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1 Sonntag, 24.Februar 2019 SWR2 Treffpunkt Klassik - Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning

Transparent, leicht, glanzvoll Offenbach – Gulda Edgar Moreau Cello Concertos Les Forces Majeures Raphaël Merlin Erato 0190295526122

Ein Fest für alle Sinne Harold en Italie Les Nuits d’été Les Siècles François-Xavier Roth Tabea Zimmermann Stéphane Degout HMM 902634

Mitreißende Frische Genève Live Saint-Saëns: Ascanio livret de Jean-Francois Lapointe - Bernard Richter, Eve-Maud Hubeaux, Jean Teitgen, Karina Gauvin, Clemence Tilquin, Choeur et Orchestre de la Haute École de Musique de Geneve, Choeur du Grand Theatre de Geneve Guillaume Tourniaire B-Records LBM 013

Glühendes Gemeinschaftsespressivo Bela Bartók Integrale Des Quators à Cordes Quatuor Diotima, Naive V5452 Indigo

Glockenreine Stimme Offenbach Colorature Jodie Devos Münchner Rundfunkorchester Laurent Campellone Alpha-Classics 437

SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs….mit Eleonore Büning, ich grüße Sie! Heute feiern unsere Nachbarn, die Franzosen, den Jahrestag der sogenannten „Februarrevolution“. Am 24. Februar 1848 wurde in den Straßen von wieder scharf geschossen. Barrikaden und Häuser brennen und das Volk, in Waffen, stürmt den Regierungssitz Chateau d’Eau und jagt den korrupten Bürger- könig Louis-Philippe ins Exil. Rund sechzig Jahre nach dem Sturm auf die Bastille musste noch einmal nach- gebessert werden.

2 Immerhin, sie haben ihn nicht geköpft. Aber blutig war dieser Februartag dennoch. Wie viele Pariser, so brachte sich auch der junge Familienvater Jacques Offenbach in Sicherheit, er flüchtet mit Frau und Kind zu seinen Verwandten nach Köln. In seiner Musik spiegeln sich die kriegerischen Ereignisse der Zeit. Offen- bach, 29 Jahre jung, der sich und die Familie zu diesem Zeitpunkt noch ausschließlich mit seinem Cellospiel ernähren muss, schreibt ein Cellokonzert, das die klassische Konzertform sprengt. Es beginnt mit dumpf drohenden Paukenschlägen, mit einem militärischen Defilée. Und so geht das jetzt los im „Treffpunkt Klassik - Neue CDs“: Marchez! Allez!

Jacques Offenbach: Grand Concerto G-Dur. Daraus 1.Satz 2:44

„Les Forces Majeures“ heißt dieses junge Orchester aus Frankreich, ein Kammerorchester, gegründet und dirigiert von Raphaël Merlin, dem Cellisten des Quatuor Ebène. Sie spielten den Beginn des „Grand Con- certo pour Violoncelle et Orchestre sol Majeur“ von Jacques Offenbach, neu aufgenommen für das Label Erato. Wer da aber noch nicht zu hören war, weil er nämlich erst nach einer fast drei Minuten langen, sehr langsamen Einleitung dazu kommen darf, in diesem ungewöhnlich riesenhaft ausladenden Allegro Maes- toso: das war der Solist dieses Cellokonzerts, Edgar Moreau. Den hören wir gleich. Und zwar gleich nach der Vorschau.

Heute treffen hier im „Treffpunkt Klassik - Neue CDs“ gleich drei große Franzosen zusammen: Jacques Offenbach, Hector Berlioz und Camille Saint-Saëns. Außer der neuen CD von Edgar Moreau mir Offenbachs Cellokonzert habe ich Ihnen auch noch eine weitere mit den schönsten Offenbachschen Ope- rettenschlagern mitgebracht, gesungen von der Sopranistin Jodie Devos. Außerdem, drittens: das neue Berlioz-Album des Orchesters Les Siècles mit François-Xavier Roth, mit den Werken „Harold en Italie“ und „Les Nuits d’été“ und den Solisten Tabea Zimmermann und Stéphane Degout, eingespielt für Harmonia Mundi. Sowie, viertens: die sensationelle Ersteinspielung der Oper „Ascanio“ von Saint-Saëns, mit Guillaume Tourniaire sowie Chor und Orchester der Musikhochschule Genf, eingespielt für das Label B-Re- cords. Und, schließlich: Alle sechs Streichquartette von Béla Bartók, als Gesamteinspielung des Quatuor Diotima, verlegt vom Label Naïve. Soweit der Überblick.

Und nun geht es exakt da weiter, wo die Musik eben aufgehört hat: mit dem Solo-Cello-Einsatz, Allegro Ma- estoso, Jacques Offenbach. Es spielt: Edgar Moreau:

Jacques Offenbach: Grand Concerto G-Dur. Daraus 1.Satz 7‘12

Edgar Moreau spielte das Solocello, begleitet wurde er von „Les Forces Majeures“. Wir hörten einen Aus- schnitt aus dem ersten Satz des Cellokonzerts G-Dur, komponiert von Jacques Offenbach.

Als Offenbach nach der Februarrevolution 1848, vor der er nach Köln geflüchtet war, wieder zurückkehrte nach Paris, hatte sich dort mit Louis-Napoléon das zweite Kaiserreich etabliert, dessen musikalischer Ope- retten-Chronist er werden sollte. Offenbach, der „Orpheus von Paris“, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr von der Musikbranche gefeiert wird, hat dann im Laufe der Jahre noch viele andere ulkige Spitznamen bekommen. Man nannte ihn auch den „Mozart der Champs Elysées“ und „Die Spottdrossel des Seconde Empire“, man erklärte ihn zum „Wunschtraum Nietzsches“ oder zur „Geburt der Frechheit aus dem Geiste der Musik“. Zuerst aber wurde er bekannt als der „Liszt des Cellos“. Er ist auch tatsächlich mit Franz Liszt gemeinsam aufgetreten. Und dieses Cellokonzert hatte Jacques Offenbach für sich selbst komponiert. Es handelt sich um ein Virtuosenkonzert, ein Showpiece, das nach Art einer Rhapsodie einzelne symphonische Szenen aneinanderreiht. Die klassische Konzertform ist in heller Auflösung, der Part des Solisten, wie zu hören war, geradezu atemraubend schwierig: Wilde Doppelgriffpassagen. Tiefste Tiefen, höchste Lagen.

Offenbach muss ein sagenhaft virtuoser, mit allen Wassern gewaschener Cellist gewesen sein. Nach der Uraufführung des Konzertes im April 1847 ist freilich nur noch eine einzige Aufführung in Köln belegt, am 24.Oktober 1848. Es gab auch nie eine Druckfassung. Dieses Konzert wurde erst 1952 zufällig wiederent- deckt, oder vielmehr, ein Teil des Konzerts, und zwar in der Schublade eines Offenbacherben. Das Auto- graph des kompletten, gigantischen Konzerts in drei Sätzen, 44 Minuten lang, fand der Offenbachforscher Jean-Christophe Keck erst 2004 wieder, er hat es der Gesamtausgabe einverleibt. Aber aufgeführt wird es

3 immer noch so gut wie nie. Warum? Wahrscheinlich, weil es einfach sehr schwer zu spielen ist, außerdem ungewöhnlich in der Form. Und welcher Konzertveranstalter setzt schon ein unbekanntes Cellokonzert aufs Programm, wenn er mit einer Operettengala des nämlichen Komponisten einen ausverkauften Saal haben kann?

Die hier vorliegende Neueinspielung mit Edgar Moreau ist überhaupt erst die zweite, die es gibt. Sie ist straf- fer, schneller als die Ersteinspielung, die 2006 herauskam, damals mit Marc Minkowski und dem Cellisten Jérôme Pernoo. Diese Neuaufnahme wirkt transparenter, leichter und zugleich glanzvoller, was vor allem am Solisten liegt: Edgar Moreau, der jedes Detail souverän durchgestaltet, mit vollem Ton, hingebungsvollem Legato, bis rauf ins feinste Flageolett:

Jacques Offenbach: Grand Concerto G-Dur, daraus 3. Satz 3’20

Die schöne Helena lässt schon grüßen, aber auch die Kriegstrommel ist gegenwärtig, in diesem dritten Satz aus Jacques Offenbachs Cellokonzert. Edgar Moreau verkörperte den Violoncello-Part, es spielte das Or- chester „Les Forces Majeurs“ unter der Leitung von Raphaël Merlin. Cellozauberknabe Moreau, inzwischen 25, ist den Wunderkindschuhen nun auch schon entwachsen. Ich glaube, es erübrigt sich, die vielen Preise aufzuzählen, die er bereits errungen hat. Er konzertiert mit großen Orchestern, er macht aber auch gern und viel Kammermusik, er ist seit 2016 Vertragskünstler bei Label Erato bzw. Warner und legt hiermit seine dritte CD vor.

Ergänzend zum Offenbach-Konzert hat er für dieses Album auch noch das Werk eines anderen romanti- schen Grenzgängers und Nonkonformisten eingespielt, das ebenso selten zu hören, aber hundertzwanzig Jahre jünger ist: Friedrich Guldas jazzinspiriertes „Konzert für Violoncello und Blasorchester, ebenfalls kom- poniert von einem wahren Virtuosen, für wahre Virtuosen. Und nur halb so lang. Herausgekommen ist diese CD beim Label Erato im Vertrieb von Warner Classic.

SWR2, Sie hören „Treffpunkt Klassik - Neue CDs“ heute mit Eleonore Büning.

Kommen wir zum zweiten Jubiläumskomponisten des Jahres: Hector Berlioz. Auf dem Friedhof von Mont- marte liegen sie beide begraben, Berlioz und Offenbach, im wirklichen Leben hatten sie nur zwei, dreimal miteinander zu tun. Sie waren halt eine Generation auseinander. Es ist aber verbürgt, dass sie einander kannten, Berlioz hat den jungen Offenbach gefördert, und gewiss hatte Offenbach seinerseits, als sein rhap- sodisch-virtuoses Cellokonzert schrieb, auch schon das revolutionäre Bratschenkonzert im Sinn, welches Berlioz zehn Jahre zuvor geschrieben hatte, im Auftrage Paganinis: „Harold en Italie“. Das Stück beginnt mit einer drei Minuten langen Einleitung: Harold steigt in die Berge hinauf.

Hector Berlioz: „Harold en Italie“ op.16, 1.Satz 7‘11

„Harold in Italien“, op.16, Symphonisches Konzert von Hector Berlioz. Tabea Zimmermann spielte die Brat- sche und Françoix-Xavier Roth begleitete, mit seinem Ensemble Les Siècles. Gemächlichen Schrittes, step by step, Harfenpling für Harfenpling, steigt das schöne, romantische Wanderer-Thema aufwärts ins Gebirge, der Sonne entgegen. Es ist kein Wunder, dass der Auftraggeber Niccolo Paganini, der sich für seine neue Stradivaribratsche ein fetziges Bratschenkonzert von Berlioz gewünscht hatte, so enttäuscht gewesen ist: Von diesem ruhigen Pulsschlag, dem moderaten Tempo, von dieser eklatanten Abwesenheit von Glamour und Bravour. „Das ist nicht, was ich meinte“, soll er gesagt haben: „Ich schweige da viel zu lang. Ich sollte unentwegt spielen!“

Tatsächlich wird nicht virtuos konzertiert in „Harold en Italie“. Im Gegenteil: Die Bratsche verkörpert den jun- gen Antihelden, Harold, das alter ego des Lord Byron. Dieser romantische Typ ist die janusköpfige Kehrseite eines dämonischen Virtuosen: Als ein dem Wahnsinn naher, introvertierter Melancholiker, der Zivilisation entflohen, angeekelt vom Treiben der Gesellschaft, wandert Harold - zu Fuß natürlich - durch die schöne Na- tur, um eins mit ihr zu werden. Folglich geht auch die Solobratsche, die das „Harold-Thema“ spielt, im Laufe dieser symphonischen Szenen nach und nach ganz auf im bunten, vielfarbig kombinierten Berlioz-Orchester.

4 Und es ist pure Kulinarik, zugleich eine Offenbarung und ein Fest für alle Sinne, wenn das Ensemble Les Siècles sich dieser Sache annimmt! Sie spielen auf Original-Instrumenten der Berlioz-Zeit. Damit haben sie, ich gebe es zu, meine persönliche Lieblingsaufnahme der Haroldsymphonie, nämlich die von Sir Thomas Beecham und dem Royal Philharmonic, ein für alle Mal vom Platz Eins verdrängt. Allein die dynamische Bandbreite! Sie reicht flexibel bis ins feinste Pianissimo. Und dann, die schmelzenden, feinen Farben! Im dritten Satz, wenn Harold heimlich hoch im Gebirge einen verliebten Hirten belauscht, teilen sich Fagotte und Hörner in Menschenstimmen, die Borduntöne der Bratschen verwandeln sich in das Bordun des Dudel- sacks, Piccoloflöte und Oboe imitieren den Klang der Schalmei:

Hector Berlioz: „Harold en Italie“ op. 16. 3.Satz 5’58

„Sérénades d’un montagnard des Abruzzes à sa maîtresse.“ So lautet, im Original, der Titel dieses dritten Satzes aus der Harold-Symphonie von Hector Berlioz. Es spielte Tabea Zimmermann, die Solo-Viola, und, unter Leitung von François-Xavier Roth, das Ensembe Les Siècles, auf Original-Instrumenten. Passend und in Ergänzung zu „Harold en Italie“ ist ein weiteres Berlioz’sches Chef d’Oeuvre für dieses neue Les-Siècles-Album eingespielt worden, nämlich der rätseldüstere Orchesterliederzyklus „Les Nuits d’Eté“ op.7, mit sechs Liedern nach Texten von Theophile Gautier. Hier singt nicht die Bratsche, hier singt ein Bari- ton. In dieser Fassung jedenfalls, und zwar: Stéphane Degout. Also beinahe eine Idealbesetzung! Es gibt zur Zeit auf der Opernbühne keinen französischen Bariton, der ihm an Ausdruckskraft gleich käme. Degouts Tiefe ist samtig, seine Register sind wunderbar fließend. Nur in der Höhe kann man schon hören, dass es auf Dauer nicht gut tut, so viel Oper zu singen… Das folgende Lied heißt: „Sur les lagune/Lamento“:

Hector Berlioz: Nuits d’Été, op. 7, daraus: „Sur les lagunes- lamento“ 5‘43

Stéphane Degout sang „Sur les lagunes-lamento“ aus dem Liederzyklus „Les Nuits d’Etés“ von Hector Berlioz. Er wurde begleitet vom Ensemble „Les Siècles“ unter Leitung von François-Xavier Roth, auf histori- schen Instrumenten.

Repertoire und Diskographie von Les Siècles sind, seit sich das Orchester 2003 gründete, ganz schon um- fangreich geworden, ein halbes Dutzend Preise haben sie auch schon gewonnen. Diese Berlioz-CD, vor drei Wochen herausgekommen beim Label Harmonia Mundi, ist aber leider erst die zweite mit Berliozwerken überhaupt,– seit der spektakulären Symphonie Fantastique, die 2010 herauskam. Weil aber Les Siècles jetzt alle Jahre im August das kleine „Festival Berlioz“ mit bespielt, das in der Geburtsstadt des Komponisten, La Côte-Saint-André, stattfindet, ist zu hoffen und auch damit zu rechnen, dass die Serie bald weiter fortgesetzt wird.

Und damit komme ich zur Quizfrage der heutigen Sendung: Wie viele Opern hat der große französische Komponist Camille Saint-Saëns geschrieben? Wenn Sie jetzt antworten wollen: „Eine“, dann hoffe ich, Sie meinen damit nicht den „Karneval der Tiere“, sondern „Samson et Dalila“. Stimmt: diese Oper machte Saint- Saëns seinerzeit berühmt! Außerdem verzeichnen Wikipedia und die einschlägigen Opernlexika freilich noch acht weitere Saint-Saëns-Opern, neun sollen es insgesamt sein, von „Frédégonde“ bis zur „Hélène“. Aber: auch die neun ist falsch! Es gibt nämlich noch eine zehnte Oper von Saint-Saëns, ein abendfüllendes Werk in fünf Akten, ich habe Ihnen die Gesamtaufnahme dazu heute mitgebracht, kein Scherz – vielmehr die Erst- einspielung einer Wiederentdeckung!

„Ascanio“ heißt das Stück, nach einem berühmten Stoff, den bereits Berlioz vertont hatte. Und es geht los, ohne Ouvertüre, nach ein paar Takten Vorspiel, gleich mitten hinein in die veristisch durchkomponierte Handlung: Wir befinden uns, wie Sie sofort merken werden, in der Renaissance-Werkstatt des berühmten Bildhauers „Benvenuto “, wo gehämmert und gearbeitet wird:

Camille Saint-Saëns: Ascanio: 1.Szene, 1.Akt „Très bien“ 2‘28

5 In der Eröffnungsszene der Oper „Ascanio“ von Camille Saint-Saëns hörten Sie: Jean-François Lapointe als sowie Joé Bertili in der Rolle des Lehrlings Pagolo. Es spielte das Orchestre de la Haute Ècole de musique de Genève unter Leitung von Guillaume Tourniaire.

Und darum geht es in dieser großen spätromantischen Oper: Ascanio, genialer Meisterschüler des großen Bildhauers Benvenuto Cellini, ist verliebt in die niedliche Patrizierstochter Colombe, die wiederum auch von Cellini begehrt wird, der aber, weise wie ein Hans Sachs, am Ende verzichtet. Außerdem gibt es noch etliche andere tödlich rach- und eifersüchtige Liebesbedürfnisse über drei Ecken: eine intrigante Herzogin, die un- glücklich in Ascanio und eine Haushälterin, die ebenfalls unglücklich in Cellini verliebt ist sowie den jähzorni- gen König Franz I., der seinerseits wiederum die Herzogin liebt. Das kann nicht gut ausgehen. Cellini schließt, um die Sache zu retten, seine berühmte Jupiter-Statuen-Wette ab. Es gibt Tote am Ende, aber es gibt auch ein Happyend; keine geschlossenen Nummern, dafür herzbewegende Monologe und Ensembles, Duette und Quartette, auch kurze, knackige Chöre dazwischen. Jede Figur hat ihr eigenes Leitmotiv. Und es gibt im dritten Akt eine fast grand-opéra-artige Ballettszene bei Hofe, in der die antiken Götter tanzen und das musikalische Idiom der Renaissancemusik aufs Anmutigste wiederverwertet wird.

Guillaume Tourniaire war es, ein junger, Saint-Saëns-besessener französischer Dirigent, der diese Oper wieder zurück ins Leben holte. Er hat in zehnjähriger Detailarbeit die Wiederentdeckung von „Ascanio“ vor- bereitet und eine Uraufführung der vollständigen Originalversion, nach den Autographen, bewerkstelligt. Sie fand 2017 im November statt, im Grand Théâtre in Genf. Beteiligt an dieser konzertanten Aufführung waren neben einem Orchester aus handverlesenen Absolventen der örtlichen Musikhochschule außerdem der Chor des Genfer Theaters sowie eine Anzahl Solisten, die zur Zeit an den französischen Opernhäusern zu hören sind. Darunter der Bernard Richter (als Ascanio), die Sopranistin Clémence Tilquin (als Co- lombe), Bariton Jean-Francois Lapointe (als Cellini) sowie Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux als intri- gante, aber auch opferbereite Scozzone. Insgesamt hat diese Performance nicht nur durchweg professionel- les Niveau, sie ist vor allem erfüllt von einer mitreißenden Frische: ein starkes Plädoyer für die Lebensfähig- keit dieses Stücks. Hier das Terzett der Versöhnung, aus dem vierten Akt: mit Bernard Richter (als Ascanio), Clémence Tilquin (als Colombe) und Jean-Francois Lapointe (als Benvenuto Cellini):

Camille Saint-Saëns: Ascanio: 4.Szene, 4.Akt „Ah! Je Veux tout lui dire!“ 5‘44

Benvenuto Cellini versteht, er verzichtet und verzeiht: „O Bonté profonde“. Mit diesem großen Terzett im drit- ten Akt der Oper „Ascanio“ von Camille Saint-Saëns öffnet sich, wie man so schön sagt, der Himmel: Alles wird gut. Es sangen: Clémence Tilquin die Partie der Colombe, Bernard Richter den Ascanio sowie Jean- François Lapointe den Benvenuto Cellini. Es spielte das Orchestre de la Haute Ècole de Musique de Genève unter Leitung von Guillaume Tourniaire.

Dass dieses Terzett nicht ein einmaliger Glücksfall ist, sondern dramaturgisch und musikalisch eingebettet ist in ein meisterhaft konstruiertes, spannungsgeladenes Opernbühnenstück, davon kann sich nun jeder an- hand dieses Mitschnitts aus Genf überzeugen. Bliebe noch die Frage zu klären, wie es passieren konnte, dass „Ascanio“ dergestalt in Vergessenheit geriet? Ich kann sie leider auch nicht beantworten. Komponiert wurde das Stück zwischen 1887 und 1888, die Uraufführung fand, in Abwesenheit des Kompo- nisten, am 21.März 1890 in Paris statt, und hatte großen Erfolg. Charles Gounod schrieb eine Kritik für La France, er war des Lobes voll. Es gab sechs weitere Aufführungen in Toulouse, Rouen und Bordeaux, teils in gekürzter, teils umgeschriebener Fassung. Danach wurde das Stück offenbar beiseitegelegt und verges- sen – bis heute. Saison für Saison werden immer wieder verschollene oder unbekannte Werke ausgegraben, wie das so ist im Zeitalter des Historismus, darunter gibt es Interessantes, Skurriles, Aufschlussreiches, aber nur selten einmal trifft man auf ein Stück, wie dieses von Saint-Saëns, dass das Zeug und die Substanz hätte, sich auch heute noch einmal durchzusetzen, den Opernfans etwas zu Beissen zu geben und darüber hinaus auch dem großen Publikum zu gefallen. Allein die neobarocke Ballettmusik hätte doch auch als Suite weiter- leben müssen:

Camille Saint-Saëns: Ascanio, daraus: Ballettmusik, 3.Akt 4‘00

6 Aus der Oper „Ascanio“ von Camille Saint-Saëns, wiederentdeckt und nach beinahe hundertdreißigjährigem Dornröschenschlaf wieder aufgeführt in Genf, im November 2017, hörten Sie die Ballettmusik, darin die Göt- ter zu Ehren der Menschen tanzen. Es spielte das Orchester der Haute École de Musique, Genève, zuletzt: „Final, Deesses, Bacchantes, Naiades et Dryades“ sowie: „Apotheose“. Die Leitung hatte Guillaume Tour- niaire. Auf CD erschienen ist der Mitschnitt der Uraufführung von „Ascanio“ beim Label B-Records, im Ei- genvertrieb.

SWR 2, Sie hören „Treffpunkt Klassik - Neue CDs“ heute mit Eleonore Büning.

Sogar das Diotima-Quartett kommt aus Frankreich. Und keineswegs aus Tübingen, auch, wenn es nach Hölderlin klingt. Die vier Musiker haben sich, wie bei so vielen Streichquartetten der Fall, gegründet aus ei- nem Studentenzirkel heraus, 1996 am Pariser Konservatorium, dem nämlichen, an dem auch Jacques Of- fenbach im zarten Alter von 15 Jahren sein Studium aufnahm. Sie spezialisierten sich auf zeitgenössische Musik, regelmäßig vergeben die Diotima-Musiker Kompositionsaufträge an lebende Komponisten, zuletzt haben sie am Berliner Wissenschaftskolleg gemeinsam mit Beat Furrer gearbeitet. Und jetzt legen sie eine Gesamteinspielung aller Bartók-Quartette vor. Hier eine erste kurze Kostprobe, aus dem zweiten Streich- quartett:

Béla Bartók: Zweites Streichquartett, daraus: 2. Satz 4’09

Aus dem zweiten Streichquartett von Béla Bartók hörten Sie den Schluss des zweiten Satzes, „Allegro Molto Capriccioso“. Es spielte das Diotima Quartett. Komponiert hat Bartók diese Musik zwischen 1915 und 1917, im ersten Weltkrieg also. Welche Ansprüche sie an Spieler und Hörer stellt, das ist schon an diesem kurzen Ausschnitt abzulesen, der, auf engstem Raum, den subjektiven Gesang von vereinzelten Einzelnen über die motorisch-folkloristische Tarantellarhythmik der Gemeinschaft bis in die Apotheose eines „Trotz alledems“ überführt.

Noch gibt es Gewissheiten, Regeln. Auch spieltechnisch führen sie an Grenzen. Bald gibt es sie nicht mehr. Im dritten und vierten seiner Streichquartette komponiert Bartók mit zwölf Tönen, er probiert neue Spieltech- niken aus, er erfindet das sogenannte „Bartók“-Pizzikato. Im fünften und sechsten Quartett kehrt er zurück zur Melodie, es sind Bekenntnismusiken großen Formats. Jede namhafte, wichtige Quartettformation bisher hat sich daran messen wollen, vom Guarneri-Quartett bis zum Belcea-Quartett, vom Berg-Quartett bis zum Heath-Quartett reicht die Phalanx der „Intégrale“-Aufnahmen. Bereits mehr als zwanzig Gesamteinspielun- gen aller Quartette Béla Bartóks stehen im Katalog, von den unzähligen Einzelveröffentlichungen nicht zu reden.

Deshalb muss sich das Diotima Quartett die Frage gefallen lassen, die man auch allen Quartettformationen stellt, die einmal wieder sämtliche Beethovenquartette für die Tonkonserve einspielen wollen: Warum? Nun, für den Markt bzw. für die Hörer ganz sicher nicht. Wahrscheinlich spielen alle Streichquartettspieler diese Stücke immer wieder hauptsächlich für sich selbst, weil es eben Schlüsselwerke sind, die der Gattung neue Regeln setzten. Das Quatuor Diotima sagt es noch einfacher, nämlich so: „In der Geschichte des Streichquartetts gibt es die Zeit vor und nach Bartók.“

Und gerade deshalb lohnt es sich, ihnen dabei zuzuhören. Bevor diese Einspielung im Studio aufgenommen wurde, hat es die Bartók-Quartette immer wieder live im Konzertsaal gespielt, einzeln oder in Serie, und geht auch demnächst damit wieder auf Tournee. Mittlerweile gibt es eine traumhaft subtile Feinabstimmung im Klangbild dieser Formation, ein glühendes Gemeinschaftsespressivo und einen dramatischen Flow zugleich, der seinesgleichen sucht. Wir hören jetzt aus dieser neuen Gesamteinspielung einen vollständigen Satz, nämlich den Finalsatz aus dem sechsten Streichquartett, an dem Bartók komponierte, als der zweite Welt- krieg ausbrach. Der Satz heißt, nach dem Lamento-Ritornell, welches das gesamte Werk durchzieht, „Mesto“:

Béla Bartók: Sechstes Streichquartett, daraus: 4. Satz „Mesto“ 7’16

7 Der letzte Satz war das, aus dem sechsten und letzten Streichquartett von Béla Bartók. Es spielte das Dio- tima Quartett. Namentlich sind das: Yun-peng Zhao und Constance Ronzatti (Violinen), Franck Chevalier (Viola) und Pierre Morlet (Violoncello). Diese Gesamteinspielung aller Streichquartette Bartóks durch das Diotima Quartett ist aufgenommen worden im Deutschlandfunk Köln, sie wird verlegt vom Label naïve, im Vertrieb von Indigo.

Und damit noch einmal zurück auf Los, zurück zum Orpheus von Paris, der Spottdrossel des zweiten Kaiser- reichs: Jacques Offenbach. „Treffpunkt Klassik – Neue CDs in SWR2“ fing heute an mit einem feurigen Plä- doyer für den Cellisten Offenbach und für sein vergessenes Violincellokonzert. Es ist aber noch eine zweite Offenbach-CD herausgekommen vor kurzem, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Sie bietet eben- falls Offenbach-Raritäten, freilich ganz anderer Art. Die junge Koloratursopranistin Jodie Davos, Preisträge- rin des Wettbewerbs Reine Elisabeth 2014 und seither an allen Bühnen Frankreichs herumgereicht als Köni- gin der Nacht, hat ihr erstes Solorecital aufgenommen. Sie singt lauter glitzernde, sentimentale, freche Chansons und Arien aus jenen Opéra Bouffe von Jacques Offenbach, die heute von unseren Bühnen ver- schwunden sind: “Vert Vert“ zum Beispiel, „Boule de Neige“ oder „Le Roi Carotte“, und viele andere mehr. Sie singt mit glockenreiner Stimme, mit spritzig leuchtender, im freien Flug erreichter Höhe, nicht zu verges- sen einen leichten Hauch, einen zarten Rauchschleier, der auf den Stimmbändern liegt. Irgendwie passt das gut! Auch in diesem Gutenachtlied hier:

Jacques Offenbach: Allons Couchez aus: Boule de Neige 3’59

„Il va partir, mon doux ami!“ Zeit, für den Abschied, liebe Freunde! Jodie Devos sang das Chanson „Allons, Couchez“ der Dompteuse Olga aus der Opera Bouffe „Boule de Neige“ (Schneeball) von Jacques Offenbach, die wiederum eine Parodie und Bearbeitung der zehn Jahre zuvor aufgeführten Operette „Barkouff“ ist, ebenfalls ein vergessenes Stück, das aber gerade neulich, mit großem Zuspruch und Erfolg, in Strassburg am Theater wieder ausgegraben und aufgeführt wurde. Das lässt hoffen für‘s Offenbach-Jahr!

Es spielte das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Laurent Campellone. Ediert wurde das Album vom Label Alpha Classics im Vertrieb von Note 1. Und mit diesem Gutenachtlied endet für heute „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Mein Name ist Eleonore Büning. Danke Ihnen fürs Zuhören und – auf Wiederhören! Wie immer finden Sie das Manuskript zu dieser Sendung und alle Angaben zu den von mir vorgestellten neuen CDs unter www.swr2.de. Und nachhören können Sie die Sendung dort auch, noch eine Woche lang, was übrigens auch in der neuen SWR2 App funktioniert. Hier in SWR2 folgen jetzt Programm- tipps, nach den Nachrichten geht es weiter mit dem „SWR2 Feature am Sonntag“.