„Vor allem und über allem müsste doch der Priester stehen.“ – Priesterliche Existenz bei Bundeskanzler Dr. (1876–1932) im Spiegel seiner Tagebücher

Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra theologiae eingereicht von Mag.a Stephanie Glück, LL.M.

bei Ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in theol. Michaela Sohn-Kronthaler Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

Graz, Jänner 2019

Ehrenwörtliche Erklärung Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe ver- fasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Ort, Datum Unterschrift

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VORWORT

„Vor allem und über allem müsste doch der Priester stehen.“ Dieses Zitat ist den Tagebüchern von Prälat Ignaz Seipel (1876–1932) entnommen, als er am 29. Juli 1920 über seine verschie- denen Ämter reflektierte. Das Thema meiner Diplomarbeit hat sich aus meiner beruflichen Tätigkeit am Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz ergeben. Ich habe seit 2013 die Möglichkeit, am Institut angestellt zu sein, zuerst als Studienassistentin, dann als Projektmitarbeiterin und nun als Universitätsassistentin, und neben anderen Aufgaben auch am „Seipel-Projekt“, der Editierung der Tagebücher Ignaz Seipels, mitzuarbeiten. Aus dieser Nähe zu den Tagebüchern wuchs in mir der Wunsch, mich näher mit der Person Seipel zu beschäftigen und da es schon zahlreiche Veröffentlichungen über ihn als Politiker gibt, lag es nahe, die priesterliche Seite des Priesterpolitikers zu erfor- schen. Nicht genug danken kann ich Frau Prof.in Michaela Sohn-Kronthaler, die mich von Anfang an nicht nur umfassend unterstützt, sondern auch herausgefordert hat und mich durch ihr Wis- sen, ihren Ehrgeiz und ihre herzliche Art in meiner Arbeit als Kirchenhistorikerin geprägt hat. Der größte Dank gilt meinem Mann Christian, ohne dessen bedingungslose Unterstützung mir die Vollendung meines Studiums nicht möglich gewesen wäre.

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INHALT

1. Einleitung ...... 6

2. Biografisches zur Person Ignaz Seipel ...... 11

2.1 Kindheit, priesterliche und wissenschaftliche Anfänge...... 11

2.2 Universitätsprofessor in Salzburg ...... 14

2.3 Anfänge in der Politik ...... 15

2.4 Seipel als Bundeskanzler ...... 18

2.5 Letzte Lebensjahre ...... 21

3. Seipel und Politik ...... 25

3.1 Selbstverständnis als Politiker ...... 25

3.2 Politischer Katholizismus in der Ersten Republik ...... 29

3.3 Katholische Priester als Politiker ...... 32

3.3.1 Johann Nepomuk Hauser (1866–1927) ...... 34

3.3.2 Johannes Ude (1874–1965) ...... 38

3.1 Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz zum Rückzug des Klerus aus der aktiven Politik ...... 42

4. Seipel als Priester ...... 45

4.1 Priesterliche Existenz ...... 45

4.2 Priesterliche Pflichten ...... 46

4.3 Tagebücher von Ignaz Seipel ...... 49

4.4 Priesterliches Leben ...... 51

4.4.1 Gebet und Betrachtung ...... 51

4.4.2 Gewissenserforschung und Beichte...... 55

4.4.1 Eucharistieverehrung und heilige Messe ...... 56

4.4.2 Liturgische Feiern ...... 59

4.4.3 Exerzitien ...... 60

4.4.4 Heiligen- und Marienverehrung ...... 75

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4.4.5 Predigten und Ansprachen ...... 79

4.5 Geistliche Ämter in katholischen Schwesterngemeinschaften ...... 81

4.5.1 Superior bei den Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu ...... 81

4.5.2 Geistlicher Leiter der Caritas Socialis ...... 83

4.6 Seipels Verhältnis zum Wiener Erzbischof und zum Heiligen Stuhl ...... 90

4.6.1 Seipel und Kardinal Piffl ...... 90

4.6.2 Seipel und der Heilige Stuhl ...... 92

4.6.3 Kandidat bei Bischofsernennungen ...... 96

5. Zwischen Politik und Seelsorge ...... 98

5.1 Übergang von der Monarchie zur Republik ...... 98

5.2 Reise nach Rom 1923 – Regierungschef oder Priester? ...... 102

5.3 Der 15. Juli 1927 und seine Folgen – „Prälat ohne Milde“ ...... 104

6. Schlussbemerkungen ...... 110

Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 114

Personenregister ...... 130

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1. Einleitung

Ignaz Seipel, der Priester, Politiker und Gelehrte, war einer der bedeutendsten, aber auch um- strittensten Staatsmänner der Ersten Republik.1 Um sein Denken und seine Handlungsweisen zu verstehen, muss man sich immer vor Augen halten, dass er sich in erster Linie als Priester und erst in zweiter Linie als Politiker verstand. Mit seinem asketischen Auftreten und seiner priesterlichen Kleidung, die er auch als Politiker nicht ablegte, ist er das Sinnbild des Politi- schen Katholizismus seiner Zeit, der nicht nur Bewunderer hatte, sondern vor allem von den Sozialdemokraten heftig bekämpft wurde. 2 Die vorliegende Diplomarbeit widmet sich der priesterlichen Existenz des Priesterpolitikers und geht unter vorwiegender Bezugnahme auf die Tagebuchaufzeichnungen Seipels der Frage nach, wie er sein Priestertum als Staatsmann ver- wirklicht hat. Zu Ignaz Seipel gibt es reichhaltige Literatur, die sein Leben skizziert und vorwiegend auf seine Politik Bezug nimmt. Die wichtigste und umfassendste Biografie stammt vom Historiker Friedrich Rennhofer aus dem Jahr 1978 und trägt den Titel „Ignaz Seipel. Mensch und Staats- mann“.3 Rennhofer bietet einen genauen chronologischen Überblick über das Leben Seipels und bezieht auch die Tagebuchaufzeichnungen mit ein, weswegen dieses Werk eine wichtige Grundlage für die vorliegende Arbeit darstellt. Allerdings ist diese Biografie nicht durchgehend kritisch, was die Person Seipel betrifft. Anders die zweite wichtige Biografie des deutsch-ame- rikanischen Gelehrten Klemens von Klemperer, „Ignaz Seipel. Christian Statesman in a Time of Crisis“, die 1972 auf Englisch verfasst wurde und ins Deutsche übersetzt im Jahr 1976 mit dem Titel „Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit“ als erste, modernen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werdende, Biografie über Seipel erschienen ist.4 Frühere Werke über Seipel, die schon kurz nach seinem Tod 1932 verfasst wurden, stammen größtenteils aus der Feder von Nahestehenden der christlichsozialen Partei und hatten vorwie- gend eine ehrende Würdigung des Priesterpolitikers bzw. die eigene politische Legitimation zum Ziel, weswegen auf diese Veröffentlichungen nicht zurückgegriffen wurde.5 Das erste und einzige größere Werk, das Seipel als Priester in den Vordergrund stellt, ist das bereits 1933 veröffentlichte „Ignaz Seipel. Mensch, Christ, Priester in seinem Tagebuch“6 von

1 Vgl. Weinzierl, Kirche und Politik, 444. 2 Olechowski, Vom k.k. Minister zum Berichterstatter, 317f. 3 Rennhofer, Ignaz Seipel. 4 Klemperer, Ignaz Seipel. 5 Vgl. etwa Thormann, Ignaz Seipel; Birk, Dr. Ignaz Seipel. 6 Blüml, Ignaz Seipel. 6

Seipels Vertrautem Rudolf Blüml.7 Darin wurden zum ersten Mal die Tagebücher des Prälaten in ihrem äußeren Aufbau analysiert und wichtige Stellen daraus abgedruckt, weswegen dieses Werk für die Kapitel über das priesterliche Leben Seipels besonders wichtig war. Der Grazer Kirchenhistoriker Maximilian Liebmann stellte Leben und Wirken des Priester- kanzlers in einem Artikel mit dem Titel „Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel (1876–1932)“ von 2001 dar.8 Der Eintrag zu Seipel im Österreichischen Biographischen Lexikon von 2002 von Dieter A. Binder gibt kurz und prägnant einen Überblick über die wichtigsten Stationen im Leben des Priesterpolitikers.9 In einem aktuellen Beitrag von 2017 behandelte auch Franz Schausberger die Persönlichkeit Seipel.10 Eine aktuelle Studie stammt von Jürgen Steinmair,11 der in seiner 2012 vorgelegten Disser- tation das Verhältnis Seipels zum Heiligen Stuhl beleuchtete und dabei erstmals Quellen aus dem Vatikanischen Archiv zum Pontifikat Pius XI. (1922–1939)12 verwertete. Diese Disserta- tion war vor allem in den Abschnitten, die von Seipels Kontakten zur Kirche, sei es zu seinem Vorgesetzten Kardinal Friedrich Gustav Piffl13, zu den Nuntien oder den Päpsten handeln, hilf- reich. Die Tagebücher, welche Seipel vom 19. Februar 1916 bis 23. Juli 1932, also neun Tage vor seinem Tod am 2. August 1932, geführt hat, bilden die wichtigste Quelle der Arbeit, da der Prälat darin über sein Innenleben Auskunft gab und penibel seinen Tagesablauf notierte. Im Diözesanarchiv Wien sind die insgesamt 16 Tagebücher, davon 3 Reisetagebücher, erhalten,

7 Rudolf Blüml (1898–1966), geb. in Karnitzen/Kärnten, 1922 Priesterweihe, Dissertationsstudium in Wien. Blüml wohnte wie Ignaz Seipel im Herz-Jesu-Kloster im 3. Bezirk und lernte so den Prälaten kennen, mit dem ihn bis zu dessen Tod eine enge Freundschaft verband. 1924 Dr. theol., 1926 Dr. rer. pol., ab 1928 Leiter der neu errichteten slowenischen Abteilung der Caritas und Provisor der Pfarre Sankt Johann im Rosental, 1934 Berufung ins Gurker Domkapitel, Leiter des Seelsorgeamtes, ab 1934 Abgeordneter im Kärntner Landtag, kurzzeitige Verhaftung und Gauverweis während des Zweiten Weltkriegs, 1945 Rückkehr nach Kärnten, danach Dompfarrer und Förderer der slowenischen Volksgruppe. Vgl. Till, Rudolf Blüml, 11–15; 17–22; 25. 8 Liebmann, Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel. 9 Binder, Seipel. 10 Schausberger, Ignaz Seipel. 11 Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel. 12 Pius XI., Papst (1857–1939), bürgerlich Achille Ambrogio Damiano Ratti, geb. in Desio/Lombardei, Studien in Monza, Mailand, und an der Gregoriana, 1879 Priesterweihe, 1882 Professor in Mailand, 1888 Bibliothekar an der Ambrosiana in Mailand, 1907–1914 Präfekt an der Ambrosiana, ab 1914 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, 1918 Apostolischer Visitator in Polen, 1919 Nuntius in Warschau, 1921 Erzbischof von Mailand und Kardinal, am 6. Februar 1922 zum Papst gewählt, 1929 Abschluss der Lateranverträge, schloss einige Konkordate ab und verfasste 30 Enzykliken, u. a. 1937 „Mit brennender Sorge“ gegen den Nationalsozialismus. Vgl. Gelmi, Pius XI., 335f. 13 Friedrich Gustav Piffl (1864–1932), geb. in Landskron/Böhmen, 1883 Eintritt in das Augustiner Chorherrenstift Klosterneuburg, Studium der Philosophie und Theologie an der Hauslehranstalt des Stiftes, 1887 Profess, 1888 Priesterweihe, danach als Seelsorger in Wien tätig, ab 1892 Professor der Moraltheologie und Soziologie an der Hauslehranstalt, 1907 Propst des Stiftes Klosterneuburg, 1913 Ernennung zum Fürsterzbischof von Wien auf Vor- schlag des Thronfolgers Franz Ferdinand, 1914 Kardinal. Er förderte die katholischen Vereine, führte 1927 die Katholische Aktion ein, unterstützte die katholische Presse. Ab 1922 zusätzlich Apostolischer Administrator des Burgenlandes. Vgl. Liebmann, Piffl, 7562–7565. 7

welche folgende Zeiträume umfassen: I. von 19.02.1916 bis 28.05.1917 (118 Seiten); II. bis 06.05.1918 (96 Seiten); III. bis 05.03.1920 (198 Seiten); IV. bis 31.07.1921 (154 Seiten); V. bis 02.08.1922 (129 Seiten); VI. bis 30.09.1923 (164 Seiten); VII. bis 09.10.1925 (162 Seiten); VIII. bis 13.06.1927 (186 Seiten); IX. bis 31.12.1929 (365 Seiten); XII. bis 22.11.1931 (214 Seiten); XIII. bis 23.07.1932 (44 Seiten). Die Tagebücher sind ihrer äußeren Form nach kleine Hefte bzw. Kalender mit genauer Struktur einzelner Tagesberichte und einer eindrucksvollen Anzahl an Namen, Besuchen, Kon- takten usw. Die Notizen sind in Kurrentschrift verfasst, für die vorliegende Arbeit konnten die Tagebücher in digitaler Version verwendet werden, die das Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Katholisch-Theologischen Universität Graz als Vorarbeit zur Edition der Seipel Tagebücher („Seipel-Projekt“) erstellt hat.14 An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Tagebuchaufzeichnungen zwar ohne Rücksicht auf die aktuellen Normen der Rechtschreibung übernommen wurden, allerdings der leichteren Lesbarkeit wegen Abkürzungen aufgelöst wurden. Unterstreichungen im Text, die Ignaz Seipel durchgeführt hat, wurden übernommen. Die Tagebücher stellen die Hauptquelle der Arbeit dar, allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sie auch fehlerhaft sein können und teilweise nicht vollständig sind. Zusätzlich wurde auch auf Predigten und Ansprachen des Priesterpolitikers zurückgegriffen. Diese wurden in Publikationen veröffentlicht15 oder in der „Reichspost“ wiedergegeben. Die „Reichspost“ wurde als der christlichsozialen Partei nahestehende Zeitung zudem verwendet, um historische oder in den Tagbüchern vermerkte Ereignisse näher zu beleuchten. Die „Arbeiter-Zeitung“ wurde als Sprachrohr der sozialistischen Partei dazu herangezogen, auch die Seite der Gegner Seipels und des Politischen Katholizismus zu betrachten. Die vorhandenen Quellen, vor allem die Tagebücher, wurden anhand der historisch-kriti- schen Methode ausgewertet. Es wurde versucht, die Texte in die konkrete historische Situation einzuordnen und ihren Inhalt im Hinblick auf die Frage nach der priesterlichen Existenz bei Ignaz Seipel zu deuten. In der vorliegenden Arbeit wird zuerst Seipels Lebensweg, der ihn zur Politik geführt hat und seine Zeit als Politiker beleuchtet. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie es dazu kam, dass ein Priester und Professor für Moraltheologie zu einem der höchsten Politiker in

14 Die Tagebücher sind noch nicht öffentlich zugänglich, weswegen ich mich bei Frau Prof. Michaela Sohn- Kronthaler, der Leiterin des Instituts für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte, herzlich dafür bedanke, dass ich die Tagebücher schon vor Drucklegung benutzen durfte. 15 Vgl. etwa Blüml, Im Dienste des Wortes; Geßl, Seipels Reden; Seipel, Kampf. 8

Österreich werden konnte. Welche Personen haben ihn geprägt? Welche Voraussetzungen für eine politische Karriere brachte er mit? Danach steht im dritten Kapitel Seipels Selbstverständnis als Politiker im Fokus. Wie ver- stand der Priesterkanzler sein Wirken als Politiker? Da sich Seipels Karriere im Politischen Katholizismus der Ersten Republik vollzogen hat, soll dieser eigens dargestellt werden. Ignaz Seipel war, wenn auch der bekannteste, nicht der einzige Priester, der sich im politischen Ta- gesgeschäft betätigt hat, weswegen auch zwei andere Priesterpolitiker seiner Zeit vorgestellt werden: Johann Nepomuk Hauser (1866–1927), der langjährige Landeshauptmann von Oberös- terreich und der streitbare kärntnerisch-steirische Lebensreformer Johannes Ude (1874–1965). Beide werden in Bezug zu Seipel gesetzt und es wird die Frage behandelt, wie diese beiden Priesterpolitiker ihre priesterliche Existenz gelebt haben. Den Abschluss des dritten Kapitels bildet ein Blick auf den Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz zum Rückzug des Klerus aus der aktiven Politik vom 30. November 1933, der gleichsam das Ende dieser Gene- ration von Priesterpolitikern bedeutete. Wieso wurde dieser Beschluss gefasst und was bedeu- tete er für den Politischen Katholizismus? Das vierte Kapitel bildet das Hauptstück der vorliegenden Arbeit. Darin steht das Priester- tum Seipels, das die Grundlage sowohl seines gesamten Lebens, als auch seines Verständnisses als Politiker dargestellt hat, im Mittelpunkt. Zu Beginn dieses Kapitels wird der Begriff „pries- terliche Existenz“ analysiert und danach gefragt, was diesen ausmachte. Danach wird der Frage nachgegangen, welche Pflichten Priester dieser Generation hatten und wie das Priesterbild die- ser Zeit war. In den einzelnen Unterkapiteln sollen daran anknüpfend, mit Hilfe ausgewählter Stellen aus den Tagebüchern des Prälaten, die einzelnen Aspekte seines priesterlichen Lebens beleuchtet werden, um so herauszuarbeiten, wie er versucht hat, seine priesterliche Existenz im Alltag als Regierungschef trotz vieler anderer Verpflichtungen so gut wie möglich zu leben. Untersu- chungsgegenstand ist Seipels geistlich-religiöses Leben, also Gebet, Betrachtungen, die Feier von Heiligen Messen, liturgischen Feiern, Exerzitien, an denen er teilgenommen hat und solche, die er geleitet hat, seine Heiligen- und Marienverehrung sowie Predigten und Ansprachen zu verschiedenen Anlässen. In einem weiteren Unterpunkt werden Seipels geistliche Ämter in zwei katholischen Schwesterngemeinschaften, nämlich bei den Dienerinnen des heiligsten Her- zens Jesu und bei der Caritas Socialis, näher betrachtet. Ausgehend von dieser Untersuchung seines geistlichen Lebens soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Entsprach seine pries- terliche Existenz den Anforderungen? Wie lebte der Priesterkanzler sein Priestertum, welche

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Zweifel an seinem inneren Leben hatte er? Wie lebte er seine Spiritualität auch in Zeiten höchs- ter beruflicher Anspannungen? Ein Aspekt dieses priesterlichen Lebens war das Verhältnis des Bundeskanzlers zur Amts- kirche, der er trotz seiner hohen politischen Stellung als Geistlicher unterstellt war. Wie war seine Beziehung zu seinem kirchliche Vorgesetzten Kardinal Piffl und wie die zum Heiligen Stuhl? Welche Spannungen brachte sein politisches Wirken in sein Verhältnis zur Kirche? Diese Fragen werden im letzten Unterkapitel in Kapitel vier behandelt. An drei ausgewählten Beispielen wird im fünften Kapitel der Fokus auf das Spannungsfeld gelegt, das sich unweigerlich zwischen den Erfordernissen der Politik und dem Priestertum ergab, je länger Seipel in der Politik tätig war. Vor allem die Ereignisse im Juli des Jahres 1927, als es nach den Schüssen in Schattendorf zu einem aufsehenerregenden Urteil und daraufhin zu Aufständen kam, brachte eine Zäsur in seinem Selbstverständnis als Priesterpolitiker. Wie ging er mit den Angriffen auf seine Person um? Welche Gedanken machte er sich und wie wirkten sich die Ereignisse auf seine Politik aus? Im letzten Kapitel werden in den Schlussbemerkungen die Ergebnisse zusammengefasst dar- gestellt.

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2. BIOGRAFISCHES ZUR PERSON IGNAZ SEIPEL

2.1 Kindheit, priesterliche und wissenschaftliche Anfänge

Ignaz Seipel wurde am 19. Juli 1876, wie sein Biograf Klemens von Klemperer schreibt, „in einem der vielen und deprimierenden grauen Mietshäuser geboren, in denen die arme Bevölke- rung Wiens im Schatten der prunkvollen Eleganz der Stadt lebte“. Sein Vater Ignaz Karl (1841– 1901) war zuerst Fiaker – im damaligen Wien ein durchaus achtbarer Beruf – und später Haus- meister im Fürsttheater im Prater. Die Vorfahren des Vaters waren durchwegs in Wien ansässig. Seine Familie mütterlicherseits stammte aus Niederösterreich, sein Großvater Josef Zehetner war Schiffsmeister in Weitenegg in der Wachau, wo auch seine Mutter Elisabeth (1850–1879) geboren wurde. Seipel, der sich Zeit seines Lebens als Großstädter fühlte, besaß durch die Fa- milie seiner Mutter also ländliche Wurzeln.16 Seine Mutter verstarb schon im Alter von 29 Jah- ren an Tuberkulose, der erst Dreijährige wurde fortan von seiner Tante bzw. seiner Großmutter aufgezogen. Dieser frühe Verlust der Mutter und das Fehlen eines unbeschwerten familiären Umfeldes hat die Entwicklung des späteren Prälaten geprägt, eine gewisse Gefühlskälte und Härte gegenüber sich selbst haben wohl darin ihre Wurzeln.17 Schon in den ersten beiden Lebensjahrzehnten lassen sich einige Charakterzüge des älteren Seipel erkennen. Er war ein kränkelndes, einsames Kind, das sich von anderen distanzierte, dafür aber sehr ehrgeizig, wie er selbst einmal sagte, „kindisch ehrgeizig“ und fleißig war. Ob- wohl er ein distanzierter Mensch war, war ihm ein trockener, manchmal auch beißender Humor eigen.18 Im Jahr 1887 trat der Elfjährige, der die Volkschule mit durchgehend Sehr Gut abgeschlos- sen hatte, in das Meidlinger Gymnasium ein, wo er schon die erste Klasse mit Auszeichnung abschloss. Mit Johann de Matha Wastl († 1935), dem Direktor des Gymnasiums, schien Seipel ein besonders gutes Verhältnis zu haben, denn in seinen Tagebüchern wird dieser bis kurz vor dem Tod Seipels immer wieder genannt, was darauf hinweist, dass sich zwischen den beiden Männern eine Freundschaft entwickelt hatte. Wastl sagte später über seinen Schüler, dass er ein bescheidener, zielbewusster, ruhiger, aber auch energischer Junge war, dem das Lernen leicht- fiel und der zwar von seinen Kollegen geschätzt wurde, aber mit keinem von ihnen enger be- freundet gewesen war, weil er ein verschlossener Mensch war.19

16 Klemperer, Ignaz Seipel, 34. 17 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 4. 18 Klemperer, Ignaz Seipel, 34f. 19 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 5–8. 11

Im Jahr 1895 legte Seipel die Matura mit Auszeichnung ab. Im Herbst desselben Jahres trat er ins „Fürsterzbischöfliche Clerical-Seminar“ am Stephansplatz ein und begann sein Theolo- giestudium an der Universität Wien, welches er nach vier Jahren ebenfalls mit Auszeichnung abschloss.20 Wann genau Seipel den Entschluss gefasst hat, Priester zu werden, ist nicht bekannt, es ist aber anzunehmen, dass er diese Entscheidung in der Oberstufe des Gymnasiums gefällt hat. Seine Motive dafür oder ob es ein bestimmtes Berufungserlebnis gab, bleibt ein Geheimnis, die Entscheidung war aber sicher eine wohlüberlegte.21 Der junge Alumne genoss unter seinen Kollegen im Priesterseminar hohe Autorität und hatte eine „Art geistiger Führungsposition“ eingenommen. Rennhofer berichtet von einem Jahr- gangskollegen, laut welchem Seipel von Mitbrüdern oft in schwierigen oder strittigen Fragen um Rat gefragt worden sei:

Oft standen Wissbegierige um ihn herum und in seiner, ihm damals schon eigenen, dokrinären [sic!] Art sprach er mit wunderbarer Sicherheit und Überzeugung und brachte in die schwierigsten Prob- leme Klarheit und Übersicht. Seine Versiertheit in verschiedensten Wissensgebieten, auch den pro- fanen, setzte seine Zuhörer oft in Staunen.22

Nach seiner Priesterweihe am 23. Juli 1899 im Stephansdom trat er am 1. September seine erste Kaplansstelle in Göllersdorf im Weinviertel an, wo er seine priesterlichen Pflichten gewissen- haft wahrnahm und daneben als Religionslehrer in der Volkschule tätig war. Schon im Dezem- ber 1899 wurde er in die Pfarre Staatz versetzt, wo er aufgrund des plötzlichen Todes des Pfar- rers im März 1902 auch ökonomische Aufgaben bekam. Obwohl er bei den Gemeindemitglie- dern trotz einer gewissen Distanziertheit sehr beliebt war, lehnte er die ihm angebotene Pfar- rersstelle ab, um sich seiner universitären Karriere zu widmen. Durch seine Versetzung nach Wien Leopoldstadt im Juni 1902 konnte er diese wieder intensiver verfolgen, hatte er doch schon während seiner Zeit in Niederösterreich seine Dissertation in Dogmatik verfasst.23 Unter dem Titel „Novissimae quae circumferentur sententiae de divinis processionibus inquiruntur et discutuntur“ („Untersuchungen und Erörterungen über die neuesten Meinungen zu den göttli- chen Prozessionen“) befasste sich der junge Gelehrte darin per Hand geschrieben auf Lateinisch mit der Trinitätslehre. Im November 1903 reichte er die Arbeit ein, seine Promotion zum Dok- tor der Theologie erfolgte am 18. Dezember 1903 in Wien.24

20 Vgl. Olechowski, Ignaz Seipel, 272. 21 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 8. 22 Ebd., 12. 23 Ebd., 14–20. 24 Das anscheinend einzige Exemplar dieser unveröffentlichten Dissertation befindet sich in der Fachbereichsbib- liothek der Katholischen und Evangelischen Theologie der Universität Wien. Vgl. Olechowski, Ignaz Seipel, 273, bes. Anm. 4. 12

Neben seinen Aufgaben als Kaplan unterrichtete der junge Priester ab Mai 1903 als Religi- onsprofessor am „k.k. Civil-Mädchenpensionat in Wien“, worüber er 1909 schrieb:

Ich hatte die allgemeine Absicht, die Schülerinnen das sakramentale und liturgische Leben der Kir- che so miterleben zu lassen, daß ihnen dieses fürderhin zur Befestigung ihres Glaubens und zur Vertiefung ihres sittlichen Strebens gereichen müßte.25

Auf Vorschlag von Prälat Franz Martin Schindler26, Professor für Moraltheologie an der Uni- versität Wien, der ihn als seinen Nachfolger im Auge hatte, schlug Seipel mit Beginn des Win- tersemesters 1904/05 eine wissenschaftliche Laufbahn ein und beschloss, sich für die Moralthe- ologie zu habilitieren. Er unterrichtete weiter am Mädchenpensionat, schied aber aus der Pfarr- seelsorge aus. In dieser Zeit war Seipel publizistisch rege tätig und veröffentlichte neben einer Vielzahl von Rezensionen vor allem im „Allgemeinen Literaturblatt“ der österreichischen Leo- Gesellschaft.27 In die Nähe dieser Gesellschaft kam Seipel durch Schindler. Dabei handelte es sich um eine 1892 u. a. von Prälat Schindler gegründete, nach Papst Leo XIII.28 (1878–1903) benannte Vereinigung von Gelehrten zur Pflege von Wissenschaft und Kunst im christlichen Geist. Die einflussreichsten Personen im katholischen Geistesleben trafen sich dort zu Vorträ- gen auf hohem Niveau.29 Heutzutage würde man die Leo-Gesellschaft wohl als Think-Tank des Katholizismus in Österreich bezeichnen.30 Durch Schindler wurde nicht nur Seipels wissenschaftlicher, sondern auch sein politischer Werdegang stark geprägt, denn durch ihn wurde sein Interesse an gesellschaftlichen und poli- tischen Fragen geweckt. Schindler vertrat einen sozialen Katholizismus, der sich den bestehen- den Verhältnissen anzupassen versuchte und der auf Reformen, nicht auf Revolution setzte.31 Wie sehr Schindler aber auch durch sein Priestertum für Seipel prägend war, zeigt sich in der Gedächtnisrede, die er anlässlich eines Trauerkommerses für seinen verehrten Vorgänger und Lehrer hielt. Darin betonte er, dass Schindler vor allem Priester war, dass er eine wahre Priesterseele gehabt habe, die seiner Meinung nach erst recht bei einem Priester erkannt werden

25 Seipel, Zyklus, 136. 26 Franz Martin Schindler (1847–1922), Dr. theol., 1887–1917 Professor für Moraltheologie an der Universität Wien, beschäftigte sich als Sozialpolitiker mit Fragen der Sozialordnung und begründete eine katholische Gesell- schaftsordnung, die auf Menschenwürde beruht. Er war in der christlichsozialen Bewegung engagiert und an der Erarbeitung eines christlichsozialen Programms beteiligt, gründete 1892 die Leo-Gesellschaft. Vgl. Binder, Schindler, 225–232. 27 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 23–25. 28 Leo XIII., Papst (1810–1903), bürgerlich Vincenzo Gioacchino Pecci, 1824–1832 Studium der Theologie am Collegium Romana, 1837 Priesterweihe, 1838–1841 päpstlicher Delegat in Benevent, danach in Perugia, Nuntius in Belgien, auf Wunsch des Königs wurde er aber wieder abberufen. 1846–1878 Bischof von Perugia, 1853 Kar- dinal, 1878 zum Papst gewählt, verfasste u. a. die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“. Vgl. Köhler, Leo XIII., 828f. 29 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 40. 30 Olechowski, Ignaz Seipel, 8. 31 Vgl. Reichhold, Ignaz Seipel, 8. 13

könnte, der nicht im seelsorglichen Bereich, sondern im öffentlichen Raum tätig wäre. Auch mit starken Schmerzen und durch eine Operation geschwächt, hätte Schindler in der Kranken- hauskapelle Eucharistie gefeiert. „Aus dem tiefen Glauben Franz Schindlers, aus dieser Wurzel echten Priestertums, ging sein ganzes übriges Leben und Walten hervor.“32 Auch wenn Seipel es nicht explizit gesagt hat, kann man aus diesen Worten in Verbindung mit den letzten Lebens- jahren Seipels, in denen auch er trotz starker körperlicher Einschränkungen täglich die Heilige Messe feierte, Schindler als Beispiel für sein Verständnis als Priester sehen. 1907 reichte Seipel an der Universität Wien seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“33 ein, in welcher er zeigen wollte, dass die christliche Ethik auf alle Zweige der Gesellschaft angewendet werden könne und müsse, auch wenn es keine direkt ökonomischen Lehren Christi gebe.34 Diese Schrift war der Beginn einer großen Anzahl an schriftstellerischen Werken, wie Artikeln, Schriften, Kommentaren, Gutach- ten, Vorträgen und Briefen, die Seipel verfasst hat.35

2.2 Universitätsprofessor in Salzburg

Im Jahr 1909 wurde Seipel im Alter von 32 Jahren als Professor für Moraltheologie an die Universität Salzburg berufen, wo er bis 1917 lehrte.36 In dieser Zeit knüpfte er zahlreiche Kon- takte zu kirchlichen und gesellschaftlichen Persönlichkeiten und war schriftstellerisch rege tä- tig. So kam er etwa in Kontakt mit Heinrich Lammasch37, einem international bekannten Straf- und Völkerrechtsexperten und Gelehrten, und gründete dort eine Zweigstelle der Leo-Gesell- schaft, „die bald zu einem geistigen Zentrum der Katholiken Salzburgs wurde“.38 In Salzburg entstand auch Seipels wissenschaftliches Hauptwerk, das 1916 erschienene „Na- tion und Staat“39, welches als dessen Antwort auf den Ersten Weltkrieg verstanden werden kann und dessen Stärke darin liegt, die katholische Soziallehre auf die mitteleuropäische Situation

32 Vgl. o. V.: „Trauerkommers für Hofrat Prälat Dr. Schindler. Eine Gedächtnisrede des Bundeskanzlers Dr. Sei- pel“, in: Reichspost (17.11.1922) 5f. 33 Seipel, Kirchenväter. 34 Vgl. ebd., 135. 35 Vgl. Reichhold, Ignaz Seipel, 9. 36 Siehe zum Wirken Seipels an der Universität Salzburg: Rinnerthaler, Universitätsverein. 37 (1853–1920), Dr. iur., Professor für Straf- und Völkerrecht, beriet die österr.-ungar. Ab- ordnung bei den Haager Friedenskonferenzen (1899, 1907), Mitglied und Präsident des Haager Schiedsgerichts, katholisch geprägt, setzte sich während des Ersten Weltkriegs stark für eine Friedenslösung mit Hilfe eines Völ- kerbundes ein, übernahm auf Wunsch Kaiser Karls die Regierungsgeschäfte von 25.10.1918 bis 11.11.1918, Mit- glied der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in St. Germain. Vgl. Köberl, Lammasch, 346–374. 38 Reichhold, Ignaz Seipel, 9. 39 Seipel, Nation und Staat. 14

anzuwenden. Das Hauptthema des Werkes ist der Entwurf einer Neuorganisation der Habsbur- germonarchie, der auf der Unterscheidung von Nation und Staat beruht. Seipel sah in der Viel- falt der Nationen einen Vorteil innerhalb eines Staatsgefüges und war von einer besonderen, historisch gewachsenen Rolle Österreichs in Mitteleuropa überzeugt. „Nation und Staat“ fasste Seipels Theologie und Staatswissenschaft zusammen und gab schon Einblicke in sein späteres politisches Denken. „Es war Bindeglied zwischen seiner vita contemplativa und seiner vita ac- tiva und blieb ihm die ganze Zeit über Wegweiser.“40 In der Zeit nach dem Erscheinen von „Nation und Staat“ setzte sich Seipel intensiv für eine Reichsreform und den Frieden ein und wurde immer mehr zu einer öffentlichen Person. Er fuhr immer häufiger nach Wien, um Vorträge zu diesen zu Themen halten. Er stand in Verbindung zur Vereinigung „Para Pacem“, die sich die Förderung des gegenseitigen Verstehens unter den Völkern zum Ziel gesetzt hatte. Außerdem traf er sich häufig mit einem Kreis um den Wiener Kaufmann Julius Meinl, Heinrich Lammasch und Josef Redlich41, die sich ebenfalls für den Frieden einsetzten. Allerdings ging er auch eigene Wege, was die Friedenspolitik betraf und arbeitete in Abgrenzung zur „Wiener Gruppe“ ein genuin katholisches Konzept aus. Für ihn war ein Modell, in dem die Völker selbst bestimmen konnten, keine Lösung für Mitteleuropa, da hier die unterschiedlichen Sprachen zu Konflikten führten. Selbstbestimmung würde zur Unterdrückung von Minderheitsrechten und nicht zu einer „Versöhnung der Nationen“ füh- ren.42 Obwohl Seipel selbst diese Zeit als seine „unpolitische“ bezeichnete,43 ist es in Wirklichkeit wohl nicht ganz so gewesen, denn gerade in Salzburg wurde sein Name bekannt, er hat seine Positionen gefunden und ist immer stärker in politische Kreise gekommen.

2.3 Anfänge in der Politik

Seipel wurde im Herbst 1917 zum Nachfolger Schindlers als Professor für Moraltheologie an der Universität Wien ernannt. In seinen Tagebüchern notierte er erstmals am 21. März 1916 dazu: „Im Gespräch überraschte er [Schindler] mich mit der Bemerkung, ‚Meine Wartezeit in Salzburg sei nun bald abgelaufen‘. Er nimmt meine Nachfolgerschaft als völlig sicher an.“44

40 Klemperer, Ignaz Seipel, 53–61. 41 Josef Redlich (1869–1936) Dr. iur., 1907 ao. Professor für Staatsrecht und Verwaltungslehre an der Universität Wien, 1909–1918 Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien, 1907– 1918 Reichsratsabgeordneter, 1918 Finanzminister im Kabinett Lammasch, 1931 für einige Monate Finanzminis- ter. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 378. 42 Klemperer, Ignaz Seipel, 61–63. Vgl. zu Seipels Friedenskonzept seinen Beitrag „Wege und Irrwege in der Weltfriedensfrage“, in: Reichspost (27.05.1917) 3f. 43 Seipel, Kampf, 7. 44 Tagebücher, 21.03.1916. 15

Am 6. Juni 1917 hielt er fest, dass das Professorenkollegium seine Berufung „unisono und unico loco“ beschlossen hat,45 womit einer Übersiedelung nach Wien nichts mehr im Weg stand. Da- mit erfüllte sich endlich seine stille Hoffnung, die er während seiner gesamten Zeit in Salzburg gehabt hatte.46 Dieser Umzug in die Reichshauptstadt ließ Seipel somit mehr ins Innere der Macht und damit ins Rampenlicht rücken, und für seine Bekannten war offensichtlich, dass er zu etwas Größerem berufen war.47 Schon in Salzburg hatte er, wie bereits erwähnt, eine Freundschaft mit Heinrich Lammasch gepflegt. Der überzeugte Pazifist Lammasch gehörte neben Schindler zu den einflussreichsten Personen im Leben Seipels, und durch ihn kam der Priester schließlich in die Politik. Lammasch übernahm am 27. Oktober 1918 die Staatsgeschäfte, zu diesem Zeitpunkt herrschte noch Kaiser Karl (1916–1918)48, aber die Monarchie lag gewissermaßen schon in ihren letzten Zügen. Die Presse sprach daher von einem „Liquidationsministerium“49, was bedeutete, dass diese Regie- rung nur noch die Exekution des Habsburgerreiches zur Aufgabe hatte. In diesem letzten kai- serlichen Kabinett war Seipel Minister für soziale Fürsorge. Nicht ohne Stolz notierte er am 16. Oktober 1918 in sein Tagebuch: „[...] Lammasch wurde von Hussarek der Eintritt in sein Kabinett angeboten, machte aber u. a. meine Berufung zum Minister für soziale Fürsorge zur Bedingung [...]“.50 Am 22. Oktober ging Seipel zu Piffl, um sich mit ihm über das Angebot Hussareks zu un- terhalten. Der Kardinal gab ihm seine Zustimmung.51 In einer privaten Audienz wies der Kaiser Seipel darauf hin, „er sei der erste Geistliche, der als österreichischer Minister amtieren sollte, und ermahnte ihn, sein Amt mit starker Hand zu führen, damit nicht jene, die der Geistlichkeit übel wollten, die Oberhand bekämen“.52 Interessanterweise sah Seipel selbst seine Tätigkeit in der Regierung nicht als letzten Akt vor einer Auflösung Österreichs. Aus dem Manuskript einer Rede, die er wahrscheinlich bei Amtsantritt vor den Beamten seines Ressorts gehalten hat, kann man herauslesen, dass er noch

45 Vgl. ebd., 06.06.1917. 46 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 99. 47 Vgl. Klemperer, Ignaz Seipel, 66f. 48 Karl I. von Habsburg-Lothringen (1887–1922), 1916–1918 letzter Kaiser von Österreich, Offizierslaufbahn, 1911 Vermählung mit Zita von Bourbon-Parma. Nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo wurde Karl Thronfolger, mit dem Tod von Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916 wurde er Kaiser. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Habsburgermonarchie verzichtete Karl auf Druck der Regierung „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ und ging ins Exil in die Schweiz. Nach seinem Versuch in Ungarn wieder an die Macht zu kommen, wurde er nach Madeira verbannt, wo er 1922 nach einer Lungenentzün- dung verstarb. 2004 wurde er seliggesprochen. Vgl. Leslie, Karl, 227–230. 49 O. V.: „Ein Ministerium Lammasch. Bevorstehender Rücktritt des Freiherrn v. Hussarek“, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt (26.10.1918) 1. 50 Tagebücher, 16.10.1918. 51 Vgl. Tagebücher, 22.10.1918; Krexner, Piffl, 196. 52 Ebd., 28.10.1918. 16

an die Lebensfähigkeit des Landes geglaubt hat. Sein Ziel war es, die Lebenskraft Österreichs neu zu erweisen. Doch angesichts der militärischen Bedrängungen, in welche das Land immer mehr geriet, musste auch Seipel bald erkennen, dass ein Festhalten an der Monarchie aussichts- los schien.53 Er wirkte schließlich als kaiserlicher Minister noch an der Verzichtserklärung Karls mit und war damit daran beteiligt, dass es zu keinem blutigen Übergang von der Monar- chie zur Republik kam. In der Literatur wird der wichtige Satz in der Verzichtserklärung des Kaisers, dass er auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften verzichtete, weitgehend Seipel zuge- schrieben.54 Mit Seipels Entlassung aus dem kaiserlichen Dienst am 11. November 1918 – dem Tag der kaiserlichen Verzichtserklärung – war die Verleihung der Würde eines Geheimen Rats und eine Pension verbunden, durch welche er lebenslang finanziell abgesichert war.55 An diesem Tag notierte er im Tagebuch „Sehr gedrückter Stimmung und sehr müde. Zweifel, ob ich wieder und ob ich sofort zur Professur zurückkehren soll.“56 Doch wie sich später herausstellen sollte, waren jene Novembertage nicht das Ende, sondern geradezu der Anfang von Seipels politischer Karriere. Diese Karriere vollzog sich im Rahmen der christlichsozialen Partei, zu deren Leitung er schon seit längerem gute Kontakte hatte. Während seiner kurzen Ministerschaft in der Regie- rung Lammasch hatte Seipel der katholischen Tageszeitung „Reichspost“ ein Interview gege- ben, in dem er sich ausdrücklich als Christlichsozialer bezeichnet hatte, wenn er auch betont hatte, dass er nicht „Mandatar“ der Partei in der Regierung sei.57 Innerhalb kürzester Zeit ge- hörte er aber zur Führung der Partei. Er wirkte an Wahl- und Parteiprogrammen mit, wurde als christlichsozialer Abgeordneter in die Konstituierende Nationalversammlung gewählt, war dort Mitglied im Hauptausschuss, Mitglied des Verfassungsausschusses und neben Otto Bauer58 Vi- zepräsident der Sozialisierungskommission. Ihm kommt neben 59 und Johann Nepomuk Hauser das Verdienst zu, die Partei vor einer Spaltung zu bewahren, da er diese durch

53 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 147–153. 54 Vgl. etwa ebd., 153; Klemperer, Ignaz Seipel, 80, bes. die in Anm. 55 angeführte Literatur; Liebmann, Entschei- dung, 172; Schausberger, Ignaz Seipel, 354; Hanisch, Schatten, 266. 55 Vgl. Klemperer, Ignaz Seipel, 82. 56 Tagebücher, 11.11.1918. 57 O. V.: „Die Richtlinien der Regierung Lammasch. Eine Unterredung mit Minister Dr. Ignaz Seipel“, in: Reichs- post (29.10.1918) 3. 58 Otto Bauer (1882–1938), Dr. iur., sozialdemokratischer Politiker, von November 1918 bis Juli 1919 Staatssek- retär des Auswärtigen Amtes, ab 1907 Redakteur der Arbeiter-Zeitung, 1920–1934 Abgeordneter zum Nationalrat, Theoretiker und Wortführer des Austromarxismus. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 31. 59 Jodok Fink (1853–1929), geb. in Andelsbuch/Vlbg. als Bauernsohn, ab 1897 Mitglied im Reichsrat, 1918 einer der Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, 1919–1920 Vizekanzler, ab 1922 Obmann des Klubs der Christlichsozialen im Parlament. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 111. 17

seine geistige Autorität in die republikanische Zukunft führte. Die logische Konsequenz all die- ser Fakten ist, dass Seipel am 9. Juni 1921 zum Obmann der christlichsozialen Partei gewählt wurde und diese Position bis 1930 innehatte.60

2.4 Seipel als Bundeskanzler

Von 1920 bis 1932 war Seipel Mitglied des Nationalrats und vom 31. Mai 1922 bis 20. No- vember 1924 schließlich erstmals Bundeskanzler.61 Zwischen 1918 und 1934 gab es 24 Regie- rungen, die im Durchschnitt weniger als acht Monate Bestand hatten. Es zeigt sich, dass Kabi- nette mit großen parlamentarischen Mehrheiten länger im Amt waren als solche mit geringen Mehrheiten. Auch die verschiedenen Regierungsvarianten vor Seipels erstem Amtsantritt schei- terten an mangelnder parlamentarischer Unterstützung, weswegen Seipel seine Regierung auf eine breitere parlamentarische Basis zu stellen versuchte, indem er eine Koalition mit der Groß- deutschen Partei einging.62 Sein Regierungsstil war geprägt von seinem persönlichen Glauben an die Lebensfähigkeit des Landes Österreich, das in den Jahren nach dem Krieg erst sein Selbstverständnis suchen musste und an sich selbst zweifelte.63 Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren ökonomisch schwierige für die neu gegründete Republik Deutsch-Österreich. Die Produktion musste allmählich belebt werden, das Budgetde- fizit wuchs, die Handelsbilanz war unausgeglichen, die Geldmenge nahm rapide zu und der Kurs der Krone fiel ab 1919 unaufhaltsam. Das Land stand am Rande seiner Existenz. In dieser nahezu aussichtslosen Situation schaffte es Seipel, den Großmächten die Wichtigkeit der öster- reichischen Lage für ganz Europa klarzumachen und fuhr Anfang September 1922 persönlich nach Genf, wo er vor dem Rat des Völkerbunds eine Rede hielt und so eine Völkerbundanleihe in Genf aushandeln konnte („Genfer Protokolle“), mit deren Hilfe er die Sanierung der öster- reichischen Staatsfinanzen zustande brachte. Das Ende der Inflation wurde schließlich durch einen strengen Sparkurs und durch die Einführung der Schilling-Währung 1924 erreicht. Durch diese Sanierungsaktion wurde zwar das Schlimmste verhindert, die Volkswirtschaft wurde dadurch nicht saniert.64 Treffend schreibt Walter Goldinger:

„Die Tragik im Sanierungswerk Seipels liegt darin, daß es Stückwerk blieb, daß es wohl gelang, die Währung zu stabilisieren und damit die Voraussetzungen für den Wiederaufbau zu schaffen, eine

60 Vgl. Reichhold, Christlichsoziale Partei, 252. 61 Vgl. Parlamentsdirektion, Biographisches Handbuch, 545f. 62 Vgl. Müller/Philipp/Steininger, Regierung, 80f. 63 Vgl. Reichhold, Ignaz Seipel, 12f. 64 Iber, Währung und Staatsfinanzen, 57; 62.; Kernbauer/März/Weber, Wirtschaftliche Entwicklung, 343–348; 356. 18

Sanierung der Volkswirtschaft im Grunde aber nicht erreicht wurde […]. Denn nicht nur das Prob- lem der Arbeitslosigkeit, mit dem Österreich nicht fertig werden konnte, ist wenigstens teilweise als eine Folge der Sanierung anzusehen, auch die gefährliche Verkrampfung der innerpolitischen Ver- hältnisse läßt sich bis zu einem gewissen Grad daher ableiten.“65

Doch mit dem strengen Sparkurs, der mit der Sanierung eingeschlagen werden musste und dem Vorrang, den Seipel der Wirtschaftspolitik vor der Sozialpolitik einräumte, schuf er sich auch Feinde. Vor allem die sozialdemokratische Partei, die sich in Opposition befand und die Genfer Protokolle ablehnte, attackierte Seipels Politik heftig. Sie lehnte einen österreichischen Staat ab und wollte den Anschluss an Deutschland, was durch die Genfer Protokolle aber nicht möglich war. Diese Gegensätze manifestierten sich in persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Seipel und dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten Otto Bauer, deren Beziehung zwar von gegenseitiger Hochachtung erfüllt war, die aber in religiösen, weltanschaulichen und gesell- schaftlichen Fragen Gegner waren.66 Trotz vieler Meinungsverschiedenheiten würdigte Bauer den verstorbenen Prälaten in seinem Nachruf als den „einzige[n] Staatsmann europäischen For- mats, den die bürgerlichen Parteien der Republik hervorgebracht haben“.67 Die starke Ablehnung des Priesterkanzlers durch die Sozialdemokraten begann aber schon Jahre zuvor, bereits einen Tag nach seinem Amtsantritt schrieb die Arbeiter-Zeitung am 1. Juni 1922:

Daß ein Professor der Theologie, ein Prälat, ein Protonotarius des Papstes heute zum Kanzler der Republik gewählt wurde, wirkt wie ein Symbol: die Bourgeoisie, vor dem Ansturm des Proletariats zitternd, versteckt sich hinter Kutten. […] Wenn aber die Prälatenregierung es wagen sollte, unsere republikanischen Institutionen zu gefährden, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklassen an- zugreifen, die Schule des Volkes anzugreifen, dann freilich wird sie auf unseren entschlossensten Widerstand stoßen. Daß ein römischer Prälat Kanzler ist, ist eine Schande unseres Bürgertums.68

Ein Lied gegen Seipel, das vor allem von jungen Sozialdemokraten zu Beginn der 1920er Jahre nach der Melodie eines Studentenlieds gesungen wurde, lautete:

Und an die Gaslatern, Und an die Gaslatern, Da hängen wir die hohen Herrn. Ja, ja, die hohen Herrn, An eine Gaslatern!

Und wer wird der erste sein

65 Vgl. Goldinger, Ablauf, 130. 66 Vgl. Katholische Sozialakademie Österreichs, Spezialkurs, 13f. 67 O. V.: „Ignaz Seipel“, in: Arbeiter-Zeitung (03.08.1932) 3. 68 O. V.: „Die Prälatenregierung“, in: Arbeiter-Zeitung (01.06.1922) 1. 19

Wer wird der erste sein? Das wird der Herr von Seipel sein, Ja, ja, Seipel sein, Das wird Herr Seipel sein!69

Diese Gegensätze wurden auf die Straße hinausgetragen, von der Presse weiter verstärkt und die Stimmung unter den Menschen war so aufgeheizt, dass keine sachliche Diskussion mehr möglich war. In dieses Klima kann das Attentat auf Ignaz Seipel vom 1. Juni 1924 eingeordnet werden. Der verarmte Einzelgänger Karl Jaworek, der dem Kanzler die Schuld an der schlech- ten sozialen Situation seiner Familie gab, schoss am Südbahnhof auf Seipel, der durch einen Lungenschuss schwer verletzt wurde und drei Monate lang rekonvaleszent war.70 Obwohl man die Sozialdemokraten nicht für das Attentat verantwortlich machen kann, trug ihre Hetze wohl trotzdem zu diesem bei und Seipel fand von diesem Zeitpunkt an keine Brücke mehr zu ihnen.71 Auf Anregung von wurden nach dem Attentat auf den Priesterkanzler Spenden gesammelt, die ihm nach seiner Genesung als „Dr. Seipel-Sühnegabe“ übergeben wur- den. Sozial schwache Menschen konnten sich um Unterstützung bewerben, die Verteilung des Geldes übernahm die von Burjan gegründete Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis.72 Laut Blüml bewarb sich auch die Gattin des Attentäters Jaworek um Unterstützung für sich und ihre Kinder, woraufhin ihr monatlich eine Geldsumme für die Zeit ihrer Armut gewährt wurde.73 Aufgrund der mit vielen Widerständen verbundenen Sanierung der Staatsfinanzen, der ho- hen Arbeitsbelastung und des durch das Attentat geschwächten gesundheitlichen Zustandes de- missionierte Seipel im November 1924 als Kanzler, blieb jedoch Obmann des christlichsozialen Abgeordnetenklubs. Klemperer ist der Ansicht, dass er durch eine Pause von der Regierungs- arbeit den Weg zu einer wirkträchtigen Rückkehr ebnen wollte.74 Über das (vorläufige) Ende seiner Kanzlerschaft notierte der Priesterpolitiker am 6. November 1924 „Besprechungen über eventuelle Demission“ und am folgenden Tag lediglich „Demission der Regierung“.75 In der folgenden Zeit unternahm er etliche Vortragsreisen durch Europa und auch in die Vereinigten Staaten, blieb mit den politischen Verantwortungsträgern in Österreich aber trotzdem weiterhin in engem Kontakt.76

69 Zit. nach Kunschak, Österreich 1918–1934, 80. 70 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 402f.; 408. 71 Vgl. Katholische Sozialakademie Österreichs, Spezialkurs, 16. 72 Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 266f. 73 Vgl. Blüml, Prälat Seipel, 71. 74 Vgl. Klemperer, 202–204. 75 Tagebücher, 06./07.11.1924. 76 Vgl. Klemperer, Ignaz Seipel, 204f. 20

Ende 1926 übernahm Seipel wieder die Regierungsgeschäfte als Bundeskanzler und betrieb eine strenge Politik, um die Sicherheit der Währung weiterhin zu gewährleisten. Dies ver- schärfte allerdings die sozialen Spannungen weiter und die Streitereien mit der Opposition wur- den heftiger.77 In diese Zeit fielen die Unruhen des Jahres 1927. Am 30. Jänner 1927 war es im burgenlän- dischen Schattendorf zu einem Zwischenfall beim Aufmarsch von Republikanischem Schutz- bund und Frontkämpfern gekommen. Dabei wurden ein Angehöriger des Schutzbundes sowie das Kind eines Arbeiters erschossen und acht Personen wurden verletzt. In den Monaten bis zum Beginn des Prozesses gegen die Schützen wurden die Emotionen durch die Medien ge- schürt. In diese vergiftete Atmosphäre platzte der Freispruch der Angeklagten durch ein Ge- schworenengericht.78 Die darauffolgenden Aufstände der aufgebrachten Arbeiter am 15. Juli 1927 trafen die sozi- aldemokratische Parteiführung völlig unvorbereitet und sie war daher auch nicht in der Lage, die Situation zu beruhigen. Der Höhepunkt dieser Tumulte war der Brand des Justizpalastes. Nach Rücksprache mit Seipel bewaffnete der Wiener Polizeipräsident Schober79 die Exekutive mit Gewehren und ließ die Revolte mit Waffengewalt niederschlagen. Über 80 Demonstranten und fünf Polizisten verloren dabei ihr Leben.80 Es folgte eine von den Sozialdemokraten unterstützte Hetzkampagne und die Kirche wurde von regelrechten Massenaustritten erschüttert. Seipel ging zwar politisch als Sieger hervor, in- dem er die Autorität des Staates wiederherstellte und Herr der Lage blieb, er wurde aber als „Prälat ohne Milde“ diffamiert.81 Das Spannungsfeld, in das Seipel durch diese Revolten geriet, wird genauer in Kapitel 5.3 erörtert.

2.5 Letzte Lebensjahre

Am 3. April 1929 erklärte Bundeskanzler Seipel mit den Worten „Entscheidet! Ich bin kein Hindernis!“ überraschend seinen Rücktritt.82 Über die Gründe dafür wurde viel spekuliert, aus- schlaggebend waren wohl die Nachwirkungen des 15. Juli 1927, so wies er etwa auf „innere

77 Vgl. Katholische Sozialakademie Österreichs, Spezialkurs, 17f. 78 Vgl. Botz, Schattendorfer Zusammenstoß, 21–29. 79 (1874–1932), geb. Perg/OÖ, 1894–1898 Studium der Rechtswissenschaften an der Universi- tät Wien, ab 1898 bei der Wiener Polizei tätig, ab 1918 Wiener Polizeipräsident, Juni 1921 bis Mai 1922 als Parteiunabhängiger Kanzler einer Beamtenregierung, 1929 wieder Bundeskanzler und Gestalter der Verfassungs- reform, September 1930 Demission, ab Dezember 1930 Vizekanzler und Außenminister. Vgl. Ackerl/Weissen- steiner, Personenlexikon, 426. 80 Vgl. Botz, 15. Juli 1927. 81 Vgl. Olechowski, Ignaz Seipel, 277. 82 O. V.: „Rücktritt des Bundeskanzlers Dr. Seipel“, in: Reichspost (04.04.1929) 1f. 21

Spannungen“ hin, die „ein hohes Maß erreicht hätten“.83 Aber auch sein immer schlechter wer- dender Gesundheitszustand spielte eine Rolle. Seipel litt schon lange an schwerer Diabetes und an Tuberkulose und das Attentat von 1924 hatte Verwundungen in der Lunge hinterlassen.84 Abgesehen von einer kurzen zweimonatigen Phase 1930, in der er Außenminister in der Regierung Vaugoin85 war, nahm er von nun an politisch nur noch indirekt Einfluss, so etwa in Vorträgen zum Wesen der Demokratie und mit seinem Werk „Der Kampf um die österreichi- sche Verfassung“.86 Darin bereitete er eine Verfassungsreform vor; es war ihm dabei wichtig, das Amt des Bundespräsidenten aufzuwerten und die einzubeziehen87. Als Ende 1929 das neue Bundesverfassungsgesetz promulgiert wurde, waren viele Gedanken Seipels da- rin zu finden und sind es heute noch. Er strebte selbst das Amt des Bundespräsidenten an, allerdings blieb ihm das verwehrt, weil sich die christlichsoziale Partei in einer Abstimmung für Wilhelm Miklas88 als ihren Kandida- ten und gegen Seipel entschied. Aufgrund der schwierigen innenpolitischen Lage gab es nicht wie vorgesehen eine Volkswahl, sondern Miklas wurde durch die Bundesversammlung ge- wählt.89 Seipel sah dieses Vorgehen als „sonderbares Ereignis“ und „hielt es für nicht recht, dass es so weit gekommen ist, und zwar vom Gesichtspunkte des Staatsganzen aus“.90 Nach der Pleite der Österreichischen Creditanstalt im Juni 1931 ließ sich Seipel von Bun- despräsident Miklas dazu überreden, in Regierungsverhandlungen mit den Sozialdemokraten einzutreten, mit dem Plan, dass er selbst noch einmal Bundeskanzler und Otto Bauer Vizekanz- ler werden sollte. Obwohl er die Hand weit entgegenstreckte, lehnten die Sozialdemokraten, für die Seipel das größte Feindbild darstellte, sein Angebot ab, was für den schon schwer kranken Priesterpolitiker eine große Demütigung war.91 Noch Jahrzehnte später wurde diese Ablehnung

83 Klemperer, Ignaz Seipel, 276f. und Ackerl/Neck, Protokolle, 707f. 84 Vgl. Katholische Sozialakademie Österreichs, Spezialkurs, 23. 85 (1873–1949), Berufsoffizier, 1912–1920 christlichsozialer Abgeordneter im Wiener Gemeinde- rat, 1920–1934 Nationalratsabgeordneter, 1921 und 1922–1933 Heeres- bzw. Landesverteidigungsminister, ab September 1929 Vizekanzler, von Ende September bis Anfang Dezember 1930 Bundeskanzler in einer Minder- heitsregierung, 1930–1934 Bundesparteiobmann der christlichsozialen Partei, 1938 inhaftiert, 1939 krankheitshal- ber entlassen. Vgl. Staudinger, Vaugoin, 148–158. 86 Seipel, Kampf. 87 Vgl. ebd., 23. 88 Wilhelm Miklas (1872–1956), Dr. phil., ab 1907 Abgeordneter im Reichsrat, Mitglied der christlichsozialen Partei, 1918 Mitglied des Staatsrates, 1919 Unterstaatssekretär für Kultur im Kabinett Renner, 1923–1928 Präsi- dent des Nationalrates, 1928 durch die Bundesversammlung zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt. In seiner zweiten Amtsperiode trat er nach dem Einmarsch deutscher Truppen und auf Druck Hitler-Deutschlands im März 1938 zurück. Vgl. Homepage der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, http://www.bundespraesi- dent.at/historisches/bisherige-amtsinhaber/wilhelm-miklas-1872-1956/ (abgerufen am 28.05.2018). 89 Vgl. Klemperer, Ignaz Seipel, 323. 90 O. V.: „Seipel über die Bundespräsidentenwahl. Kritik an der Verlegung in die Bundesversammlung“, in: Salz- burger Chronik (12.10.1931) 2. 91 Vgl. Reimann, Zu groß, 161–164. 22

von den Sozialdemokraten selbst in Kenntnis der darauf folgenden Geschichtsereignissen als Fehler gewertet.92 Mit dem Erscheinen der Enzyklika „Quadragesimo anno“ am 15. Mai 1931 von Papst Pius XI. fühlte sich Seipel nochmals angespornt. Die Enzyklika sah eine berufliche Ordnung als Heilmittel der modernen Gesellschaft und wandte sich gegen Individualismus, übereifrigen Liberalismus und ungehemmte Konkurrenzfreiheit. Sie lehnte den Sozialismus in jeder Erschei- nungsform als unchristlich ab und sah das Ziel in der Wiederherstellung einer sittlichen Ord- nung in christlicher Harmonie. Seipel setzte sich intensiv dafür ein, dass der Ständegedanke verwirklicht werde und hielt Vorträge zu diesem Thema.93 Wenige Tage vor seinem Tod sagte er noch, dass seine letzte große Aufgabe die Verbreitung der Ideen aus „Quadragesimo anno“ gewesen wäre, was er erfolgreich gemacht habe:

Noch eine große Aufgabe hatte ich zu erfüllen: der sozialen Idee des Heiligen Vaters, wie sie in Quadragesimo Anno formuliert ist, musste ich in Österreich zum Durchbruch verhelfen. Und das ist geschehen. Damit aber waren auch meine letzten Kräfte ausgeschöpft und der Schlusspunkt meiner Lebensarbeit gesetzt. Wie ausgerechnet!94

Zu Beginn des Jahres 1932 wurde Seipels Gesundheitszustand radikal schlechter, er ließ sich aber nicht davon abhalten, am 13. März zu einer Mittelmeerreise aufzubrechen, die ihn von Triest über Griechenland, Ägypten bis ins Heilige Land führte.95 Am 21. April kehrte er zum Begräbnis Piffls nach Wien zurück – stark gezeichnet von der anstrengenden Reise. Nach einem Kuraufenthalt am Semmering kam er am 4. Juli in das Wienerwald-Sanatorium nach Pernitz, wo er am 2. August 1932 verstarb.96 Sein Leichnam wurde im Militärcasino am Schwarzenbergplatz aufgebahrt, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung fand am 5. August das Begräbnis statt. Alle Größen des Staates nahmen daran teil, der Trauerzug bewegte sich zum Stephansdom, wo das Requiem vom Apos- tolischen Nuntius Enrico Sibilia97 gefeiert wurde. Danach wurde der Sarg über den Ring, vorbei am Parlament und über die Landstraßer Hauptstraße auf den Zentralfriedhof geleitet, wo der Prälat vorerst beigesetzt wurde.98

92 Vgl. Liebmann, Kirche und Politik, 197. 93 Vgl. Klemperer, Ignaz Seipel, 330f. 94 Zit. nach Katholische Sozialakademie Österreichs, Spezialkurs, 30f. 95 Vgl. Reisetagebücher. 96 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 108–111. 97 Enrico Sibilia (1861–1948), geb. in Anagni, 1884 Priesterweihe, im diplomatischen Dienst in Kolumbien, Bra- silien und Spanien, 1908–1913 Apostolischer Delegat in , 1908 Bischofsweihe in Rom, 1916–1922 Vikar des Erzpriesters der Basilika von S. Maria Maggiore, 1922 Nuntius in Österreich, 1935 zum Kardinalpriester er- nannt, 1944 Protektor des Collegio Teutonico und der Kirche dell’ Anima. Vgl. Squicciarini, Apostolische Nun- tien, 303f.; 306. 98 Vgl. o. V.: „Der Weg zur letzten Ruhestätte“, in: Reichspost (06.08.1932) 4. 23

Eine seiner engsten Vertrauten Hildegard Burjan, mit der er zusammen die Caritas Socialis gegründet hatte, initiierte nach Seipels Tod den Bau einer Gedächtniskirche für den langjähri- gen Kanzler, welche im fünfzehnten Wiener Bezirk, unweit von Seipels Geburtshaus in der Märzstraße, errichtet wurde.99 Burjan, die sich persönlich sehr dafür einsetzte und Spenden sammelte, erlebte die Grundsteinlegung nicht mehr. An die schlicht gehaltene Kirche wurde ein Fürsorgehaus angebaut, Kanzler Dollfuß100 begleitete den Bau und als dieser ermordet wurde, beschloss das Baukomitee, auch ihn in der Kirche zu bestatten. Am 29. September 1934 wurde der „Seipel-Dollfuß-Gedächtnisbau“ eingeweiht und die Särge der beiden ehemaligen Bundeskanzler in die Krypta gebracht.101 1938 ließen die Nationalsozialisten den Sarkophag Seipels zurück auf den Zentralfriedhof bringen, jenen von Dollfuß auf den Hietzinger Friedhof. Die Kirche ist heute die Christus-König-Pfarrkirche in Neufünfhaus.102

99 Näheres zu Hildegard Burjan und der Caritas Socialis siehe Kapitel 4.5.2. 100 Engelbert Dollfuß (1892–1934), geb. in Texing/NÖ, Studium der Rechtswissenschaften in Wien und Berlin, Dr. iur., nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg Sekretär des Niederösterreichischen Bauernbundes, 1927 Direktor der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer, 1931 Minister für Land- und Forstwirtschaft, 1932–1934 Bundeskanzler und Außenminister. Er schaltete im März 1933 das Parlament aus, 1933 Verbot der NSDAP, der kommunistischen Partei und des Republikanischen Schutzbunds, 1934 nach den Februarkämpfen auch Verbot der sozialdemokratischen Partei. Er regierte mit Notverordnungen und schuf mit Ausnahmegesetzen 1934 einen auto- ritären Ständestaat, 1934 Abschluss des Konkordats und Ermordung durch Nationalsozialisten beim Juliputsch. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 83f. 101 Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 269–273. 102 Vgl. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Seipel-Dollfu%C3%9F-Ged%C3%A4chtniskirche (abgerufen am 03.12.2018). 24

3. SEIPEL UND POLITIK

3.1 Selbstverständnis als Politiker

Wie der Priester Seipel seine Sendung zum Politiker sah, erkennt man schon an seiner Regie- rungserklärung vor dem Parlament am 31. Mai 1922, als er sich als Bundeskanzler vorstellte und seine politische Tätigkeit als Berufung von Gott sah:

Wenn ich es heute nicht abgelehnt habe, dieses Amt zu übernehmen, so tat ich es, weil auch ich es nicht wagte. […] Aber Gott hat mich eben auf diesen Platz geführt. Auf ihn vertraue ich, daß es mir im Verein mit meinen Ministerkollegen vergönnt sein werde, dem Vaterlande doch ein wenig zu nützen.103

Seipel hat seine Arbeit für Volk und Staat als „Gottesdienst“ gesehen und bezeichnete sich daher oft als „Diener des Staates“.104 So etwa in einer Predigt in der Stiftskirche am 12. No- vember 1925: „Unsere Liebe zum Vaterland lebt in unseren Herzen, sie ist begründet in unse- rem Glauben, daß Gott es will, daß wir diesem Lande dienen.“105 Diesen Dienst sah er als von Gott gewollt, in besonderen Situationen sei der Priester sogar von Gott dazu berufen, direkt an der Führung des Staates mitzuwirken. Dies leitete Seipel in einer auf der Herbsttagung des Katholischen Akademikerverbandes am 1. September 1930 ge- haltenen Rede von den Kirchenlehrern Ambrosius von Mailand 106 und Augustinus von Hippo107 ab, die beide in einer Notsituation politische Aufgaben übernommen hatten. Wenn der Staat in guter Verfassung ist, würden Beamte und Politiker genügen und wenn die Zeiten schwieriger werden, werden auch zuerst diese in Betracht gezogen, die Geschicke des Staates zu leiten. „Aber die Völker sind nicht auf sie angewiesen. Staatsmann ist schließlich jener, der weiß, was der Staat ist und was er braucht, und der dieses sein Wissen siegreich zur Geltung zu bringen vermag.“108 Der Kirchenlehrer Ambrosius rief bei Seipel besonderes Interesse hervor, in einem Aufsatz von 1913 würdigte er diesen eingehend.109 Man kann davon ausgehen, dass Seipels besondere Vorliebe für diese Persönlichkeit an der Arbeit bei seiner bereits erwähnten Dissertation über

103 Geßl, Seipels Reden, 18. 104 Blüml, Prälat Seipel, 185f. 105 Geßl, Seipels Reden, 274. 106 Ambrosius von Mailand (333/334–397), geb. in Trier, nach dem Tod des Vaters nach Rom, Beamtenkarriere, Statthalter in Mailand, überraschende Wahl zum Bischof, erst danach getauft, Konflikte mit dem Kaiser, setzte sich für den nizänischen Glauben ein. Vgl. Markschies, Ambrosius. 107 Augustinus von Hippo (354–430), geb. in Thagaste/Numidien, stand den Manichäern nahe, umfassende Studien in Hippo, in Mailand Rhetoriklehrer, 386 Konversion, 391 Priesterweihe, 395 Bischofsweihe, 397 verfasste er Klosterregeln, Auseinandersetzungen mit Donatisten und dem Pelagianismus. Vgl. Geerlings, Augustinus. 108 Vgl. Seipel, Christliche Staatsmann, 21f. 109 Vgl. Ders., Ambrosius von Mailand. 25

die Kirchenväter begonnen hat. Er bewunderte an Ambrosius, dass dieser es schaffte, unverein- bare Elemente, wie die verschiedenen Interessen von Kirche und Staat, miteinander in Einklang zu bringen und dass dieser sowohl als Bischof und somit als kirchlicher Amtsträger als auch als Politiker, nämlich als Präfekt, erfolgreich war.110 Gegen Ende seines Lebens bezeichnete Seipel Ambrosius sogar als „de[n] erste[n] Staatsmann unter den Kirchenvätern“.111 Seipel war von der Zeit, in der Ambrosius wirkte, fasziniert, vom Römischen Reich im All- gemeinen, aber besonders vom 4. Jahrhundert, da er das Edikt von Mailand des Jahres 313112 als bedeutsam für Europa sah. Denn durch die Erlaubnis, dass jede/r seine Religion ausüben darf, seien christliche Kultur, Werte und Vorstellungen ins Reich gekommen. Für Seipel ent- sprang dies dem göttlichen Willen, Europa mit dem Christentum zu verbinden.113 Es war dem Priesterpolitiker wichtig, dass seine Fehler als Politiker nicht der Kirche ange- lastet werden. Dies erklärte er im Oktober 1918, kurz nachdem er als Minister im kaiserlichen Kabinett angelobt worden war:

Ich bin nicht als Geistlicher, d. h. weil ich Geistlicher bin, oder als Vertreter der katholischen Kirche in die Regierung berufen worden […] Alles, was ich als Minister tue oder spreche, geschieht natür- lich auf meine eigene Gefahr und es wäre unrecht, für die Fehler, die ich etwa begehen werde, die katholische Kirche oder ihre berufenen Vertreter mitverantwortlich zu machen.114

So sehr Seipel ganz und gar Priester und gleichzeitig ganz und gar Politiker war, fühlte er sich „als Politiker irgendwie in einer katholischen, priesterlichen Aufgabe stehend.“115 So bezeich- nete er sich einmal in einem Brief als „politischen Führer des katholischen Volkes in Öster- reich“.116 Die „Sanierung der Seelen“ war für den Priester Seipel, dem von Gott eine politische Mission erteilt wurde, ein politischer Programmpunkt.117 Diese berühmt gewordene Formulie- rung geht auf eine Rede des Prälaten vom 16. Jänner 1924 in der Hauptversammlung des christ- lichsozialen Vereins Josefstadt zurück, wo er darauf einging, dass er sich nach der Wahl eine andere Art des Redens angeeignet habe:

Ich rede nicht mehr so oft über rein politische Fragen, sondern mehr über Fragen der Moral und der Gesellschaftsordnung. Damit kommt in mir, ich gebe es zu, etwas zum Vorschein, das nicht ganz

110 Vgl. Boyer, Karl Lueger, 423. 111 Seipel, Christliche Staatsmann, 8. 112 Das sogenannte Toleranzedikt von Mailand schuf die rechtliche Grundlage für die freie Glaubensentscheidung im gesamten Römischen Reich. Damit wurde die Staatsreligion abgeschafft und jedem, nicht nur Christinnen und Christen, wurde die freie Ausübung ihrer Religion erlaubt. Vgl. Kranjc, Toleranz, 68f. 113 Vgl. den Artikel von Seipel, Edikt von Mailand, 3 (6./7. Juli 1913). 114 Zit. nach Rennhofer, Mensch und Priester, 31. 115 Prantner, Kreuz, 162. 116 Fried, Jakob: „Die katholische Aktion gegen die öffentliche Unsittlichkeit. Die Antwort des Bundeskanzlers“, in: Reichspost (18.03.1928) 9. 117 Vgl. Blüml, Ignaz Seipel, 24. 26

zum Geschäft und zur Arbeit des Bundeskanzlers gehört. Es kommt dabei der Professor der Mo- raltheologie und der Gesellschaftswissenschaften und auch stark der Geistliche heraus. Ich habe eben nicht aufgehört, auch dies neben dem Politiker zu sein, und ich habe nicht den Ehrgeiz, als der Staatsmann geschildert zu werden, der nur die Finanzen sanieren geholfen hat, sondern mir kommt vor, daß wir auch das andere, die Seelen, sanieren müssen.118

Dass das Priestertum sein gesamtes Arbeiten bestimmte, geht aus seinen Tagebüchern hervor, wenn er z. . bei einer Exerzitienbetrachtung notierte: „Der offizielle Verkehr: stets seelsorg- lich orientiert, wenn auch nur indirekt; kurz; rücksichtsvoll inbezug auf Stimmung und Lage der Menschen, denen der Verkehr gilt“119 oder bei einer Betrachtung zum heiligen Franz von Sales: „Seelsorge, omnibus omnia! Indirekte Seelsorge in meinem Leben.“120 Seine Politik verfolgte als Ziel das Heil der Seelen und Politik war für ihn Seelsorge.121 Bei einer Betrachtung über die heiligmachende Gnade schrieb er:

Eigentlich habe ich nie daran gedacht, die Menschen, die mir begegnen und besonders die mir ent- gegen sind, für die heiligmachende Gnade zu gewinnen, im Gegenteil, eher ans Entlarven, eher ans Hinausstoßen in eine massa damnata mit einem vagen Gedanken, daß sie sich bekehren können. Ob ich nicht gerade durch die Bekehrung der Menschen Politik machen sollte? Ob ich nicht auch das Bonum commune zu götzenhaft betrachte? Politik als Mittel, die Vorbedingungen für ein Leben nach den Willen Gottes zu schaffen, aber nicht auch umgekehrt? [….] Es kommt darauf an, daß ich einmal wirklich einsehe, daß alles andere nichts ist neben der heiligmachenden Gnade.122

In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass Seipel mit „massa damnata“ nicht die Sozialdemokraten meinte, wie es in Presse und Literatur123 bis heute behauptet wird, son- dern sich dieser Tagebucheintrag auf einen Exerzitienvortrag von Pater Baudenbacher bezog.124 Dass Seipel sich auch als Bundeskanzler als „Seelsorger“ verstand, zeigt auch folgender Ta- gebucheintrag, den er unter dem Eindruck der Juli-Ereignisse des Jahres 1927 verfasste:

Die Lauheit und Kraftlosigkeit der Katholiken. Nicht Zaghaftigkeit, nicht Pessimismus, nicht Kla- gen über die anderen hilft, sondern Taten, vor allem aber die eigene Heiligung. Sollte nicht ich, solange ich Bundeskanzler bin, eine tägliche Applicatio pro populo machen? Noch mehr als Taten

118 Geßl, Seipels Reden, 97. 119 Tagebücher, 10.08.1927. 120 Ebd., 29.01.1930. 121 Vgl. Dür, Dr. Ignaz Seipel, 23. 122 Tagebücher, 12.08.1930. 123 Vgl. etwa in der Wiener Zeitung vom 13.07.2012: „Prälat Seipel als überlegener Stratege des bürgerlichen Lagers erkannte an diesem Tag die Schwäche, ja die Ohnmacht der Sozialdemokraten und ging vom republikani- schen auf den autoritären Kurs über und trat fortan für die Aufrüstung der Heimwehr als der militärischen Garde des bürgerlichen Lagers ein. Er war dabei nicht nur von einem geradezu manichäischen Hass auf die Sozialdemo- kratie, die er im augustinischen Sinn als ‚massa damnata‘ ansah […], https://www.wienerzeitung.at/ themen_chan- nel/wissen/geschichte/472461_Der-tragische-Wendepunkt.html?em_cnt_page=2 (abgerufen am 22.10.2018). „Seipel ging zum Heimwehrkurs über und sah die Möglichkeit, die Sozialdemokratie, deren Anhänger er für eine ‚massa damnata‘ hielt, politisch auszuschalten, ja zu vernichten.“, Leser, Skurille Begegnungen, 41. 124 Vgl. Liebmann, Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel, 337. 27

greifen Leiden durch, eigene Leiden. Eventuelle Erfolglosigkeit gemessen am „Mißerfolg“ Christi.125

Gerne verwendete er das paulinische Bild des Leibes mit Christi als Haupt, aus welchem er sein soziales und politisches Schaffen ableitete. Am Wiener Diözesankatholikentag im Juni 1925126 faltete er diesen Gedanken aus: Die Menschen seien demnach Glieder eines Körpers, der nur stark sein kann, wenn alle seine Teile stark sind. Darum bedarf es der Gesundheit aller, um das Ziel, nämlich die Gesundheit des Leibes mit Christus als Haupt zu erreichen.127 Wie Seipel den Zusammenhang zwischen seinem Priestertum und seiner politischen Tätig- keit sah, geht auch aus einer Rede hervor, die der Kanzler im Jahr 1927 vor dem katholischen Burschenverein Göllersdorf, wo er als Kooperator tätig war, hielt. Darin betonte er, dass eine Trennung zwischen seinem Priestertum und seiner Aufgabe als Politiker nicht möglich sei:

Ich bin eingeladen worden […] als Priester, um hier eine religiöse Feier abzuhalten, aber ich kann in mir nicht eine Scheidung zwischen dem Priester und zwischen dem Bundeskanzler machen, weil ich nur ein einziges Herz habe, und dieses Herz gehört dem Volke, für das zu wirken ich zum Priester wurde und für das einzutreten Gott mich rief, als er mich in die Politik hineinführte und als er mich zum ersten Beamten dieses Staates machte.128

Die Tatsache, dass Seipel Professor für Moraltheologie war, ist bedeutsam, denn das theoreti- sche Wissen und seine politischen Ansichten für die spätere Tätigkeit als Politiker eignete er sich in den Jahren an den Universitäten Salzburg und Wien an. Seine bereits erwähnte Habili- tationsschrift „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“ aus dem Jahr 1907 lassen schon persönliche Positionen erkennen, die sich in seiner späteren Politik zeigten. So wider- sprach er z. B. der damals verbreiteten Ansicht, dass die Kirchenväter Privateigentum abgelehnt hätten, indem er ausführte, dass ihnen das Geben von Almosen zwar wichtig gewesen wäre, dies aber nicht hieß, dass sie privates Eigentum abgelehnt hätten.129 Durch sein akademisches Wissen, das ihm von Prälat Schindler vermittelt wurde, seine Be- tätigung in der Leo-Gesellschaft und sein ausgeprägtes politisches Interesse schon vor dem Eintritt in die Politik, war Seipel für seine politische Aufgabe also gut vorbereitet. Er erklärte einmal, dass seine Arbeit als Politiker nichts anderes als die Anwendung der Lehre der Mo- raltheologie auf das Leben der Völker wäre.130

125 Tagebücher, 09.08.1927. 126 Vgl. zu diesem Diözesankatholikentag Krexner, Hirte, 296–298. 127 Vgl. Blüml, Im Dienste des Wortes, 154. 128 O. V.: „Bedeutung und Aufgaben der Jugendorganisationen. Bundeskanzler Dr. Seipel bei einem Jugendfeste“, in: Reichspost (21.06.1927) 7f. 129 Vgl. Seipel, Kirchenväter, 85f. 130 Vgl. o. V.: „Bundeskanzler Dr. Seipel im ‚Cercle der Genfer Katholiken““, in: Reichspost (12.09.1928) 4. 28

3.2 Politischer Katholizismus in der Ersten Republik

Wenn die Person Ignaz Seipel als herausragendste Persönlichkeit des Politischen Katholizismus in den Blick genommen wird, so muss vorab dargelegt werden, was unter diesem Begriff ver- standen wird. Da es unterschiedliche Formen gibt, muss eigentlich von „politischen Katholizis- men“ gesprochen werden, da aber für das vorliegende Thema vor allem der parteipolitische Katholizismus während der Zeit Seipels in Österreich relevant ist, bezieht sich dieses Kapitel auf den Politischen Katholizismus christlichsozialer Prägung.131 Der Beginn des Politischen Katholizismus in Österreich kann auf die Zeit des Kulturkampfs datiert werden. Will man ein genaues Datum festmachen, dann am ehesten den 5. Juni 1869, als die Katholikinnen und Katholiken in Linz gegen die strafrechtliche Verfolgung ihres Bi- schofs Franz Joseph Rudigier132 demonstrierten, der zum Widerstand gegen die Maigesetze von 1868 aufgerufen hatte. Max Hussarek bezeichnet diesen Tag als „Geburtstag der österreichi- schen christlich-sozialen Bewegung“,133 aber mit Michaela Sohn-Kronthaler und Maximilian Liebmann kann man auch vom Beginn des Politischen Katholizismus sprechen, da das Einste- hen des Volkes für „ihren“ Bischof die Gründung des Katholischen Pressvereines und des Ka- tholischen Volksvereines nach sich zog.134 War die katholische Kirche in der Habsburgermonarchie eng mit dem Herrscherhaus ver- bunden, im Sinne einer/eines „Ehe/Bund(es) zwischen Thron und Altar“, und Kaiser Franz Jo- seph (1848–1916) und seinem Nachfolger Karl I. treu ergeben, so änderte sich die Situation mit dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik im November 1918. Zwar arrangierte sich die Kirche rasch mit dem neuen politischen System, aber durch die Änderung der Um- stände erklärte im Jahr 1921 der Heilige Stuhl das 1855 abgeschlossene Konkordat für erlo- schen.135 Die österreichische Seite hatte das Konkordat schon mit der liberalen Gesetzgebung in den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts ausgehöhlt und nach der Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit am Ersten Vatikanischen Konzil (1868/70) einseitig gekündigt.136 Die Kirche konnte ab November 1918 nicht mehr auf dieses Bündnis mit dem Monarchen setzen, sondern

131 Vgl. Sohn-Kronthaler, Katholische Kirche, 153; 157. Zu „politische Katholizismen“ vgl. auch Ebner, Politische Katholizismen. 132 Franz Joseph Rudigier (1811–1884), 1831–1835 Studium der Theologie, 1835 Priesterweihe, 1839 Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht, später auch für Moraltheologie und Erziehungslehre in Brixen, 1850 Domherr und Seminarregens in Brixen, 1852 Diözesanbischof von Linz, 1861–1884 Abgeordneter im oberöster- reichischen Landtag. Er wandte sich in einem Hirtenbrief gegen die österreichischen Schul-, Ehe- und Konfessi- onsgesetze von 1868 („Maigesetze“), die staatliche Kontrollen für kirchliches Handeln vorsahen, aufgrund seiner Weigerung, einer gerichtlichen Vorladung zu folgen, wurde er zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt, aber schon nach einem Tag vom Kaiser begnadigt. Vgl. Zinnhobler, Rudigier, 634f. 133 Hussarek, Krise und Lösung, 300f. 134 Vgl. Kronthaler, Kirchen- und gesellschaftspolitische Bestrebungen, 183; Liebmann, Heil Hitler, 17. 135 Sohn-Kronthaler, Katholische Kirche, 151f. 136 Vgl. Weinzierl-Fischer, Österreichische Konkordate, 112; 115f. 29

musste in der Parteienlandschaft einer Republik ihre Interessen durchsetzen.137 Dies gelang ihr mit der engen Verbindung zur christlichsozialen Partei, die sich in der Zeit des Ersten Welt- kriegs zur staatstragenden Partei entwickelt hatte und sich in der Ersten Republik als Bollwerk gegen die kirchenfeindlichen Agitationen der Sozialdemokratie verstand.138 Die christlichsozi- ale Partei und Seipel verstanden sich nach dem Ende der Monarchie als „der weltliche Arm der Kirche“. Der „Ehe von Thron und Altar folgte eine von Partei und Altar“.139 Die christlichsoziale Partei verstand sich als Stütze kirchlicher Interessen und hatte vor allem das Ziel, eine bolschewistische Diktatur zu verhindern und christliche Prinzipien im politischen Leben zu verwirklichen.140 Es existierte ein Netzwerk aus von Laien geleiteten katholischen Vereinen und Verbänden, die dem Politischen Katholizismus zuarbeiteten. Neben diesen Ver- einen und Verbänden waren die Hierarchie mit dem Klerus und die christlichsoziale Partei wei- tere Gruppierungen des Politischen Katholizismus.141 Die Themen, die den Vertretern des Politischen Katholizismus besondere Anliegen waren, gingen aus dem Kulturkampf hervor: Eherecht, Schulwesen, dabei besonders der Religionsun- terricht und Besoldungsfragen. Die Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kirche und liberalen Strömungen begannen ab 1867, als Teile des 1855 abgeschlossenen Konkordats durch auf dem Staatsgrundgesetz beruhende Gesetze wieder zurückgenommen wurden. 142 In der Frage der Ehe wurde die Geltung des bürgerlichen Rechts auch für Katholiken wiederherge- stellt und mit der „Notzivilehe“ für diejenigen geschaffen, denen nach dem kirchlichen Recht eine Eheschließung verboten wurde. In Schulfragen erlitt die Kirche eine Niederlage, da das gesamte Schulwesen – ausgenommen der Religionsunterricht – der Aufsicht des Staates unter- stellt wurde. Jede/r StaatsbürgerIn konnte nach Vollendung des 14. Lebensjahres sein/ihr Reli- gionsbekenntnis frei wählen.143 Zwar bekämpfte die Kirche diese Gesetze vehement, jedoch ohne Erfolg. „Der Übergang von der Monarchie zur Republik warf zunächst 1918 keine entscheidenden Probleme auf“, durch welche die Stellung der Kirche angetastet worden wäre.144 Mit Verabschiedung der neuen Bundesverfassung 1920 gab es keine Änderungen, das Staatsgrundgesetz wurde übernommen und dass es der katholischen Kirche gelungen war, das

137 Vgl. Sohn-Kronthaler, Katholische Kirche, 152. 138 Vgl. Hanisch, Politischer Katholizismus, 197. 139 Weichlein, Zwischenkriegszeit, 74. 140 Vgl. Kriechbaumer, Erzählungen, 307f. 141 Hanisch, Ideologie, 2. 142 Vgl. Liebmann, Heil Hitler, 20f. 143 Vgl. Weinzierl-Fischer, Österreichische Konkordate, 109. 144 Plöchl, Vorgeschichte, 1. 30

Prinzip „keine Veränderungen, alle Bastionen halten“ durchzusetzen, wird Prälat Seipel zuge- schrieben.145 Die darauffolgenden Jahre waren von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Christ- lichsozialen und den Sozialdemokraten, die die Religion als Privatsache sahen und eine strikte Trennung von Kirche und Staat forderten, geprägt.146

Der politische Atheismus des Austromarxismus versperrte der Sozialdemokratie die Tür zu einem offenen und ehrlichen Dialog mit der Kirche und damit auch zur regierenden Christlichsozialen Par- tei, die im engsten Konnex mit der Kirche stand.147

Große Aufregung unter christlichen Politikern rief der Erlass des Unterstaatssekretärs für Un- terricht im Staatsamt für Inneres und Unterricht, Otto Glöckel, hervor. Dieser hob 1919 die Verpflichtung der SchülerInnen und die Aufsichtspflicht der Lehrer für religiöse Übungen auf. In der Ehefrage traten die Sozialdemokraten vehement für die obligatorische Zivilehe ein, bevor sie sich durchsetzen konnten, kam es jedoch 1933 zur „Selbstausschaltung“ des Parlaments bzw. zu einem „Staatsstreich von oben“148 und zur Errichtung des „Dollfuß-Schuschnigg-Re- gimes“149. Mit der Unterzeichnung des Konkordats von 1933 zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl konnte die obligatorische Zivilehe verhindert werden, der Religionsunterricht konnte gesichert werden und oblag weiterhin der Kirche. Die vom Heiligen Stuhl geforderte Konfessionsschule wurde jedoch nicht umgesetzt. In der Frage nach der Kirchenfinanzierung blieb es beim Religionsfonds, da dieser aber schon lange nicht mehr ausreichte, erfolgte die Mitfinanzierung durch den Staat.150 Die Kirche versuchte in der Zeit zwischen 1918 und 1933 den Forderungen der Sozialdemo- kraten entgegenzutreten, indem sie eine immer enger werdende Symbiose mit der christlichso- zialen Partei einging, die deren Interessen in der Politik vertrat, und indem sie versuchte, ihre Massenorganisationen im politischen Vorfeld zu mobilisieren. Kirchliche Verbände und Ver- eine und die katholische Presse bildeten die Basis, auf welcher der Politische Katholizismus aufbauen konnte.151 Sogar die Bischöfe unterstützten die Partei offen, z. B. vor der Nationalratswahl im Jahr 1930, wo sie in einem Hirtenbrief schrieben:

145 Weinzierl-Fischer, Österreichische Konkordate, 140. Siehe auch Liebmann, Pastoralkatholizismus, 22. 146 Vgl. Ders., Heil Hitler, 23f. 147 Ders., Kirche und Politik, 25. 148 Tálos, Austrofaschistisches Österreich, 17. 149 Der Begriff „christliche Ständestaat“ ist nach Tálos gänzlich ungeeignet, dieses Herrschaftssystem zu beschrei- ben. Er plädiert für die Bezeichnung „Austrofaschismus“. Vgl. dazu Tálos, Austrofaschistisches Österreich, bes. 170–172. 150 Vgl. Liebmann, Politischer Katholizismus, 258–260. 151 Vgl. Sohn-Kronthaler, Katholische Kirche, 153. 31

Keine Stimme einer unchristlichen, kirchenfeindlichen oder religiös-freiheitlichen Partei, sondern jede Stimme für eine katholische, wahrhaft christliche und kirchentreue Partei. Kommt ausnahmslos alle zur Wahl, Männer und Frauen, wie es eure heilige Gewissenspflicht ist, und wählet nur verläss- liche, echt christliche Abgeordnete.152

Wichtige organisatorische Träger dieses Systems waren katholische Vereine und Organisatio- nen, die eng mit der Partei verbunden waren. Neben engagierten Laien vertraten auch Priester die kirchlichen Interessen als Politiker in gesetzgebenden Organen wie in Landtagen oder im Parlament.153 Im folgenden Kapitel wird darum auf das Phänomen Priesterpolitiker eingegangen werden und zwei sehr unterschiedliche Priester, die in der Politik mehr oder weniger erfolgreich waren, werden exemplarisch vorgestellt. Zum einen Johann Nepomuk Hauser, der so wie Seipel Pries- ter und christlichsozialer Politiker und über viele Jahre Landeshauptmann von Oberösterreich war, und Johannes Ude, ebenfalls Priester, der Seipel und der christlichsozialen Partei kritisch gegenüberstand.

3.3 Katholische Priester als Politiker

Sinnbild für die enge Symbiose zwischen Kirche und Staat während der Ersten Republik ist das Phänomen des Priesterpolitikers.154 Die zeigt sich anhand folgender Zahlen: Der Anteil Geist- licher an Nationalratsabgeordneten betrug in den Jahren zwischen 1919 und 1930 zwischen 3,6 bis 6,1 %. Da diese alle Abgeordnete der christlichsozialen Partei waren, betrug der Kleriker- anteil dieser Fraktion zwischen 8,2 und 12,9 %.155 Auch Ignaz Seipel war der Ansicht, dass es Situationen geben konnte, in denen auch Priester zum Eintritt in die Politik berufen sind. Dies sagte er in einer Rede am 1. September 1930 bei der Salzburger Akademikertagung, die 1931 unter dem Titel „Der christliche Staatsmann“ als Publikation erschien.

Das Ideal ist gewiss, daß sich die Geistlichen mit den Angelegenheiten der Kirche, die Laien mit denen des Staates befassen […] Aber es wäre gegen das Ideal, wenn die Männer der Kirche in den Angelegenheiten des Staates schwiegen, falls sie zu ihnen etwas zu sagen haben, und wenn die Män- ner des Staates, ohne selbst in lebendigem Zusammenhang mit der Kirche zu stehen und stets von ihr zu lernen, die Staatsangelegenheiten als eine rein weltliche Sache betrachten. Eine solche Schei- dung der Berufe gibt es nicht und zwar einfach deswegen nicht, weil Staatsmann sein kein Beruf ist,

152 „Die Bischöfe Österreichs entbieten dem hochwürdigen Klerus und allen Gläubigen Gruß und Segen im Herrn“, in: Wiener Diözesanblatt 68/9-10 (20.10.1930) 103–106, hier 103. 153 Vgl. Kronthaler, Glaube und Politik, 149. 154 Siehe zu steirischen Priesterpolitikern: Linhardt, Steirische Priesterpolitiker. 155 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 138. 32

den man sich wählt […]. Staatsmann ist keiner von Beruf, sondern jeder, der es ist, ist es durch Berufung.156

Die katholische Kirche regelte die politische Tätigkeit von Klerikern zur Zeit Seipels in c. 139 § 4 des Codex Iuris Canonici (CIC 1917) folgendermaßen:

Damit Kleriker ein Abgeordnetenmandat übernehmen können, haben sie sowohl die Erlaubnis ihres eigenen Ordinarius nötig wie auch die Erlaubnis des Ordinarius jenes Gebietes, in dem sie gewählt werden sollen. Ist aber für ein Gebiet ein eigenes Verbot durch den Apostolischen Stuhl gegeben worden, dann kann nur der Apostolische Stuhl die Erlaubnis geben.157

1922 präzisierte die Interpretationskommission, dass diese Erlaubnis nur schwer und daher nicht leichtfertig gegeben werden dürfte. Michael Pfliegler158, der Priesterpolitikern grundsätz- lich skeptisch gegenüberstand, interpretierte dies so, dass die Kirche die Priester vorrangig in ihrem geistlichen Beruf sehen wolle.159 Die Meinungen innerhalb katholischer Kreise zu Pries- terpolitikern waren gespalten. Einerseits gab es Stimmen, die eine politische Tätigkeit von Kle- rikern bejahten und sogar für geboten hielten, da in alle Berufe der Geist Christi eingebracht werden sollte, wie Pfarrer Franz Felber in einem Artikel in der Schrift des Wiener Seelsorgein- stituts „Der Seelsorger“ ausführte. Er unterschied aber zwischen Seelsorgern, die sich nicht in die Parteipolitik begeben sollten und theologisch gebildeten Priestern, die in einer christlichen Partei unentbehrlich seien.160 Für Joseph Scheicher161 sollte der Klerus bei der Übernahme po- litischer Ämter Vorbild sein, da „nämlich die Priester nicht erwarten konnten, daß die Laien- schaft zu katholischen Aktivisten würde, wenn sie selbst nicht aktiv würden“.162 Die Geweihten hätten eine wichtige Rolle in der Politik, denn der Priester in einer politischen Funktion sei „der beste Anwalt des katholischen Volkes, seiner kulturellen, politischen und wirtschaftlichen In- teressen“, so Scheicher.163 Andererseits gab es auch strikte Gegner von Priesterpolitikern, allen voran Pfliegler. Er sah Geistliche, die rein den Beruf des Politikers ausübten, als problematisch an und meinte, dass

156 Seipel, Christliche Staatsmann, 20f. 157 Zit. nach Pfliegler, Priesterliche Existenz, 291. 158 Michael Pfliegler (1891–1972), Studium der Theologie an der Universität Wien, 1915 Priesterweihe, 1921 gründete er mit Karl Rudolf den katholischen „Bund Neuland“, 1922 Dr. theol., 1926–1935 Religionsprofessor, zahlreiche Veröffentlichungen zur Religionspädagogik, beschäftigte sich intensiv mit dem Thema „Kirche und Arbeiterschaft“ und versuchte Kirche und Sozialismus zusammenzubringen, 1935 Habilitation an der Universität Wien für die Fächer Pastoraltheologie und Katechetik, ab Juli 1938 Supplent als Dozent der vakanten Lehrkanzel für Moraltheologie in Wien, 1946 Ordinarius für Pastoraltheologie an der Wiener Universität. Vgl. Liebmann, Pfliegler, 2110f. 159 Pfliegler, Priesterliche Existenz, 291f. 160 Vgl. Felber, Seelsorger, 17f. 161 Joseph Scheicher (1842–1924), geb. in St. Stefan ob Stainz, 1869 Priesterweihe, 1875 Dr. theol., ab 1879 Pro- fessor für Moraltheologie im Priesterseminar St. Pölten, ab 1890 in verschiedenen politischen Ämtern, eine der der Gründergestalten der christlichsozialen Partei. Vgl. Tscherne, Scheicher. 162 Lewis, Kirche und Partei, 266. 163 Ebd. 33

diese in schwere Konflikte kämen. Er argumentierte mit dem Aspekt der Individualseelsorge: Diejenigen getauften Christinnen und Christen, die ihren Glauben nicht aktiv leben und in der feindlichen Partei Priester sehen, würden dadurch in ihrem – nicht sehr gefestigten – Glauben erschüttert werden. Sie würden dann ihre negativen Gefühle von der Person auf die Sache rich- ten und sich von der Kirche trennen, dadurch hätte der Priesterpolitiker das Heil einer Seele gefährdet und das Heil der Seelen sei aber das oberste Gesetz des Priesters.164

3.3.1 Johann Nepomuk Hauser (1866–1927)

Johann Nepomuk Hauser wurde am 24. März 1866 in Kopfing im Innviertel geboren und wuchs als Sohn von Gastwirten in Natternbach auf. Mit ausgezeichnetem Erfolg besuchte der junge Hauser das Jesuitengymnasium am Freinberg in Linz, wo er nach der Matura 1885 ins Priester- seminar eintrat.165 Hier fühlte er sich nicht wohl, das Gefühl des Eingeengtseins und der Ge- horsam gegenüber den Vorstehenden betrübten ihn sehr. Als ihm sein Wunsch, am Germani- cum in Rom studieren zu dürfen, abgeschlagen wurde, fühlte er sich unverstanden und tat sich schwer, sich unterzuordnen.166 Nach der Priesterweihe 1889 wirkte er zuerst als Kaplan in Gaflenz, wo sich der gesellige Jungpriester sehr wohl fühlte, danach in Wels, wo ihm das städtische Milieu jedoch nicht son- derlich zusagte. Aufgrund eines Halsleidens konnte er nicht mehr als Seelsorger wirken, er wurde 1891 Sekretär des „Volkskredites“, einem katholischen Geldinstitut. Tätigkeiten in der Redaktion des „Linzer Volksblattes“, bei den „Christlichen Kunstblättern“, der „Katholischen Arbeiterzeitung“ und dem „Volksvereinsboten“, im „Pressverein“ und im „Katholischen Volksverein“ folgten.167 1899 zog er als Abgeordneter in den oberösterreichischen Landtag ein, wo er die Interessen der Bauernschaft und des Kleingewerbes vertrat und den Liberalismus als größten Gegner sah. Als er 1902 als Landesregierungsmitglied in den Landesausschuss berufen wurde, nahm er be- reits eine wichtige Stellung innerhalb der Landespartei ein und es war nicht überraschend, als er 1908 Landeshauptmann wurde und dies auch bis zu seinem Tod 1927 blieb.168

164 Vgl. Pfliegler, Priesterliche Existenz, 293. 165 Vgl. Honeder, Hauser, 75. 166 Vgl. Ders., Johann Nepomuk Hauser, 5–7. 167 Vgl. Ders., Hauser, 75–78. 168 Vgl. ebd., 78f. 34

Zu Beginn seines Wirkens setzte der neue Landeshauptmann eine Wahlrechtsreform um, welche den Einfluss der Liberalen beschränkte und den Christlichsozialen bei den Landtags- wahlen 1909 die absolute Mehrheit brachte. Durch unpopuläre Steuererhöhungen, die aber die sozial Schwächeren nicht betrafen, schaffte Hauser eine Sanierung der Landesfinanzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Klerikern äußerte sich Hauser gegen den 1914 beginnenden Krieg und versuchte alles, um die Not, die dieser mit sich brachte, zu lindern. Er wurde mit dem Kriegskreuz für Zivilverdienste I. Klasse ausgezeichnet und sein Engagement brachte ihm hohe Beliebtheit beim Volk ein. 153 Gemeinden ernannten den Landeshauptmann zum Ehrenbür- ger.169 Nach dem Krieg förderte Hauser die Landwirtschaft, wie etwa landwirtschaftliche Fortbil- dungsmaßnahmen, oder gründete Schulen, um die soziale Not zu lindern. Außerdem engagierte er sich für den Aufbau einer Industrie, die nicht dem Krieg, sondern dem Frieden diente, wie z. B. für den Aufbau einer Automobilfabrik, außerdem belebte er die Wirtschaft durch die Schaffung von Kraftwerken. Er bemühte sich auch um den Fremdenverkehr und etliche Kurorte gehen auf seine Förderung zurück. Hauser war als Kriegsgegner gegen jede Art von Aufrüstung und lehnte später auch die Heimwehr ab. Er wurde 1909 in den Reichsrat gewählt und wurde 1917 Klubobmann der christ- lichsozialen Partei. Während des Übergangs von der Monarchie auf die Republik spielte Hauser eine wichtige Rolle. Wie die christlichsoziale Partei und auch die Kirche war er ein loyaler Anhänger des Kaisers. Als das Ende der Monarchie abzusehen war, gab es in der Partei einen monarchistischen Flügel und eine Gruppe, vorwiegend aus den Ländern, die die republikani- sche Staatsform bevorzugte. Der wichtigste Vertreter des republikanischen Flügels war der Vorarlberger Christlichsoziale Jodok Fink, einer von drei Präsidenten der provisorischen Nati- onalversammlung, mit dem Hauser gut befreundet war. Der oberösterreichische Landeshaupt- mann und Klubobmann war um eine einheitliche Vorgangsweise bemüht. Als sich die Lage durch die Abdankung des deutschen Königs zuspitzte (siehe genauer Kap. 5.1), wirkte Kardinal Piffl auf Wunsch des Kaisers auf Hauser ein, die Christlichsozialen sollen ihrer monarchisti- schen Linie treu bleiben. Ob Hauser diesem Wunsch nachgekommen ist, ist nicht bekannt, sei- ner Meinung nach hatte der Kaiser die Entscheidung über die zukünftige Staatsform den Volks- vertretern überlassen. Die Mehrheit der Partei hatte sich mittlerweile unter dem Einfluss von Fink und nach vielen Diskussionen für die Republik entschieden, worauf sich schließlich auch

169 Vgl. ebd., 79–82. 35

Hauser anschloss.170 In späteren Jahren soll Hauser gegenüber Bekannten über diese Zeit mehr- mals gesagt haben: „Man mußte damals mit den gegebenen Tatsachen rechnen, man mußte alles vermeiden, daß Blut floß.“171 Hauser war während seiner politischen Laufbahn immer ein Verfechter der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten zum Wohle des Landes. In Oberösterreich funktionierte diese Zu- sammenarbeit zwischen den auf Staatsebene verfeindeten Parteien gut, Hauser war ein gutes Auskommen mit der Sozialdemokratie wichtig, mitunter wurde er sogar als der „Rote Prälat“ bezeichnet. Er befürwortete diese Politik der Verständigung auch auf Bundesebene, als aber immer mehr die Wiener mit Seipel an der Spitze in der Partei das Ruder übernahmen und auf Seiten der Sozialdemokraten auf den gemäßigten der weit links stehende Otto Bauer folgte, nahmen die Auseinandersetzungen an Härte zu. Hauser legte am 23. Oktober 1919 die Leitung des Klubs und im März 1920 seine Parteiobmannschaft nieder, kurz darauf im Juni 1920 scheiterte die Koalition zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Hauser be- hielt zwar sein Nationalratsmandat, zog sich aber immer mehr aus der Bundespolitik zurück und konzentrierte sich in seinen letzten Lebensjahren als Landeshauptmann ganz auf Oberös- terreich.172 Während Hausers fast zwei Jahrzehnte dauernden Landeshauptmannschaft wurde die Diö- zese Linz von drei Bischöfen geleitet: Franz Maria Doppelbauer173 (1889–1908), Rudolf Hitt- mair174 (1909–1915) und Johannes Maria Gföllner175 (1915–1941). Die Beziehung zu Doppel- bauer war gut, auch wenn der Bischof den Zusammenschluss der konservativen Partei Oberös- terreichs mit der christlichsozialen Partei 1907, an welchem Hauser führend beteiligt war, nicht guthieß, weil er den Christlichsozialen ablehnend gegenüberstand. Er verlieh Hauser kurz nach diesem Zusammenschluss den Titel eines Konsistorialrats. Auch mit Hittmair hatte Hauser eine freundliche Verbindung, der Bischof machte sich nicht viel aus Politik. Auf seine Anregung hin wurde Landeshauptmann Hauser 1913 zum Prälaten ernannt.

170 Vgl. Honeder, Hauser, 90; 92–94. 171 Ders., Johann Nepomuk Hauser, 87. 172 Vgl. Ders., Hauser, 82f.; 95f.; 98. 173 Franz Maria Doppelbauer (1845–1908), geb. in Waizenkirchen/OÖ, 1868 Priesterweihe, danach Generalprä- fekt im Priesterseminar Linz, 1879 Dr. iur. utr. in Rom und bischöflicher Sekretär in Linz, , 1887 Rektor der Anima in Rom, 1889 Weihe zum Bischof von Linz, förderte das katholische Vereins- und Pressewesen. Vgl. Zinnhobler, Doppelbauer, 139f. 174 Rudolph Hittmair (1859–1915), geb. in Mattighofen/OÖ, 1877–1880 Studium der Rechtswissenschaften in Wien, 1883 Priesterweihe, 1888 Dr. theol., 1893 Professor für Pastoraltheologie an der Diözesanlehranstalt Linz, 1903 Regens, 1909 Bischof von Linz. Im Ersten Weltkrieg widmete er sich dem Sanitätsdienst und starb in dessen Ausübung an Flecktyphus. Vgl. Zinnhobler, Hittmair, 310f. 175 Johannes Maria Gföllner (1867–1941), geb. in Waizenkirchen/OÖ, 1887–1894 Studium an der Gregoriana in Rom, Dr. theol. et phil., 1893 Priesterweihe, 1909 Professor der Pastoraltheologie an der Theologischen Diözes- anlehranstalt Linz, 1913 Chefredakteur der Theologisch-praktischen Quartalschrift, 1915 Bischof von Linz, Geg- ner der Liturgischen Bewegung. Vgl. Zinnhobler, Gföllner, 245f. 36

Das Verhältnis zu Gföllner hingegen war schwieriger. Der Bischof und vorherige Theolo- gieprofessor war sehr konservativ eingestellt und hatte Interesse daran, sich in die Politik ein- zubringen. Als überzeugter Monarchist vertrat er zwar offiziell die Rechtmäßigkeit der neuen Republik, hielt aber engen Kontakt zu Kaiser Karl und äußerte sich immer wieder monarchis- tisch. Als im Jahr 1921 monarchistische Kreise Hauser heftig wegen seines Verhaltens im No- vember 1918 angriffen, unterstützte Gföllner diese Propaganda. Hauser genoss aber hohes An- sehen beim Papst und in Rom, sodass ihm von dieser Seite der Rücken gestärkt wurde. Erst kurz vor Hausers Tod versöhnten sich die beiden unterschiedlichen Geistlichen.176 Hausers Charakter war zeitweise cholerisch und impulsiv, worunter er selbst litt, er war aber zugleich gesellig und kontaktfreudig. In Oberösterreich wirkte er immer ausgleichend, war un- ter der Bevölkerung beliebt. Auch wenn er sehr selbstbewusst auftrat, war er von weichem Gemüt und kümmerte sich in seiner Politik stets auch um die ärmere Bevölkerung.177 In den Tagebüchern Seipels kommt Hauser an die 150-mal vor, was auf eine enge Zusam- menarbeit der beiden hindeutet. Das Verhältnis der beiden war aber spannungsgeladen, am 4. April 1919 notierte Seipel in seinem Tagebuch: „Konflikt mit Hauser“.178 Die beiden Pries- terpolitiker hatten unterschiedliche Ansichten, was das Verhalten der christlichsozialen Partei gegenüber der sozialdemokratischen Partei betraf. Hauser setzte auf eine Verständigungspolitik und befürwortete im Herbst 1919 eine Koalition zwischen den beiden Parteien, Seipel stand den Sozialisten ablehnend gegenüber. Diese Differenzen führten schließlich auch zum Rückzug Hausers als Klub- und Parteiobmann.179 Interessanterweise findet sich in der Literatur über Johannes Nepomuk Hauser sehr wenig bis gar nichts über sein priesterliches Leben. Es ist nicht bekannt, wie er während seiner politi- schen Laufbahn seine priesterliche Existenz gelebt hat oder auf welcher Spiritualität diese auf- baute. Ob er so wie Ignaz Seipel ebenfalls zeitweise unter den Spannungen, die sich aus seiner politischen Laufbahn ergeben haben, gelitten hat und sein geistliches Leben durch seinen Beruf als Landeshauptmann gefährdet sah, bleibt im Dunklen. Auch in den zahlreichen Nachrufen in österreichischen Zeitungen wurde der Landeshauptmann für seine politischen Leistungen und sein ausgleichendes Handeln gewürdigt, sein Priestertum wurde aber auch hier nur gestreift.

176 Vgl. Honeder, Hauser, 86–90. 177 Vgl. ebd., 76; 78; 82. 178 Tagebücher, 04.04.1919. 179 Vgl. Honeder, Johann Nepomuk Hauser, 104f. 37

3.3.2 Johannes Ude (1874–1965)

Ein anderer Typ von Priesterpolitiker als Seipel und Hauser war der vierfach Promovierte kärnt- nerisch-steirische Priester Johannes Ude, der gerade wegen seiner „Andersartigkeit“ an dieser Stelle vorgestellt werden soll, wobei vor allem auf seine politische Tätigkeit eingegangen wird. Ude wurde am 28. Februar 1874 in St. Kanzian/Kärnten geboren, besuchte danach das Staatsgymnasium in Graz, wo er 1894 die Matura mit Auszeichnung ablegte. Seine theologi- schen und philosophischen Studien führten ihn ans Germanicum und die Gregoriana nach Rom, wo er in diesen beiden Fächern promovierte und im Jahr 1900 die Priesterweihe empfing. Ein Jahr später wurde er Kaplan in Fernitz/Hausmannstätten, nach einem weiteren Jahr Erzieher im Fürstbischöflichen Knabenseminar in Graz. 1905 hatte sich Ude an der Grazer Theologischen Fakultät für das Fach Spekulative Dogma- tik habilitiert, 1907 folgte seine Promotion zum Doktor der Naturwissenschaften.180 Zu dieser Promotion an der Universität Graz kam Ude mit Freunden aus dem , der Katho- lischen Österreichischen Studentenverbindung Carolina, deren Mitglied er war, und traf dort auf freisinnige Studenten. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, Ude und seinen Verbin- dungsbrüdern wurde das Betreten des Gebäudes verwehrt. Während Ude sich als Opfer im Kampf um Gleichberechtigung sah, wurde ihm von Seiten der Universitätsbehörde vorgewor- fen, seine Promotion dafür zu missbrauchen, den Carolinen eine Bühne zu schaffen und „sich und die Carolina in den Glorienschein eines allerdings sehr billigen Martyriums zu setzen“. Im Verlauf der hitzigen Debatten zu diesem Vorfall wurde Ude im katholischen Milieu als Kämp- fer für katholische Studenten und Studentenverbindungen auf Hochschulen bekannt.181 Ude führte – selbst abstinent und vegetarisch lebend – einen rigorosen Kampf gegen die seiner Meinung nach größten Übel der Zeit, nämlich Alkohol, Nikotin und Prostitution, die für ihn in einem engen Zusammenhang mit menschlichen Leiden standen. 1911 trat er als Redner beim zweiten österreichischen Alkoholgegnertag auf und ermahnte die katholischen Priester, dass es in ihrer Verantwortung läge, die katholische Jugend über den Alkoholismus aufzuklä-

180 Vgl. Liebmann, Lebensreformer Ude, 381f. 181 Ders., Prophet, 64. 38

ren. In der Gründung des Vereins „Katholisches Kreuzbündnis zur Bekämpfung des Alkoho- lismus“ auf steirischer Landesebene nahm Ude dem Kampf gegen dieses Übel auf.182 Eine trei- bende Kraft des Vereins war der pazifistische Priester Max Josef Metzger183, den Ude nach Graz geholt hatte und der als Generalsekretär des Kreuzbündnisses fungierte.184 In der Zeit der Monarchie sympathisierte Ude mit den Christlichsozialen, doch führten seine lebensreformerischen Pläne sowie sein Fundamentalismus und Rigorismus ab 1916 zu immer mehr Konflikten mit den Ansichten dieser Partei. Trotzdem kandidierte Ude für die christ- lichsoziale Partei bei den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung am 9. Februar 1919, um am Aufbau des zu dieser Zeit stark beschädigten Österreichs mitzuhelfen. Seine an- gestrebte politische Laufbahn scheiterte allerdings an der Forderung, seine lebensreformeri- schen Prinzipien – also Kampf gegen Alkohol, Nikotin, Prostitution, empfängnisverhütende Mittel, Militarismus und die Zinswirtschaft des Kapitalismus – ohne Klubzwang frei vertreten zu dürfen. Aber auch inhaltliche Meinungsunterschiede in diesen Fragen dürften zur Entzwei- ung mit den Christlichsozialen beigetragen haben, seine rigoristischen Ansätze stießen auch bei kirchlichen Kreisen immer mehr auf Ablehnung.185 1924 erlangte Ude seinen vierten Doktortitel in Jus und Ökonomie und trat 1926 mit den Leitworten „gegen Korruption, für Gerechtigkeit und Sparsamkeit“ als Mitbegründer des „Wirtschaftsvereins für Österreich“ wieder auf die politische Bühne. Als Obmann waren seine Schwerpunkte eine Wohnungs- und Bodenreform, eine Währungsreform nach der Freiwirt- schaftslehre, Abstinenz, Tierschutz und Pazifismus. Außerdem forderte er eine Konfessions- schule, die Unauflöslichkeit der Ehe, eine Reduzierung der Volksvertretung und eine Verein- fachung der Verwaltung.186 Laut Ude selbst war die Bevölkerung von seinem Programm begeistert, an den Versamm- lungen sollen zwischen 6.000 und 8.000 Personen teilgenommen haben.187 Die parteipolitische Presse hingegen nahm den Wirtschaftsverein nicht wohlwollend auf, Ude wurde als Person diffamiert und seine Anhänger als „Udisten“, „Udeaner“ und „Udeoten“ ins Lächerliche gezo- gen.188 Auch die Amtskirche war mit der politischen Tätigkeit des Priesters nicht einverstanden,

182 Vgl. ebd., 69f. 183 Max Josef Metzger (1887–1944), geb. in Schopfheim/Baden, 1911 Dr. theol. und Priesterweihe. Kam durch Johannes Ude nach Graz, wo er bis 1928 wirkte. Leiter des österr. Kreuzbundes „Volksheilszentrale zur Lebens- und Gesellschaftsreform auf katholischer Grundlage“, 1917 Gründung „Friedensbund Deutscher Katholiken“, 1938 Mitbegründer der Bruderschaft „Una Sancta“, in der internationalen Friedensarbeit tätig, 1944 hingerichtet, 2006 Eröffnung des Seligsprechungsprozesses. Vgl. Lehmann, Metzger. 184 Vgl. Farkas, Anfänge, 549. 185 Vgl. Ders., Johannes Ude, 256. 186 Vgl. Ders., Aufstieg und Fall, 72. 187 Vgl. Ude, Erinnerungen, 87. 188 Vgl. Liebmann, Prophet, 66. 39

das Seckauer Ordinariat forderte ihn auf, seine Betätigung für den Wirtschaftsverein einzustel- len, die jetzige christliche Regierung nicht anzugreifen und aufreizende Reden zu unterlassen. Kalmierungsversuche von Seiten des Vereins, aber auch von anderen Bischöfen, stießen bei der Diözesanleitung auf taube Ohren.189 Zu den anstehenden Wahlen im Frühjahr 1927 wurde die Liste „Ude-Verband – Bund gegen Korruption“ gegründet, die in ganz Österreich, außer im Burgenland, zur Wahl antrat. Die Aus- einandersetzung mit Seipel wurde über die Zeitungen ausgetragen und war sehr scharf. Der Kanzler hatte sich für die Wahl mit anderen Parteien zu einer Wahlgemeinschaft, der Einheits- liste, zusammengeschlossen, um eine sozialdemokratische Vorherrschaft zu verhindern und be- fürchtete durch die Kandidatur Udes eine Schwächung des antimarxistischen Lagers.190 Aber auch inhaltlich divergierten die Ansichten der beiden Geistlichen, in einer Rede in Graz wenige Tage vor der Wahl griff Seipel Ude scharf an und warf ihm u. a. vor, die Sorgen des Volkes noch zu verstärken und dass es leicht wäre, den Unzufriedenen Hoffnungen zu machen.191 Nachdem kurz nach seiner Weihe zum Seckauer Diözesanbischof Ferdinand Stanislaus Pawlikowski192 Ude 10 Tage vor der Wahl zur Niederlegung seiner Kandidatur gezwungen hatte, fiel das Ergebnis dementsprechend enttäuschend aus. Udes Partei konnte kein Mandat im Nationalrat erringen, in der Steiermark zwei Landtagsmandate. Da Ude aber einige Monate später – im September 1927 – auch als Obmann zurücktreten musste und seine Partei in den folgenden Jahren nicht erfolgreich war, konnte sie nicht länger überleben. Der Wirtschaftsver- ein teilte sich bei den Wahlen 1930 auf Landbund und Schober-Block auf und wurde schließlich 1933 aufgelöst. Bedingt durch den Entzug der Predigterlaubnis, dem Verbot jeglicher politi- scher Betätigung und des Auftretens in öffentlichen Versammlungen in ganz Österreich war es Ude ab 1929 nicht mehr möglich, seine politischen Ambitionen weiter zu verfolgen.193 Anfang 1930 verbot Pawlikowski den Theologiestudierenden, an Udes Vorlesungen teilzu- nehmen, 1934 wurde er als Professor beurlaubt. Zwar wurde das 1929 verhängte Redeverbot im Jahr 1935 aufgehoben, an der Universität durfte er aber nur als Privatdozent lehren.194

189 Vgl. Farkas, Johannes Ude, 259–261. 190 Vgl. Ders., Aufstieg und Fall, 74. 191 Vgl. Seipel, Ignaz: „Die Einheitsliste und die Ude-Bewegung“, in: Reichspost (20.04.1927) 2f. 192 Ferdinand Stanislaus Pawlikowski (1877–1956), geb. in Wien, 1903 Priesterweihe in Trient, inkardiniert in die Erzdiözese Salzburg, 1905–1907 Studium des Kanonischen Rechts in Rom, Dr. theol., ab 1908 in der Militärseel- sorge, 1927 Weihbischof von Seckau, 1927 Fürstbischof von Seckau, förderte das Vereinswesen und die Katholi- sche Aktion, 1938 nach dem Einmarsch deutscher Truppen für 24 Stunden inhaftiert, unterzeichnete trotzdem die „Feierliche Erklärung“ der österreichischen Bischöfe, nach dem Krieg Gründung des Katholischen Bildungswerks, 1953 Resignation auf Wunsch Roms. Vgl. Liebmann, Pawlikowski, 554f. 193 Farkas, Johannes Ude, 261f.; Ders., Aufstieg und Fall, 77. 194 Vgl. Liebmann, Lebensreformer, 385f. 40

Der Nachwelt bekannt bleibt Ude vor allem durch seinen Protest gegen das nationalsozialis- tische Regime, mit welchem er im Jahr 1933 noch sympathisierte und für welches er im Früh- ling 1938 vor dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland noch warb. Seine Meinung änderte sich aber durch die vom nationalsozialistischen Regime organisierten Gräuel an Jüdin- nen und Juden in der Reichspogromnacht am 9. November 1938.195 Selbst Augenzeuge dieser Barbarei verfasste Ude einen Protestbrief – den einzigen – an Gauleiter Uiberreither und verur- teilte darin die

banditenartigen, im gesamten Deutschen Reich, wie es scheint, wohlorganisierten, in einer einzigen Nacht verübten Überfälle auf die jüdischen Synagogen, auf die jüdischen Zeremonienhallen und auf die jüdischen Geschäfte, die man in Brand gesteckt, zertrümmert und verunehrt hat.196

Nachdem der Protestbrief vier Monate später in einer Pariser Zeitung eines Widerstandszirkels abgedruckt wurde, wurde Ude des Gaus verwiesen und musste nach Grundlsee gehen. Er wurde zweimal eingekerkert und nur das Ende des NS-Regimes bewahrte ihn vor einem sicheren To- desurteil.197 Nach 1945 kehrte er nach Grundlsee zurück und engagierte sich vor allem in der Friedens- bewegung. 1951 kandidierte er erfolglos bei der Bundespräsidentenwahl, die ihm eine vorüber- gehende Suspendierung einbrachte und bei welcher er nur etwas mehr als 5000 Stimmen errin- gen konnte.198 Ude war zweifelsohne ein hochintelligenter Mensch, der seine Überzeugungen mit Nach- druck vertrat und so häufig mit anderen in Konflikt kam. Seine lebensreformerischen Prinzipien stießen vor allem in seiner Heimatdiözese und deren Bischof Pawlikowski auf Widerstand, was zu einigen disziplinären Maßnahmen führte. Bezeichnend eine Aussage, die Pawlikowski ge- genüber dem Ude gut gesinnten St. Pöltner Bischof Michael Memelauer199 im Jahr 1930 tätigte: „Seit 15 Jahren gibt er dem Ordinariate zu schaffen. Kein Geistlicher wurde so oft gemahnt wie

195 Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Graz veranstaltete am 6. November 2018 in Zusammen- arbeit mit dem Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte sowie dem Institut für Ethik und So- zialwissenschaften und dem Friedensaktivist Franz Sölkner anlässlich des Gedenkjahres 1938 zur Reichspogrom- nacht ein Symposium mit dem Titel „Symposium zu DDDDr. Johannes Ude (1874–1965): Pazifist – Lebensrefor- mer – Priesterpolitiker. Anstoß damals wie heute?“. Eine Publikation der Vorträge dieser Veranstaltung ist für 2019 geplant. 196 Zit. nach Liebmann, Lebensreformer, 397. 197 Ebd., 389–400. 198 Vgl. Farkas, Johannes Ude, 274. Zum Wahlergebnis bei der Bundespräsidentenwahl siehe die Homepage des Bundesministeriums für Inneres: https://www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Historischer _Rueck- blick.aspx (abgerufen am 12.01.2019). 199 Michael Memelauer (1874–1961), geb. in Sindelburg/NÖ, 1897 Priesterweihe, 1904, 1917 Dompfarrer in St. Pölten, 1927 Bischof von St. Pölten. Er legte großen Wert auf Liturgie und Gesang. Von Dezember 1939 bis Juli 1945 bzw. Jänner 1946 war er zusätzlich Administrator der Dekanate Neubistritz und Gratzen in Südböhmen. Widerstand gegen das NS-Regime in Hirtenbriefen und Predigten. Vgl. Schragl, Memelauer, 497f. 41

er und über keinen Diözesan-Geistlichen ist ein derartiger [sic] Aktenbündel im Archiv als über ihn.“200 In seiner 1934 verfassten Autobiografie mit dem Titel „Zu meinem vollendeten sechzigsten Lebensjahr. Erinnerungen aus meinem Leben“ schrieb Ude über seine politische Tätigkeit:

Heute danke ich, dass es so gekommen ist, dass ich nicht in die Berufspolitik hineingekommen bin. Ich habe seither immer klarer erkannt, dass der Priester nicht in die Berufspolitik gehört, sondern Seelsorger und Verkünder der sittlichen Grundsätze für alle ohne Unterschied sein soll.201

Ungeachtet dessen, dass sich der Lebensreformer selbst nicht daran gehalten hat, war er grundsätzlich gegen eine politische Betätigung Geistlicher in der Politik. Er war auch ein Gegner des Politischen Katholizismus mit seiner engen Verbindung der christlichsozialen Partei mit der Kirche, da er der Meinung war, diese vertrete nicht die Lehren des Kate- chismus. Er nannte es eine Unverfrorenheit, dass die Christlichsozialen sich als Partei bezeichneten, die das Christentum als einzige vertreten, da sie dies seiner Ansicht nach nicht machte.202 Dass er mit seinem Wirtschaftsbund dies sehr wohl tat, scheint für ihn die Rechtfertigung gewesen zu sein, dass er sich als Priester in der Politik betätigen müsse. Für ihn war ein Priesterpolitiker, der die wahren christlichen Werte vertritt, also kein Widerspruch zu dessen priesterlichen Existenz, wie man an ihm selbst als Beispiel erkennen kann.

3.1 Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz zum Rückzug des Klerus aus der aktiven Politik

Am 30. November 1933 beschloss die Österreichische Bischofskonferenz überraschend, Pries- ter aus der Gemeinde-, Landes- und Bundespolitik herauszunehmen. Konkret bedeutete dies, dass die gemäß CIC 1917 erforderliche Zustimmung des Bischofs vorübergehend und allge- mein zurückgenommen wurde. Dieser Beschluss wurde am 6. Dezember 1933 veröffentlicht und sollte schon am 15. Dezember 1933 in Kraft treten. Demnach schieden fünf Nationalrats- abgeordnete, drei Bundesräte, elf Landtagsabgeordnete und Gemeindepolitiker unbekannter Zahl aus.203 Der Beschluss lautete:

200 Zit. nach Farkas, Johannes Ude, 254f. 201 Ude, Erinnerungen, 85. 202 Vgl. ebd., 93f. 203 Vgl. o. V.: „Politische Betätigung des Klerus. Beschluß der Österreichischen Bischofskonferenz in Wien vom 30. November 1933“, in: Linzer Volksblatt (06.12.1933) 1. 42

Nach reiflicher Überlegung, ob es günstig oder ungünstig sei, daß katholische Geistliche unter den gegenwärtigen besonders heiklen politischen Verhältnissen als politische Mandatare weiter sich be- tätigen, hat die Bischofskonferenz den Beschluß gefaßt, die für die Ausübung des Mandates erfor- derliche bischöfliche Zustimmung in sinngemäßer Durchführung des can 139, § 4, vorübergehend und allgemein zurückzunehmen.204

Auch wenn diese Maßnahme durch den CIC nicht nur gedeckt, sondern ausdrücklich erwünscht war, erscheint sie in der Umsetzung als durchaus hart. Denn sie war sehr kurzfristig umzusetzen und führte bei den betroffenen Priesterpolitikern zu Konflikten zwischen dem Willen der Wäh- lerinnen und Wähler, deren Auftrag und der kirchlichen Anordnung.205 Weinzierl wertet diesen Beschluss als „aufsehenerregend“ und „eine neue Epoche der österreichischen Kirchenge- schichte vorwegnehmend“.206 Anders als im italienischen Konkordat (1929) und im Reichskonkordat (1933) wurde die politische Betätigung des Klerus im Konkordat Österreichs mit dem Heiligen Stuhl nicht be- handelt.207 In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass Seipel von der Bischofskon- ferenz gelegentlich zu Konkordatsberatungen hinzugezogen wurde und zwei Entwürfe begut- achtete.208 Dass Seipel eine über diese beratende Funktion hinausgehende Rolle gespielt hat, kann aus den vatikanischen Unterlagen nicht herausgelesen werden.209 Über die Gründe für den Beschluss der Bischofskonferenz wurde viel spekuliert, die Sozial- demokraten sahen es als Ausdruck des Misstrauens gegenüber Bundeskanzler Dollfuß, die NSDAP war der Meinung, dass der Beschluss vom Wiener Kardinal Theodor Innitzer210 aus- ging, da die enge Verbindung zwischen kirchlichen und politischen Angelegenheiten großen Schaden für die Kirche bewirke.211 Nach Hanisch sei das Motiv der Bischofskonferenz gewesen „der Regierung bei der Liquidierung der Christlichsozialen Partei, die noch immer ein Element der Demokratie darstellte, behilflich zu sein“.212 Auch Kriechbaumer ist der Meinung, dass die

204 „Beschluß der österreichischen Bischofskonferenz bezüglich der politischen Betätigung des Klerus“, in: Wie- ner Diözesanblatt 71/12 (21.12.1933) 99. 205 Vgl. Slapnicka, Abzug des Klerus, 242. 206 Weinzierl, Episkopat, 35. 207 Vgl. Kronthaler, Entwicklung, 60. 208 Vgl. Kremsmair, Konkordat, 135–137; Tagebücher, 30.11. und 02.12.1929. 209 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 343. 210 (1875–1955), geb. in Neugeschrei/Böhmen, 1902 Priesterweihe, 1903 Studienpräfekt im Wie- ner Priesterseminar, 1906 Dr. theol., 1908 Habilitation für Neues Testament, 1913 ordentlicher Professor, ab 1913 Generalsekretär der österreichischen Leo-Gesellschaft, 1929/1930 Minister für soziale Verwaltung, 1932 Erzbi- schof von Wien und Apostolischer Administrator des Burgenlands, 1933 Kardinal, 1938 Unterzeichnung der Fei- erlichen Erklärung, in welcher er sich mit den übrigen österreichischen Bischöfen anerkennend über das national- sozialistische Regime äußerte und für den „Anschluss“ plädierte. Innitzer richtete während des Krieges eine Erz- bischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken ein. Vgl. Weißensteiner, Innitzer, 279–286. 211 Vgl. Liebmann, Heil Hitler, 33. 212 Hanisch, Politischer Katholizismus, 14f. 43

Kirche Kanzler Dollfuß helfen wollte und den Beschluss „mit Zustimmung, vielleicht sogar auf Drängen des Kanzlers“ fällte.213 In der Literatur herrscht aber Übereinstimmung, dass die Initiative zu dieser Entscheidung vom oberösterreichischen Bischof Gföllner ausging, der zu dieser Zeit politischer Referent der Bischofskonferenz war und Priesterpolitikern skeptisch gegenüberstand. Sein Verhältnis zu Landeshauptmann Hauser war spannungsgeladen und dieses Misstrauen schien sich auf die Nachfolger Hausers vererbt zu haben.214 Aus dem Weihnachtshirtenbrief der Bischöfe vom 21. Dezember 1933 geht eindeutig her- vor, welche Gründe für den Beschluss vorlagen. Die Kirche sah ihre Ziele nunmehr durch die Regierung Dollfuß und das unterzeichnete Konkordat gewahrt und Priester waren für die Durchsetzung kirchlicher Interessen in der Politik nicht mehr nötig.215

213 Kriechbaumer, Lorbeerkranz, 467. 214 Vgl. Slapnicka, Abzug des Klerus, 243f. 215 Vgl. „Die Bischöfe Österreichs entbieten dem hochwürdigen Klerus und allen Gläubigen Gruß und Segen im Herrn“, in: Wiener Diözesanblatt 71/12 (21.12.1933) 99–105, hier 104. 44

4. SEIPEL ALS PRIESTER

Zeit seines Lebens war Seipel durch und durch von seiner priesterlichen Existenz geprägt. Das zeigte sich nicht nur äußerlich – er trug zu jeder Gelegenheit schlichtes Priestergewand, ob im Parlament oder vor dem Völkerbund – sondern auch in seiner Grundhaltung und Lebensweise. Er lebte bescheiden, materiell bedürfnislos, nahezu asketisch. Dass Seipel sich zuallererst als Priester verstand, ist aus allen seinen Schriften, Reden, Werken ersichtlich, auch politische Ent- scheidungen traf er aus dem Wesen seines Priestertums. „Der Priester ist in ganz großem Maße der bestimmende und maßgebende Faktor auch in Seipels politischem Leben und Wirken“ re- sümierte Rudolf Blüml, dem der Priesterpolitiker in seinen letzten Lebensjahren ein väterlicher Freund und Vertrauter war.216

4.1 Priesterliche Existenz

Zunächst soll die Frage geklärt werden, was unter „Existenz“, „christlicher Existenz“ und schließlich „priesterlicher Existenz“ verstanden werden kann. Der Begriff „Existenz“ ist in die- sem Zusammenhang nicht philosophisch im Sinne von „Dasein“ zu verstehen, sondern als Aus- druck für die dem Menschen eigene Seinsweise, wonach er trotz aller Bedrängnisse und Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, am Leben festhält. Der Mensch ist dabei immer der Gefahr ausgesetzt, dieser „Daseinsnot“ auszuweichen, um sein Menschsein aber seinem Wesen nach zu verwirklichen, muss er sein Sein entschlossen auf sich nehmen und so gut wie möglich ausfüllen.217 Mit anderen Worten ist mit Existenz „Sinnerfüllung im Lebensvollzug“ gemeint.218 Bei der christlichen Existenz, die jede/r Getaufte vollzieht, tritt durch den Glauben an die Menschwerdung Gottes ein tieferes Bewusstsein für die eigene Endlichkeit hinzu und eine Spannung zwischen Fall und Auferstehung, die sich im Gegenüber von Sünde und Gnade ma- nifestiert. Der christliche Mensch erfährt die Gefährdetheit des eigenen Seins um einiges stär- ker, weil nicht nur das jetzige Leben davon abhängt, sondern das ewige. Die Aussicht auf ein ewig währendes Leben gibt dem glaubenden Menschen aber auch die Kraft, das diesseitige so gut wie möglich entschlossen zu meistern. Die Sünde ist jedoch Realität und hindert den Men- schen an der Verwirklichung eines Lebens, das auf die Ewigkeit gerichtet ist. Der christliche Mensch ist in dieser Spannung gefangen, muss diese aushalten und bewusst in Kauf nehmen.219

216 Blüml, Ignaz Seipel, 23f. 217 Vgl. Pfliegler, Priesterliche Existenz, 25f. 218 Doms, Priesterliche Existenz, 45. 219 Vgl. Pfliegler, Priesterliche Existenz, 27f.; Doms, Priesterliche Existenz, 45. 45

Die priesterliche Existenz gründet sich in diesem allgemein christlichen Existenzerlebnis, sie sieht sich aber nicht nur mit der eigenen Gefährdung konfrontiert, sondern auch mit der aller Mitmenschen. Mit diesen ist der Priester im Wagnis des Lebens verbunden und sein Leben hat nicht nur den Sinn, sich selbst so gut wie möglich in der eigenen Existenz zu bewähren, sondern auch die Mitmenschen aus der Sünde zu befreien und ihnen den Weg zu Gott zu ebnen. Er sieht sich dazu als von Gott berufen und fühlt sich darum dazu verpflichtet. Das Berufungserlebnis ist kein einmaliges Ereignis, sondern der Priester ist Zeit seines Lebens dazu bestimmt, seine Existenz den anderen zu opfern, um diese zum Heil zu führen. Dadurch ist die Entscheidung zum Priestertum endgültig und priesterliche Existenz ist geprägt von Unausweichlichkeit und Unentrinnbarkeit. Durch die Weihe wird der Priester zum „Opferpriester“, zum Mittler zwi- schen Gott und den Menschen, zum Verkünder des Wort Gottes. Damit lastet eine große Bürde am Priester, der selbst ein ins Dasein Geworfener ist, aber auch für das Heil derer verantwortlich ist, denen er begegnet. Zwischen dieser Berufung und der Erfüllung muss immer ein Missver- hältnis bestehen, denn selbst der heiligste Priester bleibt immer Mensch und somit bleibt auch seine priesterliche Existenz eine unvollendete.220 Da der Priester aber Repräsentant Christi auf Erden ist, ist all das, was er als Werkzeug an anderen vollbringt, immer auch seine eigene Tat. Daraus ergeben sich hohe Forderungen an den Priester, der, so wie alle Getauften zur Heiligkeit berufen ist und der ein Vorbild für andere sein soll. Der Priester hat weitreichende Pflichten, die sich nicht nur an den äußeren Vollzug seiner priesterlichen Existenz richten, sondern auch an seine persönliche Frömmigkeit.221 Diese priesterlichen Pflichten, die also eng mit der priesterlichen Existenz verknüpft sind, sollen im folgenden Kapitel betrachtet werden.

4.2 Priesterliche Pflichten

Die Pflichten, die einem Priester nach kirchlichem Recht zukamen, wurden im Jahr 1917 im CIC festgelegt, in dem die seit dem 19. Jahrhundert ergangenen Einzelerlässe zusammengefasst wurden. Bestimmt wurden die Aussagen über den Priester aus der Sicht des Klerus als geistli- chem Stand. Die Grundregel war die Verpflichtung zu einer vorbildlichen Lebensführung und dies nicht nur auf geistlichem Gebiet. Dieser Anspruch ergab sich aus dem „character indelebi- lis“, dem unauslöschlichen Charakter, der in der Weihe verliehen wurde, und dem Verständnis

220 Vgl. Pfliegler, Priesterliche Existenz, 25–38. 221 Vgl. Doms, Priesterliche Existenz, 50; 66. 46

des Geweihten als „alter Christus“. Nach dem CIC und den Erlässen einzelner Diözesansyno- den war es die wichtigste Aufgabe des Priesters, durch sein Leben Zeugnis für die Botschaft Christi zu geben. Die priesterliche Existenz musste den ganzen Menschen durchdringen, „und so wie die Seele ‚forma corporis‘ sei, so solle der Priester ‚forma gregis‘ werden“.222 Das neuscholastische Konzept verstand den Priester als Verwalter und Spender der Gnaden- mittel in der Kirche, die von Jesus Christus, ihrem Stifter, dafür mit allen nötigen Amtsgewalten und Mitteln ausgestattet wurde.223 Es oblag den Bischöfen, ihre Priester zur Führung eines geistlichen Lebens anzuhalten, da- runter wurde häufiges Beichten, das regelmäßige betrachtende Gebet, der Besuch des Allerhei- ligsten, die Pflege des Rosenkranzgebets und die Gewissenserforschung verstanden (c. 125). Wichtig war das innere Gebet, für welches sich der Priester genügend Zeit nehmen sollte und die geistliche Erneuerung durch die Teilnahme an Exerzitien, an welchen Weltpriester alle drei Jahre teilnehmen sollten.224 Zu den verpflichtenden Frömmigkeitsübungen für Kleriker der höheren Weihen gehörte auch das tägliche Breviergebet (c. 135), bestehend aus Psalmen, Hymnen, Lesungen, Gebeten, und Segnungen. Die zu betenden Horen waren in der Nacht die Matutin und tagsüber Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Im Idealfall sollten diese Horen genau eingehalten werden, es konnte aber auch davon dispensiert werden.225 Dass in der Zeit Seipels das Stundengebet gewissermaßen in einer Krise steckte, geht aus den Ausführungen Pflieglers dazu hervor, der dafür einen täglichen Zeitaufwand von eineinhalb Stunden veranschlagte und dies für Priester problematisch sah:

Der mit Arbeit überlastete Seelsorger muß zwischen der Hetze des Tages das Breviergebet unter- bringen, es, wie es der verdächtige Ausdruck sagt: „persolvieren“. Er muß trachten, es zwischen- durch zu verrichten. Auch auf Wegen, in den Zwischenpausen der Schule, in der Straßenbahn.226

Immer wieder finden sich in aszetischen Schriften dieser Zeit Mahnungen, das Stundengebet nicht zur Routine werden zu lassen, sondern es mit innerer Anteilnahme zu beten.227 Aus dem CIC 1917 lässt sich grundsätzlich keine Verpflichtung zur täglichen Messfeier ab- leiten, die sich allein aus der Priesterweihe ergibt. Es ist lediglich die Rede von Regelmäßigkeit, was gemeinrechtlich etwa viermal pro Jahr bedeutete. C. 1247 hält die Bischöfe und Ordens- oberen an, dafür Sorge zu tragen, dass die Kleriker in ihrem Wirkungsbereich zumindest an

222 Gatz, Geschichte, 147f. 223 Vgl. Forstner, Umbruch, 245. 224 Vgl. Gatz, Geschichte, 147f. 225 Merk, Brevier, 84; 86; 88; 214. 226 Pfliegler, Priesterliche Existenz, 117. 227 Vgl. Forstner, Umbruch, 254. 47

Sonn- und Feiertagen zelebrierten. Die Pflicht zur täglichen Messfeier leitete sich erst aus der Übertragung seelsorglicher Ämter ab.228 Neben den Verpflichtungen zu einem geistlichen Leben und zur Vorbildlichkeit kam die Pflicht zur Ehrerbietung und zum Gehorsam gegenüber seinem Ordinarius hinzu. Außerdem waren Priester zur ständigen Weiterbildung verpflichtet. Es wurden regelmäßige Fortbildungen und die Lektüre theologischer Schriften empfohlen. Den Synoden war es sehr wichtig, dass Priester die Gemeinschaft mit den Mitbrüdern und in der Gemeinde pflegten.229 Mit der Pflicht zur zölibatären Lebensform war auch das Gebot völliger Keuschheit im äu- ßeren Handeln und im inneren Denken und Wollen verbunden (c. 132 § 1 iVm cc. 1072, 1073), die Geweihten mussten sich nach c. 124 sittlich unter den Laien hervorheben und ihnen Vorbild sein. Der Priester musste sich standesgemäß verhalten und Tätigkeiten vermeiden, die für sei- nen Stand nicht ehrenvoll waren oder von Anderen so interpretiert werden könnten (c. 138), wie z. B. Besuche von anzüglichen Theater- und Kinovorstellungen, Lokalen, u. ä.230 Für den Wiener Diözesanklerus waren bis zur Promulgation des CIC 1917 die Bestimmun- gen des Wiener Provinzialkonzils von 1858 gültig. Darin war das Bemühen um Selbstheiligung die Voraussetzung für die Heiligung anderer und Grundvoraussetzung für jedes seelsorgliche Wirken. Als Mittel zur Selbstheiligung wurden die Aszese, das beschauliche und das tätige Leben, die Betrachtung, die Reinheit des priesterlichen Lebens, das Stundengebet, die Erho- lung, die Kleidung des Klerus und die Exerzitien genannt. Demjenigen, der ein tätiges Leben führte, so wie Seipel es tat, wurde zugestanden, dass er der Betrachtung nicht so viel Zeit wid- men könne. Als „Quelle des Heiles“ sollte sie aber nicht in Vergessenheit geraten, da sie „An- trieb und Ziel“ des innerlichen Gebets wäre. Was die Reinheit des Lebens betraf, unterschieden sich die Wiener Bestimmungen kaum von denen des CIC 1917. Als priesterliche Kleidung wurde der Talar, die Tonsur und das Tragen des Kollare gefordert. Dem Klerus wurden jährli- che Exerzitien empfohlen, die zu dieser Zeit in der Wiener Kirchenprovinz schon lange einge- führt worden waren.231 Der Priester nach dem CIC 1917 und nach den Bestimmungen der Wiener Kirchenprovinz war also ein „Gottesmann“ von Frömmigkeit, Gehorsam, Bildung, Armut und Enthaltsam- keit.232

228 Vgl. ebd., 255, Anm. 53. 229 Vgl. Gatz, Geschichte, 148 – 150. 230 Vgl. Forstner, Umbruch, 254f. 231 Weißensteiner, Wiener Diözesanklerus, 311–313. 232 Gatz, Geschichte, 147–149; 151. 48

Inwieweit Ignaz Seipel diesem Priesterbild entsprochen hat, soll nun in den nächsten Kapi- teln unter Bezugnahme auf seine Tagebuchaufzeichnungen nachgegangen werden, weswegen zuerst seine Tagebücher behandelt werden.

4.3 Tagebücher von Ignaz Seipel

Die aufschlussreichste Quelle für sein inneres Leben, sein Ringen, den priesterlichen Pflichten gerecht zu werden und seine priesterliche Existenz zu verwirklichen, sind die Tagebücher von Ignaz Seipel, welche er in der Zeit vom 19. Februar 1916 bis zum 23. Juli 1932, also neun Tage vor seinem Tod, mit nur wenigen Unterbrechungen geführt hat. Über das Motiv für die Führung eines Tagebuchs schrieb er im ersten Eintrag, dass er sich fürchte, dies zu tun, es ihm aber dabei helfen sollte, seine Zeit besser zu nützen:

Bisher habe ich nie ein Tagebuch geführt. Ich fürchte mich vor dem Zwang, es fortführen zu müssen, wenn ich einmal eines angefangen hätte. Noch mehr fürchte ich, es würde bei meiner Neigung zur Selbstbespiegelung viel Unwahres und Unechtes enthalten. Nun will ich aber doch den Versuch wagen. Vielleicht hilft mir das Tagebuch zu einer besseren Selbstkontrolle und damit zu einer ge- wissenhafteren Ausnützung der Zeit.233

Von einer „Selbstbespiegelung“ kann bei der Lektüre der Tagebücher keine Rede sein, vielmehr sind Seipels Aufzeichnungen von einer strengen Selbstbeurteilung geprägt. An vielen Stellen beschuldigte er sich selbst der Trägheit und einer schlechten Zeitkoordination, er rang geradezu gegen ein Sichgehenlassen und Faulheit. Seipel notierte in seinen Tagebüchern penibel seinen Tagesablauf, seine Erlebnisse und Be- gegnungen als Professor, Politiker und Priester, die der Alltag mit sich brachte. Die Eintragun- gen sind knapp gehalten, die persönliche Meinung über vorkommende Personen tat Seipel nur sehr selten kund. Die Anzahl der Namen, Kontakte, usw. ist sehr groß, ebenso beeindruckend sind die vielen Tätigkeiten des Priesterpolitikers in Ausschüssen, im Klub der christlichsozialen Partei, Reden bei Wählerversammlungen und Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitungen. Will man seine Aufzeichnungen nach Phasen einteilen, so können drei unterschieden wer- den: 1. Vom Beginn der Tagebücher bis etwa Oktober 1918 sind die Notizen von der Arbeit als Universitätsprofessor geprägt, Persönliches ist in dieser Zeit kaum zu finden. Die Aufzeichnun- gen sind relativ ausführlich und Seipel schrieb meistens in ganzen Sätzen.

233 Tagebücher, 19.02.1916. 49

2. Von Oktober 1918 bis August 1927 steht Seipels Tätigkeit als Politiker im Vordergrund. In dieser Zeitspanne bestehen die Notizen vorwiegend aus einer stichwortartigen Aufzählung von Personennamen. 3. Ab den Exerzitien, die Seipel nach den Juli-Ereignissen von 8. bis 11. August 1927 bei den Jesuiten in Lainz gemacht hat, und die, wie später noch ausführlicher dargestellt wird, prä- gend waren, bis zu seinem Tod nehmen persönliche Gedanken und Reflexionen über das geis- tige Leben zu. Seipel notierte seinen Tageslauf chronologisch, meist ist zu Beginn vermerkt, wann und wo er zelebriert hat, danach evtl. die Betrachtung, danach Aufzeichnungen über seine Arbeit (im Amt, welche Personen er getroffen hat, woran er gearbeitet hat, wo er hingefahren ist, usw.). Am Schluss formulierte er mögliche persönliche Gedanken. Am Ende jedes Jahres beschloss er dieses mit einer genauen Aufstellung seiner Funktionen, gehaltenen Reden, Veröffentlichun- gen, Messfeiern, Betrachtungen, Rosenkränze, Einnahmen und Ausgaben. Ein Beispiel für diese beeindruckende Liste ist z. B. sein Eintrag am Ende des Jahres 1919:

Jahresübersicht 1919:

Brevier 122; betrachtung 44; confessio 56; rosenkranz 5; +++ 21; (+++ in ++, beide in + enthalten)

++ 74; + 137;

Habe 3 Aufsätze, 3 Parteiprogramme, eine Staatsschrift, und 128 Zeitungsartikel geschrieben, 184 Predigten und Reden gehalten, 758 Sitzungen und Versammlungen mitgemacht, 48 kirchliche Funktionen abgehalten, 753 Besuche empfangen, 284 Besuche gemacht und 36943 Kronen 83 hel- ler eingenommen.234

Prälat Seipel war Zeit seines Lebens ein kränklicher Mensch, er litt unter Diabetes und durch das Attentat im Jahre 1924 wurde sein grundsätzlich schlechter Gesundheitszustand noch zu- sätzlich verschlechtert. In den letzten fünf Lebensjahren nahmen physische und psychische Lei- den viel Raum ein, der Gesundheitszustand des ehemaligen Bundeskanzlers verschlechterte sich. Die Sorge um seinen körperlichen Zustand drückte sich auch in den Tagebüchern aus, es mehrten sich Notizen über ärztliche Konsultationen, Behandlungen und eigene Gedanken dazu

234 Tagebücher, 31.12.1919. 50

(z. B. „Wieder viele Diabetessymptome und Gefühl des Krankseins; habe Obst, Milch und But- ter bereits aufgegeben“ oder „Den ganzen Tag recht unwohl, Folge von Diätfehlern“). An man- chen Tagen wurden auch das Körpergewicht, der Zuckerprozentsatz oder die Höhe des Fiebers vermerkt.

4.4 Priesterliches Leben

Dass Prälat Seipel seine priesterlichen Pflichten sehr ernst nahm, ist aus den Tagebuchaufzeich- nungen ablesbar. Zuerst ist notiert, ob er am betreffenden Tag zelebriert hat oder nicht. Ab 29. September 1916 verzeichnete er regelmäßig Partikularexamenskreuzchen, entweder eines, zwei oder drei, dies zieht sich durch die gesamten Tagebücher. Dazu kamen ab 1919 die Kontrolle der täglichen Betrachtung, abgekürzt mit „b“, für das Gebet des Rosenkranzes ein „r“ und ein „br“ für das Breviergebet. Er verzeichnete fast wöchentlich die Ablegung der Beichte („c“ für confessiones), außerdem Predigten und Reden („R“), Pontifikalfunktionen („Pont“), Besuche, die er bei jemandem gemacht hat („Bg“) und solche, die er bekommen hat („Be“), erledigte Briefe („Br“) und seine Arbeitszeit („Az“).235 In den folgenden Unterkapiteln soll der Art und Weise, wie Ignaz Seipel seine priesterliche Existenz verwirklicht hat, aufgegliedert nach priesterlichen Aufgaben und Frömmigkeitsübun- gen nachgegangen werden.

4.4.1 Gebet und Betrachtung

Es geht eindeutig aus den Tagebüchern hervor, wie bedeutsam Gebet und Betrachtung für den Prälaten waren. Das zeigen beispielsweise folgende Einträge, in welchen er die Notwendigkeit des Gebets betonte und sich selbst dazu ermahnte, das Gebet in Ehrfurcht und mit ganzer Auf- merksamkeit zu verrichten:

Das Gebet ist nichts Isoliertes, Grundlage und zugleich Frucht des ganzen sonstigen Lebens. Da ich heute anscheinend einen ruhigen Tag, mit einiger Gelegenheit zu stiller, nervenberuhigender Arbeit und zum Nachdenken habe, soll es auch ein Tag besseren Gebetes werden: a) aus Dankbarkeit, b) aus Notwendigkeit auf Grund meiner Schwäche, c) für die Armen Seelen.236

235 Vgl. Tagebücher und Dür, Dr. Ignaz Seipel, 26. 236 Tagebücher, 01.11.1927. 51

Ehrfurcht beim Gebete. Das Mindeste an Ehrfurcht im Gebete wäre doch die Zeit des Gebetes wirk- lich Gott widmen. Nicht anderes dazwischentun, nicht hasten, nicht nur sagen, daß man bete, son- dern es tun! Gerade wenn es mir eigentlich gut geht, die Nerven nicht sonderlich erregt sind, sollte ich ernstlich beten können; so heute. Bin aber ganz leer und unfruchtbar.237

Die Tagebücher geben Aufschluss darüber, wie sehr Seipel darum rang, eine gute Betrachtung zu machen und wie schwer es ihm an hektischen und arbeitsreichen Tagen gefallen ist, zu einer inneren Haltung zu kommen, die eine solche ausmacht. Vor allem nach den Exerzitien im Jahr 1927, die ihn besonders geprägt haben (siehe Kapitel 4.3.5), beschäftigte er sich intensiv mit diesem Thema und schrieb in einer Nachexerzitienbetrachtung über sein Gebetsleben, das er seiner Meinung nach nur mangelhaft, unvorbereitet und unandächtig ausübte:

Ehrfurcht beim Gebet. Mängel selbst des wenigen Gebetes, das ich nun wieder übe: nur in abgeris- senen, nicht anders zu verwendenden Zeitabschnitten; daher immer wieder Gefahr, das Gebet zu unterlassen. Nicht vorbereitet darauf, in allem inneren Hasten. Wohl gerade deswegen ohne größere Wirkung auf die Art, wie ich die Tagesarbeit verrichte. Beim mündlichen Gebet sofort empfindlich gegen körperliche Unbequemlichkeiten. Innerlich nicht genug Bewußtsein, das mein Gebet nicht eine Leistung meinerseits für Gott, sondern vielmehr ein Gnadengeschenk Gottes für mich ist. Nicht im Gedränge der Geschäfte das Gebet abkürzen und verschieben, sondern die Geschäfte warten lassen. Trotz dieses Grundsatzes infolge Telefongespräches unterbrochen und erst nachmittags fort- gesetzt. Hilfsmittel zu einem andächtigen und ehrfurchtsvollen Gebet: Früh aufstehen und so unge- stört bleiben können; nicht immer nervös die Haltung ändern.238

Er stellte fest, dass er sich am meisten nach dem Gebet sehnte, wenn er „am meisten ins bloße äußerliche Tätigsein verfallen war“. Dass sich aber in solchen Zeiten seine Seele geregt habe, sei nicht durch sein eigenes Zutun geschehen, sondern aus der Gnade Gottes.239 Bei einer Exerzitienbetrachtung über die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Abstufungen von Sünde ging Seipel eine seiner gewöhnlichen Beichten durch und hielt fest, dass „das Gebet als Priesterpflicht und wegen erfahrungsmäßiger Schwäche“ eine schwere Sünde darstellen würde, wenn es ganz unterlassen wird oder so unandächtig gehalten wird, „daß es gar kein Gebet mehr ist“. Lässlich sei es, wenn bei einem „Pflichtgebet die gebührende Auf- merksamkeit auf das Konzentrieren bewußt unterlassen wird“.240 Mehrmals beklagte er, dass er nicht die erforderliche innere Ruhe hatte, um sich auf den Betrachtungsstoff zu konzentrieren: „Gar keine wahre Betrachtung; körperlich nicht wohl, übermüdet, ungeheuer angespannte Nerven; alle Unruhe über das, was heute mich erwartet“.241

237 Ebd., 04.12.1927. 238 Ebd., 15.09.1927. 239 Ebd., 14.09.1927. 240 Ebd., 13.08.1930. 241 Ebd., 03.10.1927. 52

Einmal formulierte er Hindernisse, die ihn vom Gebet abhielten, nämlich a) keine Zeit haben und b) Zerstreuung, wobei er ergänzt, dass ein zerstreutes Gebet nicht schlechter ist als gar keines. Zum Punkt a) fügte er hinzu, dass es auch einen selbst auferlegten Zeitmangel gäbe, denn er habe niemals jemanden nicht empfangen, weil er beten müsse und wenn er jemanden nicht vorgelassen habe, dann habe er die gewonnene Zeit nicht zum Beten verwendet. Als be- sonders schöne Gebete nannte er die Marienverehrung und die Herz-Jesu Andacht und bezeich- nete das „Beten auf Erden ein Stück Himmel auf Erden“.242 Am nächsten Tag fügte er diesen Überlegungen noch weitere hinzu. Zu a):

Sehe ich bei nochmaliger Überlegung ganz klar ein, daß es nicht wahr ist, daß ich keine Zeit habe. Ich will darauf achten, wie es in Zukunft ist. Sollte es sein, werde ich mit gutem Gewissen von allen Erleichterungen Gebrauch machen. Nur nicht fasten und dabei auch noch ein schlechtes Gewissen haben!

Zu b):

Über alle Spekulation geht die Erfahrung. Komme ich aus ohne Gebet oder nicht? Darüber ernstlich nachdenken! Vielleicht war einmal eine gebetsarme Zeit reicher an Freiheit von Versuchungen, an positiven Arbeitsergebnissen? Könnte wegen der seelischen Entlastung, besseren Ruhe, Beruhigung der Nerven an sich so sein. Ist aber sicher nicht so, wenn es mit schlechtem Gewissen verbunden ist. Ein mit gutem Gewissen geschehenes Einstellen gewisser religiöser Übungen ist sicher eine Art Gebet oder mit Gebet verbunden. Alles ist erlaubt, was ich mit gutem Gewissen tue. Allgemeiner Fehler in dieser Beziehung: auch Nichtstun erlaubt, wenn es mit gutem Gewissen geschieht. Unter- schied von Erholung und Faulheit.

Hier kann man eine für Seipel unübliche Gelassenheit erkennen, da er ansonsten dazu neigte, seine priesterlichen Aufgaben überaus genau zu machen. Er erlaubte sich auch einmal nichts zu tun, wenn er auch zwischen Erholung und Faulheit unterschied. Nur selten schaffte es der Priesterpolitiker nicht, seinem Vorsatz der täglichen Betrachtung (meistens vor der heiligen Messe in der Früh oder nach dem Frühstück) treu zu bleiben, dann vermerkte er „Keine Betrachtung gemacht“. Bei den Exerzitien 1927 setzte er an die erste Stelle von besonderen Vorsätzen „tägliche Betrachtung“ mit dem Zusatz „die spezielle Mahnung des Exerzitienleiters bei der heiligen Beichte an mich“243, was darauf hinweist, dass die Notwen- digkeit der täglichen Betrachtung Thema der Beichte war. Bei einem Vortrag über die Betrachtung bei den Exerzitien 1930 notierte Seipel, dass die tägliche Betrachtung den Priestern im CIC vorgeschrieben ist. Er bezog sich auf die Methode nach dem Exerzitienbüchlein und vermerkte, dass eine halbe Stunde empfohlen sei. Er nahm

242 Ebd., 13.08.1930. 243 Ebd., 10.08.1927. 53

sich vor, die Punkte bereits am Abend vorzubereiten und die Betrachtung am Morgen zu ma- chen und ermahnte sich selbst, dass dies „wirkliches Reden“ zu Gott sein müsse und keine bildliche Ausdrucksweise beinhalten soll.244 Seipel, der als Geistlicher zum Breviergebet verpflichtet war, verzeichnete dieses in den Ta- gebüchern mit „br“, bei einzelnen gebeteten Horen verzeichnete er Matutin („M“), 1., 2. 3. Nokturn („1. N“, „2. N“; „3. N“), Laudes, („L“), Prim („P“), Terz („T“), Sext („S“), Non („N“), Vesper („V“), Complet („C“). Es ist davon auszugehen, dass Seipel schon vor Beginn seiner Tagebuchaufzeichnungen eine Dispens erhalten hatte, denn er schrieb am 2. März 1916: „Heute machte ich ab ‚Laudes‘ auch wieder von meiner Brevierdispens Gebrauch; vom 31.1. bis ges- tern hatte ich sie nicht benützt.“245 Zwei weitere Male erwähnte er die Dispens: Einmal gab er sie als Grund an, warum er innerlich so wenig mit den Heiligen lebte246 und ein anderes Mal schien sie Thema in einem Gespräch mit dem Exerzitienleiter bzw. Beichtvater gewesen zu sein:

Das Brevier als Teil der Liturgie. Dispens; Entschuldigungsgründe.

[Die Frage des Beichtvaters und der Exerzitienaussprache.]

[ Gegenstände besonderer Erwägungen: Dispens: Anlaß, Wortlaut, Ersatzleistung. Zelebrieren nach +, ++, +++. Beichtvater. Exerzitienaussprache.]247

Wenn er nicht das ganze Brevier betete, und dies war naturgemäß häufig der Fall, so verzeich- nete er am öftesten eine der drei Nokturnen und die Komplet. Am seltensten notierte er die kleinen Horen Terz und Sext. Die Aufzeichnungen schwanken aber in ihrer Häufigkeit sehr stark, in den letzten Lebensjahren betete er laut Tagebüchern um ein Vielfaches mehr als in den ersten Jahren seiner Aufzeichnungen. Es ist aber nicht möglich, daraus auf die tatsächlich ge- beteten Horen zu schließen, da es auch sein kann, dass der Prälat zu gewissen Zeiten seine Gebete lediglich genauer notiert hat. In seinen letzten beiden Lebensjahren verzeichnete er außerdem die verrichteten Gebete nicht täglich, sondern fasste sie nach einer gewissen Zeit zu einer Tabelle zusammen. In diesen Tabellen schrieb er sowohl „br“ als auch „Br“, beides auch mehrmals pro Tag, sodass nicht gesagt werden kann, was er damit genau meinte.

244 Ebd., 11.08.1930. 245 Ebd., 02.03.1916. 246 Vgl. ebd., 18.08.1927. 247 Ebd., 13.08.1930. 54

4.4.2 Gewissenserforschung und Beichte

Seipel praktizierte das sogenannte Partikularexamen, eine Form der Gewissenserforschung, die seit dem frühkirchlichen Mönchtum bekannt ist, und seit Ignatius von Loyola248 zu einer geist- lichen Tagesordnung gehört.249 Man wählt dabei einen bestimmten negativen bzw. positiven Vorsatz, also bei ersterem einen konkreten Fehler, den man vermeiden will, bei zweiterem eine Tugend, die es zu stärken gilt und überprüft dann täglich den Fortschritt dieses Vorhabens. Ignatius empfiehlt drei Zeiten der Überprüfung: In der Früh soll man sich den definierten Vor- satz bewusst machen, zu Mittag überprüfen, inwieweit man bis zu diesem Zeitpunkt den Fehler wiederholt oder verbessert hat und nach dem Abendessen eine gründliche Gewissenserfor- schung, in der man jede Stunde des Tages reflektieren soll und darüber nachdenkt, ob man den Vorsatz verwirklicht oder sich dagegen verfehlt hat. Nach Ignatius sollen die Verfehlungen anhand von Punkten auf zwei Linien (eine mittags und eine abends) markiert werden und daran täglich und wöchentlich verglichen werden, ob es zu einer Verbesserung gekommen ist.250 Sei- pel benutzte zur Kontrolle nicht diese Linien, sondern Kreuzchen. Mit dem Partikularexamen beschäftigte Seipel sich in den Tagebüchern während der Exer- zitien im Jahr 1930 nach einem Vortrag über „Heiligkeit und Vollkommenheit“ und bezeich- nete es als „äußeres Mittel“ und „medium ordinarium“, um systematisch zu Vollkommenheit und Heiligkeit zu gelangen. Es wäre wichtig, sich dabei nicht nur den Sünden und Hauptfehlern zu widmen, sondern auch kleinen Verletzungen der Tugenden, wie z. B. „keine verlogenen, geistlosen Kniebeugungen“, gestärkt werden müsse der „Glaube an die Gegenwart des Herrn in der Eucharistie“. 251 Nach der Vorschrift des kirchlichen Gesetzesbuches hielt Ignaz Seipel daran fest, einmal pro Woche die Beichte abzulegen.252 Am Tag der Beichte gestaltete er seine Morgenbetrachtung meist als Gewissenserforschung, oft folgte nach der Erwähnung der Beichte ein „Deo gratias!“.

248 Ignatius von Loyola (1491–1556), eigentlich Iñigo López de Loyola, geb. am Schloss Loyola/Spanien, verletzte sich bei der Verteidigung Pamplonas als Offizier schwer. Während der Genesung widmete er sich religiösen Schriften und kam zum Entschluss, sich einem geistlichen Leben zu verschreiben. 1523/24 Pilgerfahrt nach Jeru- salem, Studien an der Lateinschule zu Barcelona sowie an den Universitäten Alcalá und Salamanca, 1528–1535 Studien der Philosophie und Theologie an der Universität Paris, 1534 gründete er mit sechs Gefährten auf dem Montmartre in Paris eine fromme Bruderschaft, 1537 Priesterweihe in Venedig, 1539 Ordensgründung als „Socie- tas Jesu“. 1540 Päpstliche Bestätigung des Ordens, 1609 Seligsprechung, 1622 Heiligsprechung. Vgl. Kiechle, Ignatius. 249 Vgl. Puzik, Diener, 180. 250 Vgl. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 27f. 251 Tagebücher, 13.08.1930. 252 Vgl. c. 595 § 1 3° des CIC 1917, wo die Pflicht des Klerikers zur wöchentlichen Beichte normiert wird: „Ad poenitentiae sacramentum semel saltem in hebdomada accedant“. 55

Bei den Exerzitien im Jahr 1930 beschäftigte sich Seipel intensiv mit den Arten von Sünden.253 Er unterschied und definierte Todsünde, lässliche Sünde, Fehler und Unvollkommenheit. Tod- sünde wäre demnach dadurch gekennzeichnet, dass es sich um eine wichtige Sache handelt, und dass die Übertretung wissentlich und freiwillig geschah. Lässliche Sünden wären dann vor- handen, „wenn eines der drei Merkmale der Todsünde nicht ganz vorhanden ist“ und „fehlt eines der Merkmale ganz“, dann ist es ein Fehler. Unvollkommenheit definierte der Priesterpo- litiker als „Mangel einer Vollkommenheit, die man haben könnte, aber nicht hat und nicht zu haben braucht“. Nach diesen Definitionen ging er dann eine seiner gewöhnlichen Beichten durch, „um zu sehen, was [er] dabei an Sünden und was an Fehlern zu beichten pflegte“:

Nicht gleich beichten gehen, wenn schwere Sünde und mittlere, - schwere Sünde. Nicht vollkom- mene Reue vor Zeichen von schwerer Sünde, - schwere Sünde. Gebet als Priesterpflicht und wegen erfahrungsmäßiger Schwäche - Sünde, schwer, wenn ganz unterlassen oder so unandächtig, daß es gar kein Gebet mehr ist; läßlich, wenn bei Pflichtgebet die gebührende Aufmerksamkeit auf das Konzentrieren bewußt unterlassen wird. Nächstenliebe, Reden, um zu schaden - unbedachtes Re- den; ernste Wünsche - nicht unterdrückte Regungen. Ob ich nicht die Pflicht hätte, die Menschen, die Schwierigkeiten machen, zu bekehren, besser zu machen, statt nur zu bekämpfen und im äu- ßersten Fall ihnen auszuweichen? Diät und Mäßigkeit. Zweierlei. Ehrgeiz, Unterschied zwischen Machinationen und Träumen. Schnappen. + und ++ und +++. Schon Sünde wegen Gefahr zu wei- terem, wenn nicht ganz unbewußt und ganz unfreiwillig. Gerade hier große Gefahr mangelnder Unterscheidung: Wenn doch schon geschehen... Reden, Wahrhaftigkeit, Notlügen. Trägheit etwas anderes als Müdigkeit. In Zukunft bei den Beichten besser unterscheiden und nur wirkliche Sünden beichten.254

Er legte nicht nur selbst regelmäßig die Beichte ab, sondern nahm diese auch ab, z. B. bei den Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu255 und bei Exerzitien, die von ihm geleitet wurden, wie zum Beispiel im Jahr 1930, als er an drei Tagen die Abnahme von insgesamt 31 Beichten verzeichnete.256

4.4.1 Eucharistieverehrung und heilige Messe

Als Betrachtungsvorsatz notierte Ignaz Seipel einige Monate vor seinem Tod: „Die Eucharis- tiefeier in den Mittelpunkt des Lebens stellen“.257 Die Tagebücher zeichnet das Bild eines mit sich um Perfektion Ringenden, auch was die Feier der heiligen Messe und die Verehrung der

253 Vgl. Tagebücher, 12.08.1930. 254 Ebd., 13.08.1930. 255 Auf diese Schwesterngemeinschaft wird in Kapitel 4.5.1 näher eingegangen. 256 Vgl. ebd., 08.04.–10.04.1930. 257 Ebd., 15.01.1932. 56

Eucharistie betrifft. Das Thema Eucharistie ist bei Betrachtungen mehrmals zu finden, bei- spielsweise widmete er an zwei Tagen hintereinander die Nachexerzitienbetrachtung dem Thema „Die heiligste Eucharistie“,258 ein anderes Mal beschäftigte er sich an fünf aufeinander folgenden Tagen mit den „Früchten der Verehrung des allerheiligsten Sakramentes.“259 Am ersten Tag war er sich selbst gegenüber streng, wenn er über die Verbindung zwischen eucha- ristischer Anbetung und heiliger Messe schrieb:

Ganz fern von der richtigen Verehrung: gleichgültig beim Zelebrieren trotz + und ++; kein Gefühl der Gottesnähe. Alle Spezialvorsätze, diese oder jene eucharistische Andacht zu pflegen, bedeu- tungslos, solange ich mich nicht bei der Hauptandacht, der hl Messe anders verhalte. Vielleicht aber doch auch umgekehrt: weil ich den ganzen Tag nicht an den eucharistischen Heiland denke, ihn nie besuche, kann ich dann auch nicht morgens ganz bei ihm sein. Heute wieder die Betrachtung bloßer Schein, gar keine Konzentrationsmöglichkeit!260

„Um Früchte zu ernten“, notierte er am folgenden Tag, „müßte zuerst die Verehrung selbst geübt werden“. Als Priester wäre die Verehrung des allerheiligsten Sakraments sein „Lebens- beruf“. Als Hindernisse machte er „Weltlichkeit, Phantasie und Nerven“ aus. Er nahm sich vor, sich den ganzen Tag über und am Abend auf die heilige Messe vorzubereiten, um Früchte ernten zu können.261 Ob er diesen Vorsatz eingehalten hat, schrieb er am nächsten Tag nicht, er machte sich aber weiter Gedanken über die Hindernisse, von denen er sich ablenken ließ und benannte sechs Punkte, die er an sich selbst beobachtete und die es zu vermeiden gelte:

Ich bringe mich selbst um die Früchte, wenn ich nachgebe a) der Sinnlichkeit, b) phantastischer Eitelkeit, die beide meine Phantasie sehr stark beschäftigen können, c) der Erbitterung über irgend- welche Vorkommnisse und Personen, d) der Furcht vor kommenden Schwierigkeiten, e) der unzei- tigen Beschäftigung mit meinen Sorgen, f) der unzeitigen Meditation über künftige Reden und der- gleichen. Heute waren nur wenige Teile der hl Messe, bei denen ich mich von all dem freigehalten habe; aber sofort spürte ich Herzensfreude und Beruhigung, sobald ich es tat.262

Am vierten und fünften Tag benannte er zwei konkrete „Früchte der Verehrung des allerhei- ligsten Sakraments“ mit einer besseren „Erkenntnis der Nichtigkeit der Welt“ und „Innerlich- keit“ und beklagt dann: „Daß mir die Sammlung gar so schwer fällt, ist gewiß ein Zeichen davon, daß ich von der richtigen Verehrung des allerheiligsten Sakraments ganz fern bin.“263

258 Ebd., 31.01.1928 und 01.02.1928. 259 Ebd. 28.09.1927–02.10.1927. 260 Ebd., 28.09.1927 261 Ebd., 29.09.1927. 262 Ebd., 30.09.1927. 263 Ebd., 01. und 02.10.1927. 57

Man kann erkennen, wie sehr der Prälat darum kämpfte, eine würdige Messe zu feiern, nur wenige Wochen später betrachtete er wieder die „Praxis der Verehrung des allerheiligsten Sak- raments“ und suchte geradezu verzweifelt nach Mitteln, um für die Messe gut vorbereitet zu sein:

Um für die hl Messe in guter Verfassung zu sein, ist notwendig a) Diät am Abend und in der Vorsicht in der abendlichen Lektüre; nicht zu viel zu essen und nicht zu lang lesen, um körperlich frei zur hl Messe zu sein; b) früh aufstehen, um nicht ins Hasten zu kommen; c) Freiheit des Geistes von den Tagessorgen; wäre größer, wenn nicht immer wieder die Gedanken an die Fehler und Versäumnisse des vergangenen Tages und an die schlecht vorbereiteten Aufgaben des angebrochenen Tages zu- sammenträfen. Schwerer Mangel, daß der übrige Tag, nach der hl Messe, in meinen Gewohnheiten so „eucharistiefremd“ ist.264

Sehr streng beurteilte er sich selbst:

Jede Gewissenserforschung hat gerade in dieser Beziehung schreckliche Ergebnisse: unglaubliche Kälte in mir, Mechanismus, obwohl der eucharistische Dienst das einzige täglich Geübte bei mir als bei einem Priester, der nicht ein eigentlich priesterliches Amt als Hauptamt hat, ist. Es müßte, was meinem Priesteramt an Breite der Betätigung abgeht, durch Tiefe im eucharistischen Priestertum ausgeglichen werden. Wie steht es in Wirklichkeit? Wie kann ich es ändern?265

Er ging also darauf ein, dass er nicht Priester im Hauptberuf wäre und meinte, dass er dies ausgleichen müsste, indem er die Eucharistiefeier besonders tief feierte, was er in Wirklichkeit aber nicht tun würde. Es ist aus den gesamten Tagebüchern zu erkennen, wie sehr Seipel die Eucharistiefeier schätzte. Auch nach langen durchgearbeiteten Nächten im Amt oder nach einer langen Reise zelebrierte er. Um Weihnachten 1918 beispielsweise hatte er Grippe und schrieb, dass er sich sehr elend fühle, Schüttelfrost und Schmerzen habe, was ihn aber nicht daran hinderte, am fol- genden Tag – den Heiligen Abend – die Nacht mit mehrmaligem Zelebrieren zu verbringen:

Die Nacht im Kriegsspital II bei der Spinnerin am Kreuz verbracht, dort das Mitternachtsamt zele- briert, gleich darauf die 2. Messe gelesen und bei einem anderen Hochamt assistiert, dauerte bis 3 Uhr. Um 8 Uhr in Baracke 44 zelebriert. Beim Amt und bei der 8 Uhr-Messe kurze Predigten ge- halten. Matutin, Laudes, Vesper. Sehr heiser, starker Katarrh.266

Auch auf seiner Schiffsreise in seinem letzten Lebensjahr versuchte er so oft wie möglich selbst zu feiern, auch wenn die Umstände schwierig waren: „Zelebriert zum erstenmal auf dem Schiffe“, viele weitere Einträge über Messen am Schiff folgen, auch wenn seine Gesundheit es

264 Ebd., 08.11.1927. 265 Ebd., 07.11.1927. 266 Ebd., 24.12.1918. 58

kaum zuließ: „Sehr unruhige Nacht, wegen Husten und Fußschmerzen […]. Früh zelebriert auf dem Schiff im Hafen von Larnaka“267 oder

Schüttelfrost. Mit geschlossem Auto in die Kirche gefahren. Eine der vier Binationsmessen gelesen. Noch nie ist mir das Zelebrieren so schwer gefallen. Ungeheurer Durst. Ganz schwach, erst gegen 11 Uhr etwas erholt. Nach großer Übelkeit.268

Vor allem in seinen letzten Lebensjahren, als er durch Krankheiten stark geschwächt war, ließ er es sich nicht nehmen, die Messe zu feiern, auch nicht an seinen letzten Lebenstagen, als er sich im Sanatorium in Pernitz eine provisorische Kapelle richten ließ, um tägliche Messe zu feiern. Wenn er selbst zu schwach war, so notierte er „Sitzend zelebriert“, am 6. Juli 1932: „Das erstemal ganz sitzend zelebriert.“269 Bezeichnend sein allerletzter Tagebucheintrag neun Tage vor seinem Tod: „Nicht zelebriert!“270

4.4.2 Liturgische Feiern

Kaum jemandem, der ihn darum bat, schlug Seipel die Bitte aus, eine priesterliche Funktion zu übernehmen und wenn nur dann, wenn es Terminkollisionen gab.271 Er nahm Taufen, Trauun- gen, Begräbnisse vor, außerdem außerordentliche liturgische Feiern wie Fahnen-, Glocken- oder Altarweihen und Pontifikalämter. In der Zeit seiner Tagebuchführung vermerkte der Prälat 56 Trauungen und wenn man davon ausgeht, dass er möglicherweise nicht alle notiert hat, so war es tatsächlich wohl eine noch höhere Zahl. Es fällt auf, dass er in der Zeit in Salzburg und in den ersten Monaten in Wien keine Trauungen verzeichnet hat, am meisten kommen in den Jahren zwischen 1925 und 1928 vor. Er trat bei vielen Festakten in priesterlicher Funktion auf: bei Studentenverbindungen, Marianischen Kongregationen, Veteranenvereinen, usw. In einer Jahresaufstellung des Jahres 1928 verzeichnete Seipel 367 Zelebrationen, 9 Trauungen, 3 Tau- fen, 46 Beichten, 3 Pontifikalämter, 14 Pontifikalsegen, 24 Fahnenweihen und ähnliche Funk- tionen und 3 Begräbnisse.272 Seine Beanspruchung war so groß, dass sich Kanonikus Minichthaler273 im Jahr 1930 im Korrespondenzblatt mit dem Aufruf „Schont unsern Seipel!“ an das Volk wandte und darum bat, keine unnötigen Einladungen an den kranken Priester zu richten, da dieser ein Mann wäre,

267 Ebd., 01.04.1932. 268 Ebd., 17.04.1932. 269 Ebd., 06.07.1932. 270 Ebd., 23.07.1932. 271 Vgl. Blüml, Ignaz Seipel, 118f. 272 Vgl. Tagebücher, 31.12.1928. 273 Josef Minichthaler (1860–1945), Studium der katholischen Theologie an der Universität Wien, danach bis 1889 Kooperator in Staatz, 1889–1899 Pfarrer in Pottenhofen, 1899–1903 Spiritual am Knabenseminar Hollabrunn, dann Pfarrer und Dechant in Piesting. 1920 Ehrendomherr. Vgl. Loidl, Minichthaler, 311. 59

„der nicht ‚Nein‘ sagen kann“, seine angegriffene Gesundheit aber geschont werden müsste, „damit seine kostbare Kraft und Gesundheit zur Lösung der ganz großen Aufgaben, die in Staat und Kirche auf ihn warten, erhalten bleibt.“274

4.4.3 Exerzitien

Exerzitien waren ein fixer Bestandteil in Seipels priesterlichem Leben, einerseits selbst ge- machte, aber auch solche, die er geleitet hat. In den sechzehn Jahren seiner Tagebuchführung hat er selbst an neun Exerzitien teilgenommen und acht (davon einmal nur eintägig) für die Schwestern der Caritas Socialis gehalten. Für die innere Entwicklung sind die Tagebuchauf- zeichnungen während bzw. nach den Exerzitien sehr aufschlussreich, da er in den meisten Fäl- len genaue Aufzeichnungen über die einzelnen Betrachtungen verfasst hat. Im Folgenden werden nun die einzelnen Exerzitien, an denen Seipel teilgenommen hat, in chronologischer Weise näher betrachtet.

a) 28. bis 31. August 1916 in Innsbruck Die ersten Exerzitien, von denen Seipel in den Tagebüchern berichtete, fanden von 28. bis 31. August 1916 im Canisianum in Innsbruck275 unter der Leitung des Rektors des Germanicums, Pater Siepe276, statt. Über den Inhalt der Exerzitien schrieb Seipel nichts, außer, dass er kurz vor Beginn erfahren hat, dass alle nicht definitiv angestellten Geistlichen aufgrund des Ersten Weltkriegs zu Kanz- lei- und Sanitätsdiensten einberufen werden sollten. Da er Angst hatte, dass, sollte sich das bestätigen, die Salzburger Fakultät geschlossen werden müsste, weil dies Theologiestudenten

274 Zit. nach Blüml, Ignaz Seipel, 119f. 275 Das Canisianum wurde 1562 bis 1573 als Jesuitenkolleg mit Schule erbaut, im Jahr 1587 wurde das sogenannte „Nikolai-Haus“ als Armenkonvikt errichtet, welches mittellosen Schülern den Besuch des Gymnasiums ermögli- chen sollte. Ab der Gründung der Universität Innsbruck im 17. Jahrhundert wurde es immer mehr als Theologen- konvikt genutzt und nachdem es in josephinischer Zeit über sieben Jahrzehnte geschlossen war, wurde es 1858 als Konvikt für Theologiestudenten neu gegründet. Aufgrund von räumlicher Enge wurde das Nikolaihaus neu gebaut und 1911 als „Collegium Canisianum“ in der Tschurtschenthalerstraße neu eröffnet. Während des Ersten Welt- kriegs befanden sich auch die Studenten des Germanicums im Canisianum. In der Zeit der NS-Herrschaft kurz- fristig geschlossen, übersiedelte das Canisianum im Jahr 2013 an ihren ursprünglichen Ort in die Sillgasse zurück und wird seitdem als internationales katholisches Kolleg geführt. Vgl. Geschichte des Canisianums, online: http://www.canisianum.at/de/geschichte/#eckdaten (abgerufen am 15.12.2018). 276 Ignaz Seipel bezeichnet den Exerzitienleiter an einer Stelle als „P. Sitte“ und an einer anderen als „P. Sippe“. Nach Auskunft der Leiterin des Archiv der Österreichischen Provinz der Gesellschaft Jesu in Wien, Martina Leh- ner, per Email vom 2. August 2018 handelt es sich aber um Pater Joseph Siepe SJ, geb. 15.07.1858 in Dül- men/Westfalen, gest. 06.12.1944 in Essen, Mitglied der Niederdeutschen Provinz der Societas Jesu. 60

betreffen würde,277 kann man davon ausgehen, dass ihn diese Nachricht während der Exerzitien tief beunruhigte.278

b) 8. bis 11. Oktober 1917 in Lainz Mehr erfährt man von den Exerzitien, die er von 8. bis 11. Oktober 1917 bei Pater Limbourg279 in Lainz gemacht hat.280 Seipel hatte das Bedürfnis nach Einsamkeit und schrieb, dass es ihm guttun werde, dass er die Exerzitien allein macht, nachdem er „nach all dem Hasten und der Ungeduld der letzten Zeit“ das Verlangen nach Ruhe hatte.281 Blüml bezeichnet darum diese Exerzitien als „Beruhi- gungs-Exerzitien“.282 In dieser Zeit wusste Seipel bereits, dass er Professor in Wien werden wird, war auch schon nach Wien gezogen, aber er wartete auf die offizielle Ernennungsurkunde, deren Ausstellung sich offensichtlich verzögert hatte. Nur wenige Tage zuvor, am 5. Oktober 1917 notierte er: „Litt noch immer sehr unter der Verstimmung über das Ausbleiben der Ernen- nung“.283 Er nahm sich vor, die Betrachtungen voll auszuschöpfen und sich nicht von anderen Dingen ablenken zu lassen. Dies fiel ihm aber durchaus schwer, denn bei der zweiten Betrach- tung schrieb er, dass er innerlich noch immer nicht frei genug wäre, um sich auf das zu kon- zentrieren, was vorgetragen wurde. Er nahm sich vor: „Vor jeder Betrachtung ganz abschließen; keine ungelöste Frage in mir mitbringen; was noch nicht zur Lösung oder auch nur Erörterung reif ist, aufschieben, aber jetzt nicht daran denken.“ Die dritte Betrachtung über den Wert der Seele führte ihn zur Gewissenserforschung über den Glauben. Interessanterweise notierte Sei- pel, dass er das Buch „Lebensrichtschnur des Priesters in seinem privaten und öffentlichen Le- ben“ von Valuy-Bourier las.284 Das zeigt, dass er sich während der Exerzitien über sein Leben als Priester Gedanken machte.

277 Vgl. Tagebücher, 28.08.1916. 278 Siehe zur Geschichte der Theologischen Fakultät in Salzburg: Rinnerthaler, Theologische Fakultät. 279 Maximilian Limbourg SJ (1841–1920), Philosoph und Theologe, studierte an der Universität Innsbruck, 1875– 1894 Dozent an der theologischen Fakultät in Innsbruck, ab 1875 Priv.-Doz. für philosophisch-theologischen Pro- pädeutik und ab 1886 als ordentlicher Professor für Homiletik und Katechetik, ab 1894 Akademikerseelsorger an der Universitätskirche in Wien, 1897 Professor für Philosophie und Fundamentaltheologie am Priesterseminar in Sarajewo, 1900–1920 wirkte er als Seelsorger in Wien. Vgl. Coreth, Limbourg, 216f. 280 Im sogenannten „Schlössl“, einem ehemaligen Jagdschloss in der Nähe von Schloss Schönbrunn, in Lainz be- fand seit 1885 eine Ausbildungsstätte der Jesuiten, 1887 lebten bereits 20 Patres und sechs Brüder hier, ab 1889 wurde es auch als Exerzitienhaus genutzt. Seit 1999 heißt es „Kardinal-König-Haus“ und ist ein von der Caritas der Erzdiözese Wien und den österreichischen Jesuiten betriebenes Bildungshaus. Vgl. Schweiggl, Klaus: „125 Jahre Jesuiten in Lainz“, online: https://www.kardinal-koenig-haus.at/web_medienpool/vortrag_p_schweiggl.pdf (abgerufen am 15.12.2018). 281 Tagebücher, 08.10.2017. 282 Blüml, Ignaz Seipel, 38. 283 Vgl. Tagebücher, 05.10.1917. 284 Ebd., 09.10.1917. Das von Seipel genannte Werk stammt von Benoît Valuy und Adolph Bourier. Vgl. Va- luy/Bourier, Lebensrichtschnur. 61

Nach der vierten Betrachtung notierte Seipel, dass er sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre und sich entschlossen hatte, eine „gründliche Aussprache mit P. Limbourg zu suchen“.285 Dass es sich bei dieser Aussprache um eine außergewöhnliche gehandelt hat, zeigt sich am Tagebucheintrag am folgenden Morgen: „Durcheinander wegen der angekündigten Bespre- chung“. Diese fand schließlich um 11 Uhr statt, allerdings führte Seipel nichts über den Inhalt dieses Gesprächs an.286 Ein Thema der Exerzitien schien für den Prälaten seine Tagesstruktur gewesen zu sein, denn am letzten Tag legte er eine Tagesordnung fest, deren Einhaltung Gegenstand der Gewissens- erforschung sein sollte:

Tagesordnung:1)

6 Uhr Aufstehen. Morgengebet. Betrachtung.

7 Uhr Heilige Messe. Danksagung.

Frühstück.2) Kleine Horen. Arbeit zuhause oder in der Bibliothek soweit nicht Vorlesungen.

12 Uhr 20 Mittagessen.2) Sonntag 1 Uhr Vesper und Completorium.

Arbeit zuhause oder in der Bibliothek.3)

7 Uhr 30 Abendessen.2) Matutinum und Laudes. Freie Lektüre.

9 Uhr 45 Abendgebet. Vorbereitung der Betrachtung.

10 Uhr Schlafengehen.4)

Zusätze:

1) Bei Reisen und in ähnlichen Fällen im Voraus die Tagesordnung anpassen.

2) Die tägliche Zeitung während der Essenszeiten lesen, bei Einlauf nur kurz auf wichtige Nachrich- ten durchsehen.

285 Tagebücher, 09.10.1917. 286 Ebd., 10.10.1917. 62

3) Wichtige Gänge, Besuche im Voraus einteilen.

4) Im Falle der Arbeitsunfähigkeit, Erholungsbedürftigkeit bewußt und mit Absicht ausspannen.287

Seipel legte also einen sehr strengen Zeitplan fest, es zeigt sich auch hier, wie sehr er darum bemüht war, seinen priesterlichen Pflichten so genau wie möglich nachzukommen, da es ihm anscheinend bewusst war, dass dies für ihn als Priester, der nicht in den Alltag eines seelsorglich Tätigen integriert war, schwierig war. Es darf aber nicht vergessen werden, dass dieser Plan zu einer Zeit festgelegt wurde, in der Seipel als Professor und nicht in der Politik tätig war. In der Zeit als Politiker fiel es ihm naturgemäß schwer, diese Tagesordnung einzuhalten, da sein Tag von zahlreichen Besprechungen, Versammlungen und Sitzungen bestimmt war. Aber auch in diesen Jahren rang der Priesterkanzler darum, seinem spirituellen Innenleben durch einen ge- ordneten Tagesablauf genügend Zeit einzuräumen. Mit der dreizehnten und letzten Betrachtung über die Herz-Jesu- und Marienverehrung en- deten die Exerzitien am 11. Oktober 1917, bei seiner Rückkehr nach Salzburg las Seipel mit Freude in den Zeitungen, dass seine Ernennung als Professor in Wien offiziell geworden ist.288

c) 26. bis 30. August 1918 in Wien Die Exerzitien von 26. bis 30. August 1918 waren sehr von Krankheit und Ringen um Gesund- heit bestimmt, Blüml nennt sie deshalb „Leidens-Exerzitien“.289 Sie fanden im Priesterseminar in Wien statt und wurden von P. Eduard Fischer SJ290 geleitet. Seipel notierte zu Beginn in seinem Tagebuch, dass er in schlechter physischer und psychischer Verfassung wäre und Sehn- sucht nach entscheidenden Exerzitien hätte:

Kam voll von der Unruhe meines bisherigen Lebens, verstimmt, hohl und leer. Ich möchte wohl endlich einmal die entscheidenden Exerzitien machen, bin aber ganz ohne Kraft und festen Willen. […] Bei der 1. Betrachtung über den Zweck der Exerzitien und die Art, sie zu machen, war nur der eine Gedanke, daß es die letzten sein könnten, von stärkerem Eindruck; denn ich fühle mich doch sehr krank.291

287 Die Tagesordnung findet sich am Ende des betreffenden Tagebuchs, nach dem 06.05.1918. 288 Vgl. Tagebücher, 12.10.1917. Vgl. etwa: o. V.: „Die Neubesetzung des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Wiener Universität“, in: Reichspost, Nachmittagsausgabe (10.10.1917) 3. 289 Blüml, Ignaz Seipel, 38. 290 Eduard Fischer SJ (1846–1933), 1864 Eintritt in den Jesuitenorden, als Erzieher in Linz-Freinberg, Mariaschein bei Teplitz (Bohusudov/Teplice) und Kalksburg bei Wien, dann als Volksmissionar tätig. Organisierte die Seel- sorge an der 1903 neu geweihten Canisiuskirche in Wien. Vgl. o. V., Fischer, 320f. 291 Tagebücher, 26.08.1918. 63

Unter welchen gesundheitlichen Beschwerden er konkret litt, geht nicht hervor, er hatte aber in den vorhergehenden Wochen mehrmals geschrieben, dass er sich müde gefühlt und unter Mig- räne gelitten hatte.292 Im Sommer dieses Jahres war Seipel sehr von Siedeltätigkeiten bean- sprucht, und außerdem beschäftigte er sich intensiv mit der Frage, ob er möglicherweise zum Erzbischof von Salzburg gewählt werden würde (siehe Kapitel 4.4.3). Auch der zweite Exerzitientag war geprägt von Unwohlsein, Seipel beklagte sich darüber, dass er sehr müde und träge war und sich deswegen nicht auf die Exerzitien einlassen konnte. Nach Betrachtungen zu den Themen Ziele des Menschen, die dreifache Welt, die den Menschen umgibt, nämlich die physische, soziale und die Gnadenwelt, Selbstüberwindung und Sünde, schrieb er resignierend: „Glaube noch nie so teilnahmslos, träg und kalt einen Exerzitientag verbracht zu haben als heute.“293 Am dritten Tag ging es Seipel nach einer guten Nacht besser, die ersten beiden Betrachtungen behandelten das Thema Tod. Er machte sich Gedanken über Momente, die den Tod des Priesters erschweren bzw. erleichtern würden:

Momente, die dem sterbenden Priester das Sterben schwer machen werden: 1. Vernachlässigung des Gebetes, 2. Geringachtung des „priesterlichen“ Lebens und der priesterlichen Autorität, 3. Ärgernis. Momente, die ihm das Sterben erleichtern werden: 1. die gute Meinung, 2. ein Leben zu Gottes Ehre, 3. ertragene Leiden, Unbilden, Verkennungen.

In der folgenden Betrachtung überlegte er, welche Mittel ihm dabei helfen könnten, einen guten Tod zu haben: Partikularexamen, besondere Übung der Nachfolge Christi, Reue. Die neunte Betrachtung war über die „Erneuerung im Priesterberuf“ mit einem Zitat aus Joh 15,16: „Ego elegi vos et posui vos, ut eatis et fructum afferatis, et fructus vester maneat“ (dt: Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, fortzugehen und Frucht zu bringen und eure Frucht bleibe). Seipel schrieb dazu: „Diese Betrachtung hat in Anbetracht der wunderbaren Führungen in meinem Leben in anderen Jahren immer großen Eindruck auf mich gemacht.“294 Er sagte es zwar nicht konkret, aber es scheint so, als wäre dies bei den jetzigen Exerzitien nicht der Fall gewesen zu sein. In der folgenden Nacht ging es Seipel körperlich wieder schlechter, es plagten ihn Symptome der Zuckerkrankheit. Die Betrachtungen des nächsten Tages berühr- ten wieder stark die priesterliche Existenz des Exerzitianten: „Über das allerheiligste Sakra- ment, den Mittelpunkt des Priesterlebens […], über die Liebe […], über Kanzel, Beichtstuhl, Schule und Krankenbett als besondere Wirkungsstätten für den Priester und zugleich als Gna- denstätten für ihn“.

292 Vgl. etwa ebd., 15.08.1918. 293 Ebd., 27.08.1918. 294 Ebd., 28.08.1918 64

Seipel beschrieb in Bezug auf die Betrachtungen eine interessante Begebenheit. Der Exerzi- tienleiter Pater Fischer hat über das Fragen im Beichtstuhl gesprochen, woraufhin ein anderer Exerzitiant, ein gewissen Monsignore Joch, zu Seipel kam und ihn um Intervention ersuchte. Offensichtlich sah Monsignore Joch die Gefahr, „die Zuhörer würden, den Weisungen Pater Fischers folgend, dem Laxismus inbezug auf die Fragepflicht verfallen.“ Seipel gab ihm inso- fern recht, als Pater Fischers Ansichten den Beichtvätern „die Fragepflicht gar zu leicht“ ma- chen würden, er „verweigerte aber eine Intervention und wies Monsignore Joch an, selbst zu Pater Fischer zu gehen“. Die Sache verwirrte ihn aber „mehr als notwendig“ und er schrieb: „Auch sonst zeigte ich mich gleich eingeschüchtert und verwirrt.“295 Das zeigt, dass die anderen Exerzitianten Seipel als Autorität sahen, dem zugetraut wurde, den Exerzitienleiter auf ihrer Meinung nach falsche Ansichten aufmerksam zu machen. Seipel selbst sah sich aber nicht in dieser Rolle. Die dreizehnte Betrachtung widmete sich den Leiden des Priesters: „körperliche Leiden, Versuchungen gegen die Liebe, den Glauben und die Reinigkeit. Heilmittel gegen alle der Auf- blick zum Kreuze“. Auch wenn er es nicht ausdrücklich erwähnte, ist anzunehmen, dass Seipel von diesem Thema besonders berührt wurde.296

d) 26. bis 30. Juli 1920 in Lainz Die „mystischen“ Exerzitien des Jahres 1920 wurden vom Jesuitenpater Friedrich Kronseder297 geleitet, der Anfang der 1920er Jahre ein sehr bekannter und einflussreicher Prediger in Wien war.298 Die betrachteten Themen in den von 26. bis 30. Juli in Lainz stattfindenden Exerzitien waren Selbst- und Gotteserkenntnis, die Heilung der Seele schon im diesseitigen Leben, Sünde, Beichte, Jesus und das Königtum Christi. Zur neunten Betrachtung notierte Seipel: „Das Prob- lem des Priestertums: Alter Christus. Zölibat. Aszese: Aufstehen, Reinlichkeit, tägliches Rasie- ren.“299 Am 29. Juli reflektierte Seipel seine verschiedenen Ämter:

295 Ebd., 29.09.1918. 296 Ebd. 297 Friedrich Kronseder SJ (1879–1957), geb. in München, Studien der Philosophie und Theologie in München und Innsbruck, 1904 Priesterweihe, 1909 Eintritt in den Jesuitenorden, 1920–1923 wirkte er in Wien als Prediger in der Kirche am Hof und Exerzitienleiter, 1924–1927 Studentenseelsorger in Leipzig, ab 1927 Hochschulseelsor- ger und Prediger in München. Spiritual und Ratgeber für mehrere Frauenverbände und Verfasser theologischer Bücher. Vgl. Text des Totenbildes in: http://www.con-spiration.de/syre/calendar/aug/0816.html (abgerufen am 15.11.2018). 298 Vgl. Honek, Führende Jesuiten. 299 Tagebücher, 27. und 28.07.1920. 65

Exerzitienmesse gelesen. Heute will ich über meine verschiedenen Ämter nachdenken: 1) Abgeord- neter, 2) Superior, 3) Professor, 4) Leiter der Caritas Socialis. Vor allem und über allem müßte doch der Priester stehen.300

Dies ist ein bemerkenswerter Eintrag, denn er zeigt kurz und prägnant, wie der Priesterpolitiker seine priesterliche Existenz verstand. Er reihte sein Priestertum nicht in die ausgeübten Ämter ein, sondern stellte es vor und über alles. Es war nicht ein Glied in einer Reihe, sondern das Fundament, auf dem alles andere aufbaute, es war Teil seines Wesens und daher ohne Zweifel das wichtigste „Amt“ seines Lebens. Ob aus der Reihenfolge der aufgezählten Ämter eine Pri- orisierung herausgelesen werden kann oder ob es eine zufällige Auflistung ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, aber die Nummerierung legt eine beabsichtigte Rangfolge nahe. Am selben Tag beschäftigte er sich weiter mit dem „Problem des Priestertums“ und benannte fünf Punkte:

Das Problem des Priestertums. a) Der Priester und seine nächste Umgebung, b) Wert der Freundschaft, c) Der Priester und die Kinder, d) Der Priester und die Frauen, e) Der Priester und die Bolschewiken, Spartakisten etz (Beten für die Bolschewiken!) [Werner Sombart, Das Proletariat301, lesen!]

Nach weiteren Betrachtungen zu den Themen des Leidens und der Auferstehung Christi und „Die Betrachtung ad amorem specialem“ notierte Seipel am Ende der Exerzitien, was ihm diese gebracht hätten und was er sich vornehmen wollte:

Bei dieser Betrachtung ist mir recht klar geworden, wie sehr ich mich in den letzten zwei Jahren ausgegeben habe, ohne einzunehmen, ja daß ich das geistliche Leben fast ganz verlernt habe. Mys- tiker lesen!302

Er hatte also Angst, dass er das geistliche Leben verlernt habe und nahm sich vor, Werke von Mystikern zu lesen. Aus den weiteren Tagebuchaufzeichnungen kann man nicht erkennen, ob er diesen Vorsatz eingehalten hat, es sind keine Eintragungen über die Lektüre vorhanden.

e) 3. bis 7. September 1923 in Wien Die Exerzitien im Jahr 1923 waren geprägt von einer hohen beruflichen Belastung, die sich daran zeigt, dass Seipel, der zum Zeitpunkt der Exerzitien (3. bis 7. September) seit sechzehn Monaten Bundeskanzler war, auch während der Exerzitien mit Amtsgeschäften beschäftigt war. Er setzte sich etwa nach dem Abendgebet noch an den Schreibtisch, um seine Korrespondenzen

300 Ebd., 29.07.1920. 301 Bei diesem Buch handelt es sich um den ersten Band der von Martin Buber herausgegebenen Reihe „Die Ge- sellschaft“. Es erschien erstmals im Jahre 1906. Sombart stellt das Ausmaß und die sozialen und psychischen Folgen der Verelendung der ärmsten Bevölkerungsschicht dar. Vgl. Sombart/Hengsbach, Gesellschaft. 302 Tagebücher, 29.07.1920. 66

zu erledigen, oder schrieb Briefe ins Amt.303 Es war eine arbeitsintensive Zeit, da sich Seipel neben den Regierungsaufgaben auch im Wahlkampf für die am 21. Oktober 1923 stattfindenden Nationalratswahlen engagierte. Man kann sich vorstellen, wie unangenehm diese Auseinander- setzungen, vor allem die Wahlreden, für einen Priester sein mussten.304 Die Exerzitien fanden im Priesterseminar statt, aus den Tagebüchern geht nicht hervor, wer sie leitete. Die Vorträge waren über die Apostel und deren Berufung, das Verhältnis zu den Geschöpfen, die Sünde des Judas und die Priestersünde und über den Fall und die Reue des heiligen Petrus. Auch die letzten Vorträge hatten die Apostel zum Thema.305 Auffällig bei diesen Exerzitien ist, dass Seipel lediglich die Themen in den Tagebüchern notierte, aber anders als sonst keine persönlichen Anmerkungen hinzufügte. Offensichtlich war er von den Amtsgeschäften und den bevorstehenden Wahlen so sehr in Anspruch genommen, dass er sich nicht auf sein seelisches Leben einlassen konnte.

f) 25. bis 28. August 1924 in Mehrerau Anders die Exerzitien von 25. bis 28. August 1924 in der Zisterzienserabtei Mehrerau306 in Vorarlberg, bei denen der Prälat schon am ersten Tag notierte, welchen besonderen Zweck die Exerzitien für ihn hatten: „1) überwinden Sinnlichkeit, Ehrgeiz, Eitelkeit, Trägheit; 2) erken- nen, was Gott von nun an von mir will; 3) gleichmütig werden Erfolg und Mißerfolg gegen- über.“

303 Vgl. ebd., 03. und 04.09.1923. 304 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 381. 305 Vgl. Tagebücher, 04.–06.09.1923. 306 Die Abtei Mehrerau wurde 1086 von Graf Ulrich X. von Bregenz gegründet und von Benediktinermönchen besiedelt. 1090/1100 wurde sie an den Bodensee verlegt und 1806/07 aufgehoben. Im Jahr 1854 übernahmen Zis- terzienser der aufgehobenen Abtei „Stella Maria“ in Wettingen/Schweiz das Kloster, seither heißt es „Konvent von Wettingen-Mehrerau“. Die Zisterzienser gründeten das Gymnasium „Collegium Bernardi“ und Anfang des 20. Jahrhunderts übernahmen sie mehrere wirtschaftliche Betriebe. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Pat- res 1945 ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Die Klosterbibliothek enthält bedeutende Drucke und Handschriften. Dem jeweiligen Abt des Klosters steht der Rang eines Bischofs zu und er ist Mitglied der Österreichischen Bi- schofskonferenz. Vgl. die Geschichte von Mehrerau-Wettingen online: https://www.mehrerau.at/de/ (abgerufen am 15.12.2018). 67

Seipel war nicht zum ersten Mal in Mehrerau, er hatte schon im Februar 1921 auf Einladung des Abtes Kassian Haid307, der auch die Exerzitien im Sommer 1924 leitete, einen Vortrag ge- halten.308 Ein anderes Mal hatte er das Kloster im Oktober 1923 besucht, als er im Wahlkampf in ganz Österreich Reden gehalten hatte.309 Als Seipel 1924 nach Mehrerau kam, lag das Attentat auf ihn erst etwa zwei Monate zurück und er hatte am 1. August nach einer Röntgenuntersuchung beschlossen, am 6. August nach Mehrerau zu reisen und dann Ende des Monats die Regierungsgeschäfte wieder aufzuneh- men.310 Er hielt sich von 7. bis 31. August in Mehrerau auf und feierte am 20. August sein 25- jähriges Priesterjubiläum in der Abtei mit einem Pontifikalamt und einer anschließenden Feier im Theatersaal des Kollegiums.311 Die Zeit in Vorarlberg nutzte er, um viele Briefe zu schreiben, Besuche zu machen und zu empfangen und Ausflüge zu unternehmen. Aber auch, wie der Tagebucheintrag vom ersten Tag der Exerzitien zeigt, um sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Doch auch während der Exerzitien hatte er nicht die erforderliche Ruhe, doch das angekündigte Kommen von Politi- kern, die ihn sprechen wollten, wurde mit dem Hinweis auf die Exerzitien abgelehnt. Allerdings bekam er einen Bericht von Finanzminister Kienböck312, welchen er noch am selben Tag be- antwortete.313 Aus den Tagebüchern geht nicht hervor, worum es sich dabei handelte. Renn- hofer vermutet, dass es mit Genf zusammenhing.314 Der Inhalt der Exerzitien war in drei Teile gegliedert: Jesus die Wahrheit, Jesus der Weg, Jesus das Leben und damit zusammenhängend die Themen Sünde, Tod, Gericht und Hölle, Demut, Gehorsam, Leiden, das Fortleben Jesu in der Kirche (in der Kirchengeschichte, in den Sakramenten und in der Eucharistie), ewiges Leben, Gebetsleben und die Muttergottes. Beim Vortrag über das Leid notierte Seipel, dass man sich bei jedem Kreuz fragen sollte, ob es selbst verdient oder von Gott geschickt ist, dass man es aber in beiden Fällen rasch auf sich nehmen

307 Kassian Haid OCist (1879–1949), geb. als Josef Haid in Ötz/Tirol, 1897 Eintritt in das Zisterzienserkloster Mehrerau, 1903 Priesterweihe, 1903–1907 Studien der Geschichte und Geographie in Innsbruck, 1907 Promotion, 1909–1919 Direktor der Stiftsschulen Mehrerau, 1917 Abt von Mehrerau und ab 1920 auch Generalabt des Zis- terzienserordens, 1927 Rücktritt als Generalabt wegen der Residenzpflicht in Rom. Haid veröffentlichte histori- sche Abhandlungen und viele Beiträge und Rezensionen. Vgl. Haid, in: Biographia Cisterciensis, www.zisterzi- enserlexikon.de/wiki/Haid,_Kassian (abgerufen am 17.11.2018). 308 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 408; Tagebücher 01.02. und 02.02.1921. 309 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 408; Tagebücher, 19.10.1923. 310 Vgl. Tagebücher, 01.08.1924. 311 Vgl. Einböck, P. M.: „Das silberne Priesterjubiläum des Bundeskanzlers“, in: Reichspost (22.08.1924), 7f; Grießer, Kassian Haid, 7f. 312 Viktor Kienböck (1873–1956), 1896 Dr. iur., schloss sich der katholischen Arbeiterbewegung an, ab 1918 Mit- glied des Wiener Gemeinderats für die christlichsoziale Partei, bis 1922 Stadtrat ohne Ressort, 1920 erfolgloser Bundespräsidentschaftskandidat, bis 1923 im Bundesrat, dann bis 1932 im Nationalrat, 1922–1924 und 1926– 1929 Finanzminister. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 223. Siehe zu ihm auch: Kienböck, Kienböck. 313 Vgl. Tagebücher, 26.08.1924. 314 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 408. 68

müsse. Dies war für ihn, wie er festhielt, ein guter Trost. Über das Gebetsleben schrieb er, dass es ehrfurchtsvoll, vertrauensvoll und liebevoll sein soll.315

g) 8. bis 11. August 1927 in Lainz Die bedeutendsten Exerzitien in Seipels Leben waren die „Verinnerlichungs-Exerzitien“ vom 8. bis 11. August 1927, nur wenige Wochen nach den schicksalshaften Tagen der Aufstände in Wien, in denen man aus den Tagebucheintragungen den Kampf des Geistlichen um seine Be- ziehung zu Gott, zu Jesus, zur Gottesmutter, zu den Heiligen, zu den Mitmenschen und zu sich selbst als Priester herauslesen kann.316 Die Exerzitien fanden im Exerzitienhaus der Jesuiten in Lainz unter der Leitung von Pater Koppenstätter statt. Seipel nahm diese Exerzitien sehr ernst, seine Aufzeichnungen waren sehr ausführlich und lassen große Sorgfalt, aber auch Selbstkritik erkennen. Am ersten Abend beschrieb er seine Vorsätze:

Großmütig sein in den Vorsätzen, in der Bereitwilligkeit, Gnaden anzunehmen, das Leben zu än- dern, Opfer zu bringen. Stillschweigen mit dem Munde, in der Seele, nicht den Alltagsgedanken nachhängen. Viel beten […] Einiges, was ich tun müßte: Visitatio vor Verlassen des Hauses, bei der Rückkehr, nach Tisch, abends; ernstlich beten auf der Fahrt. Bereit sein, das politische Leben unter Niederlagen aufzugeben, nicht nur aus Trägheit. Beherrschung in der Diät, Beherrschung der Eitel- keit, Beherrschung der Nerven; nicht Erbitterung über die Menschen, die mich in Anspruch neh- men.317

Der folgende Tag war geprägt von Gedanken rund um sein Priestertum. Unter dem Titel „Die Gnaden, die wir für andere bekommen haben“ reflektierte er:

Wie steht es mit meinem Priestertum? Was war ich alles, was bin ich? Welche Ämter suchte oder mied ich? Welche priesterliche Funktionen übe ich aus, welche nicht? Wie benütze ich die Gelegen- heiten, die sich von selbst aufdrängen, auf die Seelen, für Gott, für die Kirche zu wirken? Trage ich eine Schuld, daß sich mein Leben von der Seelsorge wegentwickelt hat?

Bei einer nachmittäglichen Meditation über „Priesterfehler“ schrieb er als ersten Punkt:

Zu geringe eigene Wertschätzung für das Priestertum; zu sehr auf andere Eigenschaften geben, auch wo es andere zu gewinnen gilt. Bei mir ist da eine eigene Mischung von Demonstrieren mit meinem Priestertum und doch andererseits die {?} wieder vom Betonen der Distanz, die mich vom Priester schlechthin scheidet, vom Gelehrten und vom Staatsmann.

315 Vgl. Tagebücher, 25.–28.08.1924. 316 Blüml, Ignaz Seipel, 39f. 317 Tagebücher, 08.08.1927. 69

Als weitere Fehler bei sich selbst sah er „zu geringe Wertschätzung für die Gnadenmittel, Gebet etz“, „Überschätzung der natürlichen Mittel. Erledigen, Abtun der Anwendung der Gnadenmit- tel, um dann Zeit für alles andere zu haben. Beichte“, „Zu wenig Liebe zu den Armen. Nicht nur Gaben, sondern Behandlung“, „Zu wenig Liebe zu den Sündern. Aburteilen, Abrücken. Beurteilung der Frauen nach der Mode, die sie mitmachen“. In einer Gewissenserforschung fragte er sich, ob er erkannt hatte, „welche besonderen For- derungen die Not der Zeit an uns Priester stellt“. Durch „die Größe der Verhetzung, Verführung, Versuchung durch Sozialdemokratie und Liberalismus“ fehlte der Glaube, „an den die Seel- sorge anknüpfen konnte“. Eine weitere Schwierigkeit für Priester wäre die „Lauheit und Kraft- losigkeit der Katholiken“, der man nicht durch Pessimismus und Klagen darüber begegnen könne, sondern durch Taten, vor allem durch die eigene Heiligung und das eigene Leiden. Er fragte sich sogar, ob er nicht, solange er Bundeskanzler war, „eine tägliche Applicatio pro po- pulo machen“ solle. Im letzten Vortrag des Tages meditierte er über Jesu Leiden und Gebet am Ölberg. Da ihn seine eigenen Leiden keine Ruhe finden ließen, hielt er fest: „Unruhige Nacht mit starken Diabetessymptomen“.318 Der folgende Tag war der „Tag der Vorsätze“, an dem sich der Priesterkanzler mit dem Gebetsleben und der Arbeit des Priesters beschäftigte. Es wäre notwendig „zur Ehre Gottes, für uns, für unsere Mitmenschen“ und wichtig wäre „Ehrfurcht beim Gebet“. Für den Priester gäbe es die Pflicht der „priesterlichen Arbeit“ (Seipel beschrieb nicht genauer, was er darunter ver- stand) und das Motiv dieser Arbeit wäre „nicht Menschenfurcht, nicht Selbstsucht“. Seipel listete sieben besonderen Vorsätze auf, von denen die Mehrzahl mit seiner Zeiteintei- lung zu tun hatten. Er hatte offensichtlich das Gefühl, mit seiner Zeit wertvoller umgehen zu müssen, um wichtige Angelegenheiten, wie z. B. seine Ämter in Schwesterngemeinschaften319, nicht zu vernachlässigen. Ihm war aber bewusst, dass ihm das nur mit Vertrauen auf Gott mög- lich wäre.

Meine besonderen Vorsätze: 1) Tägliche Betrachtung (die spezielle Mahnung des Exerzitienleiters bei der heiligen Beichte an mich); 2) strengste Diät (als Mittel der Übung in der Selbstbeherrschung und um mich arbeitsfähig zu machen); 3) Überwindung jedes Nachgebens gegenüber der Nervosität; daher a) nie unzufrieden sein oder gar Unzufriedenheit zeigen gegen die Leute, die mich aufsuchen, mir schreiben oder sonst meine Zeit in Anspruch nehmen; b) am allerwenigsten gegen meine Be- amten, die nur ihre Pflicht tun, wenn sie mir die Wünsche anderer melden oder mich an eine Arbeit erinnern; gegen meine Minister; gegen die Abgeordneten; gegen alle gleich ruhig, geduldig und freundlich sein; c) die Arbeiten (Verhandlungen, Reden, Briefe) so vornehmen, wie sie kommen;

318 Ebd., 09.08.1927. 319 Siehe dazu Kap. 4.5. 70

was im Augenblick zu machen ist, vollkommen machen, auf die Gefahr hin, daß anderes liegen bleibt oder unvollkommen gemacht wird; d) Dies soll insbesondere bei der Korrespondenz gelten; so viel Briefe als möglich selbst öffnen und dann wenn tunlich gleich erledigen; den unaufgearbei- teten Rest jeden Abend den Beamten übergeben; 4) wieder zu der Praxis zurückkehren, Reden und andere Arbeiten zu übernehmen, soweit irgend die Zeit reicht; keine Arbeit aber aus Eitelkeit oder einem anderen Motiv außer der Notwendigkeit selbst suchen oder ihre Übernahme selbst anbieten; 5) nicht so wie in der letzten Zeit die Caritas Socialis und das Superiorat der Dienerinnen des hei- ligsten Herzens ganz zurückstellen und vernachlässigen. 6) Um das tun zu können, brauche ich Ver- trauen auf Gott und Demut: die Erfolge können bei dieser Arbeitsmethode nur von Gott kommen; das Versagen darf mich nicht deswegen schrecken, weil es der guten Meinung anderer über mich, meine Arbeitskraft, meine Begabung und meine Klugheit Eintrag tut. 7) Wie kann ich Zeit sparen? Abkürzung der einzelnen Besuche? Dauer der Nachtruhe? Entbehrlichkeit der Mittagsruhe?

Am Ende des Tages fragte Seipel sich selbst, ob er täglich und am Ende seines Lebens seine Priesteraufgabe so erfüllt haben werde, daß er werde sagen können: „Consummatum est, Alles ist erledigt“.320 In den weiteren Tagebuchaufzeichnungen begegnet dieser Gedanke noch öfter, die Gefahr des Ärgernisses belastete ihn, der Gedanke nach Sühne bedrängte ihn, wenn er etwa schrieb:

Da ich, an dem gerade in der Gegenwart so viele Ärgernis nehmen bis zum Abfall von der Kirche, etwas tun müßte, um Gott zu versöhnen und anderen Gnaden zu verschaffen. […] Wenn ich auch nicht Seelsorger im eigentlichen Sinne des Wortes bin, müßte gerade ich Seelsorgsgeist haben und betätigen, schon wegen des vielen Ärgernisses, das an mir mehr als fast an irgendeinem Geistlichen der Gegenwart genommen wird.321

Am Ende der Exerzitien nahm er sich vor, täglich eine Exerzitienbetrachtung zu machen, bis er sie wirklich ausgeschöpft hat, diese schriftlich zu machen und am 10. des Monats speziell seine Vorsätze durchzugehen.322 Diese Vorsätze verfolgte Seipel mit eisernem Willen, in den Tage- büchern folgten in den weiteren Monaten nicht weniger als 132 teilweise sehr ausführliche Nachexerzitienbetrachtungen bis zum Ende des Jahres. Schon am ersten Tag im Kanzleramt nach den Exerzitien wurden seine Vorsätze auf die Probe gestellt, als er sich über viele auf- dringliche Besucher ärgerte. Er reflektierte dies in seiner Betrachtung des nächsten Tages, als er sich vornahm,

320 Ebd., 10.08.1927. 321 Ebd., 11.08.1927. 322 Vgl. ebd. 71

großmütig zu sein inbezug auf meine Zeit; wenn andere sie töricht und indiskret in Anspruch neh- men, bedenken, daß es Gott so zuläßt, um mich zu prüfen; es vor allem nicht meine Beamten ent- gelten lassen, wenn ich nervös und ungeduldig bin; wenn ich schon sonst an ihnen nicht zum Seel- sorger werde, so soll ich ihnen doch ein gutes Beispiel geben.323

Das Ringen Seipels mit seiner Ungeduld, v. a. anderen Menschen gegenüber, kommt in den Aufzeichnungen häufig vor. Er beschäftigte sich auch intensiv mit den Heiligen in seinem Le- ben, dieses Thema wird im Kapitel 4.4.6 genauer betrachtet werden.

h) 6. bis 10. August 1928 in St. Gabriel bei Mödling Vom Abend des 6. bis zum 10. August dauerten die Priesterexerzitien des Jahres 1928 unter der Leitung von Pater Schulte324 im Exerzitienhaus der Steyler Missionare in St. Gabriel bei Mödling, das nach St. Michael in Steyl als zweite Niederlassung der Steyler Missionare 1889 in Maria Enzersdorf bei Wien gegründet worden war.325 Schon bei der ersten Betrachtung stellte Seipel fest, dass er ein „Verinnerlichen, Wiederver- einigen mit Gott“ und „Freude am Priestertum“ braucht und fügte hinzu: „Mir leuchtet ein, daß das Problem des Priestertums überhaupt und des meinigen insbesondere eine Frage sein wird, mit der ich mich bis zur völligen Klarheit beschäftigen sollte.“ Die Mittel zu diesem Ziel wären Isolieren, ein starker Wille und Beten.326 Am nächsten Tag lag der Schwerpunkt der Exerzitien auf liturgischen Themen327, am dritten Tag auf dem Thema „Sünde“, insbesondere die Sünde des Priesters, die quantitativ und qualitativ schlimmer als die der Laien wäre, und die Beichte des Priesters, zu welcher Seipel notierte: „Vorbereitung durch eine geistige Bittprozession. Reue aus dem ganz persönlichen Verhältnis zu Christus. Vorsatz; jedesmal ein Teilgebiet der eigenen Seele zu pflegen übernehmen.“ Nach einem Vortrag über die „Reformationsarbeit“ nach dem Vorbild Jesu stellte Seipel fest, dass seine Aufgabe die „Gegenreformation nach all den von Religion und Kirche abführenden Ereignissen, Zeitrichtungen usw.“ wäre.328

323 Vgl. 13.08.1927. 324 Albert Schulte SVD (1885–1950), geb. in Elberfeld/Preußen, 1904 Studium der Theologie im Missionshaus St. Gabriel (NÖ) der Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes (Steyler Missionare), 1906 Mitglied, 1910 Priester- weihe, 1911–1915 und 1917–1938 Lehrer am Missionsgymnasium St. Rupert in Bischofshofen, 1917–1923 Hauptpräfekt des Internats in St. Rupert, 1932–1938 Rektor des Missionshauses St. Rupert, ab 1938 (von den Nationalsozialisten vorübergehend verhaftet) Seelsorger im Orthopädischen Spital in Wien-Speising, ab 1931 Schulungs- und Leitungstätigkeit im katholischen Mädchenverband der Erzdiözese Salzburg. Vgl. Glade/Mi- chalke, Schulte, 337. 325 Bis 1914 entstand ein groß angelegtes Gebäude mit einer mächtigen Kirche, einem Ausbildungshaus mit The- ologischer Hochschule, Druckerei, Bildungs- und Exerzitienhaus. Im Jahr 1925 lebten ca. 600 Brüder, Priester und Studenten in St. Gabriel. Heute befindet sich in St. Gabriel der Sitz der Provinzleitung der Steyler Missionare und es ist deren wichtigstes Haus in Österreich. Vgl. https://www.steyler.eu/svd/niederlassungen/st-gabriel/ (abgerufen am 15.12.2018). 326 Tagebücher, 06.08.1928. 327 Ebd., 07.08.1928. 328 Ebd., 08.08.1928. 72

Am letzten vollen Exerzitientag lauteten die Themen „Unsere Verbindung mit Christus“, „Der Zweck des Erlösungswerkes Christi“, „Der Zeitgeist und die Seelsorge“, „Was ist mir die katholische Kirche?“ und „Der heilige Geist“. Seipel notierte dazu wenige eigene Gedanken und hielt in Stichworten die Inhalte fest.329 Nach diesen Exerzitien vermerkte der Priesterkanzler keine Nachexerzitienbetrachtungen, die Inhalte klangen so gut wie gar nicht nach. Schon drei Tage danach schrieb er, dass Vorsatz alleine nicht reiche, um Fehler zu vermeiden, sondern dass die äußere Einteilung wichtig wäre, um das Vorgenommene umzusetzen:

Die Beobachtung der paar Tage seit den Exerzitien beweist mir, daß der bloße Vorsatz, die Fehler zu vermeiden, nicht genügt. Die Treue hängt auch von der äußeren Einteilung stark ab. Wenn ich nicht um 5 Uhr aufstehe, kann ich nicht zur Betrachtung und zum Breviergebet. Muß auch die Ein- schränkung der Nachmittagsruhe praktisch probieren. Bin sehr nervös, unentschlossen und schwan- kend, gereizt, träg.330

i) 10. bis 13. August 1930 in Lainz

Anders war es bei Seipels letzten Exerzitien im Jahr 1930 in Lainz bei Pater Baudenbacher, bei denen er wieder genaue Aufzeichnungen führte und seine eigenen Erwägungen niederschrieb. Blüml nennt sie die „Sühne-Exerzitien“, weil dieses Thema während und nach den Exerzitien oft vorkam.331 Nach dem ersten Vortrag darüber, was Sühne ist, fasste Seipel folgenden Ent- schluss:

Schon mit Beginn der Exerzitien das neue Leben, das Leben des Mitleidens, mehr Liebens, größerer Leistung anfangen. fortauernde Selbstkontrolle darüber Rückwirkung auf die gewöhnlichen Beichten Zu erwartende Nebenfrüchte: Gesundheit, innere Ruhe, Arbeitsfähigkeit, Politik. Praktisch Einzelnes aus der eigenen Vergangenheit sühnen. Dazu das Tagebuch verwenden.332

Bei der Morgenbetrachtung des nächsten Tages meinte Seipel, er habe „soviel gegenüber der eigenen Vergangenheit zu sühnen, auch nur des gegenwärtigen Jahres“ und machte sich beim folgenden Vortrag Gedanken über die Größe Gottes. Er wäre von Gott geschaffen, „um ihn zu loben, zu ehren, ihm zu dienen“. Es wäre wichtig, „Verlogenheit“ im Dienste Gottes zu meiden, dabei zählte er auf: „Kniebeugen, Rubriken, Sichsuchen, Höherschätzung aller möglichen Wür- den als die Priesterwürde“.

329 Ebd., 09.08.1928. 330 Ebd., 13.08.1928. 331 Vgl. Blüml, Ignaz Seipel, 40. 332 Tagebücher, 10.08.1930. 73

Es folgten Vorträge über die heiligmachende Gnade, welche die „einzige Vorbedingung der ewigen Seligkeit“ wäre und er erwog, wie vielen Menschen er als Priester dieses Gut vermittelt habe bzw. vermitteln könnte. Interessant ist danach die Frage, die er an sich selbst stellte:

Wie verträgt sich damit mein Leben, das – im günstigsten Fall im Interesse des Bonum commune – das Streben nach diesem höchsten Bonum privatum für mich und die anderen, mit denen ich zu tun habe, zurücktreten läßt?333

Die Frage, die Seipel immer wieder beschäftigte, kam also auch bei seinen letzten Exerzitien auf. Hatte er wirklich alles Mögliche getan, um den Menschen diese Gnade näherzubringen? War sein Leben nicht darauf ausgerichtet, anderen Menschen das Heil Gottes zu vermitteln, wie es als Priester eigentlich sein Grundauftrag wäre? Auch aus dieser kurzen Notiz lässt sich sein Ringen um diese Frage erkennen. Dieses Ringen ließ ihn offenbar die darauffolgende Nacht nicht los, denn schon am nächsten Tag versuchte er, zu einer Antwort zu kommen:

Es ist falsch, sich die ewige Seligkeit nur vag als etwas in ferner Zukunft vorzustellen – die heilig- machende Gnade in der Gegenwart! Hindernisse in meinem Leben. Frage: Flucht aus diesem Leben oder (wenn auch nur für mich selbst) den Typus des in der heiligmachenden Gnade seligen Lebens gerade in dieser Betätigung darstellen? Werde ich es zustandebringen? Wenn nicht, dann Flucht, aber restlos und ohne Theater. Eigentlich habe ich nie daran gedacht, die Menschen, die mir begeg- nen und besonders die mir entgegen sind, für die heiligmachende Gnade zu gewinnen, im Gegenteil, eher ans Entlarven, eher ans Hinausstoßen in eine massa damnata mit einem vagen Gedanken, daß sie sich bekehren können. Ob ich nicht gerade durch die Bekehrung der Menschen Politik machen sollte? Ob ich nicht auch das Bonum commune zu götzenhaft betrachte? Politik als Mittel, die Vor- bedingungen für ein Leben nach den Willen Gottes zu schaffen, aber nicht auch umgekehrt? […] Es kommt darauf an, daß ich einmal wirklich einsehe, daß alles andere nichts ist neben der heiligma- chende Gnade.334

Seipel war überzeugt, dass er die heiligmachende Gnade auch bzw. gerade in seiner politischen Tätigkeit den Menschen näherbringen müsste. Er warf sich vor, dies bis jetzt noch nicht in Erwägung gezogen zu haben. Gerade seine Gegner hätte er dafür gewinnen müssen. Wenn er dies nicht schaffte, so wäre es besser, wenn er „flüchtet“, denn diese Gnade wäre wichtiger als alles andere. Die folgenden Vorträge behandelten die Themen „Himmel“ und „die übrigen Geschöpfe“, danach nahm sich Seipel konkrete Vorsätze für den Alltag vor. Er wollte schon im nächsten Jahr wieder Exerzitien machen (was er nicht einhalten konnte), die wöchentlichen Beichten ernster nehmen, die Nachtruhe so planen, dass er eine Morgenbetrachtung machen konnte und Nachexerzitienbetrachtungen machen. Auch den letzten Vorsatz konnte er nur bedingt halten,

333 Ebd., 11.08.1930. 334 Ebd., 12.08.1930. 74

denn einige Wochen nach den Exerzitien, am 30. September 1930, wurde er für gute zwei Mo- nate Außenminister und sein Tag war wieder geprägt von politischen Aufgaben. Die Themen „Todsünde“ und „lässliche Sünden“ wurden in den nächsten Vorträgen behan- delt, dabei hielt Seipel neben den Aufzählungen des Vortrags Folgendes fest:

Mangel an Seeleneifer heißt die Menschen zu Dutzenden, zu Hunderten... in das Feuer der Hölle fallen lassen. Was es für mich bedeuten würde, wenn ich zu einem Seelsorgsamt berufen würde: Seeleneifer entfachen con furia; was ich alles an Versäumtem zu sühnen hätte!335

Er machte sich also Gedanken, wie er ein mögliches Seelsorgeamt ausüben würde und wieder kam Bedauern auf, dass er bis jetzt nicht genug für die Seelen der Menschen getan habe.

4.4.4 Heiligen- und Marienverehrung

Aus den Tagebüchern ist eine starke Marienfrömmigkeit herauszulesen, auch wenn Prälat Sei- pel dies bei sich selbst nicht so ausgeprägt sah. Bei den Exerzitien im Jahr 1927 widmete sich ein Vortrag der Muttergottesverehrung, dazu notierte er, dass seine Beziehung zu Maria bei seiner Berufung im Gegensatz zu anderen Priestern keine Rolle gespielt habe, und sieht dies als Mangel bei sich selbst, der möglicherweise mit seiner Erziehung zu tun hätte:

Der Pater Exerzitienmeister erzählt, daß fast alle Priester, befragt, wie sie zu ihrem Beruf gekommen seien, der Muttergottes Erwähnung tun. Bei mir besteht, soweit es auf mich ankommt, gar keine solche Beziehung. – Es gibt kein Gebot der Muttergottesverehrung, aber diese ist fast notwendige Konsequenz aus vielen Dogmen und es muß zu den allerseltensten Ausnahmen gehören, wenn ir- gendwo ein wirklich frommer Katholik die Muttergottes nicht verehrt; vielleicht Folge einer ganz verkehrten Erziehung.336

Die Bedeutung der Muttergottesverehrung für die Priester wäre ein gegenseitiges Sich-Brau- chen: Maria, die die Priester liebt, brauche diese, damit sie die Wahrheit von ihrem göttlichen Sohn verbreiten und die Seelen für ihn gewinnen können. Umgekehrt brauchen die Priester Maria „für die schwierigste Seelsorgsarbeit, in der sonst nichts hilft.“ Dann schrieb Seipel etwas sehr Bedeutendes über die Beziehung zwischen Politik und Seelsorge:

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß ich gewisse Menschen ohne Grund, wegen ihrer allgemei- nen Einstellung zur massa damnata rechne, ohne irgendwie an ihre Bekehrung zu denken und dafür etwas zu tun. Politik und Seelsorge! Beten für die Sozialdemokraten, nicht nur verschleiert „für Freunde und Feinde“, nicht nur für die verführten, sondern für die Verführenden. Dieser Gedanke selbst ist eine Frucht der betrachtenden Beschäftigung mit der Muttergottesverehrung.

335 Ebd. 336 Ebd., 11.08.1927. 75

Er gab zu, dass er manche Menschen zur massa damnata rechnete, hob dann aber hervor, dass Politik und Seelsorge zusammengehören und er besonders für seine politischen Gegner beten sollte. Er unterschied Arten und Wege der Muttergottesverehrung: Man könne sie wie ein Kind verehren, dies wäre aber schwierig, „weil nichts Spielerisches, Kindisches darin sein soll.“ Wichtig wäre das „wirkliche und wichtige Mitfeiern der Muttergottesfeste“ und das Rosen- kranzgebet, welches das schwierigste Gebet wäre, weil dabei mündliches Gebet und Betrach- tung in gleicher Weise erforderlich sind, „obwohl sie sich gegenseitig stören“. Wichtig war ihm, dass es kein altmodisches, überholtes Gebet wäre.337 In seiner Spiritualität war ihm die Muttergottes also wichtig, obwohl Seipel auch hier streng mit sich selbst war, wie folgender Eintrag einer Nachexerzitienbetrachtung zeigt:

Gott sei Dank wird mir das Herz bei diesem Gegenstand etwas warm. Aber meine Mutter-Gottes- Verehrung ganz vag, äußerlich, mehr wegen der bequemen Art, wie man mit ihr ein bißchen Fröm- migkeit üben kann, gepflegt. In meiner Jugend kein richtiges Verhältnis zur Mutter Gottes, weil ich sehr rationalistisch und minimalistisch eingestellt war, aus Trägheit, Hochmut, Menschenfurcht, we- gen + und soweiter. Ich bin dem lieben Gott zu großem Dank verpflichtet, daß er mich davon weg- geführt hat. Jetzt dessen bewußt geworden, will ich mein Verhältnis zur Mutter Gottes als Prüfstein benützen.338

Auch an den folgenden Tagen beschäftigte er sich in seinen Betrachtungen mit der Marienver- ehrung und kritisierte, dass er das Rosenkranzgebet viel zu „spielerisch und mechanisch pflege, ohne praktische Konsequenzen“.339 Den Zusammenhang zwischen Muttergottesverehrung und Priester stellte er logisch her: Die Gottesmutter kümmere sich um alle durch ihren Sohn Erlösten, umso mehr habe sie Interesse an den Priestern,

auf deren Arbeit es zumeist und zuerst ankommt, daß die Erlösungsgnaden wirksam werden. Ein solcher Priester bin ich. Was wird die seligste Jungfrau an mir haben, was von mir halten? Wie war es früher, wie ist es jetzt, wie wird es sein?340

Wie wichtig Seipel die Marienverehrung war, lässt sich an Eintragungen von Juni 1931 ablesen, in einer Zeit, als er schon schwer krank war: An dem Tag, an dem der Priesterpolitiker zum vierten Mal mit der Regierungsbildung betraut wurde, einem Tag mit unzähligen Terminen (Besuchen bei ihm und von ihm, Besprechungen mit der eigenen Partei und Verhandlungen mit den anderen, Reden im Parlament, vor dem Parlamentsklub, Besprechung mit dem Kardinal)

337 Vgl. ebd. 338 Ebd., 11.10.1927. 339 Ebd., 12.10. und 13.10.1927. 340 Ebd., 14.11.1927. 76

und schlechtem Gesundheitszustand (dies kann man daraus schließen, dass der Zuckerwert no- tiert ist) lautete der letzte Vermerk im Tagebuch „Um 3/4 3 Uhr [früh] nachhause gekommen“ und am folgenden Morgen „Zelebriert in der Schwestern-Kapelle. – Betrachtung. Unter dem Schutze Mariens“.341 Dass er nach einem solch intensiven Tag und mit nur wenigen Stunden Schlaf den nächsten Tag mit Maria begann, sagt viel über die Bedeutung aus, welche die Got- tesmutter für ihn hatte. Seipel versuchte auch täglich den Rosenkranz zu beten, zumindest einige Gesätzchen, dies zeigt z. B. die Monatsaufstellung vom Jänner 1932, in welcher er 193 notierte und die Zahl 2241, die er in der Jahresübersicht von 1928 vermerkte.342 Was die Heiligenverehrung betrifft, meinte Seipel, bei sich Defizite zu erkennen, wie ein Eintrag nach den Exerzitien 1927 zeigt:

Heiligenverehrung. Bei den Exerzitien war die kleine heilige Theresia als Patronin empfohlen wor- den; habe fast nicht an sie gedacht. Gründe, warum ich innerlich so wenig mit den Heiligen lebe: a) Beschränkung auf das „Notwendige“ im religiösen Leben, b) Selbstherrlichkeit und Mangel an De- mut, c) Brevierdispens, d) wenig Lektüre, fast nur mehr Zeitungen, schon gar keine geistliche Le- sung.343

Am nächsten Tag zählte er die Heiligen in seinem Leben auf und nannte als erstes die Gottes- mutter Maria und danach die Exerzitienpatronin, die heilige Theresia von Lisieux, und meinte:

Wie wäre es, wenn ich in diesem Jahre gerade meine Politik unter den Schutz der kleinen Heiligen stellte? Ich habe mir das Scheitern in der Politik so oft schon verdient, was liegt daran, wenn ich gerade durch die unirdische Einfalt scheitere?344

Als weitere Heilige notierte er den heiligen Ignatius von Loyola und Karl Borromäus, seine Namenspatrone, von denen er priesterliche Tugenden lernen könne. Zusätzliche Patrone waren der heilige Aloisius, Antonius von Padua, Johann von Nepomuk, Franz von Assisi, Franz von Sales und der heilige Josef. Er nahm sich vor, „jede Woche unter den Schutz eines besonderen Heiligen [zu] stellen.“345 Aus den Tagebüchern kann man erkennen, dass Seipel sich erst in seinen letzten Lebensjah- ren vermehrt mit Heiligen beschäftigt hat. Finden sich in den Aufzeichnungen der Jahre 1916 bis 1926 nur vereinzelt Einträge über Heilige, so nehmen diese ab dem Jahr 1929 stark zu. Dies hängt wahrscheinlich mit Seipels Entschluss zusammen, ab Jänner 1929 die Betrachtungen

341 Ebd., 19. und 20.06.1931. 342 Vgl. ebd. 06.01.1932 und 31.12.1928. 343 Ebd., 18.08.1927. 344 Ebd., 19.08.1927. 345 Ebd., 20.08.1927. 77

nach dem „Klosterneuburger Liturgiekalender“ vorzunehmen.346 Dieser stammt aus der Feder des Vertreters der Liturgieerneuerung Pius Parsch347, ist erstmals im Jahr 1923 erschienen und war mit Übersetzungen in neun Sprachen und 14 Auflagen zu Lebzeiten des Verfassers eines seiner wichtigsten Werke. Ab der vierten Auflage wurde der Titel in „Das Jahr des Heiles“ geändert. Beim „Klosterneuburger Liturgiekalender“ handelt es sich um eine mit Begründun- gen versehene Erklärung des Kirchenjahres, in dem auch die Heiligenfeste umfassend berück- sichtigt wurden.348 Ab 3. Jänner 1929 vermerkte Seipel als Betrachtungsgegenstand mehr oder weniger regel- mäßig den oder die Heilige/n des jeweiligen Tages. Konsequent macht er dies v. a. im Jänner, Juni, Oktober und November des Jahres 1929, vereinzelt im Jahr 1930 und wieder vermehrt im Jahr 1931. In der Zeitspanne zwischen Jänner 1929 und Ende 1931 findet sich ein solcher Ein- trag insgesamt an die neunzigmal. Meistens notierte er nur, dass er die Betrachtung zu einem/r bestimmten Heiligen gemacht hat, mehrmals fügte er auch noch wenige Gedanken hinzu: „Be- trachtung Der heilige Paulus, der erste Einsiedler; gerade für mich wichtig!“349 oder „Betrach- tung. Der heilige Gregor von Nazianz – zwischen Einsamkeit und Tätigkeit!“350 Beide Einträge weisen auf eine gewisse Einsamkeit hin, in welcher der Prälat sich selbst sah. Er bezog auch Heiligenviten auf konkrete Situationen in seinem Leben, wenn er etwa bei einer Betrachtung über den heiligen Timotheus ergänzte: „[…] seinen Platz sollte jeder wissen und mit ihm zu- frieden sein!“351 und einige Tage später: „Der heilige Johannes Chrysosthomus, ein Opfer der Parteikämpfe; daß ich nicht innerlich ein Opfer der Parteikämpfe werde!“352 Er sah seine eige- nen Schwächen im Kontrast zu den Heiligen, wenn er etwa zum Märtyrer Ignatius vermerkte: „[…] wie sehr bin ich von der Welt erfaßt im Unterschied zu Sankt Ignatius und allen Heiligen!

346 Vgl. ebd., 01.01.1929. 347 Pius Parsch (1884–1954), geb, als Johann Parsch in Neustift bei Olmütz, 1904 Eintritt ins Augustiner Chorher- renstift Klosterneuburg, Ordensname „Pius“, 1909 Priesterweihe, 1912 Dr. theol., 1913 Professor für Pastoralthe- ologie an der Ordenshochschule des Stiftes Klosterneuburg, 1922 Gründung der „Liturgischen Gemeinde von St. Gertrud“, 1933 „Betsingmesse“ im Rahmen des „Allgemeinen Deutschen Katholikentags“ in Wien, 1940 Mitglied der Liturgischen Kommission der Fulder Bischofskonferenz, 1941 Aufhebung des Stifts durch die Nationalsozia- listen, bis 1946 Seelsorger in der Pfarre Floridsdorf, 1946 Rückkehr ins Stift Klosterneuburg. Parsch war einer der wichtigsten Vertreter der Liturgischen Bewegung, deren Forderungen teilweise bei der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils umgesetzt wurden. Vgl. Biografie auf der Homepage des Pius-Parsch-Instituts: http://www.pius-parsch-institut.at/profil/pius-parsch (abgerufen am 11.12.2018). Siehe zu Pius Parsch: Redtenba- cher, Liturgie lernen. 348 Vgl. Buchinger, Einführung, 12; 21. 349 Tagebücher, 15.01.1930. 350 Ebd., 09.05.1931. 351 Ebd., 24.01.1930. 352 Ebd., 27.01.1930. 78

Lieber leiden wollen als rechtbehalten.“353 oder bei einer Betrachtung über die heilige Scholas- tika: „Gegen die Schärfe, Bitterkeit und Konsequenzreiterei!“354 Bei einer Nachexerzitienbetrachtung unter der Überschrift „Wandel in der Gegenwart Got- tes“ dachte Seipel ausführlich darüber nach, warum er selbst nie auf die Idee gekommen war, ein Heiliger zu werden:

Die Heiligen aller Zeiten waren auf dieselben aszetischen Mittel angewiesen als wir. Ich habe ei- gentlich mein ganzes Leben lang noch nicht ernstlich daran gedacht, ein Heiliger zu werden. Welche Ursachen? Angeblich die Bescheidenheit und Scheu vor Vermessenheit; die Erkenntnis meiner Schwäche. In Wahrheit eine ganz falsche, oberflächliche Vorstellung vom Wesen der Heiligkeit und Bequemlichkeit, Trägheit, Willensschwäche. Wäre es nicht an der Zeit, mich gänzlich umzustellen? Gefahr in der Heiligkeit einen Gegenstand des Ehrgeizes und der Eitelkeit ist kaum mehr, wenn ich nicht ganz töricht bin. Mein mit Sünden belastetes vergangenes Leben löscht jeden Anspruch auf besondere Ehre aus. Selbst wenn ich ganz vollkommen würde, wäre es nur eine Kompensation für das Vergangene. Gründe, mich umzustellen, und nach Heiligkeit zu streben: a) Die Erfahrung, daß es mit der angeblichen „Bescheidenheit“ des bisherigen Lebens moralisch nicht vorwärts geht; ent- weder oder! Bisher konnte ich mich keineswegs auf einer „mittleren Linie“, der „Korrektheit“ ohne höheren aszetischen Anspruch, halten. Der Grund meiner vielen Sünden, des Mangels an jeder Be- harrlichkeit ist wohl gerade, daß ich mir die Heiligkeit niemals zum Ziele setzte. b) Die praktische Erkenntnis, daß auch meiner Arbeit die Geschlossenheit der prinzipiellen Einstellung fehlt. Jede andere Zielsetzung läßt aber Halbheiten und Kompromisse zu, nur nicht das Ideal der Heiligkeit des ganzen Lebens. […] Die Heiligkeit ist nichts bloß Negatives, sondern positiv der Wandel in der Gegenwart Gottes.355

Seipel sah als Ursachen, wieso er noch nie ernsthaft daran gedacht hatte, ein Heiliger zu werden, also in einer falschen Vorstellung von Heiligkeit und in Bequemlichkeit, Trägheit und Willens- schwäche. Wie so oft beurteilte er sich selbst sehr streng und sah sich als unvollkommenen Menschen. Er meinte, in der Vergangenheit Sünden begangen zu haben, weil er nie vorgehabt hätte, ein Heiliger zu werden.

4.4.5 Predigten und Ansprachen

Aus allen Zeitzeugenberichten geht hervor, dass Ignaz Seipel ein begnadeter Redner war, der, egal ob in der Schule, bei kulturellen Veranstaltungen, als Politiker vor nationalen oder inter- nationalen Gremien oder auf Wahlversammlungen, immer die richtigen Worte fand. Nach einer

353 Ebd., 01.02.1930. 354 Ebd., 10.02.1930. 355 Ebd., 08.10.1927. 79

Festrede über Papst Pius XI. im März 1932 beschrieb ein Teilnehmer seine Eindrücke folgen- dermaßen:

Dr. Seipel ist ein Orator von asketischer Schlichtheit des Gehabens, von äußerster Sparsamkeit in Geste und Stimmaufwand. Die schlanke Gestalt leicht geneigt, beherrschten Gesichtsausdruckes, ohne Verziehung des fest geschnittenen Mundes, ja ohne merkliche Veränderung der Gesichtsfarbe, so steht er auf dem Podium, so hält er seine großangelegte Festansprache.

Man darf es bekennen: dieser Mann verzichtet auf alle äußerlichen Mittel, durch die auch ein ernst- hafter Redner seinen Eindruck auf das Publikum vermehren kann und darf. Doch wirkt er trotz Schmucklosigkeit des Optischen und Akustischen so stark auf den Hörer, daß dieser nicht nur wäh- rend der ganzen Dauer des Vortrages gehorsam im Banne des Vernommenen ruht, sondern sich auch dann noch, wenn das letzte Wort verklungen ist, der Wirkung des Außerordentlichen nicht entziehen kann, mit dem Gedanken immer wieder zu ihm zurückgehen muß.356

Aber vor allem als Priester am Altar, der das Wort Gottes verkündete, konnte Seipel die Men- schen in seinen Bann ziehen. Er predigte bei unzähligen Veranstaltungen und um die Bandbreite dieser unterschiedlichen Anlässen zu zeigen, seien nur einige Aufzeichnungen aus seinen Ta- gebüchern genannt: Predigt in Spitälern,357, Maipredigten,358 bei einer Friedenswallfahrt auf den Hochschneeberg,359 in Sankt Stefan zur religiösen Gründungsfeier der Zentralorganisation der katholischen Frauenbewegung,360 bei einer Feldmesse in Schönbrunn,361 bei der Seligspre- chungsfeier von Robert Bellarmin in der Universitätskirche,362 in der Kirche Maria vom Siege zum 10-jährigen Jubiläum der christlichen Eisenbahnergewerkschaft,363 in Altlerchenfeld für den marianischen Sühneverein zugunsten des Hauses der Barmherzigkeit,364 Festpredigt zu Eh- ren des hl. Johannes von Gott bei den Barmherzigen in Wien II,365 bei der Caritas Socialis, bei den Lazaristen, bei den Salesianern, bei Fahnen- und Glockenweihen. Im Jahre 1925 verzeich- nete der Prälat insgesamt 251 Reden und Predigten,366 1926 sogar 368.367 Seipel versuchte, sich auf solche Predigten vorzubereiten, was in den Tagebüchern mehrmals vermerkt ist, aber nicht jedes Mal hatte er genügend Zeit dafür. Er war dann mit sich selbst unzufrieden, wie z. B. folgende Einträge zeigen: „Predigt ganz sanftlos, theoretisierend, weil

356 Wienerwaldpost, 26.03.1932, zit. nach Blüml, Im Dienste des Wortes, 16f. 357 Tagebücher, 20.02.1916 und 25.02.1916. 358 Ebd., ab 01.05.1917. 359 Ebd., 31.07.1918. 360 Ebd., 06.06.1919. Siehe zur katholischen Frauenbewegung: Kronthaler, Frauenfrage, 186–192. 361 Ebd., 29.06.1923. 362 Ebd., 13.01.1924. 363 Ebd., 22.05.1925. 364 Ebd., 27.11.1927. 365 Ebd., 08.03.1930. 366 Ebd., 31.12.1925. 367 Ebd., 31.12.1926. 80

nichts vorbereitet.“368 „Maipredigt. Die schlechteste von allen bisherigen, inhaltlich langweilig, mehrmals störend versprochen.“369 „Auf den Schneeberg gefahren, bei der Friedenswallfahrt gepredigt, ganz unvorbereitet und daher schlecht.“370 Nach Ansicht seiner Zuhörer und Zuhö- rerinnen war er aber in der Lage, auch ohne Vorbereitung eine „geistestiefe und formvollendete geistliche Ansprache vor Priestern oder Laien zu halten.“371 Blüml unterscheidet beim Predigtwerk Seipels drei voneinander unterscheidbare Perioden. Die erste war seine Kaplanszeit von 1899 bis 1903, in der er jede Predigt entweder Wort für Wort ausarbeitete oder gründlich skizzierte. Die Themen knüpften zumeist an das Evangelium an, bei besonderen Anlässen wählte der junge Priester häufig Herz-Jesu- oder Muttergottespre- digten. Die zweite Periode kann in den Jahren von 1903 bis 1917 während Seipels universitärer bzw. schulischer Laufbahn angesetzt werden. In dieser Zeit stellte er sich auf die Zuhörerschaft ein und passte die Themen diesen an. In der dritten Periode, der Zeit seines öffentlichen Wirkens von 1918 bis zu seinem Tod 1932, kann man zwei Typen von Predigten unterscheiden: Einerseits geistliche Ansprachen im kleinen Rahmen der mit Seipel verbundenen Ordensgemeinschaften und andererseits Reden des Staatsmannes, der an seine „Seelsorgegemeinde“, nämlich ans Volk, sprach.372

4.5 Geistliche Ämter in katholischen Schwesterngemeinschaften

Neben seinen politischen Ämtern übte Prälat Seipel auch Ämter in zwei katholischen Schwes- terngemeinschaften aus. Er war von August 1920 bis zu seinem Tod Superior der Dienerinnen des heiligsten Herzen Jesu und seit ihrer Gründung im Jahr 1919 geistlicher Leiter der Caritas Socialis. Beide Gemeinschaften werden in den beiden folgenden Kapiteln dargestellt.

4.5.1 Superior bei den Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu

Die Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu ist eine Kongregation, welche 1866 von Abbè Peter Victor Braun373 in Paris gegründet wurde, um die Not im damaligen Frankreich zu lin- dern. Der Wiener Arzt Jaromír von Mundy lernte die Herz-Jesu-Schwestern, wie sie genannt

368 Ebd., 20.02.1916. 369 Ebd., 06.05.1917. 370 Ebd., 10.09.1919. 371 Blüml, Im Dienste des Wortes, 18. 372 Ebd., 19f. 373 Abbè Peter Victor Braun (1825–1882), 1851 Priesterweihe, Tätigkeit als Erzieher und Direktor einer Schule, 1866 Gründung der Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu, weitere Gründungen in England, Deutschland und 81

werden, im deutsch-französischen Krieg (1870/71) in einem Militärlazarett im Schloss Versai- lles kennen und empfahl sie dem späteren Leiter der Rudolfstiftung, Direktor Böhm, der sie in sein Krankenhaus berief. 13 Schwestern begannen ihren Krankenpflegedienst im Jahr 1873, 1890 wurde ein Provinzhaus in der Keinergasse im dritten Wiener Bezirk gebaut, welches bis heute das Mutterhaus der Kongregation ist. Nachdem es während des Zweiten Weltkriegs ein Lazarett war, wurde im Kloster ein gemeinnütziges Krankenhaus gegründet, welches im Jahr 2000 um einen Trakt in der Rabengasse erweitert wurde. Seit 2007 ist das Herz-Jesu-Kranken- haus in die Vinzenz-Gruppe integriert, nach einem Umbau in den Jahren 2013 bis 2015 ist es nunmehr seit 2017 eine Fachklinik für den Bewegungsapparat mit rund 160 Betten und 500 Beschäftigten (Stand Ende 2017). Die Herz-Jesu Schwestern mit dem Ordenskürzel SSCJ (Servae sanctissimi cordis Jesu) le- ben nach der Regel des heiligen Augustinus und haben als Grundlage ihrer Spiritualität Ehre, Liebe, Dank und Sühne. Der Schwerpunkt ihrer Aufgaben liegt auf Werken der Nächstenliebe, dies zeigt sich auch im Leitspruch ihres Charismas „In Liebe dienen“.374 Prälat Seipel wohnte seit Februar 1920 bei den Schwestern in der Keinergasse, in der heuti- gen Patientenlounge, und blieb dort bis zu seinem Tod. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass ihm im Juli 1920 von der Generaloberin Mutter Reginalda375 die Stelle des Superiors der Kongregation angeboten wurde.376 Am 30. Juli erhielt er das Dekret, am 22. August erfolgte seine Installation.377 Seipel nahm dieses Amt sehr ernst. In seinen Tagebüchern notierte er so gut wie täglich Gespräche mit einer der Schwestern, hauptsächlich mit Mutter Reginalda und Mutter Nikodema378. Außerdem ließ er es sich nicht nehmen, trotz seiner zeitintensiven Tätig-

Österreich, 1993 Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens in der Erzdiözese Wien. Vgl. http://www.herzjesu- schwestern.at/PDF/Februar%20Peter%20Victor%20Braun.pdf (abgerufen am 27.07.2018). 374 Die Herz-Jesu-Schwestern haben drei Niederlassungen in Österreich, eine in Deutschland, eine in der Tsche- chischen Republik und drei in Polen. Die Kongregation ist in der Föderation „Victor Braun – im Dienste des Herzens Jesu“ eingegliedert, welche am 4. Juli 2003 in Rom approbiert wurde. Sie ist eine Föderation päpstlichen Rechts und umfasst drei Institute, die unabhängig sind, aber aus der Gründung 1866 hervorgehen. Die Institute sind in der Diözese Brentwood/England die „Sisters of the Sacred Hearts of Jesus and Mary”, die „Sœurs Servantes du Sacré Cœur de Jésus“ in der Diözese Versailles und in Österreich die genannten „Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu“. Alle Informationen über die Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu und das Herz-Jesu Kranken- haus in Wien auf der Homepage der Schwestern http://www.herzjesu-schwestern.at/ und auf der des Krankenhau- ses https://www.kh-herzjesu.at/ (beide abgerufen am 27.07.2018). 375 Reginalda Kempa (1877–1961), diplomierte Krankenpflegerin, in der Krankenpflege auf der Kinderabteilung des Kaiser-Franz-Josef-Spitals tätig, dort Oberin, Generalvikarin und Generaloberin der Kongregation der Diene- rinnen des heiligsten Herzens Jesu im Mutterhaus. Diese Informationen gehen aus den Unterlagen des Instituts für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte der Theologischen Fakultät an der Universität Graz zum „Seipel- Projekt“ hervor. 376 Vgl. Tagebücher, 13.07.1920. 377 Vgl. ebd., 30.07.1920 und 22.08.1920. 378 Nikodema Bohner (1865–1945), geb. Martina Bohner, diplomierte Krankenpflegerin, als Oberin, Generalobe- rin und Generalrätin im Mutterhaus der Kongregation der Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu tätig. Zu diesen Informationen siehe Anm. 375. 82

keit als Bundeskanzler, die erforderlichen kanonischen Examina der Novizinnen/Postulantin- nen abzunehmen. In den 12 Jahren seines Dienstes als geistlicher Leiter der Schwesterngemein- schaft notierte er insgesamt 35 Mal die Abnahme dieser Prüfungen, welche oft einen ganzen Vormittag in Anspruch nahmen. Aus dem am 2. August abgefassten Testament Ignaz Seipels geht hervor, dass er seinen ganzen Besitz der Schwesterngemeinschaft vermachte.379 Im April 1921 machte Seipel eine fast zweiwöchige Visitationsreise als Superior der Herz- Jesu-Schwestern, die ihn nach Frankfurt, Koblenz, ins Saargebiet und ins Rheinland führte, wo die Schwestern Niederlassungen hatten. Er besuchte dort die Schwesternhäuser und trat mit der Bevölkerung, dem Klerus und öffentlichen Personen in Kontakt.380 Wie sehr die Schwestern ihren Superior schätzten, zeigt sich an der Benachrichtigung des Todes Seipels der Generaloberin der Kongregation an ihre Mitschwestern:

Tieferschüttert steht das Mutterhaus und die ganze Kongregation der Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu an der Bahre dieses großen, mit seltenen Geistesgaben ausgestatten Priesters, der seit dem Jahr 1920 der Kongregation als Superior vorstand […].381

4.5.2 Geistlicher Leiter der Caritas Socialis

Die 1919 gegründete Caritas Socialis ist eine Schwesterngemeinschaft, die eng mit der Person ihrer Gründerin Hildegard Burjan verbunden ist. Burjan wurde am 30. Jänner 1883 in Görlitz an der Neisse als zweite Tochter der jüdischen Mittelstandsfamilie Freund geboren. 1899 übersiedelte die Familie in die Schweiz, wo Hilde- gard 1903 in Basel die Matura ablegte und dann das Studium der Germanistik an der Universität Zürich begann, wo sie als suchende junge Frau auch philosophische Vorlesungen besuchte. Während dieser Zeit lernte sie den ungarischen Juden Alexander Burjan (1882–1973) kennen, der Technik studierte. Die beiden heirateten im Mai 1907 und zogen nach Berlin.382 Einen tiefen Einschnitt in ihr Leben brachte das Jahr 1908, in dem Hildegard Burjan eine Nierenkolik erlitt, die viele Operationen nach sich zog. Im Frühling 1909 ging es ihr so schlecht, dass sie um ihr Leben kämpfen musste, aber ihr Gesundheitszustand besserte sich plötzlich auf fast wundersame Art und Weise und sieben Monate später konnte Burjan das Krankenhaus verlassen. Dieses Heilungserlebnis führte dazu, dass sie sich intensiver dem christlichen Glau- ben zuwandte und sich schließlich taufen ließ. Mittlerweile war das Ehepaar Burjan nach Wien

379 Vgl. Testament abgedruckt in: Blüml, Prälat Seipel, 55. 380 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 247. 381 Zit. nach Blüml, Ignaz Seipel, 137f. 382 Vgl. Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis, Hildegard Burjan, 7–9. 83

übersiedelt und erwartete ihr erstes Kind. Obwohl die Ärzte ihr aufgrund ihrer schlechten Ge- sundheit zu einer Abtreibung rieten, brachte Burjan 1910 eine Tochter zur Welt, die Geburt war für sie lebensgefährlich.383 Bald nach der Geburt begann Burjan ihr soziales Wirken, sie unterstützte mit ehrenamtlichen Helferinnen die Wiener Heimarbeiterinnen, was in der Gründung des „Vereins für christliche Heimarbeiterinnen“ im Jahr 1912 gipfelte. Im Ersten Weltkrieg nutzte Burjan ihr ausgeprägtes Organisationstalent, um notleidende Frauen zu unterstützen. Durch diesen selbstlosen Einsatz für bedürftige Frauen, aber auch für das Wahlrecht von Frauen, wurde die christlichsoziale Par- tei auf sie aufmerksam. Im Dezember 1918 wurde Burjan Gemeinderätin der Stadt Wien und stellvertretende Obfrau der Christlichsozialen.384 Sie sah in ihrer politischen Tätigkeit die Mög- lichkeit, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. So war sie ab 1919 etwa zwei Jahre lang die einzige weibliche christlichsoziale Abgeordnete im Parlament. Trotz ihrer kurzen Abgeordnetenzeit gehen viele soziale Initiativen auf sie zurück, wie z. B. die Verbesserung des Mutter- und Säuglingenschutzes, bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen und das Hausge- hilfinnengesetz, das erstmals Rechtsgrundlagen für diesen Berufsstand schuf.385 Das größte und bleibende Verdienst schuf Hildegard Burjan mit der Gründung der Caritas Socialis, ihrem Lebenswerk, bei dem auch Ignaz Seipel wesentlichen Anteil hatte. Seipel lernte Burjan im Februar 1917 im Rahmen der vierten Delegiertentagung der „Katholischen Reichs- Frauenorganisation Österreichs“ (KRFOÖ) kennen, bei welcher er einen Vortrag mit dem Titel „Richtlinien für die wirtschaftliche Tätigkeit der katholischen Frauenorganisation“ hielt.386 Burjan war mit den Thesen des Professors für Moraltheologie nicht einverstanden, hatte sie doch während des Vortrags „immer wieder missbilligend den Kopf geschüttelt.“387 Über Ver- mittlung des mit beiden Persönlichkeiten befreundeten Ehepaars Maria388 und Otto Maresch389 wurden sie sich bei einem späteren Treffen zum Tee vorgestellt, dies war der Beginn einer sehr guten, lebenslangen Freundschaft.390

383 Vgl. ebd., 9–11. 384 Kronthaler, Frauenfrage, 27–30. 385 Vgl. ebd., 151; 170–174. 386 Vgl. Liebmann, Seipels Frauenbild, 253. 387 Burjan-Domanig, Hildegard Burjan, 50. 388 Maria Maresch (1886–1971), Dr. phil., geb. Jezewicz, katholische Schriftstellerin, Pädagogin, 1945–1949 Chefredakteurin der Frauenzeitschrift „Die Österreicherin“, 1919–1938 eine der ersten Referentinnen im Unter- richtsministerium, 1946 erste Ministerialrätin in Österreich. Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 28, Anm. 56. 389 Otto Maresch (1886–1945) Dr. jur., 1914–1932 Dozent an der Lehrerakademie, Ministerialsekretär. Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 29, Anm. 60. 390 Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 229. 84

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Burjan Kardinal Piffl von ihrem Plan berichtet, eine Schwesterngemeinschaft zu gründen, was bei diesem auf Wohlwollen stieß. Nachdem sie Sei- pel kennengelernt hatte, nahmen die Pläne konkrete Gestalt an und sie zog ihn als Berater hinzu. Sie schätzte an ihm seinen kritischen Geist, dass er u. a. etwaige Mängel ansprach. So hatte Seipel zu Beginn andere Ansichten zur Form der Gemeinschaft, er wollte eine eher lose Verei- nigung sozial tätiger Frauen, allerdings hielt Burjan daran fest, eine Schwesterngemeinschaft zu gründen.391 Seipel hatte auch einen anderen Namen dafür vorgesehen, in seinem Tagebuch vermerkte er: „Nachmittags und abends mit Schaurhofer und beiden Maresch bei Frau Doktor Burjan. Plan einer ‚Franziskusgemeinde sozialarbeitender Frauen‘ besprochen.“392 Etwa einen Monat später war aber der Name „Caritas Socialis“ fixiert, denn im Tagebuch findet sich der Eintrag: „Besprechung der Caritas Socialis“.393 Nachdem Piffl die Schwesterngemeinschaft gebilligt hatte, fand das erste Treffen am 24. Oktober 1918 statt, bei dem Seipel als geistlicher Leiter die neue Gemeinschaft vorstellte und seinen ersten von vielen folgenden Vorträgen vor den Schwestern hielt. Am 9. Oktober 1919 erfolgte die vereinsmäßige Errichtung als „Caritas Socialis. Religiöse Gemeinschaft sozi- altätiger Frauen in Wien“ mit Hildegard Burjan als Vorsteherin und Ignaz Seipel als geistlichem Leiter, was er bis zu seinem Tod auch blieb.394 In den folgenden Jahren entwickelte sich die Caritas Socialis nach dem ursprünglichen Wunsch der Gründerin zu einer Schwesterngemein- schaft. So genannte „interne Schwestern“ bildeten sich heraus, die sich nach den Evangelischen Räten lebend, enger an die Gemeinschaft banden, gewisse Pflichten zu erfüllen hatten und so- zial tätig waren. Es wurde ein Noviziat eingeführt, in welchem die Schwestern sozial-fachlich und geistig ausgebildet wurden.395 Im Jahr 1930 umfasste die Gemeinschaft 92 Schwestern und 44 Novizinnen.396 Obwohl Seipel als Politiker und vor allem als Bundeskanzler ab 1922 zeitlich sehr ausgelas- tet war, nahm er sich Zeit für die Caritas Socialis. Bei Versammlungen hielt er Ansprachen, er war bei Vorstandssitzungen, Generalversammlungen und Aufnahmen neuer Schwestern anwe- send und zelebrierte einmal im Monat, zumeist am vierten Sonntag des Monats, den Gottes-

391 Vgl. ebd., 225f. 392 Tagebücher, 20.05.2018. 393 Ebd., 27.06.2018. 394 Vgl. Kronthaler, Frauenfrage, 232f. 395 Vgl. zur Entwicklung der Caritas Socialis in den ersten Jahren: Ebd., 241–263. 396 Vgl. ebd., 252. 85

dienst in der Pramergasse, wo sich bis heute die Zentrale der Schwesterngemeinschaft befin- det.397 Dass Ignaz Seipel seine Aufgabe als geistlicher Begleiter der Caritas Socialis sehr ernst nahm, erkennt man an seinen Tagebüchern, in denen er penibel die Gottesdienste notierte, z. B.:

Sonntag, 3./10.1920. Früh Generalkommunion und Segenmesse der Caritas Socialis in der Pramer- gasse. Ansprache über das Evangelium des XIX. Sonntags nach Pfingsten.

Samstag 17./9.1921. Früh in der Pramergasse zelebriert und Ansprache gehalten: „Die Wundmale des heiligen Franziskus, die heilige Hildegard, das Kreuztragen“.

Sonntag 9./10.1921. In der Pramergasse zelebriert. Aufnahme neuer Mitglieder in die Caritas Socia- lis. Ansprache: Der heilige Franziskus als Stützer und Retter der Kirche – Die Aufgabe der Caritas- Mitglieder, die soziale Ordnung stützen und retten zu helfen.

Samstag 15./10.1921. Vormittags Einkleidung, Zahnarzt. Nachmittags Aufnahme der Novizinnen der Caritas Socialis in der Pramergasse. Ansprache: Das Erfordernis der Liebe.

Sonntag 23./9.1923. Um 8 Uhr heilige Messe, Generalkommunion und Ansprache in der Pramer- gasse.

Sonntag 24./5.1925. Früh Caritas Socialis, Pramergasse, Kommunionmesse und Predigt über den „guten Geist“.

Sonntag 24./1.1926. Früh in der Pramergasse heilige Messe, Ansprache, Generalkommunion, Auf- nahme von fünf internen Schwestern der Caritas Socialis.

Sonntag 27./2.1927. Früh heilige Messe, Ansprache, Generalkommunion, Vorstandsitzung der Cari- tas Socialis in der Pramergasse; Leitungsbesprechung mit Frau Doktor Burjan.

Donnerstag 8./12.1927. Um 8 Uhr heilige Messe, Ansprache, Generalkommunion, Aufnahme einer internen Schwester der Caritas Socialis, Aussetzung für den Anbetungstag der Sozialen Hilfe in der Pramergasse. Besprechung mit Frau Doktor Burjan.

Seipel hat für die Schwestern der Caritas Socialis auch mehrtätige Exerzitien geleitet, aus sei- nen Aufzeichnungen lassen sich folgende eruieren: 12. bis 16. April 1919: Diese Exerzitien mit dem Thema „Niemand kann zwei Herren die- nen“ fanden in Hacking bei Wien statt. Seipel notierte im Tagebuch, dass er sehr müde und gar nicht vorbereitet wäre. Am zweiten Tag, dem Palmsonntag, war das Thema der ersten Betrach- tung das Beten während der Exerzitien, das der zweiten Einsamkeit und Stillschweigen. Am Nachmittag folgte eine Erwägung mit dem Titel „Die Caritas Socialis als Pflegestätte des echten sozialen Geistes“ und eine Betrachtung über die Exerzitienbeichte. Der dritte Tag begann mit einer Betrachtung über den Seelenzustand und das Charakterbild des heiligen Petrus und eine zur Nachfolge Christi. Die Erwägung beschäftigte sich mit dem Thema „Die Caritas Socialis

397 Eine Auswahl der Predigten, die Seipel bei den Messen in der Pramergasse gehalten hat, wurde im Jahr 1933 von der Caritas Socialis herausgegeben: Seipel, Von der sozialen Liebe. 86

als Werbezentrum für die soziale Arbeit“ und die letzte Betrachtung dieses Tages mit Eigen- schaften sozial Tätiger. Mit einer Betrachtung über den letzten Exerzitientag als Freudentag und die Emmausjünger begann der letzte (volle) Tag, dann sprach Seipel über den ungläubigen Thomas. Die Erwägung dieses Tages trug den Titel „Die Menschen, Klassen und Nationen nehmen wie sie sind“. Den Tag beschloss eine Betrachtung zum Gebet der Liebe Gottes. In der Früh des allerletzten Tages hielt Seipel noch eine Schlussansprache. Insgesamt hat er bei diesen Exerzitien also 13 Reden gehalten, dazu Privatberatungen gemacht und 22 Beichten abgenom- men. Auffällig ist, dass Seipel in dieser Zeit kein einziges Mal die Feier einer heiligen Messe verzeichnete. 27. bis 31. März 1920: Diese Exerzitien waren wieder in Wien-Hacking und sehr christo- zentrisch geprägt. Die erste Betrachtung handelte von Jesus – „Gott, Gottmensch, Sakrament gewordener Gottmensch“.398 Die zweite Betrachtung am folgenden Tag hatte die „Kunst des Betrachtens“ zum Gegenstand, wobei eine Verbindung zu Jesus’ Versuchung in der Wüste her- gestellt wurde. Die Exerzitiantinnen wurden vor die Frage gestellt: „Sind wir auf unserem Platz, im sozialen, moralischen und eucharistischen Leben?“. Jesus bei der Hochzeit von Kana war das Thema der dritten Betrachtung und damit verbunden die Frage nach der Abhängigkeit der Menschen von den Geschöpfen und ihre Grenzen bzw. „Richtlinien für das Verhalten zu den Geschöpfen“. Bei der Erwägung ging es darum, dass die „Caritas Socialis ein Übungsplatz für den Ausgleich der Gegensätze zwischen den sozial Arbeitenden und ein Mittel zur Erleichte- rung der sozialen Arbeit sein soll“. Die fünfte Betrachtung ging dem ersten Eingriff Jesu in ein Frauenleben nach, nämlich der Samariterin am Jakobsbrunnen.399 Der nächste Tag begann mit der Heiligen Messe und mit einer Betrachtung über die „Lieblingsworte des Herrn: Amen, Pax, Sei Getrost! Das Bedürfnis nach Trost, irdischer und himmlischer Trost“. Es folgte eine Be- trachtung darüber, wie Jesus die Apostel beten lehrte und religiöse Gemeinschaftsbildung in- nerhalb der Kirche. Die zweite Erwägung ging den „Eigenschaften der führenden Persönlich- keiten in den Organisationen“ nach und die abendliche neunte Betrachtung der Verklärung auf dem Berg Tabor und damit verbunden dem Trost im Tode und der Vorbereitung auf die Lei- denszeit.400 Die Themen der Betrachtungen des vierten Tages waren die Fußwaschung, der Kreuzestod Jesu und der wunderbare Fischzug. In der Erwägung sprach Seipel über die Ver-

398 Tagebücher, 27.03.1920. 399 Ebd., 28.03.1920. 400 Ebd., 29.03.1920. 87

bindung zwischen dem Heiland auf seinen Wanderungen und den vielen Gängen der Teilneh- merinnen in der sozialen Arbeit.401 Am letzten Tag endeten die Exerzitien mit einer Schlussan- sprache über den Ablass und die Wallfahrt zu den 7 Hauptkirchen Roms.402 Seipel nahm wäh- rend dieser Exerzitien 24 Beichten ab und hielt 17 Besprechungen bzw. Beratungen mit Exer- zitientinnen ab. Schon im darauffolgenden Jahr hielt der Prälat von 19. bis 23. März 1921 wieder in Hacking Exerzitien für 44 Teilnehmerinnen der Caritas Socialis. Im ersten Vortrag sprach er über den heiligen Josef, seine Rollen als Arbeiter und Pflegevater Jesu und seine Eigenschaften „ernst, ruhig, schlicht“, die auch bei den Exerzitien wichtig sind.403 Die nächsten Vorträge bereiteten die Teilnehmerinnen auf Ostern vor und behandelten Aspekte der Passionsgeschichte: „Das Tor zum Leiden Jesu Mathäus 26,1. Wozu sind wir auf der Welt?“, „Der Verrat des Judas. Wir und die Geschöpfe.“, „Die Vorbereitungen auf das Passahmahl: Klugheit, Zeitgerechtigkeit, Freundschaft“, „Die Fußwaschung – Sünde und Beichte“.404 Am nächsten Tag „Das letzte Abendmahl: Was tat Jesu? […] Wie tat er es? (Mit Sehnsucht und Freude, mit Liebe, mit Weh- mut und Trauer)“, „Jesus auf dem Ölberg“, „Jesus vor seinen Richtern: Annas, Kaiphas, Pilatus, Herodes.“ und schließlich „Der Tod Jesu am Kreuze: Der gute Schächer, Maria und Johannes, der Hauptmann“.405 Der zehnte Vortrag fragte, „wie sich die Apostel um Maria sammeln“ und nach dem Verhalten der Menschen im Unglück und der elfte behandelte das Suchen der Frauen, der Apostel, der Emmausjünger und des Paulus nach Jesus. Die letzten beiden Vortragsthemen des Tages lauteten: „Jesus sitzet zur Rechten des Vaters (der Himmel)“ und „Der gute Geist, der heilige Geist“.406 Am letzten Tag fand schließlich in der Früh der Schlussvortrag mit dem Titel „Das Exerzitienandenken – ein lebhaftes Bild von Jesus“ statt.407 Seipel notierte 17 Beich- ten und 21 Beratungen, die er durchgeführt hatte.408 Vom 25. auf den 26. März 1922 hielt der Prälat einen Exerzitientag für die Caritas Socialis in der Währingerstraße ab, an welchem er vier Vorträge hielt: „Mariae Verkündigung in alten Zeiten Neujahrstag“, „Das Beispiel als Fürsorgemittel“, „Die Bestimmungen der Caritas Socia- lis, „Der heilige Gabriel: Vorbereitung auf die Arbeit, Gebetsleben“.409

401 Vgl. ebd., 30.03.1920. 402 Vgl. ebd., 31.03.1920. 403 Vgl. ebd., 19.03.1921. 404 Ebd., 20.03.1921. 405 Ebd., 21.03.1921. 406 Ebd., 22.03.1921. 407 Ebd., 23.03.1921. 408 Vgl. ebd., 22.03.1921. 409 Ebd., 25.03.1922. 88

Die Exerzitien im Jahr 1922 fanden vom 11. bis zum 15. April in Rodaun, einer damals eigenständigen Gemeinde im Süden Wiens, heute ein Stadtteil in Liesing, statt. Da diese wieder in der Karwoche stattfanden, waren die Themen auf die Leidenszeit Jesu fokussiert und lauteten folgendermaßen: „Bedeutung der Kartage für die Exerzitien“, „Stillschweigen: Die Voraussage des Leidens Jesu 2 Tage vor seinem Tode. Sicherheit des Zieles. Das letzte Ziel des Menschen“, „Das Charakterbild des Judas“, „Die letzte Warnung und Verabschiedung des Judas: Behand- lung unverbesserlicher Pfleglinge“, „Die Reue und der Tod des Judas – Die Exerzitienbeicht“, „Petrus, Johannes, Philippus, Judas Thaddäus während des letzten Abendmahls“, „Das hohe- priesterliche Gebet = Schule für unser Gebet“, „Die Frauen in der Leidensgeschichte: Die Magd des Kaiphas, Claudia Procula, die frommen Frauen, Veronika, die Mutter des Herrn“, „Die Begleitung Jesu auf dem Kreuzwege, die Verspottung, die beiden Schächer“, „Das Fortleben des Heilandes in der Eucharistie, geistliche Kommunion“, „Das Fortleben des Heilandes in der Kirche“, „Das Fortleben des Heilandes in den Heiligen“, „Christus und die Welt“. Insgesamt hielt Seipel in diesen fünf Tagen 14 Vorträge, nahm genauso viele Beichten ab und hatte zehn Besprechungen.410 In den Jahren 1923 bis 1925 sind in den Tagebüchern Ignaz Seipels keine Exerzitien für die Caritas Socialis verzeichnet, man muss aber bedenken, dass er in dieser Zeit Kanzler war und aufgrund des auf ihn verübten Attentates längere Zeit rekonvaleszent war. Die nächsten Einkehrtage hielt er von 12. bis 16. Mai 1926 in Pressbaum. Drei der zehn Vorträge behandelten den heiligen Franziskus (1181/82–1226), v. a. seine besondere Bezie- hung zur Caritas Socialis. Der zweite Exerzitientag war Christi Himmelfahrt, ein Vortrag be- leuchtete die Beziehung zwischen Gott und Mensch nach Ezechiel 16,3ff., ein anderer die per- sönliche Sünde. Die weiteren Vorträge handelten vom Weg der Demut, des Gehorsams und des Leidens und die des letzten Tages schließlich vom Besuch bei der Muttergottes und beim Hei- land im allerheiligsten Sakrament. Anders als bei den vorherigen Exerzitien hielt Seipel auch drei Reden, die er Konferenzen nannte, und die das gemeinsame Thema „Sehen lernen“ hatten und lauteten: „Der Blick in uns“, „Der Blick um uns“, „Der Blick über uns“. Außerdem notierte er auch immer in Klammer, die wievielte Rede des laufenden Jahres die Vorträge waren, so stand er am Ende dieser Exerzitien im Mai bei bereits 129 Reden im Jahr 1926.411 Zum „Fest der Wundmale des heiligen Franziskus“ in der Pramergasse von 14. bis 17. Sep- tember 1926 hielt Seipel jeden Tag einen Vortrag. Der erste trug den Titel „Die Bekehrung des

410 Ebd., 11.–14.04.1922. 411 Vgl. ebd., 12.–16.05.1926. 89

heiligen Franziskus“412, der zweite „Die Liebe des heiligen Franziskus“413 und der dritte han- delte von den Wunden des heiligen Franziskus414. Die letzten Exerzitien für die Caritas Socialis, die Seipel leitete, fanden in Lainz statt und dauerten von 7. bis 11. April 1930. Den Zweck der Exerzitien umschrieb der Prälat im ersten Vortrag mit „Die Freiheit erlangen“. Die Vortragsinhalte waren breit gefächert und lauteten: „Die fünf Talente“, „Der Sündenfall im Paradies“, „Wachsamkeit“, „Mariä Verkündigung, Menschwerdung, Ehe, Familie. – Jesus und die gefallenen Frauen“, „Die Bekehrung des heili- gen Paulus“, „Die Befreiung des heiligen Petrus“, „Gebet“, „Das Leben Mariä während des öffentlichen Lebens Jesu“, „Jesus im Verkehr mit den Menschen“, „Der Verkehr mit Gott: Kin- dessinn“, „Arbeit“, „Das Leben Mariä nach dem Tode Jesu; die Kirche als Mutter“. In diesen Tagen der Exerzitien nahm Seipel 31 Beichten ab und notierte 24 Aussprachen. Daneben erle- digte er aber auch seine tägliche Korrespondenz, er wohnte nicht am Ort der Exerzitien in Lainz, sondern in seiner Wohnung in der Keinergasse.415

4.6 Seipels Verhältnis zum Wiener Erzbischof und zum Heiligen Stuhl

4.6.1 Seipel und Kardinal Piffl

In der gesamten politisch aktiven Zeit des Priesterpolitikers Seipel war sein kirchlicher Vorge- setzter der langjährige Erzbischof von Wien Friedrich Gustav Kardinal Piffl. Diese beiden Män- ner zählten in der Zeit von 1918 bis zu ihrem Tod 1932 zu den bekanntesten und bedeutendsten Kirchenmännern Österreichs. Es ist nicht viel darüber bekannt, wie das persönliche Verhältnis zwischen diesen beiden Geistlichen ausgesehen hat, aber aus den Tagebüchern Seipels geht zumindest ein sehr intensiver Kontakt hervor. Bei seiner Antrittsvorlesung am 5. November 1917 an der Universität Wien416 bedankte sich Seipel ausdrücklich beim Kardinal, der „den in die Fremde gezogenen geistlichen Sohn mit in die Heimat zurückrief“.417 Piffl hatte zuvor die Bewerbung Seipels unterstützt, wie ein Eintrag

412 Vgl. ebd., 14.09.1926 413 Vgl. ebd., 15.09.1926. 414 Vgl. ebd., 16.09.1926. Alle drei Vorträge wurden in der Zeitschrift der Caritas Socialis „Soziale Hilfe“ Nr. 9/10 1926 abgedruckt. 415 Ebd., 07.–11.04.1930. 416 Die Antrittsvorlesung trug den Titel „Die Bedeutung des neuen kirchlichen Rechtsbuches für die Moraltheolo- gie“ und ist als selbstständige Publikation erschienen: Seipel, Bedeutung. 417 Ebd., 3. 90

in den Tagebüchern zeigt: „Kardinal Piffl schreibt, daß er im Ministerium für meine Kandidatur um die Schindlersche Lehrkanzel eintreten werde.“418 Als sich ein Jahr später sein Eintritt ins kaiserliche Kabinett abzeichnete, stattete Seipel dem Wiener Erzbischof einen langen Besuch ab, um die kirchenrechtlich erforderliche Zustimmung für seine politische Tätigkeit einzuholen.419 Er schrieb in sein Tagebuch: „Vormittags bei Lam- masch und Meinl, dann beim Kardinal, der meinem Eintritt ins Kabinet zustimmt.“420 Auch als es um die Abdankung des Kaisers und die Ausrufung der Republik ging, kam es zu regelmäßi- gen persönlichen Kontakten zwischen den beiden.421 Piffl erkundigte sich bei Krankheit des Prälaten nach seinem Gesundheitszustand bzw. stattete dem Kranken einen Besuch ab.422 Auch als Seipels Gesundheit gegen Ende seines Lebens schon sehr angeschlagen war, zeigte sich Piffl sehr besorgt. Als sich Seipel 1930 auf Kur in Südtirol befand, schrieb ihm der Erzbischof, dass die Kirche in ihm ein „Werkzeug in der Hand der Vorsehung“ sehe, als welches er das Land schon einmal vor dem Zerfall bewahrt habe und auch in Zukunft dazu wieder aufgerufen sein könnte. Auch wenn er nicht mehr in die Politik gehe, solle er auf sich achten, denn er würde weiterhin als „Berater in grundsätzlichen Zeitfragen gebraucht“.423 Die beiden Geistlichen schätzten anscheinend auch den Rat des jeweiligen anderen. Der Kanzler verzeichnete regelmäßig Besuche beim Kardinal, wobei davon ausgegangen werden kann, dass er diesen über politische Angelegenheiten informiert hat bzw. auch solche mit ihm besprochen hat. Aber auch Piffl nahm Seipels Hilfe in Anspruch, z. B. ließ er eine erste Fassung und einen weiteren Entwurf des Hirtenbriefs über Kapitalismus und Sozialismus vom Moralthe- ologen begutachteten.424 Am Ostersonntag findet sich in den Tagebüchern die Notiz: „Hirten- briefentwurf über Kapitalismus und Sozialismus geprüft.“425 Seipel wurde als Politiker zu den Bischofskonferenzen eingeladen, was aber nicht bei allen Bischöfen gerne gesehen war. Mehrere von ihnen kritisierten 1925 gegenüber Piffl die häufige Beiziehung von Politikern bei den Sitzungen, da dies die „so notwendige Unabhängigkeit und Freiheit des Episkopats beeinträchtigen“ könne.426

418 Vgl. Tagebücher, 16.06.1927. 419 Vgl Krexner, Hirte, 196. 420 Vgl. Tagebücher, 22.10.1918. 421 Vgl. ebd., 04.11.1918; 10.11.1918; 15.11.1918; 21.11.1918; 26.11.1918; 27.11.1918; 06.12.1918; 10.12.1918. 422 Vgl. ebd., 05.06.1920: Kardinal Piffl war einer der Ersten, die den von einer Straßenbahn gestürzten Seipel besuchten. 423 Zit. nach Klemperer, Ignaz Seipel, 413f. 424 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 437; Sohn-Kronthaler, Waitz, 337. Dabei handelte sich um das Schreiben „Leh- ren und Weisungen der österreichischen Bischöfe über soziale Fragen der Gegenwart“, in: Wiener Diözesanblatt 63/12 (31.12.1925) 67–77. 425 Tagebücher, 12.04.1925. 426 Weinzierl, Episkopat, 31. 91

Vor allem der Linzer Bischof Gföllner, der Reformvorschläge für neue Statuten der Bi- schofskonferenz ausarbeitete, sprach sich gegen die Beiziehung politischer Persönlichkeiten bei bischöflichen Beratungen aus. Dies wurde in den neuen Statuten von 1927 nicht schriftlich festgehalten und auch nicht konsequent eingehalten.427 Gföllner, der grundsätzlich gegen die enge Verbindung zwischen Kirche und Politik war, sah durch den zunehmenden Einfluss Sei- pels auf die Bischöfe das Vertrauen der Laien zur Bischofskonferenz gefährdet.428 Als im Jahr 1927 die von den Sozialdemokraten unterstützte Kirchenaustrittswelle einsetzte und Seipel dafür die Schuld gegeben wurde, wollte Piffl den Kanzler zum Bleiben überreden, wie Seipel in einem Brief schrieb.429 Das gute Verhältnis zwischen Seipel und dem Kardinal wurde nachweislich einmal getrübt, als nämlich die beiden Geistlichen im Jahr 1924 konträre Meinungen in der Schulfrage hatten. Sie konnten sich aber darauf einigen, dass primär die katholische Schule angestrebt werden sollte, und erst wenn dies nicht zu erreichen wäre, das holländische Modell. Dort gab es keine allgemeine Zwangsschule.430 Das Verhältnis der beiden großen Persönlichkeiten war grundsätzlich gut und aus den Tage- büchern geht nichts anderes als Hochachtung füreinander hervor, für Rennhofer waren sie „ver- wandte Geister“.431

4.6.2 Seipel und der Heilige Stuhl

Als Mann der Kirche war Seipel naturgemäß in die kirchliche Hierarchie eingegliedert und somit dem Papst als Oberhaupt unterstellt, wodurch sich die Frage stellt, inwieweit dies den Staatsmann in einen Konflikt brachte bzw. wie Rom die politische Betätigung eines Priesters sah. Das Verhältnis zwischen Seipel und dem Heiligen Stuhl beleuchtet Steinmair in seiner Dissertation432, weswegen diese Arbeit die Grundlage für das vorliegende Kapitel bildet.

427 Vgl. Kronthaler, Entwicklung, 52. 428 Dies schrieb Gföllner in einem Brief an Sigismund Waitz (1864–1941), den Apostolischen Administrator von Feldkirch-Innsbruck und späteren Erzbischof von Salzburg. Zit. nach Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 139f. 429 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 639 430 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 140f.; Liebmann, Piffl, 128. Krexner, Piffl, 290. 431 Rennhofer, Ignaz Seipel, 710. 432 Vgl. im Folgenden Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 295–303. 92

Im Mai 1922 notierte Seipel in seine Tagebücher: „Brief Pastors433 erhalten über Denunzia- tion meiner Person in Rom“434 und einige Tage später: „Abermals Brief von Pastor mit der Aufforderung nach Rom zu kommen, diesmal durch Kardinal Gasparri435 selbst, erhalten.“436 Doch es war Seipel nicht möglich, dieser Aufforderung bald Folge zu leisten, da er noch im selben Monat seine erste Kanzlerschaft antrat. Der damalige Nuntius in Wien Marchetti Sel- vaggiani437 berichtete noch wenige Tage davor, dass Seipel für dieses hohe Amt zwar die ge- eignetste Person wäre, aber es schien ihm denkunmöglich, dass ein Priester diese Position in- nehaben könnte. Denn er hielt die Präsenz Geistlicher in politischen Ämtern für nicht opportun. Am 30. Mai 1922, einen Tag vor seiner Angelobung, informierte Seipel schließlich den Nun- tius, „dass er aufgrund der schwierigen Umstände und mangels geeigneter Kandidaten selbst die Kanzlerschaft antreten wird“ und bat den Nuntius um die Bewilligung des Heiligen Stuhls. Dies erscheint Steinmair ungewöhnlich, da eine Genehmigung seines Vorgesetzten, Kardinal Piffl, gereicht hätte, Seipel diesen aber anscheinend überging und an einer höheren Stelle nach- fragte, was Steinmair zum Schluss kommen lässt, Piffl sei einer Übernahme der Kanzlerschaft durch Seipel ablehnend gegenübergestanden.438 In Rom ist die Regierungsbildung positiv aufgenommen worden, Gasparri zeigte sich ge- genüber Pastor erfreut darüber, „dass eine so bewährte Kraft wie Prälat Dr. Seipel den Kanz- lerposten übernommen habe“. Pius XI., der Priestern in politischen Ämtern ablehnend gegen- überstand, war laut Pastor ebenfalls begeistert von neuen österreichischen Bundeskanzler.439 Diese wohlwollende Meinung über einen Priester an der Spitze einer Regierung liegt darin begründet, dass der Heilige Stuhl großes Interesse daran hatte, die „rote Gefahr“ abzuwehren,

433 Ludwig Pastor Freiherr von (1854–1928), geb. in Aachen, ab 1875 Studium der Geschichte an den Universitä- ten Löwen, Bonn, Berlin, Wien und Graz, 1878 Dr. phil., 1887 o. Professor an der Universität Innsbruck, 1901 Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, ab 1920 österreichischer Gesandter beim Heiligen Stuhl. 1926 wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien. Bearbeitete die Biografien der Päpste von der Renaissance bis zur Zeit Napoleons. Vgl. Gatz, Pastor, 1432f. 434 Tagebücher, 02.05.1922. 435 Pietro Gasparri (1852–1934), geb. in Ussita/Perugia, 1877 Priesterweihe, 1880 Professor für Kanonisches Recht in Paris, ab 1898 Apostolischer Delegat für Ecuador, Bolivien und Peru, 1901–1907 Sekretär der Kardinalskon- gregation für die außerordentlichen Angelegenheiten in Rom, 1907 Kardinal, ab 1904 Vorsitzender der Kommis- sion für die Neugestaltung des Kirchenrechts, das 1918 als CIC in Kraft trat, 1914–1930 Kardinalstaatssekretär. Vgl. Hierold, Gasparri, 360–364. 436 Tagebücher, 18.05.1922. 437 Francesco Marchetti Selvaggiani (1871–1951), geb. in Rom, Studium Theologie und Kirchenrecht an der Gre- goriana, 1896 Priesterweihe, 1901 Eintritt in die Kurie, 1920–1922 Nuntius in Österreich, ab 1922 Sekretär der Kongregation für die Verbreitung des Glaubens, 1930 zum Kardinalpriester ernannt, 1936 suburbikarischer Bi- schof von Frascati, 1948 Bischof von Ostia und Dekan des Kardinalkollegiums, 1931 Erzpriester der Lateranba- silika, 1939 Sekretär des Heiligen Offiziums, 1948 Präfekt der Kongregation für das Zeremoniale. Vgl. Squiccia- rini, Apostolische Nuntien, 300–302. 438 Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 153–155. 439 Ebd., 156f. 93

worunter er gleichermaßen Sozialdemokraten und Kommunisten verstand. In einer Aktennotiz der Kongregation für kirchliche Angelegenheiten aus dem Jahr 1922 hieß es:

Die Lage der Kirche in Österreich ist gut. Bis zum heutigen Tag, vier Jahre nach der Revolution ist es noch immer nicht zu einer Trennung von Kirche und Staat gekommen. An den Schulen gibt es Religionsunterricht, Bischöfe und Priester können ihr Amt ungehindert ausüben, und der staatliche Religionsfonds ist intakt. Der Katholizismus hat seine Bastionen gehalten!440

Dies sah man als Verdienst des Politischen Katholizismus, aber vor allem Ignaz Seipels.441 Die von Seipel ausverhandelte Völkerbundanleihe442 wurde vom Papst mit Lob bedacht, al- lerdings zeigte sich der Nuntius, der die Verdienste Seipels sehr würdigte, besorgt über die Hetze der politischen Gegner und empfahl dem Staatssekretariat einen Rückzug Seipels aus dem politischen Amt, „da es gerade in der gegenwärtigen Zeit vorsichtiger [ist], wenn sich Priester in politischen Dingen nicht so sehr exponieren“. Gasparri sah aber keinen Grund, sich in die österreichische Politik einzumischen und erteilte diesem Vorschlag eine Absage.443 Die große Hochachtung des Papstes vor Seipel zeigte sich vor allem in der Zeit nach dem Attentat auf den Kanzler. Der Vatikan war darüber bestürzt und Gasparri schickte dem Ver- wundeten sofort ein persönliches Schreiben im Namen des Heiligen Vaters, in dem dieser sich „berührt“ zeigte und „das Gefühl väterlicher Sympathie und besonderen Wohlwollens“ aus- drückte. Auch in der darauffolgenden Zeit erkundigte sich Pius XI. mehrmals nach dem Ge- sundheitszustand des Kanzlers und gab ihm sogar medizinische Ratschläge. Auch Nuntius Si- bilia besuchte den Prälaten mehrere Male und stand bezüglich dessen Gesundheitszustand in engem Kontakt mit dem Heiligen Stuhl.444 Besonders geehrt fühlte sich Seipel, als er zu seinem 25-jährigen Priesterjubiläum vom Nuntius ein persönliches Glückwunschschreiben des Paps- tes, datiert mit 7. Juli 1924, erhielt, in dem er sowohl dessen priesterliches Leben, als auch seine Leistungen als Bundeskanzler würdigte:

Wie hoch Wir sowohl Deinen priesterlichen Lebenswandel als insbesondere die weise und uner- müdliche Arbeit einschätzen, die Du für die Wiederaufrichtung Eures Staates auf Dich genommen hast, ist Dir bereits wohlbekannt. Daß in diesem Urteil das österreichische Volk vollständig mit uns übereinstimmt, hat es insbesondere gezeigt, als es lange in Angst und Sorge um Dein Leben zu Gott um die Gnade flehte, daß Du zum Wohle Deiner Mitbürger, die Dich verehren, und Eures gemein- samen Vaterlandes unversehrt erhalten bleibest. Die Nachricht, daß sich allmählich Deine Gesund- heit wieder befestigt, erfüllt, wie sie alle Guten erfreut, so auch Uns mit größter Befriedigung.445

440 Zit. nach Iber, Bann, 263. 441 Vgl. ebd. 442 Siehe dazu Kap. 2.1.4. 443 Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 166–168. 444 Ebd., 169–172. 445 Zit. nach ebd., 173. 94

Nach dem Attentat versuchten einige kirchliche Vertreter aus Seipels Umfeld, u. a. Nuntius Sibilia, die erzbischöfliche Würde für den Priesterpolitiker zu erwirken. Dies wurde vom Kar- dinalstaatssekretär Gasparri positiv beurteilt, erst der Papst selbst erteilte dem Ansinnen eine Absage. Laut Steinmair hielt er einen Erzbischofstitel in einer derart hohen politischen Position möglicherweise für nicht angebracht und wollte nicht riskieren, dass Seipel sich deswegen aus dem Kanzleramt zurückziehen müsste.446 Während der Tumulte im Juli 1927 gab der Vatikan keinen Kommentar ab, obwohl der Nun- tius laufend Berichte über die Situation übermittelte. Erst einige Monate danach äußerte sich Gasparri gegenüber Pastor wohlwollend über Seipel und zeigte sich erfreut, dass am 15. Juli „eine so mutige Persönlichkeit“ wie Ignaz Seipel an der Spitze der Regierung stand. Offen- sichtlich hatten weder diese Vorfälle noch die darauffolgende Kirchenaustrittswelle die Beliebt- heit Seipels beim Heiligen Stuhl beeinträchtigt, dieser ging sogar davon aus, dass Seipels An- sehen dadurch gestiegen sei, weil er Schlimmeres verhindert habe.447 Sibilia war ein großer Bewunderer Seipels, und „die Nuntiaturrapporte lesen sich über weite Strecken wie Bewunderungsschriften für den Bundeskanzler“, wie Steinmair feststellt. Es stellt sich die Frage, ob sich der Nuntius durch diese einseitige Berichterstattung gezielt für den Bun- deskanzler einsetzte, da über ihn fast ausschließlich positive Stellungnahmen über die Politik Seipels nach Rom gelangten.448 Dies lässt sich gut daran zeigen, dass der Nuntius seine Vorge- setzten in Rom nicht darüber in Kenntnis setzte, dass zu den anstehenden Wahlen im Jahr 1927 in Seipels Einheitsliste auch nationalsozialistische Gruppen vertreten waren. Als Seipel in ei- nem Interview 1930 behauptete, junge deutsche Katholiken hätten Sympathien für den Natio- nalsozialismus, führte dies zu Verstimmungen mit dem Vatikan. Seipel bemühte sich daraufhin, seine Aussage zu relativieren und versuchte dem Papst zu vermitteln, dass er sich niemals po- sitiv gegenüber dem Nationalsozialismus geäußert habe. Dies ist die einzige nachweisbare Irri- tation zwischen Seipel und dem Heiligen Stuhl.449 Aufgrund der Recherchen Steinmairs kann man also sagen, dass das Verhältnis Seipels zu Rom durchaus positiv war und die Kontakte meist über den Nuntius liefen. War der erste Nun- tius zur Zeit der politischen Tätigkeit Seipels Marchetti-Selvaggiani eher zurückhaltend, was den Priesterpolitiker betraf, so war Sibilia in vielen Punkten derselben Meinung wie der Kanzler und berichtete fast nur positiv nach Rom. Für den päpstlichen Vertreter in Österreich war Seipel nicht nur ein „wahrer Staatsmann“, er bewunderte auch Seipels priesterliche Qualitäten, die

446 Vgl. ebd., 175; 179. 447 Ebd., 191. 448 Ebd., 185. 449 Vgl. ebd., 236. 95

dadurch auch dem Papst nicht verborgen blieben. So erklärte er einmal gegenüber Pastor, dass Seipels Priestertum mit seinem politischen Wirken untrennbar verbunden sei: „Weil er ein so guter Priester ist, ist er auch ein so trefflicher Staatsmann.“450 Seipels Verhalten gegenüber dem Vatikan zeichnete sich durch eine starke Autoritätsbezo- genheit aus, die sich dadurch ausdrückte, dass ihm die Meinung des Papstes und dessen Wohl- wollen sehr wichtig waren, wodurch sich wieder zeigt, wie ausgeprägt Seipel seine priesterliche Existenz verwirklichte.451

4.6.3 Kandidat bei Bischofsernennungen

Ignaz Seipel war nicht nur in der Politik für hohe Ämter geeignet, sondern offensichtlich auch bei der Kirchenführung ein Kandidat für höhere Weihen. Ein Beispiel dafür findet man in Zuge der Erzbischofsbestellung in Salzburg im Jahr 1918, als der amtierende Erzbischof Kaltner452 im Juli verstarb. Aus Seipels Tagebüchern erfährt man, dass er gefragt wurde, ob er eine mög- liche Wahl annehmen würde.453 Er wog in seinen Aufzeichnungen die Frage genau ab, über- legte sich präzise, wie er das Bischofsamt ausüben würde (nämlich u. a. politisch) und vertraute darauf, dass Gott die richtige Entscheidung treffen werde.454 Als dann die Wahl auf Ignaz Rie- der455 fiel, hielt Seipel lediglich fest: „In Salzburg Rieder zum Fürst-Erzbischof gewählt“456 Wie es aber in seinem Inneren tatsächlich aussah, notierte er zwei Tage später:

Heute wurde mir recht klar, dass die Salzburger Erzbischofswahl gar nicht anders ausfallen konnte, als wie es geschehen ist. Es standen wahre Tugend mit wirklicher innerer Größe und äußere Tätig- keit, die doch nur hohles Blendwerk ist, einander gegenüber. […] So wie ich gestern und heute wieder bin, ohne jede geistige Spannkraft, wäre ich jedenfalls für alles höhere Wirken ganz unge- eignet. Und dass das höhere Amt mich über mich selbst erheben würde, ist doch nur Selbsttäu- schung. Das Beste für mich wäre doch eine ganz stille Schreibtischarbeit.457

Dies war aber nicht das einzige Mal, dass Seipel für ein hohes kirchliches Amt in Frage kam.

450 Pastor, Tagebücher, 857. 451 Ebd., 357f. 452 Balthasar Kaltner (1844–1918), geb. in Goldegg/Slbg., 1868 Priesterweihe, 1877 Dr. theol., 1886 Professor für Kirchengeschichte und Kanonisches Recht an der Theologischen Fakultät Salzburg, 1891 Ernennung zum Kon- sistorialrat, 1900 Kapitularvikar, 1901 Weihbischof von Salzburg, zugleich Präses des Metropolitan- und Diöze- sangerichts, 1909 Generalvikar, 1910 Fürstbischof von Gurk, 1914 Fürsterzbischof von Salzburg. Vgl. Gatz, Kaltner, 361f. 453 Vgl. Tagebücher, 28.07.1918. 454 Vgl. ebd., 03.08.1918. 455 Ignaz Rieder (1858–1934), geb. in Großarl/Slbg., 1881 Priesterweihe, 1882 Koadjutor in Rauris, 1892 Dr. theol., 1895 Professor für Kirchengeschichte und Lehrauftrag für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Salzburg, 1897 Professor für Pastoraltheologie, 1911 Weihbischof von Salzburg, 1918 Fürsterzbischof von Salz- burg. Vgl. Spatzenegger, Rieder, 617f. 456 Tagebücher, 12.08.1918. 457 Ebd., 14.08.1918. 96

Der Chefredakteur der Reichspost, Friedrich Funder458, erzählte, er wäre mit Kienböck, dem früheren Finanzminister, 1925 zu Seipel gegangen, um ihn zu sagen, dass er laut Piffl als Bi- schof von Seckau vorgesehen wäre. Seipel soll zwar erklärt haben, als erste Aufgabe sähe er den kirchlichen Auftrag, als aber Kienböck auf ihn einredete, dass er in der Politik bleiben solle, um das begonnene Aufbauwerk nicht zu gefährden, wäre der Prälat nachdenklich geworden. Er hätte innerlich schwer mit sich ringend gewirkt und schließlich mit einem „tiefen Seufzer“ er- klärt: „Ich werde bleiben.“ 459 In den Tagebüchern ist diese Geschichte nicht vermerkt, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen sollte, ist es aufgrund dieser wenigen Informationen nur schwer möglich, die Gründe für Seipels Ablehnung des Seckauer Bischofsstuhls nachzuvoll- ziehen. Möglicherweise wollte er tatsächlich den Staat Österreich nicht im Stich lassen oder Seckau war ihm, der zu Ehrgeiz neigte, nicht mächtig genug. Aber anscheinend war in dieser Situation der Politiker in ihm stärker als der Priester. Noch ein drittes Mal soll Seipel als kirchlicher Würdenträger im Gespräch gewesen sein. Es gab schon zu Lebzeiten des Priesterpolitikers Stimmen, die sagten, Seipel wäre 1932 als Nach- folger Piffls als Wiener Erzbischof in Frage gekommen.460 Reimann berichtet von einem Ge- spräch mit einem Benediktinerpater, dass Nuntius Sibilia dem todkranken Seipel die Nachricht überbrachte, er würde, sobald er wieder gesund ist, zum Erzbischof von Wien ernannt. Pius XI. hätte gewusst, dass Seipel das Krankenbett nicht mehr verlassen würde, doch wollte er dem verdienten Prälaten eine letzte Freude bereiten. Wäre Piffl vor den Geschehnissen des 15. Juli 1927 verstorben, hätte es laut Reimann keinen anderen Kandidaten für dieses hohe Amt des Wiener Erzbischofs gegeben als Seipel. So habe aber der Papst dessen Tod abgewartet und hat sechs Wochen später Theodor Innitzer zum Wiener Erzbischof ernannt.461 Eine diesbezügliche ernsthafte Absicht der römischen Kurie kann jedenfalls nicht nachge- wiesen werden, aber sicher ist, dass der Nuntius ihn auf die Kandidatenliste setzte. Man kann aber davon ausgehen, dass dies eher als ein Akt der Wertschätzung des zu diesem Zeitpunkt schon schwerkranken Altkanzlers zu sehen ist.462

458 Friedrich Funder (1872–1959), geb. in Graz, 1898 Dr. iur., ab 1896 Redakteur bei der „Reichspost“, 1903 Chefredakteur, aufgrund dieser Funktion Mitglied des christlichsozialen Parlamentsklubs, vor dem Ersten Welt- krieg Berater des Thronfolgers Franz Ferdinand, 1938 verhaftet und in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg, 1939 freigelassen und mit Berufsverbot belegt. 1945 Gründung der katholischen Wochenzeitschrift „Die Furche“. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 126. Siehe auch: Pfarrhofer, Funder. 459 Vgl. Funder, Gestern, 682f. 460 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 258. 461 Vgl. Reimann, Zu groß, 52f. 462 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 258. 97

5. ZWISCHEN POLITIK UND SEELSORGE

So sehr Seipel auch Priester war, seine wahre Leidenschaft gehörte der Politik. In der Öffent- lichkeit achtete er darauf, diesen inneren Zwiespalt, den er durchlebte, nicht sichtbar zu machen. Nach außen ist er der „ausgeglichene und überlegene Staatsmann, eingebettet in die Sicherheit seines Priestertums […] Herr über sich und andere“. Seine Gedanken kreisten aber oft um die- sen Zwiespalt, er warf sich Ehrgeiz und Eitelkeit vor.463 Dass Seipels religiöse Überzeugungen sein öffentliches Wirken stark beeinflussten, ist un- umstritten, wurde aber auch problematisch gesehen. So schreibt etwa Wilhelm Ellenbogen464, ein sozialdemokratischer Politiker und Zeitgenosse Seipels, dass der ständige Zwiespalt zwi- schen der Frömmigkeit eines Priesters und den Herausforderungen der Politik Seipels Wirk- samkeit in beiden Bereichen beeinträchtigt habe.465 Schärfer formuliert es Ernst Karl Winter, der meint, dass Seipels Unbeugsamkeit und Schärfe für die Kirche katastrophale Folgen gehabt habe.466 Als Spannungsfelder zwischen seinem Priestertum und seiner politischen Tätigkeit sollen im Folgenden drei Beispiele skizziert werden, nämlich Seipels Rolle bei den Ereignissen vom Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik, sein Umgang mit dem Zwiespalt gleich- zeitig Priester und Bundeskanzler zu sein bei einem Besuch in Italien und zuletzt das bekann- teste Spannungsfeld, die tragische Rolle, die Seipel bei den Ereignissen rund um den Aufstand nach dem Urteil gegen die Täter bei den Unruhen in Schattendorf im Juli 1927 gespielt hat.

5.1 Übergang von der Monarchie zur Republik

Um die Brisanz der Tage im November 1918, als Österreich nach über 600 Jahren von einer Monarchie zu einer Republik wurde, zu verstehen, muss man sich das Verhältnis zwischen Kir- che und Herrschern aus dem Hause Habsburg vor Augen halten. Es handelte sich um eine enge Bindung, oft bezeichnet als „Bündnis von Thron und Altar“ und die Bischöfe waren dem Kaiser gegenüber treu. Dies ergab sich alleine schon aus dem Umstand, dass die meisten Bischöfe vom Monarchen ernannt wurden und die Loyalität der in Frage kommenden Kandidaten gegenüber

463 Reimann, Zu groß, 45. 464 Wilhelm Ellenbogen (1863–1951), 1887 Dr. med., ab 1892 in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung aktiv, 1919–1934 Nationalratsabgeordneter, 1938 Emigration in die USA. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personen- lexikon, 97. 465 Vgl. Ellenbogen, Menschen und Prinzipien, 108. 466 Vgl. Winter, Seipel, 156f. 98

dem Kaiser ein Auswahlkriterium war.467 Dieses enge Verhältnis war für beide Seiten selbst- verständlich, eine Infragestellung der Monarchie schien noch wenige Tage vor Ausrufung der Republik für katholische Würdenträger ausgeschlossen. So hatte Piffl noch am 29. Oktober 1918 bei der Einweihung eines Soldatenheims seine Rede mit den Worten „Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland“ beendet.468 Wie zu Beginn bereits dargestellt, war Ignaz Seipel im kaiserlichen Kabinett, das von Lam- masch geleitet wurde, Minister für soziale Fürsorge. Lammasch und Seipel versuchten alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihrer Funktion als kaiserliche Minister gerecht zu werden, daher war es ihr Ziel, für den neuen Staat Deutsch-Österreich die Monarchie und Kaiser Karl zu erhalten. Nur vier Tage nach der Ernennung des kaiserlichen Kabinetts hatte die Provisori- sche Nationalversammlung am 31. Oktober eine Regierung unter dem Vorsitz von Karl Renner eingesetzt, die eine Abdankung des Kaisers anstrebte. Durch den Waffenstillstand vom 3. No- vember und die Revolution in Deutschland, im Zuge derer der deutsche Kaiser Wilhelm II. (1888–1918) am 10. November flüchtete, wurde der Druck auf Kaiser Karl immer größer, ab- zudanken und den Weg für eine Republik freizumachen.469 Das brachte auch den kaiserlichen Minister Seipel in Zugzwang, der am 9. November in seinem Tagebuch notierte: „Ministerrat, große Debatte über die eventuelle Abdankung des Kaisers“470 und am 10. November:

Vormittags von Hauser ins Parlament gerufen, mit ihm und Fink über die Abdankungsfrage verhan- delt, dann bei Lammasch und beim Kardinal, darauf Ministerrat. Nachmittags abermals im Parla- ment […] Abends Ministerrat bis 1 Uhr nachts. Seitz und Renner drängen zur Proklamierung der Republik und zur Abdankung des Kaisers. Ich im heftigsten Verzögerungskampf.471

Piffl hatte am selben Tag in der Früh ein Schreiben Kaiser Karls erhalten, in welchem dieser ihn bat, bei Hauser, der zu diesem Zeitpunkt Führer der christlichsozialen Partei war, zu inter- venieren, die Partei möge dem Kaiser treu bleiben und für die Beibehaltung der Monarchie abstimmen. Piffl führte diesen Wunsch mit der Bemerkung „Ich erfülle meine Pflicht“ aus und Hauser versprach ihm, dass die Christlichsozialen dem Kaiser treu blieben.472 Es ist nicht be- kannt, ob Hauser den Wunsch des Kaisers tatsächlich an die Partei weitergegeben hat.473

467 Vgl. Sohn-Kronthaler, Episkopat, 159f. 468 Liebmann, Entscheidung, 170. 469 Verosta, Seipels Weg, 20–24. 470 Tagebücher, 09.11.1918. 471 Ebd., 10.11.1918. 472 Liebmann, Entscheidung, 171f.; Krexner, Hirte, 201. 473 Vgl. Honeder, Hauser, 94 99

Es ist auch nicht mehr zu eruieren, welchen Rat Piffl dem offensichtlich Rat suchenden Ignaz Seipel bei ihrer Besprechung gegeben hat. Liebmann geht davon aus, dass er sich „ganz ent- schieden gegen jedwede Form der Abdankung“ ausgesprochen hat.474 Verosta meint, dass Piffl „gegen Seipels Verhalten keinen Widerspruch erhoben hat“.475 Interessant ist Seipels Tage- buchnotiz vom 11. November 1918, sowohl inhaltlich, als auch wegen seiner unüblichen Länge:

Vormittags im Parlament […]. Darauf Ministerrat. Der Verzicht des Kaisers auf den Anteil an den Staatsgeschäften nicht mehr aufzuhalten. Ich erklärte sowohl im Parlament als im Ministerrat, daß meine Nerven stark genug wären, um ein Aushalten sowohl des Kaisers als der Regierung zu ver- antworten. Mein Ziel war, bis zum Beginn der Friedensverhandlungen zu bleiben, damit ein aner- kannter Paziszent unsererseits vorhanden sei (die deutschösterreichische Regierung ist ja bis zur Stunde von der Entente noch nicht anerkannt) und damit der Kaiser durch Lammasch an der Frie- denskonferenz teilnehmen könne. Doch mußte ich mich der Ansicht aller anderen Faktoren, daß dies nicht mehr möglich sei, fügen. Lammasch und Geyer fuhren, während der Ministerrat tagte, nach Schönbrunn zum Kaiser, der die ihm vorgelegte Verzichturkunde annahm und nachmittags, als sie ihm Geyer in Reinschrift vorlegte, unterzeichnete. Seitz, Silvester und Renner überbrachten dem Ministerpräsidenten die Nachricht, daß der Staatsrat die Proklamierung der Republik beschlossen habe, worauf das Kabinett seine Demission anbot. Sehr schmerzlicher Abschied unter allgemeinen Tränen. […]. Um 5 Uhr freie Zusammenkunft der abtretenden Minister beim Finanzminister. Sehr gedrückter Stimmung und sehr müde. Zweifel, ob ich wieder und ob ich sofort zur Professur zu- rückkehren soll.“476

Der Eintrag zeigt sowohl die Ziele des Prälaten auf, nämlich ein Abdanken des Kaisers mög- lichst lange hinauszuzögern, als auch das Eingestehen seines Irrtums, dass dies „nach Ansicht aller anderen Faktoren“ nicht mehr möglich sei. Verosta477 sieht die Gründe für Seipels Resig- nieren in einem von ihm im Dezember 1917 verfassten Artikel mit dem Titel „Das Problem der Revolution“.478 Seipel führt darin aus, dass es dem Volk grundsätzlich nicht zustehe, die Re- gierungsform des Staates zu ändern, ausgenommen dann, wenn das gesamte System inklusive Regierungsform aber völlig ungeeignet ist, die Bedürfnisse des Staates und der Staatsbürger zu befriedigen. Wenn die neue Regierungsform verfassungsmäßig festgelegt wird (darum bemühte Seipel sich in der Folge intensiv) und mit dem Herrscher verhandelt wurde (Seipel und Lam- masch haben dies mit Kaiser Karl getan), dann kann ein Systemwechsel angestrebt werden.479

474 Liebmann, Entscheidung, 172. 475 Verosta, Seipels Weg, 25. 476 Tagebücher, 11.11.1918. 477 Vgl. Verosta, Seipels Weg, 14f.; 25. 478 Vgl. Seipel, Ignaz: „Das Problem der Revolution“, in: Hochland 1 (1917/18) 543–552. 479 Vgl. Verosta, Seipels Weg, 18. 100

Die Formulierung Kaiser Karls, dass er „auf den Anteil an den Staatsgeschäften“ verzichte und somit keine formelle Abdankung darstellte, geht, wie bereits erwähnt, nach überwiegender Ansicht von HistorikerInnen auf Ignaz Seipel zurück.480 Am 12. November 1918 wurde schließlich mit den Stimmen der Christlichsozialen die Re- publik ausgerufen, wobei sich vor allem viele Katholikinnen und Katholiken die Frage stellten, ob sie diese neue Staatsform nun akzeptieren mussten und ob dies dann nicht einen Treuebruch gegenüber dem Kaiser darstellen würde.481 Drei Tage später schwor Kardinal Piffl unter An- wesenheit von Seipel, der ein Referat über „Die politischen Ereignisse der jüngsten Zeit und der Klerus“ hielt, den Klerus der Erzdiözese darauf ein, dem neuen rechtmäßigen Staat Deutsch-Österreich unbedingte Treue zu erweisen482 und im Jänner 1919 wurde dies in einem gemeinsamen Hirtenbrief des österreichischen Episkopats bestätigt.483 Wie hat nun Seipel sein Umschwenken in der Frage der Staatsform begründet? Welche Gründe waren ausschlaggebend, dass er als Priester, der mit dem „Bündnis von Thron und Al- tar“ sozialisiert wurde, und ehemals kaisertreuer Minister doch recht schnell von der monarchi- schen Staatsform abrückte und seine Partei auf die Republik einschwor? Diese Fragen können mit vier Artikeln in der Reichspost von Seipel selbst beantwortet wer- den, die er auf Wunsch Friedrich Funders verfasste.484 Im ersten Artikel485 schrieb er über die Fehler, die die Monarchie begangen hatte und scheute auch nicht davor zurück, Kaiser Franz Joseph zu kritisieren. Die „Sünden“ der Monarchie wären Militarismus, Bürokratismus, Feu- dalismus, Absolutismus und Kapitalismus gewesen. Der zweite486 und der dritte Artikel487 be- tonen die Stellung des freien Volkes im freien Staat und im vierten Artikel488 bekräftigte Seipel, dass die Entscheidung über die zukünftige Staatsform das Volk zu entscheiden hätte, wobei es die Wahl zwischen einer demokratischen Monarchie und einer demokratischen Republik hätte. In seinem erwähnten Artikel „Das Problem der Revolution“ aus dem Jahr 1917 bestimmte Seipel die Stellung der Kirche gegenüber der Staatsgewalt mit Kapitel 13 des Römerbriefs, wo Paulus die Unterwerfung der Untertanen unter die staatliche Gewalt damit begründet, dass diese

480 Siehe dazu Anm. 49. 481 Vgl. Liebmann, Entscheidung, 172f. 482 Vgl. Rennhofer, Ignaz Seipel, 156 und Klemperer, Ignaz Seipel, 88. 483 Vgl. „Die Erzbischöfe und Bischöfe Deutschösterreichs entbieten ihren Gläubigen Gruß und Segen in unserem Herrn Jesus Christus“, in: Linzer Diözesanblatt 65/2 (23.01.1917) 11–19. Vgl. dazu Krexner, Hirte, 214; Lieb- mann, Von der Dominanz, 395. 484 Vgl. Verosta, Seipels Weg, 30f. 485 Vgl. Seipel, Ignaz: „Das Recht des Volkes“, in: Reichspost (19.11.1918) 1f. 486 Vgl. Ders.: „Das Wesen des demokratischen Staates“, in: Reichspost (20.11.1918) 1. 487 Vgl. Ders.: „Die demokratische Verfassung“, in: Reichspost (21.11.1918) 1f. 488 Vg. Ders.; „Das Volk und die künftige Staatsform“, in: Reichspost (23.11.1918) 1f. 101

von Gott gesetzt ist. Paulus habe zwar nichts über eine bevorzugte Regierungsform geschrie- ben, aber Seipel meinte, „daß die Christen schon selbst so gescheit sein würden, die Anwendung auf ihre Verhältnisse zu machen“.489 Genau das erwartete er also nun vom Volk, wenn dieses in der kommenden Wahl über die Staatsform entscheiden werde. Er hielt sich jedenfalls selbst für „gescheit genug“, denn Jahre später sagte er in einem Gespräch im Jahr 1931 mit einem französischen Jesuiten über diese Zeit:

Da erinnere ich mich noch an die Reaktionen, die das ganze Land aufwühlten: Welche Haltung sollte man gegenüber der neuen Regierung einnehmen? Welche Parole sollte man an die Katholiken aus- geben? Würde sich Österreich für immer in zwei große Parteien spalten, in jene, die sich für die Republik bekennen, und in jene, die sie ablehnen? Da habe ich an die politischen Parteien Frank- reichs gedacht und nach reiflicher Überlegung habe ich beschlossen: Alles, nur nicht die Spaltung. Meine Kollegen in der Regierung waren über dieses plötzliche Bekenntnis zur Republik sehr über- rascht.“490

Mit seinen Artikeln in der Reichspost hatte Seipel seiner Partei also den Weg vorgegeben und in seinem Tagebuch notierte er nicht ohne Erleichterung: „Die bisherigen Artikel vom Kardinal, durch Lammasch, Lederer, Fink, eine Zuschrift von auswärts und laut Funder von verschiede- nen Seiten recht gelobt“.491

5.2 Reise nach Rom 1923 – Regierungschef oder Priester?

Im Frühjahr 1923 wurde Bundeskanzler Seipel vor eine Wahl gestellt, als sein politisches Amt mit Verpflichtungen seines Priestertums zu kollidieren drohte. Er plante eine Reise nach Rom, dabei stellte sich die Frage, ob er zuerst den italienischen König treffen sollte, wie es sein Amt an der Spitze der Regierung erfordern würde, oder ob er zuvor dem Papst als seinem geistlichen Oberhaupt als Priester seine Aufwartung machen sollte. Der Papst war zu einer Audienz nur bereit, wenn der Priesterpolitiker zuerst zu ihm komme, aber auch die italienische Regierung bestand darauf, ihn als erstes zu empfangen. Österreich war aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation auf ein gutes Auskommen mit Italien angewiesen, Italien und der Heilige Stuhl hatten Differenzen angesichts der „Römischen Frage“, was den Besuch Seipels noch einmal mehr bri- sant machte. Aus diesem Dilemma ging beinahe eine diplomatische Affäre hervor, die Leitun- gen zwischen den Mitarbeitern des Kanzlers, dem Nuntius in Wien und dem Staatssekretariat im Vatikan glühten, es kam zum Austausch unzähliger Telegramme.

489 Vgl. Ders., Problem der Revolution, 544f. 490 Zit. nach Rennhofer, Ignaz Seipel, 705f. 491 Vgl. Tagebücher, 21.11.1918. 102

Der Vorschlag Seipels diesen Gewissenskonflikt, welcher er wohl war, zu lösen war gleich- sam überraschend wie auch radikal. Er kündigte gegenüber dem Nuntius Sibilia seinen Rücktritt an. Im Schreiben des Nuntius informierte dieser Staatssekretär Gasparri, dass der Priesterpoli- tiker lieber auf den Besuch in Rom und auf seine Kanzlerschaft verzichten würde als den Papst zu verärgern. Er wies aber auch darauf hin, dass es für die Wirtschaft Österreichs positiv wäre, wenn Seipel nach Rom reisen würde, anderenfalls würde eine Staatskrise drohen.

Der Kanzler behauptet eher auf den Rombesuch und den Regierungsvorsitz zu verzichten, als etwas zu machen, was dem Heiligen Stuhl nicht genehm ist. Eine Romreise des Kanzlers wäre von höchs- tem ökonomischen Interesse für Österreich: andernfalls gäbe es schädliche Konsequenzen. In die- sem Fall müsste der Kanzler seine Demission sofort nach seiner Rückkehr aus Mailand geben. Eine solche Krise könnte arge Übertriebenheiten gegen den Heiligen Stuhl, den Nuntius und die Kirche mit sich bringen.492

Damit legte Seipel die Entscheidung in die Hände des Papstes. Das Schreiben konnte von die- sem sowohl als Drohung als auch als unbedingte Loyalität eines Priesters gegenüber seinem Oberhaupt ausgelegt werden. Dass der Vatikan damit in ein schwierig zu lösendes Dilemma gebracht wurde, liegt auf der Hand und als man in Wien nach fünf Tagen noch keine Antwort erhalten hatte, wandte sich das Außenministerium in einem offiziellen Schreiben an den Nun- tius. Da auch dieses Schreiben nur in seinem Wortlaut die immense Tragweite zeigt, soll es an dieser Stelle zitiert werden:

Der Kanzler hat beschlossen, auf seine Reise nach Rom zu verzichten, wenn nicht bis spätestens am Freitag die Frage geregelt wird, wie er vom Heiligen Vater bei seinem Besuch empfangen wird, damit jeder Schaden vom Vatikan abgehalten wird. […] Um nicht die Interessen seiner Heimat we- gen der Schwierigkeiten, die aus dem Konflikt seiner Qualität als Geistlicher und Politiker resultie- ren, zu behindern, würde der Kanzler keinen anderen Ausweg sehen, als seine sofortige Demission nach der Rückkehr und seine Stelle einem Laien zu überlassen. Der Kanzler würde sich danach als private Person nach Rom begeben, um sich dem Heiligen Vater vorzustellen. Obgleich der Kanzler mit einer solchen Lösung zufrieden sein würde, lässt sich erkennen, dass eine solche Regierungs- krise zu diesem Zeitpunkt unheilvolle Folgen haben würde.493

Dieses Schreiben setzte den Heiligen Stuhl noch mehr unter Druck, denn es war offensichtlich, dass bei einem Rücktritt Seipels die Interessen der Kirche in Österreich in Gefahr waren und es außerdem zu einer Staatskrise kommen würde. Beides konnte nicht das Ziel des Heiligen Stuhls sein, der ja grundsätzlich der Kanzlerschaft des Priesters sehr positiv gegenüberstand.494

492 Zit. nach Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 297; übersetzt von Steinmair. 493 Zit. nach ebd., 298, übersetzt von Steinmair. 494 Ebd., 298f. 103

Der Vatikan entschied sich zu einer ungewöhnlichen, komplizierten Lösung, die geeignet schien, aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Der Papst wollte den Kanzler nur dann empfangen, wenn dieser nach der Audienz beim italienischen König Rom für kurze Zeit – wenn auch nur einige Stunden – verlassen würde, bevor die Audienz im Apostolischen Palast stattfindet.495 Dies hatte den Hintergrund, dass die Grenzen des vormaligen Kirchenstaates ver- lassen werden sollten, um danach offiziell in den Vatikan zu kommen. Aus Seipels Tagebüchern geht hervor, dass dieser Vorschlag nach langen Beratungen ange- nommen wurde und er nach dem Treffen mit dem König eine Nacht in Montecassino ver- brachte, um danach vom Papst empfangen zu werden.496 Dies bestätigen auch die Tagebücher von Pastor, der die Nacht ebenfalls in Montecassino verbrachte.497 Zweifelsohne war es ein geschickter Schachzug Seipels, die Entscheidung mit einer solchen Drohung in die Hände des Papstes zu legen, es ist aber auch ein sehr hartes Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Man kann darin aber auch die absolute Demut eines Priesters gegenüber dem Papst sehen, der es auf sich nehmen würde, ein hohes Amt aufzugeben, um dem Heiligen Stuhl keinen Schaden zuzufügen. Dass es dem Prälaten mit seinem Rücktritt ernst war, geht aus einer Bemerkung gegenüber dem Gesandten des Heiligen Stuhls hervor: „Wenn ich keine Au- dienz beim Papst erhalten hätte, wäre ich von Mailand nach Wien zurückgekehrt und hätte so- fort demissioniert.“498 Eine ähnliche Aussage ihm gegenüber bestätigt auch der ehemalige Sek- tionschef des Außenamtes, Richard Schüller499, in seinen Memoiren.500 Es kann also davon ausgegangen werden, dass Seipel die Pflichten, die sich aus seiner pries- terlichen Existenz ergaben, wichtiger waren als sein politisches Amt, wenn es auch sehr ge- schickt von ihm war, diese religiösen Überzeugungen mit seinem politischen Willen in Ein- klang zu bringen.

5.3 Der 15. Juli 1927 und seine Folgen – „Prälat ohne Milde“

Dass Priestertum und Politikertätigkeit in Spannung zueinander standen, zeigt sich am deut- lichsten an den Folgen der Ereignisse des 15. Juli 1927, die in Kapitel 2.1.4 dargestellt wurden.

495 Diese Lösung übermittelte Ludwig von Pastor dem Kanzler im Auftrag des Papstes, wie aus Pastors Tagebuch- aufzeichnung vom 29. März 1923 hervorgeht. Vgl. Pastor, Tagebücher, 769. 496 Vgl. Tagebücher, 29.03.1923; 31.03.1923 und 01.04.1923. 497 Vgl. Pastor, Tagebücher, 770. 498 Zit. nach Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 302. 499 Richard Schüller (1870–1972), Dr. iur., außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister der öster- reichischen Regierung beim Völkerbund, 1938 Emigration, lehrte in den USA. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Per- sonenlexikon, 435f. 500 „Wenn mich der Papst nicht empfängt, gebe ich meine Demission“. Zit. nach Nautz, Unterhändler des Vertrau- ens, 133f. 104

Bei diesen Aufständen gab es 89 Tote, einen ausgebrannten Justizpalast und eine zerstörte Reichspostredaktion zu beklagen. Seipel hatte die Revolte niederschlagen lassen, allerdings un- ter Protest der Sozialdemokraten, die seinen Rücktritt gefordert hatten. In seiner zwei Tage später gehaltenen Rede im Parlament lag der Grund für die darauffolgende Auflehnung gegen ihn. Er sagte:

Verlangen Sie nichts vom Parlament und von der Regierung, das den Opfern und den Schuldigen an den Unglückstagen gegenüber milde erscheint, aber grausam wäre gegenüber der verwundeten Re- publik. Verlangen Sie nichts, was ausschauen könnte wie ein Freibrief für solche, die sich empören. Verlangen Sie nichts, was Demonstranten und denen, die sich ihnen anschließen, um zu plündern und Häuser in Brand zu stecken, den Mut machen könnte ein anderes Mal wieder so etwas zu tun, weil ihnen ohnehin nicht viel geschehen kann. Es liegt uns nichts ferner als hart sein zu wollen, aber fest wollen wir sein. Fest sein, heißt ebenso wenig hart sein, als milde sein, schwach sein heißen muss. Aber es muss für beides Tag und Stunde richtig gewählt sein.501

Unbestritten waren das harte Worte nach solch schrecklichen Ereignissen, doch wollte Seipel damit gegenüber Demonstranten, die die Sicherheit im Staat gefährdeten, Stärke zeigen. Als Politiker war Seipel nichts vorzuwerfen, erst die Tatsache, dass die Worte von einem Priester kamen, verschlimmerte die Situation und gab den Startschuss zu einer politischen Hetze, die sich klar gegen Seipel als Priester richtete und mit einer heftig beworbenen Kirchenaustritts- propaganda verknüpft wurde. Die Sozialdemokraten schraken dabei aber auch vor unlauteren Mitteln nicht zurück und stellten Seipel als denjenigen dar, der den Schießbefehl gegeben hatte.502 Am 2. August 1927 schrieb die Arbeiter-Zeitung, dass unzählige Menschen wegen Seipel aus der Kirche ausgetreten wären, nach dem Grundsatz „In der Kirche Seipels bleiben wir nicht!“503 Auch wenn die sozialdemokratische Partei nicht offen den Austritt forderte, so unterstützte sie die Abfallbewegung dennoch, v. a. mit Hilfe der Arbeiter-Zeitung, propagan- distisch, um Seipel persönlich verantwortlich zu machen. Diese beiden Bilder aus der Arbeiter-Zeitung seien als zwei Beispiele für die Hetze gegen Sei- pel angeführt:

501 Zit. nach Rennhofer, Ignaz Seipel, 514. 502 Vgl. Reimann, Ignaz Seipel, 272. 503 Vgl. o. V.: „Eine neue Los-von-Rom-Bewegung. Die Antwort Tausender auf den 15. Juli“, in: Arbeiter-Zeitung (02.08.1927) 1. 105

Arbeiter-Zeitung (07.08.1927) 9.

Arbeiter-Zeitung (30.07.1927) 5.

106

Das Resultat dieser Kampagne waren allein in Wien 28.837 Menschen im Jahr 1927, die aus der Kirche austraten, gegenüber 13.505 im Jahr 1926.504 So beharrlich der Politiker Seipel zu seinen Entscheidungen stand, umso verletzter war der Priester Seipel, wie man in seinen Tagebüchern erkennen kann. Er setzte sich mit der Kritik an seiner Person auseinander und ermahnte sich selbst, keinen Hass und keine Erbitterung zu füh- len.505 Die Exerzitien vom 8. bis 11. August 1927 boten dem Kanzler die Gelegenheit, in sich zu gehen und sich mit den Ereignissen auseinanderzusetzen. Die Tagebucheintragungen wäh- rend dieser Zeit sind sehr ausführlich, und man spürt, dass er die Zeit nutzte, um sich wieder mehr auf sein geistliches Leben zu besinnen. Neben zahlreichen Gedanken über sein Gebetsleben und seine priesterliche Existenz streifte der Kanzler auch immer wieder Themen aus seinem schwierigen Politikerdasein. Er ermahnte sich, bereit zu sein, das politische Leben unter Niederlagen aufzugeben, dies aber nicht aus Trägheit.506 Er fragte sich, ob er selbst daran schuld wäre, dass sich sein Leben von der Seel- sorge wegentwickelt hatte und ob das Gute und das Böse, was er in seinem Leben erfuhr, die mögliche Strafe für eine solche Schuld wäre. Er schrieb weiter „Und nun das Ärgernis! Ärgernis durch die Politik, durch Versäumnisse.“507 Noch am Tag seiner Heimkunft nach den Exerzitien las er einen Artikel von Pfliegler508 und Starkl509, die starke Kritik an seiner Politik übten. Starkl und noch mehr Pfliegler wiesen darauf hin, dass die Kirche sich eigentlich an jene Menschen wenden müsste, die mit den Sozialdemo- kraten sympathisierten, nämlich an die Heimatlosen, Entwurzelten, Entrechteten. Darum plä- dierten sie für eine Versöhnung zwischen Kirche und Sozialismus, denn wenn die Kirche diesen weiter so stark bekämpfte, brächte dies den Sozialisten nicht das Heil, sondern noch mehr Hass gegen alles, was mit Katholizismus zu tun hatte. Die Kirche sollte sich weniger um ihre Feinde, wie den Sozialismus, kümmern, als vielmehr um die unerlöste Welt. Pfliegler kritisierte weiters die enge Verbindung zwischen Kirche und christlichsozialer Partei. Die Partei hätte sich bei

504 Vgl. Steinmair, Priesterpolitiker Ignaz Seipel, 198. 505 Vgl. Tagebücher, 12.08.1927. 506 Vgl. ebd., 08.08.1927. 507 Vgl. ebd., 09.08.1927. 508 Es sei erwähnt, dass Pfliegler Kontakte zum „Bund religiöser Sozialisten“ (BRS) pflegte. Der BRS wurde 1926 von Otto Bauer (1897–1986) – nicht zu verwechseln mit Dr. Otto Bauer, dem sozialistischen Politiker – gegründet. Das Ziel des BRS war die Versöhnung zwischen Kirche und Sozialisten. Dies wurde von den Bischöfen kritisch gesehen. Vgl. Krexner, Hirte, 326; Weinzierl, Kirche und Politik, 460f. Am Institut für Systematische Theologie an der Universität Innsbruck beschäftigt sich ein FWF-Projekt mit dem Titel „Otto Bauer: Vom religiösen Sozia- lismus zum apokalyptischen Denken“ mit den Schriften des „kleinen“ Otto Bauer. Siehe die Homepage des Pro- jekts: https://www.uibk.ac.at/systheol/ottobauer/ (abgerufen am 13.01.2019). 509 Mit den Artikeln meinte Seipel den Artikel „Kirche, Sozialdemokratie, Christlichsoziale und Christus der Kö- nig“ von Michael Pfliegler und „Wo wir nicht mitkönnen. Gedanken zur politischen Frontstellung in Österreich“ von Karl Starkl. Beide sind in der Zeitschrift „Neuland“, Folge 6/8, 1927 erschienen. 107

ihrem Beginn um die kleinen Leute gekümmert, dies hätte sich aber im letzten Jahrzehnt geän- dert, sie wäre mittlerweile Sprachrohr der Industrie- und Bankenwelt.510 Es ist offensichtlich, dass Seipel sich durch diese Artikel angegriffen fühlte und er fragte sich, was er dagegen tun kann:

Losgehen, ignorieren. Besser: ernstlich studieren und auseinandersetzen. Ich will von nun an nicht nur die Lobesartikel sammeln, sondern die kritischen Stimmen. Kein Haß, keine Erbitterung! Der Vorsatz friedlicher Auseinandersetzung wird schwer durchzuführen sein; denn 1.) kostet das Stu- dium der Kritiken und ihre Widerlegung Zeit; werde leicht die Angelegenheit hinausschieben und damit verbummeln; 2.) Dabei Gefahr der Selbstbespiegelung und des Sarkasmus gegen andere.511

Seipel nahm sich also vor, sich mit Kritik auseinanderzusetzen und keinen Hass dagegen zu verspüren. Er war aber so realistisch, dass er ahnte, wie schwer ihm dies fallen wird. Während der Exerzitien 1927 notierte er, dass er am meisten rechthaberisch oder nervös wäre, wenn er von anderen Kritik erfahre oder auch nur befürchte. 512 In einer Nachexerzitienbetrachtung musste er sich schließlich eingestehen, dass er seinen Vorsatz tatsächlich nicht halten konnte, wenn er schrieb: „War auch sonst gegen Parteiangriffe und persönliche Kritik sehr empfindlich, bis zu wirklicher Bitterkeit.“513 Am folgenden Tag fragte er sich, ob er die Hetze gegen die Kirche wegen seiner Person nicht ernster nehmen sollte, wusste aber nicht, wen er dies fragen könnte. Er verwarf den Ge- danken dann wieder und schrieb: „Die Hauptsache, daß ich nicht davon träume, was unter die- sen oder jenen Umständen wäre, sondern tue, was zu tun ist.“514 Es macht hier also den An- schein, als ob der Prälat sich zwar Gedanken über die Folgen des 15. Juli 1927 machte, dann aber seinem Naturell entsprechend nüchtern analysierend in die Zukunft blickte. Julius Tandler515 berichtete 1933, dass Seipels beeindruckendste Eigenschaft innere und äu- ßere Beherrschtheit gewesen wäre. Bei Angriffen auf den Katholizismus reagierte er jedoch heftig und dies wäre das einzige Thema gewesen, dass ihn beinahe die Fassung verlieren ließ:

Sein Gesicht war unbeweglich, er hatte gleichsam Stechschrittaugen, in denen es nur aufflammte, wenn er den Katholizismus in Gefahr glaubte. Das waren auch die Momente, in denen sich über die gedrillte und angelernte starre marmorne Oberfläche seines klassischen Kopfes die unbeherrschbare und daher untrügliche rötende Flamme arterieller Hyperämie ergoß.516

510 Pfliegler, Kirche, 123–125. 511 Vgl. Tagebücher, 12.08.1927. 512 Vgl. ebd., 10.08.1927. 513 Vgl. ebd., 10.09.1927. 514 Vgl. ebd., 11.09.1927. 515 Julius Tandler (1869–1936), Dr. med., Sozialdemokrat, 1910 Lehrstuhl für Anatomie an der Universität Wien, 1919 Mitglied im Wiener Gemeinderat, 1920 Stadtrat für Gesundheit, nach 1934 aus allen Ämtern entlassen. Vgl. Ackerl/Weissensteiner, Personenlexikon, 479. 516 Tandler, Seipel, 183. 108

Nach den Unruhen im Juli 1927 förderte Seipel die zuerst faschistoiden, ab 1930 offen faschistischen Heimwehren, was ihn in Konflikt mit Teilen seiner eigenen Partei brachte. Er setzte sich für Reformen ein, die den Parteien weniger Macht bringen sollten und wollte ständische Elemente in die Verfassung einbringen.517 Um antiklerikale Ideen abzuwehren, war Seipel sogar bereit, gegen die Interessen der christlichsozialen Partei zu handeln. Nachdem er schon bei den Wahlen 1927 zusammen mit der großdeutschen Partei und nationalsozialistischen Splittergruppen in einer Ein- heitsliste angetreten war, wollte er nach dem schlechten Abschneiden seiner Partei bei den Wahlen 1930 diese Verluste mit einem taktischen Manöver kompensieren. Um eine starke antimarxistische Mehrheit zu erreichen, wollte er zusammen mit nationalsozialis- tischen Gruppierungen eine Überpartei bilden, um so eine „Autoritätsregierung“ zu er- möglichen. Dass Dollfuß dieses Vorhaben mit der Vaterländischen Front wenige Jahre später in die Tat umgesetzt hat, zeigt wie sehr dieser von den Ideen Seipels geprägt war.518 Klemperer meint, der Priesterpolitiker von 1929 wäre nicht mehr derselbe wie im Jahr 1922 gewesen, da er damals „zukunftsfreudig und zuversichtlich gehofft“ habe, „das Par- lamentarische meistern zu können.“ Dann aber „gab er sich darüber keinen Illusionen mehr hin und war auch selbst verschlagener und raffinierter geworden“. Seipel habe sich „vom Architekten der parlamentarischen Demokratie zum desillusionierten Sympathisan- ten des Austrofaschismus gewandelt“.519 Anscheinend sah der Prälat aber schärfere Mittel bis hin zu Gewaltanwendung mit seinem Priestertum nicht vereinbar, denn wie aus Akten aus dem Vatikan hervorgeht, habe er 1929 das Amt des Kanzlers zurückgelegt, weil er als Geistlicher die vorauszuse- hende Anwendung von härteren Mitteln gegen die Sozialdemokraten nicht gutheißen konnte.520 Auch gegenüber Funder soll er gesagt haben, dass es zu Auseinandersetzungen kommen könnte, „bei [denen] ein Priester als Bundeskanzler fehl am Platz wäre“.521

517 Vgl. Iber, Bann, 269. 518 Vgl. Ders., Grundlagen, 524f. 519 Klemperer, Ignaz Seipel, 298. 520 Vgl. Iber, Bann, 269f. 521 Zit. nach Klemperer, Ignaz Seipel, 278. 109

6. SCHLUSSBEMERKUNGEN

Seipel, der trotz seiner Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen aufgrund seines hohen Intellekts eine gute Schulbildung genoss, kam während seines Theologiestudiums in Wien in Kontakt mit Prälat Schindler, welcher bei seinem ehrgeizigen Schüler das Interesse für politische Fragen weckte. Nach Promotion und Habilitation wurde der junge Professor für Moraltheologie an die Universität Salzburg berufen, wo er Kontakte zur Friedensbewegung knüpfte und sich, angeregt durch die Bekanntschaft mit Heinrich Lammasch, während des Ersten Weltkriegs mit der Frie- densfrage auseinandersetzte. Dadurch engagierte er sich immer mehr in christlichsozialen Krei- sen. Im Jahr 1917 erfüllte sich sein Wunsch, nach Wien zurückzukehren. Als Professor für Moraltheologie wurde er im Oktober 1918 als Minister für soziale Fürsorge in die letzte kaiser- liche Regierung berufen. Als es schließlich zum Ende der Monarchie kam, war Seipel daran beteiligt, dass es einen geordneten Übergang zur Republik gab und dass die christlichsoziale Partei vor einer Spaltung bewahrt wurde. Diese schwierige Situation Österreichs bewog Seipel schließlich auch dazu, selbst in der Politik tätig zu werden, weil er sich von Gott dazu berufen fühlte, dem Staat auf diese Art und Weise zu nützen. Seine politische Betätigung resultierte aus der Überzeugung, als Priester das Volk auch an der „Seele sanieren“ zu müssen, und aus seinem Verständnis seiner Politik als „indirekte Seelsorge“. Daran erkennt man die enge Verbindung zwischen dem Politiker und dem Priester, welche nur schwer zu trennen ist und die er auch selbst nicht getrennt sehen wollte. Die Politik Seipels war eingebettet in das System des Politischen Katholizismus. Dieser hatte in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts seine stärkste Ausprägung. Die Kirche versuchte nach dem Zusammenbruch der Monarchie ihre Interessen über die christlichsoziale Partei durchzusetzen, welche nach Ansicht der Amtskirche die einzige wählbare Partei für Katholi- kinnen und Katholiken war. Nicht wenige Priester waren als Politiker tätig, wie auch der ober- österreichische Landeshauptmann Prälat Johann Nepomuk Hauser, der über viele Jahre die Ge- schicke des Bundeslands lenkte. Ein Priester, der sich ebenfalls für die Politik berufen fühlte und sogar eine eigene Partei gründete, sich aber mit der Kirche aufgrund seiner radikalen An- sichten überwarf, war der kärntnerisch-steirische Lebensreformer Johannes Ude. Ebenso wie Seipel fühlte er sich in die Politik berufen und verfolgte mit seiner Politik das Ziel, das christ- liche Ethos in die Politik zu bringen. Die Radikalität, mit der er dieses Ziel verfolgte, brachte ihn jedoch in schwere Konflikte mit der Kirchenführung, aber auch mit Seipel und der christ- lichsozialen Partei. Mit dem Beschluss der Bischofskonferenz vom 30. November 1933, den Klerus aus der aktiven Politik zurückzuziehen, wurde die Ära der Priesterpolitiker beendet. Der Grund für

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diese Entscheidung liegt darin, dass die Bischöfe die Interessen der Kirche durch das Konkordat und die Dollfuß-Regierung ausreichend vertreten sahen. Ignaz Seipel war in erster Linie Priester, der zwar nur wenige Jahre in der Pfarrseelsorge tätig war, dessen Leben, Handeln und Denken aber immer von seinem Priestertum geprägt wurde. Seine Tagebücher offenbaren als wichtigste Quelle sein Innenleben deutlich, und zeigen auf, wie stark bei ihm das Bedürfnis war, seine priesterliche Existenz auch in Zeiten höchster beruflicher Belastungen als oberster Staatsmann zu verwirklichen. Diese priesterliche Existenz lebte er in der täglichen Feier der heiligen Messe, in regelmäßigem Gebet, sei es durch das Rosenkranzgebet oder durch das Stundengebet, in Exerzitien und nachfolgenden Betrachtungen und bei der Verehrung der Gottesmutter und den Heiligen. Er lebte in der ständigen Angst, seinem Priestertum nicht gerecht zu werden und äußerte sich häufig in seinen Tagebüchern unzufrieden über sein geistliches Leben, weil er der Meinung war, diesem zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Auch die nahezu wöchentliche Beichte schien ihm in diesen Zweifeln keine Hilfe zu sein. Vergleicht man die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch mit den Anforderungen, die die Kirche seiner Zeit an Kleriker stellte, so kann festgestellt werden, dass er diese trotz seiner Tätigkeit als Bundeskanzler erfüllte. Objektiv gesehen erscheint der Prälat in seinen Tagebüchern als vorbildlicher Priester, der dem Priesterbild seiner Zeit entsprach. Seine ihm auferlegten klerikalen Pflichten erfüllte er oft bis zur Erschöpfung, war aber trotzdem mit sich selbst selten zufrieden. Immer wieder rang er damit, sein Priestertum nicht genügend zu leben und warf sich selbst vor, der Askese und den geistlichen Übungen zu wenig Zeit zu widmen. Ein besonderes Anliegen waren ihm seine geistlichen Ämter bei zwei bedeutenden Wiener katholischen Schwesterngemeinschaften, als Superior der Herz-Jesu-Schwestern und als geist- licher Leiter der Caritas Socialis. Beide Aufgaben nahm er sehr ernst und versuchte er so pflichtgemäß wie möglich auszuüben. Hervorgehoben werden kann sein gutes Verhältnis zu kirchlichen Amtsträgern, v. a. der Wiener Nuntius Sibilia war ein großer Bewunderer des Priesterpolitikers, was ihm auch eine positive Stellung bei den römischen Behörden, insbesondere bei Papst Pius XI. sicherte. Dies ist auch daran zu erkennen, dass er mehrmals für ein Bischofsamt in Erwägung gezogen wurde. Auch sein Verhältnis zu seinem kirchlichen Oberen, Kardinal Piffl, war von gegenseitigem Vertrauen geprägt und gut. Seipel war also seinen kirchlichen Oberen gegenüber gehorsam, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass er seine Leidenschaft, die Politik, hintangestellt hätte, wenn dies dem Papst zum Nachteil gereicht hätte. Dies ergibt sich aus den diplomatischen Dis- kussionen, die entstanden, als der Bundeskanzler im Jahr 1923 eine Romreise unternahm. Es

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stellte sich die Frage, ob er zuerst dem Papst als seinem kirchlichen Oberhaupt seine Aufwar- tung machen sollte oder zuerst den politischen Verantwortlichen in seiner Funktion als Regie- rungschef. Seipel kündigte an, sein Regierungsamt aufzugeben, falls der Papst ihn nicht emp- fangen wollte. Eine geschickte diplomatische Lösung verhinderte dies und Seipel konnte beide Seiten zufriedenstellen. Das Wirken dieses großen Staatsmannes ist von einer gewissen Tragik umgeben, die aus der Tatsache resultiert, dass Seipel aus vollster innerer Überzeugung Priester war und dies auch während seiner gesamten politischen Laufbahn blieb. Die Wurzel der Problematik lag also in seiner Doppelrolle als Priester und Politiker, deren Spannung besonders in den Ereignissen um den 27. Juli 1927 zum Ausdruck kam. Als oberster Verantwortlicher für das Land war er davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben, aber die darauffolgenden Anfeindungen gegen die Kir- che entsprangen dem Hass seiner Gegner gegenüber dem Priester und der Ruf als „Prälat ohne Milde“ haftet ihm bis heute an. Dass Seipel diese Spannung selbst intensiv empfunden hat und über die Angriffe auf seine Person betroffen war, zeigen seine Tagebuchaufzeichnungen, die das Bild eines asketischen, disziplinierten, aber auch an sich selbst und seinen Entscheidungen Zweifelnden zeichnen. Dies ist v. a. an den Notizen während der Exerzitien im Sommer des Jahres 1927 und an den reichhaltigen Betrachtungen danach ersichtlich, bei denen er sich immer wieder vornahm, seine Berufung als Priester zu leben Das Vertrauen des Prälaten in den Parteienstaat war aber durch die jahrelangen Streitigkeiten mit den Sozialdemokraten in seinen letzten Lebensjahren geschwächt, sodass er die Heimwehr stärkte und intensiv an einer Verfassungsreform arbeitete, welche die Ständevertretung veran- kerte. Dadurch kann man von einer Linie von Seipel zu Dollfuß sprechen, der nach dem Tod Seipels die parlamentarische Demokratie vollständig beseitigte und einen der katholischen Kir- che nahestehenden nach Ständen organisierten Staat errichtete. Sehr gut beschrieben wurde die Spannung, in der sich Seipel befand, vom sozialdemokrati- schen Politiker Julius Tandler. Dieser erzählte Seipel bei einem Spaziergang von einer Be- obachtung, die er bei einer Nationalratsversammlung an ihm gemacht hatte, wobei er zu fol- gendem Schluss kam:

[…] Sie haben das unwiderstehliche Bedürfnis, bestimmend in die Dinge einzugreifen, was auf Ihre Veranlagung zum Politiker schließen ließe. Aber nachher treten bei Ihnen entgegengesetzte Überle- gungen auf, selbstkritische Gedanken, Gewissensbisse, Überzeugungskonflikte usw. Daraus schloß ich, daß Sie im tiefsten Grunde Ihres Wesens kein Politiker, sondern ein Priester sind, für dessen Grundhaltung die Politik ein störendes Element ist. Ich glaube, wenn Sie sich auf Ihren Priesterberuf beschränkt hätten, wären Sie ein großer Kardinal der katholischen Kirche geworden.“ „Wunderbar“,

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sagte Seipel, nachdenklich in die Ferne schauend, „Sie haben mich vortrefflich gezeichnet.522 [Kur- sivsetzung im Original]

Diese Beschreibung trifft das Wesen des Priesterpolitiker sehr gut, wie er bei diesem Gespräch selbst bestätigte und wie es auch aus seinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht. Er fühlte sich als Priester, sein Herz schlug aber auch für die Politik, die für ihn „indirekte Seelsorge“ war, was ihn aber oftmals in Konflikte mit seiner priesterlichen Existenz brachte, die er deswegen umso mehr zu verwirklichen suchte. Unzweifelhaft steht fest, dass Prälat Ignaz Seipel das wirkmächtigste Beispiel eines Pries- terpolitikers im Parteipolitischen Katholizismus darstellte. Wie sich aus seinen Tagebüchern ergibt, war er durch und durch Priester und lebte diese priesterliche Existenz so gut ihm das möglich war. Das Zitat aus den Tagebuchaufzeichnungen des Priesterpolitikers Ignaz Seipel im Titel die- ser Diplomarbeit „Vor allem und über allem müsste doch der Priester stehen“ betont durch den darin von Seipel selbst verwendeten Konjunktiv, dass eine Bevorzugung des Priestertums ge- genüber der Politik keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt. Insbesondere durch den Gegensatz zwischen seelsorglicher Verpflichtung dem Einzelnen gegenüber, wodurch die priesterliche Existenz gekennzeichnet ist, und der politischen Ver- pflichtung, das Staatsganze im Auge zu behalten, muss es bei einem Priesterpolitiker zwangs- weise zu einer inneren Zerrissenheit kommen, da sich – und dies kommt aus den Tagebuchauf- zeichnungen Seipels sehr gut hervor – diese beiden Berufungen nur sehr schwer bzw. nur durch das Eingehen von Kompromissen vereinbaren lassen.

522 Ellenbogen, Menschen und Prinzipien, 106f. 113

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

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„Die Bischöfe Österreichs entbieten dem hochwürdigen Klerus und allen Gläubigen Gruß und Segen im Herrn“, in: Wiener Diözesanblatt 71/12 (21.12.1933) 99–105.

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Fried, Jakob: „Die katholische Aktion gegen die öffentliche Unsittlichkeit. Die Antwort des Bundeskanzlers“, in: Reichspost (18.03.1928) 9. o. V.: „Politische Betätigung des Klerus. Beschluß der Österreichischen Bischofskonferenz in Wien vom 30. November 1933“, in: Linzer Volksblatt (06.12.1933) 1. o. V.: „Bedeutung und Aufgaben der Jugendorganisationen. Bundeskanzler Dr. Seipel bei ei- nem Jugendfeste“, in: Reichspost (21.06.1927) 7f. o. V.: „Bundeskanzler Dr. Seipel im ‚Cercle der Genfer Katholiken““, in: Reichspost (12.09.1928) 4. o. V.: „Die Neubesetzung des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Wiener Universität“, in: Reichspost, Nachmittagsausgabe (10.10.1917) 3. o. V.: „Die Prälatenregierung“, in: Arbeiter-Zeitung (01.06.1922) 1. o. V.: „Die Richtlinien der Regierung Lammasch. Eine Unterredung mit Minister Dr. Ignaz Seipel“, in: Reichspost (29.10.1918) 3f.

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o. V.: „Ein Ministerium Lammasch. Bevorstehender Rücktritt des Freiherrn v. Hussarek“, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt (26.10.1918) 1. o. V.: „Ignaz Seipel“, in: Arbeiter-Zeitung (03.08.1932) 3. o. V.: „Rücktritt des Bundeskanzlers Dr. Seipel“, in: Reichspost (04.04.1929) 1f. o. V.: „Seipel über die Bundespräsidentenwahl. Kritik an der Verlegung in die Bundesver- sammlung“, in: Salzburger Chronik (12.10.1931) 2. o. V.: „Trauerkommers für Hofrat Prälat Dr. Schindler. Eine Gedächtnisrede des Bundeskanz- lers Dr. Seipel“, in: Reichspost (17.11.1922) 5f. o. V.: „Der Weg zur letzten Ruhestätte“, in: Reichspost (06.08.1932) 1–5.

4.) Internetquellen

Haid, Kassian, in: Biographia Cisterciensis (Cistercian Biography), www.zisterzienserlexi- kon.de/wiki/Haid,_Kassian (abgerufen am 17.11.2018). http://www.bundespraesident.at/historisches/bisherige-amtsinhaber/wilhelm-miklas-1872- 1956/ (abgerufen am 28.05.2018). http://www.canisianum.at/de/geschichte/#eckdaten (abgerufen am 15.12.2018). http://www.con-spiration.de/syre/calendar/aug/0816.html (abgerufen am 15.11.2018). http://www.herzjesu-schwestern.at/ (abgerufen am 27.07.2018). http://www.herzjesu-schwestern.at/PDF/Februar%20Peter%20Victor%20Braun.pdf (abgeru- fen am 27.07.2018). http://www.pius-parsch-institut.at/profil/pius-parsch (abgerufen am 11.12.2018). https://www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Historischer_Rueckblick.aspx (abge- rufen am 12.01.2019). https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Seipel-Dollfu%C3%9F-Ged%C3%A4chtniskirche (abgerufen am 03.12.2018). https://www.kh-herzjesu.at/ (abgerufen am 27.07.2018). https://www.mehrerau.at/de/ (abgerufen am 15.12.2018). https://www.steyler.eu/svd/niederlassungen/st-gabriel/ (abgerufen am 15.12.2018). https://www.uibk.ac.at/systheol/ottobauer/ (abgerufen am 13.01.2019). 128

Schweiggl, Klaus: „125 Jahre Jesuiten in Lainz“, online: https://www.kardinal-koenig- haus.at/web_medienpool/vortrag_p_schweiggl.pdf (abgerufen am 15.12.2018).

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PERSONENREGISTER

Aloisius [von Gonzaga] 77 Haid, Kassian OCist, Abt 68 Ambrosius von Mailand 25f. Hanisch, Ernst 43 Antonius von Padua 77 Hauser, Johann Nepomuk 9, 34–38, 44, 99, Augustinus von Hippo 25, 82 110 Hildegard [von Bingen] 86 Hittmair, Rudolf, Bischof 36 Baudenbacher, Pater SJ 27, 73 Hussarek von Heinlein, Max 16, 29 Bauer, Otto 17, 19, 22, 36, 107

Bauer, Otto, der "kleine" 107 Bourier, Adolph 61 Ignatius von Antiochien 78 Ignatius von Loyola 55, 77

Innitzer, Theodor, Kardinal 43, 97 Bellarmin, Robert 80 Binder, Dieter A. 7 Jaworek, Karl 20 Blüml, Rudolf 7, 20, 61, 63, 73, 81 Joch, Monsignore 65 Böhm, Direktor 82 Johann von Nepomuk 77 Bohner, Nikodema (Martina) 82 Johannes Chrysosthomos 78 Borromäus, Karl 77 Johannes von Gott 80 Bourier, Adolph 61

Braun, Peter Victor Abbè 81 Buber, Martin 66 Kaltner, Balthasar, Erzbischof 96 Buresch, Karl 15 Karl I., Kaiser 14, 16f., 29, 37, 99–101 Burjan, Alexander 83 Kempa, Reginalda 82 Burjan, Hildegard 20, 24, 83–86 Kienböck, Viktor 68, 97 Klemperer, Klemens von 6, 11, 20, 109 Koppenstätter, Pater SJ 69 Dollfuß, Engelbert 24, 43f., 109, 111f. Kriechbaumer, Robert 43 Doppelbauer, Franz Maria, Bischof 36 Kronseder, Friedrich SJ 65

Ellenbogen, Wilhelm 98 Lammasch, Heinrich 14–17, 91, 99f., 102,

110 Fink, Jodok 35, 99, 102 Lederer, Max 102 Fischer, Eduard SJ 63, 65 Lehner, Martina 60 Franz Ferdinand, Erzherzog 97 Leo XIII., Papst 13 Franz Joseph, Kaiser 29, 101 Liebmann, Maximilian 7, 29, 100 Franz von Sales 27, 77 Limbourg, Maximilian SJ 61f. Franziskus von Assisi 77, 86, 89 Funder, Friedrich 97, 101f., 109 Marchetti Selvaggiani, Francesco, Kardinal

93, 95 Gasparri, Pietro, Kardinal 93–95 Maresch, Maria 84 Geyer, Hermann 100 Maresch, Otto 84 Gföllner, Johannes Maria, Bischof 36f., 44, Meinl, Julius 15, 91 92 Memelauer, Michael, Bischof 41 Glöckel, Otto 31 Miklas, Wilhelm 22 Goldinger, Walter 18 Minichthaler, Josef 59 Gregor von Nazianz 78 Mundy, Jaromír von 81

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Parsch, Pius 78 Seitz, Karl 99f. Pastor von Camperfelden, Ludwig von 93, Sibilia, Enrico, Kardinal 23, 94f., 97, 103, 95f., 104 111 Paulus [von Tarsus] 78, 88 Siepe, Joseph SJ 60 Pawlikowski, Ferdinand Stanislaus, Sohn-Kronthaler, Michaela 3, 8, 29 Bischof 40f. Sölkner, Franz 41 Pfliegler, Michael 33f., 47, 107 Sombart, Werner 66 Piffl, Friedrich Gustav, Kardinal 7, 10, 16, Starkl, Karl 107 23, 35, 85, 90–93, 97, 99–102, 111 Steinmair, Jürgen 7, 92, 93, 95 Pius XI., Papst 7, 23, 80, 92f., 95 – 97, 103f., 111f. Tandler, Julius 108, 112

Theresia von Lisieux 77 Redlich, Josef 15 Timotheus, Bischof 78 Reimann, Viktor 97 Renner, Karl 22, 36, 99f. Ude, Johannes 9, 38–42, 110 Rennhofer, Friedrich 6, 12, 68, 92 Uiberreither, Sigfried 41 Rieder, Ignaz, Erzbischof 96

Rudigier, Franz Joseph, Bischof 29 Valuy, Benoît 61 Vaugoin, Carl 22 Schaurhofer, August 85 Verosta, Stephan 100 Schausberger, Franz 7

Scheicher, Joseph 33 Schindler, Franz Martin 13–16, 91, 110 Waitz, Sigismund, Erzbischof 92 Schober, Johannes 21, 40, 43 Wastl, Johann de Matha 11 Scholastika von Nursia 79 Wilhelm II., Kaiser 99 Schüller, Richard 104 Winter, Ernst Karl 98 Schulte, Albert SVD 72 Seipel, Elisabeth 11 Zehetner, Josef 11 Seipel, Ignaz Karl 11

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