seite, auf der etwa Außenminister Benes argumentierte, daß er zwar Verständnis dafür habe, wenn die Anschlußbewegung für den Großteil der österreichischen Bevöl• kerung "Gefühlspolitik" sei, daß sich aber dieses Gefühl der Zusammenge­ hörigkeit auch außerhalb des Anschlusses ausleben ließe, z.B. in kulturellen Angelegenheiten oder im Bereich der Rechtsangleichung. Etwas anderes wäre es allerdings schon, wenn sich Österreich und Deutschland irgendwe1che

II ADAP 6 (Göttin gen 1974) 84; siehe dazu außerdem Stanley Suval, The Anschluß Question in the Weimar Era. A Study of Nationalism in Germany and , 19 I 8- 1932 (Baltimore- 1974) 141. 12 Siehe dazu u.a. Rennhofer, Seipel 547 f. Jahre der Souveränität 17 weitgehenden handelspolitischen Zugeständnisse machen wollten, denn dann kämen die anderen Staaten mit der Meistbegünstigung und die großen Schwie­ rigkeiten würden beginnen. "Österreichs Zukunft", so prophezeite Benes, "sei es, in Mitteleuropa seine eigene Staatlichkeit zu bewahren und eine zweite reichere und mächtigere Schweiz zu werden, ein Puffer gegen den mögli• chen Zusammenprall anderer Staaten. Schließlich und endlich gehe ja die Entwicklung hoffentlich dahin, daß die politischen Grenzen mit der Zeit eine wesentlich geringere Rolle spielen und daß sie nur Verwaltungsgrenzen sein werden" (ADÖ 6/889). Fürwahr prophetische Worte, mit dem entscheiden­ den Schönheitsfehler, daß bis dahin 70 Jahre und ein neuer Weltkrieg zu überwinden waren. Eine präzise Analyse der aktuellen außenpolitischen Situation hatte eben erst der Leiter der Politischen Abteilung am Ballhausplatz, Konsul Norbert Bischoff, in einer umfassenden Denkschrift geliefert: "Der Grund, weshalb man in Frankreich sich gegenwärtig so intensiv mit diesem [Mitteleuropa-] Projekte befasse, liege in der stets steigenden Nervosität hinsichtlich des Anschlusses. Man sei in Paris der Meinung, daß es unmittelbarer und drasti­ scher Mittel bedürfe, wolle man der Gefahr einer schrittweisen, aber schließ• lich und endlich unabwendbaren Durchführung des Anschlusses vorbeugen. Daß diese Gedankengänge in großen Zügen mit dem von Masaryk und Benes seit langem verfolgten politischen Konzept zusammenfallen, ist angesichts der Tatsache, daß die französische Mitteleuropapolitik ihre hauptsächlichsten Informationen und Anregungen aus Prag schöpft, nicht zu verwundern. Ebenso ist es selbstverständlich, daß die der [Prager] "Burg" nahestehenden tschechoslowakischen wirtschaftlichen Kreise, denenja bei der Realisierung dieser Gedankengänge eine außerordentlich wichtige Rolle zufiele, für die­ se Kombination gewonnen sind. Hingegen scheint sich der wichtigste Fak­ tor in der tschechoslowakischen Politik, Ministerpräsident Svehla, vorläufig zumindestens mit diesen Kombinationen noch nicht identifiziert zu haben . ... Diesen Umständen kommt angesichts der Tatsache, daß Svehla stets die ausgreifenden großmachtmäßigen politischen Konzeptionen seines Außen• ministers bekämpft hat und stets für eine realistische Kleinstaaten-Politik, die besonders auf ein gutes Verhältnis zu Deutschland Rücksicht zu nehmen habe, eingetreten ist, eine gewisse Bedeutung auch dann zu, wenn man hieraus auch nicht unmittelbar weitreichende politische Konklusionen zieht" (ADÖ 6/ 883). Klarheit in den Irrgarten der verschiedenen - tschechischen - Mitteleuropa­ pläne zu bringen, versuchte der hervorragende Kenner der tSR und österreichische Gesandte in Prag, Ferdinand Marek. Aufgrund seiner blen­ denden Kontakte zur gesamten tschechischen Führungsspitze konnte er Meinungsnuancen wahrnehmen, die anderen wohl vielfach verborgen blie­ ben. Konkret die Frage eines mitteleuropäischen Bündnisses anbelangend, glaubte Marek drei Richtungen orten zu können: Erstens die Konzeption des Außenministers Benes, die eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen Österreich und der Tschechoslowakei zum Ziel habe. Daraus sollte später ein Konglomerat von Staaten werden, zu denen Jugoslawien, Ungarn, Ru- 18 Jahre der Souveränität mänien und auch Polen zählen könnten. "Der Hauptberuf dieses neuen Mit­ teleuropa ist die Landwirtschaft, am industriereichsten sind die Tschecho­ slowakei und Österreich. Es haben sich allerdings auch die ausgesproche­ nen Agrarstaaten nach dem Kriege bemüht, ihre Wirtschaft zu industrialisie­ ren, doch sei die Industrialisierung der Agrarstaaten auf die Dauer eher schäd• lich, sie schaffe ungesunde Treibhausindustrien. Der hohe Schutzzoll ist also weder für die Agrarstaaten von Vorteil, noch für die Industriestaaten, die auf den Export angewiesen sind und Retorsionen befürchten müssen" (ADÖ 6/ 891). Zweitens die - dezidiert nicht "französische" - Kombination mit Deutschland, primär getragen von Ministerpräsident Svehla und Kamil Krofta. 13 "Herr Svehla", wußte Marek zu berichten, "ist von Natur aus über• zeugter Nationalist. Dieser Nationalismus geht aber nicht so weit, daß er nicht praktischen, gerade heraus gesagt, geschäftlichen Erwägungen zugäng• lich wäre. Der Ministerpräsident kalkuliert so: in Frankreich ist für die Tschechoslowakei nichts zu holen; Frankreich benütze die Republik zwar politisch, für die tschechoslowakische Wirtschaft stehe es aber an Bedeu­ tung weit hinter Deutschland und Österreich zurück. Verdienen und Geschäfte machen, den Nationalreichtum mehren, könne die Tschechoslowakei nur mit Deutschland und in enger wirtschaftlicher Anlehnung an dieses. Deshalb müsse die auswärtige Politik der Tschechoslowakei sich nach Deutschland und Österreich orientieren. Mit Österreich, mit dem man durch Jahrhunderte beisammen war und mit dem man gleichartige, oft identische Interessen hat, kann und soll diese Zusammenarbeit bis zur Zollunion gehen. In Bezug auf Deutschland könne man allerdings nicht so weit gehen, weil sonst die wirt­ schaftlich schwächeren tschechoslowakischen Betriebe von der mächtigen reichsdeutschen Industrie und deren Handelsorganisationen verschlungen und vernichtet werden würden. Hier wären entsprechende Handelsverträge anzustreben. In Deutschland selbst ist es notwendig, Sympathien für die Tschechoslowakei zu erwecken und die freundschaftlichsten Beziehungen zu pflegen" (ADÖ 6/891). Drittens die wohl am ehesten von Staatspräsident Masaryk favorisierte Kombination, die dort zur Anwendung kommen wird, "wo für die Tschechoslowakei das größere Geschäft herausschaut. Natürlich fehlen auch hier nicht, besonders beim Präsidenten der Republik, ideale Motive, doch scheint man zu glauben, daß sich diese mit dem wirtschaftli­ chen Nutzen decken. Auch hier ist der wirtschaftliche Zusammenschluß mit Österreich der Anfang des Ganzen, der aber nicht unbedingt durch staatliche Verträge erzielt werden müßte, sondern via facti durch Vereinbarungen (Kartellierungen) der beiderseitigen Industrien herbeizuführen wäre" (ADÖ 6/891). Das letzte Modell trug die Handschrift des Din:iktors der Zivnostenska Bank, Jaroslav Preiss. 14

13 Zum Konflikt des tschechoslowakischen Außenministers Benes mit dem Gesandten Krofta über die Anschlußproblematik siehe ADÖ 6/949. 14 Zur Analyse der Mitteleuropa-Pläne in der Tschechoslowakei siehe u.a. auch Rau­ scher, Mitteleuropa-Gedanke 354 ff.; zu Preiss, F. Gregory Campbell, The Castle, Jaroslav Preiss and the Zivnostenska Bank. In: Bohemia 15 (1974) 231-255. Jahre der Souveränität 19

Anfang des Jahres 1928 ergriff der unermüdlich jegliche Gefahren eines Anschlusses zu verhindern trachtende Außenminister Benes abermals die Initiative, indem er "eine Art mitteleuropäisches Locarno" vorschlug. Nie­ mand konnte seiner Meinung nach etwas gegen eine Verständigung der Tschechoslowakei mit Österreich und Jugoslawien einwenden, gelte es doch, sich vor den "unruhigen Nachbarn" Italien und Ungarn zu schützen. Und wieder mußte die alte Monarchie herhalten, in der Ungarn schon "immer der Störenfried gewesen" sei (ADÖ 6/898). Der Einladung des tschechoslowa­ kischen Außenministers kam Seipel im Rahmen einer Vortragsreise nach Prag Mitte Februar umgehend nach. 15 Inhaltlich trat der österreichische Regierungschef dabei jedoch auf die Bremse, wenn er etwa den Sinn und Zweck "lokaler Locarno-Verträge" in Zweifel zog bzw. die Zeit dafür für noch nicht reif erachtete. Außerdem zeigte sich Seipel nicht gewillt, ohne das Einvernehmen mit Deutschland in "irgendein mitteleuropäisches Vertragssystem" einzutreten (ADÖ 6/903).16 Als Benes seine Mitteleuropa­ pläne wenige Wochen später in Berlin mit dem deutschen Staatssekretär von Schubert erörterte und dabei ebensowenig diplomatisch wie realistisch ei­ nem ökonomischen Zusammenschluß der drei Kleinen-Entente-Staaten mit Österreich, Ungarn, Bulgarien und Griechenland das Wort redete, konfron­ tierte ihn die deutsche Seite mit ihrer Version eines mitteleuropäischen Bünd• nisses, das im Endeffekt jener Svehlas und Kroftas glich. Das war nun freilich genau das Gegenteil von dem, was Benes im Sinne einer politisch-wirtschaft­ lichen Führungsrolle für sein Land im Auge hatte. 17 "Meine Überzeugung ist", präzisierte Seipel im Sommer 1928, "erstens, daß wir im Lauf der Zeit, je früher um so besser, die Möglichkeit haben müssen, aus der Enge der Grenzen, die uns derzeit als Wirtschaftsgebiet gezogen sind, herauszutreten. Zweitens, daß die Überzeugung hievon, die wir schon seit langem haben und immer wieder vertreten, auch immer mehr ein Ge­ meingut der anderen europäischen Staaten und der führenden Staatsmänner in ihnen werden wird. Drittens, daß wir heute noch nicht wissen, was früher kommen wird und was später, ob eine größere oder eine kleinere Lösung des Problems möglich sein wird. Deswegen habe ich die Meinung, daß wir uns frei halten müssen, hineinzugehen in eine größere oder kleinere, eine euro­ päische, mitteleuropäische, deutsche Lösung, sobald sich uns die Tür in die-

lS Seipe1 kam auf Einladung einer deutschen katholischen Hochschulverbindung nach Prag, wo er einen Vortrag zum Thema "Weltanschauung und Volkstum" hielt. Im Gegensatz zur wahren diplomatischen Bedeutung seines Pragbesuches, betonte Seipe1 gegenüber der tschechischen Presse, daß seine Reise "diesmal eigentlich den Deut­ schen in der Tschechos1owakei [gelte], was Ihre Regierung weiß und billigt", zit. nach Rennhofer; Seipel 552; vgl. auch Arno1d Suppan, Die Außenpolitik der ersten Tschechoslowakischen Republik aus Wiener Sicht. In: Edvard Benes und die tsche­ choslowakische Außenpolitik 1918-1948, ed. Arno1d Suppan und E1isabeth Vyslonzil (= Wiener Osteuropa Studien 12, Frankfurt-Wien 22003) 15-82; hier 53 ff. 16 Ebenso ausführlich bei Rauscher; Mitte1europa-Gedanke 359 ff. 17 ADAP 9 (Göttingen 1976) 56-71; außerdem Peter Krüger; Benes und die europäi• sche Wirtschaftskonzeption des deutschen Staatssekretärs earl von Schubert. In: Bohemia 14 (1973) 320-339. 20 Jahre der Souveränität ses oder jenes größere Wirtschafts gebiet öffnet. Aber niemals werden wir glauben, daß die mitteleuropäische Frage gelöst ist, wenn der große Staat, der das eigentliche Mitteleuropa erfüllt, das Deutsche Reich, bei dieser Lö• sung nicht mit dabei ist."18 Am 3. September 1928 fand im Rahmen der ersten Völkerbundversammlung in Genf die Wahl Bundeskanzler Seipels zum Vizepräsidenten statt. Dies bedeutete nicht nur einen persönlichen Erfolg für den streitbaren Regierungs­ chef im Priesterrock, sondern es stellte auch eine Geste der Achtung und Anerkennung für die junge Republik dar. Fraglos hatte sich damit auch die Position Österreichs vor dem Völkerbund schlagartig gewandelt. Aus dem armseligen Bittsteller der Nachkriegsjahre war - zumindestens in Genf - ein gleichberechtigter Verhandlungspartner geworden. Der Höhepunkt von Seipels Auftreten vor dem Völkerbund war dessen Rede vom 8. September vor der Vollversammlung, die zu einer Abrechnung mit den durch die Pari­ ser Friedensverträge neu geschaffenen Minderheitenproblemen einschließ• lich Südtirols wurde: 19 "Österreich steht seit der unter den Auspizien des Völkerbundes durchgeführten Sanierungsaktion in einem besonderen Ver­ hältnis zum Völkerbund. Gewiß war die Sanierungsaktion auch ein gutes Geschäft für alle Beteiligten - für den Völkerbund, der durch die glückliche Lösung einer so bedeutenden Aufgabe offensichtlich eine Erhöhung seines Ansehens erfuhr; für Österreich, das nach Ordnung seines Staatshaushaltes sein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben auf gesunder Basis neu aufbauen konnte, und natürlich auch für jene, die uns ihr Geld geliehen ha­ ben, das ihnen nun bei der größten Sicherheit, die je für eine Anleihe gebo­ ten war, schönen Gewinn abwirft. Wer jedoch nur das Geschäft in dieser Aktion erblickte", fuhr Seipel staatsmännisch und sichtlich von der Würde der Vizepräsidentschaft getragen fort, "der sähe nicht alles. Zum ersten Mal nach dem verheerenden Krieg hat sich der Geist brüderlicher Solidarität und Hilfsbereitschaft zwischen den Völkern in werktätiger Weise unter der Füh• rung des Völkerbundes an uns geoffenbart. Die österreichische Sanierungs­ aktion ist ein geschichtliches Musterbeispiel des Erfolges internationaler Zusammenarbeit geworden ... Die volle Bedeutung der österreichischen Aktion des Völkerbundes erkennen wir erst dann, wenn wir uns in Erinne­ rung rufen, daß es damals galt, einen der wirtschaftlich schwächsten Staaten der Nachkriegszeit durch internationale Hilfe vor dem finanziellen, politi­ schen und sozialen Zusammenbruch zu retten, der den Frieden Europas hät• te zerstören können" (ADÖ 6/945). Als einen Hauptfaktor für die Bedro­ hung des Weltfriedens nannte Seipel sodann überzogene Nationalgefühle, die vor allem in den letzten Jahrzehnten nicht nur staatsbildende Mehrheits­ völker erfaßten, sondern eben auch eingestreute Minderheiten, zumal man­ che von ihnen vor dem Weltkrieg Teil der Mehrheitsbevölkerung waren. Klarerweise sollte dieser letzte Zusatz ein deutlicher Hinweis auf die ver­ schiedenen deutschen Minderheiten in den Nachbarstaaten Österreichs sein.

18 Zit. nach Rennhafer, Seipel568. 19 Rennhafer, Seipel 576. Jahre der Souveränität 21

Nun sei ein förmliches Minderheitenrecht zwar in rudimentärer und völlig unzulänglicher Form durch die Aufnahme in die Pariser Vororteverträge Teil des allgemeinen Völkerrechts geworden, die faktische Behandlung der Min­ derheitenfrage befinde sich jedoch in einem denkbar unbefriedigenden Zu­ stand. "Man kann Europa, um nur von unserem Erdteil zu sprechen, nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Man kann den Süden vom Nor­ den, den Osten vom Westen unterscheiden; man kann von einer romanischen, einer germanischen, einer slawischen Zone sprechen; man kann seit 1918, wenn man durchaus will, noch immer von Siegern und Besiegten sprechen. Es geht aber auch eine Grenzlinie durch Europa, die zwei verschiedene Be­ griffe der Nation voneinander scheidet. Auf der einen Seite dieser Grenze wohnen Völker, denen der Staat alles ist, die unter Nationalgefühl ein gro­ ßes Maß von Begeisterung für den Staat verstehen, dem sie freiwillig oder nicht angehören. Auf der anderen Seite der Grenze gilt das Bewußtsein der gemeinsamen Kultur und Sprache und die ihr zugrunde liegende Blutsver­ wandtschaft mehr, ohne daß dadurch die Loyalität gegen den Staat beein­ trächtigt zu werden braucht. Für die einen bedeutet der Minoritätenschutz nur eine humane Übergangsmaßregel, um den Fremdstämmigen und Fremd­ sprachigen das Aufgehen in dem größeren Staatsvolk, dem sie durch die ursprüngliche Siedlungsart oder durch irgendwe1che geschichtliche Ereig­ nisse zugewiesen worden sind, schmerzloser zu machen. Den anderen ist er ein heiliges, natürliches, unverjährbares Recht, auf das sie, selbst wenn sie wollten, gar nicht verzichten dürften" (ADÖ 6/945). "Soll Österreich wirklich von der Landkarte verschwinden?" - Diese Frage stellte der französische Außenminister Aristide Briand mit sichtlichem Un­ behagen über den drohenden Anschluß am Rande der Genfer Völkerbund• versammlung, um von Seipel nicht ohne Süffisanz darauf hingewiesen zu werden, daß man niemandem verwehren könne, sich für den Anschluß aus­ zusprechen. "Machen Sie den Anschluß, aber reden Sie nicht davon!" -lau­ tete hingegen der knappe Rat des italienischen Völkerbunddelegierten Vittorio Scialoja, um allerdings abschwächend hinzuzufügen, daß Österreich Italien näher stünde als Deutschland, was wiederum Seipel zur bissigen Replik veranlaßte, wonach sich Österreich lieber von Preußen schikanieren lasse, als von seinem südlichen Nachbarn (ADÖ 6/946 bzw. ADÖ 6/947).20 Gänz• lich ohne launige Aper~us über den Anschluß verliefen die Genfer Gesprä• che Seipels dagegen mit Benes und dem jugoslawischen Außenminister Vojislav Marinkovic, die beide versicherten, Österreich keinesfalls in die Einflußsphäre der Kleinen Entente einbeziehen zu wollen. Vielmehr gehe es bloß um die wirtschaftliche Annäherung der Ententestaaten, namentlich der Tschechoslowakei und Jugoslawiens (ADÖ 6/947). Nachdem in der Karwoche des Jahres 1929 der bereits länger schwelende Wunsch, sich aus der Politik zurückzuziehen, konkrete Formen angenomr men hatte, konfrontierte Seipel den Ministerrat am Osterdienstag mit sei­ nem Rücktritt, der zunächst nur seiner Person galt, dem aber noch in der

20 Dazu auch Rennhofer, Seipel 579. 22 Jahre der Souveränität

selben Sitzung das gesamte Kabinett folgte. Das außenpolitische Resümee Seipels unterschied sich dabei praktisch nicht von seiner bei Regierungsan­ tritt verkündeten Maxime, wonach "in der Gegenwart alle Außenpolitik ehr­ liche Realpolitik sein muß, die für die Zukunft am besten sorgt, wenn sie einseitige Bindungen nach welcher Seite immer vermeidet".21 Am 4. Mai 1929 übernahm das neue Kabinett unter Ernst Streeruwitz die nur wenige Monate währende Regierung. "Die auswärtige Politik der neuen Regierung wird sich an jene Leitlinien halten, die schon bisher maßgebend waren", hieß es in der Kontinuität verheißenden Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers. Als diese Leitlinien nannte er die "weitere Ausge­ staltung der freundschaftlichen Beziehungen zu allen Staaten, besonders zu den Nachbarn und unter diesen wieder vornehmlich zum Deutschen Reich, mit dem wir kraft unserer gemeinsamen Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur uns aufs engste verbunden fühlen, ferner das Bekenntnis zur Idee der dauernden Friedenssicherung durch Mittel des Rechtes, endlich tatkräf• tige Mitarbeit im Völkerbund. Unser unerschütterlicher Wille zur Gemein­ schaftsarbeit am europäischen Wiederaufbau begründet es, jene Achtung und Gleichberechtigung zu fordern, die uns trotz Kleinheit und Armut als freien, selbständigen Staat und als Träger einer tausendjährigen kulturellen Missi­ on zukommt und der wir uns in einem Jahrzehnt harter Not durchaus würdig erwiesen haben" (ADÖ 6/962). Ebensowenig wie Streeruwitz, dachte sodann auch die neue, ab Ende Sep­ tember 1929 im Amt befindliche Regierung unter Bundeskanzler - es war dies sein drittes Kabinett - an einen außenpolitischen Kurs­ wechsel: "Unsere Politik ist erstens eine Politik der Freundschaft mit allen Staaten und ganz besonders mit unseren Nachbarn. Daraus folgt, daß sie zweitens eine Politik der Neutralität ist und bleiben muß. Wir treten keiner Staatengruppe bei und richten unsere Politik gegen niemanden. Wir wün• schen außenpolitisch neutral zu sein und glauben damit, nicht nur unseren Interessen, sondern auch denen aller anderen europäischen Staaten am weitaus besten zu dienen. Zum dritten ist unsere Politik eine friedliche .... Wir wis­ sen uns in dieser Politik eins mit dem Deutschen Reiche, dem wir in bösen wie in guten Tagen brüderliche Treue halten wollen" (ADÖ 6/979). An kon­ kreten außenpolitischen Aufgaben für die kommenden Monate nannte Scho­ ber neben wichtigen Handelsvertragsverhandlungen, namentlich etwa mit Deutschland, vor allem die Durchführung der Investitionsanleihe und die damit in Zusammenhang stehende Pariser Konferenz (ADÖ 6/979). Die Zustimmung zu der von Wien so dringend benötigten Investitionsan­ leihe war bisher am Veto Italiens gescheitert, dessen Verhältnis zu Öster• reich sich in den vergangenen Jahren vor allem wegen Südtirol merklich schwieriger gestaltet hatte. Der Beginn der zunehmenden Schwierigkeiten reicht eigentlich schon in das Jahr 1923, nachdem Rom mit der gezielten Italianisierung des Schulwesens und der Verwaltung in Südtirol die Basis für die ab 1925 voll einsetzende Festigung des Faschismus geschaffen hatte.

21 Rennhofer, Seipe1614. Jahre der Souveränität 23

Zu großer Aufregung und einer weiteren Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses zwischen Österreich und Italien war es dann zu Beginn des Jahres 1926 gekommen, als Benito Mussolini gar drohte, die Trikolore nötigenfalls jenseits des Brenners vortragen zu lassen.22 Daraufhin fielen die Reaktionen in Österreich so heftig aus, daß selbst Mussolini den taktischen Rückzug antrat, indem er erklärte, dies ja überhaupt nur für den Fall eines Anschlusses Österreichs an Deutschland gemeint zu haben.23 Mit dem Regierungswechsel im Oktober 1926 in Wien war indessen keine Besserung des angespannten Verhältnisses zu Italien eingetreten. Unverän• dert aufrecht blieb auch der inländische Druck auf die Wiener Regierung, sich des Südtirolproblems entschieden anzunehmen.24 "Wir verstehen es sehr wohl", meinte der Abgeordnete Anton Falle aus Kärnten namens der sozial­ demokratischen Opposition, "daß unsere schwache Republik in Fragen der auswärtigen Politik sehr vorsichtig sein muß und daß die auswärtige Politik der geographischen Lage und der wirtschaftlichen Schwäche dieses Staates angepaßt sein muß. Aber das bedeutet nicht, daß wir uns alles gefallen las­ sen müssen" (ADÖ 6/851). Tatsächlich bedeutete die Politik des Ballhausplatzes gegenüber Italien eine Gratwanderung zwischen der Behauptung Österreichs als "Schutzmacht" der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol und der Gewinnung Roms für die Unterstützung zur Aufhebung der interalliierten Militärkontrolle und die Gewährung der dringend benötigten Investitionsanleihe. Die von Italien bewußt verzögerte Zustimmung zu letzterer wurde von der faschistischen Regierung in Rom gewissermaßen als Faustpfand für das "Wohlverhalten" der Alpenrepublik betrachtet. Bundeskanzler Seipel konnte daher ebenso­ wenig wie sein Vorgänger Ramek umhin, der Auseinandersetzung mit itali­ en wenigstens die verbale Schärfe zu nehmen und zu einem amikalen Ton zu gelangen. Recht deutlich kommt dieses Bemühen in einer Mitteilung Seipels an Mussolini zum Ausdruck, die von Generalsekretär Franz Peter dem österreichischen Gesandten in Rom, Lothar Egger, im Herbst 1927 übermit• telt wurde. Zwei "spezielle Wünsche" enthält die freundliche Botschaft an den Duce: Erstens benötige die Regierung in Wien die Hilfe Italiens zur Beseitigung der nur mehr in Österreich bestehenden Militärkontrolle, zumal bei einer Stärke des österreichischen Militärs von 18.000 Mann kaum von einer Bedrohung des europäischen Friedens die Rede sein könne, und zweitens

22 Walter Rauscher, Österreichs Außenpolitik im Zeichen von Besuchsdiplomatie und bilateralen Handelsbeziehungen. In: ADÖ 5 (Wien 2002) 11-26, hier 20; vgl. außer• dem Josef Riedmann, Tirol. In: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Repu­ blik, ed. Erika Weinzierl und KurtSkalnik, Bd. 2 (Graz-Wien-Köln 1983) 961-1010, hier 987. 23 Siehe dazu Klaus Weij3, Das Südtirol-Problem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitik im Jahre 1928 (Wien - München 1989) 70. 24 In diesem Zusammenhang stellte etwa der Tiroler Landtag am 26. November 1926 einen Dringlichkeitsantrag, der "die Behandlung des deutschen Südtirol durch die Italiener" betraf, siehe dazu Richard Schober, Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 4, Innsbruck 1984) 439 f. 24 Jahre der Souveränität brauche sie die italienische UnterstützunK bei der Aufnahme der Investitions­ anleihe, worüber am 11. Oktober 1927 Verhandlungen vor der Kontrollkom­ mission in London aufgenommen werden würden (ADÖ 6/880). Die prompte Zusage Mussolinis, den österreichischen Wünschen nachkommen zu wol­ len, erwies sich indessen als reines Lippenbekenntnis.25 Intern machten sich die mit der Führung der österreichischen Außenpolitik betrauten Beamten keine Illusionen über das Verhältnis zum Nachbarn süd• lich des Brenners. "An unserem Verhältnis zu Italien hat sich in der letzten Zeit nichts geändert und dürfte sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Es ist nach wie vor kühl und korrekt", räsonierte Konsul N orbert Bischoff in seinem jährlichen Lagebericht zur österreichischen Außenpolitik. "Ihre we­ sentliche Prägung erhalten unsere Beziehungen zu Italien nicht nur durch die unvergessene Haltung dieses Staates im Kriege und durch die zeitweise geradezu unglaublich gehässige und überhebliche Sprache seiner öffentli• chen und journalistischen Organe, sondern auch durch seinen offen zur Schau getragenen militärischen Imperialismus und vor allem anderen durch seine Haltung gegenüber den Südtiroler Deutschen" (ADÖ 6/883). Anstatt - wie von Mussolini zugesagt - Österreich in der Frage der Militär• kontrolle und der Investitionsanleihe international zu unterstützen, übte Rom um die Jahreswende 1927/28 weiter Druck auf Wien aus, indem es in guter faschistischer Manier praktisch Zensurmaßnahmen gegen die italien­ feindlichen Pressemeldungen und die leidenschaftlichen Parlaments­ polemiken in Österreich forderte und dabei zu allem Überfluß noch auf sei­ ne angeblichen Unterstützungsmaßnahmen verwies.26 Zu guter Letzt wurde sogar der stets auf eine Kalmierung des Konflikts mit Rom bedachte Bun­ deskanzler Seipel persönlich zur Zielscheibe der italienischen Anfeindun­ gen, denen Wien nahezu mit einer schriftlichen Entschuldigung, jedenfalls aber Rechtfertigung gegenüber Mussolini über die schwierige innenpoliti­ sche Zwangslage des Bundeskanzlers begegnete (ADÖ 6/917). Dokumente wie dieses zeigen eindrucksvoll, welchen Preis die junge Republik für die bescheidene Souveränität dieser Jahre zu bezahlen hatte. Natürlich reagierte Mussolini mit Befriedigung und Genugtuung auf diesen offensichtlichen politischen Offenbarungseid, wonach Seipel in Österreich gegebenenfalls sogar auf Widerstände im eigenen Lager Rücksicht zu nehmen habe. Jeden­ falls würde das Scheitern der Kreditoperation eine Stärkung der - sozialde­ mokratischen - Opposition zur Folge haben, machte der österreichische Gesandte den parlamentarische Spielregeln offenbar bereits entwöhnten Duce aufmerksam. Ob denn "die Sozialisten eher Geld bekommen würden", fügte Mussolini über die prekäre Lage Wiens sichtlich amüsiert an, bevor er Egger

25 Viktor Reimann, Zu groß für Österreich. Seipel und Bauer im Kampf um die Erste Republik (Wien-Frankfurt-Zürich 1968) 209. 26 Siehe dazu ausführlich Weij3, Südtirol-Problem 111-140; zum "antiitalienischen Tag im österreichischen Nationalrat" (11 Messaggero v. 24. Februar 1928) siehe die De­ batte in ADÖ 6/908. Jahre der Souveränität 25 in "bester Laune" über den neuerlichen Kniefall des Ballhausplatzes entließ (ADÖ 6/918).21 Mitte Juni 1928 erklärte sich Mussolini zur Rückkehr seines Gesandten Giacinto Auriti nach Wien bereit. Gleichzeitig verkündete er gönnerhaft die offizielle Beilegung des Konflikts. 28 Trotz des zweifelhaften und von Öster• reich nur durch ein hohes Maß an Selbstverleugnung erreichten "Waffen­ stillstandes" mit Italien, brachte der österreichische Bundeskanzler das Südtirolproblem im Herbst 1928 im Rahmen seiner vielbeachteten Grundsatz­ rede über die Minderheitenfrage vor den Völkerbund, ohne es dabei explizit zu nennen.29 Schließlich galt es nach wie vor, Rücksicht auf Italien zu neh­ men, dessen Wohlwollen für das Zustandekommen der Investitionsanleihe und die Aufhebung der interalliierten Militärkommission unerläßlich war. Doch trotz der vollmundigen Zusagen Mussolinis, Österreich in diesen Fragen international unterstützen zu wollen, zeigte Italien im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien am Rande der Genfer Konferenz wenig Bereitschaft zur Kooperation.30 Somit hatte Seipel in dem ausschließlich realpolitisch motivier­ ten Rückzieher in der Südtirolfrage zugunsten seiner Anleihepolitik durch den Wortbruch Mussolinis eine demütigende Niederlage erlitten. Freilich hinderte dies die italienische Seite nicht, auch weiterhin von Öster• reich provokativ und einseitig entsprechende Vorleistungen für die Unter­ stützung durch Rom zu fordern. Gleichzeitig blieb der Befehl des Duce, mit jeder irgendwie gearteten Konversation oder Stellungnahme Italiens zu war­ ten, eine Grundkonstante der Politik Roms gegenüber Österreich bis zum Jahresanfang 1930. Vom österreichischen Gesandten auf die unabsehbaren innen- wie außenpolitischen Folgen dieser Hinhaltepolitik mit Nachdruck aufmerksam gemacht, wich Mussolini auf die unausgegorene Idee eines per­ sönlichen und direkten Meinungsaustausches mit Seipel im Rahmen einer Entrevue aus, was unschwer als Ablenkungsmanöver zu durchschauen war. Dementsprechend obstruktiv gestaltete Mussolini die Vorbereitungen zum geplanten Treffen der beiden Regierungschefs, bis sich das Problem mit dem Rücktritt Seipels Anfang April 1929 vorderhand einmal von selbst löste und einen, die Italienpolitik betreffend einigermaßen ratlosen Nachfolger Streeruwitz zurückließ, mit dem der Duce nun sein übles Spiel fortsetzteY

27 Zur schriftlichen Antwort Mussolinis an Seipel siehe ADÖ 6/920; daraufhin richtete der Ballhausplatz neuerlich eine Note an Mussolini, worin in Abrede gestellt wurde, "daß die verantwortlichen Persönlichkeiten in Österreich jemals irgend eine anti­ italienische oder antifaschistische Agitation betrieben oder auch nur ermutigt hätten. Wenn unverantwortliche Elemente [sie!] derartiges tun, wird die Bundesregierung gegen sie auftreten, soweit ihr die gesetzlichen Mittel hiezu eine Handhabe bieten" (ADÖ 6/924). 28 Siehe dazu ADÖ 6/928, ADÖ 6/929, ADÖ 6/930, ADÖ 6/933, ADÖ 6/934 und den Konflikt des Jahres 1928 zusammenfassend ADÖ 6/940; außerdem Weiß. Südtirol• Problem 152-186. 29 ADÖ 6/945. 30 ADÖ 6/946. 3\ Siehe dazu im Detail Weiß, Südtirol-Problem 207-217; außerdemADÖ 6/958, ADÖ 6/ 963, ADÖ 6/967, ADÖ 6/969 und ADÖ 6/971. 26 Jahre der Souveränität

"Jetzt weiß schon jedes Kind in Österreich, daß Italien die Anleihe verhin­ dert", ärgerte sich Sektionschef Richard Schüller über die bereits seit Mona­ ten währende Hinhaltetaktik der faschistischen Führung in Rom (ADÖ 6/ 966). Eine grundlegende Verbesserung des bilateralen Verhältnisses zwischen Österreich und Italien trat sodann erst mit dem Regierungsantritt Schobers Ende September 1929 ein. Von ihm erwartete Mussolini eine Stärkung des rechten Flügels und vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den Heimweh­ ren.32 Obwohl auch Schober inhaltlich an der Südtirolpolitik seiner Vorgän• ger Seipel und Streeruwitz unverändert festhielt, gab Italien seinen Wider­ stand gegen die österreichische Investitionsanleihe im Spätherbst 1929 auf, worauf es am 6. Februar 1930 sogar zur Unterzeichnung eines Freundschafts-, Vergleichs- und Schiedsgerichtsvertrages zwischen Österreich und Italien kam (ADÖ 6/1004), was das Südtirolproblem in der Öffentlichkeit langsam in den Hintergrund treten ließ, ohne daß sich Wien in irgendeiner Form zu entsprechenden Zusagen oder Konzessionen verpflichtet hätte. 33

Klaus Koch

32 Weij), Südtirol-Problem 217-226 und Amold Suppan, Jugoslawien und Österreich 1918-1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld (= Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 14, Wien-München 1996) 189. 33 Goldinger und Binder, Geschichte der Republik 169 f.