Hugo Niebeling

Hugo Niebeling: Filmkünstler, Autorenfilmer und Autodidakt

Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Biografisches Schnittmeister, Choreograf, Bühnenbildner, Hugo Niebeling, geboren am 2. Februar Sprecher, Produktionsleiter, Produzent 1931 in Düsseldorf. Lebt heute in Hilden. Gymnasialbesuch in Düsseldorf und Mit- Hugo Niebeling ist einer der bedeutendsten wirkung als Sextaner im Knabenchor der zeitgenössischen Erneuerer des Wirt- Matthäus-Passion bei einer Aufnahme schafts- und Industriefilms sowie des Mu- unter Carl Schuricht. Setzt sich früh mit sik- und Ballettspielfilms. Zahlreiche seiner moderner Kunst, klassischer Musik und Industriefilme realisierte er im Auftrag von Theater auseinander und lernt im elterli- Konzernen wie Mannesmann, Agfa Ge- chen Musikgeschäft anhand von Partituren vaert, Bayer und Aral und holte sich mit und Tonträgern das Repertoire überwie- Klanggestaltern wie Oskar Sala und Kame- gend klassischer Musik kennen. Frühe raleuten wie Bert Meister, Franz Rath, Hinwendung zu den Werken J.S. Bachs. Ernst Wild, Robert Hofer, Dieter Matzka Nach dem Krieg aus einem Kinderlandver- u.a. die Besten ihres Faches. In Zusammen- schickungs-Lager nach Düsseldorf zurück- arbeit mit namhaften Choreographen wie gekehrt, war die elterliche Musikalienhand- , David Blair und Walter lung wie auch die Wohnung durch Bomben Gore sowie hochkarätigen Tanzensembles, zerstört. (Bei Großangriffen im November darunter dem Ballet, dem 1943 auf Düsseldorf wurden 93% aller American Ballet Theater und dem Harkness Wohnhäuser, 96% der öffentlichen und Ballet entstanden zwischen 1969 und 1991 93% der Geschäftsgebäude zerstört oder zahlreiche, noch heute mustergültige Ar- schwer beschädigt.) beiten, die hier erstmals im Kontext zu Im Alter von 15 Jahren erster Klavierunter- sehen sind. richt. Als Schüler, unter dem Eindruck des Das Zeughauskino im Deutschen Histori- Gründgens-Theaters, formulierte er einmal: Düsseldorf ein Pantomimentheater und schen Museum würdigt den Filmkünstler „Kunst – geboren aus dem Widerstreit der -ensemble aufbaute, das dort bis 1957 nunmehr mit einer längst überfälligen Gefühle, durch den Verstand geklärt, in die existierte. Werkschau (7.03. - 31.03.2013). Form erlöst: in begrenzter Form das Ganze Nach Abschluß seiner kaufmännischen spiegelnd.“ Lehre und einem kurzen Intermezzo als Nach dem Abitur wollte er Theaterwissen- Schauspieler am Augsburger Theater wech- schaften und Schauspiel studieren, mußte selte Niebeling ins Regie-Fach. Er insze- aber – den Zeitläuften geschuldet - zu- nierte an den Städtischen Bühnen Augs- nächst eine kaufmännische Ausbildung burg Georg Büchners Lustspiel „Leonce beim Düsseldorfer Mannesmann-Konzern und Lena“ mit Werner Korn und Helene absolvieren. Parallel zur Lehrlingsausbil- Seip in den Titelrollen. („(...) ein Geschenk dung nahm Niebeling privaten Schauspiel- nicht nur für Feinschmecker, sondern erst unterricht bei dem Schauspiel- und Ge- recht eine Talentprobe des Gastregisseurs sangslehrer Otto Ströhlin, der am Düssel- Niebeling. Es ist zu erwarten, daß es lange dorfer Schauspielhaus zum Gründgens-En- auf dem Spielplan der Komödie bleibt“, semble gehörte. Niebelings Vorbild war Augsburger Theaterbrief, Jahrgang 7, Heft Gustaf Gründgens, dessen Proben er be- 10, 12. Mai 1957).1 suchte und dessen Faust-Inszenierung 1. Teil ihn nachhaltig beeinflusste. Diese Aus seinem Augsburger Engagement Inszenierung wurde von der Deutschen heraus wurde er dann vom Vorstand der Grammophon 1954 erstmals auch als Mannesmann AG „für fünfzig Mark Schallplatten-Edition herausgegeben, die freigekauft“ (Hugo Niebeling), um einen allgemein als das erste deutschsprachige Film zur Präsentation auf der Mannes- Hörbuch gilt und für die Schall- mann-Hauptversammlung zu reali-sieren: platteneinrichtung von Theaterstücken Stählerne Adern (1956). „Es war so, dass ich Herausgeber: Maßstäbe setzte. Neben dem Schauspiel- von Film keine Ahnung hatte: Dann bekam Zeughauskino – Deutsches Historisches unterricht bei Ströhlin nahm Niebeling ich den Auftrag, wurde losgekauft und sitze Museum www.dhm.de/kino Unterricht bei dem französischer Panto- da unten im Keller am Schneidetisch mit Redaktion: Helma Schleif (hs) mimen, Schauspieler, Regisseur und Cho- dem Drehbuch und soll einen neuen Film Mit Dank an Hugo Niebeling reographen Jean Soubeyran, der Anfang der Quellen: Archiv Hugo Niebeling machen. Gut, aber dann habe ich entdeckt, 50er Jahre zunächst in Dortmund, dann in dass da irgendwo ein paar Nitrofilmrollen

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rumlagen, von denen keiner wusste, was eine völlig neuartige Anwendung des Tänzern des New York City Ballet). Nach das ist. Das habe ich mir mal angeguckt. Es Bildschnitts und durch synchron zum der Choreographie von Walter Gore war ein Mannesmann-Film – von Walter Bildschnitt angelegte Klangkollagen, die enstand 1971 Eaters of Darkness mit dem Ruttmann, 1935/36 gedreht... Den Film teilweise von Oskar Sala entwickelt wurden. Harkness Ballet New York nach einer habe ich mir intensiv angesehen, weil der Gleichwohl führte Niebelings formal und Choreographie von Vicente Nebrada sowie sehr gut war.“2 inhaltlich kühne Umsetzung zum Bruch mit Percussion for Six, ebenfalls mit dem dem Auftraggeber. „Für Mannesmann war Harkness Ballet New York (1971). Für sein Erstlingswerk erhielt der Autodi- nach der Trennung von Niebeling die Pro- dakt den Bundesfilmpreis in Gold. Ein weiterer und seit zwei Jahrzehnten duktion von wirtschaftspolitisch oder wirt- anhaltender Publikumserfolg gelang schaftsethisch argumentierenden Image- Niebeling – im übrigen einer von ganz filmen zunächst beendet.“3 wenigen Regisseuren, der notenfest ist und Es folgten zahlreiche weitere Wirtschafts- eine Partitur lesen kann – mit der und Industriefilme – so etwa der 1965 für Verfilmung der Bachschen „Johannes- die Bochumer Aral AG produzierte, in der passion“, die er 1990 im Speyerer Dom Wüste Libyens gedrehte Film Petrol – der verwirklichen konnte – nach der Original- mit unzähligen Preisen und Auszeich- Tonaufnahme des Bachdirigenten Karl nungen bedacht wurde und als meist Richter aus dem Jahre 1964 und wiederum prämierter Wirtschaftsfilm in die Film- zahlreichen Tänzern. Die Johannespassion – geschichte einging. Durch diese Arbeit, in sie ist Karl Richter gewidmet – wurde im der Niebeling Straßenplanierraupen zu der Fernsehen bereits 34 Mal ausgestrahlt. In Musik Vivaldis „tanzen“ läßt, wurden der einer Filmbesprechung von 1991 schreibt damalige „Musikfilmpapst“ Leo Kirch und Peter W. Jansen u.a. „Hugo Niebeling (...) auf den Regisseur kommt vom Theater, hat als Filmregisseur aufmerksam. Im Auftrag von Leo Kirch mit Industriefilmen begonnen und dann, und Herbert von Karajan bzw. deren nach Kunst- und Dokumentarfilmen, gemeinsamer Filmproduktionsfirma Cos- hauptsächlich Musik- und Ballettfilme motel entstanden dann in Folge einige gemacht, zum Beispiel mit den Berliner weitere Produktionen im Bereich des Philharmonikern und Herbert von Karajan, Musikfilms, darunter Pastorale (1967), der zum Beispiel mit dem New York City Karajan bei der Aufführung von Ballet. (...) Ich vermute, daß erst sie Niebeling Beethovens 6. Sinfonie zeigt, und Eroica mit instand gesetzt haben, diesen Passionsfilm zu den Berliner Philharmonikern unter der drehen“ (Hervorhebung durch die Re- Hugo Niebelings bisheriges Oeuvre, ent- Leitung von Herbert von Karajan (1972, daktion). standen zwischen 1956 und 2009, umfaßt rekonstruierte Fassung 2009). Mit der für ein ungewöhnlich breites Spektrum unter- beide Filme entwickelten Technik und Was Jansen damals noch nicht wissen schiedlichster, meist hybrider Genres, für Bildsprache von Konzertaufnahmen gab konnte: Über zwei Gerichtsinstanzen die er mit einer Fülle nationaler und Hugo Niebeling dem damals noch jungen hinweg mußte Niebeling – auf eigene internationaler Preise ausgezeichnet wurde. Fernsehmedium folgenreiche Impulse. Kosten – prozessieren, um zu verhindern, Er drehte Wirtschafts- und Industriefilme Doch diese Arbeiten führten auch zum daß die der katholischen Kirche gehörende (überwiegend für Mannesmann, Agfa Ge- Zerwürfnis mit Herbert von Karajan, der Produktionsfirma Provobis seine Johannes- vaert, Bayer, Aral), Dokumentarfilme, Mu- sich in diesen Filmen nicht ausreichend passion mit Werbeunterbrechungen versah. sik- und Ballett(spiel-)filme, bei denen er gewürdigt sah, der auftraggebenden Fern- Niebeling hat die Prozesse gewonnen. nicht nur als Drehbuchautor und Regisseur sehanstalt im Falle der Pastorale zunächst verantwortlich zeichnete, sondern auch den eine andere – seine – Schnittfassung unter- Bis heute zählt Hugo Niebeling zu den Schnitt besorgte („die Montage war mir jubeln wollte und Niebelings Eroica-Fas- produktivsten Filmkünstlern, dessen Werk immer sehr wichtig“), und als Sprecher, sung sogar vernichtete. hier im Zeughauskino des Deutschen Choreograph, Bühnenbildner, Produzent Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre Historischen Museum erstmals in einem und Produktionsleiter fungierte. Mit einem arbeitete Niebeling häufig in New York größeren Umfang gewürdigt wird. „Auf Wort: er war ein Autorenfilmer der ersten mit dem Choreographen George Balan- diesem Niveau wird Technik wieder zu Stunde, der mit überkommenen Seh- und chine zusammen, und realisierte dann in dem, was sie ursprünglich im Griechischen Gestaltungsweisen brach und den Wirt- Spanien den Ballettspielfilm Giselle, der bis bedeutete: Kunst... Heute habe ich Musik schafts- und Industriefilms sowie den heute nicht nur von Tanzprofis im In- und gesehen“ (Dr. Pierre Barthès an Hugo Musik- und Ballettfilm in Deutschland re- Ausland hoch geschätzt wird. Schirmherrin Niebeling). volutionieren sollte. 1961/62 schuf er im der Uraufführung im New Yorker Lincoln Gegenwärtig bereitet Niebeling den Dreh Auftrag des Mannesmann-Konzerns das Center (Alice Tully Hall) im Oktober 1969 für Sommer 2013 seines Films Chaconne vor, Oscar nominierte Filmepos Alvorada – war Jacqueline Kennedy Onassis. Weitere wieder mit Franz Rath als Chefkame- Aufbruch in Brasilien, den er als seinen ersten Produktionen mit Balanchine: Violin ramann, dem namhaften Geiger Christian Musikfilm bezeichnet. Dieser künstlerisch Concerto (1974, mit Tänzern des New York Tetzlaff sowie vier Tänzern des Folkwang- höchst anspruchsvolle Film besticht durch City Ballet) und Duo Concertant (1975, mit Tanzstudios. Im Mittelpunkt steht Johann

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Sebastian Bachs einzigartige „Chaconne“ Kraftakt, für den es nicht viel Vergleichba- aus der Partita für Violine solo Nr. 2 in d- res gibt, und vor allem: einen hohen Ge- moll, BWV 1004 - für Geiger das Maß aller winn für die eigene ästhetische Erfahrung. Dinge. Mit diesem Satz aus Bachs zweiter Mit dem Film zur Johannes-Passion müßte Solopartita beweisen sich die Meisterinnen unzweifelhaft sein, daß Niebeling sich wie und Meister ihres Fachs, denn das kaum ein anderer auf die mise-en-scène mehrstimmig polyphone Spiel fordert von Räumen versteht. Ich kann mir lebhaft Höchstleistung vom Interpreten. Ganze vorstellen, wie er mit dem Drehort Hüt- 256 Takte lang ist die Chaconne - für den tenwerke Rheinhausen4 umgehen wird. Einzelsatz eines Solowerks eine monu- Ich habe selten ein so genau ausgearbeitetes mentale, alle Dimensionen sprengende Drehbuch gesehen. Jeder Satz und jeder Länge. Kaum eine Musik ist so „pur“, stellt Abschnitt sind nicht nur Ausweis einer so große Anforderung an das Konzen- höchst professionellen Arbeit, sondern trationsvermögen – und zwar an das von auch einer Phantasie, in der dieser Film Spielern wie Zuhörern. Vorgesehener schon existiert. Ich möchte den Film sehen, Drehort: Altenberger Dom bei Köln. ich kann ihn mir vorstellen. Was ich mir Ein weiteres, seit Jahren als Drehbuch vor- nicht vorstellen kann, ist: daß nicht erkannt handenes, aber noch nicht ausfinanziertes wird, welch phantastisches Projekt hier Filmprojekt (Budget: 4 Mio Euro) ist die vorliegt, für das es meiner Kenntnis nach Matthäus-Passion (Passio secundum Mat- zur Zeit weder in Deutschland noch Eu- thaeum), über die Peter W. Jansen bereits ropa etwas Vergleichbares gibt. Was ich mir 1994 als Gutachter schrieb: nicht vorstellen kann, weil ich auch nicht den geringsten Grund dafür erkenne, ist: „Für mich steht es außer Zweifel, daß mir daß es diesen Film nicht geben soll.“ ein Projekt erster Ordnung vorliegt, dessen Realisierung im Interesse sowohl des deut- Peter W. Jansen 7. August 1994 A.d.R. schen Films als auch der deutschen und 1 Leonce und Lena. Romantischer Nihilismus, europäischen Kultur im allgemeinen liegt. Beitrag von Hugo Niebeling, in: Blätter der Daß Bach und seine Matthäus-Passion zu Danch befragt, was Kunst sei, antwortete Städtische Bühnen Augsburg, 4. Jahrgang, Spiel- Hugo Niebeling einmal: „Verdichtetes zeit 1956/57, Heft 14, S. 206 ff den weltweit bekanntesten Phänomenen Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ der Musik gehören, kann für die Verbrei- Leben, in eine Form gebracht.” wird in der Neuinszenierung von Hugo tung eines solchen Films nur die besten Und: „Für jeden meiner Filme mußte ich Niebeling (Bühnenbild: Rudolf Harr) am Don- Aussichten eröffnen. durch die Hölle gehen.“ nerstag, 2. Mai, im Schauspielhaus Komödie Mich interessieren an dem Projekt vor hs gegeben. In den Titelrollen: Werner Korn und allem drei Faktoren: die Musik, der Ort, der Helene Seip. In: Blätter der Städtische Bühnen Regisseur. Alle drei Faktoren und wie sie in Augsburg, 4. Jahrgang, Spielzeit 1956/57, Heft diesem Projekt zueinander in Beziehung 14 2 stehen, scheinen mir einen sowohl ästheti- Joachim Thommes: „In jeden dieser Filme wollte ich Kunst reinbringen, soviel ich nur schen als auch ökonomischen Erfolg zu konnte.“ Hugo Niebeling, die Mannesmann- garantieren. Hugo Niebeling hat einen Filmproduktion und der bundesdeutsche Wirt- eigenen, unverwechselbaren Blick auf Bach schaftsfilm 1947-1987, Düsseldorf 2008, S.76 und die Passionsmusik, ähnlich wie 3 Thommes, a.a.O., S. 201 Huillet/Straub – mit denen Niebeling 4 Der Drehort ist das inzwischen zum nichts verbindet als ein hohes ‘handwerkli- Weltkulturerbe erklärte Industriedenkmal che‘ Ethos, das ungewöhnlich hohe Maß an Völklinger Hütte im Saarland Präzision der eigenen Vorstellung wie der genauesten Vorbereitung jeder Szene. Daß Hugo Niebeling Bach musikdrama- tisch inszenieren und für ein weitaus größe- res Publikum regelrecht aufschließen kann, daß einem die Augen übergehen, hat er unwiderlegbar mit der filmisch-musikali- schen Darstellung der Johannes-Passion (Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk) demonstriert. Auch von dem neuen Film verspreche ich mir in der kühnen Kombination von Elementen aus nahezu allen Bereichen der Darstellenden Künste – Musik, Theater, Musical, Ballett, Film, Pantomime etc. – einen künstlerischen

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Hugo Niebeling: Im Kampf gegen die Und doch hatte sich der gebürtige Düssel- quenzen von der Dynamik wie die Malerei Banalität dorfer einst dem Wort verschrieben, war der Futuristen. von Ursula Voß Anfang der fünfziger Jahre auf der Düssel- Ausgehend von der philosophischen dorfer Schauspielschule. Dann sprang er Grundidee, sich immer wieder leer zu ma- Mallarmé nannte den Tanz „incorporation auf die Bühne, schräg von hinten anlau- chen, um aufnahmebereit zu sein für visuelle de l´idée“. Dieser Interpretation zu fend, einer der Generäle Wallensteins. Neues, widmete sich Niebeling dann dem folgen und dabei der Bewegung als dem Lachend parodiert er sich heute in weitaus- Musikfilm. Das ist keineswegs Absage an Uranliegen gerecht zu werden ist eine der ladender Gebärde, ein Lachen, das Sekun- das ihn einst bestimmende Wort. Die Dra- Aufgaben, die sich Hugo Niebeling gestellt den später aus dem wie bei einer Maske maturgie zu E.T.A. Hoffmanns romanti- hat. geformten Mund dringt. Die hohe Schule scher Erzählung vom Klein-Zaches ist „Ich bin Künstler!“ sagt er großäugig und der Form hatte er bei Gründgens gelernt, fertig, und wie ein Echo auf die ihn gefan- erstaunt zugleich und alles wieder zurück- der Horror vor ungebändigter Form ist ihm gennehmenden „Gespräche mit Ecker- nehmend mit der Behauptung, die Person von jenem übertragen und die fanatische mann“ ergeht nun an ihn der Auftrag eines zähle nicht, nur die Arbeit. Inbrunst, an sich selbst zu arbeiten. umfassenden Goethefilms. Vorerst beherrschen Stoffe aus der Antike seine Vorstellung, Oedipus, Elektra. Und mit jenem geweiteten Blick, der gleichsam innen Geschautes nach außen transportiert, evoziert er die Gestalten in ihrem tragi- schen Pathos. Da genügen Stimme und Gebärde, die den einstigen Pantomimen verraten, um eine noch nicht und doch schon existierende Realität zu schaffen. „Ich bin so suggestiv, daß ich sicher bin, die Kameraleute haben mich verstanden. Ich zwinge sie, ohne Monitor zu arbeiten, eigenverantwortlich.“ Noch bevor der Streifen gedreht ist, sieht ihn der Inszenierende vor dem geistigen Auge, um dann, vulkanartig aus der Kon- zentration ausbrechend, Vorstellungen in die Wirklichkeit zu übersetzen. Diese Technik der „inneren Organisation“ kommt vor allem Ballettfilmen zugute, jener Umdeutung des Körperlichen auf die Fläche. Zergliederung der Choreographie in ihre Strukturelemente, Einweihung der Kameraleute durch Videotape, Abfassung des Drehbuchs. Tänzer sind Schwerarbeiter Dienender ist er und zugleich Beherrschen- In Augsburg spielte er alle Gründgensrollen wie Bergleute. der – die Filmkunst ist das Medium seiner und inszenierte auch selbst. „Ich lasse sie erst tanzen, wenn sie in Persönlichkeit. Er nennt eine stattliche Dann stellte ihn ein Industrieunternehmen, Höchstform sind. Auch das ist Werktreue. Trophäensammlung bundesdeutscher und das den Abiturienten einst kaufmännisch Zweieinhalb Minuten tanzen sie bei mir so, internationaler Auszeichnungen sein eigen. ausbildete, vor eine unerwartete Aufgabe: wie sie das auf der Bühne, im längeren Grand Prix und Bänder in Gold, Gold, den Industriefilm. Faszinosum der Stahl- Ausharren, nie vermögen. Sie vertrauen Gold... produktion: nicht Abfilmen eines Prozes- mir, geben mir, was ich will. Ich bin streng Ein eigenwilliger Mensch, denkt jeder, der ses, sondern das ganze ungeheure Fakten- und empfinde gleichzeitig mit ihren Kräf- dem Bannstrahl aus tiefliegenden blauen material wie einen erratischen Block mit ten. Gibt man ihnen das Gefühl, tanzen sie Augen ausgesetzt ist. Der zwingende Blick dem Meißel angehen. besser.“ ist eine Reminiszenz an das Knabenspiel Länder erschlossen sich ihm: Brasilien und Aufnahmetechniken sind Niebelings eigene vom ´Totschauen´; Niebeling schaffte das Libyen, in flirrender Hitze. „Wegen der Choreographie. Später, am Schneidetisch, Auge-in-Auge wohl eine Viertelstunde lang Luftspiegelung nahm ich die 53 Grad im dauert ein Schnitt oft eine Stunde. Monta- und gab nie als erster auf. Schatten in Kauf und kletterte selbst die geakrobatik als Voraussetzung für den Hier verrät sich etwas von der Intensität Bohrtürme hinauf.“ Der ARAL-Film wurde künstlerischen Schnitt. „Blenden lehne ich des Schöpferischen, der nach getaner das höchstdekorierte deutsche Filmwerk in ab als Entschuldigung für jemanden, der Dreharbeit Monate in dunkler Klausur am In- und Ausland. Doch das Meisterwerk nicht schneiden kann.“ Schneidetisch verbringt, voll Bangigkeit, bleibt Mit Licht schreiben – Photographein – Die Frage, für wen er seine Filme mache, Sprache könne im Stammeln versiegen. Produkterschließung eines rheinischen wiederholt er, als habe sich ihm, dem Eso- Chemiewerks, dargestellt in rasenden Se- teriker, dies Problem nie gestellt. „Für wen

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mache ich meine Filme? Für Menschen von Reizt ihn nicht der Spielfilm? Das Fiktio- heute.“ Die Phrase befriedigt ihn nicht. nale fesselt ihn weniger als die Übersetzung „Unser visuell eingerichtetes Zeitalter ist einer gegebenen Kunstform in die Sprache vornehmlich optisch zu beeindrucken. der bewegten Bilder, die nur wiederum eine Schon im 19. Jahrhundert behauptete Rückblende in die Jugend erklärt das stark Gautier, die eigentliche Kunstform dieser musikalische Element aller Arbeiten: ein Zeit spreche das Auge an. Das bewegliche Junge, rötlichblond, Raufbold, wo es denn Bild ist die Ausdrucksform unserer Zeit.“ sein muß, verzieht sich in die elterliche Adäquate Wiedergabe des allmählich sich Musikalienhandlung. Und hier, zwischen Entfernenden oder Dahinjagen dieses Schallplatten, Noten, Instrumenten hört er Dämons Zeit läßt ihn ausgefallene Techni- sich in die klassische Musik ein. Spät lernt ken ersinnen: Reiter preschen durch den er Klavierspielen, mit fünfzehn, sechzehn. Herbstwald – ein Pferd trägt die filmende Zu spät für eine Karriere. Einmal hatte er Kamera vor die Brust geschnallt. Dem Dirigent werden wollen. Und wie jener mit Zuschauer wird der Kinosessel zum Sattel, dem Stab das Orchester lenkt und zugleich Köpfe verfallen in rhythmisches Nicken. dem hörenden Publikum den Sinngehalt Bei der Erklärung im kleinen Vorführraum einer Sinfonie entschlüsselt, so lenkt dieser spricht Niebeling auch von jahrelang Zu- mittels seiner Kamera das vagabundierende rückliegendem im Präsens, als wolle er im Auge des Zuschauers. (…) Akt einer ´mémoire volontaire´ das längst „Jede Arbeit, die gut werden will, muß Geflohene der Zeitlichkeit entreißen. durch eine Hölle gehen, wo es auf Biegen Ist nicht das im Lauf eines Jahrzehntes und Brechen geht. Das Ringen droht das verblassende Farbfilmmaterial Symbol der Ganze zu zerreißen. Dieses Ringen muß Vergänglichkeit selbst? „Malerei und Plastik noch spürbar sein.“ So bekennt er sich zu sind heute in Manier erstarrt oder erschöp- fanatischem Qualitätsbewußtsein und fen sich im Epigonalen. Allein der Film ist fanatischem Kampf gegen die Banalität. Ausdrucksmöglichkeit – trotz allem.“ Aus: neues rheinland, Köln, Jahrgang 18, Nr. 7, Juli 1975

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Filmografie und Projekte

2013-2008 Digitalisierung seines filmischen Gesamtwerkes mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen zur Erhaltung nationalen Kulturgutes 2009 EROICA (rekonstruierte Fassung von 1972) 2003 Drehbuch: Sigfrid/Arminius 1996 Das Zauberbuch (Choreographie) 1994 Drehbuch: Matthäus-Passion 1993 DIE KLAGE DER ARIADNE 1991 JOHANNESPASSION: ”ES WÄRE GUT, DASS EIN MENSCH WÜRDE UMBRACHT FÜR DAS VOLK 1986 So schließt sich der Kreis (100 Jahre Berufsgenossenschaft, BG Chemie) 1982/83 DER AUFTRAG DER UNS BLEIBT (Bayer AG) 1976 Weihnachtliche Bläserkonzerte Teil 1: "Himmlische Cantorey", 34 min. Teil 1: "Himmlische Cantorey". Der erste der drei Winterfilme leitet von festlicher Verkündigung des Christfestes über in die Stille Nacht. Die Musiker - das sind die berühmten Blechbläser der Berliner Philharmoniker: Konradin Groth, Martin Kretzer, Georg Hilser, Arno Lange (Trompete), Prof. Johann Doms, Karl-Heinz Utesch, Hans-Dieter Schwarz, Siegfried Cieslik (Posaune). Die Musik - das sind bekannte Stücke und Weisen des 17./18. Jahrhunderts wie "Vom Himmel hoch" und "Stille Nacht". Werke von Michael Praetorius, Georg Muffat, Franz Gruber, Hans Horsch und Johann Eccard. 1976 Weihnachtliche Bläserkonzerte Teil 2: "Engelische Weinachtspost” 1976 Weihnachtliche Bläserkonzerte Teil 3: "Auf Winterreise” 1975 DUO CONCERTANT 1975 Serenade, eine spätromantische Erinnerung 1975 Lustwandel in Hohenlohe I - Dances and Canzoni from Early 16th Century Courts, 29 min. (mit dem Bläser-Ensemble der Berliner Philharmoniker), Produktion: Unitel 1975 Lustwandel in Hohenlohe II - Dances and Canzoni from Early 16th Century Courts, 21 min. (mit dem Bläser-Ensemble der Berliner Philharmoniker, Produktion: Unitel 1975 Lustwandel in Hohenlohe III - Dances and Canzoni from Early 16th Century Courts, 26 min. (mit dem Bläser-Ensemble der Berliner Philharmoniker, Produktion: Unitel (Barockmusik, gedreht im Rittersaal von Schloß Weihenstein) 1974 VIOLIN CONCERTO 1971 EATERS OF DARKNESS PERCUSSION FOR SIX 1970 ALLEGRO (Aral AG) 1969 GISELLE (Ballettspielfilm) 1967 MIT LICHT SCHREIBEN - PHOTOGRAPHEIN (Agfa Gevaert) PASTORALE 1965 PETROL, CARBURANT, KRAFTSTOFF (Aral AG) 1962 ALVORADA - AUFBRUCH IN BRASILIEN 1960 Druckgefäß Kahl STAHL – THEMA MIT VARIATIONEN 1957 Frohe Farben, Gute Laune (BASF/Bavaria Film) 1956 Stählerne Adern