BRGÖ 2012 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

Thomas OLECHOWSKI, Wien Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung*

Monsignor Ignaz Seipel was one of the most important Austrian politicians of the 20th Century. In the last days of the monarchy, he became minister for social affairs in the last imperial-royal government and played an active role during the collapse of the monarchy. After the proclamation of the republic in 1918, Seipel worked in the Constitu- tional Committee and presented its draft to the Constitutive National Assembly, which adopted the text on 1st Octo- ber 1920. Later, Seipel became head of the Christian-Social Party and Federal Chancellor. The present article deals particularly with the substantive positions of Seipel on the problems of nationalities and estates, on monarchy and republic and most of all, on Seipel’s thinking on democracy. It turns out that Seipel was not a friend of a Western understanding of democracy.

A. Einleitung er das wirklich? Immerhin gab er noch im selben Gespräch seinem Bedauern darüber Ausdruck, Als Prälat Ignaz Seipel im Juni 1932, wenige dass er nicht auch das Amt des Bundespräsiden- Wochen vor seinem Tod, im Gespräch mit dem ten erlangt hatte. Kein Wort verlor er hingegen jungen August Maria Knoll auf sein Leben zu- darüber, dass er mehrmals – 1918 in , rückblickte, konnte er, nicht ohne Stolz, von sich 1927 in Graz-Seckau – auch ein Bischofsamt sagen: „Ich war mit 32 Jahren ordentlicher Uni- angestrebt, aber stets das Nachsehen gehabt versitätsprofessor, mit 42 Jahren (k.k.) Minister; hatte. Vielleicht schwieg er deswegen, weil ge- ich war fünf Jahre Bundeskanzler, lange Zeit rade jetzt, in jenen Sommertagen des Jahres Bundesminister [...] Ich habe ein schönes Leben 1932, der erzbischöfliche Stuhl von Wien vakant hinter mir. Mein Ehrgeiz war früh gestillt.“1 War war; und wäre der Gesundheitszustand Seipels ein anderer gewesen, so hätte er sich wohl be- rechtigte Hoffnungen machen können, Nachfol- * Schriftfassung eines Vortrages, den der Verfasser am ger von Kardinal Piffl zu werden. Doch dazu 19. 11. 2008 auf der vom Institut für Rechts- und Ver- sollte es nicht mehr kommen. fassungsgeschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und vom Österreichi- Ignaz Seipel gehört zu den bedeutendsten, aber schen Staatsarchiv veranstalteten Tagung „Staats- auch umstrittensten Persönlichkeiten der Ersten gründung und Verfassungsordnung“ in Wien gehal- Republik. Um seine Denkweise zu verstehen, ten hat. Der Verfasser und die Herausgeber danken muss man sich stets vor Augen halten, dass er in dem Institutsvorstand, Prof. Thomas Simon, für seine Zustimmung zur Veröffentlichung des Beitrages in erster Linie Priester und nur in zweiter Linie dieser Zeitschrift. 1 Zit. n. KLEMPERER, Seipel 334. – Diese Biographie ist, zusammen mit RENNHOFER, Seipel, bis heute maßgeb- Dargestellten; für einen Überblick über den aktuellen lich für jede kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand vgl. BINDER, Seipel 1, 142f.

http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2012-2s317 318 Thomas OLECHOWSKI

Politiker war – dies wurde sowohl von seinen ren. Die vollständige Beseitigung der parlamen- Bewunderern als auch von seinen Gegnern im- tarischen Demokratie und die Errichtung des mer hervorgehoben.2 Mit seinem asketischen „christlichen und deutschen Ständestaates“ hat Äußeren und seiner priesterlichen Soutane, die Seipel nicht mehr erlebt: Am 2. August 1932 er auch im Parlament und im Ministerrat nicht starb er, erst 56-jährig, in einem Sanatorium in ablegte, wurde Seipel vor allem den Sozialde- Pernitz in Niederösterreich an den Folgen einer mokraten, seinem politischen Hauptgegner, Tuberkulose, nachdem schon lange zuvor eine zum Sinnbild des politischen Katholizismus, Zuckerkrankheit, aber auch ein auf ihn verübtes jener gerade in Österreich so wirkmächtigen Revolverattentat den Prälaten körperlich schwer Strömung, die auch nach 1918 den „traditionel- mitgenommen hatten. le[n] Anspruch der Einheit von Thron und Altar Wenige Tage später, am 19. September, wurde [...] nicht aufgeben“3 wollte und die sich berufen ein neuer Erzbischof für Wien ernannt: Theodor sah, nach dem Untergang des Kaiserreiches und Innitzer, auch er ein Priester, der in der Ge- dem Hervorkommen neuer, atheistischer und schichte Österreichs hauptsächlich für sein poli- daher für sie gefährlicher Strömungen, gegen tisches Wirken, namentlich im Jahr 1938, be- diese anzukämpfen und für eine christliche kannt ist. Innitzer war es aber auch, der unmit- Ordnung von Staat und Gesellschaft einzutre- telbar nach Ende der Naziherrschaft, am ten. 17. April 1945, demselben Tag, an dem ehemali- Von Seipel führt der Weg zu Dollfuß. Nirgend- ge Mitglieder der christlichsozialen Partei im wo wird einem diese Verbindung stärker be- Schottenstift die Österreichische Volkspartei wusst als im Klubraum der Österreichischen gründeten, verfügte, dass die Priester in seiner Volkspartei im Parlament, wo man gleich beim Diözese sich künftig „von der Übernahme öf- Eintritt ein Kruzifix erblickt, mit einem Gemälde fentlicher Ämter fernhalten, in politische Ange- von Seipel auf der linken, einem von Dollfuß auf legenheiten sich nicht einmengen und keinerlei der rechten Seite. Seipel hat, wie noch zu zeigen Empfehlungen für weltliche Stellen geben“ sol- sein wird, bereits im November 1918 den stän- len.5 Dieser erste Schritt weg vom politischen destaatlichen Gedanken befürwortet, und er, der Katholizismus war Innitzers Beitrag zur Grün- maßgeblich an der Schaffung des Bundes- dung der Zweiten Republik und machte die Verfassungsgesetzes 1920 mitgearbeitet hat, hat weitere „Entflechtung von Kirche und Politik“ später mit ebensolcher Energie seine Totalrevi- am Österreichischen Katholikentag 1952 erst sion verlangt.4 Namentlich die Verfassungsno- möglich.6 velle 1929, durch die der Gedanke einer Stände- Mit diesen wenigen Worten soll die prinzipielle vertretung erstmals Eingang in den Verfas- Bedeutung Seipels für die jüngere österreichi- sungstext fand, ist vor allem auf Betreiben Sei- sche Verfassungs- und auch Kirchengeschichte pels zustande gekommen. Damals sollte sie noch deutlich gemacht werden, bevor wir uns einem neben, nicht statt einer Volksvertretung existie- weniger bekannten Abschnitt seiner Biographie zuwenden: Es geht um die Jahre 1918 bis 1920, als Seipel für wenige Tage zum Minister in der 2 Vgl. einerseits BLÜML, Seipel, bes. 23; andererseits letzten kaiserlichen Regierung ernannt wurde, RENNER, Österreich 2, 42f. 3 HANISCH, Katholizismus 35; vgl. nunmehr auch HANISCH, Schatten, bes. 130f.; IBER, Christlichsoziale 5 Veröffentlicht im Wiener Diözesanblatt vom Partei 11–14. 17. 4. 1945, vgl. R. OLECHOWSKI, Otto Mauer 693. 4 Vgl. dazu seine eigenen Ausführungen in SEIPEL, 6 Vgl. FRANKL, Katholische Kirche 22; R. OLECHOWSKI, Kampf, bes. VIII–IX. Otto Mauer 693f. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 319 schon kurz nach seiner Demissionierung bei den Beispiel die ihm als zu liberal erscheinende Ber- ersten demokratischen Wahlen in Österreich tha von Suttner als eine „unsympathische litera- kandidierte und im Verfassungsausschuss der rische Figur“, die sich und ihre Freunde nur Konstituierenden Nationalversammlung die „lächerlich“ mache, ab.7 Und auch die Friedens- Aufgabe des Berichterstatters über das Bundes- pläne Woodrow Wilsons wurden von Seipel Verfassungsgesetz der neuen Republik über- scharf kritisiert. Aufschlussreich ist hiezu ein nahm. Artikel, den Seipel im Mai 1917, sozusagen als Antwort auf den Eintritt der USA in den Welt- krieg, verfasste.8 Hier beklagt er, dass Wilson als B. Vom Moraltheologen zum Amerikaner überhaupt kein Verständnis für das Staatsdenker Nationalitätenproblem aufbringen könne: In Amerika werde, wenn es zweckmäßig erscheine, Der Sprung Seipels in die Politik war Folge des „die Grenze zwischen zwei Staaten [...] einfach Ersten Weltkrieges; allein, er kam nicht völlig um einen Längengrad nach rechts oder links“ überraschend. 1907 hatte er sich an der Universi- geschoben; „es ist ja alleseins [sic]. Was sind tät Wien für Moraltheologie habilitiert, und dagegen die europäischen Staaten für eigentüm- zwar bei Franz Martin Schindler, der Mitglied liche und eigenwillige Geschöpfe!“ Wilson be- des Herrenhauses war und Generalsekretär der kenne „sich zum Nationalitätsprinzip. Aber er Leo-Gesellschaft, einem Think-Tank des Katholi- versteht darunter etwas anderes, als wir in Eu- zismus im Österreich jener Zeit. Die Habilitati- ropa meinen, wenn wir diesen Ausdruck ge- onsschrift selbst trug den eher trockenen Titel brauchen. Unter Volk oder Nation versteht er „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchen- die in einem bestimmten Gebiete beisammen- väter“, doch hatte die Grundidee der Arbeit – wohnende Bevölkerung, nur daß er bei Nation die christliche Ethik müsse und könne auf alle zugleich an die staatliche Selbständigkeit Zweige der Gesellschaft angewendet werden, denkt.“ Und Wilsons Allheilmittel, die demo- auch wenn es keine direkt ökonomischen Leh- kratische Abstimmung darüber, zu welcher ren Christi gebe – durchaus politisches Potential. Nation man sich bekennen wolle, führe nur 1909 wurde Seipel auf ein Ordinariat für Mo- dazu, dass sich die Minderheit in ihr Schicksal raltheologie nach Salzburg berufen, wo er bis fügen müsse. Er wolle ihr „vollkommene Ach- 1917 blieb und auch eine Zweigstelle der Leo- tung des Lebens, des Gottesdienstes“ und ande- Gesellschaft gründete. Auf diese Weise kam er res zuerkennen; aber an die Sprache denke er in näheren Kontakt mit einem weiteren Herren- gar nicht. – Seipel hielt dagegen, dass ein wahrer hausmitglied: , der 1914 als Weltfrieden nur zu erreichen sei, wenn es zu Strafrechtsprofessor in Wien emeritiert war und einer „Versöhnung der Nationen“ komme, wo- seinen Lebensabend in Salzburg zu verbringen bei jedoch seine Vorschläge, wie dies bewirkt gedachte. 1915 hielt Lammasch auf Einladung werden könne, recht vage blieben; er plädierte Seipels in der Salzburger Leo-Gesellschaft einen dafür, „auf ihre Seelen ein[zu]wirken [...] Sorgen Vortrag über „Katholizismus und Völkerrecht“. wir [...] dafür, daß im eigenen Lande die gereizte Beide, Seipel und Lammasch, verband der Stimmung gegen die Feinde abnehme. Ver- Wunsch nach Frieden, ein Pazifismus, der zu schweigen wir gegenüber den Nachrichten aus jener Zeit alles andere als zeitgemäß und auch Feindesland, die uns von Rechtswidrigkeiten durchaus keine in sich geschlossene Bewegung war: Lehnte doch Seipel, dem es um eine spezi- 7 Zit. n. KLEMPERER, Seipel 63. 8 SEIPEL, Wege 3f. fisch katholische Friedenskonzeption ging, zum 320 Thomas OLECHOWSKI und Brutalitäten berichten, das Gute nicht, das wie es bereits 1905 in Mähren und 1910 in der uns etwa bekannt wird!“ Bukowina erprobt worden ist: Die Schaffung Bemerkenswert an diesem Zeitungsartikel ist von „nationalen Katastern“, in die jeder nach zweierlei: Die Ablehnung des US-amerika- seinem eigenen Bekenntnis einzutragen sei.11 – nischen Demokratieverständnisses sowie die An anderer Stelle führt er diesen Gedanken Auseinandersetzung mit dem Begriff „Nation“. noch weiter aus: „Alle Angehörigen einer Nati- Letzteres erfolgte schon zwei Jahre zuvor in on innerhalb des ganzen Reiches bilden eine Seipels Buch „Nation und Staat“. In ihm hob er nationale Gesellschaft, ebenso wie jetzt schon die Gegensätze zwischen Nationalismus und alle Katholiken, alle Protestanten usw. eine reli- Patriotismus hervor und pries die österreichi- giöse Gemeinschaft bilden. Diese nationale Ge- sche Monarchie als einen jener Staaten, „die die meinschaft verwaltet ihre nationalen Angele- Brücke bilden von einer Nation zur anderen, die genheiten selbst.“12 Als solche nennt Seipel ex- in ihrem Schoß viele Nationen versammeln, auf plizit „die Fürsorge für die kulturelle Entwick- daß sie, einander verstehen und lieben lernend, lung ihrer selbst und ihrer Glieder, für die Pfle- sich gegenseitig zu höheren Idealen erziehen als ge der nationalen Eigenart, insbesondere der dem bloß nationalen! [...] In dieser Aufgabe be- Sprache, Literatur und Kunst. Das Schulwesen rührt sich Österreich merkwürdig mit der katho- wäre im großen Ganzen ihr zu überlassen“, lischen Kirche. Diese hat ja ihren Eigennahmen soweit es sich nicht um religiöse oder staatsbür- ‚katholisch’ gerade daher, daß sie übernational gerliche Erziehung handle.13 Die übrigen Ange- ist und der Zersplitterung in Nationalkirchen legenheiten wären Sache des Staates; wobei er es unbedingt widerstrebt.“9 Dem Nationalismus auch noch für wichtig hält, dass bei Parla- stand Seipel also sehr kritisch gegenüber, und mentswahlen die Zahl der Abgeordneten pro insbesondere die Rassenlehre als theoretische Nation von vornherein feststehen – etwa auf- Grundlage des Nationalismus wurde von ihm grund des Ergebnisses der letzten Volkszählung. scharf verurteilt: „Es ist nicht einzusehen, wieso Was aber das Demokratieverständnis Wilsons Sprachen und Dialekte auf eine eigentümliche betrifft, so wird dieses von Seipel noch einmal Zusammenstellung der Gene sollen hinweisen und ausführlich kritisiert in seinem Aufsatz können“, so argumentierte Seipel bemerkens- „Kaisertum und Demokratie“, den er Anfang wert modern, und weiter: „Der österreichische Oktober 1918 schreibt, also, wie er später auch Nationalitätenkampf wird neu aufflammen, selbst sagt, noch in seiner „vorpolitischen“ wenn man die Nationen als bloßes Material, um Zeit.14 Darin macht er insbesondere Wilson den daraus eine „Rasse“ zu formen, betrachtet. Will Vorwurf, nicht mit den Mittelmächten über ei- man sie für Österreich gewinnen, dann muß nen Frieden verhandeln zu wollen, „weil ihre man ihnen im Gegenteil beweisen, daß sie gute Staaten eben keine Demokratien sind“. Seipel Österreicher und gleichzeitig national gesinnte unternimmt in diesem Aufsatz einen letzten Deutsche, Tschechen, Italiener usw. sein kön- Rettungsversuch zugunsten der Habsburger- nen.“10 Die Lösung der Nationalitätenfrage dür- monarchie, indem er ausführlich darlegt, dass fe nicht dadurch erfolgen, dass man die einzel- Kaisertum und Demokratie nicht unbedingt nen Nationalitäten territorial voneinander ab- Gegensätze seien. „Ich rede absichtlich vom grenze. Vielmehr schwebt ihm ein Modell vor, 11 SEIPEL, Nation 137f. 12 SEIPEL, Reform 21f. 9 SEIPEL, Nation 17. 13 SEIPEL, Reform 24. 10 SEIPEL, Nation 30f. 14 SEIPEL, Kaisertum 42–49. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 321

Kaisertum, nicht von der Monarchie im Allge- Herrschaft über einen naturgemäß dem Wechsel meinen; denn was versteht man nicht alles unter unterworfenen Länderkomplex, aber als Vertre- Monarchie!“15 Hinter dem Kaisertitel stehe eine ter einer in sich unvergänglichen Idee.“ Und wie ganz spezifische Idee; und Seipel versagt es sich zur Bestätigung seiner Behauptung führt er an, nicht, auf die Antike zurückzublicken, als das dass die katholische Kirche in ihrer Liturgie römische Volk zwar das Königtum beseitigte, keinen anderen Fürsten so sehr ehrt wie den dann aber doch einen Kaiser einsetzte, der nicht österreichischen Kaiser.18 mit den alten römischen Königen verglichen werden konnte, sondern in seinem Wesen „ein republikanischer Magistrat, und zwar ein Not- C. Als Minister in der Regierung standsmagistrat“ war. „Ein Weltreich von der Lammasch Ausdehnung des römischen konnte nicht mehr durch eine primitive Demokratie regiert wer- Dass Seipel gerade jetzt, Anfang Oktober 1918, den, ohne eine Beute des Ämter- oder noch spä- wieder so gegen Wilson zu Felde zog, war na- ter des Geldadels zu werden. Gegen diesen fand türlich kein Zufall: Nach dem Zusammenbruch aber das Volk den besten Schutz bei den Kai- der bulgarischen Front hatten sowohl der öster- sern“.16 – Später erhielt dann das Kaisertum eine reichisch-ungarische Außenminister Stephan neue, zusätzliche Aufgabe: Unter Karl dem Gro- Baron Burián v. Rajecz am 4. Oktober als auch ßen wurde es zum Schutz der Kirche und des sein deutscher Amtskollege Paul v. Hintze am Papstes neu installiert. „Stets blieb der Kaiser 6. Oktober Friedensnoten an den US-Präsi- der Anwalt der Freiheit, die jetzt nicht mehr denten gerichtet. Doch während die USA unver- gegen einen Optimatensenat, dafür aber gegen züglich mit Deutschland über einen Waffenstill- die immer mächtiger werdenden Territorialher- stand zu verhandeln begannen, blieb die öster- ren [...] zu schützen war. Immer wieder sehen reichische Note mehr als zwei Wochen lang wir das Kaisertum mit den demokratischen unbeantwortet. Gerüchte drangen zum Kaiser, Elementen im Reich gegen die Fürstenoligarchie dass Wilson, bevor er antworte, noch auf kon- im Bunde. Bald stützt es sich auf die Bischöfe, krete verfassungsrechtliche Reformen in der bald auf die Städte, freilich mit sehr verschiede- Habsburgermonarchie warte. Dies dürfte aus- nem Erfolge.“17 Das österreichische Kaisertum schlaggebend dafür gewesen sein, dass Kaiser sei der logische Erbe der alten römischen Kaise- Karl am 16. Oktober sein Völkermanifest erließ, ridee, wie dieses dazu berufen, eine Vielzahl in dem er jedem seiner Völker zusicherte, „auf von Nationen zu vereinen. Auch dies ist ein seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gedanke, der bereits 1915 in Seipels Buch „Nati- Gemeinwesen“ bilden zu dürfen.19 Doch kam on und Staat“ angesprochen wird: „Ja, unser das Manifest zu spät: Zwei Tage später, am Kaiser ist, ungeachtet der Niederlegung der 18. Oktober, kam endlich die Antwort aus römischen Kaiserwürde durch Franz II., Nach- Washington, wonach Wilson sich außerstande folger der römischen Kaiser, zwar nicht in der sah, die „bloße Autonomie“, die er noch im Jän- ner 1918 (als zehnten seiner „Vierzehn Punkte“) 15 SEIPEL, Kaisertum 44. 16 SEIPEL, Kaisertum 46. Ähnliche Gedanken formu- lierte noch am 14. 11. 1918 der „Ideologe des Integra- 18 SEIPEL, Nation 20. len Katholizismus Richard von Kralik“, die also kei- 19 Völkermanifest Kaiser Karls 16. 10. 1918, Wiener neswegs so kurios waren, wie dies HANISCH, Katholi- Zeitung, Extra-Ausgabe Nr. 240 v. 17. 10. 1918; vgl. zismus 7, meint. ausführlich RUMPLER, Völkermanifest; zur Vorge- 17 SEIPEL, Kaisertum 47. schichte auch HÖBELT, Teufelsspuk. 322 Thomas OLECHOWSKI für die Völker Österreich-Ungarns gefordert „Kommission“ zu bilden, welche sozusagen als hatte, „als eine Grundlage für den Frieden anzu- Liquidator der Insolvenzmasse „Österreich“ erkennen.“ Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt auftreten und bis zur Konstituierung der neuen bereits die Tschechoslowakei als kriegführende Staaten für die Aufrechterhaltung der Ordnung, Macht anerkannt, der Untergang der Monarchie des Staatseigentums und der Volkswirtschaft war somit beschlossene Sache. Baron Burián sorgen sollte.23 Ob die Idee zu dieser Kommissi- sowie auch der k.k. Ministerpräsident Max Hus- on von Meinl oder von Kelsen – oder von beiden sarek v. Heinlein reichten ihren Rücktritt ein. gemeinsam – stammte, bleibt unklar.24 Jedenfalls In diesen dramatischen Tagen rückten nun nahm Lammasch den Auftrag an und begann Lammasch und mit ihm Seipel in den Mittel- unverzüglich Verhandlungen mit den Führern punkt des Geschehens. Letzterer hatte im Okto- der Tschechen und der Slowenen, Karel Kramař ber 1917 in Wien die Nachfolge Schindlers als und Anton Koroseč, musste aber, am 24. Ok- Professor für Moraltheologie angetreten. Und im tober, gegenüber Kelsen eingestehen, dass seine Sommer 1918 war ihm auch Lammasch in die Bemühungen gescheitert waren.25 In einem Hauptstadt nachgefolgt, um seine Friedensbe- Dreiergespräch zwischen Lammasch, Kelsen mühungen intensivieren zu können. Lammasch und Redlich entstand nun die Idee, nicht einfach wird in der Literatur als eines von drei Mitglie- dem Kaiser das Scheitern der Verhandlungen dern der sogenannten Meinl-Gruppe genannt – mitzuteilen, sondern ihm vorzuschlagen, Lam- die beiden anderen waren der Industrielle Julius masch zum Nachfolger Hussareks zu ernennen. Meinl II. und der Verfassungsrechtler Josef Red- Die Berichte Kelsens und Redlichs weichen in lich –, welche immer mehr an Einfluss in Regie- einigen Punkten deutlich voneinander ab; über- rungskreisen und bei Hof gewann und auf eine einstimmend berichten aber beide, dass Lam- rasche Beendigung des Krieges drängte;20 aber masch erst nach langem Zögern zusagte, unter auch Seipel zählte offenbar zum engen Kreis der der ausdrücklichen Bedingung, dass auch sein Vertrauten, hält er doch in seinem Tagebuch in Freund Dr. Seipel zum Minister ernannt wer- jener Zeit immer wieder Besprechungen mit de.26 Lammasch, Meinl und Redlich fest.21 Am 28. Oktober erfolgte die feierliche Angelo- Schon seit Sommer 1917 war Lammasch immer bung der neuen Regierung. Lammasch wurde wieder für ein Ministeramt im Gespräch, Kaiser Ministerpräsident, Redlich Finanzminister, Sei- Karl hatte ihn sogar schon ausdrücklich darum pel Minister für soziale Verwaltung; die übrigen ersucht, eine Regierung zu bilden, was dieser Minister wurden großteils beibehalten. Dass stets abgelehnt hatte. Nun aber war seine Stunde gekommen: Am 21. Oktober überbrachte Hans 23 Vgl. die Darstellung bei RENNHOFER, Seipel 145, der Kelsen, damals die rechte Hand des k.u.k. sich dabei auf das Tagebuch Seipels stützt. 24 Vgl. KELSEN, Autobiographie 50. Das dort erwähnte 22 Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner, Lam- und inhaltlich skizzierte Memorandum ist unauffind- masch die Bitte des Kaisers, eine überparteiliche bar, hat aber bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der bei BENEDIKT, Friedensaktion 269–273 abgedruckten „Denkschrift betreffend die sofortige Bildung einer 20 BENEDIKT, Friedensaktion 13. österreichischen Koalitionsregierung der nationalen 21 Seipels Tagebücher sind im Wiener Diözesanarchiv Parteien“, datiert 7. 10. 1918. Ob diese Denkschrift verwahrt; sie wurden – wie ein autoptischer Vergleich von Meinl oder Kelsen verfasst wurde, ist nicht er- ergab – nahezu vollständig ausgewertet von RENN- kennbar. HOFER, Seipel, für die Gespräche mit Lammasch, 25 KELSEN, Autobiographie 52. Meinl und Redlich vgl. bes. 142ff. 26 KELSEN, Autobiographie 53; FELLNER, CORRADINI, 22 Dazu BUSCH, Kelsen 57–80. Schicksalsjahre Österreichs455. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 323

Seipel die soziale Verwaltung zukam, war wohl k.k. Regierung in Wien amtierte.30 Wenn auch vor allem auf das Ausscheiden seines Amtsvor- Juristen wie Hans Kelsen schon damals von gängers Viktor Mataja27 zurückzuführen, der einer rechtlichen Diskontinuität Deutschöster- damit einen Platz freimachte und hatte kaum reichs zur Monarchie sprachen,31 also eine tiefe inhaltliche Gründe; Seipel selbst erklärte gegen- Kluft zwischen altem und neuem Staat betonten, über seinen Ministerialbeamten, dass er zwar so erfolgte doch in der Praxis der Übergang zur „nicht des Ressorts wegen auf diesen Posten neuen Ordnung fast nahtlos: Berühmt ist etwa gestellt“ worden sei, dass er sich aber der das Beispiel Adolf J. Merkls, der damals im „Pflichten bewußt“ sei, die dieses Amt mit sich staatsrechtlichen Departement des k.k. Minister- bringe. Tatsächlich hatte Seipel in den wenigen ratspräsidiums arbeitete, bis er am 2. November Tagen seiner Amtsführung kaum Gelegenheit von seinem Vorgesetzten der deutschösterrei- für umfangreichere Aktivitäten in seinem Minis- chischen Staatskanzlei dienstzugeteilt wurde – terium.28 „ein einzigartiger staatsrechtlicher Vorgang“, Aber auch die Gesamtregierung musste sich wie er selbst später diesen Vorgang juristisch- bald gewahr werden, dass es für sie kaum noch ironisch kommentierte.32 etwas zu tun gab, außer die Macht an die Vertre- Immer dringender wurde die Frage, wann die ter der neuen Ordnung zu übergeben: Wenige Regierung Lammasch, die doch offenbar ohne- Stunden vor der Angelobung der neuen k.k. hin schon keinerlei Macht mehr habe, denn end- Regierung hatte der neue k.u.k. Außenminister lich zurücktreten wolle. Im k.k. Ministerrat stell- Gyula Graf Andrássy ein Telegramm an Wilson te insbesondere Ernährungsminister Ludwig geschickt, in dem er alle Forderungen des US- Paul einen entsprechenden Antrag, der aber von Präsidenten, das heißt aber auch die Anerken- Seipel zurückgewiesen wurde: Zu einem Rück- nung der Unabhängigkeit der Tschechoslowa- tritt bestehe derzeit kein Anlass, und die kei, akzeptierte. Noch am selben Tag erließ der deutschösterreichische Regierung sei ja noch tschechoslowakische Nationalausschuss in Prag nicht einmal international anerkannt. „Weiters ein Manifest, mit dem er die Regierungsgewalt bedeute der Name des Ministerpräsidenten ein übernahm und per Gesetz alle Behörden ver- wichtiges Moment für die Friedensfrage, auf das pflichtete, nur mehr seinen Anordnungen Folge man nicht verzichten könne. Schließlich müsse zu leisten.29 Am 30. Oktober folgte die deutsch- die Regierung doch alles aufbieten, damit Se. österreichische Nationalversammlung mit der Majestät die Beziehungen zum Staate nicht voll- Gründung des Staates Deutschösterreich und kommen löse, und sie könnte daher letzteres Bildung einer Regierung, die nun parallel zur ihrerseits gewiß nicht tun.“33 Seipel spielte auf Zeit: Er wollte die De- missionierung des Kabinetts und die Abdan-

27 Bruder von Heinrich Mataja, des ersten Staatssekre- kung des Kaisers so lange wie möglich hinaus- tärs für Inneres der am 30. 10. 1918 gebildeten zögern, immer noch in der Hoffnung, so zu ret- deutschösterreichischen Regierung; vgl. BRUCK- ten, was noch zu retten war. Dabei ging es ihm MÜLLER, Personenlexikon 312. 28 RENNHOFER, Seipel 146 erwähnt ein „Heimarbeiter- gesetz“, welches in Vorbereitung war. Vgl. ferner 30 Anschaulich BRAUNEDER, Deutsch-Österreich 117ff. VEROSTA, Monarchie 22f., wonach sich Seipel u.a. mit 31 Dazu Th. OLECHOWSKI, Beitrag. den Sicherheitsverhältnissen in Wien befasst hatte. 32 MERKL, Selbstdarstellung 138. 29 Die geradezu dramatischen Ereignisse dieses Tages 33 Seipel in der Ministerratssitzung vom 6. 11. 1918, werden minutiös nachgezeichnet von SACHSLEHNER, zit. n. KLEMPERER, Seipel 77; vgl. auch RENNHOFER, Infarkt, vgl. bes. 26, 110, 147. Seipel 152; BRAUNEDER, Deutsch-Österreich 139. 324 Thomas OLECHOWSKI weniger um Karl I. persönlich – Seipel machte mich der Ansicht aller anderer Faktoren, daß sich keinerlei Illusionen um dessen staatsmänni- dies nicht mehr möglich sei, fügen.“36 sche Fähigkeiten – sondern, wie auch aus dem Denn am 11. November beschloss der deutsch- Vorangegangenen deutlich wurde, um die Kai- österreichische Staatsrat, der Provisorischen seridee an sich: Tatsächlich war bei vielen Ka- Nationalversammlung, die am nächsten Tag tholiken die Erinnerung an das Sacrum Imperium zusammentreten würde, die Proklamation der durchaus lebendig, und der Wunsch nach einem Republik vorzuschlagen. Ein Antrag des Staats- weltlichen Schirmherr der Christenheit noch ratsmitgliedes (und späteren Bundespräsiden- immer stark.34 Genau dies hatte Seipels in sei- ten!) Wilhelm Miklas, an die Stelle der Worte nem Aufsatz „Kaisertum und Demokratie“ the- „demokratische Republik“ die Worte „demokra- matisiert, um, wie er selbst später betonte, „den tische Monarchie“ zu setzen, blieb in der Min- ‚lothringischen Kaisern ihren Sündenfall’ vor- derheit.37 Drei Vertreter der Republik – Karl zuhalten und einen Weg zu weisen, um im Seitz, und Julius Sylvester – bega- Rahmen der Demokratie zur Kaiser- und Reichs- ben sich hierauf zu der Regierung der alten Mo- idee zurückzukehren.“35 In diesem Sinne führte narchie und überbrachten ihr einen Text für eine Seipel noch am 10. November im Parlament Abdankungsurkunde. „Über Initiative des Mi- Gespräche mit zwei christlichsozialen Politikern, nisters Dr. Seipel einigte sich der Ministerrat dem oberösterreichischen Landeshauptmann jedoch auf einen anderen Text, dem zufolge sich Prälat Johann Nepomuk Hauser und dem Präsi- der Kaiser von der Anteilnahme an den Staats- denten der Nationalversammlung Jodok Fink, geschäften zurückziehen sollte.“38 die forderten, dass der Kaiser „durch ein Mani- fest die Entscheidung über die Staatsform in die 36 Zit. n. KLEMPERER, Seipel 153, auch zit. bei VEROSTA, Hände des Volkes legen“ solle. Seipel notierte Monarchie 25. Am selben Tag, dem 10. 11., traf sich tags darauf in sein Tagebuch: „Ich erklärte so- auch Kardinal Piffl mit Hauser im Parlament um sich wohl im Parlament als im Ministerrat, daß mei- über die Lage zu informieren; Hauser erklärte, dass ne Nerven stark genug wären, um ein Aushalten seine Partei „bei dem bleiben werde, was sie in der sowohl des Kaisers als der Regierung zu ver- Provisorischen Nationalversammlung (am 21. 10., Anm.) erklärt hat“, vgl. die u.a. in der Reichspost v. antworten. Mein Ziel war, bis zum Beginn der 8. 6. 1923 veröffentlichte offizielle „Darstellung der Friedensverhandlungen zu bleiben, [...] damit Ereignisse vom Herbst 1918 durch die christlichsozia- der Kaiser durch Lammasch an der Friedens- le Partei“, nunmehr auch ediert in KRIECHBAUMER konferenz teilnehmen könne. Doch mußte ich Österreich 18 (Freundlicher Hinweis von HR Univ.- Doz. Dr. G. Schmitz). 37 Staatsratsprotokoll v. 11. 11. 1918, in: ENDERLE- BURCEL, Staatsrat 1, vgl. bes. 356, 358. Siehe dazu auch VEROSTA, Monarchie 26. 38 KRIECHBAUMER, Christlichsoziale Partei 20. Es ist dies die zuverlässigste Quelle, die die Urheberschaft 34 Vgl. ausführlich MEIER-STEIN, Reichsidee, der aller- Seipels belegt, die in der Sekundärliteratur regelmä- dings auf die Situation in Österreich kaum eingeht; zu ßig bejaht, aber seltsamerweise kaum jemals eindeu- letzterer siehe daher R. OLECHOWSKI, Otto Mauer 685. tig belegt wird: Vgl. insbesondere den sonst so akribi- 35 Zit. n. KLEMPERER, Seipel 119. Mit der Bezeichnung schen RENNHOFER, Seipel 153, der hier erstaunlich „lothringische Kaiser“ wird auf die von Alois Liech- kurz ist und keinen Beleg bringt, ferner etwa HA- tenstein entwickelte Idee angespielt, dass das regie- NISCH, Katholizismus 6; BÖHMER, FABER, Erben 25; rende Herrscherhaus keine echten „Habsburger“ KOVÁCS, Untergang 1, 491; u.v.a. Tatsächlich gab es mehr seien, sondern Franzosen, was sich in einem auch andere Meinungen über den Ursprung dieser verstärkten Hang zu Bürokratie niederschlage; vgl. Passage, so nahmen etwa sowohl die Minister Josef ebd. Redlich als auch Karl Banhans zumindest eine Mitur-

Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 325

Hatte Seipel somit maßgeblichen Einfluss auf übersiedelte er nach Schloss Eckartsau, auf die Formulierung der Verzichtserklärung, so halbem Weg zwischen Wien und Pressburg fuhr er doch nicht mit Lammasch nach Schön- [Bratislava] gelegen, und blieb hier auch für die brunn, um sie dem Kaiser vorzulegen. Dieser nächsten Monate – fern von der Gefahr maro- aber nahm nach einigem Zögern einen Bleistift dierender Banden, aber doch so nahe, dass er zur Hand und unterschrieb.39 innerhalb kürzester Zeit in Wien oder in Press- „Anteilnahme an den Staatsgeschäften“ – das burg sein und da oder dort die Staatsgeschäfte war denn doch etwas anderes als die Erklärung wieder übernehmen könnte. Kaiser Ferdinands I. rund siebzig Jahre zuvor, „dem österreichischen Kaiserthrone zu entsa- gen“.40 Die „Arbeiter-Zeitung“ bezeichnete die D. Chefideologe der christlich- für Karl gewählte Formulierung als „nicht gera- sozialen Partei de vollkommen“; die „Neue Freie Presse“ schrieb: „Der heutige Schritt des Kaisers ist for- Mit Seipels Entlassung aus dem kaiserlichen mell keine Abdankung, kommt jedoch im Effekt Dienst war die Verleihung der Würde eines auf dasselbe hinaus.“41 Kam es das?42 Geheimen Rats und eine Pension verbunden, die ihn für den Rest seines Lebens materieller Sor- Noch am selben Tag verließ Karl mit seiner Fa- gen entband. Und doch waren jene November- milie und dem Rest seines Hofstaates Schön- tage nicht das Ende, sondern geradezu der An- brunn, aber keineswegs das Land. Vielmehr fang von Seipels politischer Karriere. Diese voll- heberschaft für sich in Anspruch; vgl. die ausführli- zog sich im Rahmen der christlichsozialen Par- che Auflistung bei KLEMPERER, Seipel 128, der sozusa- tei, zu deren Leitung er schon seit längerem gute gen als wichtigsten Zeugen Hans Kelsen nennt, wel- Kontakte hatte: Während seiner kurzen Minis- cher gesagt haben soll: „Ich erinnere mich genau, daß terschaft in der Regierung Lammasch hatte Sei- Dr. Seipel mir später sagte, er habe die entscheiden- den Worte persönlich formuliert.“ Die zitierte Passage pel der „Reichspost“, dem Parteiorgan der beginnt im Original aber mit: „If I remember correctly“, Christlichsozialen,43 ein Interview gegeben, in was der Aussage eine viel weniger entschiedene Note dem er sich ausdrücklich als Christlichsozialer gibt: Vgl. Hans Kelsen in GULICK, 1, 47. bezeichnet hatte, wenn er auch betont hatte, 39 Zwei Tage später unterzeichnete er eine im Wesent- lichen gleich lautende Erklärung hinsichtlich Un- dass er nicht „Mandatar“ der Partei in der Re- garns: BROOK-SHEPHERD, Krone 255f., 263; BRAUNEDER, gierung sei.44 Nun aber stieß Seipel als Querein- Deutsch-Österreich 141, 145f. steiger innerhalb kürzester Zeit in den inneren 40 Allerhöchstes Patent vom 2. 12. 1848, Politische Führungszirkel der Partei und wurde von ihr Gesetzessammlung LXXVI/145. 41 Neue Freie Presse Nr. 19475 v. 12. 11. 1918, 3. nicht nur gebeten, für die bevorstehenden Wah- 42 Die Frage wird bemerkenswerterweise noch heute len zur Konstituierenden Nationalversammlung kontrovers diskutiert, vgl. einerseits KOVÁCS, Unter- zu kandidieren, sondern auch gleich das Wahl- gang 1, 491, andererseits BRAUNEDER, Deutsch- programm zu schreiben.45 Österreich, bes. 153ff. sowie BRAUNEDER, Verfassungs- situation, bes. 21. Zu bedenken ist hierbei, dass es Die christlichsoziale Partei hatte länger als die einen wesentlichen Unterschied macht, ob man die beiden anderen politischen Lager an der monar- zeitgenössische Sicht der Rechtsvorgänge 1918 inter- pretiert, oder ob man einen heute noch vorhandenen objektiven Sinn derselben erkennen will; beide Me- 43 Vgl allgemein EHRENPREIS, Die „reichsweite“ Presse thoden werden zu unterschiedlichen Ergebnissen mit 1789 ff. unterschiedlichem heuristischen Wert kommen. Die- 44 Reichspost Nr. 499 v. 29. 10. 1918, 3f.; vgl. auch ser aber sollte m.E. in der weiteren Diskussion noch RENNHOFER, Seipel 148. besser herausgearbeitet werden. 45 RENNHOFER, Seipel 163; VEROSTA, Monarchie 34. 326 Thomas OLECHOWSKI chischen Staatsform festgehalten, mit der Ausru- von Wien aus proklamierten Republik.“51 Denn fung der Republik am 12. November drohte eine die deutschösterreichische Bevölkerung setze Parteispaltung in einen monarchistischen und sich aus sehr „verschiedenen deutschen Stäm- einen republikanischen Flügel.46 Alois Prinz men“ zusammen, die in dieser Konstellation Liechtenstein, der die Partei seit dem Tod ihres noch nie in einem Staat geeint waren. Dass ein- Gründers Karl Lueger geleitet hatte, trat am zelne Länder bereits deutliche Separationsbe- 25. November zurück, neuer Parteiobmann strebungen erkennen haben lassen, sei zwar wurde für zweieinhalb Jahre Prälat Hauser, bis „schmerzlich“, aber auch „begreiflich“. Die pro- (der mittlerweile ebenfalls zum Prälaten ernann- visorische Verfassung sei unter dem Druck der te47) Seipel am 2. Juni 1921 an die Spitze der Ereignisse entstanden. „Aber definitiv wird der Christlichsozialen aufrückte und acht Jahre lang neue Staat Deutschösterreich nicht anders zu- Parteiobmann blieb.48 Bereits im Herbst 1918 stande kommen können, als durch Föderation galt Seipel als der kommende Mann in der Par- der Kronländer, deren Bevölkerung es ja an tei, der vom Herausgeber der „Reichspost“, Organen zur legalen Willensäußerung durchaus Friedrich Funder, gebeten wurde, für seine Zei- nicht fehlt.“52 Der neue Staat solle demokratisch tung zu schreiben, um den Zerfall der Partei zu sein. Aber auch in einer Demokratie dürfe nicht verhindern, ein Auftrag, dem der Gebetene in die Minderheit verdrängt werden „von jenem der Folge mit vier programmatischen Artikeln Anteil an der Bildung des Staatswillens und den nachkam.49 Staatsgeschäften,53 den diese ohne Schädigung Der erste erschien am 17. November unter der des Ganzen ausüben könnte.“54 In die gleiche Überschrift „Das Recht des Volkes“, in dem er Richtung, aber noch schärfer gegen den Wiener die Bedeutung der bevorstehenden Wahl zur Zentralismus geht ein Artikel vom 30. Novem- Konstituierenden Nationalversammlung her- ber: „Als die englischen Dominions ungeberdig vorhob. Hier nannte er jene „-ismen“, gegen die [sic] wurden, beeilte sich das Mutterland, ihnen es zu kämpfen gelte: Militarismus, Bürokratis- eine ausgiebige Vertretung in der Zentralregie- mus, Feudalismus, Kapitalismus, Absolutis- rung zuzusichern. Unser Staatsamt aber plant mus.50 Handelt es sich hier noch großteils um [...] zur Abwehr der Loslösungsbestrebungen in Gemeinplätze, so enthält der am folgenden Tag den Provinzen Staatskommissäre zu den Lan- erscheinende Artikel über „Das Wesen des de- desregierungen zu entsenden“.55 mokratischen Staates“ weit mehr Brisanz. Hier Im zuletzt genannten Artikel wird noch ein an- heißt es: „Nicht die Streitfrage, ob Republik oder derer Aspekt deutlich: Seipel unterscheidet hier Monarchie, zerklüftet Deutschösterreich, son- eine „organische Staatsauffassung“ von einer dern der Zweifel an der Alleinberechtigung der „atomistischen“; aus letzterer sei die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht hervorge- gangen, wie es sich letztlich bei der Wahlord-

46 SEIPEL, Kampf 49; vgl. auch RENNHOFER, Seipel 155f.; nung zur Konstituierenden Nationalversamm- HANISCH, Schatten 129; KRIECHBAUMER, Österreich 12; vgl. auch KRIECHBAUMER, Paralyse 71–79. 47 Die Prälatenwürde wurde Seipel am 2. 8. 1919 ver- 51 SEIPEL, Das Wesen des demokratischen Staates. liehen: KLEMPERER, Seipel 133. 52 SEIPEL, Das Wesen des demokratischen Staates 57. 48 RENNHOFER, Seipel 251ff. 53 Man beachte Terminologie mit ihrer auffallenden 49 RENNHOFER, Seipel 156. Vgl. dazu auch FUNDER, Ähnlichkeit zur Erklärung Kaiser Karls vom Gestern 256f., 466f.; hier ABLEITINGER, Lager 65. 11. 11. 1918! 50 SEIPEL, Recht des Volkes 164–168; Vgl. dazu VEROS- 54 SEIPEL, Das Wesen des demokratischen Staates 54. TA, Monarchie 31. 55 SEIPEL, Die demokratische Verfassung. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 327 lung durchgesetzt hat.56 Er „verhehlt“ jedoch terreich zu jener Zeit etablierten Räte zu verste- nicht seine Bedenken gegen eine derartige hen;59 zugleich aber entspricht sie auch Seipels „Atomisierung“ des Volkes, wo wirklich jeder Vorstellung von einem organischen Gesell- Einzelne direkt und gleich an der Staatswillens- schaftsaufbau. Von besonderem Interesse am bildung teilhaftig ist. „Wir betrachten im Gegen- Parteiprogramm sind schließlich die Abschnitte, satz zu ihr noch immer den Staat für gesünder die sich den Frauen widmen: Diese sollten zwar und besser geordnet, der nicht unmittelbar aus „zu allen Bildungsmöglichkeiten“ zugelassen zusammenhanglosen Individuen, die in der werden, zu „Berufen und Aemtern“ hingegen Theorie alle gleich, in der Wirklichkeit aber doch nur, wenn diese „der weiblichen Eigenart ent- recht ungleich sind, bestehen will, sondern seine sprechen“ – welche das waren, konnte damals Bürger auf dem Umweg über ihre Familien und nicht zweifelhaft sein. Mutterschutz und beson- Berufsstände erfaßt.“57 Bereits hier, im Novem- derer Schutz der arbeitenden Frauen wurde ber 1918, spricht Seipel also das Wort für eine eingefordert. „Bezüglich der Frauenarbeit be- berufsständische Ordnung! Seipel fordert außer kennt sie [die Partei] sich zum Grundsatze: glei- dem „politischen“ Parlament noch „andere Kör- che Entlohnung für gleiche Arbeit.“ Das bereits perschaften“, in denen die „so wichtigen kultu- eingeführte Frauenwahlrecht wird ausdrücklich rellen und wirtschaftlichen Fragen“ nicht von „begrüßt“. „politischen verdrängt oder selbst zu politischen Zu diesem Punkt sei hier noch ein kurzer Rück- gemacht werden“, er fordert Körperschaften, die blick angebracht: Etwas mehr als ein Jahr zuvor, von den „Interessentenkreisen selbst“ beschickt am 28. November 1917, hatte Seipel in der „Ge- und geleitet werden. sellschaft für christliche Soziologie“ über das Liest man vor diesem Hintergrund das von Sei- Frauenwahlrecht gesprochen. Gewiss muss kon- pel ausgearbeitete Wahlprogramm der Christ- statiert werden, dass er vor einem eher konser- lich-sozialen Partei für die Wahl zur Konstituie- vativen Publikum sprach und in einer Zeit, als renden Nationalversammlung, das in der Weih- das Frauenwahlrecht noch durchaus keine aus- nachtsnummer 1918 erschien,58 werden manche gemachte Sache war; doch bleibt festzuhalten, Aspekte desselben deutlicher: So etwa die feine dass Seipel damals nicht nur „eine Notwendig- Differenzierung, dass sich die Partei „uneinge- keit, zum Frauenwahlrecht überzugehen“ leug- schränkt zum freien demokratischen Staat“ be- nete, sondern auch betonte, „daß die plötzliche kenne, aber die von der Provisorischen Natio- Ausdehnung des Wahlrechtes auf alle Frauen nalversammlung beschlossene „republikanische von Übel wäre. Es würden dadurch noch viel Staatsform“ bloß „anerkenne“. Die bereits be- mehr ungeschulte [...] Personen in die politische stehenden Handels- und Gewerbekammern Arena gerufen, als es ohnehin schon der Fall seien auszugestalten und parallel dazu „beson- ist.“60 Damals schon entwickelt er die Idee von dere Landwirtschafts- und Arbeiterkammern“ einem „organischen“ Aufbau des Frauenwahl- zu errichten. Diese „beruflichen Interessenver- rechtes, indem Frauen erst allmählich in die tretungen der einzelnen Stände“ sollten auf de- verschiedenen Staatsfunktionen eingeführt wer- mokratischer Grundlage beruhen. Es ist diese den. Und wolle man tatsächlich das Frauen- Forderung zum Teil als Antwort auf die in Ös- wahlrecht schaffen, so solle es in der Form erfol- gen, dass die Frauen in besonderen „Frauenku- 56 Dazu ausführlich STREJCEK, Wahlrecht 1ff. 57 SEIPEL, Verfassung 60. Vgl. VEROSTA, Monarchie 32. 58 Reichspost Nr. 595 v. 25. 12. 1918, 1. Auch abge- 59 Dazu jüngst LEIDINGER, Rätebewegung 91–99. druckt in KRIECHBAUMER, Österreich 28–31. 60 SEIPEL, Frauenwahlrecht 34. 328 Thomas OLECHOWSKI rien“ wählen (was die Bildung von „Männerku- Eisner regieren kann, haben wir nichts zu su- rien“ für den anderen Teil der Bevölkerung im- chen.“62 pliziert). Diese Kurien würden gewährleisten, Aber noch aus einem weiteren Grund wollte dass „tatsächlich die ganze Bevölkerung, Män- Seipel den Anschluss verhindern: Die Frage ner und Frauen, unabhängig von Zufallsmehr- nach der Staatsform war für ihn im November heiten und Wahltagsüberraschungen, ihre Ver- 1918 noch keineswegs entschieden. Vielmehr tretung fände.“ Dagegen sei ein unterschiedslo- müsse „die Frage, ob Monarchie oder Republik“ ses Wahlrecht für Männer und Frauen „wider- vom Volke selbst entschieden werden, wobei sinnig und bedeutete allerdings den vollsten freilich nur „zwischen der demokratischen Mo- Triumph jener Atomisierung der Gesellschaft, narchie und der demokratischen Republik“ ge- die ein Phantom der allgemeinen Gleichheit an wählt werden könne; die alte Monarchie mit die Stelle der doch so wirklichen Verschieden- ihren alten Fehlern dürfe nicht mehr wieder- heit setzt.“61 kommen.63 Zugleich sprach er eine indirekte, doch wohl sehr deutliche Warnung nach Eckartsau aus: „Ich zweifle nicht, wenn jetzt E. Restaurationsbestrebungen jemand den Kaiser zurückriefe, er würde nicht kommen, ehe das Werk der Verfassungsgebung Ein in jenen Tagen vieldiskutiertes Thema wird durch das Volk selbst vollendet worden ist.“64 – von Seipel in seinen Artikeln so gut wie nicht In privaten, zu seinen Lebzeiten nicht veröffent- angeschnitten: die Frage, ob sich Deutschöster- lichten Notizen hat Seipel dies besonders präg- reich an das Deutsche Reich anschließen solle, nant auf den Punkt gebracht: „Es muß [...] eine wie im Gesetz vom 12. November 1918 eigent- neue Verfassung, welche die Monarchie wieder- lich schon entschieden, oder ob vielleicht nicht herstellt, gegeben und auf Grund dieser Verfas- doch noch eine „Donaukonföderation“ mit den sung der Kaiser neu zur Herrschaft berufen anderen Nachfolgestaaten der Monarchie mög- werden.“65 lich wäre. Seipel konnte in dieser Frage seine Auch die Sozialdemokraten hatten keineswegs persönliche Meinung nicht kundtun: denn diese auf den Habsburger vergessen, der noch immer ging klar in Richtung Donaukonföderation und im Land weilte und noch immer Ordensverlei- damit gegen den allgemeinen Tenor in Öster- hungen vornahm, um, wie er selbst sagte, „zu reich, der den Anschluss an Deutschland befür- demonstrieren, daß er noch Kaiser sei“.66 Mitte wortete. Dieser würde, wie Seipel in einem Brief Dezember 1918 erhob der sozialdemokratische an Engelbert Krebs vom 17. Dezember 1918 be- Präsident der Provisorischen Nationalversamm- tonte, unweigerlich den „Verlust Deutschsüdti- lung, Karl Seitz, im Staatsrat die Forderung, rols“ bringen, da die Siegermächte niemals zu- dass Exkaiser Karl auch förmlich abdanken sol- gestehen würden, dass Deutschland über den le. Seipels Parteifreund Johann Nepomuk Hau- Brenner hinaus reiche. Und selbst nach den ser besprach sich mit Seipel und ersuchte ihn, Friedensverhandlungen käme ein Anschluss nur dann in Frage, wenn Deutschland „ein wahrhaft 62 SEIPEL, Brief an E. Krebs vom 17. 12. 1918, zit. n. freier Staat wird. In dem Deutschland von heute, VEROSTA, Monarchie 29. Vgl. auch KRIECHBAUMER, in dem es den Terror von Soldatenräten und Österreich 12. eine sozialistische Diktatur gibt und ein Kurt 63 SEIPEL, Das Volk und die künftige Staatsform. 64 SEIPEL, Das Volk und die künftige Staatsform 65. 65 SEIPEL, Rückblick 763. Vgl. auch VEROSTA, Monar- chie 42. 61 SEIPEL, Verfassung 36f. 66 BROOK-SHEPHERD, Krone 283. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 329 persönlich mit dem Exkaiser zu sprechen und noch einmal in Eckartsau beim Ex-Kaiser vor, ihn „zur freiwilligen Abdankung zu bewegen.“67 dann wählte dieser die dritte Möglichkeit: Am Seipel weigerte sich schlichtweg, hier mitzutun. 24. März reiste Karl Habsburg-Lothringen mit An seiner Stelle fuhr Renner Anfang Jänner 1919 Frau und Kindern in die Schweiz. Am 3. April nach Eckartsau, wurde aber vom Kaiser nicht beschloss die Nationalversammlung die förmli- einmal empfangen.68 che Absetzung des Hauses Habsburg-Loth- Das Volk selbst entschied über das Ende der ringen. Was das stenographische Protokoll nicht Monarchie mittelbar: durch die Wahl der Kon- vermerkt, aber worüber in Zeitungen berichtet stituierenden Nationalversammlung am 16. Feb- wurde: Eine Reihe christlichsozialer Abgeordne- ruar 1919. „Der Wahlausgang war als definitive ter hatte vor der Abstimmung den Saal verlas- Entscheidung des österreichischen Volkes über sen.73 Wir dürfen annehmen, dass sich auch die Staatsform aufzufassen.“69 Denn am Seipel, dem von der Parteileitung verboten wor- 12. März 1919 „wiederholt[e], bestätigt[e] und den war, das Rednerpult zu besteigen, unter den bekräftigt[e]“ die Konstituierende Nationalver- Sezessionisten befand. sammlung die Beschlüsse der Provisorischen Wenig bekannt, weil lange geheim gehalten, ist, Nationalversammlung vom 12. November dass es noch im August 1920 zu einem letzten 1918,70 und zwar auch mit den Stimmen der Treffen zwischen Seipel und Exkaiser Karl in Christlichsozialen. Es ist gut möglich, dass der dessen Schweizer Exil kam. Wir sind über den Hirtenbrief der österreichischen Bischöfe vom Inhalt der damals geführten Gespräche nur aus 23. Jänner 1919, der den Umsturz ausdrücklich unzuverlässiger Quelle informiert, nämlich als „rechtmäßig“ bezeichnet hatte, hier eine be- durch einen Bericht von Karls Sekretär Baron deutende Rolle gespielt hatte.71 So oder so: Die Werkmann aus dem Jahr 1934. Entgegen dessen neue Regierung – eine Große Koalition aus Sozi- Darstellung dürfte Seipel auch gegenüber sei- aldemokraten und Christlichsozialen – eröffnete nem einstigen Landesfürsten auf Zeit gespielt dem Exkaiser nunmehr drei Möglichkeiten: und diesen ersucht haben, wenigstens noch Verzicht auf sämtliche Rechte und Verbleib als zehn Jahre zuzuwarten, bevor an eine Rückkehr einfacher Staatsbürger in Österreich, Verhaftung gedacht werden könne. Dies hinderte Karl nicht, oder Gang ins Exil.72 Am 22. März sprach Seipel einige Wochen später einen Brief an Seipel zu schicken, in dem er „in dem Augenblicke, da der Wahlkampf in die entscheidende Phase tritt“, 67 RENNHOFER, Seipel 164. die Hoffnung aussprach, „daß das Volk sich von 68 BROOK-SHEPHERD, Krone 266. 69 VEROSTA, Monarchie 37. den Wirrungen der Revolution zu befreien 70 Gesetz vom 12. 3. 1919, StGBl. 174 über die Staats- trachtet, daß es sich wieder nach Recht und form. Ordnung sehnt und in diesem Drange immer 71 Abgedruckt in der Reichspost Nr. 39 v. 24. 1. 1919, mehr Meiner gedenkt.“ Ihm, Seipel, wünsche er 8f. Dies ist umso bemerkenswerter, als der österrei- chische Episkopat (allerdings ohne die Bischöfe von „den besten Erfolg“. Gemeint war offenbar der Prag, Laibach, Trient und Triest) noch am 4. 8. 1918 Wahlkampf zur Wahl des ersten Nationalrates einen Hirtenbrief veröffentlicht hatte, in dem er die nach der noch gar nicht beschlossenen Verfas- Einigkeit der habsburgischen Völker beschworen sung. Doch immerhin: zum wohl allerersten Mal hatte, vgl. GOTTSMANN, Wiener Nuntiatur 112. Vgl. zu dieser Problematik im Allgemeinen (ohne Hinweis hatte ein Habsburger eine Wahlempfehlung auf die Hirtenbriefe) auch: SOHN-KRONTHALER, Katho- lische Kirche, bes. 348. 72 BÖHMER, FABER, Erben 29; BROOK-SHEPHERD, Krone 73 Neue Freie Presse Nr. 19615 v. 3. 4. 1919, 5; siehe 287. auch BÖHMER, FABER, Erben 34. 330 Thomas OLECHOWSKI abgegeben. Seipel tat gut daran, sie niemals zu zeigt gerade dieses Zitat, dass die beiden einan- veröffentlichen.74 der gar nicht so unähnlich waren; und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass beide einander, trotz aller ideologischen Gegensätze, persönlich F. Im Verfassungsausschuss schätzten.79 Seipels Reden und Zeitungsartikel verändern Von der Wahl von 1920 zurück zu jener von sich in jener Zeit deutlich. Schon am 10. März 1919: Hier hatte Seipel einen besonders harten 1919 erklärte er, dass die „Zeit der Programme, Kampf, auch gegen Gegner aus den eigenen der Absichten und Versprechungen“ vorbei sei, Reihen, führen müssen. Als „Monarchisten- nun gehe es darum, aus der vorhandenen Situa- führer“ und „Anschlußgegner“ beschimpft, be- tion heraus zu arbeiten. Und diese Situation sei zeichnete er sich in einem Brief an Lammasch nun einmal die, dass die Christlichsoziale Partei selbst, nicht ohne Stolz, als den „bestgehaßten lediglich zweitstärkste Kraft in der Konstituie- Mann in Wien.“ Von den Christlichsozialen war renden Nationalversammlung sei und dass sie es vor allem der Wiener Bürgermeister Richard daher eine Koalition mit den Sozialdemokraten Weiskirchner, der gegen Seipels Kandidatur bilden müsse. Nur so könne die Gefahr einer war, aber auch z.B. die „Grazer Dominikaner“ bolschewistischen Revolution gebannt werden; hatten „eindringlichst vor mir gewarnt“.75 Den- nur so aber könne auch die definitive Verfas- noch wurde Ignaz Seipel am 16. Februar 1919 in sung für die Republik geschaffen werden.80 Die die Nationalversammlung gewählt. Am 4. März Stimme Seipels wurde zunehmend die Stimme fand die Eröffnungssitzung statt; es ist bezeich- der Partei; was sein eigener Wille ist und was nend, dass Seipel zwei Stunden vor Beginn der ihm die Parteiräson diktiert, ist kaum noch zu Sitzung eine Messe für die christlichsozialen unterscheiden. Abgeordneten zelebrierte.76 Nur mehr vereinzelt finden sich noch pointierte Am nächsten Tag wurde Seipel in den Verfas- Stellungnahmen Seipels zur aktuellen Lage. So sungsausschuss gewählt, in dem er zum Stell- etwa bei einem Vortrag, den er am 14. Mai 1919 vertreter des Obmanns, des Sozialdemokraten in der „Politischen Gesellschaft“ zu der Frage Otto Bauer, gewählt wurde.77 Hier also traf Sei- hält, welche Rolle den Länder im Gesamtstaat pel erstmals auf seinen Antipoden, den Vorden- zukommen solle. Erneut kam er bei diesem ker des Austromarxismus, von dem Karl Renner Thema auf die Erklärung Wilsons über das später meinte, er, Bauer, sei „dem gleichen Selbstbestimmungsrecht der Völker zu spre- Dogmatismus als linker Sozialist“ erlegen, „wie

Seipel als katholischer Priester.“78 Vielleicht 79 So verfasste Bauer 1932 einen Nachruf auf Seipel, der so positiv ausfiel, dass er in den eigenen Reihen 74 KLEMPERER, Seipel 122. Vgl. VEROSTA, Monarchie 48. dafür vielfach kritisiert wurde: LESER, Seipel und 75 SEIPEL in Briefen an H. Lammasch vom 5. 1. und Bauer 141, 145; HANISCH, Illusionist 184. 15. 2. 1919, zit. n. RENNHOFER, Seipel 172–174. Ob mit 80 Es kann hier nicht auf die gemeinsame Tätigkeit den „Grazer Dominikanern“ der Dominikanerkon- von Bauer und Seipel in dem am 19. 3. 1919 konstitu- vent gemeint war, bleibt unklar. Vgl. auch VEROSTA, ierten „Sozialisierungsausschuss“ eingegangen wer- Monarchie 34f.; KLEMPERER, Seipel 94. den; offenbar gelang es aber Seipel, die Tätigkeit 76 RENNHOFER, Seipel 176. dieses Ausschusses, der letztlich auf eine Umstellung 77 Stenographische Protokolle der Konstituierenden der gesamten österreichischen Wirtschaft im sozialis- Nationalversammlung, 2. Sitzung vom 5. 3. 1919, 28. tischen Sinne abzielte, so zu hemmen, dass er letztlich 78 Zit. n. LESER, Seipel und Bauer 149. Vgl. zum Fol- nur wenig bewirken konnte. Vgl. ausführlich genden nunmehr ausführlich HANISCH, Illusionist BERCHTOLD, Verfassungsgeschichte 1, 162ff; HANISCH, 184ff. Illusionist 182ff. Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 331 chen: Die „Wiener Regierung“ habe dieses Recht nehmen – ohne diese Abgrenzung im Einzelnen national aufgefasst; doch müsse man den eng- zu bewerten.84 lischsprachigen Gebrauch des Wortes „nation“ In der Zwischenzeit hatte in Deutschland die berücksichtigen: „Es handelt sich dabei nicht um Weimarer Nationalversammlung schon längst die ‚Nation’ in unserem Sinne, sondern um [...] ihre Verfassung beschlossen; die Weimarer Ab- die Bevölkerung irgend eines geschlossenen geordneten aber denken gar nicht daran, die Gebietes.“81 Mithin entsprechen die „Lostren- Nationalversammlung aufzulösen und Neuwah- nungsströmungen“ einzelner Länder durchaus len auszuschreiben, vielmehr nehmen sie wei- den Gedanken Wilsons. Zu einer gänzlichen terhin das Gesetzgebungsrecht für sich in An- Trennung werde es nicht kommen, schon des- spruch, was in weiten Kreisen auf Kritik stieß. halb nicht, weil es die Entente verbieten würde. Am 12. März 1920 marschierten meuternde Sol- Doch sollten Wege gesucht werden, „daß die daten Richtung Berlin und proklamierten den Kronländer nicht nur von der Entente dazu ge- alldeutschen Politiker Wolfgang Kapp zum neu- zwungen werden, sondern freiwillig im Ver- en Reichskanzler. Erst vier Tage später brach der bande Deutschösterreichs bleiben.“82 sog. Kapp-Putsch zusammen.85 Währenddessen, Fast ein Jahr nach Zusammentritt der Konstitu- in Wien, hielt Seipel einen Vortrag, in dem er ierenden Nationalversammlung hatte die Regie- vor Umsturzgefahren auch in Österreich rung dem Parlament noch immer keinen Verfas- warnt.86 An der Koalition mit den Sozialdemo- sungsentwurf übermittelt. Die Länder wurden kraten müsse noch „eine Zeitlang“ festgehalten ungeduldig und beriefen selbst Länderkonfe- werden, bis die „definitive Verfassung“ erlassen renzen ein, zu denen die Regierung nicht einge- ist. Dann aber müssten sofort Neuwahlen statt- laden war; lediglich der für die Verfassungsre- finden, um Zustände wie in Deutschland zu form zuständige Staatssekretär vermeiden.87 durfte an der Konferenz, die vom 15. bis Aber auch er wurde allmählich ungeduldig, und 17. Februar 1920 in Salzburg stattfand, teilneh- Anfang Mai 1920 veröffentlicht er in der Reichs- men, wo er dann auch den sog. Privatentwurf post einen Artikel, betitelt: „Heraus mit der Ver- Mayr präsentierte.83 Dieser wurde von Seipel in fassung!“88 Er hielt es darin für eine „Ehren- einem Artikel in der „Reichspost“ ausdrücklich pflicht“ der Abgeordneten, „nicht länger zuzu- gelobt. So meinte er, dass mit den Kompetenz- warten, sondern von der Regierung zu verlan- bestimmungen in Artikel 10–12 „zwischen Zent- gen, daß sie der Nationalversammlung unver- ralismus und Föderalismus der Mittelweg“ be- züglich die Unterlage für die Verfassungsbera- schritten worden sei und hebt hervor, dass die tung unterbreite.“89 – Die Arbeiter-Zeitung kon- Länder in einem „Bundesrat“ vertreten sein terte: „Der Ton des Herrn Dr. Seipel wird immer würden, der mit der „Zentralgewalt“ zusammen herausfordernder; der gute Mann gebärdet sich arbeiten würde. Weitere Bestimmungen, die von nun geradezu, als wäre er der Herr über Öster- ihm positiv hervorgehoben wurden, sind die reich.“90 – Am 10. Juni 1920 brach die Koalition Bestimmungen über Volksabstimmungen und der Versuch, auch auf dem Gebiet des Schulwe- 84 SEIPEL, Verfassungsreform und Wirtschaftsleben. 85 sens eine genaue Kompetenzabgrenzung vorzu- NIEDHART, Geschichte 68. 86 SEIPEL, Märzrevolution. 87 NIEDHART, Geschichte 70. 81 SEIPEL, Absonderung 74–76. 88 SEIPEL, Heraus mit der Verfassung! 82 SEIPEL, Absonderung 76. 89 Vgl. dazu auch ERMACORA, Quellen 16. 83 Zur Entstehung dieses Entwurfes vgl. Th. 90 Arbeiter-Zeitung Nr. 140 v. 22. 5. 1920, 1 („Herr Dr. OLECHOWSKI, Beitrag. Seipel gebe acht!“) 332 Thomas OLECHOWSKI auseinander, ohne dass es gelungen wäre, einen Seipel war es auch, der in der Plenarsitzung der Regierungsentwurf zustande zu bringen; die Konstituierenden Nationalversammlung vom Sozialdemokraten forderten Neuwahlen, und 29. September über die Tätigkeit des Verfas- die Christlichsozialen stimmten zu – jedoch: sungsausschusses und das Verfassungswerk Bevor die Konstitutante aufgelöst werden soll, berichtete. In programmatischer Hinsicht fasste möge sie doch endlich die Verfassung beschlie- sich Seipel sehr kurz, denn er spreche hier nicht ßen! So jedenfalls die „Reichspost“ am 16. Juni: als Vertreter seiner Partei, sondern als Vertreter Über die „Fundamentalartikel“ der Verfassung des Ausschusses. Im Wesentlichen seien es zwei sei ja bereits „Uebereinstimmung erzielt.“ Und Prinzipien gewesen, die dem Entwurf zugrunde wenn es nicht gelingt, die gesamte Verfassung gelegen hatten: „die des demokratischen zu beschließen, so könnte man doch wenigstens Staatswesens und die des Bundesstaates“. Diese „die wichtigsten Teile der ersten vier Hauptab- seien nicht willkürlich vom Verfassungsaus- schnitte als eigenes Gesetz“ fertigstellen. So wie die „Siebenundsechziger Verfassung“ könnte könne, das Schulwesen im Lande den Bedürfnissen dann das endgültige Verfassungswerk „aus der Bevölkerung anzupassen“, in welchem Zusam- einer Reihe von Parallelgesetzen oder auch zeit- menhang Seipel auch auf seine eigenen „Erfahrungen lich aufeinanderfolgenden Gesetzen“ bestehen.91 als Lehrer – 10 Jahre an der Volksschule, 6 Jahre an Mittelschulen und mehrere Jahre als Schulinspektor“ Und dieser Weg wurde letztlich beschritten. Am verweist (ERMACORA, Quellen 430). Er kann es schließ- 8. Juli 1920 beschloss der Verfassungsausschuss, lich erreichen, dass die Kompetenzverteilung im einen siebenköpfigen Unterausschuss – drei Schulwesen überhaupt ungeregelt bleibt (ERMACORA Sozialdemokraten, drei Christlichsoziale und Quellen 446, 468). Auch über zahlreiche andere Fra- einen Großdeutschen – zu wählen, der die Ver- gen, wie etwa die Gendarmerie oder das Elektrizi- tätswesen besteht bis zum Schluss Streit; in der letz- fassung erstellen solle. Auch in diesem Unter- ten Sitzung des Unterausschusses vom 23. 9. 1920 ausschuss übernahm Bauer die Rolle des Ob- wird festgestellt, „daß nicht bloß über das Elektrizi- manns, Seipel die seines Stellvertreters. Der tätswesen und Wasserrecht, sondern auch über das Unterausschuss begann seine Beratungen am Schulwesen, das Gesundheitswesen, die Bodenreform und das Staatsbürgerrecht eine Einigung noch nicht 11. Juli; die Protokolle geben ein anschauliches erzielt“ worden ist (ERMACORA Quellen 500). Bild vom zähen Ringen um jeden einzelnen Kompromissbereiter ist Seipel dagegen in der Frage Punkt der Verfassung: In einigen Fragen war des Bundespräsidenten, wo er – nicht zuletzt wegen Seipel bereit, Kompromisse zu schließen, in dessen geringer Kompetenzen – auf eine direkte Volkswahl verzichtet (ERMACORA, Quellen 313) und anderen, namentlich der Frage der Kompetenz- sich auch mit dem Ausschluss „regierender oder verteilung zwischen Bund und Ländern, beharr- ehemals regierender Häuser“ von der Wählbarkeit te er auf den Standpunkten seiner Partei, was zum Bundespräsidenten für einverstanden erklärt zunächst zum Ausschluss wichtiger Materien (ERMACORA, Quellen 318). Beachte schließlich noch die Diskussion zu Art. 1, der (wie insbesondere die Kompetenzverteilung im damals noch die Passage enthält „alle Gewalt im Bereich des Schulwesens) und schließlich zur Staate geht vom Volke aus“, wogegen Seipel einwen- Suspendierung der gesamten Kompetenzvertei- det, dass es sich hier „um eine theologische Grund- lung führte.92 satzfrage handle“ und für die Fassung des Linzer Entwurfes plädiert: „Alle öffentlichen Gewalten wer- den vom Volke eingesetzt und in seinem Namen 91 Reichspost Nr. 164 v. 16. 6. 1920, 1. ausgeübt“, was auch angenommen wird (ERMACORA, 92 Auf diese Diskussionen kann hier aus Raumgrün- Quellen 336). Erst im weiteren Verlauf der Debatten den nicht im Detail eingegangen werden. Beachte wird dies auf Antrag Kelsens in die bis heute gültige aber z.B. Seipels Standpunkt, „daß in einem Bundes- Fassung: „Ihr Recht geht vom Volke aus.“ gebracht staat den Ländern nicht das Recht genommen werden (ERMACORA, Quellen 472).

Ignaz Seipel – Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung 333 schuss gefasst worden, sondern hätten sich aus die großen Parteien veranlasste, wieder auf die- der Entwicklung der letzten beiden Jahre von se Verfassung zurück zu kommen, die unbe- selbst ergeben. Die Verfassung sei das Produkt schadet aller in der Zwischenzeit erfolgten Ver- eines Kompromisses, und sie sei unvollständig, änderungen bis zum heutigen Tage gilt. da viele wichtige Punkte, über die keine Einig- keit erzielt hatte werden können – die Grund- rechte, die Kompetenzverteilung, die finanzielle G. Ergebnisse Auseinandersetzung zwischen Bund und Län- Die politische Karriere des Prälaten Ignaz Seipel, dern – ausgeklammert und einer späteren Rege- der als Bundeskanzler 1922–24 und 1926–29 die lung vorbehalten worden seien. Aber dennoch Geschicke der Republik Österreich lenken sollte, appellierte Seipel eindringlich an die Abgeord- nahm in den knapp zwei Jahren zwischen dem neten, dem Entwurf ihre Zustimmung zu geben. Zusammenbruch der Monarchie 1918 und der „Wir hoffen, daß, wenn das hohe Haus die Ver- Beschlussfassung über das Bundes-Verfassungs- fassung [...] zum Beschlusse erhebt, dann auch gesetz 1920 ihren Ausgang. Seine in dieser Zeit das Vertrauen zu unserem Staatswesen im In- veröffentlichten Schriften zeigen, dass er damals nern und draußen wiederum gehoben werden sowohl dem republikanischen Prinzip als auch wird.“ Denn sowohl für die innere, wirtschaftli- der Demokratie nach westlich-amerikanischem che Entwicklung als auch für die Beziehungen Verständnis skeptisch bis ablehnend gegenüber- zum Ausland sei es wichtig, dass der Staat auf stand. Er befürwortete einen Ständestaat mit einem stabilen verfassungsrechtlichen Funda- einem Kaiser an der Spitze, wobei Seipel aller- ment beruhe. dings nicht das konstitutionelle Kaisertum der Es waren dies recht nüchterne Worte angesichts letzten Habsburger, sondern eher ein theolo- eines für die österreichische Geschichte so ent- gisch überhöhtes, idealisiertes Kaisertum nach scheidenden Momentes. Es ist dies nicht ver- Art des Sacrum Imperium vor Augen hatte. Der wunderlich, vergleicht man den Verfassungstext Ständestaat sollte der von ihm befürchteten mit den politischen Vorstellungen, mit denen „Atomisierung“ des Volkes, die durch ein all- Seipel seine politische Karriere 1918 begonnen gemeines und gleiches Wahlrecht drohte, entge- hatte. Nüchterner Stil und weitgehender Ver- genwirken. Seipel gelang es nicht, diese Vorstel- zicht auf pathetische Bestimmungen waren lungen durchzubringen, lediglich bei der Ver- dann auch ein Kennzeichen dieser österreichi- wirklichung des Bundesstaates, um den er – schen Bundesverfassung selbst, und Seipel hatte ebenfalls im Interesse eines Schutzes gegen die an diesem Umstand nicht unwesentlichen An- „Gleichmacherei“ der Demokratie – sehr be- teil.93 Nach 1945 sollte es freilich gerade dieser müht war, erwarb er sich große Verdienste. An- Stil und dieser Kompromisscharakter sein, der sonsten aber ergab sich die paradoxe Situation, dass Seipel als Bundeskanzler eine Schlüssel- 93 Namentlich das Fehlen einer Präambel für diese funktion in einem politischen System besaß, Verfassung wird in der Literatur zumeist Kelsen zum gegenüber dem er selbst große innere Vorbehal- Vorwurf gemacht. Tatsächlich aber hatte dieser sehr wohl auch dafür einen Textvorschlag beigestellt (vgl. te hatte. Dieser Umstand war wesentlich für das Th. OLECHOWSKI, Beitrag), während Seipel es war, der letztliche Scheitern der Ersten Republik. im Unterausschuss des Verfassungsausschusses meinte, man werde sich nur schwer auf den Wortlaut eine derartigen Präambel einigen können, was dann zur Streichung derselben führte: ERMACORA, Quellen 336. 334 Thomas OLECHOWSKI

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